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German Pages 825 [826] Year 2020
Dennis Borghardt
Kraft und Bewegung Zur Mechanik, Ästhetik und Poetik in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit
Paradeigmata · Band 41
Meiner
PARADEIGMATA 41
PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, dass sich aus der strengen, geschichtsbewussten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.
DENNIS BORGHARDT
Kraft und Bewegung Zur Mechanik, Ästhetik und Poetik in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://portal.dnb.de〉 abrufbar. ISBN 978-3-7873-3928-0 ISBN eBook 978-3-7873-3929-7
Der Studie liegt die Dissertation ›An- und abstoßende Naturen. Zur Mechanik, Ästhetik und Poetik in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit‹ zugrunde, die 2018 von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen und 2019 mit dem Dissertationspreis derselben Universität ausgezeichnet wurde.
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
Hanc deus et melior litem natura diremit. (Ov., met., 1, 21)
Inhalt
I.
Einführung in die Fragestellung
..........................
1. Argumentationstypologie zur Rezeption der Antike 1.a. Qualitätsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.b. Relevanzargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.c. Originalitätsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.d. Konkurrenzargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.e. Naturargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.f. Kraftargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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14 14 16 18 19 21 24
2. Warum Mechanik und Ästhetik? – Anknüpfungspunkte an die Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
3. Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹
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32
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4. Anmerkungen zu den Übersetzungen II.
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49
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49
Vermögen und Kräfte in der antiken Poetik und Rhetorik
1. Der antike Naturbegriff
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11
2. Poetik und Naturphilosophie
.........................
3. Extensive Vermögensbegriffe . . . . . . . . . . 3.a. Die Rolle der Lehrdichtung . . . . . . . . . Exkurs: Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . Fortsetzung: Die Rolle der Lehrdichtung 3.b. Platons untechnische τέχνη . . . . . . . . 3.c. Die Rolle der Sophistik . . . . . . . . . . . .
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4. Intensive Vermögensbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.a. Platons göttliche δύναµις . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.b. (Ps.-)Longins Traktat Περὶ ὕψους (De sublimitate) 4.b.α. Die Kraft des Erhabenen . . . . . . . . . . . . . 4.b.β. Noetisches und Pathetisches . . . . . . . . . . 4.b.γ. Autorenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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57
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. 73 . 73 . 80 . 84 . 91 . 100
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106 107 118 121 124 129
5. Komplexe Vermögensbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.a. Aristoteles' Poetik als Verbund von Extensivierung und Intensivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
8
Inhalt
5.a.α. Formale Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.a.β. Stoffliche Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . 5.a.γ. Das Mögliche im Poetischen . . . . . . . . . . . 5.a.δ. Das Prinzip der Dynamisierung . . . . . . . . 5.b. Wirkkräfte und Vermögen bei Cicero . . . . . . . . . 5.b.α. Kompetenz in der Kraft . . . . . . . . . . . . . . 5.b.β. Kraft in der Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . 5.c. »vim dico δύναµιν« – Kräfte in Quintilians Institutio oratoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.c.α. Kräfte und wahre Kräfte . . . . . . . . . . . . . . 5.c.β. Autorenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.d. Résumé zum rhetorischen Kraftbegriff . . . . . . . . . 6. Das Erbe des antiken Essentialismus
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138 141 145 150 158 177 185
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191 197 205 209
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
III. Antikenrezeption in der Naturphilosophie um 1700
. . . . . . . . . . . . 219
1. Die Entwicklung der neuen Naturen: Descartes, Newton und Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.a. Der frühneuzeitliche Naturbegriff . . . . . . . . . . . . 1.b. Zur Ausgangslage der Mechanik . . . . . . . . . . . . . 1.b.α. Mechanische Probleme zwischen (Ps.-)Aristoteles und Archimedes . . . . . . . 1.b.β. Kräftetheorie und mechanische Methodik . 1.c. Masse, Materie und das Innerste der Dinge . . . . . 1.c.α. Die Neubewertung der Innerlichkeit . . . . . 1.c.β. Der historische Aufstieg der Masse – moles, massa und inertia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.c.γ. Die doppelte Aufwertung der Materie . . . .
. . . . . . . 219 . . . . . . . 219 . . . . . . . 244 . . . .
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244 255 283 287
. . . . . . . 294 . . . . . . . 332
2. Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 2.a. Bewegung I: Descartes, Hobbes und Newton . . . . . . . . . . . 344 2.b. Bewegung II: Aristoteles, Kepler und Leibniz . . . . . . . . . . . 364 3. Kraft und Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.a. Leibniz' Platon, Vergil und Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . 3.b. Newton und sein klassisch-revolutionärer Kraftbegriff . . . . 3.c. Leibniz' Kritik an Newton in seinem Briefverkehr mit Clarke 3.d. Zur psychologischen Funktion des Erhaltungssatzes . . . . . . Fortsetzung: Kraft und Energie
373 388 411 421 428
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
Inhalt
9
. . . . . 443
IV. Die Entwicklung der Ästhetik: Seelenkräfte und ihre Kontexte
1. Baumgarten und Aristoteles
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
2. Begriffe und Vorstellungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
3. Die mathematische Grundlegung der Psychologie . . . . . . . . . . 466 3.a. Der merkmalsästhetische Aspekt in der psychologischen Begriffslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 3.b. Der realdefinitorische Aspekt in der psychologischen Begriffslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 4. Psychomechanik bei Kepler, Leibniz und Wolff . . . . . . . . . 4.a. Keplers Fortentwicklung der platonischen δύναµις ἡλίου 4.b. Die psychologische Bedeutung der intima rerum . . . . . 4.c. Leibniz' Auffassung von der Monade (µονάς) . . . . . . . . 4.d. Wolff und die horazische Tradition des componere . . . . 5. Baumgartens Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.a. Das Heterokosmische – die ontologische Fundierung der Fiktionstheorie Baumgartens . . . . . . . . . . . . . . . 5.b. Zur Diversifizierung ästhetischer Kräfte . . . . . . . . . 5.c. Die Funktionsweisen antiker Autoren in Baumgartens Aesthetica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V.
.. . .. .. ..
. . . . .
489 494 509 515 523
. . . . . 542 . . . . . 558 . . . . . 573 . . . . . 587
6. Das Erbe der ästhetischen Kräfte
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
Die neuen Kräfte der Antike ab 1747
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
1. Poetologische Grundpositionen um 1747 . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 1.a. Die ›Negativfolie‹: Nachahmung von Mustern . . . . . . . . . . 605 1.b. Sinnlich-metaphysische Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 2. Psychomechanische Kritik am Nachahmungsparadigma
. . . . . . 621
3. Nachahmung als Bewegungsform: Die Antike in Klopstocks Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 4. Die Psychomechanik der antiken Gattungen 4.a. Die Ode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.a.α. Die pindarische Ode . . . . . . . . . 4.a.β. Die horazische Ode . . . . . . . . . 4.b. Die Elegie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.c. Das Lehrgedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.d. Das Versepos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.e. Exkurs: Ossian-Rezeption . . . . . . . . . .
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634 634 649 654 658 663 670 679
Inhalt
10
5. Sulzers Lehre von sinnlicher Empfindung und antiker Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 5.a. Kraft, Empfindung und die »zwo Seelen« . . . . . . . . . . . . . . 687 5.b. Wirkkräfte und Energien der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 6. Kraft, Antike und antiker Kraftverlust bei Herder 6.a. Psychomechanik im Geiste Homers . . . . . . . 6.b. Raum mal Zeit: Poesie als Multiplikation . . . 6.c. Von der Antike zur (historischen) Gegenwart: Die Theorie vom Kraftverlust . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733
Literaturverzeichnis
1. Textausgaben (Antike)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734
2. Textausgaben (außer Antike) 3. Forschungsliteratur 4. Übersetzungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812
5. Lexika, Glossare, Wörterbuchartikel 6. Didaktische Werke 7. Online-Quellen Abbildungsnachweise
Dank
. . . . . . . . . . . 718
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727
VI. Schlussbetrachtung
Personenregister
. . . . . . . . . . . 702 . . . . . . . . . . . 708 . . . . . . . . . . . 713
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 820
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825
I. Einführung in die Fragestellung
Im Jahr 1761 hält Moses Mendelssohn (1729–1786) in einer seiner einflussreichsten ästhetischen Schriften, der Rhapsodie, Folgendes fest: Araspes konnte mit Recht, so wohl als Medea sagen: aliud cupido, mens aliud suadet; video meliora proboque, deteriora sequor. Die Seele kann durch einen richtigen Vernunftschluß überzeugt sein, A sei gut, und sich dennoch zu B entschließen, wenn sie in B zwar nicht so deutlich, nicht so gewiß, aber doch eine größere Menge des Guten wahrnimmt, und in einer kurzen Zeit überdenken kann. Geschiehet dieses, so ist die Quantität der Triebfedern für B mächtiger, als die Quantität der Bewegungsgründe für A, und B erhält den Vorzug. 1
Nicht nur an dieser Stelle zeigt sich Mendelssohn gut vertraut mit der antiken Literatur; er führt zwei Figuren aus Geschichtsschreibung (Araspes) und Mythos (Medea) an, die sowohl auf die griechische als auch die römische Literatur rekurrieren, namentlich auf Xenophons Kyropädie 2 und Ovids Metamorphosen, woraus auch das von ihm herangezogene Zitat stammt. 3 Was indes unmittelbar zur Erläuterung seelischer Sinneswandlungen folgt, ist eine »Quantität der Triebfedern«. Diese »Quantität« wird zudem recht formal mithilfe von Variablen (»A«, »B«) eingeführt, wie man es aus der Mathematik, insbesondere aus Algebra und Geometrie, kennt, und speist sich ganz offensichtlich gerade nicht aus der antiken Mythologie, sondern gemahnt an eine Psychologie, die auf mechanischen Wirkkräften (»Triebfedern«) beruht. Hiermit ist die Frage, die in der vorliegenden Studie behandelt wird, in nuce erfasst: Wie konnte es gelingen, dass die Etablierung des mechanistischen Weltbildes in der Frühen Neuzeit ab dem 16. Jahrhundert keine Verabschiedung von der klassischen antiken Literatur nach sich zog, sondern diese noch weiter affirmierte? Und wie konnte es, damit einhergehend, dazu kommen, dass die Etablierung neuer Konzepte von Kraft und Bewegung auch die Ästhetik und Poetik im 17. und 18. Jahrhundert in der Weise beeinflusste, dass die aus Mendelssohn, Rhapsodie, 178. Vgl. Xen., cyr., 5, 1, 1; 6, 1, 31–44; 6, 3, 14–21, worin Araspes zunächst als Freund des späteren persischen Großkönigs Kyros eingeführt wird, dann jedoch als vermeintlicher Deserteur scheinbar zu Kroisos überläuft, um schließlich wieder zu Kyros zurückzukehren. 3 Vgl. Ov., met., 7, 19–21: »aliudque cupido, / mens aliud suadet; video meliora proboque, / deteriora sequor.« (»Die Begierde rät das eine, / der Geist das andere; ich sehe und schätze das Bessere, / und folge doch dem Schlechteren.«). 1 2
Einführung in die Fragestellung
12
der Antike tradierte Literatur teils ihren alten kanonischen Platz behaupten konnte, teils aber auf spezifische Weise umgewertet wurde? In welcher Weise wurden überhaupt Philosophie und Literatur der Antike als Begründungsinstanzen für mechanistische Weltbilder angesetzt und ausgedeutet, wo doch der Mechanizismus gemeinhin als eine dezidiert novatorische, mit hergekommenen Überzeugungen brechende Weltsicht aufgefasst wird? 4 Ins Blickfeld rücken somit der Bezug der aus der Antike tradierten schönen Künste (artes liberales, artes ingenuae) zur Naturphilosophie (philosophia naturalis) – die in der Frühen Neuzeit weitestgehend deckungsgleich mit Naturwissenschaft ist – sowie der umgekehrte Bezug der Naturphilosophie zu den schönen Künsten. Die Studie schließt damit an gegenwärtige Forschungsrichtungen an, insofern das generelle Wechselverhältnis zwischen jenen Disziplinen in jüngerer Zeit vermehrt wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten hat. 5 Die Aufgaben einer sich mit diesen Interdependenzen beschäftigenden Ideengeschichte sind indes nicht darauf zu beschränken, historische Entwicklungen schlichtweg zu ›registrieren‹; ebenso sind Modellierungen der strukturellen Genese von Begriffen, Konzepten und Diskursen vorzunehmen, die sie überhaupt erst greifbar machen. Mag sich das vielzitierte Diktum Goethes über die Rechenschaft, die man sich von (mindestens) 3000 Jahren 6 zu geben habe, auch zum Gemeinplatz eines bildungsbürgerlichen Habitus entwickelt haben, ist dennoch der fachübergreifende Wert nicht zu unterschätzen, der sich aus der präzisen Beschäftigung mit geschichtlichen Phänomenen ergibt. Historische Geltungsansprüche bemessen sich nicht allein in der Beanspruchung von Traditionen, sondern im kritischen und produktiven Umgang mit ihnen. 7 Die Beschäftigung mit der Besonders prägnant unter den zahlreichen Stimmen, die dem mechanistischen Weltbild eine wissenschafts- und philosophiegeschichtlich revolutionäre Stellung zuschreiben, ist bis heute das Diktum von Harman (1983), 3 f.: »The mechanistic world view of the Scientific revolution undermined many traditional ideas about man’s place in nature. More fundamental than the establishment of any particular theory about the natural world is the change in philosophical perspective which was achieved, a new conception of man’s capacity to understand and control the world around him«. 5 So macht seit 2014 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg das ›Erlanger Forschungszentrum für Literatur- und Naturwissenschaften (ELINAS)‹ den Austausch zwischen diesen Disziplinen zum Thema, was sich seit 2015 auch in einer eigenen Schriftenreihe ›Literaturund Naturwissenschaften‹ niederschlägt. Sein Programm ist gleichwohl schwerpunktmäßig auf die Physik der Moderne und deren Verhältnis zur Gegenwartsliteratur, nicht so sehr auf historische Fragen ausgerichtet. 6 Goethe, West-östlicher Divan, Rendsch Nameh: Buch des Unmuths, 59: »Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben / Bleib im Dunkeln unerfahren / Mag von Tag zu Tage leben«. 7 Faber und Kytzler wollen hieran auch ein Defizit der Altertumswissenschaften – zu denen auch die Fächergruppe der klassischen Philologie gezählt wird – erkennen, wobei sie an dem Primordialstatus der Antike selbst nicht rütteln: »Die Bedeutung der antiken Tradition für die 4
Einführung in die Fragestellung
13
Antike bildet hierzu in doppelter Hinsicht ein wichtiges Feld, da sie einerseits aus der Perspektive der klassischen Philologie und aus der Perspektive der neueren Philologien zu jeweils eigenen fachspezifischen Erkenntnissen führt, andererseits aber einen allgemeinen Aufschluss über die Funktionsweise kultureller Paradigmen gibt. 8 Zwei bedeutende Schlüsselbegriffe für die europäische Geschichte sind ›Antike‹ und ›Natur‹. Das Hauptargument der vorliegenden Studie lässt sich, da es das Verhältnis zwischen Literatur und Naturphilosophie in den Blick nimmt, als ein Naturargument verstehen: Besonders häufig wird in der Frühen Neuzeit ein Begriff von Natur (natura, φύσις) in der Mechanik, der Ästhetik und der Poetik herangezogen, um das Verhältnis zwischen künstlichen und natürlichen Kräften (Mechanik) oder zwischen Kunst und Natur überhaupt (Ästhetik, Poetik) theoretisch aufzuwerfen. 9 Das bevorzugte Exerzierfeld, auf dem sich dies ausdrückt, besteht – so die leitende These – in der Frühen Neuzeit in der Antikenrezeption. Der Erklärungsansatz, Natur und Antike in ein übereinstimmendes Verhältnis zu bringen, ist daher von der Frage der Antikenrezeption selbst her moderne Kultur und ihr Selbstverständnis ist unstrittig, die explizite Beschäftigung mit der Antike aber nicht mehr selbstverständlich. Zugleich haben weite Bereiche der Altertumswissenschaften den Bezug zur Gegenwart verloren.« (Faber / Kytzler [1992], 3). 8 So wurde noch zur Jahrtausendwende ein Dilemma konstatiert, in dem sich die professionelle Beschäftigung mit der Antikenrezeption nach Meinung mancher Literaturwissenschaftler befand. Sie konnte, zumindest dem Anschein nach, entweder ihren eigenen Untersuchungsgegenstand angesichts schwindender Latein- und Griechischkenntnisse in den neueren Philologien nicht mit den erforderlichen Kompetenzen erschließen; oder aber sie wendete sich – wenn diese Kompetenzen wie im Falle einer klassisch-philologischen Ausbildung vorhanden waren – eher den antiken Gegenständen selbst zu, verharrte gleichsam in diesen und übte sich bestenfalls daran, die Rezeptionsphänomene mit den traditionellen Mitteln der klassischen Philologie zu erschließen. Aussagekräftig hierfür ist etwa Riedels Urteil, demzufolge »neuphilologische Disziplinen [. . . ] sie [die Rezeption der Antike; D. B.] gelegentlich als eine quantité négligeable [betrachten] [. . . ] und klassische Philologen [. . . ] die Untersuchung des ›Nachlebens‹ nicht selten bloß als schmückende Zugabe zu altertumswissenschaftlichen Forschungen [sehen].« (Riedel [2000], 3) Dieses Bild, sofern es in dieser zugespitzten Form überhaupt je zutraf, hat sich mittlerweile deutlich gewandelt. Die Publikationsbreite in den klassischen Philologien zur Rezeption der Antike wie auch in den modernen Philologien weist auf ein gestiegenes Interesse hin. Es wird sich dabei auf ganz unterschiedliche Themen, Autoren, Gattungen und Epochen bezogen – vgl. etwa Hohenwallners Antikerezeption in den Gedichten Bertolt Brechts (2004), Göhlers Antikerezeption im literarischen Expressionismus (2011), Wagners Antike Mythen, Kafka und Brecht (22012) oder Weils Antikenrezeption im Werk von Marie Luise Kaschnitz (2017). Auch eine methodische Öffnung, etwa hin zu medientheoretischen, kulturwissenschaftlichen oder literaturtheoretischen Aspekten, hat mittlerweile in einigen Bereichen des wissenschaftlichen Feldes stattgefunden. Die Etablierung von Sonderforschungsbereichen wie Transformationen der Antike (Humboldt-Universität zu Berlin) oder Projekte wie Antike-Rezeption im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin) dokumentieren diese Entwicklung. 9 Zum der Arbeit zugrundeliegenden Begriff der Frühen Neuzeit vgl. den umfassenden Beitrag von Achermann (2016), worin die bisherigen Forschungstraditionen zusammengetragen werden.
Einführung in die Fragestellung
14
zu perspektivieren. Eine Einordnung und Bewertung der Antike kann – was gewiss auch auf andere Epochen allgemein übertragbar erscheint – auf ganz unterschiedlichen Ebenen stattfinden. So berührt die Überzeugung, dass es sich bei den homerischen Epen bis heute um komplexe literarische Erzeugnisse handle und es darum unabhängig von der eigenen räumlich-zeitlichen Situierung lohnend sei, sich mit ihnen zu beschäftigen, eine andere Dimension als die Forderung, dass man, um die Geschichte einer Gesellschaft zu verstehen, sich mit den geistigen Ursprüngen derselben befassen müsse. Die Frage, was überhaupt als Ursprung zu fungieren hat, wird zudem bisweilen auf verschiedene Bildebenen wie diejenige der ›Wurzel‹ oder der ›Quelle‹ gebracht, wodurch sich Vorstellungen des Abstammens oder des Ausschöpfens ergeben. Dass solche Bildebenen bisweilen zur Signatur eines ganzen Zeitalters in seinem Umgang mit der Antike gerinnen können, ist historisch vielfach belegt. 10 Da die unterschiedlichen Arten der Argumente, mit denen die Antike ins Spiel gebracht wird, bisweilen auch simultan verwendet sowie in wechselseitige Begründungsverhältnisse gesetzt werden, ist es hilfreich, sich deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten systematisch vor Augen zu führen. Somit kann ein heuristischer Zuschnitt vor allem den Zweck haben, den Punkt, um den es in dieser Studie geht, die Engführung der Antike mit Natur (›Naturargument‹) und Kraft (›Kraftargument‹), im Kontext anderer Argumenttypen aufscheinen zu lassen. Die dazu angeführten Beispiele sind historisch nicht weiter eingeschränkt; sie sollen nicht so sehr zur Erhellung spezifischer geschichtlicher Sachverhalte beitragen, sondern dienen in diesem einleitenden Teil vor allem der Veranschaulichung und Zuspitzung des jeweiligen Arguments.
1. Argumentationstypologie zur Rezeption der Antike 1.a. Qualitätsargument
Ein in Fragen der Antikenrezeption mit großer Häufigkeit wiederkehrendes Argument stellt das Qualitätsargument dar. Betrachtet man es von seiner begrifflichen Seite, so zielt es auf nichts anderes als auf die Beschaffenheit (qualitas) der antiken Werke ab. Diese Beschaffenheit wird freilich nicht als beliebige aufgefasst, sondern als außergewöhnlich, als hervorragend, nicht selten gar als unerreichbar eingestuft. Die Aufgabe der zeitgenössischen Dichter muss So drückt, um nur ein prominentes Beispiel unter vielen heranzuziehen, in der Renaissance das Ad fontes-Paradigma eine Rückkehr zu den Quellen aus, aus denen dann eine regelrechte Wiedergeburt aus dem Geiste der Antike gelingen könne; vgl. als konzisen Überblick zu diesem weithin erforschten Topos Kristeller (1988). 10
Argumentationstypologie zur Rezeption der Antike
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demzufolge darin bestehen, dieser Qualität nachzueifern, sie nachzuahmen (imitari). Auffällig ist an diesem Argument, dass es schon in der Antike selbst eine große Tradition vorweisen kann. Bereits in den poetologischen Diskussionen, die in der Antike geführt wurden, hat es weitreichende Prominenz erlangt. Wenn Horaz in der Ars poetica feststellt, dass er nicht mehr – aber auch nicht weniger – als den Status eines »kundigen Nachahmer[s]« 11 der Griechen postulieren könne, so klingt darin auch ein Bewusstsein der eigenen Epigonalität an. Insofern dieses Bewusstsein jedoch von einem kundigen Sprecher (doctus) vorgebracht wird, der auf das Ideal des gelehrten Dichters (poeta doctus) verweist, ist es zugleich auch ein Selbstbewusstsein, das hier anklingt. Somit verschränken sich die Vorbildhaftigkeit der griechischen Vorgänger mit der eigenen Fähigkeit zur Anverwandlung, aus der dann wiederum eigene Produktivität resultieren kann. Daher lautet das Argument, wollte man es auf einen Punkt bringen: Die antiken Autoren sind vorbildlich, weil ihre dichterischen Erzeugnisse alle späteren an Qualität übertreffen; ihre Kunstwerke sind demgemäß bis heute – und womöglich bis in alle Zeiten – unerreicht, wenn nicht gar unerreichbar. Wir können jedoch als Epigonen von ihnen lernen. Der Qualitätsbegriff wird dadurch zu einem Begriff von Klassizität fortentwickelt, wie Friedrich Creuzer 1807 geradezu musterhaft formuliert: So sind nun auch jene Werke [sc. der Alten] nothwendig gebildet nach dem unwandelbaren Gesetze der Schönheit, frei von dem Manierirten, Interessanten, Charakteristischen. Darum heissen sie classisch; wobei man demnach eben sowohl auf die Bestimmtheit und Richtigkeit der Gedanken, auf die Schärfe und Feinheit des Urtheils, auf den Tiefsinn und Universalität des unbewusst wirkenden Genius sieht, als auf das Gewand, worein er seine Gedanken hüllet, die reine Form des Vortrags, die schöne Einfalt, die plastische Gediegenheit und die sich selbst vergessende Unschuld und stille Größe seines Ausdrucks. 12
Mit dem Qualitätsargument geht zudem bisweilen eine geschichtsphilosophische Vorstellung von Dekadenz einher, die besagt, dass die Qualität, nach der man strebt, überhaupt nicht mehr erreicht werden könne. Ob diese Denkfigur schlichtweg mit einem Kulturpessimismus gleichzusetzen ist, kann hier offenbleiben; jedenfalls prägt sie ein kontinuierliches Element im weiteren Verlauf der Geschichte zur Rezeption der Antike aus, auf das in diversen Teilen der Studie, insbesondere in Kapitel v.6, noch einzugehen sein wird.
11 12
Hor., ars, 318: »doctum imitatorem«. Creuzer, Das akademische Studium des Alterthums, 5 f.
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1.b. Relevanzargument
Nicht in jeder Hinsicht vom Qualitätsargument präzise zu trennen ist das Relevanzargument. Denn intuitiv lädt die Annahme, eine Sache sei von einer grundsätzlich hohen Qualität, leicht zu der Schlussfolgerung ein, sie sei damit auch von einer höheren Wichtigkeit. Dass dies aber nicht immer so ist, zeigt ein Blick auf die Herausforderungen, denen sich scheinbar längst kanonisierte Autoren und Texte immer wieder ausgesetzt sehen. Es geht bei diesem Argument in hohem Maße um funktionale Aspekte, die man mit der Aneignung der Antike verbindet. Die Frage nach der Legitimierung, die Frage ›Wozu ist die Befassung mit der Antike relevant?‹, hat bis in unsere Gegenwart weite Verbreitung gefunden, wenn etwa problematisiert wird, worin denn der Sinn bestehe, sich mit antiker Literatur überhaupt auseinanderzusetzen und sich dafür, nicht selten mühsam und langwierig, Kompetenzen in den alten Sprachen anzueignen. Das Argument erscheint gerade aus dem Grund so reizvoll, dass wir im geschichtlichen Horizont zahlreiche Epochen ausmachen können, in denen dies genau umgekehrt gesehen wurde. So war bei der Einführung des humanistischen Gymnasiums im Zusammenhang mit der humboldtschen Bildungsreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts eher erklärungsbedürftig, warum Latein und Altgriechisch nicht zum obligatorischen Bildungscurriculum zählen sollten. Der mit Abstand größte Anteil am Unterrichtspensum kam den alten Sprachen zu. 13 Durch die Aufrechterhaltung eines klassischen Spracherwerbs wurde der Stellenwert der Antike als für die Gegenwart relevanter Epoche affirmiert. 14 Im 20. Jahrhundert, besonders in der Nachkriegszeit, entwickelte sich die Situation in Deutschland bekanntlich in eine andere Richtung. Der Status Vgl. die preußischen Lehrpläne von 1816, in denen zwischen 20 und 30 Wochenstunden für die alten Sprachen reserviert waren und dabei ausdrücklich keine Bevorzugung der einen Sprache vor der anderen angezeigt war: »Wenn hier der lateinische Sprachunterricht voranstehet, so soll dadurch die Frage über die Priorität des Griechischen nicht dieser absolut zuwider entschieden werden. Vielmehr behält sich die Abtheilung für den Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerium des Innern in einzelnen Fällen, wenn die Lehrer einer Anstalt sich darüber einigen, den Unterricht im Griechischen dem im Lateinischen vorangehen zu lassen, nach Vorlegung ihres Planes die Entscheidung vor.« (Preußische Unterrichts-Verfassung 1816, 68). 14 Vielsagend hierzu Leonhardt (2009), 260: »Paradoxerweise bedeutete gerade die faktische Kontinuität der Stundenverteilung im Lehrplan [des preußischen Gymnasiums; D. B.] einen Paradigmenwechsel der Bildungsvorstellung, wie er extremer kaum gedacht werden kann. Das international kopierte Erfolgsmodell eines Gymnasiums, das Latein als Bildungsgut ungeachtet seines fehlenden Nutzwertes im Alltag in den Mittelpunkt stellte, verlieh dem Lateinischen letztlich sogar eine noch breitere globale Präsenz als zuvor. [. . . ] Es fällt schwer, in der gesamten Weltgeschichte einen Parallelfall zu finden, wo eine Sprache, die von kaum jemand gesprochen oder geschrieben wurde, eine so große Bedeutung für die ganze Gesellschaft hatte«. 13
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philologischer Grundlagenfächer, den Latein und Griechisch seit dem 18. Jahrhundert innehatten, wird zunehmend durch eine teils schleichende, teils auch politisch geförderte Marginalisierung relativiert. Sie hat bis heute spürbare Auswirkungen auf die sprachlichen Kompetenzen in den literarischen Fächern von Schule und Wissenschaft, was wiederum das grundlegende Verständnis von Geschichte und Geschichtlichkeit berührt. Als entscheidender Faktor für die Relevanz historischer Fächer wird nichtsdestoweniger der lebendig gehaltene Bezug zur Gegenwart empfunden – der Bezug zur »Aktualität des Lebens«, wie Maier für das Unterrichtsfach Latein ausführt: Latein ist ein historisches Fach; seine Stoffe liegen tief »unten« in der Vergangenheit. Und doch sucht es – als Disziplin einer modernen Schule – stets den Kontakt zur Aktualität des Lebens. Das Bild des Fahrstuhls erfasst ein solches »Auf und Ab« zwischen Antike und Gegenwart treffend. Wo liegen die Wurzeln Europas? Die Lektüre bringt Lehrer und Schüler gleichsam mit dem Fahrstuhl in das 5. Jh. v. Chr. Damals begann sich Europa als Begriff und Idee im Bewusstsein der Menschen zu verfestigen. Als 480 v. Chr. König Xerxes, der Despot des Perserreichs, den Angriff auf Griechenland unternahm, vollzog sich gewissermaßen die Geburt Europas. Dieses »Westland« wurde nämlich vom Griechen Herodot, dem »Vater der Geschichtsschreibung«, nur kurze Zeit später, als er über dieses Ereignis berichtete, auch »Europa« genannt. 15
Unabhängig davon, ob man sprachliche Bilder wie das hier bemühte des »Fahrstuhls« befürwortet, wird das ausgeführte Argument anhand einer zeitlichen Dimension entwickelt – einer Dimension, die über die Historizität von Ereignissen, Personen und Werke hinausgeht, insofern sie die Bedeutung des Gegenstands ›Antike‹ als für die Gegenwart fruchtbar erklärt und zudem Ideen ausprägt, die auf die Zukunft konzeptuell mit verweisen. Denn anhand der Debatten über die Weiterentwicklung Europas, die sich in den politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte wahrnehmen lassen, 16 spannen sich Maier (2008), 47. Wie die jüngere Vergangenheit gezeigt hat, geht dies bisweilen so weit, dass selbst die über viele Jahrzehnte wenig bestrittene Sinnhaftigkeit des europäischen Einigungsprozesses angezweifelt wird. Dabei lassen sich mit den Vertretern eines ›Europas der Vaterländer‹ und den Befürwortern eines administrativ und politisch geeinten Europas zwei fundamentale Interessenparteien unterscheiden, deren soziologische Erforschung bereits begonnen wurde. Insgesamt scheint die Idee einer europäischen Einigung mit einer Wertschätzung des antiken Erbes nicht nur besser vereinbar, sondern – mit dem Imperium Romanum als einer Art Präzedenzfall – auch historisch auf valideren Füßen zu stehen. Die durchaus provokative Frage, ob die Demokratie indes ein Reich benötigte, um sich zu entfalten, hat am prominentesten wohl Hermann Broch im Tod des Vergil (1945) aufgeworfen; vgl. hierzu die Studie von Eiden-Offe (2011). Da diese Frage zu sehr vom eigentlichen Thema wegführen würde, wird sie hier nicht weiter verfolgt. 15 16
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Einführung in die Fragestellung
Vergangenheit und Gegenwart in einer solchen Weise auf, dass sie eine in die Zukunft weisende Dimension mit enthalten, ja diese sogar mit einfordern. 17 Der Aspekt der Zukunftsfähigkeit ist ebenfalls mit spezifischen Erwartungen oder auch Befürchtungen verbunden; daher ist das Relevanzargument nicht selten von einem gewissen Kulturoptimismus auf der einen Seite und von einem Kulturpessimismus auf der anderen Seite getragen. Festzuhalten bleibt, dass es funktional gesehen in solchen Fragen zuvorderst um den Nutzen geht, den man aus der Beschäftigung mit einer Sache zieht oder den man für sich erhofft, daraus ziehen zu können. 18
1.c. Originalitätsargument
Im Originalitätsargument spiegelt sich ein grundsätzliches Epochenbild wider, das darauf fußt, Ursprünge für Entwicklungen anzunehmen, die historisch möglichst eindeutig benennbar seien. Zugleich stellt es eine besondere Spielart des Qualitätsarguments dar: Die Geschichte der abendländischen Dichtkunst wird demzufolge vornehmlich aus einem Ursprung (origo) heraus gedacht. Die Paraphrase hierzu könnte lauten: ›Die antiqui waren die Ersten, die in ihren Werken diejenigen Gattungen und Formen hervorgebracht haben, aus denen alle spätere Poesie erst entstehen konnte.‹ Die Alten waren demnach nicht nur die ›Alten‹, sondern vor allem die Ersten. Und selbst wenn Homer nicht der erste Dichter gewesen sein sollte, so ist er dann doch zumindest der erste gewesen, der die epische Dichtkunst zur Vollkommenheit, zur überragenden Qualität (›Klassizität‹) gebracht hat. 19 Es geht hierbei also um die Setzung von Ursprünglichkeit durch einen Aussagentypus historisch-genetischer Art. Auch das Ad fontes-Paradigma aus der Renaissance ist in diesem Sinn nicht 17 Vgl. etwa Le Goff (1994), 50: »Die moderne Welt ist die Welt von heute und morgen. Diese Welt muss mit den Strukturen, den Traditionen und der Kultur Europas konfrontiert werden, die in mindestens zweieinhalb Jahrtausenden entstanden sind«. 18 Diesen Umstand beklagt etwa – durchaus wortgewaltig – Fuhrmann in seiner kleinen Studie Bildung: »Unsere Zeit ist offenbar so narzisshaft, so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie all das, was in vielen Jahrhunderten, in anderen kulturellen Zusammenhängen und in anderen Epochen, von den klügsten Köpfen ihrer Zeit gedacht und geschrieben worden ist, nicht erst einmal bei sich selbst belassen und um seiner selbst willen betrachten kann, dass sie vielmehr schon im ersten Zugriff nach dem Nutzen fragen zu müssen glaubt, der für sie dabei herausspringt.« (Fuhrmann [2002], 110). 19 Vgl. hierzu die Art und Weise, wie Lianeri den Begriff ›archê‹ in ihrem Aufsatz The Homeric Moment? verwendet: »It follows that the archê, in its role as a principle and a source of power, is predicated on the link between the beginning and the end, between the ancients and the moderns. This condition brings the processes of reception and translation to the centre of the category of classicalness.« (Lianeri [2006], 150).
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allein auf die Dimensionen des Qualitätsarguments zu beziehen, sondern in der Hauptsache ebenfalls ein Originalitätsargument, das den Bogen zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufspannt. Das Originalitätsargument enthält neben seiner literarästhetischen auch eine editionsphilologische Dimension: Die zwischen dem antiken und unserem Zeitalter liegenden Epochen haben die antiken Texte zwar überliefert, in Form des Kopierens und Transkribierens jedoch auch an vielen Stellen gleichsam verunreinigt. Die Textkritik spricht daher von Verderbnissen beziehungsweise Korrupteln (loci corrupti) und setzt es sich zum Ziel, diese Verunreinigungen gleichsam zu säubern. Das Ziel ist es, den ›Originaltext‹ wiederherzustellen, selbst wenn es sich dabei nur um einen hypothetisch konstruierten Archetypus handelt; die Konstruktion eines Archetypus setzt aber wiederum stets die Annahme einer ἀρχή (arch´¯e), mithin einer origo, und damit eine gewisse Vorstellung von Originalität voraus. Ebenfalls vom Prinzip der Originalität getragen ist die Annahme einer regelrechten Erbschaftsbeziehung, einer Heredität, die aus dem antiken Ursprung heraus erwachse; in diesem Sinn spricht man auch heute noch von einem ›Erbe der Antike‹ 20 – unabhängig davon, ob dieses ›Erbe‹ nun künstlerisch, philosophisch, wissenschaftlich, politisch oder ganz allgemein kulturell zu deuten ist. Damit einher geht immer wieder die Bewertung des Unterrichtsund Studienfachs Latein, das einen »Zugang zu den Quellen von Dichtkunst und Philosophie« 21 bieten solle; dasselbe gilt für das Fach Griechisch, wie der Altphilologenverband in seiner Online-Präsenz konstatiert: »Besonders charakteristisch ist [. . . ] das im Griechischunterricht vermittelte Erlebnis von Ursprungsprozessen (z. B. die Entstehung von Literatur, Wissenschaft und Philosophie).« 22
1.d. Konkurrenzargument
Bereits in der griechischen und römischen Antike verbreitet ist der Gedanke eines Wettkampfs, eines ἀγών (ago´¯ n) beziehungsweise certamen, auf dem Feld der Dichtkunst. Hierin zeigt sich, dass dem dichterischen Schaffen auch etwas Kompetitives innewohnt, dass es um ein Übertreffen von Vorgängern oder zeitgenössischen Konkurrenten geht (aemulari). Verallgemeinert man diesen Konkurrenzgedanken von individuellen Dichterpersönlichkeiten auf ganze Epochen, so kann der Antike keine monolithi20 21 22
Vgl. in jüngerer Zeit Leppin (2010). Maier (2008), 68. Deutscher Altphilologenverband (2018).
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sche Stellung zukommen; vielmehr muss sie ihren Status in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Literaturen immer wieder aufs Neue behaupten – beziehungsweise: Die Gegenwart muss sich umgekehrt gegenüber der Antike behaupten. Diese auf einem Alteritätsverständnis von Epochen beruhende Denkfigur ist gewiss nicht nur für die Frühe Neuzeit kennzeichnend; sie bildet aber gerade dort einen der ersten und wichtigsten Streitpunkte um den Status der antiken Werke, die in einer Jahrzehnte andauernden Debatte, der Querelle des anciens et des modernes (1687–∼ 1720), aufgeht. Der Streit, der sich zwischen den anciens und den modernes entzündet, ist zunächst ein Streit zwischen zwei Mitgliedern der Académie française, Charles Perrault und Nicolas Boileau. Wenn der Status der Antike angezweifelt wird, so geschieht das in gleichzeitiger Bezeugung der Vortrefflichkeit der eigenen Epoche. So sei das Zeitalter des französischen Absolutismus demjenigen des Augustus mindestens ebenbürtig, wie Perrault 1687 in einem berühmt gewordenen panegyrischen Gedicht, dass er anlässlich der Genesung Louis' xiv. von einer schmerzhaften Krankheit verfasst hat, zum Ausdruck bringt:
5
La belle Antiquité fut toujours vénérable; Mais je ne crus jamais qu'elle fût adorable. Ils sont grands, il est vray, mais hommes comme nous; Je voy les Anciens sans plier les genoux, Et l'on peut comparer sans craindre d'estre injuste, Le Siecle de Louis au beau Siecle d'Auguste. 23
Die Provokation, um die es hier geht, wird bereits in den ersten beiden Versen deutlich: Die Antike sei in ihrer Bedeutung zu relativieren; sie sei zwar ehrwürdig (vénérable), aber nicht anbetungswürdig (adorable). Das Konkurrenzargument kann demgemäß lauten: Die Alten (antiqui, anciens) fordern uns allein schon aufgrund ihrer häufig als universell angenommenen Vorrangstellung heraus. Die Modernen (moderni, modernes) müssen sich ihren Platz neben ihr erst erkämpfen, haben aber prinzipiell durchaus Aussicht auf Erfolg.
Perrault, Le Siècle de Louis le Grand, 1–6: »Die schöne Antike war stets ehrwürdig; / aber ich glaubte niemals, dass sie anbetungswürdig war. / Sie [sc. die Alten] sind großartig, das ist wahr, aber Menschen wie wir; / ich sehe die Alten, ohne in die Knie zu gehen, / und man kann ohne Skrupel einen Vergleich anstellen / zwischen L OUIS’ Zeitalter und dem schönen Zeitalter des Augustus.« Sämtliche Übersetzungen stammen vom Verfasser; zu den Übersetzungskriterien siehe die Anmerkungen in Kapitel I.4. 23
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1.e. Naturargument
Ein gerade in der Frühen Neuzeit weit verbreitetes Argument zur Beurteilung der Antike besteht darin, dass die Antike Kunstwerke hervorbrachte, welche die Natur der Dichtung bis in die Gegenwart hinein verkörpern. Dieses Argument ist von einem bemerkenswert umfassenden und zugleich in sich differenzierten Zuschnitt. Bereits in der Antike wird an prominenten Stellen davon gesprochen, dass die Musen »den Griechen Begabung« 24 im Sinne einer natürlichen Anlage (ingenium) geradezu im Übermaß verliehen hätten. Damit wird zugleich eine Trennung zwischen den Vorgängern und der Gegenwart vollzogen sowie die Abhängigkeit der Kunst von einem intrinsischen Prinzip, dem von Natur mitgegebenen Vermögen, behauptet. 25 Mit ›Natur‹ lässt sich bis in den gegenwärtigen Sprachgebrauch vieles konnotieren: Sie kann im Sinne eines Ursprungs gefasst werden und entspräche damit dem Originalitätsargument. Sie lässt sich, in Anlehnung an Rousseau, als bester Zustand des Menschen fassen und entspräche damit dem Qualitätsargument. Sie lässt sich als ubiquitär wirksames Prinzip fassen, das in allen künstlerischen Verfahrensweisen zu berücksichtigen ist, und entspräche damit dem Relevanzargument. Die Vielfältigkeit des Naturbegriffs weist eine erhebliche historische Dimension auf, die in der Studie strukturell geltend gemacht werden soll. 26 Dem Naturargument kommen vor allem auf zwei Ebenen systematische Funktionen zu: Die ›Natur der Antike‹ ist zum einen diejenige Natur, das Verhältnis zwischen Mensch, Welt und Kunst konstituiert, zum anderen ist sie eine Natur, die in ihren Gestaltformen für den Beurteilenden überzeitlich wirksam erscheint, mithin so etwas wie eine Essenz bildet. Die seit der Antike traditionsreichsten Begriffe hierfür sind die griechische φύσις und die lateinische natura. Den antiken Autoren ist insofern eine Absolutheit zuzusprechen, als sie die essentiellen Eigenschaften der Menschheit in ihren Werken zu einer vorbildlich-gültigen Form gebracht haben. 27 Eine berühmte Einlassung John Drydens (1631–1700) im Life of Plutarch (1683) enthält genau die Vorstellung einer absolut gültigen Essenz menschlichen Handelns und Empfindens und fügt sie zudem in einen geschichtsphilosophischen Zusammenhang: Hor., ars, 323: »Grais ingenium«. Vgl. Georges (81998), s. v. »ingenium«, 261 f.: »die angeborene, natürliche Art u. Beschaffenheit, Natur, [. . . ] die Naturanlage, [. . . ] die angeborene Fähigkeit, natürliche Anlage, der natürliche Verstand, Kopf«. 26 Besonders ausführlich wird der Naturbegriff in den die Hauptteile einleitenden Kapiteln II .1 und III.1.a behandelt werden. 27 Wie diese Eigenschaften dann genau zu bestimmen sind, wäre daran anschließend eine berechtigte, jedoch davon erst abhängige Frage. 24 25
Einführung in die Fragestellung
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For mankind being the same in all ages, agitated by the same passions, and moved by the same interests, nothing can come to pass some precedent of the like nature has already been produced, so that having the causes before our eyes, we cannot easily be deceived in the effects, if we have judgement enough to draw the parallel. 28
Dryden sieht – im Gegensatz zur sich vier Jahre später in Versailles entfachenden Querelle – demnach eine im Wesentlichen unveränderte Natur des Menschen, die ihn zu allen Zeiten auszeichne. Auch das Konkurrenzargument lässt sich mit einer Vorstellung von Natur dadurch neu wenden, dass man die Nachahmung der Alten (imitiatio veterum) mit der Nachahmung der Natur (imitatio naturae) gleichsetzt. Die Epigonen müssen sich dann gar nicht mehr so sehr mit der Frage beschäftigen, ob man in Konkurrenz zu den Alten treten wollte, sollte oder dürfte, sondern können darauf verweisen, dass es die Natur selbst ist, die nachgeahmt wird. Umgekehrt kann sich hieraus eine gewisse Ignoranz beziehungsweise Ablehnung der zeitgenössischen Literatur und deren ›Moden‹ herleiten. Bei alledem geht es um nichts weniger als eine ästhetische Grundsatzfrage. Das Argument kann demgemäß die Prämisse enthalten, dass sich in den Kunstwerken der Antike die Natur der Dichtkunst überhaupt verkörpert, indem die antiken Dichter und Philosophen in vollkommener Weise die Regeln der Natur durchdrungen haben, und dass diese in den konkreten Werken zur Gestalt und Wirkung kommt. An kanonischer Stelle hat dies Johann Christoph Gottsched (1700–1766) in der Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) festgehalten, demzufolge die Griechen [. . . ] die vernünftigsten Leute von der Welt [waren]. Alles philosophierte daselbst: alles urteilte frei und folgte seinem eigenen Kopfe. Daher entdeckte man nach und nach die wahrhaften Schönheiten der Natur. 29
Dieser historisch durchaus verklärende Befund kulminiert daraufhin in einem berühmt gewordenen Postulat Gottscheds: All dieses nun geht einzig und allein dahin, daß ein Poet sich an den Geschmack seiner Zeiten und Örter nicht zu kehren, sondern den Regeln der Alten und den Exempeln großer Dichter zu folgen habe. 30
Das Naturargument ist – so die weitergehende Überlegung, die auch Gottsched weiter verfolgt – 31 gleichfalls auf generische Bereiche zu beziehen, beispiels28 29 30 31
Dryden, Life of Plutarch, 55. Gottsched, Critische Dichtkunst, 67. Ebd., 76. Vgl. ebd., 79–103.
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weise auf das ›homerische Epos‹, die ›sophokleische Tragödie‹, das ›anakreontische Lied‹, die ›horazische Ode‹ die ›menippeische Satire‹ etc. Sie alle schließen nicht nur die Urheber bestimmter Textcorpora nominal mit ein, indem sie deren Eigennamen als Attribute bei sich führen, sondern behaupten – wie in der Studie noch ausführlicher zu zeigen sein wird – auch eine Wesentlichkeit, die den von den jeweiligen Autoren verfassten Texten zukomme. Diese Wesentlichkeit besteht, von ihrer begrifflichen Oberfläche her betrachtet, ganz offenkundig in einer Verschränkung von gattungs- und autorpoetischen Aspekten: So wesentlich es für Horaz ist, Oden zu schreiben, so wesentlich ist die Gattung der Ode durch Horaz getroffen und vervollkommnet worden. Ein solch scheinbarer Zirkelschluss dient gerade nicht dem Zweck, die Qualität des Œuvres eines Dichters in irgendeiner Weise zu relativieren, wie vielleicht angenommen werden könnte; 32 vielmehr wird der Stellenwert des Autors hierdurch nochmals hervorgehoben und dessen Bedeutung in einem bestimmten Bereich der Poesie affirmiert. 33 Wo das Qualitätsargument aber nun diese Verbindung dadurch begründen würde, dass es eben nun einmal genau diese Autoren waren, deren Werke für die jeweilige Gattung von höchstem Rang gewesen seien (und es bis heute seien) und wo das Originalitätsargument das homerische Epos dafür hochschätzen würde, dass es – zumindest in der uns bekannten Form und auf Grundlage des uns zur Verfügung stehenden historischen Wissens – die erste vollständig überlieferte Gattungsform ist, zeigt sich das Naturargument gemeinhin stärker an überzeitlich gültige Prämissen gebunden: Zeitliches wird gewissermaßen mit Überzeitlichem zu erklären versucht. Eine Huldigung Homers als angenommenen ›Erfinders‹ der Gattung Versepos kann dann darin bestehen, sich auf den Status einer unverfälschten, vollkommenen Natur der ihm zugeschriebenen dichterischen Werke zu beziehen. Rezeptionsgeschichtlich kann diese Überlegung dahin gewendet werden, dass »[d]as Alterthum [. . . ] für uns das [wurde], was die Natur für die Alten gewesen war« 34 – wie es Johann August Schlegel (1734–1776) in seiner 1770 publizierten Übersetzung und Kommentierung von Charles Batteux' Les beaux arts réduits à un même principe (1746) pointiert formuliert.
32 Im Sinne einer Unterstellung, Horaz sei nur hinsichtlich der Ode ein herausragender Dichter gewesen. 33 Homer gilt dann nicht als epischer Dichter, sondern als der epische Dichter, Horaz nicht als Odendichter, sondern als der Odendichter etc. 34 Schlegel, Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, 65.
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1.f. Kraftargument
Der Naturbegriff lässt sich neben den bisher skizzierten Dimensionen auf eine Formel bringen, die darin besteht, der Antike und ihrer Literatur wohne eine besondere Kraft, ein Vermögen oder eine Energie, inne, die in der Lage sei, bis in die Gegenwart hinein die Literatur maßgeblich zu prägen. 35 Hierbei handelt es sich um ein Argument, dem sich in der Forschung bislang in unzureichendem Maße gewidmet wurde. 36 Es soll hier zunächst ganz allgemein ›Kraftargument‹ genannt werden. Die Kraft, um die es geht, ist dabei grundsätzlich als zweifaches Wirkpotential aufzufassen: als ein Vermögen, das bei der Rezeption eines antiken Werks zur affektiven Beanspruchung führt, sowie als ein Antrieb, selbst derartige Werke zu schaffen, die eine ähnliche – oder vielleicht gar noch stärkere – Wirkung hervorrufen können. Während in den letzten Jahren und Jahrzehnten in zahlreichen Beiträgen literaturwissenschaftlicher, -geschichtlicher und -theoretischer Provenienz Ausweitungen eines zunächst auf Literatur fokussierten Gegenstandsbereichs vollzogen worden sind und Bezüge wie beispielsweise diejenigen zwischen Recht und Literatur vielfach erforscht werden, 37 nähert man sich dem Zusammenhang von Literatur und Kraft nur zögerlich oder in einem wenig spezifischen Sinn an. 38 Dies steht in auffälligem Kontrast zu der Tatsache, dass sich Aussagen hierüber durch alle Epochen hinweg finden lassen – und zwar nicht nur Die Begriffe ›Kraft‹, ›Vermögen‹ und ›Energie‹ werden an dieser Stelle genau wie zuvor ›Qualität‹, ›Originalität‹, ›Relevanz‹, ›Konkurrenz‹ und ›Natur‹ zunächst heuristisch gesammelt und im weiteren Verlauf der Studie genaue Konturierungen im Kontext der antiken und frühneuzeitlichen Naturphilosophie erfahren. 36 Im unspezifischen Sinn formuliert Latacz (1992), 19: »Durch Homer zu sehen, was wir damit [mit dem Ende der Antike; D. B.] verloren haben, kann neue Kräfte wecken.« Was hier von Latacz katachrestisch und mit Vagheit formuliert wird, fügt sich in den Topos einer Zeitenwende: Die Erkenntnis eines Kraftverlusts wird zum Ausgangspunkt neuer Produktivität. Es muss dabei aber zunächst etwas erkannt werden, um Kräfte zu entfalten. Worin genau dann diese »neue[n] Kräfte« bestehen sollen – etwa in weiterführenden Erkenntnissen, in künstlerischer Produktivität oder in einer neuen Haltung zur eigenen Gegenwart – bleibt dabei indes offen. Es bleibt ein unscharfer Kraft-Begriff, der sich vorwiegend auf eine Vorstellung des Verlustes, auf Neues, das aus verlorenem Alten entstehen kann, bezieht. 37 Vgl. Greiner – Thums – Vitzthum (2010) und Lieb / Strosetzki (2013). Bemerkenswert ist zudem die Etablierung von Sonderforschungsbereichen zu ›Recht und Literatur‹ wie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 2019. 38 Häufig in Literatur wie Feuilleton zu beobachten ist ein bloß metaphorischer Gebrauch des Kraftbegriffs. So nennt Berve seinen historischen Abriss über das Altertum Gestaltende Kräfte der Antike (Berve [21966]), und Seubert betitelt in seiner umfangreichen Studie Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen ein Kapitel mit »Die Kraft der Poiesis. Antike Philosophenschulen und die poietische Wissenschaft des Aristoteles« (Seubert [2015], 97–109), ohne an irgendeiner Stelle auf so etwas wie ›Kraft‹ systematisch einzugehen. Auch ein jüngerer Artikel der Online-Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung neigt in einem Plädoyer für den altsprachlichen Unterricht einem metaphorischen Gebrauch 35
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in erwartbaren naturphilosophischen, sondern zumal in ästhetischen und poetologischen Kontexten. Ein metaphorisch verengter Gebrauch wird in der vorliegenden Studie gerade dadurch vermieden, dass die philosophische Genese des Kraftbegriffs und dessen Applikationsfähigkeit in naturphilosophischen, ästhetischen und poetologischen Kontexten nachvollzogen wird, namentlich als eine realistische Größe, die zwar zu manchen Sprachspielen einladen mag, aber ihrem grundsätzlichen ontologischen Zuschnitt nach ernst zu nehmen ist. Von Seiten der Kunstphilosophie wurde sich diesem Phänomen gegenüber bereits deutlich besser angenähert, etwa durch die Arbeiten Menkes, die einen dezidierten Bezug zur Kunstontologie 39 und zur Ästhetik 40 aufweisen. Menke wirft das Problem von Kunst und Kraft mit der Stimme eines prominenten antiken Philosophen auf: Nach Sokrates ist die Kunst bloß die Erregung und Übertragung von Kraft. So aber gibt es keine Kunst. Die Kunst ist vielmehr die Kunst des Übergangs zwischen Vermögen und Kraft, zwischen Kraft und Vermögen. Die Kunst besteht in einem paradoxen Können: zu können, nicht zu können; fähig zu sein, unfähig zu sein. Die Kunst ist weder bloß die Vernunft der Vermögen noch bloßes Spiel der Kraft. Sie ist die Zeit und der Ort der Rückkehr vom Vermögen zur Kraft, des Hervorgehens des Vermögens aus der Kraft. 41
Es stellt sich die Frage, ob Sokrates' Meinung über Kunst tatsächlich auf »bloß[e]« Kraftübertragung zu beschränken ist oder ob sie nicht über die Aspekte der Erregung und Übertragung in ›natürlichen‹ Kontexten noch hinausreicht. Denn der Begriff der Erregung deutet auf etwas wie Affekte hin, während das Können neben seiner handwerklichen Dimension auch intellektuelle und kreative Vermögen umfasst. Mit Blick auf die Geschichte europäischer Poetiken lässt sich feststellen, dass zu den Fragen über die Dichtkunst (τέχνη ποιητική, ars poetica) zählt, ob ihr eine besondere Kraft innewohne, ob diese Kraft übertragbar und / oder ›erlernbar‹ sei, und auf welcher (kognitiven oder nicht-kognitiven) Grundlage sich die Weitergabe von Wirkkräften vollziehen könne. Die sich daran anschließende Frage, ob Kunst – in antiker und frühneuzeitlicher Lesart – ein dialektisches, vielleicht auch ›spielerisch‹ zu nennendes Verhältnis zum komplexen Apparat menschlicher Seelenvermögen, insbesondere der Kognitions- und Wirkvermögen, einnimmt, wird daher mit zu den zu: »›Sunt lacrimae rerum‹ – auf Deutsch übersetzen kann man das nicht. In den drei Worten steckt eine Energie, die mit jeder Umschreibung verpufft.« (Ribi [2019]) Der zitierte Halbvers stammt aus Verg., Aen., 1, 462. 39 Vgl. die Studie Die Kraft der Kunst (Menke [22013]). 40 Vgl. die Studie Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie (Menke [2008]). 41 Menke (22013), 14.
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leitenden Interessen der vorliegenden Studie gezählt. Der Fokus richtet sich dabei dezidiert auf die mechanischen Kräfte, 42 aus denen jene Vermögen ihre Begründungen erhalten.
2. Warum Mechanik und Ästhetik? – Anknüpfungspunkte an die Forschung
Bis in die Gegenwart hinein wird die Mechanik geläufigerweise mit einer Vorstellung von Technik in Verbindung gebracht. Das ist durch die sprachgeschichtlichen Beziehungen beider Begriffe auch durchaus erklärbar. 43 ›Technik‹ im Sinne einer maschinellen Apparatur wird in der Moderne jedoch nicht unbedingt als eine die Kunst im emphatischen Sinn befördernde Fertigkeit gesehen. 44 Dass die Mechanik als Disziplin anschlussfähig an Kunsttheorien ist, erscheint prima facie nicht unbedingt zwingend. Die Herausstellung des Die Ausdrücke ›Mechanik‹ und ›Mechanizismus‹ sowie die dazugehörigen Adjektive ›mechanisch‹, ›mechanistisch‹ und ›mechanizistisch‹ unterliegen in der deutschen Sprache keinem durchweg einheitlichen Gebrauch. Vielmehr werden sie regelmäßig auf verschiedenen Ebenen vermischt – ein Problem, das auch Dijksterhuis gleich zu Beginn seiner Studie konstatiert; vgl. Dijksterhuis (1956), 1. Die vorliegende Studie verwendet die Ausdrücke in der Weise, dass es sich bei ›mechanisch‹ um das Adjektiv zu ›Mechanik‹ handelt, dass ›mechanistisch‹ eine Philosophie bezeichnet, die sich mechanisch instruierter Theoreme bedient, und dass ›mechanizistisch‹ eine Stellung zwischen Ideologie und Philosophie einnimmt. Die Wissenschaft ›Mechanik‹ arbeitet in diesem Sinn ›mechanische‹ Gesetze aus, die Philosophie argumentiert ›mechanistisch‹ und die Ideologie nimmt ›mechanizistische‹ Standpunkte ein. Mögen also auch zahlreiche Philosophien mit ›mechanistischen‹ Theoremen operieren, bewegt sich die Bezeichnung ›Mechanizismus‹ in die Richtung einer Radikalphilosophie, die im Grunde überhaupt nichts anderes mehr zulässt als mechanische Gesetze, die in allen Bereichen der Welt walteten. Der Studie liegt die Hypothese zugrunde, dass sich das mechanistische Weltbild mitnichten als bloße Abfolge mechanizistischer Standpunkte ausnimmt, sondern in immer wieder neuen Zusammenhängen Axiome formuliert, die nicht-mechanistischen, etwa metaphysischen oder theologischen, Denktraditionen entnommen sind. 43 Die etymologische Herleitung der Technik aus τέχνη (téchne ¯ ) legt dies nahe. Sie meint eine Kunstfertigkeit, etwas vom Menschen Geplantes und Hervorgebrachtes. Der etwa in der ars mechanica, aber auch der ars poetica und der ars dicendi (rhetorica) enthaltene Begriffsbestandteil ars bildet das lateinische Pendant der τέχνη; vgl. zur antiken Begriffsgeschichte der τέχνη mit zahlreichen Belegstellen Löbl (1997), Löbl (2003) und Löbl (2008). Die Ästhetik wiederum wurde im Zuge ihrer philosophischen Etablierung in der Frühen Neuzeit als ars aesthetica bezeichnet und damit an den Kanon der artes angeschlossen. 44 So lautete noch Volkmann-Schlucks Befund in Bezug auf die Gegenwartskunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig optimistisch: »Die moderne, von den positivistischen Wissenschaften im Verein mit der Technik beherrschte Welt hat die Kunst in eine noch nicht dagewesene Krise gebracht. Das bezeugt die unübersehbar gewordene Vielfalt der Stilformen ebenso sehr wie deren Wechsel, der es mit der Veränderung der Mode, zumindest was die Geschwindigkeit anbelangt, durchaus aufnehmen kann. Auch die Kunst richtet sich in eine Dauer ein, die nicht die Gestalt des Bleibenden hat, sondern die den Wechsel von einem Neuen zu einem anderen Neuen 42
Warum Mechanik und Ästhetik? – Anknüpfungspunkte an die Forschung
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engen Zusammenhangs zwischen Kunst und Technik, der in der Tradition der antiken ars angelegt ist, gehört daher zu den grundlegenden Linien der Studie. Technik, verstanden als Fortentwicklung des Menschen aus der Natur, die dann wiederum zu deren Beherrschung führt, muss für sich genommen nicht kunstfeindlich sein. Sie kann vielmehr eine Verbindung herstellen zwischen der natürlichen Determiniertheit des Menschen und dessen Bedürfnis, diese Determiniertheit qua Kunst herauszufordern, sie zu überwinden und dabei über seine eigene Natur, sein Wesen umso mehr zu erfahren. Wenn sich Natur und Technik einer in der Moderne verbreiteten Auffassung nach scheinbar distinktiv zueinander verhalten, 45 so wird leicht der enge Zusammenhang übersehen, der zwischen der Schaffung von Lebenswelten, von Artefakten, mithin von ›Kultur‹, und der Beherrschung einer bestimmten Technik hierzu besteht. 46 Der Blick auf die europäische Poetik- und Ästhetikgeschichte zeigt, dass Kunst zwar häufig an die Fragen nach dem Guten, Wahren und – natürlich zuvorderst – Schönen gekoppelt wurde; sie insistiert jedoch mit fast der gleichen Hartnäckigkeit auf Vorstellungen von Affekt, Empfindung, Eindruck und Rührungsvermögen. Hierfür spielen aber Konzepte von Kraft, Bewegung und Energie eine entscheidende Rolle. Die enge Beziehung der Mechanik zu eben diesen Größen wiederum ist geradezu konstitutiv zu nennen. Umso erstaunlicher ist es, dass in den zur Ästhetik verfassten Geistesgeschichten zwar durchaus regelmäßig auf die genannten psychologischen Größen eingegangen wird, dabei jedoch die Begriffe von Kraft und Bewegung nicht reflektiert werden. 47 Auch systematische Untersuchungen räumen einer mechanistisch begründeten Psychologie im Rahmen der Ästhetik in der Regel ist. Sodann verschwinden zufolge der zunehmenden Verwendung technischer Mittel die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst immer mehr.« (Volkmann-Schluck [2002], 9). 45 Die Rede vom ›Hinausfahren in die Natur‹, um dem hochtechnisierten Großstadtalltag gleichsam zu entkommen, ist nur einer von zahlreichen populären Gemeinplätzen für diese Distinktion. 46 In neueren technikgeschichtlichen Darstellungen wird auf diesen wichtigen Umstand wieder vermehrt hingewiesen; vgl. etwa Bayerl (2013), 6: »Technik ist das Mittelsystem, das der Mensch anwendet, um aus dem Dargebot der Natur seine ›Lebensmittel‹ (im weitesten Sinne) zu fertigen. Es gibt kein ›technisches Zeitalter‹, da es auch kein ›nichttechnisches Zeitalter‹ gibt. Der Mensch richtet sich die Natur zu, aus ihren Beständen erschafft er seine Technik und damit technisiert er auch die Natur. Dennoch bleiben Mensch – der ja nicht nur homo faber, sondern auch ein Naturwesen ist – und Natur in ihren eigenen, nichttechnischen Qualitäten erhalten«. 47 Vgl. Pochat (1986), der sich mit der Geschichte der Ästhetik in einem umfassenden Sinn auseinandersetzt, dabei aber die Frage, ob die in der ars aesthetica verhandelten psychologischen Rührungsaspekte auch nach mechanischen Gesetzen auslegbar sind, außen vor lässt. Der primär als Vortragssammlung konzipierte Sammelband Die Mechanik in den Künsten (Berns / Möbius [1990]) wiederum enthält zwar nicht weniger als 22 facettenreiche Beiträge, jedoch keinen solchen, der sich dezidiert mit der Antikenrezeption im mechanistischen Weltbild der Frühen Neuzeit auseinandersetzen würde.
Einführung in die Fragestellung
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wenig Raum ein 48 – Gleiches gilt für lexikographische Einträge – 49 und ignorieren damit, dass der Weg der in der Kunst waltenden Kräfte spätestens ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht ohne die Mechanik zu denken ist. Den Paradigmen ›Kraft‹ – nebst ihrem Pendant ›Energie‹ – und ›Bewegung‹ kommt, so die in der Studie verfolgte These, eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der Ausprägung einer Psychologie zu, die auf Mathematik und Mechanik beruht. Ohne die Etablierung einer in diesen Disziplinen verankerten Psychologie wiederum wäre, so die weitere These, die ars aesthetica nicht nur in ihren vielfältigen Erklärungsansprüchen, sondern in ihrem grundsätzlichen Gerüst nicht denkbar. 50 Die oben aufgeworfene Frage nach der Technik ruft also dringlich die Frage nach einer ars auf. Und diese Frage führt unmittelbar in die Antike zurück: Sie brachte diverse artes hervor und ist mit diesem Begriff teils taxonomisch streng, teils aber auch spielerisch umgegangen. Ein aus philologischer Sicht bis heute wichtiger Umstand besteht darin, dass die Antike eine Redekunst (ars dicendi, ars rhetorica) und eine Dichtkunst (ars poetica) kannte, die sich komplementär ergänzen konnten. Eine ars kannte sie jedoch nicht: die ars aesthetica. Dieses Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) zugesprochene Verdienst, mithilfe einer Psychologie, die selbst auf Vermögen und Kräften beruht, eine Philosophie der sinnlichen Erkenntnis zu begründen, 51 soll in der vorliegenden Vgl. etwa Brandstätter (2008), der in seinen äußerst knapp gehaltenen Ausführungen zum Kunstbegriff im Sinne einer Transformation von Energie kaum darauf eingeht, was ›Energie‹ ihm zufolge überhaupt bedeuten soll. Der Begriff erfährt dort keine wissenschaftliche Begründung, sondern wird praktisch als auf irgendeine Weise bekannt vorausgesetzt. Stattdessen dominieren in den aufgeworfenen Grundfragen erkenntnis-, wissenschafts-, erfahrungs- und medientheoretische Beschreibungsaspekte. Gar keine Rolle spielen Kraft und Energie in Schneiders Geschichte der Ästhetik (52010). 49 So ist ›Kraft‹, um nur wenige Beispiele zu nennen, weder im Lexikon der ästhetischen Grundbegriffe (Barck – Fontius – Schlenstedt – Steinwachs – Wolfzettel [2010]) noch in Becks Lexikon der Ästhetik (Henckmann / Lotter [22004]) vertreten; ebenso wenig findet sich ein Eintrag hierzu in Metzlers Lexikon Ästhetik (Trebeß [2006]). 50 Treffend hierzu Torra-Mattenklott (2002), 249 f.: »Man kann die Funktion des mechanischen Diskurses für die Wissenschaften des 18. Jahrhunderts als die einer lingua franca beschreiben, mit deren Hilfe Erkenntnisse verschiedenster Disziplinen ineinander übersetzbar sind«. Über die von Torra-Mattenklott genannten »Disziplinen« hinausgehend, wird sich die vorliegende Studie der ›Übersetzbarkeit‹ der Epochen der Antike und der Frühen Neuzeit zuwenden. Der zweite Punkt, der über Torra-Mattenklott hinausgeht, besteht darin, die Mechanik nicht nur als lingua, sondern als neue essentia hergebrachter Konzepte aus der Antike zu begreifen. 51 Vgl. exemplarisch zu diesem philosophiegeschichtlichen Gemeinplatz die facettenreichen neueren Sammelpublikationen von Allerkamp / Mirbach (2016), Campus – Haverkamp – Menke (2015) und Aichele / Mirbach (2008). Generell sind gerade die Forschungs- und Übersetzungsleistungen Mirbachs zu Baumgarten aus den letzten beiden Jahrzehnten hervorzuheben. Von einiger Bedeutung sind in jüngerer Zeit außerdem die Beiträge von Buchenau hierzu; in Baumgartens 48
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Studie im Sinne eines Traditionsstranges aus der Mechanisierung des Weltbildes zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert heraus nachvollzogen werden – und zwar in Tradition der antiken Philosophie, Poetik und Rhetorik. Hierzu genügt es beispielsweise nicht festzustellen, dass eine Dichtungstheorie auf mechanischen Bewegungen beruhen kann, wenn man einfach nur eine Kenntnis über oder Vertrautheit mit den entsprechenden mechanistischen Theoriegebäuden seitens der poetologischen und ästhetischen Protagonisten voraussetzt. 52 Bereits die Etablierung einer dezidiert ars aesthetica genannten Disziplin im 18. Jahrhundert wäre ohne die Präzedenzleistung der in der Antike verankerten artes-Lehre nicht denkbar. Die Lehre von einer ars kann jedoch, wie insbesondere Teil iii der Studie zeigen wird, nicht ohne eine Vorstellung von natura funktionieren. Und diese Vorstellung kann spätestens ab dem 16. Jahrhundert nicht ohne eine Vorstellung von Mechanik funktionieren. Zwar spielt das Vernunftparadigma auch gegenwärtig eine große Rolle in den Auseinandersetzungen mit den europäischen Aufklärungen; dabei darf jedoch nicht außer Acht geraten, dass die Entstehung der europäischen Aufklärungen ebenso mit veränderten Auffassungen über den Naturbegriff einhergingen, deren eine – und in der Frühen Neuzeit dominante – Deutungsmöglichkeit diejenige des Mechanischen darstellte. 53 Die Beschäftigung mit dem mechanistischen DenAesthesis (2012) und in The Founding of Aesthetic in the German Enlightenment (2013) beschreibt Buchenau die Ästhetik vor allem als ein Phänomen der Aufklärungsphilosophie, ohne allerdings die Präliminarien früherer Epochen, insbesondere das mechanistische Weltbild, ausführlicher zu berücksichtigen. 52 Somit wird in der vorliegenden Studie dasjenige in den Blick genommen, was Wels (2009) durchgängig ausspart, wenn er den Dichtungsbegriff der Frühen Neuzeit ohne mechanistischen Einfluss denkt. Seine Studie bespricht die ideengeschichtlichen Transformationen der Mimesis und des Enthusiasmos. Exkurse zur Theologie, wie sie bei Wels (2009), 179–196 vollzogen werden, wird man in der vorliegenden Studie nicht finden, dafür aber ausführlichere Kapitel zu Kräften und Bewegungen (die ihrerseits – selbst in mechanistischen Weltbildern – in theologische Begründungszusammenhänge rücken können, ja sie teils sogar benötigen). 53 Die vielrezipierten Arbeiten Ernst Cassirers in der Philosophie der Aufklärung (1932) verfolgen bereits wichtige Gedanken zur frühneuzeitlichen Mechanik. Der wohl wichtigste Schritt hin zu einer fachübergreifend konsistenten Einordnung der Epoche gelingt indes in Panajotis Kondylis’ großer Studie Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (1981) worin die exzeptionelle Bedeutung des cartesischen Rationalismus und Mechanizismus für die Frühe Neuzeit herausgehoben wird und auch Naturwissenschaftlern wie Newton eine umfangreiche ideengeschichtliche Behandlung zukommt. Kondylis’ Studie war in der Erstauflage von 1981 lange Zeit vergriffen und wurde 2002 vom Meiner-Verlag in der zweiten Auflage von 1988 wieder nachgedruckt. Kaum weniger bedeutsam als Kondylis’ Fundamentalwerk sind Gaukrogers Studie The Emergence of a Scientific Culture (2006) sowie die nachfolgenden Monographien The Collapse of Mechanism and theRise of Sensibility (2010) und The Natural and the Human (2016), die eine innere Einheit bilden. Zum bei Kondylis wie bei Gaukroger regelmäßig aufgeworfenen Verhältnis zwischen Metaphysik und Mechanik in einem historisch verdichteten Zeitraum zwischen Newton und Lagrange vgl.
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ken hat in der Forschung bereits wertvolle Erkenntnisse geliefert, 54 jedoch ist dabei nur selten eine Übertragungsleistung auf die ästhetische Theoriebildung, insbesondere in ihren psychologischen (›psychomechanischen‹) Zuschnitten, vorgenommen worden. 55 Der Mechanik war jedoch, wie die Studie genauer zeigen wird, stets gleichsam ein Begehren zu eigen, alle Kräfte der Natur, die außerdem Boudri (2002). Das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit, Transzendenz und Mechanik wird auch in der vorliegenden Studie noch an zahlreichen Stellen eine zentrale Rolle spielen. 54 Nach Ernst Machs Pionierarbeit Die Mechanik in ihrer Entwickelung (1883) sind es im 20. Jahrhundert Max Jammer – insbesondere mit seinen Studien Concepts of Force (1957) und Der Begriff der Masse in der Physik (1964) – sowie Dijksterhuis mit seiner umfassenden Monographie Die Mechanisierung des Weltbildes (1956), die das mechanistische Denken zu konsistenten Darstellungen in seinen historischen Zusammenhängen bringen. Ähnliches leisten auch Hall mit The scientific Revolution 1500–1800 (1954) und Harman mit The scientific revolution (1983). Ebenso hat Maier mit ihren Zwei Untersuchungen zur nach-scholastischen Philosophie (darin besonders mit dem ersten Teil Die Mechanisierung des Weltbilds im 17. Jahrhundert), besonders beachtet in der zweiten Auflage von 1968, Wesentliches zur Erhellung ideengeschichtlicher Zusammenhänge im Kontext des Mechanizismus geleistet. Zu den Vorzügen dieser Studien zählt, dass sie die Geschichte der Mechanik nicht auf deren ›klassischen‹ Aufbau, wie er vor allem für die Naturphilosophie Newtons angesetzt wird, reduzieren, sondern deren Genese anhand wichtiger Stationen nachverfolgen, die prinzipiell von der Antike über Mittelalter und Frühe Neuzeit bis in die Gegenwart reichen. Der epochenübergreifende Anspruch von Dijksterhuis’ Studie ist in dieser Hinsicht besonders hervorzuheben. Dass die Darstellungen solcher Verlaufsformen von Kontinuitäten wie von Diskontinuitäten bestimmt sind, steht dabei außer Frage; bemerkenswert ist in jedem Fall der revolutionäre Charakter, der dem mechanistischen Weltbild von Seiten so gut wie aller Philosophiehistoriker zugesprochen wird. Nachdrücklich weisen hierauf neben den bereits Angeführten etwa Kuhn (1980), Westfall (1978) und Lampariello (1965) hin. 55 Die diachrone Auseinandersetzung mit der bedeutenden Rolle, die der Psychologie für die ars aesthetica zukommt, beginnt im 19. Jahrhundert mit Hermann Lotzes Geschichte der Aesthetik in Deutschland (1868). Wichtige Impulse gehen zudem von Robert Sommers Studie Grundzüge einer Geschichte der Deutschen Psychologie und Ästhetik (1892) sowie Max Dessoirs Geschichte der neueren deutschen Psychologie (1894) aus. Insbesondere Sommers Studie gelangt in Form einer differenzierten Beschreibung der Philosophenschulen von Wolff bis zu Kant und Schiller zu Ergebnissen, die bis heute Gültigkeit beanspruchen dürfen. Was für Ernst Mach auf dem Gebiet der Mechanik gilt, lässt sich auf dem Gebiet der psychologischen Ästhetik für Lotzes, Sommers und Dessoirs Studien veranschlagen: Sie können als Pionierarbeiten der historisch fundierten Auseinandersetzung hinsichtlich der Verbindung von Ästhetik und Psychologie betrachtet werden. Weiterhin verdienstvoll ist der umfassende historische Blick in Alleschs Geschichte der psychologischen Ästhetik (1987). Auffällig bleibt bei alledem, dass in diesen historischen Grundrissen der Kraftbegriff so gut wie keine Rolle spielt. Auch die wichtigen Überblicksstudien von Pochat (1986) und Hammermeister (2002) behandeln psychologische Implikationen der Ästhetik, ohne dabei indes einen Kraftbegriff zu definieren, der überhaupt ›ästhetisch‹ zu nennen wäre. Dies hat sich seit der Jahrtausendwende beträchtlich geändert: Die bereits angeführten Arbeiten Menkes Die Kraft der Kunst (22013) und Kraft, Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie (2008) wenden sich genau dem Zusammenhang zwischen Ästhetik und (psychologischen) Kräften zu. Dürbecks Studie Aufklärung und Einbildungskraft (1998) fokussiert wiederum mit der Einbildungskraft das für die Ästhetik zentrale Seelenvermögen; sie verschreibt sich gleichwohl anderen ideengeschichtlichen Zusammenhängen und Herleitungen als dem mechanistischen Denken – ebenso Gisis Studie Einbildungskraft und Mythologie (2007), die sich zudem an einigen Stellen kritisch mit Dürbecks Auffassungen auseinandersetzt. Eine für die
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menschlichen wie die tierischen, die körperlichen wie die geistigen, universell beschreibbar zu machen. Somit besteht eine philosophische Hauptlinie, die hier verfolgt werden soll, in der Entwicklung eines Kraftbegriffs, der die Natur zugleich in der menschlichen Seele selbst wie auch im Kosmos verortet. Hieran spiegeln sich bereits die Fragen wider, die im frühen 18. Jahrhundert zu einer neuen Beschreibung der Dichtkunst im Rahmen einer ästhetischen Erneuerung führen. Damit verbunden ist zugleich die Hoffnung, dass die Ästhetik nicht zuletzt auch als Disziplin durch ihre Einbettung in naturphilosophische Zusammenhänge umso mehr an Kontur gewinnt. 56 Wenn in diesen Kontexten von Kräften die Rede ist, so wird sich zwar bisweilen auch auf die Antikenrezeption bezogen, dies jedoch vorwiegend in einem rein philosophischen Sinn oder mit Bezug auf die bildenden Künste. 57 Es ist in diesem Zusammenhang also zu erwägen, was eine mechanistisch grundierte Ästhetik und Poetik für die Antikenrezeption der Frühen Neuzeit bedeutet. In einem aktuellen Beitrag stellt Evers mit Blick auf die Ästhetik des 18. Jahrhunderts folgende, in der Forschung verbreitete Position dar: Der Traum einer ästhetischen Revolution wird auf Griechenland projiziert. Griechenland, das Land Homers, Platons und Phidias', wird seit Winckelmann das gelobte Land. Denn die Römer gelten als Imitatoren, die Griechen als ursprünglich, als ›natürlich‹. 58
Im geschichtlichen Zusammenhang, der hier aufgerufen wird, ist einerseits die Frage zu stellen, ob der Lobpreis auf Griechenland beschränkt sein muss – denn im 18. Jahrhundert spielen Vergil, Ovid und, vielleicht noch vor allen anderen, Horaz in den poetologischen Diskussionen überragende Rollen –, andererseits stellt sich die Frage, was denn in diesem Sinn alles als ›natürlich‹ zu gelten habe. Evers setzt hierzu ideengeschichtlich »[d]ie ästhetische Revolution als Alternative für das mechanistische Weltbild« an. 59 Mechanik und Ästhetik sind jedoch, Verbindung von mechanistischem und ästhetischem Denken im 18. Jahrhundert herausragende Forschungsleistung stellt Torra-Mattenklotts Metaphorologie der Rührung (2002) dar. Dort wird allerdings die Antikenrezeption nicht systematisch ausgebreitet – was in dem Fall nicht als Makel zu verstehen ist, da dieser Fokus gar nicht erst angekündigt wird. Wichtige und bis dahin von der Forschung teils übersehene, teils vernachlässigte Berührungspunkte zwischen Mechanik und Ästhetik in der Frühen Neuzeit erläutert zudem Achermanns Aufsatz Im Spiel der Kräfte (2010). 56 Noch 1973 galt die Ästhetik manchem Geisteswissenschaftler »als Randgebiet der Philosophie« (Schweizer [1973], 9). 57 So befasst sich der im Zusammenhang mit der Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft« (Universität Hamburg) entstandene Sammelband Kraft, Intensität, Energie (Fehrenbach – Felfe – Leonhard [2017]) mit der Dynamik der Künste zwischen Früher Neuzeit und Moderne, fokussiert dabei jedoch in erster Linie die bildenden Künste. 58 Evers (2017), 27. 59 Ebd., 59.
Einführung in die Fragestellung
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so die in der vorliegenden Studie favorisierte Haltung, nicht zwei Alternativen, sondern weisen einen gemeinsamen Entwicklungsweg auf. 60 Für die bisherige Forschung lässt sich demnach eine unbefriedigende Situation festhalten: Entweder mangelt es an der Herausstellung mechanistischer Implikationen in der frühneuzeitlichen Ästhetik und Poetik, oder es mangelt, wenn dies gesehen wird, an einer umfassenden Einbindung der antiken Vor- und Gegenbilder hierzu.
3. Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹
Bei der avisierten Darstellung, welche die Antike und die frühneuzeitliche Mechanik zusammen denkt, geht es nicht um eine möglichst vollständige Chronologie – eine solche ließe sich ohnehin kaum je erzielen –, sondern um die Fokussierung naturphilosophischer Konzepte in bestimmten geschichtlichen Kontexten, welche die Ästhetik und Poetik – sowie in Teilen die Rhetorik – entscheidend geprägt haben. Die vorliegende Studie verfolgt in der Hauptsache den Weg, aspektbezogen zu argumentieren und die Philosophien, die sich auch innerhalb des mechanistischen Weltbilds durchaus voneinander unterscheiden können, nicht so sehr als geschlossene Systeme zu betrachten als vielmehr die historischen Entwicklungswege naturphilosophischer Paradigmen in zwei Richtungen – einerseits ihrer antiken Verankerung, andererseits ihrer frühneuzeitlichen Neu- und Umwertung nach – zur Darstellung zu bringen. Es geht daher gerade nicht um statisch fixierte Philosophenschulen (noch weniger um Philosophenbiographien) als vielmehr um die Darstellung von Kraftund Bewegungskonzepten, die – obschon sie spätestens ab dem 16. Jahrhundert in ihrem mechanischen Profil reüssieren – nicht genuin mechanistischen Gemengelagen entstammen müssen, sondern sich erheblich aus der antiken Philosophie, Poetik und Rhetorik speisen und in ein interagierendes Verhältnis zueinander treten. Mehr noch eröffnen Kraft- und Bewegungskonzepte insbesondere aufgrund der in ihnen vollzogenen Aufwertung materialistischer Deutungsangebote gegenüber metaphysischen neue Rezeptionsmöglichkeiten der Antike. Hierdurch kommen die Entwicklung, Anverwandlung und Transformation antik vorgeprägter Kräfte, Bewegungen und Vermögen im Sinne der reception studies 61 ins Blickfeld. Um den Doppelcharakter von Überlieferung und Progression nachzuvollziehen, ist es einerseits notwendig, sobald die Studie den Bereich der Antike verlässt, manche Kapitel überwiegend auf 60 61
Dies wird ein zentrales Thema in Teil III – IV der Studie bilden. Vgl. Hardwick / Stray (2008).
Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹
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die Entwicklung des mechanistischen Weltbilds zu richten und dabei Aspekte in den Blick zu nehmen, die prima facie keinen expliziten Antikenbezug aufweisen, jedoch zum Verständnis des mechanistischen Weltbildes Wichtiges beitragen. 62 Andererseits gilt es, die Rezeption antiker Autoren 63 und deren Funktionsweisen 64 in ihren ästhetischen und poetologischen Dimensionen zu erläutern. Im Zusammenschluss arbeitet dies dem Ziel zu, die übergeordnete Frage zu beantworten, wie es gelingen konnte, ein so neues, ja revolutionäres Weltbild wie das mechanistische zu einem dominanten Schema der Weltdeutung zu entwickeln und die Antike dabei gleichsam mit im Boot zu halten. 65 Auf diesem Hintergrund erhält das (nicht nur) dieser Studie titelgebende Kompositum ›Antikenrezeption‹ neben seiner in den Kapiteln i.1.a–f bereits ausgebreiteten argumentativen auch eine analytische Dimension. Obschon die Begriffsgeschichte der ›Antikenrezeption‹ selbst nicht Thema der Studie ist, sind die Komponenten dieses Terminus aufzuschlüsseln, um die Breite des hier veranschlagten Horizonts, die Erklärungsziele und deren Darstellungsform zu erläutern. ›Antike‹ und ›Rezeption‹ bilden für sich genommen bereits systematisch voraussetzungsreiche Begriffe, wobei in der vorliegenden Studie ›Antike‹ von einer epochentheoretischen und ›Rezeption‹ von einer ideengeschichtlichen Warte her verstanden werden. Gehen wir zunächst von der Epochenseite aus: Spätestens mit dem Einsetzen poststrukturalistischer Metaphysik-Kritik 66 gilt es als problematisch, Begriffe einem etwaigen ontologischen Gehalt nach bestimmen zu wollen. Für die in Rede stehenden Eochenbegriffe ergeben sich dann bestimmte Fragen: Worauf verweisen ›Epochen‹ und was können sie zur Erhellung einer Gemengelage beitragen, die gemeinhin als historische, als vergangene Wirklichkeit bezeichnet wird? Was ist es eigentlich, was durch Epochenbegriffe bezeichnet wird? Der Versuch einer Beantwortung lässt sich zumindest ex negativo darin erkennen, die Forderung aufzustellen, dass Epochenbegriffe grundsätzlich zu ›entontologisieren‹ seien, 67 dass sie also keinen eindeutig fixierbaren historischen Gehalt in sich trügen und in erster Linie mentale Schöpfungen Dies sind vor allem die Kapitel III.1.c.γ und IV.2–3. Beispielsweise in Kapitel III.3.a, IV.4.a und IV.4.d. 64 Beispielsweise in Kapitel IV .5.c. 65 Zum Aspekt der Tradition im Kontext der reception studies vgl. Budelmann / Haubold (2008). 66 Vgl. Foucault (1974), Derrida (1967) und Deleuze / Guattari (2000), verstanden als repräsentative Auswahl. Darauf, dass bereits bei Hegel bestimmte Aspekte der Metaphysik-Kritik Derridas indirekt vorweggenommen werden, hat zuletzt Schülein (2016) hingewiesen. 67 Im 20. Jahrhundert haben insbesondere der radikale Konstruktivismus, der Dekonstruktivismus, der Poststrukturalismus, Teile der Diskursanalyse, insbesondere foucaultscher Prägung, der Psychologismus sowie der Mentalismus diese Position prominent vertreten oder in ihren Theoriebestand integral eingebaut. 62
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Einführung in die Fragestellung
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beziehungsweise sprachliche Konstrukte seien. Bildlich gesprochen, dienen sie dann bestenfalls einer bestimmten Orientierung im Dickicht der Geschichte. Dürr, Engel und Süßmann haben diese Haltung bereits 2003 folgendermaßen zusammengefasst: Die Geschichtstheorie der letzten Jahrzehnte hat den Epochenbegriff radikal entontologisiert. Nicht der Welt der historischen Erscheinungen wird eine Geschichtsepoche wie die Frühe Neuzeit mehr zugezählt, sondern der Welt des Wissens; nicht in der Wirklichkeit wird sie aufgesucht, sondern in den Köpfen, wo sie die Wahrnehmung vergangener Wirklichkeiten strukturiert. 68
Die hier aufgeworfene »Welt des Wissens« hängt von der Annahme einer nachträglichen Strukturierung ab, die den Gegenständen der Geschichte – wenngleich hier begrifflich eingeschränkt auf die »Wahrnehmung vergangener Wirklichkeiten« – zuzuteilen wäre. Die Existenz historischer Erscheinungen als schiere Existenz in den »Köpfen« der Menschen allein läuft indes Gefahr, allzu sehr auf bewusstseinstheoretische Voraussetzungen reduzibel zu sein, und sieht sich wiederum Kritik ausgesetzt, wie sie etwa von Achermann vorgebracht wird: Sind Epochen Kopfgeburten, und wenn ja, sind sie dies in anderer Weise als etwa dasjenige, was wir mit Ausdrücken wie ›Klima‹, ›Bundestag‹, ›Fahrgastrecht‹ oder ›Pappbecher‹ bezeichnen? Es ist wohl wahr, dass ›Klima‹ nur in unserer Rede und unserer Schrift existiert, doch ist es mehr als fraglich, dass dies auch für das Klima gilt. Und es ist ebenso wahr, dass Vorstellungen nur im Kopf existieren, doch sind solche Vorstellungen, falls sie keinen Objekten, Prozessen oder Eigenschaften in der Welt entsprechen, Irrtümer, Lügen oder Fiktionen; fiktiv nämlich werden Gegenstände und Ereignisse genannt, die entweder nicht existieren oder nicht existiert haben. Das Klima aber scheint bis auf weiteres zu existieren, und dies ungeachtet der Tatsache, dass unter dieser Bezeichnung eine unüberschaubare Menge von Ereignissen subsumiert wird und auch ganz unterschiedliche Vorstellungen von Klima in den Köpfen existieren. Und auch ein Pappbecher existiert, ungeachtet des Umstandes, dass von dessen Wahrnehmung, dessen Identifikation, dessen Vorstellung und dessen Bezeichnung trivialerweise nichts übrig bliebe, wären unsere Köpfe nicht. 69
Mag sich Achermanns zuletzt angeführtes Beispiel des Pappbechers, insofern es sich dabei um ein der maschinellen Produktionskraft entsprungenes, mithin ein kulturelles Artefakt handelt, nicht auf derselben ontogenetischen Ebene 68 69
Dürr – Engel – Süßmann (2003), 1. Achermann (2016), 90 f.
Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹
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befinden wie der zunächst angeführte, im Wortsinn deutlich globalere Begriff des Klimas, und daher als Vereinzelung eines allgemeineren ontologischen Problems erscheinen, so ist der in beiden Fällen ausgedrückte Zusammenhang zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem schwerlich hintergehbar. Anders gewendet: Unterstellt man, dass Epochenbegriffe nichts Wirkliches bezeichnen, könnte man auch zugespitzt behaupten, dass überhaupt kein Begriff irgendetwas Wirkliches bezeichnet oder überhaupt zu bezeichnen in der Lage wäre. Epochenbegriffe lassen sich daher angemessener verstehen als Konstrukte über einen bestimmten historischen Zeitraum, die komplexe Sachverhalte vereinfachen, zu einem gewissen Grad heuristisch sind und nur bestimmte – gleichwohl begründete – Aspekte geltend machen und dergestalt stets eine gewisse Deutungsmacht über Geschichte ausüben. Die Folgerung also, dass Begriffe ontologisch leer seien und keine zuverlässig überprüfbare Beziehung zu den von ihnen bezeichneten Objekten hätten, muss Zweifel auf den Plan rufen, die – wenn schon nicht aus einer streng realistischen, so doch zumindest aus einer epistemologischen Warte heraus – zu begründen sind. Zur Frage steht dann Grundsätzliches, nämlich ob und wie wir überhaupt Wissen über etwas erlangen und weitergeben können. Die drei großen epistemologischen Schulen des 20. Jahrhunderts – Realismus, Kritischer Rationalismus und Skeptizismus – 70 sowie die bereits erwähnte poststrukturalistische, postmoderne, dekonstruktivistische Wissenskritik sind bis heute und voraussichtlich auch künftig von zentraler Bedeutung für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Begriffen und den Objekten, die jene benennen und erklären wollen. Welche epistemologischen Grundüberlegungen muss man also anstellen, wenn man über die Möglichkeit reflektiert, von einer Epoche wie der Antike zu sprechen? 71 Nimmt man an, dass die realistische Position einen Punkt trifft, wenn sie sagt, dass es Ereignisse, Personen und Gegenstände in dieser Welt und in vergangenen Welten gibt beziehungsweise gab, deren Existenz sich unabhängig zu(m) subjektiven Blickwinkel(n) verhält, so ist indes noch nicht die Frage geklärt, was es dann heißt, dass sich eine Darstellung ›adäquat‹ zu eben diesen Gegenständen verhält. Adäquat wäre sie dann zu nennen, wenn sie Wissen Vgl. prominent für den Realismus Putnam (1981), für den Kritischen Rationalismus Popper (1979) sowie für den Skeptizismus Marquard (31982). 71 Zum Problem des Realismus von Begriffen in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen vgl. neben den Standardwerken von Baumann (2006), Gabriel (2015) und Schneider (1998), die auf klassische Positionen wie diejenigen Platons, Sextus Empiricus’, Descartes’, Freges und Wittgensteins referieren, vor allem die zur Vagheit und Ambiguität von Begriffen nach wie vor präzise sprachphilosophische Analyse von Pinkal (1985), 61–94, die Einlassungen zur epistemischen Ursächlichkeit bei Grundmann (2008), 453–541 sowie, als eine generell überaus schätzenswert geschriebene Argumentation für den Außenwelts- und Wissensskeptizismus, Schmoranzer (2010), 99–155. 70
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vermittelt, wenn ihre Aussagen Wahrheit – sei sie nun ›objektiv‹ oder eben gänzlich diskursiv verstanden – enthalten und diese Wahrheit sprachlich angemessen vermittelt wird. Unzweifelhaft erscheint dabei, dass sowohl der epistemische Gehalt eines historischen Epochenbegriffs als auch die Vorbehalte gegenüber solchen epistemischen Gehalten jeweils für sich auf epistemologischen Verfahren, auf spezifischen Formen der Wissensproduktion beruhen. Ein bekanntes Beispiel: Wenn man von der ›Zeit des Römischen Bürgerkriegs‹ spricht und damit Wahres beziehungsweise wahrhaftig Geschehenes behaupten will, so hängt dies entscheidend davon ab, dass bestimmte Ereignisse in einem (vom Sprecher freilich zu präzisierenden) Zeitraum stattgefunden haben und dass Dokumente – oder andere Medienformate – eben davon zeugen; 72 dass ferner die zur Explikation und Explanation bemühten Begriffe adäquat zu den angenommenen Ereignissen und Vorgängen sind; und dass die Verstehensleistung nicht der ›Konstruktion‹ von Epochen zuwider läuft, sondern ganz im Gegenteil deren notwendiger Zulieferer ist. Aber auch der Zweifel hieran muss epistemisch begründet sein und betrifft dabei auch die bezeichnenden Funktionen historischer Paradigmen bzw. die epochentheoretischen Signifikationsprozesse selbst. Denn natürlich bedeutet die Setzung eines solchen Paradigmas (›Römischer Bürgerkrieg‹, ›Hellenismus‹, ›Französische Aufklärung‹ etc.) immer auch einen konstruktiven Akt, insofern ein Signifikant gesetzt wird, der nicht zwingend in den von ihm zu benennenden historischen Zeitaltern nachweisbar, geschweige denn emphatisch vertreten worden sein muss und der sich (auch) aus Wissenssystemen, mit Dorschel: aus ›Ideen‹, generiert, die von späteren Generationen entwickelt worden sind und der im Sinne Foucaults bestimmte Ereignisse einbezieht, andere ausklammert, um einen epochenspezifischen Allgemeinbegriff ansetzen zu können. Die Einordnung, Systematisierung und Diskursivierung epistemischer Größen – der Wissensgehalt über historische ›Ereignisse‹ bildet hierfür nur ein Beispiel – ist selbst von epistemologischem Zuschnitt. Die Idee ›Römischer Bürgerkrieg‹ strukturiert und ermöglicht ein bestimmtes Wissen über die Ermordung Caesars und Ciceros, den Aufstieg Octavians zum princeps, damit verbunden den Beginn des römischen Prinzipats etc. Die konkurrierenden Konzepte wie etwa ›Real-‹ beziehungsweise ›Ereignisgeschichte‹ versus ›Ideengeschichte‹ stellen daher nur scheinbare Alternativen dar, insofern beide sowohl hinsichtlich ihrer Gegenstandsbestimmung als auch Zur Funktionalität historischer Zeugnisse wurde im deutschsprachigen Raum am prominentesten von Assmann die Unterscheidung zwischen monumentalem und dokumentarischem Gedächtnis eingebracht. Als Spielarten des kulturellen Gedächtnisses zeigen sie die schöpferischen und deskriptiven Dimensionen menschlicher Artefakte an. Menschen schaffen etwas zu ihrem eigenen Gedächtnis; sie schaffen aber auch etwas, was aufgrund des Interesses anderer Menschen weiter tradiert – und interpretiert – wird; vgl. Assmann (1988) und Assmann / Czaplicki (1995). 72
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ihrer explanatorischen Dimensionen nicht ohne Ideen – im skizzierten Verständnis – auskommen: Im Mittelalter war die ökonomische Verfassung der europäischen Gesellschaften die feudale. Den ersten Rang in ihnen nahm der Adel ein; auf seine Interessen war das Gesellschaftssystem zugeschnitten. Was aber ist Adel anderes als eine Idee? Es gibt kein blaues Blut. ›Adel‹ ist der Gedanke, eine Minderheit von Menschen sei höherer Abkunft und übertrage ihre hervorragenden Eigenschaften von Generation zu Generation. Menschen niederen Standes seien dazu da, dem Adel zu dienen. Eine sogenannte Realgeschichte – eine Sozialund Wirtschaftsgeschichte – des europäischen Mittelalters, die nicht auf diese Idee Bezug nähme, verfehlte ihren Gegenstand. [. . . ] Wer ›Realgeschichte‹ oder ›Ereignisgeschichte‹ der Ideengeschichte entgegensetzt, sitzt insofern einer methodischen Illusion auf. Wären die Handlungen der Menschen bloße Ereignisse, gäbe es nichts an ihnen zu verstehen. Handlungen werden verständlich, wenn, weil und insofern sie Ausdruck von Ideen sind. 73
Das hier herangezogene Beispiel ist nicht so eindeutig auf einen vereinzelten Gehalt reduzibel, wie es bei einem so vertrauten Wort wie ›Adel‹ vielleicht den Anschein hat. Mit gutem Grund spricht Dorschel nicht von ›genau dem Gedanken‹, sondern ›nur‹ von »de[m] Gedanke[n]«. In Kombination mit anderen Gedankeninhalten neben den angeführten 74 kann der Adel als komplexe Idee begriffen werden. Dorschels Einlassungen zum Verhältnis von Real- und Ideengeschichte haben auch über dieses Beispiel hinaus für die hier skizzierte epochentheoretische Problemstellung einen veranschaulichenden Charakter, wobei der Vorzug einer Berücksichtigung von Ideen auch in der Ereignis- bzw. Realgeschichte zutage tritt. So würde es mit hoher Wahrscheinlichkeit Widerspruch hervorrufen, davon auszugehen, dass es Ereignisse beziehungsweise Handlungen 75 wie ›Caesar überschritt den Rubikon‹, ›Pompeius erhielt vom Senat den offiziellen Befehl, Rom gegen Caesar zu verteidigen‹, ›Pompeius, Crassus und Caesar bildeten ein Triumvirat‹ etc. nicht gab, sehr wohl aber den ›Römischen Bürgerkrieg‹. Aber erst mit Setzung dieses letzten Paradigmas wird den singulären Ereignissen und Handlungen auch ein retrospektiver Sinn zugeschrieben, der freilich nicht die einzig mögliche semantische Option darstellt. Ein Begriff mit historiographischem Geltungsanspruch ist, so er sich einem wissenschaftlichen Werturteil aussetzt, auf die Annahme der ihm zugrundeliegenden Sachverhalte ebenso angewiesen. Ebenso relevant erscheint es, sich Dorschel (2010), 38 f. Wie etwa ›Vererbbarkeit sozialer Eigenschaften‹ oder ›konservativer Umgang mit Privilegien‹. 75 Zu Differenz und Berührungspunkten dieser Begriffe, die von Dorschel nicht systematisch behandelt werden, vgl. Davidson (42015). 73 74
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Einführung in die Fragestellung
die jeweils veranschlagten terminologischen Beschreibungskriterien und Plausibilisierungsverfahren zu vergegenwärtigen, auf denen jedwedes Konstatieren eines historischen Sachverhalts aufruht. 76 Wie zuverlässig dann ein solcher Zugriff sein kann – materiell etwa in Hinsicht auf die Überlieferung, epistemisch wiederum in Hinsicht auf die Wissens- und Verstehenskategorien, die wir ansetzen, oder argumentativ hinsichtlich der Frage, inwiefern uns deren Zusammenhänge überzeugen, bildet einen Fragehorizont, dessen fortwährende Reflexion zu den elementaren Aufgaben der Philosophie und der philologischen Wissenschaften zählt. Ohne darauf eine ›endgültige‹ Antwort zu liefern, zeigt sich doch, dass epistemische Ansprüche und ihre Möglichkeitsbedingungen im oben veranschlagten Sinn als ein Scharnier zwischen Ereignis, Epoche und Idee fungieren können. Hiervon zu scheiden ist nochmals die genaue Frage nach Chronologie und Diegese in den ideengeschichtlichen Darstellungsverfahren – insofern diese in erster Linie bestimmten Konventionen unterliegen und jeweils Wissen vermitteln können. Die Literaturgeschichtsschreibung hegt selbst spätestens mit Einsetzen des Konstruktivismus und der Systemtheorie erhebliche Zweifel an der Plausibilität des Kriteriums einer Epochenabfolge, die sich im Sinne einer universellen Literaturgeschichte (historia lit[t]eraria universalis) noch beschreiben ließe. Anders gewendet: Ideengeschichtliche Betrachtungen arbeiten darstellerisch auch mit Verfahren wie Prolepse und Metalepse und unterscheiden sich gerade in dieser diegetischen Vielseitigkeit und Präsentationsweise von einem schlicht chronologisch-rekonstruierenden Abriss. Zwar kann sich Ideengeschichte der Chronologie bedienen, ist aber darauf nicht allein angewiesen. Bereits die Konstruktion einer erzählerischen Raumzeit (›Diegese‹) kann auf Mittel wie die oben genannten setzen, um illustrative und argumentative Dimensionen auszufüllen, ohne dass deren Elemente sich inkonsistent 76 Darüber hinaus ist es keine Frage von Beliebigkeit, welche historischen Größen dazu zu zählen sind und welche nicht. Unter welchen Bedingungen lässt sich sagen, dass Caesar den Rubikon überschritt? Auf unser Thema übertragen hieße dies etwa, dass es merkwürdig wäre, beispielsweise eine ›Geschichte der Ästhetik‹ anzusetzen, die im 18. Jahrhundert großen Einfluss auf die Philosophie, Philologie und Psychologie nahm, wenn nicht nach unserem bestmöglich verfügbaren Wissen – neben zahlreichen anderen Vermutungen – die Annahme gerechtfertigt erschiene, dass Baumgarten in der Zeit eine Aesthetica (1750/58) geschrieben hätte und diese Schrift uns – in mehr oder weniger zuverlässiger Weise – überliefert wäre und wir einen kognitiven Zugriff auf diese Quelle hätten. Zur Begründung ist dann anzuführen, dass es plausibel ist, eine Geschichte der Ästhetik anzunehmen, wenn sich die dazu herangezogenen kulturellen Artefakte in bestimmten Weisen zueinander kohärent verhalten: dass also etwa Baumgartens Schrift Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) Kohärenzen zur späteren Aesthetica aufweist, auch wenn dies nicht aus ihrer begrifflichen und programmatischen Anlage, die mehr auf etwas Poetologisches (ad poema) denn auf etwas Ästhetisches hinzuweisen scheint, unmittelbar erkennbar ist.
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zueinander verhalten müssten. Somit ist Rezeptionsgeschichte nicht falsch zu verstehen als eine Geschichte, in der permanente Bezugnahmen auf eine – mit welchem ontologischen Grad auch immer versehene – Epoche stattfinden. 77 Zwar wäre es merkwürdig und überdies zu kurz gegriffen, zu sagen, dass Rezeption historische Realität auf irgendeine schlichte Weise ›abbilden‹ wolle; sie kommt aber ohne die Grundannahme, dass die Texte in einer Zeit produziert worden sind, die sich von unserer unterscheidet, schwerlich aus; die Objekte der Bezugnahmen sind, ganz unabhängig davon, ob man ihre Qualität ›zeitlos‹ oder andersartig, zum Beispiel ›sprachlich konstruiert‹, bezeichnet, in jedem Fall vorgängig zu nennen. 78 Ihre verbindliche Verfasstheit ist die Form der Sprache. Batstone hat diesen so basalen wie wichtigen Umstand im Kontext der reception studies zum Ausdruck gebracht: This means that in terms of our consciousness, language precedes the world. It is the medium into which we are born and it carries with ist values and meanings that reach as far back into the past as they do into the future. This is possible because from within language meaning is not arbitrary; metaphor is connected to metaphor, metonomy to metonomy and the briefcase has long ceased to carry the lawyer's briefs while the word still does. [. . . ] Any symbolic system carries with it its history, its future and play. 79
Batstones Argument ist strukturalistisch vorgeprägt, insofern Metapher und Metonymie den paradigmatischen und syntagmatischen Dimensionen, durch die sich so etwas wie eine Diegese überhaupt aufspannen lässt, entsprechen, wobei die auftretenden Signifikanten – wie Batstone zu Recht festhält – nicht auf einen einzelnen Sprachgebrauch angewiesen sind. Es lässt sich ergänzen, dass die Ideen bezeichnenden Signifikanten bei aller Freiheit gleichwohl darauf angewiesen sind, dass ihr Gebrauch gut begründet wird. So wenig Ideen Diskurse sind, so sehr werden und wurden aus ihnen historisch je spezifische Geltungsansprüche formuliert, die universell in Bezug auf das in ihnen zur Geltung gebrachte Verhältnis zwischen Wahrheit und Wirklichkeit zu betrachten sind. Dieses Verhältnis ist wiederum dadurch gekennzeichnet, dass nicht jede Aussage über die Wirklichkeit eine Aussage über eine abstrakte Wahrheit bedeuten muss, jedoch ein Konzept beinhaltet, das die Produktion bestimmter Vgl. den auf Rezeptionsgeschichte und -ästhetik ausgelegten Sammelband Classics and the Uses of Reception (Martindale / Thomas [2006]), worin durchweg auf Grundlage präziser Kenntnisse der antiken Textcorpora Rezeptionsaspekte auf verschiedenen Ebenen wie ›Klassizismus‹, ›Historizität‹ und ›(Post-)Feminismus‹ zur Darstellung gebracht werden. 78 Zwar würde eine vollständig idealistische Geschichtsphilosophie selbst den zeitlichen Vorgang an sich bestreiten; dieser radikale Weg soll hier jedoch nicht verfolgt werden. 79 Batstone (2006), 15. 77
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Texte und deren Kohärenz auf für außenstehende Rezipienten nachvollziehbare Nenner bringt. Ideengeschichte beschäftigt sich dementsprechend nicht ›nur‹ mit Ideen, sondern zuvorderst mit den Verfahren, wie Wahrheit und Erkenntnisse überhaupt gewonnen werden – und zwar auf einer transhistorischen Ebene, wobei ihr Fluchtpunkt stets die Historie bleibt. Foucault hält Ähnliches im Vorwort zur Ordnung der Dinge folgendermaßen fest: Es handelt sich eher um eine Untersuchung, in der man sich bemüht festzustellen, von wo aus Erkenntnisse und Theorien möglich gewesen sind, nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat, auf welchem historischen Apriori und im Element welcher Positivität Ideen haben erscheinen, Wissenschaften sich bilden, Erfahrungen sich in Philosophien reflektieren, Rationalitäten sich bilden können, um vielleicht sich bald wieder aufzulösen und zu vergehen. 80
Das mechanistische Weltbild mutet in diesem Sinn prima facie als Reflexion der neuen Erfahrungswelten an, die durch den technischen Fortschritt freigesetzt werden – und überdies machtkritisch, da es mit Autoritäten bricht: Das Neue steht gegen das Alte, die Materie wird gegen die Metaphysik in Stellung gebracht, die Bewegung gegen eine statische Ontologie. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet erfährt Ideengeschichte, trotz ihrer vermeintlich metaphysischen Provenienz, eine erstaunlich ungebrochene Konjunktur. 81 Dabei ist trotzdem zu beachten, dass Ideen, wenn sie als Paradigmen für eine Geschichtsschreibung dienen sollen, nicht als der Wirklichkeit entrückte Ideen behandelt werden, sondern als »situierte Ideen«, 82 als »relationship between ideas and historical processes«, 83 als »in dem Verlauf« 84 verfolgbare Größen oder als »world-views and collective mentalités« 85 aufgefasst werden. Ideen wären demzufolge, im Gegensatz zu einer abstrakten Verortung in einem platonischen Ideenhimmel, in ihrem Verhältnis zu historischen Sachverhalten immer wieder aufs Neue zu prüfen. 86 Das dabei auftretende Problem, dass historische Wirklichkeiten – zumal bezogen auf die Geistesgeschichte – selbst in der Regel nur noch in Form von Texten und Bildern an uns gerichtet sind, verlangt nach einer den Quellen und den Ideen gemeinsamen Foucault (1974), 24. Vgl. die – teils Disziplinen übergreifenden – Beiträge von Nakamura (1995), Kelley (2002), Dorschel (2010), Piovani (2010), McMahon / Moyn (2014), Whatmore (2016) und Goering (2017). 82 Dorschel (2010), 23. 83 Whatmore (2016), 25. 84 Dilthey (41959), 415. 85 Darnton (1980), 337. 86 Zum relationalen Charakter von Ideen im Kontext von Ideen- und Problemgeschichte vgl. Dorschel (2010), 97–102. 80 81
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Beschreibungsebene. Die vorliegende Studie sieht diese Beschreibungsebene in zwei hauptsächlichen Dimensionen: Die eine ist die oben angesprochene Ebene des Wissens. 87 Die zweite ist diejenige der Textualität. Die zeichenhafte Präsenz von Ideen wird in der Regel als kulturelle, im Falle der Philosophie und Philologie: textuelle Leistung aufgefasst. Wenn es primär um Texte und Kontexte geht, die von wissenschaftlicher Seite in den Fokus gerückt werden, so wird der Text selbst nicht selten metaphorisch beschreibbar zu machen versucht. 88 Ontologisch tiefgreifender als diese erscheint gleichwohl die in den cultural studies vertretene Sicht, dass Kontexte nicht einfach Konstellationen und Beziehungen abbilden, sondern jede Form von Kultur bereits Text bedeutet respektive als Text behandelbar ist. 89 Baßlers allgemeiner Textbegriff beruft sich wissenschaftsgeschichtlich vor allem auf den New Historicism. Gleichfalls sind aber auch dem Strukturalismus entstammende Konzepte wie Intertextualität als darstellende Verfahren für die Frühe Neuzeit und andere Epochen fruchtbar zu machen. 90 Die bis heute wirkmächtigen Äußerungen Foucaults zum Verkettungscharakter von Zeichen im Vorwort zu Die Ordnung Vgl. zu diesem auch etymologisch relevanten Zusammenhang Dorschel (2010), 85: »Die ›Idee‹ steht ihrer griechischen Herkunft nach im Bann der vielleicht mächtigsten der westlichen Kultur: Wissen ist Sehen; erkannt hat, wer Einsicht gewann. Jedes ideengeschichtliche Vorhaben hat es nötig, sowohl über die erschließende Kraft dieser Metapher wie über ihre Grenzen ins Klare zu kommen; auf beides weist die Geschichte der Idee der ›Idee‹«. 88 Vgl. Boucher (1985), 1: »In the Phaedrus Socrates argues that the written word is far inferior to the spoken word as a means of communicating knowledge. The written word is incapable of distinguishing between the readers who are ignorant and unreceptive, and those who are knowledgeable and receptive to what the author has written ›And if it is ill-treated or unfairly abused it always needs its parents to come to its rescue; it is quite incapable of defending itself‹. [. . . ] A text, like a child, will have a character which exhibits extremes of mood, a variety of attitudes, inconsistent opinions and moral ambivalences. The parent may have found one characteristic more endearing than others and attempted to develop it as the most significant aspect of the child’s personality. But the child will appear differently in the eyes of many people with whom it comes into contact, and neither the parent nor the guardian is capable of legislating what is to be perceived by others as the personality of the child. [. . . ] The text, too, will appear differently in different company, and the essence of the problem of interpretation for those prescribers of principles for conducting such an endeavour, is identifying the appropriate company in terms of which the text should be comprehended. A text, like a child, they suggest, is nothing in isolation: it has to be understood in relation to something«. Die angeführte Stelle entspricht Plat., Phaedr., 275e2 f. 89 Vgl. die insbesondere in Germanistik und Kulturwissenschaft vieldiskutierte Text-KontextTheorie bei Baßler (2005). 90 Vgl. Vollhardt (2003), 145 f.: »An die Frühe Neuzeit wird man vielleicht nicht vorrangig denken, wenn man diesen durch Poststrukturalismus und Dekonstruktion prominent gewordenen Begriff [›Intertextualität‹; D. B.] verwendet. Dabei dürfte es kaum eine Periode der neueren Literaturgeschichte geben, in der literarische Netze von Anspielungen und die Übernahme von Textelementen eine so große Rolle gespielt haben, wie in der Zeit der Ausbildung unseres modernen Literatursystems«. Zur Intertextualität als Objektbereich der Textualität vgl. Baßler (2005), 65–72. 87
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der Dinge supponieren ein Konzept, das sich auf eine bestimmte Suche, auf die Suche nach Verfahren der Kohärenzbildung in historischen Wissenssystemen begibt. 91 Ein so verstandenes Konzept von Ideen(verbünden), deren epistemischer Gehalt und deren systematische Kohärenz unhintergehbar an die zum Zwecke ihrer Repräsentation je aktualisierten Zeichen- respektive Textformen geknüpft ist, ist auch auf geschichtsphilosophischer Ebene seit dem Historizismus und New Historicism ein vieldiskutierter Gemeinplatz. 92 Es geht bei Vgl. Foucault (1974), 21 f.: »Wenn wir eine reflektierte Klassifizierung einführen, wenn wir sagen, daß die Katze und der Hund sich weniger ähneln als zwei Windhunde, selbst wenn diese beiden gezähmt oder einbalsamiert sind, selbst wenn sie beide wie Irre laufen und wenn sie gerade einen Krug zerbrochen haben, von welchem Boden aus können wir es mit aller Gewißheit feststellen? Auf welchem »Tisch«, gemäß welchem Raum an Identitäten, Ähnlichkeiten, Analogien haben wir die Gewohnheit gewonnen, so viele verschiedene und ähnliche Dinge einzuteilen? Welche Kohärenz ist das, von der man sofort sieht, daß sie weder durch eine Verkettung a priori und notwendig determiniert ist, noch durch unmittelbar spürbare Inhalte auferlegt wird? Denn es handelt sich nicht darum, Konsequenzen zu verbinden, sondern konkrete Inhalte aneinander anzunähern, zu analysieren, zu isolieren, anzupassen und zu verschachteln«. 92 Der Zusammenhang zwischen Determiniertheit und einem radikal kontingent zu nennenden Geschichtsverlauf wurde seit dem 19. Jahrhundert regelmäßig als janusköpfige Typologie in der Ideengeschichte diskutiert und insbesondere in anglo-amerikanischen Forschungsbereichen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts thematisiert. Um diese fast schon ›klassisch‹ zu nennende Disposition zu umreißen, sei auf die bis in die Gegenwart diskutierte Position von Bradley (1893) hingewiesen, der hierzu eine idealistische, von Hegel inspirierte Position einnimmt, während Oakeshott (1933) Geschichte vorwiegend als einen Verstehensmodus (mode of understanding) begreift. Collingwood (1946) wiederum nimmt hierzu die Haltung ein, dass Vergangenes eine doppelte Existenz aufweise: einmal in seiner vergangenen Semantik, einmal in seiner gegenwärtigen, ›reproduktiven‹ Semantik. Einen wichtigen Impuls aus diesem triadischen Begründungssystem heraus formuliert wiederum Boucher (1985), der im Zuge dessen auch die Grundpositionen von Bradley, Oakeshott und Collingwood en passant zusammenfasst: »Both Collingwood and Oakeshott, like Bradley, take history to be a specific, and not every and any, attitude towards the past. The philosophy of history, for them, is the critical examination of the postulates or conditions upon which the historical form of knowledge rests, and not the search for a rationale or grandoise plan in the movement of the past. However, the two types of philosophy of history cannot be entiredly divorced from one another. Collingwood’s theory of absolute presuppositions implies a conception of how the past is organized into distinct epochs which supersede each other. While [. . . ] Oakeshott’s conception of the whole of the history of philosophy is philosophically conceived. [. . . ] In what sense, then, can we apply the terms historicist, relativist, and sceptic, to Collingwood and Oakeshott? If we take historicism to mean the explanation of an occurrence in terms of relating it to its historical context, then both writers can be viewed as historicists. If we understand historicism to entail the recovery of the view of the world the agents themselves had, then Collingwood, although not exclusively, could be included in this category. But Oakeshott escapes it because the agent’s view of the world is not that of the historical mode of enquiry.« (Boucher [1985], 63) Boucher schließt mit einem eigenen Vorschlag, der sich auf die historischen Texte und Kontexte fokussiert: »Texts can tolerate a wide degree of interpretation, but there are limits beyond which interpretations cannot go without breaking the chains which secure the written work to its readers. Thus the case for accepting one interpretation can be argued by its supporters, and justified by means of producing relevant evidence. Likewise, alternative views can be supported in the same way. But methodological 91
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dem damit angezeigten, für diese Arbeit maßgeblichen ideengeschichtlichen Methodenhorizont nicht darum, einer bestimmten ›Schule‹, etwa dem New Historicism oder Foucaults ateleologischem Geschichtsverständnis zu folgen, als vielmehr um die Beantwortung der genannten Fragedimensionen: Auf welchen Bedingungen ruht die Genese des Wissens auf und wie lässt sich den Ideen und den durch sie konstituierten Wissensgefügen in ihrer textuellen und literarästhetischen Verfasstheit Genüge tun? Zumal nach den Entwicklungen der Wissenschaftsschulen des 20. Jahrhunderts und deren zahlreichen turns lässt sich aus dem heutigen Stand heraus leicht eine Fülle an poetischen Instanzen denken, die angetreten sind, den Konnex von Wissen und Textualität analytisch und gleichermaßen kritisch einzufangen: der Autor, der Rezipient, der Text und dessen Struktur, der Mythos, der Diskurs, das Sprachspiel, die Sprechhandlung, um nur wenige zu nennen. Zugleich bringen diese, sobald die Frage nach ihrer wissenschaftlichen ›Praktikabilität‹ aufkommt, regelmäßig methodische Instrumentarien hervor, um einen Text auf mehr oder weniger befriedigende Weise beschreib- oder erklärbar zu machen. Auch die griechisch-römische Antike hat sich für diese Fragen in hohem Maße interessiert, wenngleich sie keinen Begriff kannte, der den modernen Auffassungen von Literatur gänzlich gleichkäme. 93 Die pauschale Rede von ›der‹ antiken Literatur respektive Kunsttheorie kann dann entfallen, wenn man die antiken Texte als antike Texte deutet und in ein Verhältnis setzt zu ihrer Rezeption, die selbst wiederum als textueller Prozess zu denken ist. Im hier aufgeworfenen Sinn liegt der Studie die Annahme zugrunde, dass die Institutionalisierung des mechanistischen Weltbildes bislang allerdings gerade zu wenig Aufmerksamkeit seitens der philosophischen und philologischen Forschung hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Antike erfahren hat. Bemüht man die Metapher des revolutionären Weltbildes, so zeichnet sich ein solches gleichwohl nicht nur durch einen ›Willen zur Macht‹ aus. Neben hierarchische Strukturen treten auch bereichsweise Unterscheidungen, Allianzen, Überpluralism does not necessarily lead to relativism in interpretation. Interpretations achieved by means of the use of different methods of procedure do not mean the results will be incommensurable, or incapable of being compared. Certain considerations transcend the intra-theoretic confines of any particular method.« (ebd., 271). 93 Dieser Widerspruch zum Beschreibungsanspruch eines Fachs, das gerne von ›Antiker Literatur‹ spricht, wird in der klassischen Philologie nicht selten nivelliert oder gleich ganz übergangen (Positive, diesen Umstand reflektierende Ausnahmen sind allerdings Arweiler [2009] und Kroll [21964] sowie – bezogen auf die grammatici der Spätantike und des Frühmittelalters – Irvine [1994]). Davon abgesehen hat die Antike eine beträchtliche Zahl an Konzepten hervorgebracht, die sich bis heute – nicht nur in Fremd- und Lehnwörtern wie Begriffen wie ›Poetik‹, ›Poetologie‹, ›Metrum‹, ›Metrik‹, ›Vers‹, ›Versifizierung‹, ›Inspiration‹ etc. – auf zahlreiche Beschreibungsarten der Dichtkunst auswirken.
Einführung in die Fragestellung
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schneidungen, so dass eine ideengeschichtliche Analyse der Antikenrezeption im Zeitalter des Mechanizismus auch das Nebeneinander von Ideen und Strukturen zu berücksichtigen hat. Haynes hat diesen Anspruch anhand des Begriffs domain ausgeführt: In thinking about the relation between the reception of a classical text and the institutions, ideology, artistic activity, and scholarship that make this reception possible, two errors should be avoided: either denying any autonomy to the different domains of reception (as, for example, when scholarship or the art work is described as entirely ideological, solely an example of the will to power) or refusing to see the different domains as related to and constrained by others. 94
Bezogen auf die Etablierung der ars aesthetica im 18. Jahrhundert hat eine solche Etablierung auf dem Hintergrund der klassischen Poetiken zwar höchst novatorischen Charakter, dennoch konnten Ästhetik und Poetik in der Folge diskursiv ›koexistieren‹, was sie als domains im Sinne Haynes' auszeichnet. Auch ein Fortschrittsgedanke, der dem mechanistischen Weltbild in seiner engen Koppelung an die Sukzession der Technikgeschichte aneignet, bedeutet keinen geschichtlichen ›Fortschritt‹ im trivialen Sinn, sondern bildet selbst ein historisch situiertes Paradigma, das es in Form textueller Zugriffe in der vorliegenden Studie aufs Neue zu erschließen gilt – nicht nur in rezeptiver, sondern auch in produktiver Hinsicht. Denn Rezeptionsparadigmen bilden, so eine wesentliche Annahme der Studie, keine schiere Referenzfunktion aus (auf Epochen, Autoren, Werke, Mythen, Philosopheme etc.), sondern enthalten selbst gestalterisches Potential. Somit wird der Antikenbegriff auch in dieser Hinsicht fokussiert. 95 Erst hierdurch fügen sich ›Antike‹ und ›Rezeption‹ wieder zu einem Kompositum zusammen, das mehr bedeutet als der Einzelwert seiner Bestandteile. Was mit Bestimmtheit jedem Versuch einer Ideengeschichte anhaftet, ist, eine Spürbarkeit der Zeichen zu rekonstruieren, welche dem Wissen und damit Haynes (2006), 45. Im 18. Jahrhundert, insbesondere in der Dichtungsmode des Rokoko, fällt in diesem Sinn beispielsweise das Bestreben auf, eine ›weibliche‹ Antike zu (re-)konstruieren; vgl. Heinze / Krippner (2014a), etwa in Form eines mit neuzeitlichen Nuancen versehenen Kleopatra-Bilds in Dramen des 18. Jahrhunderts (vgl. Krippner [2014]), die beharrlich auf antike Geschlechtertypologien und deren Transformation verweisende Ausrichtung der Figuren in La Fontaines La matrone d’Éphèse (vgl. Wendt [2014]) oder Wielands Gestaltung stoischer und kynischer Philosophengestalten auf Grundlage antiker Muster in der Musarion (vgl. Borghardt [2014]). Der Epochenbegriff ›Antike‹ wird entsprechend diesen Rezeptionshaltungen mit bestimmten Eigenschaften und Konnotaten versehen, denen »die Einsicht zugrunde [liegt], dass Vergangenheiten nie stabile Entitäten sind [. . . ], sondern dass sie vielmehr erst im Prozess und im Effekt ihrer Transformation hervorgebracht und immer wieder neu gebildet wird.« (Heinze / Krippner [2014b], 10). 94 95
Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹
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auch den Ideen eine neue Form geben. 96 Hierdurch gelangt man, gewollt oder ungewollt, zu demjenigen, was geradezu ein Grundthema der Aufklärungsphilosophie und einen wesentlichen inhaltlichen Punkt dieser Studie darstellt: der Überführung von sinnlichen Zeichen in ein kognitives Moment. 97 Dieser Prozess lässt sich verdichtend im Rekurs auf ein Prinzip beschreiben, das pointiert in der Frühen Neuzeit selbst – im Spannungsfeld von Sinnlichkeit und Rationalität – Gestalt gewinnt: das Prinzip der Evidenz (evidentia). Denn die Wahrheit ist – mit Descartes gesprochen – reine Evidenz; die Zeichen sind dementsprechend sinnlich präsent und beobachtbar (selbst wenn sie ›lediglich‹ in Form historischer Quellen vorliegen), dabei aber auch potentielle Träger respektive Übermittler von Wahrheiten. 98 Campe bringt diese Denkfigur bereits mit wissensgeschichtlichem Blick auf die von ihm so bezeichnete ›Epoche der Evidenz‹, die sich zwischen Descartes und Kant abgespielt habe, auf einen Punkt: In dieser, epistemologischen, Sicht erscheint die Epoche der Evidenz [die Zeit des Cartesianismus; D. B.] also als Zwischenbereich: als Zwischenbereich zwischen dem, was bei der Beobachtung der Welt als evident gilt, und dem, was als evidente Beobachtung sich beobachten lässt. Dafür gibt es eine klassisch gewordene Formel. Oft findet man in dieser Zeit die Rede von den zwei Arten der Evidenz: der mathematischen (oder metaphysischen) Evidenz, die volle Gewissheit gewährt, und der historischen Evidenz (im alten, aristotelischen, Sinne der historiae), die höhere oder mindere Grade von Gewissheit möglich macht. 99
Auf diesem Hintergrund seien, im kritischen Anschluss an die in Kapitel i.2 skizzierten Forschungsleistungen, als Ziele der vorliegenden Studie festgehalten, den Einfluss des mechanistischen Denkens – in Form der Mechanik als Disziplin oder des Mechanizismus als mit dieser Disziplin aufs Engste bezogener Denkart – auf die frühneuzeitliche Ästhetik und Poetik unter dem Leitaspekt der Antikenrezeption zu applizieren und zu beschreiben. Darüber hinaus soll die Studie einen neuen Aufschluss über das Bild geben, das sich die Frühe Neuzeit von der Antike gemacht hat, indem sie sich abseits transzendenter Verklärungsstrategien bewegte. Den Ausgangspunkt hierfür sollen gerade nicht die antike Mechanik oder die antike Technik bilden, sondern die Vermögenslehren der antiken Poetik und Rhetorik. In einer ausführlichen Behandlung dieser Sujets Vgl. hierzu auch Baßler (2005), 227–231. Vgl. Kondylis (22002), 9–19. 98 Zur Rolle des Wahrheitsbegriffs in epistemologischen Zusammenhängen vgl. Grundmann (2008), 33–69. 99 Campe (2006), 27. 96 97
Einführung in die Fragestellung
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in den Kapiteln ii.1–6 der Studie werden die Grundlagen für das Verständnis der Entwicklung ›neuer Naturen‹ in der Frühen Neuzeit in Auseinandersetzung mit der Antike geschaffen. Denn es macht nur wenig Sinn, von einer Antikenrezeption im Rahmen unseres Themas zu sprechen, wenn nicht zuvor geklärt ist, welche Haltung die Antike zu Kräften, Vermögen und Bewegungen in den sprachlichen Künsten vertritt. Auch wäre es problematisch, von einer ›neuen Natur‹ in der Frühen Neuzeit zu sprechen, wenn nicht zuvor die aus der Antike tradierten ›alten‹ Naturkonzepte klar umrissen würden. 100 Die Frühe Neuzeit wird nach Naturphilosophie (Kapitel iii.1–3) und Ästhetik (Kapitel iv.1–6) geteilt dargestellt, wobei Kraft und Bewegung passim die verbindenden Paradigmen bilden, während der Naturbegriff hierfür als dialektische Rahmung begriffen wird. Dialektisch ist diese Rahmung zu nennen, weil sich ›alte‹ und ›neue‹ Natur in einer Austauschbeziehung zueinander befinden – wie in Kapitel i.2 bereits dargelegt, konträr zur Annahme eines planen Ablösens der Antike durch die neuen Naturen. Der Einfluss des mechanistischen Weltbilds auf die Poetik(en) im 18. Jahrhundert wird anhand poetologischer Grundpositionen sowie der Kritik an diesen mit den in Teil iii–iv erarbeiteten Paradigmen, allen voran der ›Psychomechanik‹, in den Kapiteln v.1–6 zur Darstellung gebracht. Historisch wird die Studie mit der Philosophie Herders in den 1770er Jahren, also kurz vor der sogenannten Kantischen Wende, beschlossen.
4. Anmerkungen zu den Übersetzungen
Sämtliche fremdsprachigen Texte – mit Ausnahme der englischen – werden im Original sowie in einer eigenen Übersetzung geboten. Die Übersetzungen folgen dabei den Kriterien der sachlichen Treue und Genauigkeit; sie erheben dementsprechend, im Gegensatz zu den meisten der behandelten Autoren, keinen Anspruch, der selbst ästhetisch zu nennen wäre. Bei Übertragungen von Vers in Prosa werden, wo es sich anbietet, Schrägstriche zur groben Orientierung gesetzt. In der Regel wird die Übersetzung in den Haupttext integriert und das Original in der Fußnote angeführt; der umgekehrte Weg wird dann bevorzugt, wenn die behandelte Textstelle im Zuge des Argumentationsganges eine dezidiertere Analyse, insbesondere ihrer lexikalischen, grammatischen und stilistischen Komponenten erfährt; dann, wenn dem Text in seiner originalen Verfasstheit besondere Aufmerksamkeit zuteil kommen soll; außerdem dann, wenn ein synoptischer Vergleich mehrerer Textstellen die Betrachtung der Positionierung bestimmter Schlüsselbegriffe in den zitierten Passagen er100
Das Kapitel II.6 ist dabei als Übergang zum frühneuzeitlichen Teil gestaltet.
Anmerkungen zu den Übersetzungen
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forderlich macht. 101 Kursivierungen werden stets aus dem Original übernommen, 102 ebenso Sperrstellungen und idiosynkratische Schreibweisen; die Zeichensetzung – die mangels einer einheitlichen Regelsetzung in den meisten der hier behandelten Epochen ebenfalls idiosynkratisch geprägt ist – wurde in den Originaltexten beibehalten, in den Übersetzungen indes behutsam dem modernen Gebrauch angepasst.
Da dies in den Kapiteln zur Antike selbst in der Regel der Fall ist, findet sich dort überwiegend der Originaltext im Haupttext. 102 Bei zusätzlich vorgenommenen Kursivierungen oder anderen Neuformatierungen findet sich eine Anmerkung. 101
II. Vermögen und Kräfte in der antiken Poetik und Rhetorik
1. Der antike Naturbegriff
Als Ausgangspunkt der Darstellung wird die Unterscheidung zweier Prinzipien angesetzt, die bereits in der Antike topische Denkfiguren zur Beschreibung poetischer Artefakte ausgeprägt haben. Es handelt sich hierbei um den Gegensatz intrinsischer und extrinsischer Zuschreibungen. Die Wahl dieses Ansatzes sei im Folgenden kurz erläutert: Die Dichtkunst hat seit ihrer Bestimmung als τέχνη ποιητική mit einem auffälligen Problem der Instanziierung zu tun, dessen Rezeptionsgeschichte sich bis in die Neuzeit hinein regelmäßig an Fragen folgender Art ablesen lässt: Sind die Dichter von bestimmten Zuständen ergriffen, die dann in ihren Werken zum Ausdruck kommen, oder obliegt es der ontologischen Beschaffenheit, was in einem dichterischen Werk enthalten ist? Sind es innere Regungen des Dichters, die ihn zu einem sprachlichen Kunstwerk veranlassen oder sind es Eingebungen äußerer Umstände? Zählt vor allem die individuelle Bewegtheit oder doch eher die Allgemeingültigkeit poetischer Inhalte zur Dichtkunst? Sollte der Dichter sich demnach daran messen lassen, ob er die Zuhörer oder Leser zu bestimmten Affekten bewegt, oder daran, dass seine Werke Zugänge zur Welt entfalten, die uns ohne den poetischen Zugriff verwehrt blieben? Kurz, handelt es sich bei der Dichtkunst vorwiegend um eine Rührungs- oder um eine Aussagenkunst? Und sollte man beide Aspekte zugleich als relevant erachten, könnte man sich unbenommen fragen, welcher denn nun der wesentlichere sei, was das eigentlich Konstitutive an der poetischen Darstellung sei im Gegensatz zur nicht-poetischen. Will man diese Frage aus ihrer antiken Genese heraus erfassen, so ist die Dichotomie zwischen dem Wesen einer Sache – oder dem wesentlichen Ziel einer Kunstfertigkeit – und deren nachrangigen Bestimmungsmomenten mit einzubeziehen. Bei letzteren handelt es sich um Eigenschaften, die den Dingen zwar in durchaus beachtenswerter Weise zukommen können, jedoch besteht kein naturgegebener Zwang (ἀνάγκη, necessitas) dazu, dass sie die Existenz eines bestimmten Dinges gewährleisten; mithin sind sie nicht als notwendige Ursache in einem Gegenstand enthalten, um ihn zu einem solchen zu machen. Ähnliches lässt sich über die Produktionsverfahren sagen, die ein bestimmtes Artefakt hervorbringen sollen. Sie enthalten mitunter prozedurale Schritte, die nicht im Sinne des zu erzielenden Gegenstandes, sondern gewissermaßen
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nebensächlich durchgeführt werden: Praxiteles' berühmte Hermes-Statue mag auf einem Sockel oder auf dem Erdboden gestanden haben, und Praxiteles selbst mag sich während des Marmorbearbeitens fünfzig- oder hundertmal den Schweiß abgewischt haben, beides sind Bestimmungsmomente, die dem Kunstprodukt beziehungsweise dem Arbeitsprozess nur beiläufig zukommen – solange wir davon überzeugt sind, das artifizielle Konzept, das dem Werk eingegeben ist, auch unter Nichtberücksichtigung der genannten Umstände noch in ihm erkennen zu können. In dieser Hinsicht haben wir es mit Objekten zu tun, die sich nicht auf ihre äußerlich wahrnehmbaren Merkmale reduzieren lassen. Dieses sich von einer physizistischen Betrachtung 1 entfernende Kunstverständnis wurde in seiner philosophischen Begründbarkeit wie auch in seiner Anwendbarkeit in praxi von den ionisch-italischen Philosophen über die Sophistik bis hin zur Stoa und dem (Neo-)Platonismus in nahezu allen antiken Philosophen- und Rhetorenschulen – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung – diskutiert. 2 Es hat Begriffssysteme und Denkfiguren hervorgeAls eine kunstontologische Haltung aufgefasst, nach der die materielle Manifestation des Kunstwerks mit diesem selbst in eins fällt. Kulenkampff hat hierzu die eingängige Formel vorgebracht, man könne »im Sinne eines reduktiven Materialismus die Behauptung versuchen, daß es auch im Fall von Kunstwerken nichts anderes gebe als physische Entitäten mit physikalischen Eigenschaften und daß mit Bezug auf sie alle Phänomene zu erklären seien oder daß das so nicht Erklärbare als nicht wirklich zu verwerfen sei.« (Kulenkampff [1983], 573) Hieraus ergeben sich dann allerdings gleich mehrere Anschlussfragen, die einer genaueren philosophischen Erörterung bedürfen – zum einen, warum manche Kunstwerke, wie etwa der Koloss von Rhodos, in genau einer physischen Repräsentation (›Unikatkünste‹) aufgehen, manche andere hingegen, wie etwa literarische Werke, gerade außerhalb ihres Trägermediums beziehungsweise in vielfältigen Gegebenheiten eines solchen zu existieren scheinen (›Multiplikatkünste‹); zum anderen, warum sich dann Aussagenreihen, die sich genuin auf das Kunstobjekt beziehen (›Das Werk ist geschmackvoll komponiert‹, ›Diese Figur hat Tiefe‹, ›Der Auftritt an dieser Stelle hat ironischen Charakter‹ etc.) nicht auf dessen physikalische Eigenschaften reduzieren lassen, sondern eine eigene Klasse von Aussagen zu generieren scheinen. Diese Problemkomplexe wurden mit besonders großer Nachwirkung von Wollheim (1968) aufgespannt und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regelrecht zu einer eigenständigen Teildisziplin der Ästhetik, namentlich zur Ontologie der Kunst, fortentwickelt. Bei der genannten Dichotomie zwischen ›Unikatkünsten‹ und ›Multiplikatkünsten‹ handelt es sich um einen Vorschlag Kulenkampffs, der sich auf die in der anglo-amerikanischen Philosophie bereits deutlich länger etablierten Ausdrücke der ›singular arts‹ und ›multiple arts‹ bezieht; vgl. Kulenkampff (1983), 574. 2 In dem Sinn, dass bereits das Ansetzen notwendiger Ursachen auch Auswirkungen auf die Verfahrensweisen hat, durch die ein Kunstwerk überhaupt erst hervorzubringen ist. In dem Fall muss zunächst nichts weiter unterstellt werden, als dass es nicht zuvorderst die Kontingenz sein kann, die hier ursächlich produktiv wird, sondern dass dem jeweiligen Artefakt ein gewisser wohlüberlegter Plan zugrunde liegt. Dies bedeutet nicht, dass der Kunstbegriff dadurch in einem planen Intentionalismus aufginge, wie er von Seiten einer positivistischen Wissenschaftssicht nicht selten vertreten wird. Denn auch bei Ansetzung einer sich auf Intentionen berufenden Werkursache kann nach wie vor die Bestimmung des Kunstwerks als eines Objektes im Vordergrund stehen – und gerade nicht die Rückspiegelung des Werkes auf dasjenige, was ein Künstler zu einem bestimmten 1
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bracht, die bis in die moderne Philosophie hinein ihr kontroverses Potential nicht erschöpft haben. Als eines der prominentesten und folgenreichsten Begriffspaare ist dabei die aristotelische Unterscheidung zwischen dem sich selbst Entsprechenden (καθ᾽ αὑτό) und der akzidentellen Bestimmung (κατὰ συµβεβηκός) einzustufen. 3 Daher sollen diese auch hier unsere ersten Bezugspunkte für die weitere Betrachtung bilden: Während im einen Fall eine konzeptionelle Wesentlichkeit behauptet wird, die den Dingen von Natur aus (κατὰ φύσιν, φύσει) zukomme, handelt es sich bei der zweiten Bestimmungsweise, derjenigen κατὰ συµβεβηκός, um Eigenschaften, die einem Gegenstand regelrecht zustoßen. 4 In letzterem Fall liegen also Ereignisse zugrunde, die auf die Seinsweise eines Gegenstandes wirken, ohne ihn als solchen zu sabotieren. Die Beschreibung derartiger Ereignisse kann dabei einer spezifischen Wissenschaft folgen oder – in Annahme eines interdisziplinären Zusammenhangs – durch verschiedene Aussagetypen getätigt werden. So erscheint ein Einbeziehen physikalischer Einflüsse unzweifelhaft als wichtig, um eine Statue etwa als verwittert, als beschädigt oder im weitesten Sinne als beeinträchtigt einzustufen; die zu einem solchen Urteil geeignetsten Erkenntnismethoden würden dann von der Haptik und der Optik bereitgestellt; eine Symphonie wiederum von Störgeräuschen zu sondern, würde die Akustik heranbemühen. Das Husten eines Konzertteilnehmers während einer Aufnahme der Symphonie wird dementsprechend als akzidentelle Eigenschaft der Aufnahme wahrgenommen, jedoch nur schwerlich als Teil des gebotenen Werks aufgefasst; Analoges lässt sich über die Verwitterung der oben genannten Statue sagen. Wir begreifen also in diesen Momenten die Essenz eines Werkes nicht zuletzt dadurch, dass wir das Werk als Werk, das heißt seiner selbst gemäß (καθ᾽ αὑτό), von den Eigenschaften, die seiner physikalischen Repräsentation zuzuteilen sind, trennen. Die wichtigste Chiffre Zeitpunkt mutmaßlich intendiert haben könnte. ›Intentionalität‹ würde demnach nicht Aussagen von der Art bedeuten wie ›Horaz wollte mit der epistula 1, 4 aller Welt zeigen, dass er ein Epikureer ist‹, sondern eine notwendige Ursache an dem Punkt ansetzen, dass das dem Werk inhärierende Konzept so und nicht anders, das heißt: in bestmöglicher Entsprechung zum Willen und Können des Künstlers umgesetzt worden ist. Demgegenüber prädiziert der angeführte Satz etwas über die historische Person ›Horaz‹ und dessen vermeintlichen Epikureismus – nicht jedoch etwas über das sprachliche Kunstwerk, das wir als epistula 1, 4 bezeichnen. 3 Vgl. in prägnanter Gegenüberstellung Aristot., metaph., 11, 8, 1065a6–9: »ὅτι δὲ τοῦ κατά συµβεβηκὸς ὄντος οὐκ εἰσὶν αἰτίαι καὶ ἀρχαὶ τοιαῦται οἵαιπερ τοῦ καθ᾽ αὑτὸ ὄντος, δῆλον. ἔσται γὰρ ἅπαντ᾽ ἐξ ἀνάγκης.« (»Dass die Ursachen und Anfangsgründe des Akzidentellen nicht so beschaffen sind wie die des an sich Seienden, ist offenkundig; denn sonst wird ja alles aus Notwendigkeit heraus sein.«). 4 Dies zeigt bereits die grammatische Genese des συµβεβηκός (»Zugestoßenes«) als resultatives participium perfectum zu ›συµβαίνει‹ (›Es stößt zu‹). Das Akzidens wiederum ist auf den ›συµβαίνει‹ entsprechenden lateinischen Ausdruck ›accidit‹ und das dazugehörige Partizip ›accidens‹ rückführbar.
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für dasjenige, was nach einem solchen Rezeptionsvorgang am Kunstwerk selbst bestehen bleibt, stellt in antiker Tradition die φύσις (natura) dar, die sich als ›Natur‹ beziehungsweise als ›Wesen‹ wiedergeben lässt. Sobald wir die Existenz eines solchen Natur- oder Wesenskonzeptes unterstellen – anhand dessen wir überhaupt aussagen können, dass das Kunstwerk beeinträchtigt ist beziehungsweise wo und inwiefern es beeinträchtigt ist, neigen wir auffälligerweise dazu, jenes Konzept von einer eigenen Warte, mithin aus einer eigenen philosophischen Disziplin heraus zu betrachten. 5 Es erscheint dann naheliegend, dass eine solche Methodik zur Erfassung von Kunst zumindest so etwas wie eine grobe Vorstellung von einem transzendentalen Blickpunkt voraussetzt: Wir blicken aus der Sicht eines nach bestimmten Kriterien zu veranschlagenden Konzeptes auf das uns vorliegende Kunstwerk und vermeiden es, dasjenige mit einzubeziehen, was uns akzidentell vorkommt. Es wäre demnach auch nicht mehr ganz so entscheidend, ob wir Homers Ilias auf einer Papyrusrolle, einem Pergament, in einer modernen Textausgabe oder auf einer – zugegebenermaßen dann sehr großen – Steintafel rezipieren. Der poetische Aufbau, der dem Werk eingegeben ist, nähme nämlich nicht nur einen Vorrang vor dessen physischer Realisation ein, sondern wäre das einzige, was sich überhaupt zur Beschreibung des Werkes ›Ilias‹ eignen würde – bis hin zu den Werturteilen, die wir für ein solches Werk veranschlagen wollen. 6 Die stoffliche Repräsentation stellte dann zwar fraglos eine notwendige Bedingung für die Präsenz des Kunstwerks (mithin auch für die Möglichkeit seiner Rezeption) dar, wäre jedoch streng von dessen Wesenskern zu scheiden. Aber auch der gegenläufige Weg abseits einer solchen Abstraktionsleistung mutet – wenn man an die genannten Beispiele des Symphoniekonzerts oder der Statue denkt – durchaus gangbar an: Erkennt man nämlich den beiläufigen und kontingenten Charakter an, der akzidentellen Eigenschaften zukomme, so besteht für Philosophen (φιλόσοφοι) wie für Naturforscher (φυσιόλογοι) in ungewohnter Einigkeit die Hoffnung, dass sich vice versa nach Abzug ebendieser Eigenschaften der Wesenskern einer Sache ermitteln ließe. In einem groben Sinn gedeutet, leitet sich daraus ab, dass im Ein beliebtes, dem Naturalismus entspringendes Beispiel hierfür ist die mit Witz gestellte Frage, ob es denn sinnvoll wäre, eine Katze, die nach einem Unfall mit drei Beinen auskommen muss, immer noch ›Katze‹ zu nennen. Während die Definition von Wesensmerkmalen für eine bestimmte physis traditionellerweise den Fachwissenschaften – im Falle der Katze etwa der Zoologie – unterliegt, wird die Frage nach dem Wesen selbst in der Metaphysik diskutiert. Allgemeine Naturphilosophie und Fachwissenschaft unterscheiden sich daher in ihren Definitionszielen wie auch in ihrem axiomatischen Anspruch. 6 So fiele es schwerlich in den Bereich überzeugender Literarkritik, ein bestimmtes Buch der Ilias als nachrangig gegenüber den anderen einzustufen, wenn dies daran festgemacht würde, dass sich in der dem Literarkritiker vorliegenden Textausgabe gerade in jenen Passagen zahlreiche Flecken oder sonstige Beschädigungen befinden, die das Lesevergnügen beeinträchtigen. 5
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ersten Fall das Wesenskonzept priorisch benutzt wird, um das Kunstwerk als eine Manifestation seines zugrundeliegenden Plans zu bestimmen; im zweiten Fall wird in umgekehrter Weise der Versuch unternommen, das Artefakt über den Ausschluss seiner kontingenten Eigenschaften ex negativo zu ermitteln. Zurück bleiben in diesem Fall die unveränderlichen Bestimmungsmomente und damit dasjenige, was das Werk als solches auszuzeichnen vermag. Derartige Überlegungen scheinen aus systematischer Sicht zunächst keine allzu großen Schwierigkeiten zu bereiten. Nimmt man indes eine geschichtliche Dimension mit hinzu, so wird wenigstens die letztgenannte Hoffnung – das Wesen eines Kunstwerks zu ermitteln, indem man alles ihm ›Zugestoßene‹ mit einem niedrigeren ontischen Grad versieht und vom Kunstwerk ›abzieht‹ – um einiges erschwert; denn die Antike hat – teils gar in schroffer Ablehnung – nun einmal durchweg darauf verzichtet, dem Akzidentellen eine eigene Disziplin zuzuweisen. Die Ausprägung der antiken Wissenschaften ist vielmehr dadurch bedingt, dass diese zuallererst in der Lage sind, eine wesensgemäße Beschreibung ihrer Gegenstände vorzulegen; und nichts anderes meint auch das von Aristoteles so häufig aufgeworfene und geradezu in einen formelhaften Gebrauch überführte κατὰ φύσιν (›naturgemäß‹); ebenso schwebt Platon in seiner Bestimmung der Dichtkunst vor, die Dichter explizit nach ihrem Wesen zu bestimmen. 7 In diesem Sinn eint nach einer weitläufigen antiken Grundüberzeugung die Poetik mit der Physik und der Metaphysik der unverbrüchliche Anspruch, gerade keine kontingenten Gegenstände zu verfolgen; ihre Erkenntnisziele verpflichten sich vielmehr der Notwendigkeit im Sinne jener bereits skizzierten ›naturgegebenen Ursächlichkeit‹. Gegenüber einem solchen Naturbegriff wird die Abkehr von einer widerspruchsfreien Wesensbestimmung bevorzugt der Sophistik und ihren Praktiken verkünstelter Wahrheitsverkehrung zugeschrieben. 8 Kurz, Naturphilosophen, Dichtungstheoretiker und Metaphy7 Vgl. etwa die τίς ποτ᾽ ἐστίν-Formel, die hinsichtlich der Bestimmung des nachahmenden Künstlers bei Plat., Pol., 10, 597b2–4 herangezogen wird: »βούλει οὖν, ἔφην, ἐπ᾽ αὐτῶν τούτων ζητήσωµεν τὸν µιµητὴν τοῦτον, τίς ποτ᾽ ἐστίν; εἰ βούλει, ἔφη.« (»Willst du nun, sprach ich, dass wir diesen Nachahmer anhand eben dieser Dinge erklären, was für einer er eigentlich ist? – Wenn du es willst, sprach er.«). 8 Vgl. besonders ausdrücklich hierzu Aristot., metaph., 11, 8, 1064b15–1065a21. Dass sich in diesem Sinn auch die Physik von der Kontingenz abhebt, mag auf den ersten Blick überraschen. Schließlich ist es gerade der Bereich der Naturphänomene, der – im Gegensatz zur Wahrheitsschau der Philosophen – in den antiken Wissenschaften regelmäßig mit Kontingenz besetzt wird. Denn im Gegensatz zu den Gesetzen der Wahrheit erfährt die Wirklichkeit offenkundig jederzeit Umschwünge, und ein sich auf die Wirklichkeitsbeschreibung kaprizierender Satz, der gerade noch wahr ist (›Die Sonne scheint‹), kann im nächsten Moment unwahr werden. Dies darf jedoch eine Wissenschaft nach antikem Verständnis nicht zuvorderst interessieren. So legt Aristoteles bereits in der Einleitung zum ersten Buch der Physik großen Wert darauf, dass die Naturwissenschaft, insofern es auch bei ihr um das Wissen und Verstehen (τὸ εἰδέναι καὶ τὸ ἐπίστασθαι) gehen müsse,
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siker kehren bereits ihrem eigenen Selbstverständnis nach immer wieder zu essentiellen Ausgangsfragen und Argumenten zurück. Dieser Punkt erscheint von einer derart umfassenden Tragweite, dass selbst in der Darstellung philosophischer Theorien, die sich zutiefst der Kontingenz verpflichtet fühlen, ein Wesens- beziehungsweise Naturbegriff enthalten ist, um einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu behaupten. 9 Daraus lässt sich für unser Thema zueine Forschung nach elementaren Ursachen darstelle: »[E]s ist offensichtlich, dass auch bei der Wissenschaft über die Natur der Versuch gemacht werden muss, zunächst dasjenige hinsichtlich der Anfangsgründe zu bestimmen.« (Aristot., phys., 1, 1, 184a14–16: »δῆλον ὅτι καὶ τῆς περὶ φύσεως ἐπιστήµης πειρατέον διορίσασθαι πρῶτον τὰ περὶ τὰς ἀρχάς.«) Diese Anfangsgründe ergeben sich bei Aristoteles aus Notwendigkeitsbestimmungen heraus; sie entziehen sich dementsprechend in einem sehr grundsätzlichen Sinn der Kontingenz; vgl. die ausführlichen Bestimmungen ebd., 1, 3, 187b13–188a34, wo zunächst die Notwendigkeit der Annahme mehrerer und einander konträrer Anfangsgründe entwickelt wird – aus denen allein überhaupt etwas entstehen könne –, um dann auf das Diktum hinauszulaufen, dass »nichts von Natur aus so beschaffen ist, dass es entweder Zufälliges erwirkt oder Zufälliges von Zufälligem erfährt; auch entsteht kein Beliebiges aus Beliebigem, es sei denn man fasste es im Sinne des Nebenbei-Zutreffens aus.« (ebd., 188a32–34: »οὐθὲν οὔτε ποιεῖν πέφυκεν οὔτε πάσχειν τὸ τυχὸν ὑπὸ τοῦ τυχόντος, οὐδὲ γίγνεται ὁτιοῦν ἐξ ὁτουοῦν, ἂν µή τις λαµβάνῃ κατὰ συµβεβηκός.«) Die Dinge, nach ihrer Präsenz katà symbebe¯ kós gefasst, existieren somit zwar in der Wirklichkeit, können jedoch nicht den eigentlichen Gegenstand des Naturforschers bilden. Dass die Wirklichkeit sich bald in der einen, bald in der anderen Weise offenbart, mag also dem Prinzip der Kontingenz unterliegen, die zu erforschenden Gesetze hinter ihren Erscheinungsarten weisen indes auf das genaue Gegenteil. Hieraus lässt sich bereits eine bedeutende disziplinäre Verschränkung ersehen, insofern die Suche nach Anfangsgründen keine rein metaphysische Frage darstellt, sondern in vorzüglicher Weise auch zu den Bestandteilen der Naturphilosophie zu zählen ist. 9 So verwendet selbst Lukrez, dem es in De rerum natura vor allem um eine geschlossene Darstellung des Epikureismus geht, mithin um den Inbegriff einer antiken Philosophie, in der die Kontingenz zum allseits gültigen Prinzip des Kosmos erhoben wird, den natura-Begriff, um in dem Lehrgedicht den Aufbau der Welt als einen solchen zu beschreiben, in dem die Phänomene als naturgemäße, das heißt geradewegs von der Natur hervorgebrachte bewiesen werden; vgl. die programmatische Ankündigung, der zufolge der Sprecher in seinem Werk ausbreiten wolle, »woraus die Natur alle Dinge schafft[.]« (Lucr., 1, 56: »unde omnis natura creet res«), oder auch Behauptungen, wie sie in Form von Negativargumenten auftreten: »So [sc. ohne die Annahme einer kleinen Bewegungsänderung des geraden Atomfalls] hätte die Natur niemals etwas hervorgebracht.« (ebd., 2, 224: »ita nil umquam natura creasset.«) Die recht rigorose und nicht weiter reduzible Naturbezogenheit – die sich im Übrigen erkennbar in die Tradition vorsokratischer Philosophen wie Empedokles einschreibt, wie Costa (1984), XIII darlegt (vgl. darüber hinaus zur rezeptionsästhetischen Gesamtanlage ausführlich Sedley [1998]) – kann somit auch für Theorien eines kontingenten Atomismus so etwas wie ein argumentatives Rückgrat bilden; sie fügt sich auch in die apodiktische Redeweise ein, die im gesamten Werk immer wieder wahrzunehmen ist und sich in rhetorischen Fragen wie »[W]as kann für uns gewisser sein als die Sinne selbst, wenn wir Wahres und Falsches bezeichnen?« (Lucr., 1, 699 f.: »quid nobis certius ipsis / sensibus esse potest, qui vera ac falsa notemus?«) oder »[M]uss denn nicht eingestanden werden, dass Geist und Seele aus einer körperlichen Natur bestehen?« (ebd., 3, 166 f.: »nonne fatendumst / corporea natura animum constare animamque?«) niederschlägt. Verbreitete Übersetzungstitel wie »Das Weltall« (Wüst [1927]), »Vom Wesen des Weltalls« (Ebener [1989]) oder »Welt aus Atomen«
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mindest vorläufig schließen: Die Poetik sollte, wenn es ihr mit der profunden Erklärung sprachlicher Kunstprodukte ernst ist, es tunlichst vermeiden, das Akzidentelle zu ihrem Ausgangspunkt zu machen. Eine grundlegende Aufgabe der Poetik besteht demnach darin, sich mit der Existenzweise und den Existenzmöglichkeiten von dichterischen Artefakten zu befassen, und zwar anhand der ihnen zukommenden Wesentlichkeit. Hierin spiegelt sich einerseits, wie oben beschrieben, ein in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte regelmäßig verhandeltes Desiderat nach Erkenntnis wider, das um die modale Frage kreist, wie (quomodo, quibus modis) das Wesen einer Sache zu ermitteln sei; zudem geht es – noch grundsätzlicher – darum, ob das Wesen neben seinem konzeptuellen auch einen existentiellen Vorrang gegenüber den beiläufig erworbenen Eigenschaften habe, ob es also jeglicher physischen Realisation noch vorgelagert ist. Beide Teilfragen finden sich ausgiebig erörtert in der antiken Naturphilosophie und Metaphysik, insbesondere in den Diskussionen über das ὄν und die οὐσία. Sie wurden in der Folge durch alle Epochen der europäischen Philosophiegeschichte hindurch, etwa in den quid est-Fragen der mittelalterlichen Scholastik über den frühneuzeitlichen Rationalismus bis hin zur Fundamentalontologie des 20. Jahrhunderts, immer wieder rekapituliert – sei es, dass der substantielle Primat eines Wesens dabei, wie etwa im Falle der Essenzlehre eines Thomas von Aquin, 10 affirmiert oder, wie im jüngeren Falle der heideggerschen Phänomenologie, 11 bereits in seinen Elementarien verworfen wurde. Bezogen auf die eingangs erläuterte Dichotomie, der zufolge zwischen intrinsischen und extrinsischen Zuschreibungsmomenten zu unterscheiden ist, lassen sich – mit einer zunächst eingestandenen heuristischen Unschärfe – folgende Grundpositionen zur Dichtkunst im Sinn des antiken Essentialismus gegenüberstellen: Ein Gedicht darf durchaus auch Affekte beim Rezipienten hervorrufen; entscheidender ist aber, dass es allgemeine Aussagen über die Welt enthält. Oder man behauptet in entgegengesetzter Richtung: Zum Wesen eines Gedichtes zählt vor allem, dass es uns innerlich bewegt; es bringt dabei zwar durchaus bestimmte Sachverhalte zur Darstellung, arbeitet aber (Büchner [32012]), die den natura-Begriff in den Hintergrund treten lassen, haben gleichwohl dazu beigetragen, von diesem Umstand abzulenken. 10 Vgl. dessen Frühwerk De ente et essentia (um 1225), worin die Bestimmung des Verhältnisses von Wesen und Sein die Tradition der aristotelischen Metaphysik mit zeitgenössischen theologischen Fragestellungen verbindet. Sprachlich wie konzeptuell entspricht dabei das ens dem ὄν und die essentia der οὐσία. 11 Vgl. etwa dessen Hauptwerk Sein und Zeit (1927), das sich insbesondere durch den Vorrang einer zeitbegründeten Ontologie und den damit einhergehenden Antisubstantialismus von zahlreichen Hauptströmungen der bis dahin hergebrachten Metaphysik abgrenzt.
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stets dem Zweck zu, den Rezipienten psychisch zu affizieren. 12 Fragt man dann weiterhin nach den Verfahren, die ebendies leisten sollen, so scheinen diese entweder darin zu bestehen, einen inneren Zustand möglichst effektiv zur Darstellung zu bringen oder aus den Gegebenheiten einer vorgängig gedachten Welt, den πράγµατα, πράξεις und re¯s, ein Kunstwerk hervorzubringen. In diesen verschiedenen Zusammenhängen, die sich teils der Effektivität, teils der Repräsentativität verpflichten, dabei jedoch stets eine vorgelagerte Größe (›Wirkvermögen‹, ›Wirklichkeit‹) zulassen, können nun zwei Bestimmungsrichtungen der Dichtkunst ausgemacht werden. Sie sind, wie eingangs angeführt, in einem ersten Zugriff als nach außen und nach innen gerichtet auffassbar: Suchen wir nach Erklärungen dafür, wie Affekte durch ein Gedicht hervorgerufen werden können, fragen wir uns, inwiefern Affekte überhaupt in der menschlichen Psyche existieren, wie sie sich zueinander verhalten, wie sie in das Gedicht kommen und von dort aus weiter in den Leser oder Hörer gelangen können. Wir wenden uns in dieser Frage also in der Regel den interioren Vorgängen der Dichter und der Rezipienten, den πάθη, παθήµατα und affectu¯ s beziehungsweise – in rhetorischer Begriffstradition – den motu¯ s animi zu. Der Rezeptionsvorgang entspricht dann einer Intensivierung bestimmter Affekte im Leser, Hörer und Zuschauer. Möchte man ein Gedicht hingegen in seiner Sachstruktur erfassen, geht man vorwiegend davon aus, dass in ihm Dinge oder Sachlagen der Welt – seien diese konkreten oder abstrakten Zuschnitts – enthalten sind; das heißt, dass sie im Gedicht repräsentiert, referenzialisiert oder modifiziert werden. 13 Sie werden dann auf andere Zusammenhänge übertragen, es ließe sich auch sagen: extensiviert. Man konzentriert sich dann in 12 Dieser Konflikt scheint durchaus Einfluss auf unsere persönlichen Bewertungsmuster von Kunst zu haben. Ein dem Alltag entlehntes Beispiel könnte wie folgt aussehen: Kritiker A behauptet, im Hollywood-Film Air Force One (1997) werde der US-amerikanische Präsident auf pathetische Weise verherrlicht: »Der Film ist schlecht. Denn diese Art des Nationalstolzes lehnen wir doch wohl ab.« Kritiker B wendet darauf ein: »Die Figur hat alles verkörpert, um in mir Bewunderung, Solidarität, Identifikation und Spannung auszulösen. Und das ist doch das, was ein guter Film machen sollte.« Dass es nun gerade die figurale Darstellung eines US-Präsidenten ist, die in B solch starke Emotionen weckt, spielt für ihn offenbar keine so große Rolle wie für A. Es ließen sich auch andere Figuren oder Figurentypen denken, die zu solchen Affekten bewegen, während es für A ganz darauf ankommt, dass es gerade der US-Präsident ist, der zur Darstellung gebracht wird. Er argumentiert also vorwiegend mit dem Bezug auf weltlich-reale Größen, Kritiker B hingegen mit der eigenen Affiziertheit. Beide nehmen dabei für sich in Anspruch, über denselben Gegenstand, dasselbe Kunstprodukt, zu sprechen. 13 Um einem möglichen Einwand zu begegnen: Erklärungen wie ›Das lässt sich nicht voneinander trennen‹ oder ›Das bedingt sich gegenseitig‹ oder gar besonders emphatisch ›Man sollte Gefühle und Dinge nicht gegeneinander ausspielen‹ sind in solchen Fragen zugegebenermaßen schnell bei der Hand. Gleichwohl erklären sich daraus weder die Ursächlichkeit solcher Denkfiguren noch die Gründe, warum diese über bestimmte Traditionslinien regelmäßig in neuen Spezifikationen und Korrelationen auftreten.
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der Regel auf die analytische Bestimmung der durch das Gedicht aufgerufenen Entitäten und bezeichnet diese – so man sich einer hergebrachten Terminologie bedienen will – als Motive, Topoi und Themen. Beide Dimensionen, die Affekte und die Sachverhalte, haben nach antikem Verständnis indes eines gemeinsam: Sie zählen zur Natur, im einen Fall zur menschlichen Natur, im anderen Fall zur Natur eines den Menschen umgebenden beziehungsweise ihm übergeordneten Weltzusammenhangs.
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Seien es nun die Affekte oder die Sachverhalte, denen man den Vorzug bei der Bestimmung der τέχνη ποιητική gibt – zur Dichtkunst zählt nach antiker Auffassung verbindlicherweise, dass beide Bezugsgrößen gerade nicht in einer beliebigen Struktur vorliegen, sondern dass ihre Ordnung eine poetische ist und dass diese Ordnung erkennbar ist; im Falle der Affekte könnte man wohl auch sagen: dass sie – mit der horazischen Konditionale si vis me flere gesprochen – 14 eine Wirkung aufgrund eines sympathetischen Einfühlens, eines Mit- und Nachempfindens, erzielt. Auf das dolere des Dichters folgt dann im Idealfall das flere des Rezipienten. Erweitert man dieses Kriterium, indem man es dezidiert auf die Textsorte bezieht, so ließe sich die poetische Darstellungsart dann mehr oder weniger leicht von wissenschaftlichen, philosophischen, bio- oder historiographischen Macharten unterscheiden. Gleichwohl ist diese Differenzziehung nicht spezifisch antik zu nennen, 15 insofern die Ansetzung eines solchen Kriteriums auch unserer Gegenwart nicht völlig fremd zu sein scheint: Eine wissenschaftliche oder philosophische Abhandlung etwa sollte nach heute weitverbreiteter Ansicht überhaupt nicht erst auf Affekte abzielen oder solche gar ›enthalten‹; 16 ein Versepos über die Entstehung einer Nation sollte anders texturiert sein als eine geschichtlich-neutrale Abhandlung, sei sie auch mit demselben Gegenstand befasst; und ein Liebesgedicht sollte so etwas wie eine Neutralität im Umgang mit der Lage der Dinge geradewegs vermissen Vgl. Hor., ars, 102 f.: »Si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi« (»Wenn du willst, dass ich weine, so musst du zunächst selbst betrübt sein.«). 15 Die Antike vertrat, im Gegenteil, auch in ihren rhetorischen Lehrsystemen durchaus den Wert der Affekte durch verschiedenste Gattungen hindurch. Exemplarisch sei hier auf das sechste Buch der Institutio oratoria Quintilians sowie die Einlassungen in der Rhetorica ad Herennium 3, 2, 2 hingewiesen. 16 So würde es voraussichtlich merkwürdig bis unangemessen erscheinen, nach ausgiebiger Kant-Lektüre ›zornig‹ auf den kategorischen Imperativ zu sein. Auch ist kein Fall bekannt, in dem jemand Jammer und Schauder über die generative Transformationsgrammatik Chomskys empfunden hätte. 14
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lassen. Auf der Ebene des Wirklichkeitsbezugs lässt sich noch hinzufügen: Ein erotisches wie ein hymnisches wie auch ein enkomiastisches Gedicht gelten gerade dann als besonders gelungen, wenn sie ihren Gegenstand der Realität möglichst weit entrücken. 17 Die Wirklichkeit stellt demzufolge eine Welt und Gegenwelt dichterischer Produktivität dar. Daher lassen sich in den poetischen Verfahrensweisen bestimmte Regeln – oder weniger präskriptiv gewendet: Regelmäßigkeiten – ausmachen, nach denen sich sowohl die Gattungsmerkmale erkennen wie auch die Qualität der entsprechenden Spracherzeugnisse bemessen lassen. 18 Dieses Unterschiedsdenken hinsichtlich der generischen MachEiner der bekanntesten antiken Vertreter einer solchen Verfahrensweise lässt sich in Pindar sehen: Wenn in dessen epinikischen Oden die Gewinner sportlicher Wettkämpfe zu Grenzgängern menschlicher Leistungsfähigkeit stilisiert werden, so gelingt das insbesondere über das stabile Verhältnis zwischen irdischer und göttlicher Sphäre. So wird beispielsweise in der zehnten pythischen Ode der Sieger im Doppellauf Hippokles nach apostrophisch-emphatischer Einführung seiner Heimat, des »glückselige[n] Thessalien[s]« (Pind., P., 10, 2: »µάκαιρα Θεσσαλία«), in nautischer Metaphorik bis an die Grenzen der betretbaren Welt gerückt: »Was wir als sterbliches Volk an Glanz nur berühren können, erreicht er in grenzerkundender Seefahrt.« (ebd., 28 f.: »ὅσαις δὲ βροτὸν ἔθνος ἀγλαίαις ἁπτόµεσθα, περαίνει πρὸς ἔσχατον / πλόον.«) Dass diese Fahrt, die den siegreichen Athleten bis an die Peripherie der Welt, das Land der Hyperboreer führt (vgl. ebd., 30 sowie zu diesem Topos auch Pind., Ol., 3, 16, Soph., fr. 956 und die Scholien zu Apoll. Rhod., 2, 675), »nicht zu Schiff oder zu Fuß wandernd« (Pind., P., 10, 29: »ναυσὶ δ᾽ οὔτε πεζὸς ἰών«), sondern nur durch den Siegesruhm erfahrbar wird, verbürgt die mythologisch bezeugte Weltentrennung: Bei allem gegenwärtigen Ruhm ist »der eherne Himmel für ihn niemals ersteigbar« (ebd., 27: »ὁ χάλκεος οὐρανὸς οὐ ποτ᾽ ἀµβατὸς αὐτῷ«), insofern alles darüber hinaus Gehende den Göttern und Heroen wie Perseus (vgl. ebd., 31–36) vorbehalten ist. Dies meint jedoch offenbar keinen Verlust an Dignität; vielmehr gewinnt die Verklärung des Siegers ihren eigentümlichen, durch den Dichter verkündbaren Ruhmesgrad, indem sie als weitestmögliches Entrücken im Rahmen der historischen wie mythologischen Wirklichkeit gedacht wird. 18 Dass Gattungsdiskussionen wie selbstverständlich mit Werturteilen über deren prototypische Vertreter (etwa: Homer als der Epiker, Sophokles als der Tragiker, Sappho als die monodische Lyrikerin etc.) verbunden werden, begegnet als Phänomen bereits in den meisten poetologischen und rhetorischen Traktaten der Antike. Exemplarisch erwähnt seien die Rekurrenz auf den sophokleischen Ödipus in Aristoteles’ Poetik (vgl. Aristot., poet., 11, 1452a26, 1452a35; 15, 1454b7 f. etc.), die Homer-Emphase – samt raffender Übersetzung – in Horaz’ Ars poetica (vgl. Hor., ars, 140–152) und das Lob der Sappho im pseudo-longinischen Traktat De sublimitate (Long., sublim., 10, 1–3), das sich ebenfalls an eine ausführliche Homer-Diskussion anschließt (ebd., 9, 5–15). Mit Blick auf das Corpus rhetorischer Traktate eröffnet besonders prominent Cicero gleich zu Beginn im Orator eine Art Agon und Hierarchie zwischen den Dichtern und Rednern, durch die der jeweilige Aspirant gleichwohl nicht entmutigt werden solle: »Denn unter den Dichtern ist, um von den Griechen zu sprechen, nicht für Homer oder für einen Archilochos oder Sophokles oder Pindar allein Platz, sondern auch für solche zweiten oder noch geringeren Ranges.« (Cic., orat., 1 [4]: »nam in poetis non Homero soli locus est, ut de Graecis loquar, aut Archilocho aut Sophocli aut Pindaro, sed horum vel secundis vel etiam infra secundos.«) Derartige Wertbekundungen scheinen – bei aller zugeneigten Emphase, die man Cicero diesen Autoren gegenüber unterstellen darf – daneben stets auch den Zweck zu verfolgen, »eine Anleitung zum Nachvollzug von vorhandenen, einer längst vergangenen Epoche entstammenden Literaturwerken« (Fuhrmann [2003], 202), also eine 17
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art, das offenbar viel mit dem poetischen Umgang mit der Welt und der Wirklichkeit zu tun hat, hat seinen bis heute einflussreichsten Gemeinplatz in Aristoteles' Poetik (um 335 v. Chr.) gefunden. Die Poetik wird daher auch den Ausgangspunkt für die weitere Ausbreitung unseres Themas bilden. In ihr enthalten ist eine der prominentesten Annahmen zum Verhältnis von Poesie und Wirklichkeit: Sie besagt in ihrer prägnantesten Zuspitzung, dass die Dichter das Mögliche (δυνατόν) darstellten, während sich die Geschichtsschreiber mit Geschehnissen (γενόµενα) befassten. 19 In Verbindung mit den eingangs aufgeworfenen Fragen zur Wesenhaftigkeit bedeutet dies, dass die Essenz der dichterischen Kunstwerke nichts anderes darstellt als das Mögliche – und eben nicht das ›Wahre‹ oder das ›Ideale‹. Leider lenken die Diskussionen darüber, ob der bekannteste Ausdruck ebendieses Weltzugriffs, die Mimesis (µίµησις), nun eher ein nachahmendes oder ein darstellendes Verfahren meine, 20 leicht davon ab, dass die von Aristoteles zur Beschreibung der Wirklichkeitsbezüge eingebrachten Kategorien nicht allein auf das µιµεῖσθαι, sondern ganz elementar auf Vorstellungen von Vermögen und Möglichem, auf die δύναµις und das δυνατόν, rekurrieren. So wird bereits im Proömium, noch bevor die so prominente µίµησις überhaupt auf den Plan tritt, im Rahmen der allgemeinen Zielsetzung des Traktats von einem Vermögen poetischer Erscheinungsarten, einer δύναµις εἰδῶν, gesprochen: Περὶ ποιητικῆς αὐτῆς τε καὶ τῶν εἰδῶν αὐτῆς, ἥν τινα δύναµιν ἕκαστον ἔχει, καὶ πῶς δεῖ συνίστασθαι τοὺς µύθους εἰ µέλλει καλῶς ἕξειν ἡ ποίησις, ἔτι δὲ ἐκ πόσων καὶ ποίων ἐστὶ µορίων, ὁµοίως δὲ καὶ περὶ τῶν ἄλλων ὅσα τῆς αὐτῆς ἐστι µεθόδου, λέγωµεν ἀρξάµενοι κατὰ φύσιν πρῶτον ἀπὸ τῶν πρώτων. 21
Art von kanonischem Bildungsprogramm zu vermitteln. Dies setzt ausdrücklich kein einseitiges – etwa ›ciceronisches‹ – Kriterium zu Bestimmung von Poetizität beziehungsweise Rhetorizität voraus; im Gegenteil, nicht selten entscheidet sich – wenn man an grammatische und literarästhetische Kanonisierungsbemühungen denkt – erst anhand derartiger Zuschreibungen, was überhaupt als ›poetisch‹ oder ›literarisch‹ zu gelten hat – seien die Kriterien hierfür nun im einen Moment am Geschmack der Rede, im anderen an der Wirkkraft des Dichters und im nächsten an dessen vorzüglicher Bildung bemessen. Ebendiese Kriterienvielfalt zu homogenisieren, bildet seit der Antike eine Grundschwierigkeit, mit der sich die Literarkritik beständig auseinandersetzen muss. 19 Vgl. Aristot., poet., 9, 1451a36–1451b5. 20 Vgl. als eine ausführliche, chronologische Darstellung dieser begriffs- und ideengeschichtlichen Auseinandersetzungen von der Antike bis zur Neuzeit Petersen (2000). Zweifel an der Mimesis als einem bloßen Wiedergabeprinzip finden sich außerdem bei Horn (2000) und Vogt-Spira (2007); darüber hinaus problematisiert Schmitt diese Bedeutungsaspekte regelmäßig in seinen Kommentierungen zur Poetik; vgl. beispielsweise Schmitt (22011), 50–53. 21 Aristot., poet. 1, 1447a8–13: »Über die Dichtkunst selbst sowie ihre Erscheinungsarten, welches Vermögen eine jede hat und wie man die Mythen zusammenfügen muss, wenn die Dichtung in gutem Zustand sein soll, außerdem aus wie vielen und wie beschaffenen Teilen sie besteht, ebenso
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Die gedankliche Bewegung reicht hier von der allgemeinen (τέχνη) ποιητική über formal differenzierbare Einheiten (εἴδη) 22 sowie deren Vermögen (δύναµις) bis hin zur Zusammenfügung der Mythen (συνίστασθαι τοὺς µύθους) und den damit verbundenen quantitativ-qualitativen Bestimmungen der einzelnen Dichtungsteile (ἐκ πόσων καὶ ποίων µορίων). Hierdurch stellt sich das Proömium, was in den aristotelischen Schriften allerdings nicht unüblich ist, in seiner begrifflich-rhetorischen Gliederung nicht nur als wissenschaftliche, sondern in souveräner Beiläufigkeit als wissenschaftstheoretische Verortung des Themas dar. Neben der Rekurrenz auf das Vermögen sowie die Quantität und Qualität der Teile einer ποίησις ist es auch die prägnante Schlussperiode »λέγωµεν ἀρξάµενοι κατὰ φύσιν πρῶτον ἀπὸ τῶν πρώτων«, deren naturphilosophische Diktion besonders ins Auge fällt. Sie verweist auf die naturgemäßen Anfangsgründe und somit auf einen axiomatischen Anspruch, der über die Programmatik einer reinen Fach- oder Spezialwissenschaft hinausgeht. 23 Der für Aristoteles entscheidende Ausgangsgedanke enthält einen viel umfassenderen Anspruch: Die menschliche Produktivität bringt Artefakte auch von den anderen Dingen, die zu demselben Vorgehen gehören, wollen wir hier sprechen, indem wir naturgemäß zunächst von den Anfangsgründen her beginnen«. 22 Hier sollen die εἴδη (Singular: εἶδος) bewusst noch nicht als ›Gattung‹ aufgefasst werden, zunächst als Ausdruck formaler Gestaltungsprinzpien fungieren: Die εἴδη äußern sich nach Aristoteles vor allem als Erscheinungsarten in einem ontologischen Gegensatz zur Materie (ὕλη) – eine topische Unterscheidung, die in der aristotelischen Metaphysik als ein integraler Bestandteil der Wesensschau (θεωρία τῆς οὐσίας) gelten kann; vgl. etwa im Rahmen der Lehre vom Substrat (ὑποκείµενον) Aristot., metaph., 7, 3, 1029a29 f.: »Demnach dürfte man der Ansicht sein, dass die Form und das aus beiden [sc. selbständige Trennbarkeit und eigentümliche Bestimmtheit] Hervorgehende mehr Wesenheit ist als die Materie.« (»διὸ τὸ εἶδος καὶ τὸ ἐξ ἀµφοῖν ούσία δόξειεν ἂν εἶναι µᾶλλον τῆς ὕλης.«) Es geht bei den εἴδη also zuvorderst um Formen, die – auf die Dichtkunst bezogen – in der konkreten Gestalt poetischer Artefakte vorliegen beziehungsweise die Bestimmung der dichterischen Produktion darstellen. Der Begriff der Gattung würde hingegen bereits auf diejenigen taxonomischen Bestimmungen vorausweisen, die Aristoteles ja gerade erst programmatisch voneinander abgrenzen möchte, indem er sie aus bestimmten ontologischen und anthropologischen Anfangsgründen heraus entwickelt. Zwar liegen die Gattungsbezeichnungen und -traditionen (Epos, Lehrgedicht, Tragödie, Dithyrambos etc.) für Aristoteles zweifelsohne vor, genügen aber offensichtlich noch nicht den systematischen Ansprüchen, die er erst aus den Unterschiedsmomenten ihrer Dynamik (vgl. Aristot., poet., 1, 1447a8 f.: »ἥν τινα δύναµιν ἕκαστον ἔχει«) und Mimetik (vgl. ebd., 1, 1447a13–18) gewinnen möchte, das heißt aus ihrem Potential und ihrer Darstellbarkeit heraus. Gegenüber der formalen Bestimmbarkeit anhand des εἶδος sind die von ebd., 6, 1450a3 an in die Erörterung mit einbezogenen ›Mythen‹ (µῦθοι) auf der stofflichen Seite der Dichtkunst anzusetzen. 23 Fast dieselbe Phrase wird auch bei Aristot., soph. el., 1, 1, 164a21 f. wieder aufgegriffen – an einer Stelle, wo es um die Grundlegung logischer Beweisführungen geht. Denn auch diese haben nach (nicht nur) antikem Verständnis disziplinenübergreifenden Charakter. Für die frühneuzeitliche Naturphilosophie und Ästhetik sollte die aristotelische Formulierung geradezu einen Vorbildcharakter annehmen; vgl. an prominenter Stelle Lessing, Laokoon, Teil I, Kap. XVI, 116: »Doch ich will versuchen, die Sache aus ihren ersten Gründen herzuleiten«.
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von unterschiedlicher Form und mit einem bestimmten Vermögen hervor. 24 Die sich um das πρῶτον und die ἀρχή (beziehungsweise des ἄρχειν/ἄρχεσθαι) aufspannenden Wortfelder enthalten durch ihre philosophische Tradition sowohl einen allgemeinen wie auch einen naturgemäßen Bestimmungsanspruch. Aristoteles verbindet sie häufig miteinander, wenn es um die Frage nach den ersten Ursachen geht; das πρῶτον bezieht sich dabei – gelegentlich auch attributiv zu den Ursachen (αἰτία) gesetzt – tendenziell auf den logischen, die ἀρχαί hingegen auf den zeitlichen Vorrang einer Begründungsinstanz. 25 Neben der Tradition, die sich aus den Begriffssystemen der ionisch-italischen Philosophie heraus ersehen lässt, 26 hat auch die vor der ionisch-italischen Naturphilosophie bis ins achte Jahrhundert v. Chr. zurückreichende Lehrgedichtstradition zu diesem terminologischen Usus einiges beigetragen. Betrachtet man diese Tradition genauer, so rücken protologische Beschreibungsformen in den Blick, wie sie erstmals in der Theogonie Hesiods vorfindbar sind. Eine solche Diktion wird dort ebenfalls bereits im Proömium eingeführt 27 und darüber hinaus in den kosmogonischen Erzählpassagen topisch fortgesetzt. 28 Die Welt, so bereits die Programmatik Hesiods, soll gerade nicht Die verbreitete Übersetzung Fuhrmanns spricht anstelle von »Vermögen« von »Wirkung« (Fuhrmann [32008], 5; ebenso für »ἔργον« ebd., 23), was im weiteren Kontext der aristotelischen Philosophie einige Probleme aufwirft, wenn man Wirkung als aktuale Realität begreift, wie sie sich anhand der Begriffe der ἐνέργεια und ἐντελέχεια in der gesamten Metaphysik topisch widerspiegelt; vgl. in einem kontrastiven Zusammenhang Aristot., metaph., 11, 9, 1065b5–1066b35 sowie hinsichtlich der Prinzipien des Bewegens (κινητικόν) und des Hervorbringens (ποιητικόν) ebd., 12, 3, 1071b13–15. Im Gegensatz zu energetischen Zuständen zielt die δύναµις auf die Möglichkeit beziehungsweise das Vermögen ab. Schmitts Übersetzung spricht daher im Gegensatz zu Fuhrmann ganz zu Recht von »Potenz« (Schmitt [22011], 3); irritierend ist hingegen die Wiedergabe bei Schönherr (1972), 7 mit »Eigenart«. 25 Vgl. exemplarisch Aristot., metaph., 1, 1, 981b28 f.: »πρῶτα αἰτία καὶ τὰς ἀρχὰς«; zur Wortsemantik vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »ἀρχή«, 252: »first principle« sowie ebd., s. v. »πρῶτος« [»πρότερος«], 1535: »primary things, elements«, »the first undemonstrable propositions, on which all future conclusions rest«. 26 So sei Anaximander, wenn wir etwa Hippolytos von Rom glauben dürfen (und wenig spricht dagegen), der erste gewesen, der die Bezeichnung ›ἀρχή‹ in einem streng ontologischen Sinne, nämlich in Verbindung mit dem Unbegrenzten (ἄπειρον) als genetischem Urgrund der Welt, gebrauchte: »Dieser [sc. Anaximander] behauptete, dass der Anfangsgrund der seienden Dinge eine gewisse Natur des Unbegrenzten darstelle, aus der heraus die Himmel und die Welten in ihnen entstünden.« (Hippol., Haer., 1, 6, 1: »οὗτος ἀρχὴν ἔφη τῶν ὄντων φύσιν τινὰ τοῦ ἀπείρου, ἐξ ἧς γίνεσθαι τοὺς οὐρανοὺς καὶ τοὺς ἐν αὐτοῖς κόσµους.«). 27 Vgl. Hes., theog., 114 f.: »ταῦτά µοι ἔσπετε Μοῦσαι ᾿Ολύµπια δώµατ᾽ ἔχουσαι / ἐξ ἀρχῆς, καὶ εἴπαθ᾽ ὅτι πρῶτον γένετ᾽ αὐτῶν« (»Dies verkündet mir, Musen, die ihr olympische Häuser bewohnt, / von Anfang an, und sagt, was davon als erstes entstand.«). 28 Vgl. ebd., 116 (»πρώτιστα«), 126 (»πρῶτον«), 156 (»ἐξ ἀρχῆς«), 192 (»πρῶτον«), 202 (»τὰ πρῶτα«), 203 (»ἐξ ἀρχῆς«) etc. Umgekehrt verwendet Herodot zu Beginn seiner Historien ein analoges Begriffsfeld (vgl. Hdt., 1, 5, 1–3: »τὴν ἀρχὴν [. . . ] πρῶτον ὑπάρξαντα«), um sich gerade 24
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analytisch zergliedert, sondern aus ihren Urgründen heraus erklärt werden. Es geht also um die Entfaltung von Urpotenzen, die sich als so gewaltig ausnehmen, dass sie auch unsere gegenwärtige Welt mit konstituieren. Der für die Weltentstehung bedeutsame Übergang vom Chaos hin zur Sukzessionsmythologie wird von Hesiod dementsprechend nicht nur in seiner zeitlichen Ursächlichkeit, sondern vor allem in seiner überzeitlichen Wirksamkeit, mithin als Szenerien, in denen bestimmte Kräfte walten, präsentiert. Ansonsten gäbe es in der Zeus-Dynastie weder Himmel (Οὐρανός) und Erde (Γαῖα), noch Tag (῾Ηµέρη) und Nacht (Νύξ). Vielmehr weist sich die Zeus-Herrschaft ja gerade dadurch als gerecht aus, dass diese, obschon als titanische Urgrößen einer archaischen Generation von Göttern angehörig, auch dort ihren Platz haben – wenn auch in angemessener, das heißt gerechtfertigter Distanz zu den in den entscheidenden Kämpfen siegreichen olympischen Göttern. 29 Darauf, dass es sich bei den angeführten Naturpotenzen um Urkräfte handelt, die durch Zeus und Dike in den politisch-kulturellen Zusammenhängen der Gegenwart noch immer virulent sind, dass sich Hesiods Sukzessionsmythologie also als die kulturelle Bändigung von Kräften auffassen lässt, aus der dann eine persistente Ordnung hervorgehe – ohne dass damit das ursprüngliche Kraftmoment selbst aufgehoben würde –, wurde in jüngerer Zeit von Reckermann hingewiesen: Hesiod [. . . ] thematisiert mit dem Übergang von einer Natur, die zur Entartung tendiert, zu einer Sittlichkeit, die naturhafte Kraft nicht zerstört, sondern sie in gebändigter Form in das Eigene aufnimmt, den Vorgang der Kulturentstehung
von denjenigen Gattungen abzugrenzen, die das Erzählen von einem Ursprung zum Programm erheben, wie es etwa das Lehrgedicht vollführt. Herodot möchte demgegenüber mit dem beginnen, was durch sein eigenes Wissen verbürgt ist. 29 Vgl. Hes., theog., 729–731: »῎Ενθα θεοὶ Τιτῆνες ὑπὸ ζόφῳ ἠερόεντι / κεκρύφαται βουλῇσι ∆ιὸς νεφεληγερέταο / χώρῳ ἐν εὐρώεντι, πελώρης ἔσχατα γαίης« (»Dort unten [im Tartaros] sind die Titanen-Götter im finsteren Dunkel nach dem Willen des Wolkenversammlers Zeus verborgen, an einem modrigen Ort am Rande der riesigen Erde.«) Zur Illustration der Gerechtigkeit des Zeus vgl. auch den Katalog der Kinder der Themis (gerechte Satzung), der zweiten Ehefrau des Zeus nach Metis (Klugheit) ebd., 901–906: »∆εύτερον ἠγάγετο λιπαρὴν Θέµιν, ἣ τέκεν ῞Ωρας, / Εὐνοµίην τε ∆ίκην τε καὶ Εἰρήνην τεθαλυῖαν, / αἵ τ᾽ ἔργ᾽ ὠρεύουσι καταθνητοῖσι βροτοῖσι, / Μοίρας θ᾽, ᾗς πλείστην τιµὴν πόρε µητίετα Ζεύς, / Κλωθώ τε Λάχεσίν τε καὶ ῎Ατροπον, αἵ τε διδοῦσι / θνητοῖς ἀνθρώποισιν ἔχειν ἀγαθόν τε κακόν τε.« (»Zum zweiten führte er die glänzende Themis heim, welche die Horen gebar, nämlich Eunomia [gute Gesetze], Dike [Recht] und die blühende Eirene [Frieden], die über die Taten der sterblichen Menschen wachen, ebenso die Moiren [Zuteilerinnen], denen der ratgebende Zeus die höchste Ehre verlieh, Klotho, Lachesis und Atropos, die es den sterblichen Menschen zuteilen, Gutes wie Schlechtes zu besitzen.«).
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überhaupt, und zwar so, dass daraus deutlich wird, wie schwierig es ist, diesen Übergang zu finden und das, was man mit ihm gewonnen hat, auf Dauer zu stellen. 30
Kultur – sofern dieser Begriff hier überhaupt schon notwendig anzubringen ist – steht demnach nicht im Widerspruch zur Natur, sondern entsteht ganz im Gegenteil durch die Aneignung von Kräften, die von der Natur präsupponiert werden. Dieser Denkfigur zufolge wird der Urgrund der Natur auch im Prozess der Enkulturation immer weiter bekräftigt; die Natur hat somit elementaren Anteil an der Kunst. Dies gilt umso mehr, wenn künstlerische Leistungen in ihrer schöpferischen Dimension 31 vorgestellt werden. Einen solch engen Zusammenhang zwischen Natur und Kunst stellte in jüngerer Zeit Menke in seiner Beschreibung des Paradox von Tätigkeit und Werk heraus. 32 Menke geht es allerdings weniger um das Phänomen der Enkulturation schlechthin, wie es Reckermann in einem dann doch weitläufig gefassten Sinn vorschwebt, als um den Begründungskern der Ästhetik als einer Form jener schöpferischen Kraft, die sich aus der Natur selbst speist: Die Kunst wird ästhetisch, wenn sie der Natur nicht mehr in entscheidbarer Unterschiedenheit gegenübersteht, sondern wenn die Natur, die die Ordnung der menschlichen Kunst ›erleidet und erträgt‹, wieder in die Kunst eintritt. Dem Unwissen, was die ästhetische Kunst ausmacht – daß wir nicht sagen können, was sie ist: Kunst oder Natur –, entspricht ihre schöpferische Kraft. 33
Hesiod hatte – so viel darf vermutet werden – in seinen Lehrdichtungen nicht die Begründung einer ars aesthetica im Sinn. Und doch lässt sich das von Menke vorgebrachte Argument auch auf der Folie des von Reckermann veranschlagten Verhältnisses von Natur, Kraft und Kultur in der Theogonie lesen und damit auf einen der perspektivbildenden Texte der griechischen Literatur Reckermann (2011), 18. Gerade wenn es um dynastische Umstürze geht, lautet der von Hesiod hierfür am häufigsten verwendete Ausdruck ›βίη‹ (›Kraftakt‹, ›Gewalt‹); vgl. Hes., theog., 649, 670, 677 etc. 31 Im Gegensatz etwa zum resultativen Aspekt ›Werk‹ oder demjenigen der Effektivität als reiner ›Wirkästhetik‹. 32 Bei diesem Paradox geht es um das nicht letztgültig bestimmbare Verhältnis, das zwischen Machen und Werk vorherrscht. Paul Valéry hat diese Frage in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France von 1937 publikumswirksam aufgeworfen, indem er darauf hinwies, dass ein dichterisches Werk nur als unwahrscheinliches Resultat eines bewirkenden Tuns gelten könne; daraus, dass das Machen ein Werk bewirke, folge demnach noch lange nicht, dass eine entsprechende Wirkung dann auch vom Werk ausgehe; somit fielen Werk und Machen gewissermaßen auseinander, wodurch wiederum das Werk als solches unverständlich bliebe, ja geradezu bleiben müsse; vgl. die Zusammenfassung dieses Standpunkts bei Menke (22013), 29–31. 33 Ebd., 32. 30
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und Philosophie überhaupt anwenden: Die Ordnung, die der Mensch den Artefakten qua eigener schöpferischer Kraft eingibt, bedeutet weder eine Entfremdung von der Natur noch eine Selbstüberhöhung gegenüber dieser, sondern ruft – im Gegenteil – eine immer stärkere Indifferenz von Natur und Kunst hervor. Die Kräfte, die ein Kunstwerk hervorbringen, müssen demnach gar nicht als ›künstliche‹ betrachtet werden, sondern können mindestens ebenso leicht einem natürlichen Urgrund zugeordnet werden – einem Urgrund, der zudem in der Realisation des Werkes nicht verloren geht, sondern sich vielmehr darin zu manifestieren weiß. Somit wären es nicht mehr allein technische, sondern ebenso naturphilosophische Paradigmen, die wir zur Erklärung eines Kunstwerks benötigen würden. Nicht zuletzt die Ebene der ästhetischen Urteile wäre von einer solchen Sichtweise betroffen. Gelingt es dem Künstler nämlich, derartige Urkräfte in die eigenen Werke zu implementieren, so ist dies gleichermaßen als Ausweis für dessen eigene Kraft – denn er ›beherrscht‹ ja in diesem Moment die Naturkräfte – wie auch als ein wesentlicher Existenzgrund für das Artefakt zu werten. Die Natur selbst verhilft also der Kunst zu ihrer Kraft, und diese Kraft ist dann wiederum nach außen hin sichtbar. Das Kunstwerk kann demzufolge an Maßgabe und Stärke der in ihm liegenden Natur bemessen werden. Eine solche Gedankenfigur lässt sich bereits in der Antike in ganz unterschiedlichen Teilepochen beobachten. So zeigt ein vorauseilender Blick auf den pseudo-longinischen Traktat Über das Erhabene (Περὶ ὕψους, De sublimitate), 34 dass einer der am hartnäckigsten wiederkehrenden Punkte in demjenigen Credo besteht, dass Natur und Kunst ihre höchste Dignität gerade dann aufweisen, wenn sie scheinbar in eins fallen: »Dann nämlich ist die Kunst vollendet, wenn sie Natur zu sein scheint; die Natur wiederum hat ihr Ziel erreicht, wenn sie sie [sc. die Kunst] unmerklich mit einschließt.« 35 Bevor sich in Kapitel ii.4.b noch genauer diesem Traktat zugewandt wird und dabei – so viel ist schon zu erwähnen – ›Kraft‹ als diejenige argumentative Größe begriffen wird, durch die sich das Verhältnis zwischen Kunst und Natur am umfassendsten bestimmen lässt, sei an dieser Stelle zunächst noch näher auf Hesiod und Aristoteles eingegangen: Die Theogonie scheint gar nicht so sehr aufgrund ihres schieren Alters, also aufgrund ihrer weithin als archegetisch angenommenen Stellung im Gattungsbereich des Lehrgedichts, sondern vor allem wegen ihres so deutlich aus sich selbst heraus vorgetragenen philosoDessen Entstehungszeit ist mit einiger Wahrscheinlichkeit in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. anzusetzen. 35 Long., sublim., 22, 1: »τότε γὰρ ἡ τέχνη τέλειος, ἡνίκ᾽ ἂν φύσις εἶναι δοκῇ, ἡ δ᾽ αὖ φύσις ἐπιτυχής, ὅταν λανθάνουσαν περιέχῃ«. 34
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phischen Anspruchs 36 eine der literarischen Vorlagen zu liefern, die in der aristotelischen Physik und Metaphysik – neben den späteren Werken des Parmenides 37 und Empedokles 38 sowie der stets spürbaren Auseinandersetzung mit dem direkten Vorgänger Platon – zitiert und diskutiert werden. Dabei wird die Theogonie, ihrer protophilosophischen Rolle entsprechend, nicht selten an den Anfang einer Erörterungseinheit gesetzt. 39 Wenden wir uns an diesem Punkt wieder der Poetik zu: Die Klassifikation verschiedener Gattungen, die dort auf das Proömium folgt, zeichnet ein Bild von der Dichtung als mimetischer Kunst, deren Anfangsgründe im menschlichen Fundamentalvermögen zu suchen seien. 40 So setzt Aristoteles im Anschluss an das Proömium die menschliche Befähigung zur Mimesis 41 sowie die Freude daran 42 als Anstöße zur Produktivität, zur eingangs genannten (τέχνη) ποιητική, an. Der Anspruch Aristoteles' beschränkt sich also nicht auf das Skizzieren einer chronologischen Gattungsabfolge, wie es Fuhrmanns Übersetzung eventuell nahelegen könnte. 43 Zwar hat beispielsweise das Epos bereits aufgrund seiner Tradition unbestritten einen zeitlichen Vorrang gegenüber dem Dithyrambos und der Tragödie, nicht jedoch in Form seiner naturgemäßen Begründbarkeit. Denn seine Qualität gewinnt es stets aus der Verwirklichung der Das meint vor allem die Behandlung ontologischer sowie ethischer Fragen, worauf nachdrücklich Albert (72005) hinweist und der aus ebendiesem Grund die Theogonie an den Beginn seiner Reihe Texte zur Philosophie setzt. 37 Vgl. Solmsen (1960). 38 Vgl. dezidiert Hoffmann-Loß (1966). 39 Vgl. als ein illustres Beispiel die Herleitung des korporalen Raumbegriffs in Abgrenzung zum hesiodeischen Chaos-Mythos. Dort nämlich werde der Raum als bloßes Gefäß diskutiert, das Orte (τόποι) für die in der Welt vorfindbaren Körper gleichsam bereitstelle: »Denn auch Hesiod könnte scheinbar richtig sprechen, wenn er als erstes den ›leeren Abgrund‹ [Chaos] erdichtet. Er sagt jedenfalls: ›Zuerst gab es das Chaos, danach aber die breitbrüstige Gaia‹ [= Hes., theog., 116 f.] in dem Sinne, dass doch wohl zuerst ein Raum dem Seienden zur Verfügung stehen müsse.« (Aristot., phys., 4, 1, 208b29–32: »δόξειε δ᾽ ἂν καὶ ῾Ησίοδος ὀρθῶς λέγειν ποιήσας πρῶτον τὸ χάος. λέγει γοῦν ›πάντων µὲν πρώτιστα χάος γένετ᾽, αὐτὰρ ἔπειτα γαῖ᾽ εὐρύστερνος‹, ὡς δέον πρῶτον ὑπάρξαι χώραν τοῖς οὖσι.«) Diese recht speziell anmutende Auslegung der Kosmogenese Hesiods, die darin besteht, das Chaos als abstrakte Raumpotenz aufzufassen, dient Aristoteles zur Vorbereitung seines eigentlichen naturphilosophischen Arguments: »Aus dem Gedachten indes entsteht keine Raumgröße.« (ebd., 4, 1, 209a18: »ἐκ δὲ τῶν νοητῶν οὐδὲν γίγνεται µέγεθος.«) Dass diese Hesiod-Stelle einen nicht unerheblichen Eindruck auf Aristoteles gemacht hat, zeigt auch Aristot., metaph., 984b28–33, wo er sie ein weiteres Mal in noch größerem Umfang (Hes., theog., 116–120) zitiert – diesmal, um die Frage nach dem ersten Bewegungsprinzip aufzuwerfen. 40 Zur elementaren Bedeutung der ἀρχή als Funktionsbegriff des Hervorbringens und Bewegens vgl. zuletzt Böhler (2014). 41 Vgl. Aristot., poet., 1, 1447a19–30 sowie ebd., 4, 1448b7. 42 Vgl. ebd., 4, 1448b9. 43 Vgl. Fuhrmann (32008), 5: »indem wir der Sache gemäß zuerst das untersuchen, was das erste ist«. 36
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eigenen, das heißt: der vom Menschen ausgehenden und sich daraus weiter fort strukturierenden Natur (φύσις). 44 Der Mensch wird somit auch in kunstschaffender Tätigkeit nicht seiner eigenen Natur enthoben; von einer Abwendung oder einem Akt der artifiziellen Selbstüberhöhung kann hier nicht die Rede sein. Vielmehr stellt sich – wie denn auch die aristotelische Physik zeigt – die menschliche Schaffenskraft grundsätzlich als eine Art technische φύσις dar, gerade weil sie in ihrer Prozeduralität natürlichen Prinzipien, allen voran der Zweckursächlichkeit, dem τέλος folgt. Erst auf Grundlage eines Schaffensaktes lässt sich für Aristoteles überhaupt von einem Werkcharakter menschlicher Artefakte im Sinne ihrer Abgeschlossenheit, und das heißt auch: ›Vollendung‹ sprechen. 45 Der Zweck des Herstellungsbeginns muss dabei nicht immer nach In diesem wesensmäßig-teleologischen Sinne sind auch die in der Poetik vermittelten Vorstellungen über generische Entwicklungen zu sehen, wie Fuhrmann im Übrigen selbst an einer Stelle betont: »Die entwicklungstheoretische Grundlegung des allgemeinen Teils geht nahezu fugenlos aus der anthropologischen hervor. Die verbindende Klammer der beiden Gedankengänge ist der Begriff Physis, ›Natur‹, ›Wesen‹.« (Fuhrmann [2003], 22) Auch Büttner geht auf diesen Zusammenhang an verschiedenen Stellen ein, wobei ihm in Behauptungen wie der folgenden nur zur Hälfte zuzustimmen ist: »Er selbst [Aristoteles; D. B.] verwendet den Begriff [Natur; D. B.] im Sinne der ›schaffenden Natur‹ als strukturierender Kraft. Sein Verständnis von phýsis und eídos entspricht damit weitgehend demjenigen, was uns bei Platon unter dem Stichwort ›Idee‹ begegnet ist.« (Büttner [2006], 65) Die hier angedachte Gleichstellung des aristotelischen und des platonischen φύσις/εἶδος-Konzeptes hält, wenn man etwa die Politeia mit der Metaphysik oder den Phaidon mit De anima vergleicht, keiner synoptischen Überprüfung stand. Platon setzt die Ideen transzendental, also strikt vor aller Wirklichkeit an; für Aristoteles sind Formen indes ebenso wirkliche Paradigmen wie der Stoff – zwar von höherer, weil in Einheit befindlicher, Wesenhaftigkeit als die ὕλη, aber deswegen noch längst keine rein abstrakte Idee. Die Trennung von Stoff und Form erfolgt vielmehr erst durch eine bestimmte Abstraktionsleistung nach den Dimensionen von Möglichkeit und Wirklichkeit – und gerade nicht nach denjenigen von Idee und Abbild; vgl. Aristot., metaph., 8, 6, 1045b16–22: »αἴτιον δ᾽ ὅτι δυνάµεως καὶ ἐντελεχείας ζητοῦσι λόγον ἑνοποιὸν καὶ διαφοράν. ἔστι δ᾽, ὥσπερ εἴρηται, ἡ ἐσχάτη ὕλη καὶ ἡ µορφὴ ταὐτὸ καὶ ἕν, τὸ µὲν δυνάµει, τὸ δὲ ἐνεργείᾳ, ὥστε ὅµοιον τὸ ζητεῖν τοῦ ἑνὸς τί αἴτιον καὶ τοῦ ἕν εἶναι· ἕν γάρ τι ἕκαστον, καὶ τὸ δυνάµει καὶ τὸ ἐνεργείᾳ ἕν πώς ἐστιν, ὥστε αἴτιον οὐθὲν ἄλλο πλὴν εἴ τι ὡς κινῆσαν ἐκ δυνάµεως εἰς ἐνέργειαν.« (»Der Grund hierfür [sc. für die zurückzuweisende Ansicht, dass es sich bei den in der Wirklichkeit wahrnehmbaren Gegenständen um eine Zusammensetzung von Idee und Materie handle] ist, dass man nach einem einheitstiftenden Begriff sowie nach einem Unterschied von Vermögen und Wirkpotential sucht. Es ist aber vielmehr, wie gesagt, der letztgültige Stoff und die Form ein und dasselbe – das eine dem Vermögen nach, das andere der Wirklichkeit nach, so dass die Frage nach einem Grund des Einen und [sc. dem Grund], das Eine zu sein, die gleiche ist; denn ein jedes ist Eines, und das dem Vermögen nach Seiende und das in Wirklichkeit Seiende ist in gewisser Weise Eins; daher gibt es keine andere Ursache, als dass sich etwas vom Vermögen zur Wirklichkeit hin bewegt.«). 45 Vgl. die Simultaneität von Natur und Kunstfertigkeit, die sich aus ihrer Gebundenheit an einen Zweck (τέλος, ἕνεκά του) ergibt, wenn es darum geht, etwas zu vollenden ([ἐπι-]τελεῖν, ἀπεργάζεσθαι): »Im Allgemeinen bringt die Kunstfertigkeit teils dasjenige zu Ende, was die Natur nicht zu vollenden imstande ist, teils eifert sie ihr nach. Wenn nun die Vorgänge gemäß der Kunstfertigkeit wegen etwas ablaufen, so ist klar, dass es auch die gemäß der Natur so tun. Denn es 44
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außen hin sichtbar vorliegen, sondern erweist sich als vollends hinreichend im Bewegenden selbst (κινῶν/κινοῦν). 46 In diesem Sinn steht nichts außer eben akzidenteller und somit nicht wesensgemäßer ›Störungen‹ 47 der Bewegung im Schaffensakt bezogen auf ihr teleologisches Ziel entgegen. Insofern das aus der Bewegung (κίνησις) heraus entwickelte Produktivitätsprinzip auf alle Fabrikationsakte anwendbar erscheint, entwickelt Aristoteles auch in der Poetik eine generische Systematik nicht aus hypothetischen Naturunterschieden heraus, sondern nach instrumentellen, 48 gegenständlichen 49 und modalen 50 Gesichtspunkten, die sich auf den Schaffensakt und das daraus hervorgehende Werk beziehen. An das eingangs gesetzte Naturargument schließt sich also unmitverhält sich ja das Spätere zu dem Früheren sowohl in den Vorgängen gemäß der Kunstfertigkeit als auch in denen gemäß der Natur auf gleiche Weise zueinander.« (Aristot., phys., 2, 8, 199a15–20: »ὅλως δὲ ἡ τέχνη τὰ µὲν ἐπιτελεῖ ἃ ἡ φύσις ἀδυνατεῖ ἀπεργάσασθαι, τὰ δὲ µιµεῖται. εἰ οὖν τὰ κατὰ τέχνην ἕνεκά του, δῆλον ὅτι καὶ τὰ κατὰ φύσιν· ὁµοίως γὰρ ἔχει πρὸς ἄλληλα ἐν τοῖς κατὰ τέχνην καὶ ἐν τοῖς κατὰ φύσιν τὰ ὕστερα πρὸς τὰ πρότερα.«). 46 Vgl. die demonstrative Widerlegung derjenigen, die an der gleichen Finalursächlichkeit von Natur und Kunst zweifeln, qua Analogieschluss: »Unverständlich ist es, nicht zu glauben, dass etwas wegen etwas entsteht, wenn man nicht sieht, dass das [sc. aktiv] Bewegende sich einen Plan überlegt. Doch auch die Kunstfertigkeit überlegt nicht lang. Und wenn die Schiffsbaukunst im Holz läge, so träte sie auf gleiche Weise wie die Natur in Aktion. Daher gibt es, wenn es in der Kunstfertigkeit das ›Wegen etwas‹ gibt, dieses auch in der Natur. Am allerdeutlichsten ist dies, wenn jemand seine Heilkunst auf sich selbst anwendet: Diesem [Vorgehen] gleicht nämlich die Natur. Dass also die Natur eine Ursache darstellt, und zwar im Sinne eines ›Wegen etwas‹, ist offenkundig.« (ebd., 2, 8, 199b26–33: »ἄτοπον δὲ τὸ µὴ οἴεσθαι ἕνεκά του γίγνεσθαι, ἐὰν µὴ ἴδωσι τὸ κινοῦν βουλευσάµενον. καίτοι καὶ ἡ τέχνη οὐ βουλεύεται· καὶ εἰ ἐνῆν ἐν τῷ ξύλῳ ἡ ναυπηγική, ὁµοίως ἂν τῇ φύσει ἐποίει· ὥστ᾽ εἰ ἐν τῇ τέχνῃ ἔνεστι τὸ ἕνεκά του, καὶ ἐν τῇ φύσει. µάλιστα δὲ δῆλον, ὅταν τις ἰατρεύῃ αὐτὸς ἑαυτόν· τούτῳ γὰρ ἔοικεν ἡ φύσις. ὅτι µὲν οὖν αἰτία ἡ φύσις, καὶ οὕτως ὡς ἕνεκά του, φανερόν.«) Zekl übersetzt κινοῦν – in Betonung der Funktion eines Erstbewegers – mit dem Ausdruck des »Anstoßgebende[n]« (Zekl [1987], 93) Dies erscheint einerseits sehr prägnant – da es den Aspekt der ἀρχή mitschwingen lässt, andererseits aber auch einengend, da das teleologische Verwirklichen eines Plans bei Aristoteles ja gar nicht auf den Initialakt beschränkt wird, sondern – ebenso wie sich der Plan durch alle Prozedurschritte vorfinden lässt – sich auch die Bewegung im Schaffensakt noch ändern oder an bestimmte Schwierigkeiten anpassen kann. Dass die Kunstfertigkeit »nicht lang überlegt«, hat also in erster Linie für den Plan selbst Bedeutung, nicht jedoch so sehr für dessen prozedurale Ausführung, die sich gegebenenfalls mit akzidentellen Widrigkeiten auseinandersetzen muss, an ihrem Telos aber festhält. Zum engen Verhältnis von Bewegung, Vermögen und zweckgemäßer Verwirklichung vgl. auch Aristot., phys., 3, 1, 201a10 f.: »ἡ τοῦ δυνάµει ὄντος ἐντελέχεια, ᾗ τοιοῦτον, κίνησίς ἐστιν.« (»Die Verwirklichung eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es ein solches [sc. Vorhandenes] [ist], ist Bewegung.«). 47 Ebendiese Eingriffe werden ja von Aristoteles durch die κατὰ φύσιν-Formel kategorisch ausgeschlossen. 48 Vgl. die instrumentellen Kasussemantiken in Aristot., poet., 1, 1447a18–28. 49 Vgl. deren sachliche Differenzmomente ebd., 12, 448a1–18. 50 Vgl. die Aufzählung an Möglichkeiten, wie eine µίµησις überhaupt vollzogen werden könne, ebd., 3, 1448a19–1448b3.
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telbar die Frage an, wie der Mensch die Natur bewegt, das heißt mit welchen Mitteln und Methoden die poetische Darstellung gelingen kann. Die systematische Unterscheidung der poetischen Werke (Epos, Tragödie, Komödie etc.) wird nicht allein durch die φύσις selbst evident, sondern manifestiert sich – sofern sie eben κατὰ φύσιν betrachtet werden – in den generischen Erscheinungsarten (εἴδη), die sich aus den ihnen zukommenden Vermögen (δυνάµεις) und Darstellungsweisen (µιµήσεις) ergeben. Die Natur bedeutet daher nicht die verschiedenen εἴδη an sich, sehr wohl aber den Urgrund und die Verwirklichung der menschlichen Gestaltungskraft. 51 Die Natur stellt eine Instanz der Poesie dar, und zwar deren erste, und damit wird die Naturphilosophie auch zu einer ersten Instanz der Poetik; 52 wenn man so möchte, ist die Natur das Substrat, von dem aus jede Kunstfertigkeit überhaupt erst zu entwickeln ist. 53 In dieser Unterschiedlichkeit, die zwischen δύναµις und εἶδος herrscht, zeigt sich dasjenige, woran sich Valéry und Menke stoßen, wenn sie das Paradox anführen, das zwischen Machen und Werk herrsche. Augenfällig ist jedenfalls, dass Aristoteles seine Theorie vom menschlichen Schaffen auf natürlichen, finalursächlichen Bewegungsprinzipien gründet, den daraus hervorgehenden Werken jedoch selbst kein genuines Bewegungsvermögen zusprechen möchte. Besonders deutlich wird das an Äußerungen, dass die vom Menschen hervorgebrachten Artefakte als solche »keinen natürlichen Drang zur VerändeDie hier in den Blick genommene Vermögen der Kunst sind somit nicht allein auf die mit der reinen Essenz verhaftete Naturnachahmung zu beziehen, auf die sie so häufig beschränkt wird. Zwar hat etwa Blumenberg unzweifelhaft recht, wenn er konstatiert: »Natur und ›Kunst‹ sind strukturgleich. Die immanenten Wesenszüge der einen Sphäre können für die der anderen eingesetzt werden.« (Blumenberg [1996], 56); es soll in der hier verfolgten Bestimmungsrichtung jedoch nicht allein um diesen essentiellen Einklang gehen, sondern – wie Aristoteles es selbst im ›ἐπιτελεῖν‹ und ›ἀπεργάζεσθαι‹ ausdrückt – um das Streben nach Vollendung, mithin um das Vermögen zur Schaffung eines Werks – ein Blickwinkel, der durchaus über die von Blumenberg benannten »immanente[n] Wesenszüge« hinaustritt, insofern er vorwiegend dynamisch und kinetisch ausgerichtet ist. 52 Das gilt in vergleichbarem Maße auch für die Rhetorik; vgl. Sallmann (1962), 272: »In der Rhetorik spielt die Physis-Techne-Antithese überhaupt die größte Rolle, da die Rhetorik der Inbegriff hellenistischer Erziehung ist: Physis und Techne sollen sich in optimaler Weise ergänzen, wobei auch die Natur wieder das Vorbild für die Techne liefert, und es wird durch das Studium der Natur, durch Physiologia erkannt«. Dieser enge Zusammenhang zwischen Rhetorik, Natur, Techne und Erziehung wird in Kapitel II.3.c der Studie noch dezidierter behandelt werden. 53 Nicht zu verwechseln ist dieses Substrat mit dem streng stofflichen Substrat (ὑποκείµενον), als das im Falle der Sprachkünste (Poetik und Rhetorik) die Sprache selbst anzusetzen wäre. So sehr ein Begriff von Natur als Ausgangslage der aristotelischen Poetik unumgänglich ist, so wenig folgt daraus die Setzung von ›Naturgattungen‹ oder ›-formen‹, wie sie beispielsweise Goethe in seinem berühmten Diktum von den drei Naturformen der Dichtkunst im West-östlichen Divan zum Ausdruck bringt: »Es giebt nur drey ächte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama.« (Goethe, West-östlicher Divan, Naturformen, 206). 51
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rung haben« 54. Während die τέχνη also einen kinetisch-teleologischen Urgrund vorzuweisen hat, ist in den daraus resultierenden Werken, insofern sie eben als fertige Resultate betrachtet werden, kein naturgemäßes Strebevermögen (ὁρµή) mehr feststellbar. Das heißt wohlgemerkt längst nicht, dass sie nicht auch Wirkungen über sich hinaus zeitigen könnten; jedoch scheint dieses Wirkvermögen nicht so sehr in einem Bewegungsfortsatz des Schöpfungsaktes selbst zu bestehen; die dichterischen Werke treten vielmehr in neue Begründungszusammenhänge, indem sie nun nicht mehr von inneren (Befähigung zur und Freude an der Nachahmung), sondern von äußeren Naturprinzipien konstituiert werden. Hierdurch gehen sie über ihre intrinsischen Merkmale hinaus und treten als abgeschlossene in Erscheinung – Aristoteles bezieht sich in diesen Kontexten dann nicht mehr auf das ›Vollenden‹ ([ἐπι-]τελεῖν, ἀπεργάζεσθαι), sondern nennt dasjenige, worin sich die Eigenschaft als ›Werk‹ (ἔργον) überhaupt erst manifestiert, ein ›Ganzes‹ (ὅλον). Die wenn auch nicht erschöpfende, so doch einfachste Formel zu dieser Entitätsvorstellung lautet: Ein sprachliches Werk ist dann poetisch, wenn es konsistent dem Kriterium des naturgemäß Möglichen genügt. Der durch die prominente Verwendung des Möglichen neu akzentuierte Naturbegriff ist nicht mehr von einer zweckgerichteten Produktivität, sondern von einer modallogischen Wirklichkeitsauffassung geprägt. Ein solcher Perspektivwechsel erlaubt zugleich den Übergang von einer praktischen (πρακτικῶς, τεχνικῶς) hin zu einer gegenständlichsubstantiellen Betrachtungsweise (κατ᾽ οὐσίαν) der Dichtkunst. 55 Über den einleitenden Allgemeinteil hinaus lassen sich in der Poetik einige Problemstellungen ausmachen, deren Verständnis von Philosophemen ebensolcher Art abhängt, oder die mit ihnen ausdrücklich und an zentralen Stellen operieren; wie etwa das Wahrscheinliche (εἰκός) und das Notwendige (ἀναγκαῖον). Sie stellen Indikatoren der Weltbezogenheit dar, die der aristotelischen Auffassung über dichterische Kunstwerke in weiten Teilen zukommt. 56 Bleiben wir zunächst noch bei der grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Verortung, die der Dichtkunst bei Aristoteles zukommt: Wenngleich sich in der Hinwendung zu den anthropologischen und ontologischen Anfangsgründen einer als natürlich, vermögend und finalursächlich orientiert verstandenen τέχνη ein merklicher Schnittpunkt von Naturphilosophie, MeAristot., phys., 2, 1, 192b18 f.: »οὐδεµίαν ὁρµὴν [. . . ] µεταβολῆς ἔµφυτον«. Die Berücksichtigung beider Betrachtungswinkel im Rahmen einer naturphilosophischen Dichtungstheorie ist in der Antike keinesfalls selbstverständlich, wie unter anderem Platons streng ontologisch-objektive – und eben nicht praxeologische – Erläuterungen der τέχνη in der Politeia noch zeigen wird; siehe hierzu Kapitel II.3.b der Studie. 56 Hierauf wird in Kapitel II .5.a – unter Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den Wirkintensitäten – noch genauer eingegangen werden. 54
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taphysik und Poetik erkennen lässt, so scheint diese τέχνη – im Gegensatz zur neuzeitlichen ars aesthetica – weder bei Aristoteles noch bei einem anderen antiken Philosophen – einer ausdrücklichen Verschränkung mehrerer Disziplinen zu folgen. Vielmehr drücken sich in den jeweiligen poetologischen Fragen unterschiedliche Stellungen zu wirklichkeitsbeschreibenden Philosophemen aus, ohne dass eine entsprechende übergreifende Disziplin daraus hergeleitet würde. Mit einer gewissen Einschränkung: Erkenntnistheorie und Ontologie, Rhetorik und Poetik bleiben ihrer kanonischen Tradition gemäß zwar ihren jeweiligen Disziplinen verhaftet; dennoch finden dort – wie sich bereits an den Eingangspassagen der Poetik ersehen ließ – Positionierungen statt, indem bestimmten Theoremen und Lehrmeinungen der Vorzug gegeben wird; sie positionieren sich durch rhetorische Diktionen, begriffliche Verweise, das Anspielen auf Autoritäten oder das Zitieren poetischer wie poetologischer Vorgänger und schreiben sich dadurch in Traditionen ein, die, wie in Kapitel ii.3 noch genauer zu zeigen sein wird, über die Sophisten und Vorsokratiker hinaus bis hin zur Epik eines Homer und Hesiod zurückreichen. Im Folgenden soll es zunächst darauf ankommen, Kraft- und Vermögenskonzepte als Größen ebendieser Beziehungsgeflechte zu beschreiben. Sie lassen sich in zahlreichen theoretisch ausgerichteten Texten der griechisch-römischen Antike ausmachen und tragen dort an zentralen Argumentationsstellen zur Erläuterung vielfältiger Begründungszusammenhänge derjenigen artes bei, die sich mit künstlerisch verfertigter Sprache auseinandersetzen. Die Beschreibung solcher Kräfte erweist sich dabei – mit Blick auf die Leitbegriffe der δύναµις und der τέχνη – als besonders tragfähig anhand der Dimensionen von Potentialen und produktiven Fertigkeiten. Da diese durchaus einschlägig bei Aristoteles, aber auch weit darüber hinaus in recht unterschiedlichen Konstellationen – zudem teilweise indirekt – auszumachen sind, sind sie mit begrifflichen Abrissen nicht erschöpfend zu erfassen, sondern bedürfen einer geschichtlichen Verortung. Denn dass man es im Fortgang der antiken Poetik und Rhetorik mit recht unterschiedlichen, dabei aber immer wiederkehrenden, transformierten und modifizierten Vorstellungen von Vermögen und Fertigkeiten zu tun hat, ist schwer zu bestreiten: Einerseits scheint die den Menschen umgebende Welt Potentiale zu enthalten, die in der Dichtkunst auf besondere Weise – wie Aristoteles meint: im Modus des Möglichen – aufgerufen werden. Auch die Dichtungsarten selbst besitzen, Aristoteles' Eingangsbemerkungen nach, unterschiedliche Wirkvermögen. Ebenso verfügen aber auch Dichter und Redner über Vermögen, Kraft und Anstoßfähigkeit, über δύναµις (potentia, potestas, ingenium), ἰσχύς (vis) und ὁρµή (impetus, vehementia). Und dies nicht aus dem Grund, dass allen Dingen und Lebewesen diese Eigenschaften ohnehin einfach zufielen, sondern weil sie zu ihrem spezifischen Wesen, zu ihren unverkennba-
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ren Qualitäten gehören und diese Qualität zu Lebzeiten als formbar, steigerbar und sogar nachahmbar eingestuft wird. 57 Mehr noch, die Kraft des Dichters vermag den Tod ihres Trägers zu überdauern, indem sie in dessen Werken fortwirkt. 58 Hierdurch verschafft sie ihm – substantiell weitaus wirksamer, als es der zeitgenössische Publikumsbeifall vermag – Nachruhm und Unsterblichkeit. Die weitere Darstellung wird sich auf die Behandlung solcher Vermögen und Fertigkeiten im Zusammenhang der jeweiligen grammatischen, 59 rhetorischen und philosophischen Disziplinen konzentrieren, die sich zwischen den über die artes (τέχναι) kanonisierten Wirkansprüchen sprachlicher Artefakte auf der einen und den antiken Vorstellungen von natürlichem Sein auf der anderen Seite bewegen. Einen rezeptionsgeschichtlich bedeutsamen Fixpunkt wird dabei die Bezugnahme auf vis, potentia und ingenium in der klassischen Rhetorik eines Cicero und Quintilian bilden. Spezifisch stellt sich somit die Frage, in welcher Beziehung oratorisch-poetische Wirkziele wie διδάσκειν (docere, 60 ›belehren‹), τέρπειν (delectare, ›erfreuen‹), κινεῖν (movere, ›bewegen‹), ἐκπλάττειν (animos flectere, ›die Gemüter aufwühlen / beugen‹), ὁρµᾶν (impellere, ›antreiben‹) und ὀφελεῖν (prodesse, ›nützen‹) sowie naturphilosophische Instanzen wie φύσις (natura, ›Natur‹, ›Wesen‹) und πράγµατα (res, ›weltliche Gegebenheiten / Dinge‹) zu krafttheoretischen Konzepten wie den genannten ἰσχύς (vis), δύναµις (ingenium, potentia, potestas) und ὁρµή (impetus, vehementia) stehen. Um der Gefahr zu entgehen, die begriffliche Gemengelage anachronistisch zu behandeln, indem man etwa die antiken Natur- und Vermögensbegriffe aus den Kategorien der modernen Naturwissenschaften heraus deduzierte, seien außer der eingangs beschriebenen Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Wirkzusammenhängen für die poetologischen und rhetorischen Dieser Apekt wird insbesondere in Kapitel II.5.b–c. der Studie eine wichtige Rolle bei der Beschreibung des Verhältnisses zwischen magister und discipulus in den Redekünsten spielen. 58 Ein Topos, der sich gerade in der römischen Antike großer Beliebtheit erfreut; vgl. prominent Verg., Aen., 9, 446–449, Hor., carm., 4, 8 und 4, 9 sowie Ov., met., 15, 871–879. Besonders bildgewaltig wirkt die Ankündigung Ovids, »weder der Zorn noch das Feuer Jupiters« (ebd., 871: »nec Iovis ira nec ignis«) würden seine Werke je zerstören können. Eine gute Analyse von Hor., carm., 4, 9 hinsichtlich des Aspekts, sich als lyrischer Sprecher selbst zum ›Klassiker‹ zu stilisieren, bietet Kirichenko (2016). 59 Das meint vor allem die Poetik, nach antikem Verständnis »the finest part of grammar« (Holford-Strevens [1988], 142). 60 Die lateinischen Ausdrücke sind hier nicht im Sinne einer synonymen Entsprechung, sondern im Kontext ihres historischen Einflusses zu verstehen. Ihre Gemeinsamkeiten lassen sich dessen ungeachtet recht leicht kategorisch fassen: So meint das lateinische animos flectere (›die Gemüter beugen‹) zwar durchaus etwas anderes – weil Manipulativeres – als das griechische ἐκπλάττειν (›erschüttern‹), fällt jedoch in einen kategorisch ähnlichen Wirkbereich: die innere Veränderung der Rezipienten, die vom vortragenden Dichter beziehungsweise Redner ausgeht. 57
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Theoriegebäude zunächst keine weiteren Annahmen gemacht. 61 Für eine Darstellung der wichtigsten Traditionslinien wird der Zeitraum bestimmend sein, der bereits über die Poetik und Theogonie geöffnet wurde und von der sogenannten Archaik Hesiods bis in die sogenannte spätklassische oder frühhellenistische Zeit Aristoteles' hineinreicht. Nach den bisherigen Ausführungen sind zu den zu behandelnden Gesichtspunkten insbesondere zu zählen, was die Fertigkeit – so es sich denn um eine Fertigkeit handelt – des Dichters ausmacht, worin die Natur der Dichtkunst besteht (und dies heißt nach antikem Denken, wie sie sich zur Wahrheit und zur Wirklichkeit verhält), und welches Wirkvermögen von ihr ausgeht. Es soll also vor allem um diejenigen Konzepte gehen, die in der griechischen Tradition zu dynamischen (auf die δύναµις, ein Vermögen respektive eine Kraft bezogene) und technischen (auf eine τέχνη, eine erlernbare Fertigkeit bezogene) Begründungsebenen der Dichtkunst geführt haben. Diese seien hier, um eine Brücke zu den Ausführungen in Kapitel ii.1 zu schlagen, nach extensiven und intensiven Vermögen unterschieden. Extensive Vermögen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den Umfang des Vermögens auf andere Bereiche erweitern, die nichts mehr mit Vermögen zu tun haben müssen. Sie sind mit Wissen, Fertigkeiten, rhetorischen und poetischen Zielen sowie der Funktionalität des Gelingens und Misslingens solcher Verfahren verknüpft, die zum Ziel führen sollen. Sie lassen sich daher leicht in propositionale Formen fassen wie ›Vermögen X dient dem Zweck Y‹ – oder, wie Lefebvre zuletzt treffend formuliert hat: »Die dynamis [im Sinne von ›Vermögen‹; D. B.] bezeichnet weder eine Kraft noch eine Spontaneität, sondern eine Fähigkeit mit Blick auf ein Ziel.« 62 Das Erreichen eines Wirkziels verhält sich mithin extensiv zum hierfür ursprünglich veranschlagten Vermögen. Intensive Vermögen hingegen werden nicht in erster Linie als eine solche Extension gefasst, sondern sind in ihrem jeweiligen Phänomenbereich präsent und daher primär in ihrem zeitlich-räumlichen Vollzug zu beschreiben, der jenseits der Differenz von Subjekt und Objekt sowie an sie herangetragener Zweckbereiche zu verorten ist. 63 Ihr propositionaler Gehalt ist – im Gegensatz zur Fertigkeit – stets ein Hinzu kommt, dass in diesem spezifischen Sinn auf keine umfassenden Vorarbeiten in der Forschung zurückgegriffen werden kann. 62 Lefebvre (2018), 500: »La dynamis ne désigne pas une force ni une spontanéité mais une capacité en vue d’une fin«. 63 Vgl. zuspitzend, aber treffend hierzu Kleinschmidt (2004), 83: »Die damit [mit einem Intensitätsbegriff] eingeleitete, für die Denk- und Kulturpraxis fortan relevante Konzeption läuft damit auf eine Erkenntnislogik unsegmentierter Mannigfaltigkeiten hinaus, die von Intensitätskontinuen bestimmt sind. In ihnen schließen sich Subjekt- und Objektsphäre zusammen. Auf der korrespondierenden Ebene der sprachlichen Äußerungen organisieren sich Ausdruck und Inhalt analog. Empfindungen von Realität befinden sich in einem Zustand von steter Verdichtung und Verstärkung«. 61
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nachträglich zugeschriebener. Ihr ästhetisches Paradigma ist die Kraft selbst; sie existiert, mit Menke gesprochen, »vor dem und daher über jeden Ausdruck hinaus.« 64
3. Extensive Vermögensbegriffe 3.a. Die Rolle der Lehrdichtung
Zunächst sei auf die extensiven Vermögen eingegangen: Ein zentraler Grundgedanke der antiken Philosophie zur Qualifizierung menschlicher Artefakte besagt in reduziertester Form, dass die Welt nicht immanent oder gar monistisch zu denken ist, sondern dass sie – spätestens mit Einsetzen des Erkennens und Benennens von Dingen – einer Trennung von Erfahrungs- und Wirkungsbereichen unterliegt. Bereits in der Tradition Homers und Hesiods lässt sich die Welt zuverlässig in die Sphären des Menschlichen und des Göttlichen scheiden. Zwar werden beide in einem regen Austausch gesehen, jedoch nie als Einheit oder auch nur als gleichberechtigt eingestuft. Die Wahrheit über die Welt ist naturgemäß den Göttern vorbehalten. Sie kann zwar in unterschiedlichem Grade in den menschlichen Erkenntnisbereich gelangen, muss dafür aber erst nach außen gekehrt, das heißt entborgen, verkündet oder offenbart werden. Diese Enthüllung wiederum bedarf eines außerhalb der gewöhnlichen Ordnung stehenden Zugriffsmoments. Dass den Dichtern dies bisweilen gelingt, obliegt dann allerdings ebenso wie jegliches andere menschliche Geschick wiederum dem Willen der Götter. 65 Figuren wie Tantalos, Prometheus oder Sisyphos, die sich zur Überschreitung der göttlichen Grenzen und Gesetze versteigen, werden für ihre Vergehen kurzerhand bestraft. 66 Unterweltfahrten, wie wir sie in der Odyssee (Buch 11) und der Aeneis (Buch 6) vorfinden, legen über jene Hierarchien ein unmissverständliches Zeugnis ab, indem sie die Frevler mit
Menke (2008), 53. Im Bereich der Dichtkunst am häufigsten dem des Apollon, des Dionysos und der Musen (Pieriden). Zur Differenzierung und historischen Entwicklung der musischen Zuständigkeitsbereiche vgl. ausführlich Barmeyer (1968). 66 Im Falle Sisyphos’ scheint dessen Bestrafung gar das dominante mythologische Sujet darzustellen. Denn bereits die antiken Schriftsteller und Scholiasten arbeiteten sich regelrecht daran ab, für Sisyphos ein passendes Vergehen zu ›finden‹; sei es dass er dem Flussgott Asopos von der Entführung seiner Tochter Aegina durch Zeus berichtet habe (vgl. Apollod., bibl., 1, 9, 3 und Paus., 2, 5, 1), sei es, dass er Tyro, die Tochter seines verhassten Bruders Salmoneus, getötet habe (vgl. Hyg., fab., 60), oder dass er – wie Servius in seinem einflussreichen Aeneis-Kommentar anführt – die Ratsbeschlüsse der Götter an die Menschen verraten habe (vgl. Serv., Aen., 6, 616). 64 65
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ihren individuellen Strafen einem Figurenkabinett gleich vorführen. 67 Dieses asymmetrische Verhältnis nimmt sich aus menschlicher Sicht bisweilen wie bloße Willkür aus und gibt den Dichtern – lange vor den so berühmten, von Relativismus und Polemik getragenen Einlassungen Xenophanes' zu diesem Thema – 68 Anlass zu virtuoser Religionskritik. Die Widersprüchlichkeit zwischen den Sphären, bereits zur Zeit der sogenannten Archaik durch eine weit zurückreichende mythologische Tradition belegt, 69 erscheint offenbar nicht nur philosophisch, sondern auch poetisch reizvoll. Sie etabliert sich einerseits als genuin-religiöse Denkfigur und wird darüber hinaus bereits früh in Form versifizierter Narrationen festgehalten. Einen der ersten Anhaltspunkte hierfür bietet nun ein weiteres Mal die Theogonie. In ihrem Proömium gelangt das Verhältnis von Wahrheit, Wirklichkeit und Dichtkunst zu einer Ausdrucksform, die ohne große Zugeständnisse poetologisch genannt werden kann. Im Bewusstsein ihrer Fähigkeit, auf die Wahrheit zuzugreifen, deren Erkenntnis für den Menschen doch so attraktiv erscheinen muss, formulieren die Musen: »ἴδµεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύµοισιν ὁµοῖα, / ἴδµεν δ᾽, εὖτ᾽ ἐθέλωµεν, ἀληθέα γηρύσασθαι.« 70 Sie kokettieren mit dem eigenen, überlegenen Wissen und setzen dabei das wahre Sein in einer höheren Sphäre, das heißt für Hesiod (wie auch für Homer) in einer Welt numinosen Vermögens an. Diese Seinsart wird in strikter Abgrenzung zur profanen, den Sachzwängen verhafteten Welt entworfen. Vermögend ist das höhere Sein in zweifacher Hinsicht: Zum einen befindet sich die überlegene Entscheidungsgewalt über die irdischen Geschicke in der Hand der Götter. Sie besitzen stets eine übergeordnete und bei Bedarf aktiv werdende Potenz, die sie in das Weltgeschehen eingreifen lässt. Dass sie diese Macht stets mit einer Art souveränen Willkür ausüben können, wird – neben Selbstaussagen wie dem »εὖτ᾽ ἐθέλωµεν« (»wenn wir es wollen«) – vielleicht am deutlichsten dadurch vorgeführt, dass sie sogar untereinander uneins sein können. 71 Zum anderen befinden sich, und das erscheint im Eingangsbild Vgl. auch den Ausruf des – mittlerweile offenbar einsichtig gewordenen – Phlegyas in Verg., Aen., 6, 620: »Discite iustitiam moniti et non temnere divos« (»Lernt, nachdem ihr zurechtgewiesen seid, Gerechtigkeit kennen und [lernt,] nicht die Götter zu verachten!«). 68 Vgl. Xenophan., DK 21 B 16: »Αἰθίοπές τε 〈θεούς σφετέρους〉 σιµούς µέλανάς τε / Θρῆικές τε γλαυκοὺς καὶ πυρρούς 〈φασι πέλεσθαι〉.« (»Die Äthioper behaupten, dass ihre Götter stumpfnasig und schwarz seien, / die Thraker aber [sc. behaupten], blauäugig und rothaarig.«). 69 Diese besteht zu einem bemerkenswerten Teil in einer Rezeption orientalischer Stoffe und Weisheitslehren; vgl. hierzu Burkert (32009) sowie als Abriss über den jüngeren Forschungsstand Renger (2008). 70 Hes., theog., 27 f.: »Wir verstehen es, zahlreich Erlogenes zu erzählen, das den wahren Dingen ähnelt. Wir verstehen es aber auch, sofern wir es wollen, Wahres zu verkünden«. 71 Die Entscheidungsfindung über irdische Geschicke ist daher für die Menschen nicht einsehbar, geschweige von sich aus transparent. Die Beziehungen zwischen wirklichen Sachverhalten und 67
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der Theogonie eigentlich noch bedeutsamer, dort auch die höher liegenden Wahrheiten. Die Menschen versuchen entsprechend ihrem Erkenntnisstreben, diese zu erreichen. Jedoch liegen diese Wahrheiten nun einmal noch nicht ausgesprochen vor, sondern sind noch aus dem Verborgenen zu entäußern. 72 Daher lässt sich auch mit ihrer Erkenntnis in potentia so spielerisch umgehen. Die Zuwendung des Dichters zur numinosen Sphäre gelingt in der Theogonie nur, nachdem sich die numinose Sphäre ihm zugewandt hat. Aus dem Verhältnis dieser Instanzen zueinander wird dabei eine spezifische Aussagenmodalität hervorgebracht. Bezeichnend hierfür ist die Junktur »ψεύδεα [. . . ] ἐτύµοισιν ὁµοῖα« (»Erlogenes [. . . ], das den wahren Dingen ähnelt«). Sie bezieht sich auf die Tätigkeit des Fingierens im epischen Erzählen, das zu dieser Zeit über die Rhapsodik bereits als weit verbreitet angenommen werden darf. 73 Wenn man der mittlerweile weithin anerkannten Lehrmeinung folgt, dass Homer seine Epen vor oder parallel zu Hesiod verfasst habe, 74 so ist Schadewaldt leicht darin zuzustimmen, daß Hesiod hier damit [»ψεύδεα [. . . ] ἐτύµοισιν ὁµοῖα«; D. B.] die alte und zumal die homerische Dichtung meint. Es ist der Charakter dieser homerischen Dichtung, daß man das, was im einzelnen erzählt wird, nicht unbedingt als ›Wahres‹ nehmen kann, es gibt viel Unverbürgtes. Aber es ist so, daß es doch einen Bezug hat auf die Wahrheit, einen Ähnlichkeitsbezug. 75
Neben dem Befund, dass mit ὁµοῖα bereits ein philosophisch-poetologisches Kriterium, namentlich dasjenige der Ähnlichkeit, früh eingeführt wird, lassen sich zwei unterschiedliche Konnotationsebenen für den Umgang mit Wahrheitskonzepten ablesen, von denen die Musen aber nur eine tatsächlich bedienen: Das in Vers 27 erwähnte »ἐτύµοισιν« führt die wahren Dinge im Sinne der ihnen zukommenden wahrhaften Substanz ein. Diese Substanz meint nun keine abstrakte Erkenntnisschau, wie sie in der späteren Philosophie als θεωρία den dahinter stehenden göttlichen Instanzen folgen somit nicht immer einer zuverlässigen Schematik. In seiner kuriosesten Form wird dieser Gedanke vielleicht in den Werken und Tagen illustriert, wo sogleich zwei namensidentische Zornesgöttinnen (῎Εριδες) auftreten, die gut (Konkurrenzanstoß) oder schlecht (blinder Neid) sein können; vgl. Hes., op., 11–26. 72 Gefolgt wird hierbei der weithin favorisierten Etymologie aus dem durch α-privativum negierten λανθάνειν (»verbergen«); vgl. den ersten Eintrag bei Liddell / Scott (91982), s. v. »ἀληθής«, 64: »unconcealed«. 73 Dieses Phänomen bildet unter dem Terminus der oral poetry einen eigenen Forschungszweig der Klassischen Philologie. Er wurde von Milman Parry begründet; vgl. Parry (1987). Die oral poetry befasst sich insbesondere mit den Problemen der Formelhaftigkeit (vgl. Latacz [2000b] und Clark [2004]), der Mnemotechnik (vgl. Ong [22016]) sowie des systematischen Zusammenhangs von Literarizität und Oralität (vgl. Havelock [1986] und Olson / Torrance [1991]). 74 Vgl. als einen der jüngsten Beiträge Szlezák (2012). 75 Schadewaldt (1978), 85.
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τῆς οὐσίας Schule machen wird. Die Musen künden hier gerade nicht von wissenschaftlichen Erkenntnissen welcher Art auch immer, sondern von Geschichten aus einer höheren Wirklichkeit – von dem, »was ist, was sein wird und was zuvor gewesen ist«. 76 Abstrakt gedachte Propositionen ließen sich hingegen in einer logischen Abfolge und nicht in einem zeitlichen Kontinuum verorten und wären daher eher dem πρῶτον als der ἀρχή verhaftet. Es handelt sich vielmehr um ein erzählbares, mithin geschichtliches Substrat, das zur Darstellung gebracht wird. Die Instanz der Wahrheit erschöpft sich hier also nicht in einer schieren Abstraktionskraft, sondern erhält eine poetologische Funktion: Die Existenz der Wahrheit ermächtigt die Musen im selben Zuge, von derselbigen zu künden. Die hier durchaus wahrnehmbare topische Nähe von Wahrheit und Wirklichkeit führt leicht zu der Annahme, die beiden Begriffe gänzlich synonym aufzufassen. 77 Während allerdings im einen Fall zunächst eine ontische Zuschreibung stattfindet, betont das im folgenden Vers gesetzte »ἀληθέα« vielmehr den Gegensatz zwischen Verborgenem und Unverborgenem. Die wahren Dinge (ἔτυµα) werden durch Verkündung erst manifest (ἀληθέα) und gelangen als enthülltes Wissen in den Bereich der epischen Dichtung. 78 Insofern ein solches Wissen eben keine Kenntnis über philosophische Lehrsätze, sondern über eine wahre Wirklichkeit – das heißt über Göttergeschichten und deren Bedeutung für die Menschen – meint, lässt sich durchaus eine gewisse Nähe zur homerisch-epischen Erzählweise nachvollziehen. So kommentiert auch Schönberger diese Stelle dahingehend, dass Hesiods Theogonie »wahrheitsähnliche Mythen wie Homer, doch auch (hauptsächlich) das Unverborgene, Wirkliche an sich« 79 darstellen wolle. Es ließe sich hieran noch anschließen: »Unverborgen«, also ›wahr‹, wird das Wirkliche, gerade indem es die Musen dem Menschen verkünden (γηρύσασθαι). 80 Sie entäußern es gegenHes., theog., 38: »τά τ᾽ ἐόντα τά τ᾽ ἐσσόµενα πρό τ᾽ ἐόντα«. Vgl. Menge (241981), s. v. »ἔτυµος«, 293: »wirklich, wahr«. 78 Um einem möglichen Missverständnis bezüglich des methodischen Zugriffs vorzubeugen: Hier ist keineswegs an die Trennung einer inner- und außertextuellen Welt gedacht; auch eignet sich diese Stelle nicht, um Text- und Wirklichkeitswelt generell voneinander zu scheiden – zumal sich die modernen Textualitätskonzepte natürlich erheblich von den antiken Vorstellungen zu sprachlichen Kunstwerken unterscheiden. Gemeint ist vielmehr: Indem Weltaussagen durch die genannten Begriffe in ganz unterschiedlichen Facetten konstruiert werden, werden ontologische wie poetologische Aussagen simultan hergestellt. 79 Schönberger (22005), 81. 80 Nebenbei zeichnet sich in der Herausstellung des Wahren ein besonderer generischer Anspruch ab, der ungewollt ein gewisses Problemfeld der späteren Poetiken bilden wird. Denn die Gattung des Lehrgedichts möchte Aristoteles ja gerade wegen ihrer Hinwendung zum Wahren (und nicht zum Möglichen) ausdrücklich aus dem Bereich der Poesie ausgenommen wissen; vgl. Aristot., poet., 1, 1447b17–20: »οὐδὲν δὲ κοινόν ἐστιν ῾Οµήρῳ καὶ ᾿Εµπεδοκλεῖ πλὴν τὸ 76
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über dem Dichter, der es daraufhin in die Welt trägt. 81 Die Musen stellen somit in ureigener mythologischer Personifizierung eine strikt äußerliche Entität, die Inspiration des Dichters hingegen dessen Fähigkeit dar, das in einer numinosen Sphäre Wirkliche als das Wahre darzustellen. Es ist ebendiese Art dichterischer Instanziierung, namentlich die Alterität zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, die bis weit in die römische Zeit hinein regelmäßig aufgegriffen und diskutiert wird – recht augenfällig beispielsweise in Ovids Fasti: So bemüht der Sprecher dort zu Beginn des sechsten Buches zunächst die numina, 82 also Gottheiten, die insbesondere als äußerlich wirkende Instanzen einzustufen sind, 83 um dann seine eigene dichterische Eingebung als interiore Gottheit 84 – die hier prägnant für den Enthusiasmus einsteht – zu inszenieren; gleichwohl bleiben es die numina, die sich für das »heilige Gesetz« 85 verbürgen, welches den Sprecher dann dazu befähige, »in die Gesichter der Götter zu schauen.« 86 Der Dichter µέτρον, διὸ τὸν µὲν ποιητὴν δίκαιον καλεῖν, τὸν δὲ φυσιολόγον µᾶλλον ἢ ποιητήν«. (»Homer und Empedokles haben außer dem Vers nichts Gemeinsames; daher ist es richtig, den einen als Dichter, den anderen aber eher als Naturforscher denn als Dichter zu bezeichnen.«) In der Zugewandtheit und Vorbedingtheit der Dichtkunst in Bezug auf die Welt ist Aristoteles jedoch mit den Lehrdichtern durchaus einer Meinung. Daher darf Effes Aussage leicht relativiert werden, der mit scheinbarer Sicherheit behauptet: »Im Rahmen einer solchen Dichtung an das Moment der Fiktionalität bindenden Theorie läßt sich das Lehrgedicht, welches sich zur Zeit des Aristoteles unter so anerkannten Namen wie denen des Hesiod, Parmenides und Empedokles präsentierte, genauso wenig legitimieren wie innerhalb späterer Konzeptionen, die bewußt oder unbewußt in der Tradition der aristotelischen Poetik stehen.« (Effe [1977], 19) Nimmt man die oben genannten Einlassungen zu Homer und Empedokles als eine Art wortgetreuen sowie ausschließlichen Maßstab, so mag man der kategorischen und nachträglichen Exklusion der Lehrdichtung aus dem Bereich der Fiktion fraglos zustimmen. Die Voraussetzung einer außerhalb des Dichters waltenden Wirklichkeitsnatur, welche die aussagen- und modallogischen Paradigmen wie ›Wahrheit‹, ›Falschheit‹, ›Wahrscheinlichkeit‹ und ›Möglichkeit‹ erst bereitzustellen vermag, ist hingegen, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, für das gesamte poetologische Reflexionsdenken von Hesiod bis Aristoteles konstant gegeben. 81 Auch Homer muss sich – mit teils identischer Wort- und Formelwahl – bei den Musen im zweiten Buch der Ilias nochmals rückversichern, um den Schiffskatalog darlegen zu können; vgl. Hom., Il., 2, 484–493. Ebenso schreiben sich die frühgriechischen Lyriker in ihren poetologischen Aussagen präzise in diesen von einer Alterität geprägten Gestus des Entäußerns ein, was sich unter anderem am Gebrauch des προφατεύειν oder des προφήτης beobachten lässt; vgl. als ein explizites Beispiel Pind., fr. 150: »µαντεύεο, Μοῖσα, προφατεύσω δ᾽ ἐγώ« (»Gib deinen göttlichen Spruch, Muse, und ich werde ihn verkünden.«) Auch hier ist weniger an eine irrationale Entrückung oder Ergriffenheit zu denken, als vielmehr (wie auch der Tempusgebrauch nahelegt) an die notwendige Reihenfolge der dichterischen Instanziierung. Somit ist Dodds darin zuzustimmen, »that it is the Muse and not the poet who plays the part of the Pythia; and the poet does not ask himself to be ›possessed‹, but only to act as an interpreter for the entranced Muse.« (Dodds [21963], 82) Zum Inspirationstopos in den pindarischen Oden vgl. zudem in jüngerer Zeit Bouchaud (2016). 82 Vgl. Ov., fast., 6, 4. 83 Vgl. Georges (81998), s. v. »numen«, 1215: »die wirkende, waltende Macht der Gottheit«. 84 Vgl. Ov., fast., 6, 5: »deus in nobis«. 85 Ebd., 6, 7: »fas«. 86 Ebd.: »voltus vidisse deorum«.
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führt uns also vor, dass es im Moment der dichterischen Initiation zwei Arten von Gottheiten gibt, eine äußere und eine innere. Sein Wahrheitsanspruch drückt sich nun – ähnlich wie bei Hesiod – darin aus, dass er »Tatsächliches besingen« 87 werde; die im Vergleich zu Hesiod beinahe vorwitzig zu nennende poetologische Aussage wird bei Ovid allerdings dahingehend entwickelt, dass es für das dichterische Resultat vielleicht gar nicht so erheblich sei, welcher von beiden Instanzen denn nun der Vorrang einzuräumen wäre – »sei es weil ich ein inspirierter Dichter bin, sei es weil ich heilige Dinge besinge.« 88 Die Kunst des Dichters kann somit in seiner inneren Verfasstheit oder in der Beschaffenheit des Gegenstandes bestehen – solange beide ein göttliches Gepräge aufweisen. Die auf diesem Wege erworbene Wahrheit bleibt im Moment der dichterischen Instanziierung keineswegs auf ihren religiösen Gehalt beschränkt – facta und sacra lassen sich daher umstandslos als Paronomasie einstufen –, sondern wird durch den Dichter auf säkulare Weise erfasst und zur Sprache gebracht. Das göttliche Wirkliche wird demnach in zweifacher Essenz, als facta und als sacra auffassbar gemacht und die Adaptation dieser in einem engen Zusammenhang mit einem Interiorisierungsprozess – fort von den numina hin zum deus in nobis – vorgestellt. Werden sie, wie es schon für Hesiod gelten konnte, konzeptionell miteinander enggeführt, erscheint es – auch für unseren Untersuchungsgang – hilfreich, dezidiert von einer ›wahren Wirklichkeit‹ zu sprechen, die von den Göttern gestiftet wird und als Teilbereich eines allgemeinen Weltvermögens gelten kann – und das sich als prinzipiell zur Darstellung fähig zeigt. Konzeptionelle Gegensätze zu diesen Sphären lassen sich demgegenüber in den von Kontingenzen geprägten Bereichen der physischen Oberwelt sowie in den unterweltlichen Topographien – letztere eben als gegenüber dem göttlichen Willen (numina) nachgestellte Instanzen – erkennen. Um an dieser Stelle wieder ganz auf die Theogonie zurückzukommen: Die Welt des dortigen Schafhirten erscheint in einer solchen Gemengelage lediglich als mittlere Alltagswelt, das heißt als ein den Sprecher umgebender Teilbereich der physischen Oberwelt. Die poetologischen Aussagen in der Theogonie gehen mit dieser Welt nun alles andere als zimperlich um. Sie erhält vielmehr, gerade weil sie von so schnöden Sachzwängen wie Produktion, Nahrung und Erholung geprägt ist, von oben herab ihre höhnische wie scheinbar gerechte Beschimpfung: »Ihr Hirtenpack, Draußenlieger, Schandkerle, nichts als Bäuche!«, 89 skandieren die Musen. Dass der Erzähler nach eigener Aussage im Moment seiner Inspiration 87 88 89
Ebd., 6, 3: »facta canam«. Ebd., 6, 8: »vel quia sum vates, vel quia sacra cano«. Hes., theog., 26: »ποιµένες ἄγραυλοι, κάκ᾽ ἐλέγχεα, γαστέρες οἷον«.
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just Schafe weiden ließ, entspricht daher zwar durchaus einer kontingenten – und durch »νύ ποθ[ε]« 90 auch als solcher markierten – Realität; diese erscheint jedoch gegenüber einer göttlichen Universalität 91 nicht nur abgespalten, sondern auch noch deutlich herabgesetzt – spöttisch vorgeführt durch eben diejenige Instanz, die sich für jegliche Inspiration und Legitimation des Dichtens höchstpersönlich verantwortlich zeigt. 92 Wenn der Sprecher sich ausgerechnet in diesem Moment immer wieder auf sich selbst bezieht, 93 so führt er damit auch zugleich die Darstellung eines allgemeinen philosophischen Dichtungsverständnisses vor. Kurz, die Alltagswelt eines böotischen Hirten mag von Kontingenzen geprägt sein, nicht jedoch das Moment seiner Inspiration. Vielmehr treffen in diesen Momenten zwei Wirklichkeiten mit unterschiedlichen Wertigkeiten aufeinander. Somit lässt sich die Asymmetrie zwischen dem Sprecher und den Göttinnen – bei allem spielerischen Ausdruck, der zweifellos in ihr steckt – als ein recht urtümlicher Konflikt poetischer Weltaneignung auffassen. Hierauf weist auch Fränkel in einer Paraphrase der Initiationsszenerie hin: Dem jungen Hirten, der mit seinen Gefährten auf der Sommerweide in öder Bergeinsamkeit ein halbtierisches und grob materielles Leben führte, auf nacktem Boden schlafend mit dem Vieh seines Vaters, das er hütete, wurde es klar, dass ihm ein geistiges Reich hoch über der elementaren Körperlichkeit zugänglich war: ein himmlischer, luftiger, gefährlicher Bezirk der Worte und Gedanken, wo Sein und Schein schwerer zu unterscheiden sind als in den niederen Bezirken, wo die Sachen wohnen. 94 Ebd., 22: »irgendwann gerade«. Zum kontingenten Bedeutungsaspekt des Indefinitums »ποτε« vgl. Liddell / Scott 91982, s. v. »πότε« [»ποτε«], 1454: »of some unknown point of time«. 91 Somit stellt es auch keine beliebige Zuschreibung dar, dass die Musen an dieser Stelle als »olympische« (Hes., theog., 25: »᾿Ολυµπιάδες«) bezeichnet werden. Der Olymp ist als Sitz der institutionalisierten Götter (θεοί) – im Gegensatz etwa zu Natur- (νύµφαι, δρύαδες, νηρεΐδες) und Privatgottheiten (δαίµονες, δαιµόνια) – dasjenige Universalsymbol, das die Griechen religiös eint. Demgegenüber werden die Musen im Eingangsvers noch als »Helikonische« (ebd., 1: »῾Ελικωνιάδων«) bezeichnet und dadurch mit der konkreten Alltagsästhetik des böotischen Schafhirten verbunden, der erst in der Folge, in Form einer dem Alltag ausgelagerten Situation, zum Dichter werden kann. 92 Ausgeführt als neun Töchter des Zeus und der Mnemosyne im kanonisch gewordenen Musenkatalog (ebd., 76–79), die – allerdings erst nach späterer Zuschreibung – auch bestimmten generischen Zuständigkeiten (Lyrik, Epos, Geschichtsschreibung etc.) zuordenbar sind. 93 Vgl. die Selbstbezüge ebd., 1–115, die in unterschiedlichen grammatischen Realisationen (unter Bezug auf die 1. Person, Singular, die 1. Person, Plural und die 3. Person, Singular) vorliegen. Das offenkundige Vexierspiel, das hier mit der Dichteridentität durchgeführt wird, ist in seinen Facetten bemerkenswert und verdiente durchaus einer dezidierteren, bis heute leider nicht vorliegenden Untersuchung. 94 Fränkel (31976), 106. Wo genau Fränkel die Gefährten in dieser Szene ausmachen will oder ob er hier bereits an Rezeptionsformen in der späteren Bukolik denkt, bleibt offen. 90
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Bei aller Herausstellung szenographischer Aspekte wird auch hier festgehalten, dass sich die Verbindung von Dichtung und Philosophie vor allem als Verhandlung dichotomer Wirklichkeitsparadigmen erweist. Über die Gegensätze des Ätherischen und des Elementaren, des Hohen und des Niedrigen, des Seins und des Scheins wird die Möglichkeit eines immanenten Erweckungserlebnisses recht radikal ausgeschlossen; vielmehr wird eine Diskrepanz zwischen den stofflich-sachlichen Phänomenen auf der einen und einer transzendenten Wirklichkeit auf der anderen Seite geöffnet. Die Alterität zweier Welten wird somit als Bedingung zur Entfaltung dichterischen Potentials diskutiert. 95 Die mit beträchtlicher Strenge vorgeführte Trennung der Alltagswahrnehmung von der höheren Erkenntnis ist über diese Setzungen hinaus – vornehmlich über die Tradition der Naturdichter (φυσικοί, φυσιόλογοι) – bis in die Zeit der akademischen und peripatetischen Philosophie nachvollziehbar. Das Nachaußenkehren universeller Zusammenhänge bedarf – was angesichts einer als dauerprekär markierten Position gegenüber den Göttern nicht zu überraschen vermag – dazu eines stabilisierenden Moments, einer Kontinuität stiftenden Chiffrierung. Diese kann nach griechischem Verständnis nur im Mythos liegen – was Anlass genug ist, einen kurzen Seitenblick auf dessen Funktion in den fokussierten Zusammenhängen zu werfen.
Exkurs: Mythos
Dass sich sowohl Parmenides als auch Empedokles, sowohl Platon als auch Aristoteles in der Darstellungsform elementarer Philosopheme regelmäßig des Mythos bedienen – und sei es nur in Form des Zitierens längst tradierter Vorlagen –, erhellt den Nexus, der zwischen poetischer und philosophischer Weltaneignung besteht. Der Mythos ist in der Lage, die Auseinandersetzungen des Menschen mit Daseinsfragen zu einer fassbaren Darstellung zu bringen; er liefert narrative Stoffe, in denen sich philosophische Grundprobleme widerspiegeln. Prägnant beschrieben hat dieses Phänomen Blumenberg. Er stuft es, Daher ist Tigerstedt zuzustimmen, der sich – ganz ähnlich wie Dodds – gegen die gelegentlich vertretene Lehrmeinung wendet, dass es sich hierbei um eine Art mantisch-irrationale Ekstase handele, sich Hesiod also in erster Linie zu einem religiösen Propheten erhebe: »What the real experience of the poet may have been, we do not know and it is useless to speculate about it. But his description of this experience is sober, even a bit dry. He is not dreaming, still less in a trance, when he hears the Muses and receives the branch of laurel.« (Tigerstedt [1970], 171 f.) Nicht nur der hier ins Feld geführte sachliche Duktus der Passage, sondern auch die hochreflektierte, rationale Betrachtung von Dichtung, Wahrheit und Wirklichkeit sprechen erheblich gegen die Annahme einer mantischen Erweckung. 95
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ausgehend von der Mythologie zur Zeit Hesiods, als eine Verfahrensordnung von geradezu transhistorischer Bedeutung ein: Man bemerkt, mit wie geringer Vorsicht man die späteren Probleme der Philosophie, unter Ausschluß ihres Abstraktionsgrades, im Mythos vorgeformt sehen kann, wenn man nur im Besitz einer Geschichtsphilosophie ist, die die Konstanz der großen Fragen für die Menschheit, die Menschheitsvernunft unterstellt. 96
Es lässt sich daher mit Recht von einer Ausdrucksform sprechen, die zum einen ein philosophisches Anspruchsdenken präformiert und zugleich ein unverbrüchliches Substrat darstellt, das der Dichtkunst überhaupt nur zukommen kann. Und ebendiese Ausdrucksform wird vorwiegend aus den ihr eigenen, inneren Entwicklungsprinzipien heraus gedacht. Am deutlichsten zeigt sich dies wohl in Mythologemen mit aitiologischem Anspruch. Deren Aufgabe ist es, das aition für eine Wirklichkeitsgegebenheit offenzulegen. 97 Die hierdurch entfaltete Geschichtsphilosophie meint für die griechische Tradition in der Hauptsache eine Naturphilosophie ἐξ ἀρχῆς. Sie verpflichtet sich nicht so sehr dem analytischen Anspruch, die Welt von einem späteren Standpunkt her zu beschreiben, sondern möchte sie vielmehr gemäß ihrer Genese erklären. 98 Anfangs- und Naturgrund gehen hierdurch ein reziprokes Begründungsverhältnis ein und erweisen sich als höherwertig gegenüber den Beschreibungsansätzen eines unmittelbareren, auf die Sinne bezogenen Weltzugriffs. 99 In der Art und Blumenberg (62006), 145. 97 Diese Verfahrensweise hat auch für die späteren Dichter eine gewisse Attraktion entwickelt; ein illustratives Beispiel aus römischer Zeit ist etwa Ovids elegische Adaptation des Argonautenmythos zur Erklärung des Stadtnamens Tomis in Ov., trist., 3, 9. 98 Dies ist in keinem Widerspruch zur Diversität von Geschichtsmodellen zu sehen, wie wir sie in linearen, zyklischen oder dekadenztheoretischen Denkschulen finden können. Denn ebendiese Abfolgen werden stets als notwendig und gesetzhaft erachtet und gelten daher nach griechischem Verständnis durchweg als ›natürlich‹. Besonders ausgeprägt findet sich ein solcher φύσις-Aspekt in der Diskussion um den Übergang politischer Verfassungen. So spricht Polybios davon, dass die Triaden der Verfassungsformen »von Natur aus verbunden« (Polyb., 6, 4, 6: »συµφυῆ«) seien; zudem bilde sich die erste Form der Alleinherrschaft »ohne besonderes Zutun und von Natur aus« (ebd., 6, 4, 8: »ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς«). Diese Grundüberzeugung hat Polybios insbesondere mit Aristoteles und Diodor gemein, worauf Mehr (2009), 24 f. hinweist. 99 Hiermit einher geht, dass der erste Anfangsgrund für die überwiegende Zahl der griechischen Philosophenschulen nicht identisch mit dem ersten Erkenntnisgrund ist, insofern die Welt, so wir sie mit unseren Wahrnehmungsorganen unmittelbar betrachten, ›lediglich‹ in Form ihrer Phänomene vorliegt. Es zeichnet demgegenüber gerade den (Natur-)Philosophen aus, über diese oberflächliche Stufe des Erkennens hinaus die genetischen Ursachen eines Gegenstandes offenzulegen. Seinen prägnantesten Ausdruck hat dieser Gedanke ein weiteres Mal in den Eingangspassagen der aristotelischen Physik gefunden; vgl. Aristot., phys., 1, 1, 184a16–21: »πέφυκε δὲ ἐκ τῶν γνωρι96
µωτέρων ἡµῖν ἡ ὁδὸς καὶ σαφεστέρων ἐπὶ τὰ σαφέστερα τῇ φύσει καὶ γνωριµώτερα· οὐ γὰρ ταὐτὰ ἡµῖν τε γνώριµα καὶ ἁπλῶς. διόπερ ἀνάγκη τὸν τρόπον τοῦτον προάγειν ἐκ τῶν ἀσα-
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Weise dieses Zugriffs, nämlich einen Sachverhalt sichtbarer zu machen, als er zuvor gewesen ist, liegt zwischen Dichtung und Philosophie demnach durchaus ein gemeinsames Interesse vor. Diese für das griechische Denken bezeichnende Art der Natur- und Welterklärung öffnet sich dabei historisch zusehends den Rationalisierungstendenzen materiell-elementarer Philosophien. Für den Übergang hin zur ionisch-unteritalischen Naturphilosophie möchte Mansfeld noch allgemein festhalten: Im Mythos und im Glauben wird die Welt personifiziert, vermenschlicht, es gibt Beziehungen persönlich-emotionaler Art zu ihr und zu dem, was in ihr ist oder zu sein hat. Die ›Natur‹ des Mythos ist ein Teil der Erlebniswelt. Zu den natürlichen Kräften Anaximanders sind jedoch nur begriffliche, keine emotionalen Beziehungen möglich. 100
Ob der hier angeführte Aspekt der persönlichen Emotion tatsächlich ins Zentrum des Zweifels gerückt werden sollte, erscheint diskutabel. Der Weltzugriff selbst, der nach griechischem Grundverständnis darin besteht, über die virtuose Gestaltung der Mythologie allgemeine Aussagen in neuen sprachlichen Erzählformen zu tätigen, tritt in seiner vorzüglichsten (und darum seltensten) Initiationsweise ja gerade nicht als Emotions-, sondern als Inspirationsmoment auf. Dieses erscheint wiederum einigermaßen losgelöst von einem inneren Gefühlsapparat. Der Dichter wird vielmehr mit dem Wissen ausgestattet, das zuvor in seiner natürlichen Umgebung, der Welt der Phänomene, nicht ohne Weiteres fassbar war. Er stellt seine Initiation als Eingebung aus einer höheren Wirklichkeit aus und kann dadurch schlechthin erst zum Dichter werden. Während der Dichter also auf äußere Eingebungen angewiesen ist, weist der Mythos ein bereits durch seine stoffliche Tradition durchweg angereichertes Potential auf, das zu unterschiedlichen Darstellungen gebracht, also semantisch neu besetzt und arrangiert werden kann. Transzendentale und mythologische Wirklichkeiten verhalten sich daher hochgradig selektiv zueinander. Sie treffen sich, wenn man einen solchen Tropus an dieser Stelle akzeptieren mag, erst in der Dichtkunst. Bei den Bedingungen eines solchen Zusammentreffens handelt es sich um die Bedingungen von Immanenz und Transzendenz, von Potential und Fertigkeit. φεστέρων µὲν τῇ φύσει ἡµῖν δὲ σαφεστέρων ἐπὶ τὰ σαφέστερα τῇ φύσει καὶ γνωριµώτερα.« (»Es ergibt sich daher natürlicherweise für uns der Weg von dem uns Bekannteren und Klareren hin zu dem von Natur aus Bekannteren und Klareren. Denn das für uns [sc. Bekannte] und das allgemein Bekannte sind nicht dasselbe. Daher ist es notwendig, auf diese Weise vorzugehen: von dem der Natur nach Undeutlicherem, für uns aber Deutlicherem hin zu dem der Natur nach Deutlicherem und Bekannterem.«). 100 Mansfeld (32008), 23.
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Bei allen unterschiedlichen Begründungsformen, die dem Mythos zugeschrieben wurden, erscheint unzweifelhaft, dass der Mythos ein gewisses ikonisches Potential zur Verfügung stellt und dass in einem solchen ikonischen Gehalt zudem das formgebende Moment philosophischer Elementarfragen bereits mustergültig vorliegt. Blumenberg bringt dieses Phänomen auf einen schlicht anmutenden, aber durchaus umfassenden und überzeugenden Nenner: Ikonische Konstanz ist in der Beschreibung von Mythen das eigentümlichste Moment. Die Konstanz seines Kernbestandes läßt den Mythos als erratischen Einschluß noch in Traditionszusammenhängen heterogener Art auftreten. [. . . ] Stellt man sich die Frage, woher die ikonische Konstanz von Mythologemen kommt, so gibt es eine Antwort, die sich trivial und allzu schlicht anhört, als daß sie unseren Erwartungen genügen möchte: Die Grundmuster von Mythen sind eben so prägnant, so gültig, so verbindlich, so ergreifend in jedem Sinne, daß sie immer wieder überzeugen, sich immer noch als brauchbarster Stoff für jede Suche nach elementaren Sachverhalten des menschlichen Daseins anbieten. 101
Dass Blumenberg hier vom Überzeugen spricht, erscheint alles andere als lapidar. Es mutet gerade in Bezug auf die Lehrdichtung plausibel an, die »elementaren Sachverhalte des menschlichen Daseins« dem Mythos formal noch voranzustellen; 102 darüber hinaus ist allerdings der stoffliche Gehalt nicht nur relational zu den Sachverhalten zu sehen – die ihn lediglich als »brauchbar« erscheinen lassen –, sondern birgt – gerade weil er zwischen dem menschlichen Dasein und der Erkenntnis des selbigen zu vermitteln weiß – eine eigene Dynamik, die auch hohes formales Potential besitzt. Fuhrmann setzt dieses Potential in ein Verhältnis zur Aktualisierung, bemüht also aristotelische Kategorien, um Darstellungs- und Wirkmacht des Mythos zu illustrieren. Im Sinne Fuhrmanns ist zu beachten, daß den Mythos ein immer schon vorhandenes Potential ausmacht, das sich in je verschiedener Weise aktualisiert; weiterhin die Erfahrung, daß sich der Mythos der ›großen Dimension‹ zu bemächtigen sucht, die dem Menschen schlechthin oder jedenfalls dem Individuum entzogen ist, und daß er diese Dimension bald als Terror oder Zwang, bald als Spiel oder Freiheit erscheinen läßt. 103
Fuhrmann schreibt dem Mythos hier eine Zwischenstellung zu. Eröffnet wird eine Dichotomie zwischen Freiheit und Notwendigkeit, die grundsätzlich nicht Blumenberg (62006), 165 f. Und nicht, wie Effe es favorisiert, als Koinzidenz; er spricht hierbei von einer Idealform, die das Lehrgedicht scheinbar zu erreichen suche; vgl. Effe (1977), 30 f. 103 Fuhrmann (1971), 9. 101
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nur auf die Antike, sondern auch auf den deutschen Idealismus in der Nachfolge Kants bezogen werden kann: auf ein ästhetisches Prinzip, das zwischen Freiheit und Zwang, zwischen formendem Prinzip (Geist) und stofflicher Nötigung (Natur) unterscheidet. Der Mythos nähme dann eine ähnliche Stellung ein, die bei Kant die Kunst und bei Schiller der Spieltrieb ausfüllt – die Rolle des ästhetischen Prinzips respektive des ästhetischen Zustands. An seiner antiken Rolle vermag dies allerdings nicht zu rütteln; der Mythos verhält sich ikonisch konstant und hält damit sein Grundpotential aufrecht. In den literarischen Kunstwerken sind seine energetischen Zustände zugleich Zeugnis seiner ästhetischen Stärke.
Fortsetzung: Die Rolle der Lehrdichtung
Mit dem Aufkommen der ionisch-unteritalischen Naturphilosophie (spätestens ab dem 6. Jahrhundert v. Chr.) scheinen diejenigen Entwürfe von Wirklichkeit eine gewichtigere Rolle zu gewinnen, die den Kosmos und dessen Kräfte als solche zum originären Naturstatus, das heißt zum Urgrund aller Erscheinungen in der Natur erheben. Unter den sogenannten 104 Vorsokratikern stellt Parmenides eine der bedeutendsten Figuren dar, die eine Transformation hin zu den späteren philosophischen Schulen leisten. Dies lässt sich neben seiner häufigen Rezeption durch Platon und Aristoteles auch aus den überlieferten Fragmenten seines Lehrgedichts Περὶ φύσεως (Über die Natur) selbst erkennen. Zunächst ist jedoch sein Anschluss an die Vorläufer zu beachten: So sieht Schadewaldt – in Anlehnung an Vorarbeiten Diels' – den Nexus zwischen Hesiod und Parmenides durch das jeweilige didaktische Anspruchsdenken bereits hinreichend gegeben. Beide wollen dem Leser respektive Zuhörer Inhalte über die Entstehung der Welt, über das Zustandekommen ihres Zustands, vermitteln. Unter Bezugnahme auf eines der wirkmächtigsten Eingangsmotive der griechischen Dichtung überhaupt, die Wagenfahrt zum Tor der Dike, fasst Schadewaldt die auffälligsten Analogien und Kontraste des parmenideischen Lehrgedichts zur Theogonie zusammen: Dies alles [einen neueren, strengeren Wahrheitsanspruch; D. B.] haben wir auch hier, viel großartiger durch das Symbol der Wagenfahrt und des Aufstiegs, aber dann doch wieder so, daß zwei verschiedene Sphären des Wissens geschieden werden wie bei Hesiod: das Trügerische und das Unentborgene. So spricht hier die Göttin, nachdem sie ihn gegrüßt hat, von dem, was er alles erfahren soll: ›sowohl das unerschütterliche Herz der wohlgerundeten Wahrheit (die keine 104
Zur Problematik dieses Begriffs vgl. die konzisen Ausführungen bei Mansfeld (32008), 9 f.
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Person ist; vielleicht sollte man es besser nicht groß schreiben, wie Diels es tut) und auf der anderen Seite die Meinungen der Sterblichen, denen nicht innewohnt eine sich nicht entziehende Gewähr (alethes pistis). Aber dennoch sollst du auch dieses (diese Meinungen der Menschen) erfahren, wie das bloß so Erscheinende auf eine probehaltige Weise sein sollte, indem dieses nur Scheinende ganz durch alles hindurchgeht.‹ Man hat viel an diesen Versen herumgerätselt. Offenbar ist die Tatsache, daß das Scheinende wirklich restlos durch das Ganze durchgeht, seine durchgehende Stimmigkeit, ein Kriterium dafür, daß die Dinge doch probehaltig sind, wenn sie auch nicht Gewähr erlangen. 105
Dem Scheinhaften die Eigenschaften der Probehaltigkeit und der Permeabilität zuzuweisen, ist durchaus nachvollziehbar; dennoch bleibt das daraus abgeleitete Problem eher ein vermeintliches und die zitierte Passage gar nicht so dunkel, wenn man bedenkt, dass es Parmenides wie Hesiod um den Umgang mit unterschiedlichen Weltvermögen geht. In der Welt ist nicht nur Kontingenz, sondern auch Transzendenz enthalten; dafür verbürgen sich ihre göttlichen Emanationen. Deren Verlässlichkeit in Form der Überzeugung (πίστις) wird daher grundsätzlich existentiell (und nicht bloß konzeptuell) gedacht. Parmenides fasst unter allen Lehrdichtern diesen Gedanken vielleicht in seiner radikalsten Form: »[D]enn dass man etwas erkennt, ist dasselbe wie dass es existiert.« 106 Ein solches Diktum steht nun in keinem völligen Widerspruch zur Scheinhaftigkeit menschlicher Meinungen. Vielmehr drückt sich im Gegensatzpaar von Wahrheit und Meinung ein weiteres Mal die notwendige Reihenfolge (ἠµὲν Α ᾿ ληθείης [. . . ] ἠδὲ βροτῶν δόξας) 107 des Entäußerns einer wahren Wirklichkeit aus. Die Meinungen der Menschen sind zwar gegenüber der Wahrheit sekundäre Instanzen, können jedoch eine gewisse Gültigkeit im Sinne ihrer Gegenwart im Bereich der weltlichen Dinge für sich beanspruchen. Anders gesprochen: Es erschiene leicht eindimensional, den Meinungen nicht auch zuzugestehen, dass sie gelegentlich wahr sein können; sie besitzen allerdings nicht das autarke Vermögen, dafür zu bürgen; 108 mit Parmenides gesprochen, stiften sie keine »wahre Überzeugung«. 109 Die dichterische LegitiSchadewaldt (1978), 319. Die übersetzte Passage entspricht Parm., DK 28 B 1, 29–32. Ebd., B 3: »τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι«. Dies stellt zugleich die zentrale und meistrezipierte Formel seiner ontologischen Erkenntnistheorie dar. 107 Ebd., B 1, 29 f.: »zunächst der Wahrheit, [. . . ] dann auch die Meinungen der Sterblichen«. 108 Vgl. zu diesem Berufungstopos auch die wohl zu ähnlicher Zeit entstandene, zehnte Olympische Ode Pindars, in der die Muse und die Wahrheit zugleich angerufen werden, um für die rechten Absichten des Sprechers zu bürgen; vgl. Pind., Ol., 10, 3–6: »ὦ Μοῖσ᾽, ἀλλὰ σὺ καὶ θυγάτηρ / Α ᾿ λάθεια ∆ιὸς, ὀρθᾷ χερί / ἐρύκετον ψευδέων / ἐνιπὰν ἀλιτόξενον.« (»O Muse, aber auch du, Wahrheit, Tochter des Zeus, vertreibt mit gerader [= gerechter] Hand die Lügen, ich wollte den Freund beleidigen!«). 109 Parm., DK 28 B 1, 30: »πίστις ἀληθής«. 105 106
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mierung besteht ja gerade in der Überführung eines höheren Weltvermögens in den endlichen Bereich der menschlichen Erkenntnisse, bleibt aber ohne diesen Schritt des Erkennens, eben der vorzüglichsten menschlichen Fähigkeit, ohne fassbare Sinngebung. 110 Die verlässliche Emanation einer vorgeformten Weltwahrheit meint somit nichts anderes als das Erkennen und verweist damit auf eine ›wahrhaft wirkliche‹ Existenzweise der erzählten Dinge. Gerade weil sich das wahrhaft Seiende einer (bei Hesiod) alltagsweltlichen beziehungsweise (bei Parmenides) physischen Kategorisierung zu entziehen scheint, enthält es darüber hinaus in vielen Aspekten Anlagen der späteren Metaphysik. Diese lassen zumindest in ihrer topischen Dimension bereits gar an den unbewegten Beweger Aristoteles' denken: Αὐτὰρ ἀκίνητον µεγάλων ἐν πείρασι δεσµῶν ἔστιν ἄναρχον ἄπαυστον, ἐπεὶ γένεσις καὶ ὄλεθρος τῆλε µάλ᾽ ἐπλάχθησαν, ἀπῶσε δὲ πίστις ἀληθής. 111
Hier soll zunächst weniger eine mögliche Linie zu den sich in späterer Zeit etablierenden großen metaphysischen Schulen, wie etwa derjenigen der Platoniker oder der Peripatetiker als vielmehr die Weiterentwicklung gegenüber Hesiod interessieren: Das bei Hesiod noch in hohem Maße sublimierte Wahre (ἀληθές) wird hier – nach DK B 1, 30 gar zum zweiten Mal – zum Attribut der Überzeugung (Πίστις) erklärt. Es ergibt sich somit die in sich komplementäre Vorstellung eines beständig-zuverlässigen und zugleich wahren Seins, jedoch – sobald dieses im Begriff ist, in den menschlichen Erkenntnisbereich einzutreten – unter der Ägide der reinen Überzeugungskraft. Ob also bestimmte Wahrheiten den Weg von den himmlischen in die niederen Sphären finden, ist nicht mehr von der Willkür der Musen oder anderer Gottheiten abhängig. Aussagen, An diesem Punkt lässt sich zugleich eine Gemeinsamkeit und ein Unterschied zwischen Hesiod und Parmenides ausmachen, die zuletzt von Geisenhanslüke konstatiert wurden: »Die beiden Texte von Hesiod und Parmenides zeigen, dass der Anspruch auf Wahrheit Dichtung und Philosophie zwar verbindet. Die Qualität der Wahrheit ist aber eine andere: Hesiod berichtet vom Ursprung der Welt und der Götter aus dem Chaos, dem Kampf der Götter um eine gerechte Herrschaft, die seiner Auffassung zufolge erst bei Zeus erreicht wird, und von vielem mehr. Parmenides dagegen hält sich an die strikte Wahrheit, dass das Sein strikt vom Nichtsein und dem Werden und Vergehen unterschieden werden muss. Für beide Texte gilt trotz dieser Unterschiede gleichermaßen, dass sie eine strenge Unterscheidung von mythos und logos unterlaufen, dass sich dichterische Erzählung und philosophische Wahrheit in ihnen vermischen.« (Geisenhanslüke [2015], 10 f.) Geisenhanslüke stellt richtigerweise den substantiellen Unterschied zwischen Hesiod und Parmenides hinsichtlich der vermittelten Wahrheitsqualitäten fest, ohne indes den durchaus wichtigen Schritt zu gehen, dass sich auch der Prozess des Erkenntnisgewinns bei beiden signifikant unterscheidet. 111 Parm., DK 28 B 8, 26–28: »Indes ist es [das Seiende] unbeweglich in den Grenzen gewaltiger Fesseln, / ohne ein Beginnen, ohne ein Aufhören, da Entstehung und Untergang / in weiteste Ferne verstoßen worden sind; es verstieß sie nämlich die wahre Überzeugung«. 110
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die auf dem Hintergrund von Parmenides' Lehre absurd wirken müssen, etwa dass das Sein aus etwas bereits Existierendem entstanden sein könnte, »wird [. . . ] die Stärke der Überzeugung nicht zulassen«. 112 Somit sind Aussagen über das wahre Sein nicht mehr ausschließlich einem göttlichen Transzendentalbereich anhängig, sondern vornehmlich eine Frage der ihnen zukommenden Stärke (ἰσχύς). Diese Stärke generiert sich wiederum aus einem Zwischenbereich zwischen der Wahrheit (als göttlichem Medium) und den Meinungen (als menschlichem Medium). Die πίστις lässt sich somit nicht nur als Überzeugung, sondern – in unterschiedlichen Zuverlässigkeitsgraden – auch als Stärke auffassen. Der Bereich des Menschlichen gewinnt hierdurch fast beiläufig eine höhere Dignität im Vergleich zur hesiodeischen Vorlage. Hierzu stellt sich Parmenides' eigenes Lehrgedicht in einen Gegensatz: Da es nämlich ebendiese Überzeugungskraft dem eigenem Selbstverständnis nach natürlich besitzen muss, stelle es selbst eine »verlässliche Rede und [einen] Gedankeninhalt / bezogen auf die Wahrheit« 113 dar. Daher ist es die Überzeugungskraft, die zwischen den Meinungen und der Wahrheit zu vermitteln weiß. Die Erkenntnis des Wahren ist dadurch – im Umkehrschluss – nicht zuletzt immer auch mit einer gewissen Anstrengung verbunden. Auch in diesem Sinn ziehen die Stuten den Wagen des Sprechers »zum Licht hin«, 114 können dies aber nur »unter Anspannung« 115 vollführen. Die Transgression von einer Sphäre in die andere unterliegt hier also einem Paradigma, das sich nicht in seiner modallogischen Abstraktheit erschöpft, sondern seine poetische Gestalt durch Intensitätszuschreibungen erhält. Was im Vergleich zu Hesiod vielleicht am meisten überrascht: Es ist gar nicht die superiore Α ᾿ ληθείη, sondern mit der πίστις eine Art mediales Moment mit eigenem Bezug zu den in den inferioren Lebensbereichen der Menschen verorteten δόξαι, das solche Bewegungen freizusetzen vermag. Diese merkliche Neuordnung hergebrachter Topiken weist auf eine intellektualistisch, vielleicht sogar schon aufklärerisch zu nennende Emanzipation der Naturphilosophie von der Götterwelt eines Hesiod und Homer hin – und dies in einem Einschluss von Traditionsmustern aus Poesie und Mythos – auch wenn dieser Umstand bisweilen zu einer vordergründigen Beurteilung des Verhältnisses zwischen Naturphilosophie und Götterhimmel einladen mag:
Ebd., 12: »οὐδέ [. . . ] ἐφήσει πίστιος ἰσχύς«. Ebd., 50 f.: »πιστὸν λόγον ἠδὲ νόηµα / ἀµφὶς ἀληθείης«. 114 Ebd., B 1, 10: »εἰς φάος«. Die Vorstellung vom Licht, das durch Vernunft und Erkenntnis gleichermaßen strahlt, ist zu einem weit verbreiteten Bild im europäischen Rationalismus geworden; vgl. beispielsweise Descartes, Regulae ad directionem ingenii, Regula 2: »a sola rationis luce nascitur.« (»Sie [sc. die Erkenntnis] entsteht aus dem alleinigen Lichte der Vernunft.«). 115 Parm., DK 28 B 1, 5: »τιταίνουσαι«. 112
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Das Göttliche ist jetzt [zur Zeit des Wirkens Parmenides'; D. B.] nicht mehr selbständig, nicht mehr Subjekt oder Substanz, sondern Prädikat. Ob an die Götter des alten Glaubens trotzdem noch geglaubt wird, ist nicht entscheidend. Von Bedeutung ist nur, dass sie für die neuen Erklärungsversuche entbehrlich sind. 116
Mansfelds Abgesang auf die sogenannten »Götter des alten Glaubens« scheint einige Aspekte zu nivellieren und mitunter etwas weit zu gehen. Denn neben den herausgehobenen Rollen, welche die Pistis (πίστις) und die Dike¯ (∆ίκη) bei Parmenides spielen, 117 rekurriert auch Empedokles auf tradierte Göttergestalten wie Aphrodite¯, Ge¯thosyne, Philote¯s etc. 118 Eine Entbehrlichkeit ist hierin nicht zu erkennen und muss auch gar nicht angenommen werden. Unzweifelhaft hat sich jedoch bei Parmenides der Blick auf die Gottheiten gewandelt. Ihre Funktionalität für den menschlichen Wirkbereich wird im Vergleich zur früheren Dichtung deutlich mittelbarer gesehen. 119 So verweist Empedokles fast beiläufig darauf, dass die Sterblichen »sie [sc. die Götter] mit Beinamen belegen«, 120 eben um Weltzusammenhänge erklärbarer zu machen, sie jedoch vorzugsweise mit ihrem Verstand betrachten sollten. 121 Götterwelt Mansfeld (32008), 23. Der hohe Würdestatus beider Göttinnen sowie deren Anthropomorphie sind zudem bei Hesiod und Theognis belegt – vgl. die Rolle der Dike¯ als Tochter der Themis bei Hes., theog., 902 sowie Theogn., 1, 1137: »Πίστις, µεγάλη θεός« (»Pistis, eine große Göttin«). Selbst die genannte Stärke der Pistis lässt sich neben ihrer erkenntnistheoretischen Dimension umstandslos einer anthropomorphen Gottheit zuschreiben; vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »ἰσχύς«, 844: »might, power θεοῦ, θεῶν«. Auch hinsichtlich der Gestalt der Ale¯ theíe¯ – die bei Parmenides doch immerhin »ein unerschütterliches Herz« (Parm., DK 28 B 1, 29: »ἀτρεµὲς ἦτορ«) besitzt – darf man gerechtfertigt zur Ansicht Diels’ gegenüber derjenigen Schadewaldts neigen. Es handelt sich mehr um eine (allegorisierte) Göttin als um eine abstrakte Instanz. Eher wäre noch zu diskutieren, warum Diels und Kranz die Α ᾿ ληθείη groß schreiben, nicht jedoch die πίστις (beziehungsweise Πίστις). 118 Vgl. das Testimonium bei Simplikios in Phys., DK 31 B 17. Dies meint ausdrücklich nicht, dass Empedokles damit zuvorderst zu einem mythisierenden Geschichtenerzähler würde; keinesfalls erfüllen die uns überlieferten Fragmente die Funktion, bestimmte Mythen umfangreich aufzugreifen oder originell fortzuspinnen. Sehr wohl aber bedient sich Empedokles, wie vor ihm auch schon Parmenides, göttlicher Gestalten, ohne dabei eine Absage an numinose Wirksamkeiten auszudrücken oder überhaupt nur zu implizieren. 119 Auch in den Aussagen Demokrits zur Dichtkunst, die nicht selten als ekstatisch-irrationaler Gegenentwurf zu dem Modell voneinander getrennter Sphären eingeordnet werden, lässt sich die göttliche Vermittlung als Fluchtpunkt erkennen – namentlich in Aussagen, der Dichter dichte »mit Enthusiasmus und heiligem Hauch« (Demokr., DK 68 B 18: »µετ᾽ ἐνθουσιασµοῦ καὶ ἱεροῦ πνεύµατος«) und Homer habe »eine göttliche Natur erlangt« (Demokr., DK 68 B 21: »φύσεως λαχὼν θεαζούσης«). Hierbei handelt es sich um einen Begriffsbestand, der seine topische Wirkung auch für die kommenden Generationen an Philosophen und Literaten kaum verfehlt hat. 120 Simplikios in Phys., DK 31 B 17, 24: »καλεόντες ἐπώνυµον«. 121 Vgl. ebd., 21: »τὴν σὺ νόωι δέρκευ, µηδ᾽ ὄµµασιν ἧσο τεθηπώς« (»Schaue sie [die Philote¯ s] mit dem Verstande an, und sitze nicht da, während du sie mit den Augen anstarrst!«). 116 117
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und menschliche Erkenntnis gehen hier offensichtlich ein neues Verhältnis ein, wobei das Erkennen zur natürlichen Notwendigkeit erhoben wird. 122 Analog zur parmenideischen Pistis ist es hier der Nous (Νοῦς), der für die sichere Erkenntnis bürgt. Empedokles öffnet allerdings in der Eponymisierung der Philotes als Aphrodite beziehungsweise Gethosyne zugleich das ikonische Potential, das sie zwar nicht ›in Wahrheit‹, aber doch zumindest bei den Menschen genießt. Die Welt existiert immer vorrangig zur ihrer sprachlichen Entäußerung; wird sie nach bestimmten Parametern – ›poetischen‹, ›naturgemäßen‹, ›geschichtlichen‹ etc. – zur Darstellung gebracht, so geht sie zusehends Verbindlichkeiten in stofflich-formaler Verschränkung ein. Diese Verbindlichkeiten verschreiben sich bei den Vorsokratikern nicht mehr, wie in der früheren Epik, dem alleinigen Willen der Götter, sondern der Repräsentation der jeweils angenommenen Naturgesetze. 123 An die Seite von Stoff und Form tritt daher das Prinzip der Komposition. Es handelt sich hierbei um ein Darstellungsvermögen, das sich am menschlichen Erkennen orientiert, dieses als wahres Sein präsentiert und insofern eine vorwiegend intellektualistische Hinwendung 124 zur Welt ausdrückt. Hierin zeigt sich die Profession des philosophisch ambitionierten Dichters. Somit erweist sich das Walten der Götter fraglos auch in den Schranken der Naturgesetze, wird jedoch nicht mehr als die primäre Repräsentationsfunktion der Poesie gesehen. Bereits die beiden Eingangswörter »δίπλ᾽ ἐρέω« 125 des einleitenden Verses des umfangreichsten erhaltenen EmpedoklesFragments führen den substantiellen und zugleich formalen Zugriff vor, den der Sprecher kompositorisch für sich beansprucht: Er muss seinen Stoff in adäquater Weise 126 arrangieren, um die göttlichen Beziehungen sichtbar zu machen. 127 Die philosophische Zwischenstellung, die Empedokles – in AnIn merklichem Gegensatz zu Hesiod, wo die Naturnotwendigkeiten, wie sie sich etwa anhand der βίη (bíe¯ ) ausdrückten, nicht in der Kognition selbst lagen, sondern vielmehr Gegenstand des Erkennens selbst waren. 123 Hierzu können im Übrigen auch die metrischen Gesetze gezählt werden – die Frage hiernach wird noch besonders für die Gattungsdiskussionen des 17. und 18. Jahrhunderts von Bedeutung sein. 124 In merklicher Abgrenzung zu Hesiods voluntaristisch eingestellten Musen und ihrem »εὖτ᾽ ἐθέλωµεν« (Hes., theog., 28). 125 Testimonium bei Simplikios in Phys., DK 31 B 17, 1: »Zweifaches werde ich verkünden«. 126 ›Adäquat‹ meint hier nicht nur eine bloße Berücksichtigung der Tradition, sondern ihren dezidierten Einschluss in ein Begehren nach Erneuerung. In diesem Sinn wird das Verhältnis zwischen Empedokles und seinem Lehrer Parmenides regelmäßig als illustres Beispiel dafür angeführt, wie sich ein Schüler die Lehre seines Vorbildes aneignet und diese zugleich umformt – eine Haltung, die ein Übereinführen von Epigonalität und Originalität fordert. In diesem Sinn nennt etwa Mansfeld Empedokles einen »originelle[n] Nachfolger des Parmenides« (Mansfeld [32007], 56). 127 Dem Vorrang, den eine numinosen Weltkonstitution noch vor dem Verkündungsgestus instanziell genießt, kommt hier keine ausführliche Beschreibung mehr zu. Er lässt sich allerdings 122
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schluss an seinen Vorgänger Parmenides – einnimmt, besteht darin, dass er die Beziehungen zu den Göttern in Form der Naturgesetzlichkeit wahrt, ohne sich zugleich allzu sehr von deren Willkür abhängig zu zeigen. Dies gilt umso mehr, insofern diese ihn – wie schon seinen Lehrer Parmenides – nicht mehr unmittelbar unterrichten. 128 Eine solche Haltung lässt darüber hinaus neue Rückschlüsse auf die mythologischen Bearbeitungsverfahren zu. In Anlehnung an die bereits angeführten Einlassungen Blumenbergs zum Kernbestand und zur Prägnanz von Mythen sei hier von einem formgebenden Potential gesprochen. Hierzu ist es, im Gegensatz zum Begriff des ›Kernbestands‹, nicht notwendig, auf Vorstellungen von Zentrum und Peripherie zu rekurrieren; 129 vielmehr ist hierbei – und dies in einer Linie zu Hesiod – an Äußerungsmöglichkeiten und damit an das Prinzip der Darstellbarkeit gedacht. 130 Dieses Repräsentationsprinzip enthält seinen eigenen philosophisch-poetischen Konnex gerade dadurch, dass seine Gegenstände die eigenen formalen Realisationsmöglichkeiten bereits als Transzendentalprinzip in sich tragen. Mit ›Kernbestand‹ ginge man eine gewisse Gefahr ein, den Aspekt einer Robustheit überzubetonen, die den Erzählgegenständen aus welchen Gründen und zu welchem Zeitpunkt auch immer zukomme. Insofern der Anspruch an die Divinität dichterischer Aussagen auch in den Textprodukten selbst unverbrüchlich und über die Tradition hinreichend gesichert erscheint, stellt sich im griechischen Denken profund selten die Frage, ob, sondern wie die numinose Wirklichkeit zur Darstellung kommt. Das modallogische Fundament europäischer Gattungspoetiken – welches in zurückgenommen – etwa in der syntagmatisch engen Voranstellung des Zweifachen (δίπλ[α]), welches den göttlichen Widerstreit zwischen Zuneigung (Φιλότης) und Abneigung (Νεῖκος) meint, vor dem Verkünden (ἐρέω) – erkennen: Zunächst muss derjenige Stoff vorhanden sein, von dem dann zu künden wäre. Auch der Tempusgebrauch mag hier ein weiteres Mal – es sei an Pindars »προφατεύσω« und an Homers »ἐρέω« (Hom., Il., 2, 493) erinnert – eine nicht ungefähre Rolle spielen. Ferner wird diese Programmatik durch eine Wiederholung des vollständigen Verses (vgl. das Testimonium bei Simplikios in Phys., DK 31 B 17, 16) ein weiteres Mal affirmiert. 128 Etwa in der Weise, wie die Musen »Hesiod einst schönen Gesang lehrten« (Hes., theog., 22: »ποθ᾽ ῾Ησίοδον καλὴν ἐδίδαξεν ἀοιδήν«). 129 Auf die Schwierigkeiten, die mit einer derartigen Sichtweise einhergehen, hat – am Beispiel des Prometheus-Mythos – unter anderem Röder hingewiesen, da »statt Sinngehalte zu erschließen, [. . . ] Abstufungen unterstellter Grundthematik festgesetzt« (Röder [1981], 12) würden. Das wichtigste graduelle Moment liegt indes, wie bereits aus der Entwicklung der Lehrdichtung ersichtlich wird, nicht so sehr in der bloßen Thematik als vielmehr in der Überzeugungskraft der Stoffe begründet. 130 Auch das Problem des Verhältnisses mythologischer Produktion und Rezeption – für dessen Beschreibung Blumenberg [62006], 327–358 einigen Aufwand betreibt – lässt sich im Potentialbegriff auflösen, da dieser sowohl bereitstellende (Zugriff gewährende) wie produktive (Entwicklung eines stofflichen Gehalts aus inneren Prinzipien heraus) Aspekte umfasst, die nicht wechselseitig begründet oder gar gegeneinander ausgespielt werden müssten.
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seiner elementaren Konfiguration besagt, dass sich manche Gattungen mit dem Wahren, andere nur mit dem Unwahren, andere wiederum nur mit dem Scheinhaften etc. auseinandersetzen – 131 erscheint erst über derartige Unterscheidungen begründbar. Die göttlichen Gesetze werden daher ebenso vorausgesetzt – bei unterschiedlicher Betonung ihrer Willkürlichkeit – wie die Mythentradition. Die formalen Ansprüche der Dichtkunst (Weltzugriff, Wahrheitsbezug, Entäußerung, Darstellung von Geschichten einer höheren Wirklichkeit etc.) liegen demnach nicht nur in einer abstrakten Form, sondern wiederum in einem stofflichen Prinzip, demjenigen von Mythos und dessen Tradierung, begründet. 132 Es lässt sich hierbei zusehends ein bestimmter Konsens beobachten: Die Sprecher- und Erzählerfiguren sind nicht darauf aus, jene Potentiale zu verinnerlichen oder gar mit ihrer eigenen Person zu identifizieren; daher wäre es verfehlt, im darstellerischen Gestus eine ingeniöse Aneignung zu sehen. Vielmehr bleiben die Diskrepanzen zwischen Dichterperson, sprachlichem Kunstwerk und göttlicher Wirklichkeit neben dem Mythos das wesentliche, vielleicht gar das einzige so nennbare Konstante poetischer Produktivität. Genau an diesem Punkt, der formalen Frage nach den Verhältnissen zwischen dichterischer Fertigkeit, poetischem Werk und den ontologischen Abstufungen der einzelnen Weltsphären setzen Platons Dichtungsverständnis und -kritik an.
3.b. Platons untechnische τέχνη
In Anknüpfung an die durch Parmenides vorgeprägte Bildtradition wird im siebten Buch der Politeia zunächst die Erkenntnis des ἀληθές einer ideellen Sphäre zugeschrieben. Sie wird mit derselben Lichtmetaphorik verknüpft, die in Parmenides' Lehrgedicht tragend war. 133 Wird hier vom ἀληθές beziehungsweise der ἀλήθεια gesprochen, so werden wirkliche Dinge im Sinne ihrer wahVgl. etwa Rhet. Her., 1, 8, 13. Porter stuft diese Prinzipien als einen neuralgischen Streitpunkt ein, der sich durch das gesamte ästhetische Denken der Griechen von der Archaik bis in die Kaiserzeit hindurch beobachten lasse. Deren Klassifizierung als Formalismus (›formalism‹) und Materialismus (›materialism‹) – vgl. Porter (2010), 70 f. – soll hier nicht verwendet werden, da sie eine ausgearbeitete, auf einer Philosophenschule beruhende Axiomatik nahelegen könnten. Es darf für unsere Zwecke vielmehr genügen, hier von verschiedenen Zugriffsarten zu sprechen. 133 Vgl. etwa Plat., Pol., 7, 518a2 f.: »ἔκ τε φωτὸς εἰς σκότος [. . . ] καὶ ἐκ σκότους εἰς φῶς« (»[Übergang] vom Licht zur Dunkelheit [. . . ] und von der Dunkelheit zum Licht.«) In ähnlicher Weise verwendet auch Aristoteles dieses Bild bei der Bestimmung des aktiven Verstandes (νοῦς ποιητικός), der »wie das Licht« (Aristot., an., 3, 6, 430a15: »οἷον τὸ φῶς«) aus Erkenntnispotentialen Erkenntnisinhalte mache. 131
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ren Existenz, als die vielbenannten »Ideen«, 134 prädiziert. Wer die materiellen Abbilder dieser Ideen für wahr hält, also »solche Leute [, die] wohl nicht irgendetwas anderes für wahr halten als die Schatten der Geräte«, 135 unterliegt daher einer Täuschung. Dass die Schau einer wahren Wirklichkeit nicht in den Sachphänomenen selbst liegt, lässt sich noch konsistent in der Tradition lesen, die wir bereits in der didaktischen Versepik angelegt fanden. Die Wirklichkeit im Sinne Platons ist jedoch innerhalb ihrer einzelnen Sphären noch weitaus subtiler strukturiert, als es die vorgängige Naturphilosophie für sich beanspruchen konnte – mit einigen Folgen für die Kunsttheorie: So nimmt im numinosen Bereich »die Idee des Guten« 136 nochmals eine exponierte Stellung ein; sie ist einerseits formierende Instanz weiterer Ideen, 137 fungiert als solche jedoch auch bereits in den weltlichen Sphären, insofern sie uns »als Herrscherin Wahrheit und verständige Einsicht darreicht.« 138 Das erkenntnisstiftende Licht werde von der Sonne – als der stellvertretenden Ikone für die Idee des Guten – geradewegs auf die Welt gebracht. 139 Daher komme es nun ganz besonders auf »die Kraft der Sonne« 140 an, um Wahrheit und Wissen bis in die inferioren ontischen Ebenen freizusetzen. Der Sonne kommt hier also das zweifache Vermögen zu, zunächst das Gute freizusetzen und darüber hinaus die Erkenntnis des selbigen zu stiften. Es geht also keineswegs um eine bloße Mustergültigkeit, die einer ewigen Idee hier zukommen mag, sondern auch um das Vermögen, diejenigen Kräfte freizusetzen, die zu ihrer eigenen Erkenntnis taugen. 141 Hierbei sind 134 Hier herrscht, mit Blick auf die Verwendungsweise, keine einheitliche Terminologie vor. Was im Deutschen einigermaßen indifferent mit ›Idee‹ wiedergegeben wird, wird von Platon je nach Kontext mit Bedeutungsnuancen versehen. Es werden neben ἰδέα auch das εἶδος oder – noch in anderer Bedeutung als später bei Aristoteles – τὸ καθ᾽ αὑτό (›Das sich selbst Entsprechende‹) aufgerufen. Da hier nicht der Ort ist, den kaum noch überschaubaren Explikationen der platonischen Ideenlehre, insbesondere des Höhlengleichnisses, eine weitere hinzuzufügen, sei auf die umfassenden Standardwerke von Ross (1951), Patterson (1985) und Eming (1993) hingewiesen. 135 Plat., Pol., 7, 515c1 f.: »τοιοῦτοι οὐκ ἂν ἄλλο τι νοµίζοιεν τὸ ἀληθὲς ἢ τὰς τῶν σκευαστῶν σκιάς«. 136 Ebd., 7, 517b8 f.: »ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα«. 137 Am prominentesten wohl in ihrer substantiellen Verschränkung mit dem Schönen (καλὸν κἀγαθόν, καλοκἀγαθία); vgl. zu diesem Konzept, das Gutes und Schönes bald miteinander engführt, bald miteinander identifiziert, umfassend Bourriot (1995) und Wankel (1979). 138 Plat., Pol., 7, 517c4: »κυρία ἀλήθειαν καὶ νοῦν παρασχοµένη«. 139 Vgl. ebd., 517c3: »τεκοῦσα«. Es handelt sich bei diesem Geburtstopos um einen aus den Sukzessionsmythologien bekannten Bildbestand. Zur generellen Adaptation vorsokratischer Konzepte bei Platon – die sich als ein eigenes Forschungsfeld bezeichnen lässt – vgl. in jüngerer Zeit ausführlich und umfassend Rodziewicz (2012). 140 Plat., Pol., 7, 517b3 f.: »τῇ τοῦ ἡλίου δυνάµει«. 141 Es handelt sich somit um eine Koinzidenz von Ursache und Ursprung (bezogen auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen); vgl. zu diesem Komplex auch Schottlaender (1988), 7: »Wenn wir das Licht erblicken, so reproduziert es sich in uns. Die Sonne ist nicht nur der Verursachungs-,
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durchaus auch Bereiche mit einzubeziehen, die profaner als die göttliche Ideenwelt anmuten. Während sich die reine Wahrheitsschau bei Platon zweifellos auf die oberen Erkenntnissphären konzentriert, ist die Einsicht (νοῦς) als ein Verstandesvermögen aufzufassen, das sich auch mit dem Erfassen der niederen Dinge beschäftigen kann. 142 Neben seiner ontisch-strukturierenden Funktion stiftet das Gute daher in gleichem Maße das Urteilsvermögen über die Dinge in der phänomenalen Wirklichkeit; es ließe sich auch sagen, ohne die Strahlkraft des Guten wären diese gar nicht erst ›phänomenal‹ – ›in Erscheinung tretend‹ – zu nennen. Aus dieser Übereinstimmung von Erkennbarem 143 und Gutem folgt, dass ontologische Urteile bei Platon in Einklang mit Werturteilen gesetzt werden können. Noch wichtiger ist indes, dass sich in der Beziehung zwischen den Werturteilen und den materiellen Gegenständen Wahrnehmung und Erkenntnis auf psychologischer Ebene verbinden. Es wird eine regelrechte psychologische Taxonomie erzeugt; denn die menschliche Seele wird durch das sinnliche Erfassen von Erscheinungen bisweilen ästhetisch 144 und kognitiv zugleich herausgefordert – ein Moment, das für Platons dualistische Ideenlehre eine weitere Differenzierung erfordert: Gegenstände, die paradoxe Eindrücke hervorrufen, werden – was als ein merklicher Schritt hin zu einer ›ästhetisch‹, mithin ›psychologisch‹ zu nennenden Kunsttheorie erscheint – als elementarer Anstoß für die oberen Seelenregionen eingeschätzt: δείκνυµι δή, εἶπον, εἰ καθορᾷς, τὰ µὲν ἐν ταῖς αἰσθήσεσιν οὐ παρακαλοῦντα τὴν νόησιν εἰς ἐπίσκεψιν, ὡς ἱκανῶς ὑπὸ τῆς αἰσθήσεως κρινόµενα, τὰ δὲ παντάπασι διακελευόµενα ἐκείνην ἐπισκέψασθαι, ὡς τῆς αἰσθήσεως οὐδὲν ὑγιὲς ποιούσης. 145
sondern zudem auch der Ursprungsort unseres Sehens, soweit es einen äußeren Ursprung hat. Im visuellen Geschehen ist die Lichtausstrahlung der Lichtquelle nicht nur Anfangsglied einer Folgenreihe, sondern auch Grund eines qualitativen Gleichbleibens, nämlich Grund dafür, daß die Lichtqualität der Lichtquelle im Leuchten des beleuchteten Bildes erhalten bleibt«. 142 Hierbei handelt es sich um eine ihrer wichtigsten Funktionen im Rahmen der platonischen Philosophie; vgl. umfassend hierzu Jäger (1967). 143 Wohlgemerkt, von Erkennbarem, nicht von der Erkenntnis selbst. Die Erkenntnis wird vom Guten gestiftet, so wie die Sonne das Licht stiftet, das zu ihrer eigenen Wahrnehmung benötigt wird. Nicht jedoch wird dadurch die Erkenntnis des Guten zum Guten schlechthin erhoben; vgl. hierzu auch Lefebvre (2018), 267 f. 144 Im wörtlich präzisen – und in der Antike vorherrschenden – Sinn als Tätigkeit des Wahrnehmungsapparats (αἰσθάνεσθαι) aufzufassen. 145 Plat., Pol., 7, 523a10–b4: »Ich weise nun, sagte ich, wenn du mir folgst, einerseits auf die Dinge in den Wahrnehmungen hin, welche die Denkkraft nicht zum Nachdenken anregen, da sie durch die Wahrnehmung hinreichend unterschieden sind, und andererseits auf die Dinge [sc. in den Wahrnehmungen] hin, die jene zum Nachdenken ausdrücklich auffordern, da die Wahrnehmung nichts Klares hervorbringt«.
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Hier werden einige wichtige Grundaspekte zur platonischen Ästhetik dargelegt, und dies in beträchtlicher Präzision. Denn im Sinne des hier vorgebrachten Klarheitskriteriums (ὑγιές) sei etwa die Wahrnehmung eines Fingers zunächst für den Verstand unproblematisch, insofern der Finger als Finger mit jedem anderen Finger wesensgleich ist. Seine physischen Teilmerkmale lassen sich gleichwohl nach verschiedenen Kategorien bemessen, da er hinsichtlich Größe, Wärme, Härte etc. der Wahrnehmung jeweils unterschiedliche Informationen liefern kann; kurz: »Die einen [sc. Wahrnehmungen] rufen das Denken auf, die anderen nicht.« 146 In diesen Zuschreibungen gründet sich ein Moment, das die Ästhetik erstmals mit einem zweifachen, teils einem nur über die oberen Seelenvermögen gangbaren, teils einem auf die bloßen Wahrnehmungen reduzierten Anspruch versieht: Unterschiede in der αἴσθησις lassen sich nach Platon nur mithilfe des Verstandes lösen, denn Prädikationsurteile wie ›Der Finger ist warm‹ sind nur über vorausgesetzte Oppositionen wie warm / kalt, groß/klein, hart / weich etc. zu gewinnen. Diese binären Gegensätze erfordern eine geistige Vorkonzeptualisierung. Wesenheit (›Finger‹) und Beschaffenheit (›Weichheit‹) sind demnach zwar derselben intelligiblen Sphäre zugehörig und können durchaus beide als ›Ideen‹ gelten, werden jedoch erst je nach Erfordernis der ästhetischen Urteilsbildung relevant. Zudem kommt es vor, dass die Wahrnehmungen unklar sind und erst durch den Verstand voneinander separiert werden müssen. Der Gedanke, dass Differenzziehungen in der sinnlichen Wahrnehmung (ὑπὸ τῆς αἰσθήσεως κρινόµενα) auch zu unterschiedlicher Stimulation der Denkkraft (νόησις) 147 beitragen, lässt sich in der Vorsokratik nicht nachweisen. 148 Die in der frühneuzeitlichen ars aesthetica diskutierte Unterscheidung zwischen distinkten (distincta, clara) und verworrenen (confusa) Erkenntnissen, Wahrnehmungen und Vorstellungen scheint hier – lange vor Descartes und Leibniz – 149 ihren Archegeten zu haben. Zudem findet hier Ebd., 7, 524d2 f.: »τὰ µὲν παρακλητικὰ τῆς διανοίας ἐστί, τὰ δὲ οὔ«. Zur Wortsemantik, die auf Kraft und Bewegung rekurrierende Momente enthält, vgl. Menge 24 ( 1981), s. v. »νόησις«, 472: »Denkkraft« sowie Liddell / Scott (91982), s. v. »νόησις«, 1246: »processes of thought«. 148 Vielmehr hatten wir in Kapitel II .3.a die Trennung der einzelnen Sphären in Elementar- und Kognitionssphäre als Bedingung für den Übertritt über eine mythische Schwelle verstanden, als einen Topos, der bereits bei Hesiod zur Inspiration und damit zur Verkündung der Wahrheit führte. Die Substanz der materiellen Welt hatte aber dort – wie auch bei Parmenides – praktisch keinen Einfluss auf die Betätigung der verständigen Vermögen. Zwar wurde Parmenides’ Pistis eindeutig als eine Größe bestimmt, die mit unterschiedlichem Grade an Kraft waltet; sie bewegte sich dabei aber ausschließlich im Bereich der Erkenntnis, demjenigen des Intelligiblen und Plausiblen. 149 Vgl. zunächst Descartes’ clare et distincte percipere als sicheres Kriterium der Erkenntnis: »Und daher meine ich, es bereits als allgemeine Regel aufstellen zu können, dass all dasjenige wahr ist, was ich sehr klar und deutlich erfasse.« (Descartes, Meditationes, Med. III, 35: »ac proinde iam videor pro regula generali posse statuere illud omne esse verum, Quod valde clare et distincte 146
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die Vorstellung einer hierarchisch aufgebauten Seelenarchitektur ihren wirkmächtigen Niederschlag, namentlich über das konstitutive Gegensatzpaar von νόησις und αἴσθησις. Die Wechselbeziehung zwischen phänomenaler Wirklichkeits- und abstrakter Wahrheitsschau ist maßgeblich; 150 der Schritt zu einer sinnlichen Erkenntnis, wie sie der Ästhetik spätestens mit Baumgarten vorschweben wird, kann hier nicht vollzogen werden, gerade weil die niederen Seelenteile darauf angewiesen sind, dass ihnen der Verstand bei der Urteilsbildung hilft. Die Verortung der Sinnlichkeit prädizierenden Ausdrücke weist eine zweifache Ausrichtung auf, einerseits eine Ausrichtung auf die Wirklichkeit, andererseits auf die Seelenvermögen selbst: Die oben genannten Widerspruchspaare ›warm / kalt‹, ›hart / weich‹ etc. sind als Ideen zwar der numinosen, ›hinter‹ der Ebene der Phänomene stehenden Sphäre zuordenbar; ihre Erkenntnisinhalte bilden jedoch nicht das wahrhafte, erste Sein (πρώτη οὐσία) des entsprechenden Gegenstandes ab; denn die Wahrhaftigkeit im Sinne Platons muss zweifellos im Wesen eines Gegenstandes bestehen, und ein Wesen kann schwerlich von inneren Widersprüchen bestimmt sein. Nicht anders verhalten sich ästhetische Urteilskategorien, indem sie Zuschreibungen enthalten, die skalierbar sind (›weich‹ vs. ›hart‹). Das Erkenntnisobjekt ist als Objekt weder skaliernoch intensivierbar. Die ästhetische Realisationskraft liegt daher, in Abgrenzung zur ideellen Realisationskraft, vollständig im körperlichen Bereich, also in der Haptik, Optik, Akustik etc. vor. Das Gute stiftet zwar in persistenter Weise das Urteilsvermögen hinsichtlich einer verstandesgemäßen Bewertung der jeweiligen Gegenstände; daraus folgt jedoch keinesfalls, dass der Verstand fortwährend zur Beurteilung einer rein ›ästhetischen‹ Anschauung herangezogen werden müsste. Er behält sich diese Beurteilung gleichsam vor. Somit ist das Urteilsvermögen über die phänomenal sichtbare Welt von einem sich wechselseitig bedingenden Beziehungsgefüge bestimmt. Dieses Gefüge wurde in der vorsokratischen Naturphilosophie noch zwischen Mensch und Gott situiert, bei Platon wird es indes vollständig in den Bereich zwischen Wahrnehmung und Intellekt, mithin auf den Menschen selbst verschoben. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Wertigkeit von Kunstprodukten ist deren ontologischer Status im Rahmen einer Seinsschau zu berücksichtigen: Gegenüber den Korporalsubstanzen wird durch die hohe Dignität, die der ideellen Betrachtung des Seins (οὐσία) zukommt, überhaupt erst jegliche percipio.«) Zur leibnizschen Bewertung einer solchen Kognitionsästhetik vgl. exemplarisch die Behandlung der perception claire und des sentiment confus bei Leibniz, Discours de Métaphysique, § 33. 150 Eben darum können, wie mehrfach gesehen, auch die Wahrnehmungen den Verstand ausdrücklich zum Nachdenken ›auffordern‹ (›παρακαλοῦντα‹, ›διακελευόµενα‹, ›παρακλητικὰ‹).
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wissenschaftliche Beschäftigung begründet. Auffälligerweise wird hierfür ausgerechnet die Geometrie, also eine Wissenschaft die sich mit Figuren beschäftigt und daher ihrer eigenen Repräsentationskraft nach ›körpernah‹ anmutet, als Beispiel herangezogen: »Sie [die Geometrie] ist dann brauchbar, wenn sie zur Schau des Seins zwingt«. 151 Strebte sie, so ließe sich ergänzen, in die entgegengesetzte Richtung, also diejenige der sinnlichen Kräfte, so wäre sie Mechanik. 152 Das von Platon herangezogene Kriterium der Schau des Seins, das auch Aristoteles in der Metaphysik noch programmatisch und in direkter begrifflicher Anlehnung an Platon aufgreifen wird, 153 trennt dabei zwar in durchaus vergleichbarer Weise zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, wie wir es aus der physiologischen Tradition kennen; jedoch geht es hierbei nun weder um die Sublimierung eines Wahren (ἀληθές) noch um dessen Verhältnis zur Überzeugungskraft (πίστις), sondern um dessen Wirklichkeitsgrad, 154 wie er sich sukzessive von der intelligiblen hinab zur körperlichen Welt zu hypostasieren vermag. Es rücken daher, ausgeführt an den Beispielen von Liege (κλίνη) und Tisch (τράπεζα), drei Seinsarten in der Spanne von Wahrnehmung (αἴσθησις) und Denkkraft (νόησις) in den Blick: zum einen die »in der Natur seiende«, 155 die mit der idealischen Wesenheit vollständig identifizierbar ist, dann die Gegenstände der phänomenalen Welt – hierzu zählen »nicht nur alle Geräte [. . . ], sondern auch alles, was aus der Erde wächst« – 156 und schließlich die fingierten »Scheinbilder, jedoch nicht die in Wahrheit seienden Dinge«. 157 Die Gegenstände, seien sie künstlerischer oder naturwüchsiger Provenienz, sind uns daher durch das ὄν beziehungsweise die οὐσία immer wieder von Neuem in unterscheidbarer Wirklichkeit gegeben; die Möglichkeiten ihrer Entäußerung weisen sich – in Analogie zu den oben beschriebenen Seelenteilen – mithin als ontisch-graduelle aus. Diese Gliederung selbst bildet nun den Hintergrund, vor dem menschliche Kunstprodukte (ἔργα) und -fertigkeiten (τέχναι) in ihren Vermögensweisen einzuordnen sind. Es stellt sich indes – und dies ein weiteres Mal im Anschluss an die Gemeinplätze der naturphilosophischen Tradition – die Frage, was den Techniken und den Artefakten naturgemäß zukommen
Plat., Pol., 7, 526e6: »εἰ µὲν οὐσίαν ἀναγκάζει θεάσασθαι, προσήκει«. Vgl. hierzu auch Krafft (1970). 153 Vgl. Aristot., metaph., 12, 1, 1069a18: »Περὶ τῆς οὐσίας ἡ θεωρία.« (»Vom wahrhaften Sein [handelt] die Betrachtung.«). 154 Vgl. Menge (241981), s. v. »οὐσία«, 507: »wahrhaftes Sein«, »Wirklichkeit«. Liddell / Scott 9 ( 1982), s. v. »οὐσία«, 1274 führen hierzu »substantiality« an. 155 Plat., Pol., 10, 597b6: »ἐν τῇ φύσει οὖσα«. 156 Ebd., 10, 596c5 f.: »οὐ µόνον πάντα [. . . ] σκεύη [. . . ], ἀλλὰ καὶ τὰ ἐκ τῆς γῆς φυόµενα ἅπαντα«. 157 Ebd., 10, 596e4: »φαινόµενα, οὐ µέντοι ὄντα γέ που τῇ ἀληθείᾳ«. 151
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muss, um überhaupt jene Beziehungen zur Wahrheit und zur Wirklichkeit einzugehen. Was an Platons Behandlung der τέχνη auffällt: Nach seiner Auffassung nehmen die Werke der Menschen in der skizzierten Hierarchie zunächst gar keinen von den Naturerzeugnissen geschiedenen Rang ein. Auf der ›mittleren‹ – das heißt der sich zwischen den numinosen Ideen und den Produkten der Dichter bewegenden – macht es offenkundig keinen großen Unterschied, ob ein Tischler einen Tisch verfertigt oder ob ein Baum aus der Erde wächst. Denn beide sind in gleicher Weise von der Teilhabe (µέθηξις) an den Ideen bestimmt – unabhängig davon, ob ihre Produktionsbedingungen von natürlicher oder von künstlerisch-technischer Art sind. 158 Die im griechischen Denken schon so häufig vorgefundene Haltung, keinen genuinen Unterschied zwischen Natur und Kultur anzusetzen, sondern beide in größtmöglicher Übereinstimmung zu behandeln, erscheint auch auf dieser Beschreibungsebene platonischer Seinslehre ganz stabil. Ausgerechnet die Dichtkunst selbst bildet innerhalb dieses Rahmens nun allerdings für Platon den problematischsten Fall: Sie habe ausschließlich an den Dingen der mittleren Seinsstufe Anteil, indem sie diese fingiere / nachahme (µιµεῖσθαι). Hierbei handelt es sich nicht einmal mehr um eine µέθηξις im eigentümlichen platonischen Sinne. 159 Vielmehr ist sie ihrer ontologischen Entsprechung nach noch niedriger einzustufen, der Dichter nach platonischer Lehre also nichts anderes als »irgendein Dritter von der Wahrheit her gesehen«. 160 Insofern sich die Dichtkunst zwei ontologische Schritte von der Wahrheit entfernt, entfernt sie sich mit derselben Selbstverständlichkeit auch »von der Natur« 161 selbst. Eine solche Natur meint daher nicht eine wie auch immer geartete innere Disposition, sondern die höchste extrinsische, 162 der Phänomenwelt entrückte Seinsart. Diesem Schluss liegen in der Politeia drei Argumentationsschritte zugrunde: Zunächst wird über das Analogon des Handwerkers (δηµιουργός) das Verhältnis von phänomenaler Gegenständlichkeit und Ideenhaftigkeit beschrieben, insofern ein Handwerker zu einem Vgl. die Einlassungen bei Plat., Pol., 10, 597a1–e8. Zu den Prädikaten, die der platonischen µέθηξις im Einzelnen zukommen, vgl. ausführlich Meinhardt (1968). 160 Plat., Pol., 10, 597e7: »τρίτος τις ἀπὸ [. . . ] τῆς ἀληθείας πεφυκώς«. Hier tritt mit dem in seiner Wortwurzel ›φυ‹ auf die φύσις verweisenden Partizip »πεφυκώς« ein indirektes Naturargument bei der Bestimmung des Dichters auf; vgl. auch die vorangehende Verwendung des Verbums φύειν ebd., 10, 597c4 f. 161 Ebd., 10, 597e3 f.: »ἀπὸ τῆς φύσεως«. 162 Auch das Höhlengleichnis selbst operiert mit solchen Paradigmen, die eine äußere Lokalisation festsetzen. Denn das für die Erkenntnis maßgebliche Bild ist dasjenige eines Feuerlichts, welches »von oben und von ferne hinter ihnen [sc. den Menschen in der Höhle] brennt« (ebd., 7, 514b2 f.: »ἄνωθεν καὶ πόρρωθεν καόµενον ὄπισθεν αὐτῶν«). 158 159
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Schöpfer (ποιητής) von Artefakten wird, die an den Ideen Anteil haben. Diese Gegenstände weisen demnach einen noch recht hohen Wirklichkeitsgrad hinsichtlich des Wahren (ἀληθές) auf. Im Gegensatz zu dieser Art eines ποιητής bringe der Dichter nun Gegenstände als »Scheinbilder, nicht jedoch die in Wahrheit seienden Dinge« 163 hervor, so dass sich drei hierarchisch getrennte Arten von Schöpfern (ποιηταί) entsprechend der Nähe ihrer Artefakte zum wahren Sein, das heißt aus der Perspektive der ersten οὐσία, ergeben: (1) Gott als ποιητής der wahren Ideen, die ontologisch mit der ersten οὐσία in eins fallen (2) der Handwerker als ποιητής der an der ersten οὐσία orientierten Gegenstände (3) der Maler als fingierender / nachahmender ποιητής (= ›µιµητής‹) 164 Die ontischen Stufen bezeichnen, wie gesehen, zugleich unterschiedliche Wahrnehmungsgrade. Platon kommt somit, auf der Folie einer kognitiv-sinnlichen Ästhetik, zu neuen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Möglichkeiten der Dichtkunst sowie des ontologischen Status poetischer Erzeugnisse. Dadurch, dass alle Künstler lediglich eine Mimesis derjenigen Gegenstände betreiben, die selbst wiederum Scheinbilder (εἴδωλα) sind, sind ihre Erzeugnisse erst recht »entfernt vom Seienden.« 165 Sie weisen also eine größtmögliche Distanz zur wahren οὐσία auf. Mehr noch, während der Handwerker zwar keine Ideenschau, keine θεωρία τῆς οὐσίας wie der Philosoph betreibt, aber doch zumindest in den Dingen kompetent ist, die er hervorbringt, indem er durch sein Geschick und den Gebrauch dieses Geschicks einen Anteil an den Ideen erwirbt, sind die Mimeten nicht einmal zwingend in den Dingen kompetent, die sie zur Darstellung bringen. Hieraus ergibt sich als dritter Typus die τέχνη µιµησοµένη (»Kunst, die fingieren / nachahmen wird«), in Abgrenzung zur τέχνη χρησοµένη (»Kunst, die Gebrauch machen wird«) und zur τέχνη ποιήσουσα (»Kunst, die hervorbringen wird.«). 166 Handwerker können daher an der ideellen Wahrheit, Dichter jedoch ›nur noch‹ an der Wirklichkeit partizipieren. Was Platon unter einer solchen Teilhabe verstanden wissen will, wird im Folgenden klar. Ebd., 10, 596e4: »φαινόµενα, οὐ µέντοι ὄντα γέ που τῇ ἀληθείᾳ«. Vgl. ebd., 10, 597e2. Die epochemachende Übersetzung Schleiermachers spricht von einem »Werkbildner« (ποιητής) und einem »Nachbildner« (µιµητής) – vgl. Hülser (1991), 725. Zu den Problemen, die der Begriff der Nachahmung hier aufwirft, vgl. allgemein Büttner (2004) sowie konzise Petersen (2000), 19–35 und Halliwell (2002), 37–148. 165 Plat., Pol., 10, 599a1: »ἀπέχοντα τοῦ ὄντος«. Der hier gewählte Ausdruck »ὄντος« ist auf das Engste mit der platonischen Transzendentalvorstellung einer wahren οὐσία verbunden. Mit zu berücksichtigen ist hierbei die ähnliche grammatische Genese der beiden Formen als Nominalderivat (οὐσία) sowie als Partizip (ὄν) zu »εἶναι« (»sein«). 166 Vgl. ebd., 10, 601d1 f. 163
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Es handelt sich um ein Verhaftetsein (ἅπτεσθαι), das sich hier im Sinne einer produktiven Aneignung verstehen lässt; und da poetischen Kunstwerken eine solch hohe Verhaftung ontologisch abgeht, ist im selben Zuge auch das Urteil über die Dichter rasch gefällt: οὐκοῦν τιθῶµεν ἀπὸ ῾Οµήρου ἀρξαµένους πάντας τοὺς ποιητικοὺς µιµητὰς εἰδώλων ἀρετῆς εἶναι καὶ τῶν ἄλλων περὶ ὧν ποιοῦσιν, τῆς δὲ ἀληθείας οὐχ ἅπτεσθαι, ἀλλ᾽ ὥσπερ νῦν δὴ ἐλέγοµεν, ὁ ζωγράφος σκυπτοτόµον ποιήσει δοκοῦντα εἶναι, αὐτός τε οὐκ ἐπαΐων περὶ σκυπτοτοµίας καὶ τοῖς µὴ ἐπαΐουσιν, ἐκ τῶν χρωµάτων δὲ καὶ σχηµάτων θεωροῦσιν; πάνυ µὲν οὖν. 167
Die τέχνη ποιητική – so die durchaus polemisch getragene Einlassung Platons – stellt also gar nicht die Profession eines ποιητής dar, sondern diejenige eines µιµητής. Diese recht verblüffende und folglich in der europäischen Geschichte vieldiskutierte Suspendierung der Künstler kann nur auf Grundlage eines Mimesis-Begriffs gelingen, der auf die Vorstellung einer unvollkommenen, weil dem Schein verhafteten Wirklichkeit rekurriert – ungeachtet des späteren Streitfalls, ob es sich dabei nun eher um ein darstellendes oder um ein nachahmendes Verfahren handelt. Sie wird dabei in einer analogen Entsprechungsrichtung zur Rangfolge der Seelenvermögen gedacht. Denn es kommen nun die Affekte unweigerlich ins Spiel: Die τέχνη µιµησοµένη bringt Artefakte hervor, die nicht diejenigen Seelenteile affizieren, die sich auf »Maß und vernünftige Erwägung« 168 gründen, sondern diese – so Platons wenig zurückhaltender Ausdruck – geradewegs »vernichten« 169 wollen, indem sie erwünschtermaßen zu Leidenschaften antreiben: »Wir loben denjenigen als guten Dichter, der uns so am meisten erregt«. 170 Ebenso wie bei der ontologischen Einstufung der Dichtkunst werden auch hier Werturteile eingebracht, die zugleich einen Seinsstatus markieren. Es scheint, dass dieser Anspruch – der nicht an die im Sonnengleichnis beschriebene Kraft heranreichen kann – 171 für 167 Ebd., 10, 600e4–601a3: »Wollen wir also festsetzen, dass – von Homer angefangen – alle Dichter nur Nachbildner von Abbildern der Tugend sind sowie der anderen Dinge, worüber sie dichten, dass sie aber die Wahrheit gar nicht berühren; vielmehr wie wir gerade bereits sagten: der Maler wird jemanden schaffen, der einem Schuhmacher gleicht, ohne selbst etwas von der Schusterei zu verstehen und zwar für diejenigen, die nichts davon verstehen und nur aus den Farben und Umrissen heraus auf sie blicken? – Ganz genau«. 168 Ebd., 10, 603a4: »µέτρῳ γε καὶ λογισµῷ«. 169 Ebd., 10, 605b4: »ἀπόλλυσι«. 170 Ebd., 10, 605d4 f.: »ἐπαινοῦµεν ὡς ἀγαθὸν ποιητὴν, ὃς ἂν ἡµᾶς ὅτι µάλιστα οὕτω διαθῇ«. 171 Vgl. hierzu auch Hauskeller (1998), 13 f.: »In der Kunst erhält das Sinnliche und seine Schönheit einen Rang, der ihm nicht zusteht. Darüber hinaus ist es zumeist das Ziel der Kunst, die
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Platon in einem grundsätzlichen Sinn nicht hintergehbar ist. Somit bringt die hier mit einer hierarchischen Seinslehre verbundene (Proto-)Ästhetik 172 auch eine mehrfache Taxierung der τέχνη selbst hervor; jede der angeführten Berufsgruppen, sofern sie es sich nur zum Ziel setzt, Artefakte hervorzubringen, scheint hier einer gleichermaßen durch die Seinsgrade wie auch durch die seelentopologischen Stadien bewertbaren Kunstfertigkeit zuordenbar. Erstaunlich ist neben der genannten Geringschätzung der Dichtkunst die Vielzahl an Möglichkeiten, die der τέχνη zugeschrieben werden – und die wie alles andere als eine Herabstufung anmuten. Denn die τέχνη wird bisweilen als produktive, als pragmatische, als nachahmende, als fingierende oder als täuschende vorgestellt. Es liegt nahe, diese Unterschiedlichkeit nicht allein im Rahmen der platonischen Seinslehre erklärbar zu machen, sondern auch über die sophistischen Aufklärungsdiskurse zu kontextualisieren. Denn nicht nur die im Bereich der Philosophie und Metaphysik sowie im Zuge des Aufstiegs der Akademie reüssierenden Denkrichtungen, sondern auch die allgemein konstatierbaren sozialgeschichtlichen Umbrüche haben zur Entwicklung der entsprechenden begrifflichen und konzeptuellen Nuancen beigetragen. Sowohl die platonischen Ontologeme wie auch diejenigen der aristotelischen Philosophie sind – bei aller Selbständigkeit, die beiden zweifellos zukommt – in ihren Ausprägungen nicht ohne diese Einflüsse zu denken. Daher gilt es, die Sophistik wenigstens in ihren Grundausrichtungen mit einzubeziehen. Im Folgenden werden einige zentrale Bedeutungsaspekte der sophistischen Fertigkeitsvorstellungen mit Blick auf das fünfte und vierte vorchristliche Jahrhundert dargelegt.
3.c. Die Rolle der Sophistik
Es kann zu den weiter verbreiteten Geschichtsbildern gezählt werden, dass in dieser Zeit entscheidende Umbrüche im Bereich der Politik, der Philosophie und der Kunst stattfinden, da es in nahezu allen Bereichen der griechischen Kultur zu wesentlichen Neubestimmungen hergebrachter Bedeutungs- und Bewertungsmuster kommt. Diese Umwälzungen betreffen die politisch-kulturellen Institutionen ebenso wie den gesellschaftlichen Status künstlerischer FaSinne und Leidenschaften des Betrachters oder Zuhörers zu erregen, und das heißt, die Herrschaft der Vernunft zu unterwandern und so die rechte Ordnung der Seele zu zerstören. Da in dieser Ordnung aber die Schönheit der Seele besteht, vernichtet die Kunst paradoxerweise gerade durch ihre übergroße Schönheit eine andere, höhere Schönheit. Wenn die Kunst überhaupt irgendeine Berechtigung haben soll, muß sie sich in den Dienst des Guten stellen lassen«. 172 Die Aisthesis ist demzufolge in einer Philosophie eingeschlossen, die noetische und ideelle Größen als eigentlich existierende Entitäten annimmt.
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brikate. Als Phänomen und zugleich Triebfeder dieser Neujustierungen gilt die attische Polis-Kultur. Im Zuge der stadtstaatlichen Demokratisierungsprozesse und durch die Erfolge attischer Institutionen wie Gericht, Volksversammlung und eben auch des Theaters werden die Grundsätze und Praktiken der hergebrachten Aristokratie, wie etwa das Blutrecht oder die Vererbbarkeit sozialer Eigenschaften, teils in bis dahin nicht gekannter Weise in Frage gestellt, modifiziert, teils auch zugunsten neuer soziopolitischer Maßstäbe überwunden. 173 Daher scheint auch das Gros der geistesgeschichtlichen Erklärungsmodelle häufig in ebendiesem Zeitraum anzusetzen, wenn es darum geht, entscheidende Zäsuren bei der menschlichen Selbstbestimmung in Bezug auf den Privatbereich (οἶκος), den öffentlichen Bereich (πόλις), die Götter (θεοί) und die Welt (κόσµος) auszumachen. 174 Typische Phänomene der griechischen Frühaufklärung wie die Religionskritik eines Xenophanes, 175 die Re-Etablierung der praktischen Bedürfnisse in den Wissenschaften oder die bisweilen etwas verengend als ›sokratische Wende‹ bezeichnete Hinwendung zu ethischen Fragen in der Philosophie werden dabei durchweg als epochenbestimmende Paradigmenwechsel ausgemacht. Sie sind somit zum obligatorischen Bestandteil jeder Geschichtsschreibung über die griechische Antike, zu einer Form von Handbuchwissen geworden. 176 Im Zuge solcher Innovationsbestrebungen erfahren in dieser Zeit diejenigen Diskurse einen merklichen Aufmerksamkeitsgewinn, die sich mit dem Verhältnis von Mensch und Natur befassen. Deren Bedeutungsfelder werden hierbei gleichwohl nicht schlichtweg affirmiert, sondern in erheblichem Maße neu ausgehandelt. Es wird dabei die institutionelle Entwicklung derjenigen Paradigmen forciert, die vor allem als gemeinschaftsformend gelten. Besonderes Augenmerk kommt hierbei dem scheinbaren Gegensatz zwischen natürlichen und kulturellen Gesetzmäßigkeiten zu. Die in Jahrhunderten verstetigte Haltung, keine Trennung zwischen den gegebenen, unübertretbaren und den noch Vgl. zur gesellschaftlichen Bedeutung des attischen Gerichtswesens – die hier nicht ausführlicher Gegenstand sein kann – konzise Bleicken (41995), zu derjenigen des Theaters, insbesondere der Tragödie, Latacz (22003) und Meier (1988). 174 Bezeichnend hierfür sind Leskys resümierende Äußerungen über das letzte Drittel des fünften Jahrhunderts v. Chr.: »Auf so gut wie allen Gebieten des Lebens stand dem Verharren in der Tradition ihre radikale Bekämpfung im Geiste der Sophistik gegenüber. Die Götterfeste zeugten von dem Fortbestande alter Frömmigkeit, während sich um die neuen Weisheitslehrer Zirkel bildeten, die den Mythos auflösten oder auf eigene Weise deuteten. Für die einen blieb das Gesetz der Stadt die letzte Norm, anderen hatte sich eine neue Sicht mit dem Naturrecht eröffnet, das seinerseits in sehr verschiedene Weise aufgefaßt wurde.« (Lesky [1957], 555 f.). 175 Vgl. hierzu ausführlich Heitsch (1994). 176 Vgl. Saïd – Trédé – Le Boulluec (22010), Hose (1999), Dihle (31998) oder den bereits zitierten Lesky (1957). 173
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hervorzubringenden und übertretbaren Gesetzessphären zuzulassen, bedarf in dieser Zeit offenbar einer besonderen Legitimierung oder einer naturrechtlichen, mithin naturphilosophischen Neubewertung. So tritt der Sophist Hippias an einer zentralen Stelle des platonischen Protagoras (um 388 v. Chr.) mit den Worten vor seine Zuhörerschaft, die anwesenden Menschen seien »zusammengehörig, verwandt und allesamt Mitbürger von Natur aus und nicht durch eine Satzung«. 177 Dass es mit Hippias von Elis ein Vertreter der frühen Sophistik ist, der hier φύσις und νόµος gegeneinander ausspielt, um ein emphatisches und gewissermaßen nicht hintergehbares Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, entspringt – wie schon die auf Gemeinschaft gerichtete Redeszene an sich zeigt, durchaus einer zeitgenössischen communis opinio, gegen die sich Platon in seiner naturalistisch anmutenden Art, Kunstprodukte zu betrachten, offenkundig wendet. Tatsächlich lassen sich die Progressionen der neuen Weltbilder besonders augenfällig – wenn auch bei nicht immer gleicher philosophischer Konsistenz – anhand der sophistischen Aufklärung sowie der damit verbundenen Gesellschaftsdidaktik aufzeigen. Augenfällig sind in diesem Zusammenhang neben den einschlägigen Inszenierungen im Protagoras auch die Einlassungen in anderen Sophisten-Dialogen wie dem Gorgias (um 390 v. Chr.). 178 Das prominente Diktum Leskys, nach dem sich »keine andere geistige Bewegung [. . . ] an Dauerhaftigkeit ihrer Folgen mit der Sophistik vergleichen« 179 könne, ja dass alles »was sie auflöste, [. . . ] innerhalb des griechischen Lebens nie wieder ein wirklich Ganzes werden [konnte]«, 180 erscheint in vielerlei Hinsicht zutreffend, bleibt indes in seinem Erklärungsanspruch noch auf allgemeine Entwicklungslinien, so Lesky hier überhaupt Linien im Blick hat, bezogen. Es lässt sich – wenn auch gewiss nicht ausschließlich – auf einen der Sophistik inhärenten Konflikt hin präzisieren, namentlich auf das Wechselspiel hin zwischen Naturargumenten auf der einen und Bildungsargumenten auf der anderen Seite, wodurch sich nämlich das seit der archaischen Versepik verbürgte Spannungsfeld zwischen natürlichen und menschlichen Gesetzen noch auf ein anderes Spannungsfeld ausweiten lässt: Es sind Natur (φύσις) und Bildung (παιδεία), die den Menschen – gerade weil sie in einem so offenkundigen wie widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen – maßgeblich zu dem formen, Plat., Prot., 337c8–d1: »συγγενεῖς τε καὶ οἰκείους καὶ πολίτας ἅπαντας εἶναι φύσει, οὐ νόµῳ«. Zur geschichtlichen Einordnung dieser Stelle vgl. auch Lesky (1957), 397. 177
Vgl. Plat., Gorg., 482e5–494c3. Diese Passagen beginnen mit der programmatischen Einlassung »So sind sich diese doch meistens einander gegenübergesetzt, die Natur und das Gesetz.« (ebd., 482e5 f.: »ὡς τὰ πολλὰ δὲ ταῦτα ἐναντί᾽ ἀλλήλοις ἐστίν, ἥ τε φύσις καὶ ὁ νόµος.«) Zur weiteren Explikation dieses Gedankens wird unter anderem Pindar (Pind., frg. 169a) herangezogen; vgl. Plat., Gorg., 484b4–9. 179 Lesky (1957), 388. 180 Ebd. 178
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was er ist und darstellt. Sie verleihen ihm, nicht zuletzt als Eintrittsbedingung für eine Ämterkarriere in der Polis, Kraft und Kompetenz, um selbstbestimmte Handlungen zu verfolgen, sie mithin in eigenständiger Verantwortlichkeit hervorzubringen. 181 Als das geschichtlich mit Abstand folgenreichste Paradigma für ebendiese regelgeleitete Schaffenskraft ist die téchne (τέχνη) einzustufen. Sie meint – spätestens ab der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. – in neuer Prägnanz eine methodisch klare, in zielgerichteten Prozessen ablaufende Tätigkeit sowie die Fertigkeit, die der Mensch dazu besitzt. 182 Gegenüber ihren zeitgenössischen Konkurrentinnen wie der paideía (παιδεία), die in der Regel mit ›Erziehung‹ (›Pädagogik‹) oder ›Bildung‹ wiedergegeben wird, oder der epistéme (ἐπιστήµη), die sich in individuierter Form als fachliches Wissen oder, in einem umfassenderen Sinne, als Wissenschaft auffassen lässt, 183 ist sie im Zuge des Aufschwungs philosophischer und rhetorischer Schulen einer ungleich stärkeren Verallgemeinerung ausgesetzt. 184 Diese Verallgemeinerung scheint jedoch zugleich erst recht zu ihrem Erfolg beizutragen. Dieser besteht – was nicht häufig genug betont werden kann – zuvorderst in einer Popularisierung, die sich in den unterschiedlichsten Lebensbereichen niederschlägt, sowohl in den didaktischen Verheißungen der Sophisten – dies meint die rhetorische Ausbildung politischer Aspiranten in der demokratischen Gesellschaft – wie auch in der akademischen Kontrapunktierung eines Platon hierzu sowie in zahlreichen fach- und spezialwissenschaftlichen Kompilationen, wie etwa dem Corpus Hippocraticum. 185 Sie erhält schließlich bei Aristoteles einen systematischen Gemeinanspruch für sämtliche Disziplinen, die sich mit den Regeln der Produktivität und des Handelns befassen. 186 181 Zu den Umwälzungen der Ethik im hellenistischen Griechenland, die hier nicht ausführlicher Gegenstand sein können, vgl. Nussbaum (1994). 182 Dies scheint dem am nächsten zu kommen, was eine Mehrzahl der Griechen, Athener wie Spartaner, Delier wie Rhodier, einigermaßen einhellig als einen gemeinsamen Nenner unter einer »τέχνη« verstanden wissen wollten; vgl. hierzu den umfassenden lexikalischen Eintrag bei Liddell / Scott (91982), s. v. »τέχνη«, insbesondere ebd., 1785: »an art or craft, i. e. a set of rules, system or method of making or doing«. 183 Zur historischen Dimension dieses epistemischen Anspruchs der Sophistik vgl. umfassend Fromberg (2007). 184 Die weitere Ausweitung des παιδεία-Begriffs war demgegenüber noch kein dezidiert attisches Anliegen, sondern den Alexandrinern vorbehalten. Sie wiesen – im Zuge ihrer Tendenz zur grammatischen Kanonisierung – sich selbst die Aufgabe zu, die literarische Tradition in möglichst umfassendem Sinne zur Formung einer πᾶσα παιδεία (pâsa paideía) neu zu taxieren; vgl. Irvine (1994), 15. 185 Vgl. den darin enthaltenen, schlicht »Περὶ τέχνης« betitelten Traktat über die Heilkunst. 186 Vgl. zu dieser Taxonomie Aristot., metaph., 11, 7, 1064a10–19. Die neben der Poetik maßgebliche Wissenschaft, die sich in einem wesentlichen Sinn als Herleitung einer Fertigkeit auffassen lässt, ist die des Handelns (ihr Objekt ist die τέχνη πρακτική). Beide sind trotz ihrer technischen Gegenständlichkeit auch als ἐπιστήµη auffassbar – mit dem Unterschied zur her-
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Hieraus ergeben sich neue Anforderungen an die hergebrachten poetologischen Grundannahmen: War die divinatorische Inspiration seit Homer und Hesiod durch höchste Autoritäten in der Versepik, Hymnik, Lyrik und Lehrdichtung verbürgt, so wird der Mensch selbst nunmehr als gestalterisches und dadurch gemeinschaftsstiftendes Wesen gedacht; er wird mithin zum Ausgangspunkt seiner eigenen Soziabilität und Produktivität erhoben. 187 Im Zuge dessen werden auch die Mittel, mit denen Kunstwerke überhaupt verfertigt werden könnten, zusehends unter Gesichtspunkten des Zweckes und Gebrauchs abgeschätzt. Die poetologischen wie rhetorischen Diskurse müssen sich, wenn sie von den Bezugsmomenten zwischen Welt und Dichter beziehungsweise Redner handeln, spätestens mit dem Aufschwung der Sophistik mit dem Anspruch einer professionell erwerbbaren Gestaltkraft auseinandersetzen. 188 Eine solche Kraft muss sich im Vergleich zu den hergebrachten Inspirationstopoi in einer viel objektiver anmutenden Weise an ihren Resultaten messen lassen und kann dadurch – in der Beschreibung der Prozedur selbst wie auch des Resultats – eben auch als ›misslungen‹ gelten. Es handelt sich somit gebrachten Naturphilosophie, dass ihr Untersuchungsobjekt nicht im Gemachten (ποιούµενον), sondern im Machenden (ποιῶν) liegt. Diese Differenzierung, die wir bei Aristoteles dezidierter als bei jedem anderen antiken Philosophen vorfinden, erscheint philosophiegeschichtlich nicht nur als ein Höhepunkt der zeitgenössischen Tendenzen zu einer Systematisierung der Wissenschaften, sondern darf – bei aller Skepsis gegenüber der Sophistik, die Aristoteles mit seinem Lehrer Platon teilt und die wir teils auch sehr explizit, etwa in Aristot., top., 9, 165a19–31, vorfinden – wohl auch als Beleg für die nachhaltige Wirksamkeit der neuen aufklärerischen Wissenschaftsansprüche gelten. Diesen Aspekt hat – durchaus im Sinne einer klar abgrenzbaren Zäsur – umfassend Ford (2002) analysiert. Auch wenn seine Einteilung in einen preclassical criticism und einen classical critcism gelegentlich etwas strikt anmutet, so ist seiner Grundannahme zuzustimmen, dass die poetic theory des 4. Jahrhunderts v. Chr. ganz wesentlich von dem Versuch bestimmt sei, »to give systematic accounts of the nature of poetry in the most scientific terms available« (ebd., 4 f.). 187 Dieser Anspruch lässt sich bis hin zum hellenistischen Mythenumgang nachvollziehen, wie er etwa in Kallimachos’ origineller Abkehr von topisch-traditionellen Ordnungskriterien zu beobachten ist; vgl. hierzu Fantuzzi / Hunter (2004), Ambühl (2005) sowie konzis Asper (2004), 20: »Die Intention der Gemeinsamkeitsstiftung zeigt sich in der verblüffenden Masse und vor allem der regellosen Zusammenstellung aller denkbaren Schauplätze und mythischen Zeitstufen aus der griechischen Vergangenheit«. 188 Vgl. treffend in Bezug auf die Rhetorik Leeten (2017), 592: »Die rhetorische Übung bringt ein natürliches Potential zur Entfaltung, weil Sozialität immer schon aus einer diskursiven Praxis entspringt. Gleichzeitig strahlt diese Bildungspraxis (lógo¯ n paideía) dann auf die übrige gesellschaftliche Praxis aus, indem sie ein kollektives Subjekt konstituiert und die Einheit der Polis stärkt.« Die Justierung eines solchen Redepotentials, oder der menschlichen Gestaltkraft überhaupt, ist zudem auch mit dem homo mensura-Paradigma verknüpft zu denken. Insofern dieses allerdings zunächst auf die Weltwahrnehmung und die Produktionsbedingungen kultureller Artefakte abzielt – vgl. etwa Blumenberg (1981) und die Replik hierauf bei Bornscheuer (1985) –, es hier jedoch um die Produktionsfähigkeiten selbst gehen soll, kann sich bei der verfolgten Bestimmungsrichtung – gerade im Sinne einer Vermögensverwirklichung – nicht allein auf diese Ebene bezogen werden.
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bei der τέχνη unter den Vorzeichen der Sophistik zunächst um den Versuch, ein bestimmtes Vermögen aus einem streng teleologischen Blickwinkel Wirklichkeit werden zu lassen. Hierdurch ließe sich dann auch in einem philosophisch fundierten Sinne von einer ›Fertigkeit‹ sprechen. Diese Fertigkeit kann nun, darin das Schicksal des nómos (νόµος) teilend, ohne weitergehende Erläuterung als Gegenbegriff zur phýsis (φύσις) angeführt werden. 189 In einem derart erweiterten Rahmen kann sie als eine grundlegende Bezeichnung für handwerkliches Geschick auftreten. 190 Sie kann – mal im Sinne ihres »eigentlichen Vermögens«, 191 mal als bloßes »Schattenbild« 192 der wirklichen Künste – mit unterschiedlichen Wertigkeiten bedacht werden; sie kann dabei schlimmstenfalls – mit einer dann moralischen Konnotation – gar als unlauterer Kunstgriff 193 gelSo wird in der Poetik hinsichtlich der Einheitlichkeit der Erzählungsinhalte gesagt, Homer scheine »auch diesen Punkt gut gesehen zu haben, sei es seiner Fertigkeit oder seiner Natur wegen.« (Aristot., poet., 8, 1451a23 f.: »καὶ τοῦτ᾽ ἔοικεν καλῶς ἰδεῖν, ἤτοι διὰ τέχνην ἢ διὰ φύσιν.«) Fertigkeit und Natur stehen hier über »ἤτοι [. . . ] ἢ« exkludierend zueinander. Wie bereits anhand der Physik gesehen, stellt eine solche Disjunktion jedoch keineswegs Aristoteles’ Grundüberzeugung dar; vielmehr ist hier angezeigt, dass sich der Einheitsaspekt der Handlung kaum an den zeitgenössischen Debatten um die Dichterperson und deren Naturanlagen und Fertigkeiten entscheidet. Dessen ungeachtet sagt es viel über die Relevanz dieses Diskurses aus, dass er selbst in dieser Frage wenigstens en passant anzitiert wird. 190 Vgl. Soph., Oid. K., 472: »κρατῆρές εἰσιν, ἀνδρὸς εὔχειρος τέχνη« (»Mischkrüge sind es, das Handwerk eines geschickten Mannes.«). 191 Vgl. die grundsätzlich aufgeworfene Frage bei Plat., Gorg., 460a2, »worin eigentlich das Vermögen [sc. der Rhetorik] besteht« (»τίς ποθ᾽ ἡ δύναµίς ἐστιν«). 192 Ebd., 463d2: »εἴδωλον« (gemeint ist auch hier die Rhetorik [τέχνη ῥητορική] im regelrechten Sinne eines Abklatsches der Staatskunst [τέχνη πολιτική]). Analog – bezogen auf die körperlichen Künste – verhalte es sich dann mit dem Verhältnis von Koch- und Heilkunst (vgl. ebd., 465b1–466a4). Den zum εἴδολον analogen Begriff bildet in diesen Zusammenhängen die »erfahrungsgemäße Übung« (vgl. prägnant ebd., 465a2 f.: »ἐµπειρία« [»empeiría«]). Die τέχνη πολιτική und die τέχνη ἰατρική bilden somit hierarchiehöhere Fertigkeiten als die dazu zwar benötigten, gleichwohl taxonomisch auf niedrigerer Schwelle anzusetzenden Rede- und Kochkünste. Ein Abklatsch liegt demzufolge genau dann vor, wenn sich die Redekunst dazu aufschwingt, die Staatskunst schlechthin zu verkörpern, oder die Kochkunst sich selbst zur Heilkunst verklärt. 193 Vgl. Aischin., Tim., 1, 117: »ἔστι δ᾽ ὁ µὲν πρότερός µοι λόγος προδιήγησις τῆς ἀπολογίας ἧς ἀκούω µέλλειν γίγνεσθαι, ἵνα µὴ τοῦτο ἐµοῦ παραλιπόντος ὁ τὰς τῶν λόγων τέχνας 189
κατεπαγγελλόµενος τοὺς νέους διδάσκειν ἀπάτῃ τινὶ παραλογισάµενος ὑµᾶς ἀφέληται τὸ τῆς πόλεως συµφέρον.« (»Die Anfangsrede besteht für mich nun in einem Vorbericht zu derjenigen Verteidigung, von der ich vernehme, dass sie im Begriff ist gehalten zu werden, damit nicht – wenn ich dies ausließe – derjenige, der sich erbietet, die jungen Leute Trugworte zu lehren, uns mit einem gewissen Betrug täuscht und dasjenige fortzerrt, was für die Stadt das Nützliche ist.«) Dieser Bedeutungsaspekt weist bereits vor Aischines eine beträchtliche Tradition auf. So konstatiert Löbl schon für die Texte Hesiods, »daß von den insgesamt neun Versen, in denen das Wort τέχνη auftritt, sieben in einem Zusammenhang stehen, in dem es um List und Täuschung geht, in dem das Ausdenken und das Ausführen einer List ein Weg ist, der zu einem Ziel führen soll.« (Löbl [1997], 54) Ähnliches gilt zudem für die homerischen Epen, insbesondere die Odyssee, wenn man an Episoden wie die Kalypso- oder Polyphem-Erzählungen denkt. Der listenreiche Odysseus wird in all diesen
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ten. Sie kann in gorgianischer Tradition als umfassende Gegenstandslehre, 194 mit Protagoras indes in Engführung zur Erziehung (παιδεία) gefasst werden. 195
4. Intensive Vermögensbegriffe
Im vorangegangenen Kapitel zur Sophistik wurden zahlreiche τέχνη-Konzepte aufgefächert, die sich alle von dem Gegensatz zwischen (abstrakten, erlernbaren) Regeln und deren Verwirklichung abhängig zeigen. Die τέχνη kann schließlich, mit Blick auf Platons Diskussion, die er der Rhapsodenkunst im Ion (nach 399 v. Chr.) 196 zukommen lässt, als genuin menschliche Fertigkeit eine Kontrafaktur zum ›göttlichen Vermögen‹ (θεία δύναµις) der Dicht- und Rezitationskunst bilden. Im letztgenannten Sinn kann die τέχνη zudem eine grundlegende Skepsis an der divinatorischen Inspirationslehre widerspiegeln, wohingegen genau der Bereich der Inspiration mit intensiven 197 Kraftkonzepten belegt wird. Dem Ion wurde, als verhältnismäßig kurzem Dialog Platons, in der Philologie und Philosophie nicht immer die gleiche Aufmerksamkeit entgegengebracht. Dies mag bisweilen auch daran gelegen haben, dass er häufig
Kontexten stets auch als der technisch beschlagene vorgeführt; vgl. hierzu Schneider (2007), 14: »Mit der Anwendung der technischen Hilfsmittel ist bei Homer eine Täuschung des Stärkeren verbunden; in der frühen griechischen Literatur besteht also eine enge Verbindung zwischen Technik und List«. 194 Vgl. die zahlreichen Gorgias-Schüler wie etwa den Dithyrambiker und Sophisten Likymnios von Chios, (vgl. Radermacher [1951], XVI, 2 und Lesky [1957], 401) oder Polos von Akragas (vgl. hierzu Fowler [1997]), die jeweils Lehrbücher der Redekunst verfassten und diese prägnant ›Τέχνη‹ betitelten. Auch der vor allem aus Platons Politeia bekannte Sophist Thrasymachos soll ein Lehrbuch der Rhetorik (›Μεγάλη τέχνη‹) verfasst haben (vgl. hierzu Kerfeld / Flashar [1998]). 195 Um dieses Begriffspaar im Zuge der allgemeinen Ausweitung des téchne-Begriffs stabil zu halten, bedarf es eines gemeinsamen Elements, das Protagoras in der ›Übung‹ (ἄσκησις, µελετή) verortet. Vorausgesetzt bleibe hierbei indes eine gute ›Naturanlage‹ (φύσις), ohne die auch die beste Übung keinen Erfolg zeitigen könne; vgl. die Erörterungen in Plat., Prot., 319a3– 342a5, deren Ausgangspunkt zunächst die politische Fertigkeit (τέχνη πολιτική) bildet, sowie das gnomisch zu verstehende Testimonium bei DK 80 B 3: »φύσεως καὶ ἀσκήσεως διδασκλία δεῖται.« (»Unterricht benötigt Naturanlage und Übung.«) Eine genauere Analyse dieser Begriffsbeziehungen bietet Wilms (1995), 35–39. 196 Vgl. zum Datierungsproblem die ausführliche Analyse von Moore (1974). Zu den erstaunlichsten, nichtsdestoweniger überzeugenden Befunden Moores zählt, dass der Ion – entgegen der seit Marsilio Ficino verbreiteten Annahme – nicht einmal zwingend zu den platonischen Frühwerken gezählt werden muss; daher plädiert er für eine »relative position within the Platonic corpus« (ebd., 439). Da im Rahmen unseres Themas vor allem ein systematischer Zugriff benötigt wird, sei die Kontroverse um die Datierung gleichwohl hier nicht weiter verfolgt. 197 Im Sinne des in Kapitel II .1–2 aufgeworfenen Gegensatzes. Der Begriff des ›Irrationalen‹ ist demgegenüber zu meiden.
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sehr rasch mit Werturteilen belegt wurde. 198 Kritik an der vermeintlich geringeren literarischen oder philosophischen Qualität des Dialogs im Vergleich zu den Sophistendialogen oder den größeren Dialoggebäuden wie der Politeia werden dem Gehalt des Textes jedoch nicht gerecht. Denn dafür ist bereits die Gemengelage hinsichtlich des τέχνη-Begriffs beim Übergang vom fünften zum vierten Jahrhundert v. Chr., wie gesehen, zu komplex. Der Dialog lässt sich gewinnbringend hinsichtlich der Fragen nach Kunstfertigkeiten (τέχναι), Wissen (ἐπιστῆµαι) und Vermögen (δυνάµεις) betrachten. Und diese Aspekte fordern im Rahmen unseres Themas gleichsam eine genauere Betrachtung. 199
4.a. Platons göttliche δύναµις
Eine neuerliche Lektüre des Ion kann sich vor einem so voraussetzungsreichen Hintergrund wie dem skizzierten nicht darauf beschränken, von einer bloßen rhetorischen Experimentalform auszugehen, wie es noch Goethe vorschwebte. Vielmehr sind die auffälligen Eingebungen zu berücksichtigen, die sich hier in den drei genannten Anspruchsdimensionen niederschlagen: Die im Ion vorgeführte Herausforderung für die Inspirationskunst stellt das (im Zuge der Demokratisierung freier verfüg- und verhandelbar gemachte) Wissen dar. Wie in vielen anderen Dialogen Platons, sind auch im Ion die das Wissen betreffenden Gesichtspunkte von der Darstellung sophistischer Diktionen und der teils polemischen Kritik an diesen getragen. Der Ion lässt Rückschlüsse auf die neuen epistemischen Konzepte zu, die in der griechischen Aufklärungszeit zur Entfaltung kommen: Der Mensch begreift sich in der Gemeinschaft als prinzipiell gleichberechtigt, um am Wissen zu partizipieren, das zuvor den Epikern zugeschrieben wurde und mit dem Attribut ›göttlich‹ versehen wurde. Zeus, Apollon und die Musen verfügen über das wahre Wissen, und der Dichter verkündet es kraft seiner Berufung. Wer oder was aber beruft den Rhapsoden dazu, die Werke des Dichters zu verkünden? Es scheint in diesem Sinn geboten, Äußerungen wie die folgende als Kommentierung dieses Sachverhalts, der zeitgenössischen Haltungen zum Verhältnis von Poesie, Kraft und Wissen zu lesen: 198 Die nicht immer günstigen Urteile über den Ion, wie wir sie prominent bei Schleiermacher (Über die Philosophie Platons von 1805) und Wilamowitz (Aristoteles und Athen von 1893) vorfinden, konnten sich dabei fatalerweise auf polemische Einschätzungen wie diejenige Goethes von 1796 berufen: »Denn wie kommt zum Beispiel Ion dazu, als ein canonisches Buch mit aufgeführt zu werden, da dieser kleine Dialog nichts als eine Persiflage ist?« (Goethe, Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung, 170). 199 Lefebvre geht in seiner Darstellung des platonischen dynamis-Begriffs merkwürdigerweise nur an drei Stellen – zudem eher lapidar – auf den Ion ein; vgl. Lefebvre (2018), 255, 263 und 271.
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ἔστι γὰρ τοῦτο τέχνη µὲν οὐκ ὂν παρὰ σοὶ περὶ ῾Οµήρου εὖ λέγειν, ὃ νυνδὴ ἔλεγον, θεῖα δὲ δύναµις ἥ σε κινεῖ, ὥσπερ ἐν τῇ λίθῳ ἣν Εὐριπίδης µὲν Μαγνῆτιν ὠνόµασεν, οἱ δὲ πολλοὶ ῾Ηρακλείαν. 200
Hier wird – in merklicher Anspielung auf die Interpretations- und Kommentierungstraditionen zur homerischen Epik (περὶ ῾Οµήρου εὖ λέγειν) – 201 eine Fähigkeit angenommen, die den Rhapsoden in professioneller Weise zukomme; und es lassen sich zwei wesentliche Ursprünge dieser Fähigkeit ausmachen: Sie wird entweder göttlich verliehen oder sie wird unter irdischen Mühen erworben. 202 Beide Konzepte, das göttliche Vermögen, das sich im Enthusiasmus (ἐνθουσιασµός) niederschlägt und in seiner vehementesten Ausprägung bis zu einer Manie (µανία, im Lateinischen als furor poeticus rezipiert) reichen kann, sowie die Gestaltkraft bilden hier die beiden grundlegenden Ursachen der Initiation. Insofern beide sowohl aus den naturphilosophischen Traditions- als auch aus den zeitgenössisch-sophistischen Diskursen herzuleiten sind, zeichnet sich ein Moment ab, über das auch die hergebrachten φύσις-Vorstellungen neu modifiziert werden: Waren es in den traditionellen poetologischen Kontexten die Wechselbestimmungen zwischen transzendenten und substantiellen Hinwendungen, die in ihrem Spannungsverhältnis die Weltzugriffe des Dichters in Gang setzten, Plat., Ion, 533d1–4: »Es steht dir nämlich dies nicht als fachliches Können zur Verfügung, über Homer trefflich zu reden, was ich eben bereits sagte; vielmehr ist es ein göttliches Vermögen, das dich bewegt, wie in dem Stein, den Euripides den Magneten nennt, die meisten aber den herakleischen [sc. nennen]«. 201 Diese waren in den sophistischen Bildungskreisen dieser Zeit stark verbreitet; zur Entwicklung solcher Traditionen vgl. die historische Übersicht von Latacz (2000a). 202 Ebendiese Opposition zwischen erlernbaren und inspirationsabhängigen Fertigkeiten reicht, wie Fuhrmann herausstellt, in ihrer motivischen Tradition selbst zurück bis zur homerischen Epik. So tritt in der Odyssee der Dichter Phemios auf, der von sich behauptet, dass er seine Lieder keinem irdischen Lehrer, sondern einem göttlichen Einfluss verdanke. Gerade der in diesem Zusammenhang auftretende Ausdruck des Selbstlernens (»αὐτοδίδακτος«, Hom., Od., 22, 347) impliziere bereits »den Gegensatz einer lehrbaren Dichtkunst« (Fuhrmann [2003], 77) zur φύσις, einer – wenn man denn so möchte – prototypischen τέχνη Die göttliche Eingebung ist demgegenüber bereits auf das Engste mit einem φύσις-Konzept, namentlich dem des Einpflanzens (ἐµφύειν), verbunden: »θεὸς δέ µοι ἐν φρεσὶν οἴµας / παντοίας ἐνέφυσεν« (Hom., Od., 22, 347 f.: »Ein Gott hat mir mannigfache Lieder in die Seele eingepflanzt.«) Ganz ähnlich – wenn auch von Fuhrmann nicht erwähnt – wird in der Odyssee der Sänger Demodokos präsentiert: Man solle »den göttlichen Sänger Demodokos rufen; ihm nämlich hat ein Gott den Gesang geschenkt, um zu erfreuen, wodurch auch immer sein Gemüt ihn anregt zu singen.« (ebd., 8, 43–45: »καλέσασθε δὲ θεῖον ἀοιδόν, / ∆ηµόδοκον· τῷ γάρ ῥα θεὸς πέρι [van Thiel: περὶ] δῶκεν ἀοιδὴν / τέρπειν, ὅππῃ θυµὸς ἐποτρύνῃσιν ἀείδειν.«) Kurz, Homer wird im Ion keineswegs als beliebige Referenzfigur verwendet, sondern war als erster Dichter zugleich auch der philosophische Archeget, der den möglichen Gegensatz zwischen einer erlernbaren Fähigkeit und einer göttlichen Gabe bei den Dichtern und Sängern erkannt und zum Ausdruck gebracht hatte. 200
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mithin als Bewegungsgründe hierfür gelten konnten, so erweisen sich die stofflichen Zugriffe (auf die Gegenstände der Dichtkunst) wie auch die formalen Bezüge (auf die göttliche Transzendenz) hier als entschiedene Aporie – und dies in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit der eigenen poetischen Tradition, nunmehr allerdings mit den Materialien, die diese behandelt. Denn es ist zunächst der Gesangsstoff, der hier massiv in Zweifel gezogen wird: Der HomerRhapsode kann sich – genauso wenig wie Homer selbst – nicht sicher sein, woher sich seine eigentümliche Leistung ἐξ ἀρχῆς generiert; geschweige, was sie darzustellen vermag. Diese Unsicherheit stellt hier das eigentliche dialektische Thema dar. Verhandelt werden innerhalb dieser Problemlage zwei Paradigmen mit sehr unterschiedlichen Zuschreibungen: In merklicher Anlehnung an die Sophistik ist die im Ion angeführte τέχνη zunächst als ein fachliches Können 203 aufzufassen. Sie kann sich auf ein erworbenes Wissen berufen, ohne in diesem gänzlich aufzugehen – ansonsten unterschieden sich Dichter und Rhapsoden auch nicht wesentlich von einem Polyhistor oder einem exzessiven Stoffesammler. 204 Ihre Antipode wird nun aber nicht über die φύσις selbst, sondern über die θεία δύναµις ausgeführt, es ließe sich – angesichts der kolloquialen Stillage, die den gesamten Dialog durchzieht – auch sagen: provoziert. Eine solche δύναµις lässt sich in einem ersten Schritt scheinbar mühelos emphatisch aufladen, indem sie etwa mit Standardmotiven aus dem Bereich poetischer Eingebungen verknüpft wird: πάντες γὰρ οἵ τε τῶν ἐπῶν ποιηταὶ οἱ ἀγαθοὶ οὐκ ἐκ τέχνης ἀλλ᾽ ἔνθεοι ὄντες καὶ κατεχόµενοι πάντα ταῦτα τὰ καλὰ λέγουσιν ποιήµατα, καὶ οἱ µελοποιοὶ οἱ ἀγαθοὶ ὡσαύτως[.] 205
Der von Flashar bevorzugte Ausdruck des »Fachwissens« (Flashar [32009], 17) scheint durch die im Ion topisch vorfindbare Nähe zur ἐπιστήµη motiviert zu sein. Hier sollen hingegen die Unterschiedsmomente beider Ausdrücke, sofern sie nicht einen Begriffskomplex bilden, aufrechterhalten werden; daher wird von ›fachlichem Können‹ (τέχνη) sowie ›fachlichem Wissen‹ (ἐπιστήµη) gesprochen. Dass sie daneben als Hendiadyoin eine Verschränkung von Wissen und Können meinen und natürlich nach wie vor Seme der Kunstfertigkeit und der Wissenschaft implizieren können, bleibt davon unberührt. 204 Die blinde Hinwendung zum Wissensstoff um des Stoffes willen ist in der Antike, wie nicht nur Heraklits zur Sentenz gewordenes Diktum »Vielwisserei lehrt nicht, Verstand zu besitzen« (Herakl., DK 22 B 40: »πολυµαθίη νόον ἔχειν οὐ διδάσκει«) zeigt, von Rhetoriklehrern wie Quintilian (vgl. Quint., inst., 10, 3, 17; dort mit silva ausgedrückt, was wie die griechische ὕλη gleichermaßen ›Wald‹ und ›Stoff‹ heißen kann) bis hin zu Miszellanschriftstellern (vgl. Gell., praef., in der jenes Heraklit-Diktum zitiert wird) einigermaßen verpönt. 205 Plat., Ion, 533e5–e8: »Denn alle guten Ependichter singen nicht aus einem fachlichen Können heraus, sondern, da sie göttlich begeistert und ergriffen sind, all diese schönen Gedichte – und die guten Liedermacher ebenso«. 203
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Die im Dialog ins Auge gefasste Frage, ob die Dichter aus einem fachlichen Können heraus oder in göttlicher Erfülltheit (ἔνθεοι ὄντες) ihre Werke hervorbrächten, 206 wird hier – im Anschluss an den zweitgenannten Aspekt – in einen paradigmatischen Zusammenhang des κινεῖν (»bewegen«), 207 ὁρµᾶν (»antreiben«) 208 und ἕλκειν (»heranziehen«) 209 gesetzt. Hiermit werden durchweg Bewegungen bezeichnet, die sich zwischen den Seelen (ψυχαί) der Dichter, der Rhapsoden (beziehungsweise der Schauspieler [ὑποκριταί]) und der Zuhörer (beziehungsweise der Zuschauer [θεαταί]) abspielen. Das aus diesem Zusammenhang heraus entworfene, parapsychologische Bild ist dasjenige des herakleischen Steins. Dieser gilt bereits in der antiken Naturwissenschaft als die evidenteste Form des Magnetismus, steht also für Fernwirkungen im Bereich der phänomenalen Wirklichkeit ein. 210 Der Begriff der δύναµις gewinnt hierdurch eine neue semantische Prägnanz; er kann nunmehr als das Prinzip der Kraftübertragung gelten: οἶσθα οὖν ὅτι οὗτός ἐστιν ὁ θεατὴς τῶν δακτυλίων ὁ ἔσχατος, ὧν ἐγὼ ἔλεγον ὑπὸ τῆς ῾Ηρακλειώτιδος λίθου ἀπ᾽ ἀλλήλων τὴν δύναµιν λαµβάνειν; ὁ δὲ µέσος σὺ ὁ ῥαψῳδὸς καὶ ὑποκριτής, ὁ δὲ πρῶτος αὐτὸς ὁ ποιητής· ὁ δὲ θεὸς διὰ πάντων τούτων ἕλκει τὴν ψυχὴν ὅποι ἂν βούληται τῶν ἀνθρώπων, ἀνακρεµαννὺς ἐξ ἀλλήλων τὴν δύναµιν. 211 Zu diesem geradezu textkonstituierenden Gegensatz vgl. die bereits zitierte Stelle bei Plat., Ion, 533e6 f. (»οὐκ ἐκ τέχνης, ἀλλ᾽ ἔνθεοι ὄντες«) und darüber hinaus ebd., 534b8–c1 (»οὐ τέχνῃ ποιοῦντες [. . . ], ἀλλὰ θείᾳ µοίρᾳ«), ebd., 534c5 f. (»οὐ γὰρ τέχνῃ [. . . ], ἀλλὰ θείᾳ δυνάµει«) und ebd., 536c1 f. (»οὐ γὰρ τέχνῃ οὐδ᾽ἐπιστήµῃ [. . . ], ἀλλὰ θείᾳ µοίρᾳ καὶ κατοκωχῇ.«). 207 Vgl. ebd., 533d3. 208 Vgl. ebd., 534c3. 209 Vgl. ebd., 536a2. 210 Die heute geläufigere Bezeichnung hierfür ist der ›Ferromagnet‹. In der Einführung und Ausarbeitung dieses Bildes sieht Flashar eine der genuinsten Leistungen Platons im Ion – so sei »die Ausgestaltung des Bildes von der Magnetkette in vertikaler und horizontaler Richtung, wie sie in der zweiten Sokratesrede (535e–536d) entwickelt ist, ganz Platons Eigentum.« (Flashar [32009], 62). Ein möglicher Einfluss Demokrits, wie er im Titel-Fragment »Über den Stein« (»ΠΕΡΙ ΤΗΣ ΛΙΘΟΥ« [DK 68, B 11k]) vielleicht angedeutet wird, wurde zuerst von Delatte (1934) diskutiert. Wenig überraschend widmet Lukrez in De rerum natura dem Topos eine eigene Beschreibung, in welcher der Begriff der Kraft (vis) – gleichwohl in einem wenig spezifischen Sinn – aufgegriffen wird (vgl. Lucr., 6, 910–916). Auch Herder, der dem Ion offenbar mehr Wertschätzung entgegenbrachte als etwa Goethe, greift den Topos in seinem Traktat Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten (1778) auf: »Wie der Magnet das Eisen, kann er [sc. der Dichter] Herzen an sich ziehen, und wie der elektrische Funke allgegenwärtig durchdringt, allmächtig fortwandelt: so trifft auch sein Blitz, wo er will, seine Seele.« (Herder, Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten, 433 f.). 211 Plat., Ion, 535e7–536a3: »Weißt du also, dass dieser Zuschauer der letzte von den Ringen ist, von denen ich sagte, dass sie durch den herakleischen Stein ihre Kraft voneinander empfangen? Der mittlere bist du als der Rhapsode und Schauspieler, der erste jedoch ist der Dichter persönlich. 206
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Das göttliche Vermögen, das den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete, wird durch die Kunst des Rhapsoden in seine äußere Wirksamkeit gebracht und geht in dieser über sein – hier immer noch vorrangig vorgestelltes – Potential hinaus, indem er die Menschen rührt und in Bewegung versetzt. Die rhapsodische Fertigkeit lässt sich mithin dadurch als Kraft auffassen, dass sie auf andere Seelen wirkt; ferner werden diese Kräfte in wechselseitigen Beziehungen (ἀπ᾽ ἀλλήλων, ἐξ ἀλλήλων) sowie in wechselseitiger Abhängigkeit (ἀνακρεµαννὺς) entworfen. Hierdurch eröffnet sich ein Feld an Aktions- und Reaktionsweisen zwischen den Dichtern, den Rhapsoden und den Rezipienten, die prinzipiell auf derselben Ebene beschrieben werden können, nämlich auf derjenigen der Bewegung. Als Auslöser einer solchen Kettenreaktion muss – ganz ähnlich zur Idee des Guten im Sonnengleichnis der Politeia – allerdings eine göttliche δύναµις stehen. 212 Es geht daher nicht so sehr um die Verwirklichung eines Vermögens im Sinne des Ausschöpfens eines poetischen ›Grundbestandes‹ an Motiven, Topoi und Themen, auch nicht nur um die Überführung eines Vermögens in eine Realität in actu, sondern um die mechanisch instruierte Weitergabe von Kräften. 213 Über ihren intrinsisch angelegten Ausgangspunkt als θεία δύναµις werden diese Kräfte jedoch bereits Der Gott indes zieht durch all diese hindurch die Seele der Menschen, wohin auch immer er will, indem er ihre Kraft gegenseitig bindet«. 212 Ein solches Begründungsmotiv ist in der Antike keineswegs auf Dichter, Rhapsoden und Philosophen beschränkt. So beanspruchen seit jeher auch Gaukler und Wahrsager, dass sie ihre Kraft von den Göttern her bezögen. Im Gegensatz zu den ›wahren‹ Dichtern und Weisen gelten sie darin jedoch als Scharlatane; vgl. etwa Plat., Pol., 2, 364b5–c5 : »ἀγρύται δὲ καὶ µάντεις ἐπὶ
πλουσίων θύρας ἰόντες πείθουσιν ὡς ἔστι παρὰ σφίσι δύναµις ἐκ θεῶν ποριζοµένη θυσίαις τε καὶ ἐπῳδαῖς, εἴτε τι ἀδίκηµά του γέγονεν αὐτοῦ ἢ προγόνων, ἀκεῖσθαι µεθ᾽ ἡδονῶν τε καὶ ἑορτῶν, ἐάν τέ τινα ἐχθρὸν πηµῆναι ἐθέλῃ, µετὰ σµικρῶν δαπανῶν ὁµοίως δίκαιον ἀδίκῳ βλάψει ἐπαγωγαῖς τισιν καὶ καταδέσµοις, τοὺς θεούς, ὥς φασιν, πείθοντές σφισιν ὑπηρετεῖν.« (»Gaukler und Wahrsager kommen indes vor die Türen der Reichen und machen sie glauben, dass ihnen durch Opfer und Zaubersprüche eine Kraft von den Göttern verliehen sei, sie unter Freudenfesten zu heilen, wenn sie selbst oder einer ihrer Vorfahren eine Verfehlung begangen hätten; und wenn einer einem Feinde etwas antun wolle, könnten sie für ein wenig Speise gleichermaßen dem Gerechten wie dem Ungerechten Schaden zufügen durch gewisse Sprüche und Flüche, indem sie – wie sie behaupten – die Götter dazu gewinnen, ihnen zu helfen.«). 213 Eine Zusammenfassung dieses Prozesses bietet Murray (82008), 10: »Despite its eulogistic tone, however, the central speech of the Ion undermines the authority traditionally accorded to poets by deprivating them of techne. And we cannot ignore its context: the image of the magnet at the beginning (533d cf. 535e7–9) emphazises the interconnexion between the various elements in the chain of poetic communication – Muse, poet, rhapsode and audience – so that it is difficult to separate our judgement on the activity of the poet.« Hieran anknüpfend ist der Aspekt der mechanisch gedachten Kraftweitergabe allerdings noch zu ergänzen. Die von Murray angeführte Deprivation der Dichter von einer téchne¯ bezieht sich gerade nicht auf die téchne¯ poie¯ tike´¯ als schöpferische und rezipierbare Tätigkeit, sondern zielt auf die ontologische Beurteilung der Artefakte und lässt dadurch den Aspekt der Wirkweise merkwürdig unterbestimmt.
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frühzeitig aus dem Bereich des Akzidentellen gelöst. Die θεία δύναµις wird keineswegs als ein passiv verharrendes Vermögen gedacht, sondern kann durch Kraft mechanisch weitergegeben werden; sie kann sich daher auf die Dichter, Sänger und Rhapsoden selbst übertragen und in diesen die göttliche Substanz fortbestehen lassen. 214 Die Dynamik dieses Prozesses wird darüber hinaus gerade anhand der Bewegungsparadigmen als ein seelischer Impetus immer wieder von Neuem begründ- und beobachtbar gemacht. Die sich hier anbietende Deutungsmöglichkeit, Platon operiere mit einer Art ›philosophischen‹ ἐνθουσιασµός, der sich eben nicht mehr allein auf die Dichtkunst beziehen lasse, sondern sich ihrer zugunsten eines idealisierten Naturbegriffs entledige, wird gelegentlich herangezogen, um eine angeblich problematische Stellung des Ion im Rahmen des platonischen Œuvres zu begründen. 215 Diese Ansicht ist dahingehend zu teilen, dass es sich hier nicht um einen von der Vernunft völlig entgrenzten ἐνθουσιασµός-Begriff handeln kann; er wird vielmehr als dialektische Größe im Spannungsfeld zwischen technischer Fähigkeit und göttlicher Wirkkraft diskutiert – denn natürlich bringt der Rhapsode in seiner Tätigkeit als Rhapsode durchaus wohlgeordnete Verse und Narrative hervor, deren Ziel es – der antiken Grundvorstellung eines begrenzten und geordneten Verses entsprechend – kaum sein kann, sich eines verständigen Rezipientenblicks zu entziehen. Daher erscheint es zu weitgreifend, in der Bestimmung der Dichtkunst eine völlige Abkehr von rational geordneten Prinzipien herzuleiten. Vielmehr wird hier mit dem planen Gegenteil gespielt: Es lässt sich – gerade in Bezug auf die Art, wie die Weitergabe von Affekten hier behandelt wird – kaum etwas Folgerichtigeres denken als die verbindliche Sukzession (πρῶτος – µέσος – ἔσχατος), mit der hier aus einem göttlichen Potential eine Wirkästhetik erzeugt wird. Der ›philosophische‹ ἐνθουσιασµός ist dabei durchweg in Form der für Sokrates typischen Elenxis (ἔλεγξις) zu bestimmen. 216 Hierauf lohnt sich ein genauerer Blick: Am Beginn dieses Schlussverfahrens steht im Ion nämlich bezeichnenderweise die Behauptung, dass Hesiod und Homer zwar in Teilen durchaus über dieselben Gegenstände – ganz besonders natürlich über die Welt der Götter und Halbgötter – sprächen, die enthusiastische Fähigkeit des Rhapsoden Ion jedoch allein auf Homer bezogen bliebe – mit Ausnahme 214 Vgl. in diesem Sinn auch die Charakterisierung des Simonides in der Politeia als eines »göttliche[n] Mann[es]« (Plat., Pol., 1, 331e6: »θεῖος ἀνήρ«) oder der Sprachkünstler (λογοποιοί) im Euthydemos, die grundsätzlich eine »göttliche Fertigkeit« (Plat., Euthyd., 289e3 f.: »τέχνη [. . . ] θεσπεσία«) besäßen. Murray spricht in hier lediglich vage von einer »Muse’s power« (Murray [82008], 8), von der die Dichter besessen seien. 215 Eine These, die prominent etwa von Fuhrmann (2003), 79 f. vertreten wird. 216 Der gedankliche Vektor dieser Argumentationsstrategie ist hier analog zu dem im Hippias minor aufgebaut; vgl. Flashar (32009), 66 f.
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eben jener Gegenstände, die von beiden Dichtern behandelt werden. Kurz, Ions Wissen als Homer-Spezialist kann sich mit den Gegenständen anderer Dichter durchaus akzidentell überschneiden und ihn dann dazu befähigen, auch Passagen anderer Dichter in entsprechender Qualität aufscheinen lassen. Es wäre demnach der Stoff, der – in Gestalt des Wissens – auch das Vermögen des Rhapsoden abbildete; dieses käme dann dadurch zur Geltung, dass dieser von jenem künden kann. Ein solcher Vorrang einer stofflich verankerten Episteme wird, nach der göttlichen δύναµις, als das zweite Kernparadigma diskutiert, aus dem sich die Profession des singenden Rhapsoden im Allgemeinen speisen könnte: ΣΩ. Καὶ µὴν ἐγὼ ἔτι ποιήσοµαι σχολὴν ἀκροάσασθαί σου, νῦν δέ µοι τοσόνδε ἀπόκριναι. πότερον περὶ ῾Οµήρου µόνον δεινὸς εἶ ἢ καὶ περὶ ῾Ησιόδου καὶ Α ᾿ ρχιλόχου; ΙΩΝ. Οὐδαµῶς, ἀλλὰ περὶ ῾Οµήρου µόνον. ἱκανόν γάρ µοι δοκεῖ εἶναι. ΣΩ. ῎Εστι δὲ περὶ ὃτου ῞Οµηρός τε καὶ ῾Ησίοδος ταὐτὰ λέγετον; ΙΩΝ. Οἶµαι ἔγωγε καὶ πολλά. ΣΩ. Πότερον οὖν περὶ τούτων κάλλιον ἂν ἐξηγήσαιο ἃ ῞Οµηρος λέγει ἢ ἃ ῾Ησίοδος; ΙΩΝ. ῾Οµοίως ἂν περί γε τούτων, ὦ Σώκρατες, περὶ ὧν ταὐτὰ λέγουσιν. 217
Vordergründig scheint es der übertriebene (und mutmaßlich sophistische) Glaube an den Vorzügen der Fachwissenschaften zu sein, der in diesem Dialog vorgeführt wird. Die probehalber getätigte Annahme, dass sich die Fähigkeit der Homer-Rhapsoden auf einem Fachwissen über Spezialwissenschaften gründe, wird im Folgenden durch die Konzentration der traditionellen Naturprinzipien auf die θεία δύναµις zu einem gewissen Widersinn hin degradiert. 218 Mag sich also auch hier das dialektische Ziel des Ion als die Bloßstellung einer vorgeblich sophistischen Dichterkonzeption ausweisen – die eben auf die Vermittlung von Wissen setzt –, so behält das Wissen in den unterschiedlichen 217 Plat., Ion, 530d9–531b1: »S O . Und wirklich werde ich mir einmal die Zeit nehmen, dich anzuhören; nun aber beantworte mir nur so viel: Bist du allein bezüglich Homer befähigt oder auch bezüglich Hesiod und Archilochos? I ON. Keineswegs, sondern nur bezüglich Homer. Das scheint mir auch zu reichen. S O. Gibt es denn einen Gegenstand, über den Homer und Hesiod das gleiche sagen? I ON. Ich meine sogar recht viele. S O. Könntest du nun hinsichtlich dieser Dinge besser darlegen, was Homer sagt als was Hesiod sagt? I ON. Wohl gleich gut bei den Gegenständen, Sokrates, über die sie dasselbe sagen«. 218 Vgl. auch Flashar (32009), 65 f.: »[D]er Rhapsode Ion kann nicht aufgrund von Fachwissen über Homer reden, auf die sachliche Klärung des in diesem Dialog angewendeten Wissensbegriffes überhaupt hinaus, mit der Konsequenz, daß es überhaupt nicht möglich ist, über die Gegenstände der Dichtung ein technisches Fachwissen zu haben. Das führt zu einer Deutung des dichterischen Schaffens, in der der Begriff Enthusiasmus im Mittelpunkt steht«.
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Gegenstandsbereichen bei allem polemischen Duktus seinen essentiellen Status bei: Es existiert – sei es in Form der Seherkunst, in Form der Feldherrenkunst oder in Form der Heilkunst – vorrangig zur spezifischen Fähigkeit des Sängers, dieses Wissen in einer bestimmten Form vortragen zu können. Was Sokrates an dieser Stelle zur Ironie reizt, lässt sich vor allen Dingen als die Frage nach Aneignung und Entäußerung von Wissensformationen lesen. 219 Diese müssten, will man hierin zu einer befriedigenden Antwort gelangen, entweder durch angeworbenes Können oder eben als Folge einer göttlichen Kraftübertragung in Erscheinung treten. Somit treten hier sophistische und dynamische Begründungsweisen in Konkurrenz zueinander. Gerade über diese Zuschreibungsarten öffnen τέχνη und δύναµις über den Bereich der rein auf den Menschen fokussierten, im weiten Sinne ›anthropologisch‹ zu nennenden Poetik hinaus zwei Vektoren: zum einen den nicht mehr weiter reduziblen Enthusiasmus, zum anderen den Bereich der Epistemologie. Dabei geht es jedoch von Beginn an und bis zum Ende um das Einflussvermögen dieser Größen auf die Rezipienten. Diskutiert werden somit im Ion auch die Fragen nach der Wirksamkeit von Wissen und derjenigen von Fiktionen anhand sprachlicher Artefakte. Jene Frage nach dem Fachwissen, das einem Dichter – als einem Kundigen – 220 zukommen müsse, wird Platon darüber hinaus auch in der Politeia noch beschäftigen: ἀνάγκη γὰρ τὸν ἀγαθὸν ποιητήν, εἰ µέλλει περὶ ὧν ἂν ποιῇ καλῶς ποιήσειν, εἰδότα ἄρα ποιεῖν, ἢ µὴ οἷόν τε εἶναι ποιεῖν. δεῖ δὴ ἐπισκέψασθαι πότερον µιµηταῖς τούτοις οὗτοι ἐντυχόντες ἐξηπάτηνται καὶ τὰ ἔργα αὐτῶν ὁρῶντες οὐκ αἰσθάνονται τριττὰ ἀπέχοντα τοῦ ὄντος καὶ ῥᾴδια ποιεῖν µὴ εἰδότι τὴν Einen guten Vergleichspunkt für die Anverwandlung dieses Komplexes bietet Xenophons Symposion (um 375 v. Chr.). Dort wird von Sokrates etwas launig die Behauptung aufgestellt, die Rhapsoden könnten zwar Homers Werke aus dem Gedächtnis vortragen, würden aber »die Gedanken nicht verstehen«. (Xen., symp., 3, 6: »τὰς ὑπονοίας οὐκ ἐπίστανται«) Der angesprochene Nikeratos wehrt sich in scherzendem Tonfall gegen diesen Vorwurf unter Verweis auf die so lehrreichen Gegenstände, welche die homerische Epik doch wohl auszeichneten und die sich der Rhapsode wie selbstverständlich mit aneigne; vgl. ebd., 4, 6: »ἴστε γὰρ δήπου ὅτι ῞Οµηρος ὁ σοφώτατος πεποίηκε σχεδὸν περὶ πάντων τῶν ἀνθρωπίνων. ὅστις ἂν οὖν ὑµῶν βούληται ἢ 219
οἰκονοµικὸς ἢ δηµηγορικὸς ἢ στρατηγικὸς γενέσθαι ἢ ὅµοιος Α ᾿ χιλλεῖ ἤ Αἴαντι ἤ Νέστορι ἢ ᾿Οδυσσεῖ, ἐµὲ θεραπευέτω. ἐγὼ γὰρ ταῦτα πάντα ἐπίσταµαι.« (»Ihr wisst doch wohl, dass Homer als der Gelehrteste so ziemlich über alle menschlichen Dinge gedichtet hat. Wer auch immer von euch nun ein Hauswirt, Staatsmann oder Feldherr werden oder einem Achilleus, einem Nestor oder einem Odysseus gleich zu werden wünscht, der möge sich um meine Gunst bemühen. Denn ich verstehe mich auf all diese Dinge.«). 220 Platons Auffassung von Wissen, das einen Menschen berechtigterweise überhaupt als Kundigen nennbar macht, wird hier so verwendet, wie sie im Theaitetos als gerechtfertigte, wahre Meinung (vgl. Plat., Tht., 201c–206a9) diskutiert wird. Zur vorplatonischen Begriffsgeschichte – die hier nicht ausführlicher Gegenstand sein kann – vgl. die grundlegende Studie von Snell (1924).
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ἀλήθειαν – φαντάσµατα γὰρ ἀλλ᾽ οὐκ ὄντα ποιοῦσιν – ἤ τι καὶ λέγουσιν καὶ τῷ ὄντι οἱ ἀγαθοὶ ποιηταὶ ἴσασιν περὶ ὧν δοκοῦσιν τοῖς πολλοῖς εὖ λέγειν. 221
Wurde der Aspekt des εὖ λέγειν im Ion noch spezifisch auf Homer bezogen (περὶ ῾Οµήρου), so geht es hier nunmehr um einen allgemeinen Wissensanspruch, den die Dichter gegenüber ihren Rezipienten nicht einzulösen vermögen. Dass die Dichter in Platons Idealstaat keine wohlgelittene Stellung einnehmen, war bereits durch die harschen Qualitätsurteile über die jeweiligen τέχνη-Auffassungen deutlich geworden. Sie sind – wie in Kapitel ii.3.b gezeigt – metaphysisch nicht ohne die Ideenwelten des Wahren, Guten und Schönen begründbar. Die Scheinhaftigkeit poetischer Fabrikate wird hier gleichwohl besonders drastisch mit dem Vorwurf des Betrügens (ἐξηπάτηνται) belegt. Platon lässt hier nachdrücklich große Zweifel daran aufkommen, dass über Vorstellungen (φαντάσµατα) – ein weiteres Mal sowohl als Ausdruck einer οὐσία-Lehre als auch anhand einer Topologie von Seelenvermögen vorgeführt – 222 Wissen transportiert werden könnte. Im Rahmen seines dualistischen Idealismus lässt Platon für die Essenz des Wissens grundsätzlich eine höhere Wertigkeit veranschlagen als es für die enthusiastischen Rührungsprinzipien überhaupt in Frage käme; das Wissen kann daher auch vor den behaupteten Vermögen der Propheten und Orakeldeuter problemlos bestehen. In all diesen Fällen scheint stets die essentielle Tragweite der Dichtkunst auf dem Prüfstand zu stehen. Ebenso spielt an einer prominenten Stelle der Apologie – dort, wo Sokrates vor dem Richtertribunal über seinen Besuch bei den Dichtern spricht – dieser Gegensatz, bei nur geringfügiger Variation im Ausdruck, eine wesentliche Rolle: ἔγνων οὖν αὖ καὶ περὶ τῶν ποιητῶν ἐν ὀλίγῳ τοῦτο, ὅτι οὐ σοφίᾳ ποιοῖεν ἃ ποιοῖεν, ἀλλὰ φύσει τινὶ καὶ ἐνθουσιάζοντες ὥσπερ οἱ θεοµάντεις καὶ οἱ χρησµῳδοί· 223 Plat., Pol., 10, 598e3–599a4: »Denn notwendigerweise muss der gute Dichter, wenn er über das, worüber er dichtet, gut dichten soll, als ein Kundiger dichten, oder er ist nicht imstande zu dichten. Es ist also zu erwägen, ob diese [Kundigen] von diesen Nachahmern etwa betrogen worden sind, und, wenn sie ihre Werke sehen, nicht bemerken, dass diese um das Dritte vom Seienden entfernt sind, und auch leicht für jemanden zu dichten sind, der die Wahrheit nicht kennt – denn sie erdichten Vorstellungen, nicht Seiendes; oder [sc. es ist zu erwägen,] ob sie tatsächlich etwas sagen und die guten Dichter wirklich darin kundig sind, worüber sie für die meisten gut zu reden scheinen«. 222 Ausgedrückt in den beiden φαίνεσθαι-Derivaten φαντάσµατα (psychologisch) und φαινόµενα (ontologisch). 223 Plat., apol., 22b8–c2: »Ich erkannte nun auch bei den Dichtern in kurzer Zeit dies: Sie dichten nicht aus einer Weisheit heraus dasjenige, was sie dichten, sondern von Natur aus, indem sie in Begeisterung verfallen wie die Seher und Weissager«. Die Wahl der σοφία (und nicht der ἐπιστήµη) 221
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Der Enthusiasmus fungiert hier, ähnlich wie im Ion, als Chiffre für den göttlichen Anstoß, der zunächst die Dichter in eine innere Bewegung versetzt. Diese Bewegung wird dann durch die dichterischen Werke an die Rezipienten weitergegeben. Während der Enthusiasmus also dazu geeignet ist, Kräfte – genauer: Kraftfolgen – freizusetzen, entfalten die epistemischen Gegenstände hingegen ihre Wirkungen erst durch die entsprechenden Äußerungsakte. Will ein Dichter also von Stoffen künden, von denen er nichts versteht, so besteht die Möglichkeit, ihn an seiner Wirkmacht zu messen (hier kann das Urteil ungeachtet seiner Inkompetenz positiv ausfallen) oder in Erwägung zu ziehen, wie angemessen und kompetent er über seine Gegenstände spricht. In Frage gestellt wird hier also weder der Sinngehalt von Wissen an sich noch die göttliche Beseeltheit, sondern derjenige der Dichtkunst auf Grundlage einer neu zu definierenden Rolle des Dichters – in der das Wissen eine neue Rolle einnimmt und die enthusiastischen Inspirationstheorien gleichsam herausfordert. In beiden Fällen geht es darum, aus einer intensiven Größe (innere Bewegtheit, Kompetenz in Wissensbereichen) eine extensive (Affizierung des Publikums, Vermittlung von Wissen) zu machen. Beide Essenzen, diejenige des Wissens und diejenige der göttlichen Kraft, sind ihrem Ursprung nach grundverschieden (menschlich oder göttlich), ihrem Ziele nach aber stets auf den Menschen selbst gerichtet; sie machen ihn im einen Fall zum Kundigen, nicht jedoch zwangsläufig zum Dichter, im anderen Fall zum Dichter, nicht jedoch zwangsläufig zu einem Kundigen. Aus dieser zweifachen Perspektive hängt die Dignität des Untersuchungsgegenstandes, der τέχνη ποιητική, an zwei Beziehungen – an derjenigen zwischen Gott und Mensch und an derjenigen zwischen Mensch und Mensch. Dichtkunst tritt hier nicht so sehr als Ursprung, sondern als Vermittlung und Weitergabe einer bestimmten Primärgröße auf. Ist diese Größe – unter Bezug auf Göttlichkeit (Enthusiasmos) beziehungsweise Wahrheit (Wissen) – umstandslos dem Bereich des Essentiellen zuordenbar, so fällt das Prinzip der Weitergabe in den Bereich der Kontingenz – im einen Fall, dass sich für die Wirkkräfte überhaupt empfängliche Seelen in der Welt finden lassen; im anderen Fall, dass das Wissen des Rhapsoden mit demjenigen der in den vorgetragenen Werke enthaltenen Wissen übereinstimmt. Somit sehen wir hier auch den alten Streitfall zwischen Wesentlichem und Akzidentellem in einer neuen Gemengelage aufscheinen. 224 ist durch den zu widerlegenden delphischen Orakelspruch motiviert, dass »niemand weiser [sc. als Sokrates] sei.« (ebd., 21a6 f.: »µηδένα σοφώτερον εἶναι.«). 224 Daher erscheint es auch zu kurz gegriffen, die δύναµις primär auf einen Leistungsgedanken zu beziehen, der im Spannungsfeld von Eigen- und Fremdverdienst zu verorten wäre, wie es etwa Müller vorschwebt: »Dass nicht jede dem Menschen verfügbare d[ynamis; D. B.] sich eigener Leistung verdankt, zeigt hierbei die Kennzeichnung der Rhapsodistik als göttlicher Fähigkeit (theia
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Es lässt sich somit festhalten: Das Problem der dichterischen Initiation tritt spätestens ab der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. nicht in einfachen Mustern vor Augen, sondern wird in technischen, dynamischen und epistemischen Zusammenhängen gedacht. Der Ausgangspunkt der Dichtkunst kann daher grundsätzlich – bei unterschiedlicher aspektueller Gewichtung – auf eine professionelle (menschliche) Aneignung, auf ein (göttliches) Vermögen oder auf ein Wissenssystem bezogen werden. Hierbei werden auch auf diskursiver Ebene zusehends Fragen metonymischen Zuschnitts aufgeworfen, denn mit dem Aufstieg und der gleichzeitigen Diversifizierung der einzelnen τέχναι rücken auch deren Beziehungen zueinander verstärkt in den Blickpunkt des philosophischen Interesses – ein Phänomen, das sich übergreifend sowohl bei den Sophisten wie bei Platon wie auch bei Aristoteles feststellen lässt. Derartige Justierungen sind als Bestandteile eines gegenüber der Archaik erheblich erneuerten Weltverständnisses einzustufen; die genannte Trias gewinnt somit auch eine Art neue Deutungshoheit gegenüber der seit Hesiod bekannten Dualität von Stoff und Transzendenz. Die Problemstellung, die hierin aufgeworfen wird – und für die der Ion bei all seiner impliziten Polemik und seiner teils spielerischen Diktion durchaus ernst zu nehmen ist –, besteht darin, dass das göttliche Vermögen nicht mehr eine ihm eigentümliche Form erstrebt – um die sich traditionellerweise der Mythos bemühte –, sondern mit einem weiteren zur Entäußerung geeigneten Gegenstand, dem Weltwissen, konkurriert. Beim Wissen handelt es sich indes, im Gegensatz zum göttlich aufgefassten Enthusiasmus, um eine genuin menschliche Kompetenz, die Stoffe nach bestimmten Regeln verarbeitet, arrangiert und weitergibt. Daher kommt ihr – begünstigt durch den generellen Aufstieg der παιδεία in der attischen Poliskultur – ein hoher gesellschaftspolitischer Wert zu. Was hier auf dem Prüfstand steht, ist das bis dahin über Jahrhunderte kaum angetastete göttliche Wirkvermögen und damit substantiell auch das heilige Wissen der Dichter. Dieses Wissen erscheint hier geradezu profaniert, indem es durch die praktischen Disziplinen herausgefordert und recht unmittelbar ersetzt wird. 225 Der von den Lehrdichtern erstmals in Richtung einer Transzendenz formulierte Wissensanspruch wird unter dem Einfluss der sophistischen Lehren – die das Wissen in genau die entgegengesetzte Richtung, nämlich auf die Ansprüche des politischen Lebens hin ausrichten – mit rhetorischem Aufwand nach Kompetenzen in dynamis) in Abgrenzung von einer bewusst erworbenen und kognitiv fundierten technê (Ion 553c, 534c), was in Verbindung mit dem enthusiasmos-Motiv zur Erklärung der Fähigkeiten der Dichter zu sehen ist.« (Müller [22013], 304 f.). 225 Feldherrenkunst, Ökonomik und Politik genießen zwar in der attischen Poliskultur ein zweifellos hohes Ansehen, scheinen aber formal doch weit entfernt von den Wissensansprüchen eines Hesiod, Parmenides oder Pindar.
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bestimmten irdischen Bereichen abgestuft. Das Universelle muss sich daher am Speziellen messen, so dass – so man wieder das alte Gegensatzpaar bemühen möchte – der Stoff nicht mehr zu seiner ihm eigenen Form gelangt, sondern sich nunmehr Stoff an Stoff misst. Dies ruft eine Art der Neubestimmung hervor, die weder der Epistemologie noch den Fiktionskünsten gemäß erscheinen kann.
4.b. (Ps.-)Longins Traktat Περὶ ὕψους (De sublimitate)
Eine herausgehobene Rolle für die Entwicklung der Affektenlehre spielt der wohl im frühen römischen Prinzipat entstandene pseudo-longinische Traktat Über das Erhabene (Περὶ ὕψους, De sublimitate). 226 Er kreist nicht nur um die Poetik, sondern auch um die Rhetorik, was den Text für unser Thema besonders attraktiv erscheinen lässt. Das Erhabene wird darin ausdrücklich nicht in einer wie auch immer gearteten, transzendentalen Sphäre verortet, in der es dann für sich als metaphysische Größe walten würde – wie wir es etwa noch bei Parmenides' Pistis oder bei der Idee des Guten in Platons Sonnengleichnis beobachten konnten – und von der aus es dann auf eine noch näher zu bestimmende Weise im Menschen tätig würde; vielmehr erfährt es seine Bestimmung aus der Wirkintensität, also den verschiedenen Graden an Affekten, die im Menschen selbst über innere Sinne wahrnehmbar sind. 227 Zu diesem Zweck werden Leitvorstellungen aus den poetologischen und rhetorischen Traditionslinien miteinander verknüpft. Besonders augenfällig zeigt sich das in einer Passage, der man vielleicht einen proömialen, gewiss aber einen programmatischen Zuschnitt zusprechen kann: οὐ γὰρ εἰς πειθὼ τοὺς ἀκροωµένους, ἀλλ᾽ εἰς ἔκστασιν ἄγει τὰ ὑπερφυᾶ· πάντη δέ γε σὺν ἐκπλήξει τοῦ πιθανοῦ καὶ τοῦ πρὸς χάριν ἀεὶ κρατεῖ τὸ θαυµάσιον, εἴγε τὸ µὲν πιθανὸν ὡς τὰ πολλὰ ἐφ᾽ ἡµῖν, ταῦτα δὲ δυναστείαν καὶ βίαν ἄµαχον προσφέροντα παντὸς ἐπάνω τοῦ ἀκροωµένου καθίσταται· καὶ τὴν µὲν Vgl. Böhn (2009b), 1387: »Bei Pseudo-Longin tritt mit dem Erhabenen eine ästhetische Wirkung hinzu, die aus der Affektenlehre der Rhetorik stammt (páthos, movere) und auch an Modelle religiöser Erfahrung angelehnt ist. In seiner Schrift Περὶ ὕψους, Perí hýpsu¯ s wird diese Wirkung dem Redner zugeschrieben, der die natürliche Begabung zum begeisterten Pathos hat und seine Zuhörer im richtigen Moment blitzartig ergreift und erschüttert, wodurch die Seele in platonischer Tradition sich dem Göttlichen annähert. Diese Erhebung der Seele ist zugleich eine Quelle der Beglückung für die Zuhörer«. 227 Halliwell (2011), 327–367 nähert sich diesem Phänomen auf dem umgekehrten Weg, indem er von Topiken der Wahrheit in De sublimitate ausgeht und dadurch zu indirekten Ausdrucksweisen über die Natur des Erhabenen gelangt, die in De sublimitate zwar zweifellos auch vorliegen, jedoch den ontischen Status der Kraft unterbestimmt lassen. 226
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ἐµπειρίαν τῆς εὑρέσεως καὶ τὴν τῶν πραγµάτων τάξιν καὶ οἰκονοµίαν οὐκ ἐξ ἑνὸς οὐδ᾽ ἐκ δυεῖν, ἐκ δὲ τοῦ ὅλου τῶν λόγων ὕφους µόλις ἐκφαινοµένην ὁρῶµεν, ὕψος δέ που καιρίως ἐξενεχθὲν τά τε πράγµατα δίκην σκηπτοῦ πάντα διεφόρησεν καὶ τὴν τοῦ ῥήτορος εὐθὺς ἀθρόαν ἐνεδείξατο δύναµιν. 228
Der Passus schreibt sich seiner Diktion nach in ein aus der aristotelischen Poetik bekanntes Begriffsfeld ein, 229 um daraus eine eigenständige Position zu entwickeln: Während Aristoteles das Glaubwürdige noch als wichtigen Nexus zwischen den Ebenen der Wirkintensität und Weltpotentiale hoch hielt, erscheint es hier zur Begründung des Erhabenen nicht geeignet. Denn Überzeugen ist – bei aller psychologischen Raffinesse, die es voraussetzt – ein Akt, der nun einmal gelingen oder misslingen kann, sich mithin an seiner Zielsetzung zu messen hat. Das Wunderbare hingegen herrscht autark, indem es auf seine Stärke vertrauen kann (κρατεῖ), und ebenso weist das Großartige eine dynamische Ausprägung (δυναστείαν καὶ βίαν) auf. Mehr noch, in ihm schlägt ausdrücklich auch die Kraft des Redners (ἡ τοῦ ῥήτορος δύναµις) selbst durch. Es lässt sich somit zunächst festhalten: Die hier diskutierte Kraft ist nicht an Momente des Reüssierens gekoppelt – wie wir es vor allen Dingen bei der sophistischen und der aristotelischen τέχνη, aber auch bei manchen Aspekten der ciceronischen vis (etwa im Sinne ihres Redeerfolgs) ausmachen können –, sondern entfaltet sich vielmehr selbst im Paradigma des Großartigen. Ebendiese Kraftbestimmung bildet zugleich einen kompositionellen Rahmen um den Hauptteil des Werks, der sich mit der psychologischen Explanation des Großartigen befasst. 230 Bevor der Autor nämlich auf die Erläuterung der einzelnen rhetorischen Figuren zu sprechen kommt, 231 betont er nochmals, dass die den Verstand überzeugende Beweisführung, das πείθειν, dem Erhabenen nicht gerecht werde. Vielmehr habe dessen δύναµις im Erschüttern des Vorstellungsvermögens (τὸ κατὰ φαντασίαν ἐκπληκτικόν) zu bestehen:
Long., sublim., 1, 4: »Das Großartige nämlich treibt die Hörer nicht zur Überzeugung, sondern in die Verzückung; denn überall und ständig wirkt das Wunderbare mit seiner Erschütterung stärker als das Glaubwürdige und Gefällige, insofern ja das Glaubwürdige in den meisten Fällen von uns beherrscht wird, dieses [sc. Großartige] indes unwiderstehliche Macht und Gewalt ausübt und jeglichen Hörer überwältigt; auch die Kunst der Erfindung sowie die Ordnung und Einrichtung der Stoffe [›Gegebenheiten‹] sehen wir nicht aus ein oder zwei Stellen, sondern im ganzen Gewebe der Rede kaum hervorscheinen, wobei das Erhabene, wenn es am richtigen Punkt hervorbricht, die Stoffe gänzlich wie ein Blitz zerteilt und mit einem Schlag die geballte Kraft des Redners aufzeigt«. 229 Diese stellen – um nur die auffälligsten zu nennen – das Glaubwürdige (πιθανόν), die Erschütterung (ἔκπληξις), das Wunderbare (θαυµάσιον) sowie die ›Ordnung der Gegebenheiten‹ (τάξις πραγµάτων, in möglicher Anlehnung an die aristotelische σύστασις πραγµάτων) dar. 230 Vgl. ebd., 1, 4–15, 12. 231 Beginnend ab ebd., 16, 1. 228
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φύσει δέ πως ἐν τοῖς τοιούτοις ἅπασιν ἀεὶ τοῦ κρείττονος ἀκούοµεν, ὅθεν ἀπὸ τοῦ ἀποδεικτικοῦ περιελκόµεθα εἰς τὸ κατὰ φαντασίαν ἐκπληκτικόν, ᾧ τὸ πραγµατικὸν ἐγκρύπτεται περιλαµπόµενον. καὶ τοῦτ᾽ οὐκ ἀπεικότως πάσχοµεν· δυεῖν γὰρ συνταττοµένων ὑφ᾽ ἕν ἀεὶ τὸ κρεῖττον εἰς ἑαυτὸ τὴν θατέρου δύναµιν περισπᾷ. 232
Die sachlich aufzeigende Beweisführung (τὸ ἀποδεικτικόν) tritt gegenüber der Obmacht der Stärke (τὸ κρεῖττον) zurück, durch die erst der Hörer fortgezogen wird (περιέλκεσθαι). 233 Die Bestimmungsrichtung eines solchen Impetus ist die Vorstellungswelt (φαντασία). Sind es in der Rhetorik die inferioren Affekte (cupiditates) sowie die Verstandestätigkeit (probatio), also unterste und oberste psychologische Instanzen, die als Rahmensetzung einer dreigeteilten Stillehre herangezogen werden, so ist es hier ein mittleres Seelenvermögen, das ins Zentrum gerückt wird. Im zentralen Ausdruck »τὸ κατὰ φαντασίαν ἐκπληκτικόν« liegt ein intensivierendes Moment vor: Das Erhabene hat die Kraft, unsere Vorstellungswelt 234 aufzuwühlen und mit Bildern zu füllen, die wiederum eine nachhaltige Wirksamkeit entfalten.
Ebd., 15, 11: »Von Natur aus nämlich hören wir an all solchen Stellen [sc. der Rede] stets das Stärkere heraus, von wo aus wir uns von der Beweisführung zu demjenigen fortziehen lassen, was das Vorstellungsvermögen erschüttert und wodurch der Sachbeweis in strahlendem Glanz verborgen wird. Werden nämlich zwei Elemente verbunden, so zieht stets das Stärkere die Kraft des anderen an sich«. 233 Durchaus in anderer Bedeutung als noch das ἕλκειν im Ion. Während es dort die Rhapsoden waren, welche die Zuhörer parapsychologisch an sich zogen, so ist es hier ein immanenter Prozess des Hingerissenwerdens, der sich aus der spontanen Konfrontation mit dem Erhabenen im Zuhörer selbst ergibt. 234 Der Phantasiebegriff wird hier wiederum nach zwei artes geschieden, insofern es »dir [sc. Terentianus] nicht entgangen sein dürfte, dass die rhetorische und die dichterische Phantasie jeweils etwas Anderes wollen – weder [ist dir entgangen], dass das Ziel der dichterischen Phantasie die Erschütterung darstellt, noch [ist dir entgangen], dass dasjenige der rhetorischen jedoch die klare Darstellung ist; beiden ist indessen gemein, dass sie [. . . ] und erregen wollen.« (Long., sublim., 15, 2: »ὡς δ᾽ ἕτερόν τι ἡ ῥητορικὴ φαντασία βούλεται καὶ ἕτερον ἡ παρὰ ποιηταῖς, οὐκ ἂν λάθοι σε, οὐδ᾽ ὅτι τῆς µὲν ἐν ποιήσει τέλος ἐστὶν ἔκπληξις, τῆς δ᾽ ἐν λόγοις ἐνάργεια, ἀµφότεραι δ᾽ ὅµως τό τε * ἐπιζητοῦσι καὶ τὸ συγκεκινηµένον.«) Bedauerlicherweise fehlt in der Überlieferung der erste Teilaspekt der gemeinsamen Wirkziele. Es dürfte sich – auch wenn das nur eine Mutmaßung bleiben kann – allerdings mit einiger Wahrscheinlichkeit um einen Bewegungsausdruck, komplementär zum συγκεκινηµένον, gehandelt haben. 232
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4.b.α. Die Kraft des Erhabenen
An eine solche dynamische Bestimmung wird im achten Kapitel in noch differenzierterer Weise angeknüpft, als es in den ersten Passagen der Fall war. Es kann hinsichtlich der Explikation des Erhabenen als das zentrale gelten. Hierzu werden fünf Quellen der erhabenen Sprachkunst angeführt, deren gemeinsame Grundlage »die Redekraft [ist], ohne die überhaupt nichts wäre«. 235 Am wichtigsten sei hierbei die »Kraft hinsichtlich der Denkinhalte«. 236 Die zweite Quelle sei »das starke, begeisterte Pathos«. 237 Beide beruhen dabei »zum größten Teil auf eigenständiger Anlage«, 238 während die übrigen drei Quellen – dies sind die Figurenbildung (πλάσις τῶν σχηµάτων), die großartige Sprechweise (γενναία φράσις) sowie die Zusammenstellung in Wort und Satz (ἡ ἐν ἀξιώµατι καὶ διάρσει σύνθεσις) – »auch durch Kunst« 239 erlernt werden können. Somit finden sich selbst die im grammatischen Elementarunterricht vermittelten Figuren und Tropen im Rahmen eines wirkintensiven Begriffs vom Erhabenen wieder. 240 Auffällig ist bei alledem die gleichbleibende Grundstruktur, die sich nach den beiden Seiten des Autochthonen und des künstlich Erlernbaren richtet. Sie sind dem Traktat durchweg in Form eines Anschlusses an traditionelle Diskurse 241 wie auch immanenter Argumentationswege eingegeben, indem sie an ganz unterschiedliche Begründungszusammenhänge gekoppelt werden. In diesem Sinn genießt für die Bestimmung des Erhabenen die Klärung des Bezugs Ebd., 8, 1: »τῆς ἐν τῷ λέγειν δυνάµεως, ἧς ὅλως χωρὶς οὐδέν«. Ebd., 8, 1: »τὸ περὶ τὰς νοήσεις ἁδρεπήβολον«; vgl. zu dieser Junktur Liddell / Scott 9 ( 1982), s. v. »ἁδρεπήβολος«, 24: »power of forming great conceptions«. 237 Long., sublim., 8, 1: »τὸ σφοδρὸν καὶ ἐνθουσιαστικὸν πάθος«. Der Beitrag von Lackenbacher (1911) hierzu ist ebenso knapp wie mittlerweile überholt; vgl. besser hierzu Bompaire (1973). 238 Long., sublim., 8, 1: »κατὰ τὸ πλέον αὐθιγενεῖς«. 239 Ebd.: »καὶ διὰ τέχνης«. 240 Diese Lehrmeinung befindet sich durchaus im Einklang mit der poetologisch-rhetorischen Tradition, nach der sich auch syntagmatische Figuren und gedankliche Wendungen in die Affektenlehre einfügen lassen; vgl. Vickers (2008), 115: »So galten die Figuren und Tropen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als mimetischer Ausdruck spezifischer, klar definierter Gefühlszustände.« Dies führt Vickers im Folgenden noch genauer anhand des Demetrios-Kommentars zu Demosthenes aus, in dessen Tradition er auch (Ps.-)Longin berechtigterweise verortet (vgl. ebd., 116). Angesichts der sowohl formal wie auch lexikalisch stark regulierten attisch-sophistischen Kunstprosa ist an Vickers These eher anzuzweifeln, dass Aristoteles für die topische Verbindung von Figuren, Tropen und Affekten einen Archegeten darstellte; vgl. bereits die Ausführungen hierzu bei Norden (51958a), 12–47. Weiterhin lässt sich anführen, dass es keinesfalls ›nur‹ ein mimetischer Ausdruck der Sprecherpsyche ist, der den Figuren und Tropen in aristotelischer Tradition zukommt, sondern insbesondere eine äußere Wirkkraft, die sich noch an den Rezipienten ablesen lässt. 241 Zu diesen traditionellen Diskursen sind, wie die bisherigen historischen Betrachtungen gezeigt haben, maßgeblich die sophistischen, die akademischen sowie die poetologischen und rhetorischen zu zählen. 235
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von Kunst und Natur einen Vorrang, was sich ebenfalls bereits zu Beginn der Abhandlung zeigt: ἡµῖν δ᾽ ἐκεῖνο διαπορητέον ἐν ἀρχῇ, εἰ ἔστιν ὕψους τις ἢ βάθους τέχνη, ἐπεί τινες ὅλως οἴονται διηπατῆσθαι τοὺς τὰ τοιαῦτα ἄγοντας εἰς τεχνικὰ παραγγέλµατα. γεννᾶται γάρ, φησί, τὰ µεγαλοφυῆ καὶ οὐ διδακτὰ παραγίνεται, καὶ µία τέχνη πρὸς αὐτὰ τὸ πεφυκέναι· χείρω τε τὰ φυσικὰ ἔργα, ὡς οἴονται, καὶ τῷ παντὶ δειλότερα καθίσταται ταῖς τεχνολογίαις κατασκελετευόµενα. ἐγὼ δὲ ἐλεγχθήσεσθαι τοῦθ᾽ ἑτέρως ἔχον φηµί, εἰ ἐπισκέψαιτό τις, ὅτι ἡ φύσις, ὥσπερ τὰ πολλὰ ἐν τοῖς παθητικοῖς καὶ διηρµένοις αὐτόνοµον, οὕτως οὐκ εἰκαῖόν τι κἀκ παντὸς ἀµέθοδον εἶναι φιλεῖ, καὶ ὅτι αὕτη µὲν πρῶτόν τι καὶ ἀρχέτυπον γενέσεως στοιχεῖον ἐπὶ πάντων ὑφέστηκεν, τὰς δὲ ποσότητας καὶ τὸν ἐφ᾽ ἑκάστου καιρόν, ἔτι δὲ τὴν ἀπλανεστάτην ἄσκησίν τε καὶ χρῆσιν ἱκανὴ παρορίσαι καὶ συνενεγκεῖν ἡ µέθοδος[.] 242
Besonders hervor sticht in diesem Passus die programmatische Zentrierung des φύσις-Begriffs, der mit der Versicherung einhergeht, dass Kunst und Natur sich doch keinesfalls auszuschließen haben. Ein weiteres Mal – nachdem dies auch bereits bei Aristoteles beobachtet werden konnte – ist es die Regelhaftigkeit, die einen gemeinsamen Bestimmungsvektor von Kunst und Natur ausmacht. Anders gesprochen: Der natürliche Urgrund des Erhabenen wird nicht dadurch aufgehoben, dass zu seiner Umsetzung auch eine technische Methode benötigt wird. Das Erhabene tritt vielmehr aus beiden Urgründen hervor, die simultan zu denken sind, namentlich aus der natürlichen – bisweilen unsichtbaren – Naturimmanenz und der – äußerlich wahrnehmbaren – Fertigkeit. Diese konzeptuelle Verschränkung wird an keiner Stelle der Abhandlung ernsthaft in Zweifel gezogen, sondern immer wieder betont. 243 Dessen ungeachtet ergibt sich die Frage, was der Rede denn konkretermaßen zur Erhabenheit verhelfen könne. Und hierzu greift der Verfasser ein weiteres Mal auf die Diskurse zurück, Long., sublim., 2, 1: »Wir müssen indes gleich zu Beginn der Frage nachgehen, ob es eine Kunstfertigkeit des Erhabenen oder Tiefgründigen gibt, da manche ja meinen, es würden diejenigen sich gänzlich täuschen, die derartige Dinge in Kunstregeln überführen. Die großartigen Dinge nämlich, heißt es, werden geboren und sind nicht als lehrbare aufzufassen, und eine einzige Kunstfertigkeit führe zu ihnen, nämlich die Naturanlage; und die Werke der Natur werden, wie sie glauben, nur schlechter und im Ganzen kümmerlicher, wenn sie durch die Kunstregeln zum bloßen Knochengerüst gemacht werden. Ich hingegen behaupte, dass das Gegenteil bewiesen werden kann, wenn man in Erwägung zieht, dass die Natur zwar meistens im Pathetischen und Gehobenen nach eigenem Gesetz, nicht jedoch irgendwie willkürlich und ganz ohne Regel zu sein beliebt, und dass diese als Prinzip und urtümliches Element des Werdens in allen Dingen wirkt; dass ferner die Bestimmung des rechten Maßes und des jeweils richtigen Zeitpunkts und schließlich des richtigen Einübens und Gebrauchs eine Aufgabe der Verfahrensweise ist«. 243 Etwa im Zusammenhang mit der stilistischen Diskussion über die Verwendung von Hyperbata; vgl. ebd., 22, 1. 242
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die wir in unserer historischen Betrachtung entscheidend kennengelernt hatten, auf die Naturphilosophie, die Affektenlehre sowie auf den Aristotelismus. Teils zeigt sich das in verdichteter topischer Form: οὐκοῦν ἐπειδὴ πᾶσι τοῖς πράγµασι φύσει συνεδρεύει τινὰ µόρια ταῖς ὕλαις συνυπάρχοντα, ἐξ ἀνάγκης γένοιτ᾽ ἂν ἡµῖν ὕψους αἴτιον τὸ τῶν ἐµφεροµένων ἐκλέγειν ἀεὶ τὰ καιριώτατα, καὶ ταῦτα τῇ πρὸς ἄλληλα ἐπισυνθέσει καθάπερ ἕν τι σῶµα ποιεῖν δύνασθαι. ὃ µὲν γὰρ τῇ ἐκλογῇ τὸν ἀκροατὴν τῶν ληµµάτων, ὃ δὲ τῇ πυκνώσει τῶν ἐκλελεγµένων προσάγεται. οἷον ἡ Σαπφῶ τὰ συµβαίνοντα ταῖς ἐρωτικαῖς µανίαις παθήµατα ἐκ τῶν παρεποµένων καὶ ἐκ τῆς ἀληθείας αὐτῆς ἑκάστοτε λαµβάνει. 244
Während zunächst über Ausdrücke wie φύσει, πράγµατα, ὕλη, ἐξ ἀνάγκης etc. eine physiologische Diktion, wie man sie bereits in den Begriffstableaus von Aristoteles nachverfolgen konnte, entwickelt wird, ruft der paronomastische Gegensatz zwischen πράγµατα und παθήµατα zwei wesentliche Größen aus den poetologischen Traditionen auf: die Behandlung von Wirklichkeitssubstraten sowie die Erzeugung von Affekten. Vorrang im Rahmen einer solchen Bestimmung genießt gegenüber dem stofflichen Substrat – obschon es einen elementaren Naturgrund markiert (τινὰ µόρια ταῖς ὕλαις συνυπάρχοντα) – indes die Kraft des Erhabenen. Den Hörer an sich zu reißen, wie es hier vorgestellt wird, mehr noch, Affekte aus der Wahrheit selbst zu deduzieren (ἐκ τῆς ἀληθείας αὐτῆς), zeigt ein wesentliches Anliegen des Traktats an: die Überwindung einer strengen Teilung von philosophischer Wahrheitssuche und pathetischer Rührung in den sprachlichen Kunstwerken. In den Vordergrund gerückt werden zur Explikation zwei poetologisch-rhetorische Bestimmungsbereiche, die – wie gesehen – bereits seit vielen Jahrhunderten systematische Behandlungen erfahren haben; einerseits – wenn man etwa die Lehrgedichtstradition und Platons Politeia rekapituliert – die Lehr- und Denkinhalte; andererseits – wenn man etwa den platonischen Ion und Teile der aristotelischen Poetik fokussiert – die Affekte. Die Überwindung dieser Dichotomien zugunsten einer legitimen Stellung des Erhabenen gelingt vorwiegend über die Festigung genau eines Begriffs. Dieser lautet, wie im Folgenden ausgehend vom Pathos und der Noesis noch genauer zu zeigen sein wird, Kraft. Long., sublim., 10, 1: »Da ja nun an allen Dingen von Natur aus gewisse Bestandteile haften, die in ihrer Substanz enthalten sind, so sollte für uns notwendigerweise der Urgrund des Erhabenen darin bestehen, aus den Elementen stets die Wichtigsten auszuwählen und diese gerade wie in einem einzigen Körper miteinander verbinden zu können. Das eine zieht den Hörer durch die Wahl der Gegenstände, das andere durch die Verdichtung des Gewählten zu sich heran. Sappho zum Beispiel nimmt die Affekte, die sich aus den Liebesräuschen ergeben, jedes Mal aus den Begleitumständen und aus der Wahrheit selbst«. 244
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4.b.β. Noetisches und Pathetisches
Das Erhabene lässt sich in Bezug auf seine Kraft (δύναµις) – darin dem rhetorischen ingenium ähnlich und der θεία δύναµις des Ion unähnlich – sehr diversifiziert betrachten. So werden im Hauptteil des Traktats bereits die Urgründe eines solchen Vermögens nach verschiedenen Gesichtspunkten ausgeführt. Als maßgebliche Größen treten hierbei die Kraft der Denkinhalte und die Kraft des Pathos hervor. Zunächst zu den Denkinhalten: Diese liegen bereits ohne rednerische Verwirklichung vor, allerdings nicht, wie in der klassischen Rhetorik, in einem abstrakten Theoriegebäude, sondern in den höheren Seelenregionen des Menschen selbst, und somit in konkreter Wirklichkeit. Dieser Umstand mag auf den ersten Blick wie eine Selbstverständlichkeit anmuten, ist jedoch generell nicht unerheblich für eine poetologisch-rhetorische Theorie, die sich den Bewegungen in der menschlichen Seele verschreibt. Im Anschluss an ein pädagogisches Amalgam platonischer und stoischer Prägung, welches besagt, dass es notwendig sei, die Seelen zur Größe zu erziehen (τὰς ψυχὰς ἀνατρέφειν πρὸς τὰ µεγέθη) und mit edlen Gedanken gleichsam zu befruchten (ὥσπερ ἐγκύµονας ἀεὶ ποιεῖν γενναίου παραστήµατος), wird mit einer Frage des in Form eines Interlocutors herangezogenen Terentianus fortgefahren. Hierbei werden die hohe Gesinnung und die hohen Gedanken topisch miteinander verknüpft: τίνα, φήσεις, τρόπον; γέγραφά που καὶ ἑτέρωθι τὸ τοιοῦτον· ὕψος µεγαλοφροσύνης ἀπήχηµα. ὅθεν καὶ φωνῆς δίχα θαυµάζεταί ποτε ψιλὴ καθ᾽ ἑαυτὴν ἡ ἔννοια δι᾽ αὐτὸ τὸ µεγαλόφρον, ὡς ἡ τοῦ Αἴαντος ἐν Νεκυίᾳ σιωπὴ µέγα καὶ παντὸς ὑψηλότερον λόγου. 245
Die oberen Seelenvermögen und der Sitz des Ethos werden hier vor allem als Größen von hervorgehobener Dignität aufgerufen und in einer Abhängigkeit, namentlich in Form eines Widerhalls (ἀπήχηµα), zueinander gestellt. Ein Primärziel des Redners – oder im Falle des angeführten exemplum Aias eben: Schweigers – stellt in diesem Sinn die Erzeugung des Erhabenen in einem noetischen Bereich (ἔννοια) dar, der gar nicht explizit nach außen treten muss, um seine hohe Gesinnung (µεγαλοφροσύνη) auszudrücken. Das heißt freilich nicht, dass es okkasionell angebracht erscheinen kann, auch in den äußerlich wahrnehmbaren Gesichtspunkten einer Person Derartiges sichtbar 245 Long., sublim., 9, 2: »›Auf welche Weise [sc. erzieht man die Seele zur Größe und erfüllt sie mit edlen Gedanken]?‹, wirst du fragen. Ich habe anderswo ja schon etwa Folgendes geschrieben: Erhabenheit sei Widerhall von großer Gesinnung. Daher findet bisweilen schon ohne gesprochenes Wort der Gedanke für sich allein wegen seines hohen Sinns Bewunderung – in dem Sinn ist etwa das Schweigen des Aias in der Totenbeschwörung etwas Großes und Erhabeneres als jede Rede«.
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zu machen. Wenn es genau hierum geht, nähert sich der Autor des Traktats über den aus der rhetorischen Tradition bekannten Leitaspekt der richtigen Lebensweise einer Parallelisierung von Rede und Leben an. Diese an Cicero und Horaz gemahnende Figur lautet hier paraphrasiert: Die im Leben erkennbare Gesinnung (φρόνηµα, φρονεῖν) spiegelt sich auch in der Denkweise wider, woraus sich dann wiederum recht unmittelbar auch die Qualität der Worte des erhabenen – oder eben nicht erhabenen – Redners bemessen lasse. 246 Der Weg von der Lebens- zur Redeweise ist hier grundsätzlich konsistent zu denken. Es ist augenfällig, dass sich der Verfasser gerade in dieser Überzeugung durchaus leicht apodiktisch gibt: πρῶτον οὖν τὸ ἐξ οὗ γίνεται προυποτίθεσθαι πάντως ἀναγκαῖον, ὡς ἔχειν δεῖ τὸν ἀληθῆ ῥήτορα µὴ ταπεινὸν φρόνηµα καὶ ἀγεννές. οὐδὲ γὰρ οἷόν τε µικρὰ καὶ δουλοπρεπῆ φρονοῦντας καὶ ἐπιτηδεύοντας παρ᾽ ὅλον τὸν βίον θαυµαστόν τι καὶ τοῦ παντὸς αἰῶνος ἐξενεγκεῖν ἄξιον· µεγάλοι δὲ οἱ λόγοι τούτων, κατὰ τὸ εἰκός, ὧν ἂν ἐµβριθεῖς ὦσιν αἱ ἔννοιαι. 247
Die Kraft der gewichtigen Gedanken (ἔννοιαι ἐµβριθεῖς) kommt hier über eine nautische Metaphorik zur Darstellung; 248 sie wird geradezu als eine natürliche Folge aus der hohen Gesinnung ihres Urhebers heraus vorgestellt, woraus überhaupt eine hohe Vermögensweise resultieren könne. 249 Insgesamt zeigt sich in diesen Einlassungen, dass Lebens-, Denk- und Redeweise nur in einer Verschränkung zu sehen sind. Das Affektive und das Ethologische werden über das Erhabene allerdings noch enger geführt, als es sich für die Bereiche der Rhetorik und Poetik allein festmachen ließe. Einen durchgängigen Begründungsvektor Interessant ist, dass – wie wir in Kapitel II.5.b bei Cicero noch genauer sehen werden – auch hier nicht letztgültig bestimmbar erscheint, wem der kausale Vorrang in diesem Zusammenspiel gebührt, was also genau durch was bedingt wird. Ebenso wie bei Cicero ist dies aber auch gar nicht allzu entscheidend, solange beide Teilaspekte auf die Formung einer δύναµις (beziehungsweise bei Cicero: eines ingenium) hinarbeiten und schließlich deren / dessen Ausdruck darstellen. 247 Ebd., 9, 3: »Zunächst nun ist es notwendig, als eine Grundbestimmung festzusetzen, dass der wahre Redner keinen niedrigen oder unedlen Sinn hat. Auch ist es nämlich nicht möglich, dass Menschen, die ihr ganzes Leben lang kleinlich und unterwürfig denken und handeln, irgendetwas Bewundernswertes und der Ewigkeit Würdiges hervorbringen. Groß hingegen, versteht sich, sind die Worte derjenigen, deren Gedanken gewichtig sind«. 248 Das Adjektiv ›ἐµβριθῆς‹ wird in den ältesten Bezeugungen von Schiffstauen ausgesagt, findet sich jedoch metaphorisch dann vor allen Dingen auf Sitte (ἦθος) und Gesinnung (φρόνηµα) bezogen; vgl. die einschlägigen Belegstellen (Herodot, Plutarch, Aristoteles), die Liddell / Scott (91982), s. v. »ἐµβριθῆς«, 421 anführt. 249 Es ist gerade aufgrund dieser sich vornehmlich an Produktivität orientierenden Verschränkung eine dynamisch-genetische und eben keine abstrakt-propositionale Bestimmungsweise, die den Gedanken (ἔννοιαι) hier zukommt. Konzeptuell zeigt sich daher auch eine größere Nähe zur νόησις (Denkakt) als zum νόηµα (Denkgegenstand). 246
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bildet dabei die diätetische Kraft des Urhebers, die sich in der Stärke seiner Denkinhalte und somit auch in der δύναµις des Erhabenen selbst niederschlägt. Die Kraft des Erhabenen speist sich an diesen Stellen ganz erheblich aus dem Urgrund der Geistesinhalte – und nicht der Affekte – seines Urhebers. Neben den Denkinhalten sei die zweite wichtigste Quelle für die Kraft des Erhabenen nun »das starke, begeisterte Pathos«. 250 In diesem Zusammenhang wird es geradezu zur Programmatik des Traktats erhoben, dem Pathos eine Neubehandlung 251 zukommen zu lassen, die letztlich zu dessen Sublimierung führen soll: θαρρῶν γὰρ ἀφορισαίµην ἄν, ὡς οὐδὲν οὕτως ὥς τὸ γενναῖον πάθος, ἔνθα χρή, µεγαλήγορον, ὥσπερ ὑπὸ µανίας τινὸς καὶ πνεύµατος ἐνθουσιαστικῶς ἐκπνέον καὶ οἱονεὶ φοιβάζον τοὺς λόγους. 252
Die Stelle schreibt sich über ein Inspirationsvokabular (µανία, πνεῦµα/πνεῖν, ἐνθουσιαστικῶς) merklich in die Diskussionen über göttliche Wirkkräfte ein, bezieht diese jedoch nicht so sehr auf die Rhapsodenperson, wie man es noch in Platons Ion beobachten konnte, sondern auf das Pathos selbst. Dieses muss bereits im Dichter vorhanden sein, jedoch nicht – wie bei Aristoteles – im Sinne eines Voraugenstellens, sondern in genuiner und ungebrochener Weise. Es erfährt bei (Ps.-)Longin eine merklich sinnlichere Prägung. Der Autor wendet sich in diesem Zusammenhang in einem recht ausführlichen Exkurs Homer zu – dies nach eigener Aussage aus zwei Gründen: zum einen, um festzustellen, dass auch große Dichternaturen bisweilen allzu sehr ins episodische Ausschweifen gerieten 253 – ein Phänomen, das traditionellerweise mit der Überspannung des stofflichen Vermögens in Verbindung gebracht wird und
250 Long., sublim., 8, 1: »τὸ σφοδρὸν καὶ ἐνθουσιαστικὸν πάθος«. Vgl. hierzu den Artikel von Lackenbacher (1911) sowie den Beitrag von Bompaire (1973). 251 Die zu geringe Berücksichtigung der Affekte in Caecilius’ verlorengegangener kleiner Abhandlung über das Erhabene, wird vom Autor ausdrücklich kritisiert; vgl. Long., sublim., 8, 1. Ob das Studium dieses Traktats – wie vom Autor behauptet – den ›tatsächlichen‹ Anlass zum Verfassen von Περὶ ὕψους geboten hat, ist nicht entscheidbar. 252 Ebd., 8, 4: »Ich wage wohl frohen Mutes zu behaupten, dass nichts so sehr wie das echte Pathos an der richtigen Stelle einen erhabenen Eindruck schafft, das wie aus einer gewissen Raserei und eines [göttlichen] Hauchs heraus mit Begeisterung ausströmt und die Worte gewissermaßen von Phoibos ergriffen macht«. Im Gegensatz zu Schönberger (22002), 21 muss das φοιβάζον nicht unbedingt auf den apollinischen Wirkbereich des Prophetischen, sondern sollte noch dezidierter auf denjenigen der Dichtkunst bezogen werden. Dies steht in keinem Widerspruch dazu, dass beide Bereiche in der Antike – etwa anhand des poeta vates-Topos – mitunter enge semantische Verbindungen eingehen. 253 Vgl. Long., sublim., 9, 14.
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einen basalen technischen Fehler darstellt; 254 zum anderen, dass Dichternaturen höchstselbst durchaus mit erschlaffender Leidenschaft zu kämpfen haben. Das im Dichter vorhandene Pathos ist daher für dessen Produktivität zuständig und lässt sich darüber hinaus auch in gattungspoetische Aussagen überführen: δευτέρου δὲ εἵνεκα προσιστορείσθω τὰ κατὰ τὴν ᾿Οδυσσείαν, ὅπως ᾖ σοι γνώριµον ὡς ἡ ἀπακµὴ τοῦ πάθους ἐν τοῖς µεγάλοις συγγραφεῦσι καὶ ποιηταῖς εἰς ἦθος ἐκλύεται. τοιαῦτα γάρ που τὰ περὶ τὴν τοῦ ᾿Οδυσσέως ἠθικῶς αὐτῷ βιολογούµενα οἰκίαν οἱονεὶ κωµῳδία τίς ἐστιν ἠθολογουµένη. 255
Auf eine Formel gebracht, führt zu wenig Pathos zu einem Übermaß des Ethos; letzteres wiederum stellt ein konstitutives Merkmal der Charakterkomödie (κωµῳδία ἠθολογουµένη) dar. 256 Der Verlust des Pathos markiert somit auch einen Verlust an generischer Höhe, insofern die Charakterkomödie sich bei all ihren Vorzügen nach antikem Verständnis kaum mit dem genus grande des Versepos – einer Gattung, der die Odyssee mühelos entsprechen sollte – messen kann. 257 Eine solche generische Aussage kann indes nur einen Teilaspekt des Affektiven, nämlich dessen Implementierung in ein literarisches Werk, beschreiben. Es müssen indes darüber hinaus bestimmte Bedingungen erfüllt sein, um einen Affekt in actu erhaben zu machen: zum einen sollten die Leidenschaften nicht singulär auftreten, sondern nur in einer Versammlung von Affekten (παθῶν σύνοδος), die dann erst im dichterischen Werk zu einem Ganzen vereinigt werden (συναίρεσις). 258 Die Übertragung des aristotelischen Formalkriteriums einer σύστασις πραγµάτων auf den Bereich seelischer ReEs sei hier an Aristoteles’ Diktum erinnert, nach dem die Dichter »den Erzählstoff nicht über sein Vermögen hinaus strapazieren« (Aristot., poet., 9, 1451b38: »παρὰ τὴν δύναµιν παρατείνοντες τὸν µῦθον«) sollen. 255 Long., sublim., 9, 15: »Aus einem zweiten Grund noch seien die Beobachtungen zur Odyssee angemerkt: dass du nämlich darüber einsichtig wirst, dass erschlaffende Leidenschaft bei großen Schriftstellern und Dichtern sich in einer Charakterdarstellung auflöst. So nämlich sind seine [sc. Homers] sittlichen Lebensschilderungen vom Hause des Odysseus gewissermaßen eine Charakterkomödie«. 256 Diese Korrelation wird in den klassizistischen Debatten des 18. Jahrhundert noch eine wichtige Rolle spielen – insbesondere in Auseinandersetzung mit der französischen Antikenrezeption sowie mit den Kategorien der lexis und des mythos. 257 Dass also eine als majestätisch geltende Gattung wie das Versepos ausgerechnet von der Frage nach menschlichen Affekten bestimmt wird, mag aus einer voreingenommenen Sichtweise ein wenig überraschen, wird jedoch plausibel, wenn man in Erwägung zieht, dass bereits das Initialwort der überlieferten europäischen Literatur die µῆνις (›Groll‹) des Achilleus ist, die geradezu als thematische Einführung in die Ilias gelten darf. Auch im weiteren Verlauf ist es dort ganz wesentlich der Widerstreit der Affekte, über den die Konflikte zwischen Figuren wie Agamemnon, Menelaos und Paris aufgerufen und fortgeführt werden. Versepos und Affekte sind also seit ihrer nachvollziehbaren Überlieferung eng miteinander verknüpft. 258 Vgl. Long., sublim., 10, 3. 254
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gungen wird hier in Form eines Sappho-Lobs vollzogen. Denn das Auswählen und wechselseitige Verbinden (ἐκλέξαι καὶ εἰς ἄλληλα συνδῆσαι) der Höhepunkte (τὰ ἄκρα) und Spannungen (ὑπερτεταµένα) der Affekte könne als ihr eigentümlicher Vorzug gepriesen werden. 259 Ein drittes Merkmal für den hohen Wert eines Affektes stellt dessen Spontaneität dar. Denn pathetische Mittel reißen nach Meinung des Sprechers gerade dann stärker mit, wenn sie im Augenblick geboren werden: ἄγει γὰρ τὰ παθητικὰ τότε µᾶλλον, ὅταν αὐτὰ φαίνηται µὴ ἐπιτηδεύειν αὐτὸς ὁ λέγων, ἀλλὰ γεννᾶν ὁ καιρός, ἡ δ᾽ ἐρώτησις ἡ εἰς ἑαυτὸν καὶ ἀπόκρισις µιµεῖται τοῦ πάθους τὸ ἐπίκαιρον. 260
Der Ausbruch der Leidenschaft wird zwar nach wie vor als mit der Fiktion verhafteter (µιµεῖται), jedoch in seiner Intensität gewissermaßen als ein vom Augenblick selbst hervorgebrachter gedacht. Die von einer unmittelbaren Frage ausgehende Bedrängtheit des Empfängers und dessen Zwang zur Antwort bildet hier das Gleichnis zur Illustration der besagten Unmittelbarkeit. 261 Die im Folgenden aufgeführten Beispiele aus Prosa (Xenophon) und Poesie (Homer) zeigen an, dass die sublimierende Funktion, die den Affekten hier zugeschrieben wird, auch auf die Literar- beziehungsweise Autorenkritik auszuweiten ist. Dementsprechend sollte sich diese, wie das Erhabene selbst, an Paradigmen von Natur, Kraft und Pathos – und nicht so sehr an einer abstrakten Mustergültigkeit – orientieren. Anders gewendet: Ebenso wenig, wie das Erhabene für den Verfasser in metaphysischen Höhen aufgeht, sind die Vorbilder in Poesie, Rhetorik und Historiographie in einer der Welt entrückten Sphäre zu verorten. Da Περὶ ὕψους eine solche Autorenkritik so konsequent eingegeben ist, dass sie zu den wichtigsten Elementen des Traktats gezählt werden kann, sei dieser Aspekt nochmals gesondert aufgegriffen.
Vgl. ebd., 10, 1. Es folgt ebd., 10, 2 ein Zitat des bereits in der Antike vielgerühmten, von Catull im carmen 51 adaptierten φαίνεται µοι-Fragments zur Illustration ebendieser Vorzüglichkeit. 260 Long., sublim, 18, 2: »Das Pathetische nämlich treibt dann umso stärker an, wenn es nicht der Sprechende selbst als Mittel zu verwenden, sondern der Augenblick hervorzubringen scheint; ja, die Frage und die Antwort an sich selbst ahmt das Aufkommen der Leidenschaft nach«. Vgl. zur Junktur »τοῦ πάθους τὸ ἐπίκαιρον« Liddell / Scott (91982), s. v. »ἐπίκαιρος«, 635: »spontaneous outburst of passion«, wo sich auf ebendiese Stelle bezogen wird. 261 Im Folgenden (Long., sublim., 18, 2, sowie ebd., 19, 1, wobei in der Überlieferung vier Seiten verloren sind) wird dieser Aspekt noch weiterentwickelt und dabei auf die Wortfügungen beziehungsweise -fluss selbst bezogen. Bei mitreißenden Autoren nämlich würden »die Worte hervorbrechen und sich gleichsam ergießen, wobei sie dem Sprechenden selbst schon fast zuvorkommen.« (ebd., 19, 1: »ἐκπίπτει καὶ οἱονεὶ προχεῖται τὰ λεγόµενα, ὀλίγου δεῖν φθάνοντα καὶ αὐτὸν τὸν λέγοντα.«). 259
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4.b.γ. Autorenkritik
Bei den im Traktat verhandelten Kräften handelt es sich vor allem um Individualvermögen. Darauf, dass ihr Anspruch eben nicht allgemeiner, sondern spezifischer Natur ist und dass die Leidenschaften auch in ihrer weiteren Verkettung (aus der Interiorität des Urhebers über dessen Worte bis hin zu den Rezipienten) nicht ihren Status als Leidenschaften einbüßen, 262 gründet sich die Autorenkritik, die in Περὶ ὕψους verfolgt wird. Diese findet sowohl über Beurteilungen immanenter Kräfte als auch über äußere Vergleiche statt: Zum einen sind Dichter und Redner selbst nicht mehr vor Kraftverlusten gefeit. Wie bereits gesehen, kann selbst Homers Vermögen durchaus nachlassen – das heißt, er büßt an göttlicher Beseeltheit (πνεῦµα) ein; 263 zum anderen lässt sich das Pathos auch zwischen den Dichtern und Rednern als Vergleichsmoment ansetzen. So werden Demosthenes und Platon dezidiert über den Aspekt ihrer Leidenschaftlichkeit verglichen: ὅθεν οἶµαι κατὰ λόγον ὁ µὲν ῥήτωρ ἅτε παθητικώτερος πολὺ τὸ διάπυρον ἔχει καὶ θυµικῶς ἐκφλεγόµενον, ὁ δὲ καθεστὼς ἐν ὄγκῳ καὶ µεγαλοπρεπεῖ σεµνότητι οὐκ ἔψυκται µέν, ἀλλ᾽ οὐχ οὕτως ἐπέστραπται. 264
An dieser Stelle klingt die antike Stillehre aus der römischen, spätrepublikanischen Zeit an – noch bezogen auf den Gegensatz von Philosophie und Rhetorik sowie auf den Bereich der griechischen Vorbilder. Es kommen hierfür Kategorien ins Spiel, denen über Hitze und Kälte Wirkintensität zugeschrieben wird. Werden die Vergleichsgrößen indes geändert, also ein Grieche mit einem Römer in demselben Professionsbereich verglichen, so erfährt auch die Bildebene noch eine merkliche Erweiterung. Aber auch in dem Fall kommt der Autor nicht ohne Naturparadigmen aus, die Kraft und Stärke bedeuten. So unterscheide sich etwa Demosthenes gerade in seiner Schnelligkeit, Kraft und Leidenschaft selbst noch von Cicero: ὁ µὲν γὰρ ἐν ὕψει τὸ πλέον ἀποτόµῳ, ὁ δὲ Κικέρων ἐν χύσει, καὶ ὁ µὲν ἡµέτερος διὰ τὸ µετὰ βίας ἕκαστα, ἔτι δὲ τάχους ῥώµης δεινότητος οἷον καίειν τε ἅµα Ganz im Gegensatz zum Ion, wo sie in einem späteren Stadium mit der Episteme gleichsam kollidieren mussten. 263 Vgl. Long., sublim., 8, 13. Deren stärkste Präsenz habe sich in der Verfassung der Ilias ausgedrückt und in der Odyssee bereits nachgelassen. 264 Ebd., 12, 3: »Somit meine ich dementsprechend, dass der eine Redner [sc. Demosthenes], da er viel leidenschaftlicher ist, viel Glut und heftig brennendes Feuer besitzt, dass aber der andere [sc. Platon], da er in Hoheit und hoher Würde verharrt, zwar nicht abgekühlt, aber auch nicht so mitreißend ist«. Das Adjektiv πολύ kann – anders als bei Schönberger (22002), 39 – durchaus in apò koinoû-Stellung in steigernder Funktion zu παθητικώτερος und τὸ διάπυρον gesehen werden. 262
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καὶ διαπράζειν σκηπτῷ τινι παρεικάζοιτ᾽ ἂν ἢ κεραυνῷ, ὁ δὲ Κικέρων ὡς ἀµφιλαφής τις ἐµπρησµός, οἶµαι, πάντη νέµεται καὶ ἀνειλεῖται, πολὺ ἔχον καὶ ἐπίµονον ἀεὶ τὸ καῖον καὶ διακληρονοµούµενον ἄλλοτ᾽ ἀλλοίως ἐν αὐτῷ καὶ κατὰ διαδοχὰς ἀνατρεφόµενον. 265
Dass Demosthenes – wie der Verfasser hier betont – die Zuhörer ›mit Gewalt‹ (µετὰ βίας) an sich reiße, mag wie eine geradezu brachiale Einlassung anmuten. Die konstatierte Gewalt beruht elementar auf Wirkkraft und Geschwindigkeit; das entsprechende asyndetische Trikolon (τάχους ῥώµης δεινότητος) bereitet im Folgenden auf die im Bild des Gewitters kulminierende Idee des rhetorischen Vermögens vor; die aufsteigende Silbenzahl bildet dabei das Hervorbrechen ab, wie es die für den Autor so wichtigen Aspekte der Gebundenheit an den Augenblick und der Spontaneität einfordern. Bei Cicero sei es hingegen die innere Komplexität (ἄλλοτ᾽ ἀλλοίως ἐν αὐτῷ), die ihn zu einer so wirkmächtigen Rednerperson mache. Gerade weil seine psychologische Innenwelt an diversen Stellen so unterschiedlich eingefärbt – beziehungsweise in trophologischer Manier genährt ist (ἀνατρεφόµενον) –, kann er auch die Seelen der Zuhörer in entsprechender Weise bewegen. Urwüchsigkeit und Diversität können daher als die beiden Immanenzen gelten, die das Rede- und Wirkvermögen eines Redners bestimmen. In den folgenden Passagen wird ein solch dynamische Psychagogik in den Diskussionen über die Autoren weitestgehend aufrechterhalten. Die imitatio und aemulatio auctorum werden dabei wie selbstverständlich mit in den Argumentationsgang einbezogen: ἐνδείκνυται δ᾽ ἡµῖν οὗτος ἁνήρ, εἰ βουλοίµεθα µὴ κατολιγωρεῖν, ὡς καὶ ἄλλη τις παρὰ τὰ εἰρηµένα ὁδὸς ἐπὶ τὰ ὑψηλὰ τείνει. ποία δὲ καὶ τίς αὕτη; τῶν ἔµπροσθεν µεγάλων συγγραφέων καὶ ποιητῶν µίµησίς τε καὶ ζήλωσις. καί γε τούτου, φίλτατε, ἀτρὶξ ἐχώµεθα τοῦ σκοποῦ· πολλοὶ γὰρ ἀλλοτρίῳ θεοφοροῦνται πνεύµατι τὸν αὐτὸν τρόπον, ὅν καὶ τὴν Πυθίαν λόγος ἔχει τρίποδι πλησιάζουσαν, ἔνθα ῥῆγµά ἐστι γῆς ἀναπνεῖν ὥς φασιν ἀτµὸν ἔνθεον, αὐτόθεν ἐγκύµονα τῆς δαιµονίου καθισταµένην δυνάµεως παραυτίκα χρησµῳδεῖν κατ᾽ ἐπίπνοιαν. 266 Long., sublim., 12, 4: »Der eine [sc. Demosthenes] nämlich wirkt meist durch eine scharf abgeschnittene Höhe, Cicero hingegen durch ein Ausgießen. Und weil der unsrige [sc. Demosthenes] alles mit Gewalt, dazu noch mit Schnelligkeit, Stärke und Eindringlichkeit gewissermaßen in Flammen setzt und zugleich fortreißt, könnte man ihn einem Blitz oder Donner gleichstellen. Cicero hingegen greift, meine ich, wie eine Feuersbrunst überall um sich und erfasst alles mit starker, dauernder Glut, die sich in ihm an verschiedenen Orten auf verschiedene Weise verteilt und immer wieder nährt«. 266 Ebd., 13, 2: »Dieser Mann [sc. Platon] führt uns vor, wenn wir es nicht außer Acht lassen wollen, dass noch ein anderer Weg außer dem Genannten sich zum Erhabenen erstreckt. Welcher 265
Komplexe Vermögensbegriffe
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Dieser nicht nur für die poeta vates-Topik einflussreiche Passus bewegt sich in seiner eigenen Gedankenführung selbst mit regelrechter Rasanz von Platon – und damit von dessen Ideenhimmel – bis hin zur delphischen Pythia – und damit bis zu deren chthonischer Inspirationstiefe. Parallel werden dabei die poetologisch bedeutsamen Bereiche von Nachahmung und Wetteifer (µίµησίς [∼ imitatio] und ζήλωσις [∼ aemulatio]) zur göttlichen Kraft (τῆς δαιµονίου [. . . ] δυνάµεως [∼ vis divina]) hin entwickelt. Es kann kaum genug betont werden, dass es sich bei der Ausführung dieser Größen hier gerade nicht um eine Assimilation an ein vorausgesetztes Muster handelt, sondern vielmehr um eine göttliche Kraftübertragung – wodurch sowohl die θεία δύναµις-Diskurse aus dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. eine Regeneration erfahren als auch die Vorstellungen von dichterischer Vorbildhaftigkeit erweitert werden. Wettstreit und Nacheifern zwischen den Dichtern setzen demzufolge Kräfte höchster Dignität frei. Das Zusammenführen eines derartigen Begriffsbestands, der sich nicht zuletzt im prägnanten Ausdruck des ἔνθεον niederschlägt, erfüllt somit die Funktion, ein allzu starres Nachahmungsdenken durch den Hinweis auf den dynamischen Urgrund des Dichtens und der Dichter in doppelter Hinsicht wieder auf sein Fundament zu stellen. Und dieses Fundament heißt Kraft.
5. Komplexe Vermögensbegriffe 5.a. Aristoteles’ Poetik als Verbund von Extensivierung und Intensivierung
Bei Aristoteles liegt der Vergleich mit Platon nahe, da hierdurch das Neuartige der Poetik deutlich gezeigt werden kann: Während in Platons Politeia eine von der Ideenlehre geprägte Hierarchie von den εἴδη und ἰδέαι hinab zu den φαντάσµατα und ποιήµατα vorherrschte und sich im Ion das dialektische Wechselspiel zwischen epistemischen und dynamischen Größen bewegte, lässt sich bei Aristoteles als grundlegende Richtung erkennen, die Entwicklungen, die sich in der akademischen Philosophie und der sophistischen Aufklärung zusehends auf die epistemische Seite der Dichtkunst verschlugen, auf eine neue Systematik hin auszurichten. Dabei werden die formgebenden Aspekte der Poiesis neu betont. Aristoteles' Philosophie behandelt, im Gegensatz zu Platon, ist es und wie ist er beschaffen? Es ist die Nachahmung und der Wetteifer gegenüber den früheren großen Schriftstellern und Dichtern. Und an diesem Ziel wollen wir, bester Freund, hartnäckig festhalten. Viele nämlich werden durch fremden Anhauch mit Gott erfüllt – auf dieselbe Weise, die man von der Pythia berichtet: Nähere sich diese nämlich einem Dreifuß bei einem Erdspalt, so hauche dieser, wie man sagt, göttliche Dämpfe aus, und sie empfange daraus eine göttliche Kraft und weissage sogleich durch den Anhauch«.
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die epistemische Frage in den sprachlichen Künsten kaum mehr als eine grundlegende; 267 er tut dies erst recht nicht in Bezug auf die Fachwissenschaften. Vielmehr veranschlagt er für die sprachlichen Disziplinen einen Anspruch auf Allgemeinheit, wie ihn die Rhetorik und Dialektik verkörpern. Er ergibt sich aus den Diziplinen selbst und bedarf keiner ausführlichen Herleitung. Diejenige Schrift, in der dieser Gedanke wohl am prägnantesten formuliert wird, ist die Rhetorik selbst: ἀµφότεραι γὰρ περὶ τοιούτων τινῶν εἰσιν ἃ κοινὰ τρόπον τινὰ ἁπάντων ἐστὶ γνωρίζειν καὶ οὐδεµιᾶς ἐπιστήµης ἀφωρισµένης. διὸ καὶ πάντες τρόπον τινὰ µετέχουσιν ἀµφοῖν. πάντες γὰρ µέχρι τινὸς καὶ ἐξετάζειν καὶ ὑπέχειν λόγον καὶ ἀπολογεῖσθαι καὶ κατηγορεῖν ἐγχειροῦσιν. 268
Man mag in dieser Äußerung auch einen Versuch erkennen, den durch die akademische Kritik an der Sophistik leicht ramponierten Ruf der Rhetorik wiederherzustellen. Denn das Allgemeine, dem hier der Kompetenzanspruch des Redners entsprechen möge, genießt bei Aristoteles – wie im Übrigen auch die Poetik zeigen wird – grundsätzlich eine höhere Wertigkeit als das Spezielle. Der gute Redner behält es sich daher stets vor, über alle Gegenstände sprechen zu können und erhebt sich dadurch indirekt über die Spezialwissenschaften. Er ist es, der die Gemeinplätze (τόποι) beherrscht. Man könnte ihn, auch wenn das mit einer gewissen Hybris einherginge, in diesem Punkt selbst als dem Philosophen überlegen bezeichnen. 269 Der souveräne Umgang mit den unterDiese Abgrenzung trifft Aristoteles mit größtmöglicher Klarheit in der Schrift Peri hermeneias, wo er programmatisch ankündigt, nur Aussagen mit Wahrheitswert behandeln zu wollen. Die Rhetorik und Poetik seien demgegenüber, da sie eben nicht vorrangig auf den propositionalen Wahrheitsgehalt einer Aussage abzielten, als Disziplinen von der logischen Sprachbetrachtung (›Hermeneutik‹) abzugrenzen; vgl. Aristot., herm., 4, 17a4–7: »Οἱ µὲν οὖν ἄλλοι ἀφείσθωσαν – ῥητορικῆς γὰρ ἢ ποιητικῆς οἰκειοτέρα ἡ σκέψις –, ὁ δὲ ἀποφαντικὸς τῆς νῦν θεωρίας.« (»Die übrigen [Redeformen] seien nun beiseite gelassen – denn deren Betrachtung ist der Rhetorik oder der Poetik angemessener –, die aussagende Redeform ist vielmehr Gegenstand der jetzigen Betrachtung.«) Für Platon hingegen gingen aus genau solchen epistemologischen Fragen noch die wichtigsten Kritikpunkte hervor: Die Rhetorik ziele nicht auf die Wahrheit ab, sondern vermöge im schlimmsten Falle Menschen sogar vom Unwahren zu überzeugen, und die Poesie ziele nicht auf die höchste Seinsart ab, sondern könne den Menschen, in umgekehrter Richtung, vielmehr nur Scheinbilder von Scheinbildern vermitteln. 268 Aristot., rhet., 1, 1, 1354a1–6: »Denn beide [die Rhetorik und die Dialektik] befassen sich mit Dingen von solcher Art, deren Erkenntnis gewissermaßen allen [sc. Menschen] und nicht einer speziellen Wissenschaft gemein ist. Daher haben auch alle auf irgendeine Weise Anteil an beiden [Disziplinen]; denn alle bemühen sich bis zu einem gewissen Grad, ein Argument zu überprüfen oder zu stützen sowie sich zu verteidigen oder anzuklagen«. 269 Eine typisch sophistische Denkfigur, die auch in der römischen Antike noch häufiger aufgegriffen wird; vgl. besonders pointiert Cic., de orat., 3, 143: »[S]in eos diiungent, hoc erunt inferiores, quod in oratore perfecto inest illorum omnis scientia, in philosophorum autem cognitione non 267
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schiedlichsten Stoffen beschränkt sich daher nicht auf die Generierung und Darstellung von bestimmten Wissensformationen – Platon hätte mit der Applikation dieses Kriteriums, wie in Kapitel ii.3.b gesehen, hingegen eher geringe Schwierigkeiten –, sondern es stellt Aufgabe (ἔργον) und Vermögen (δύναµις) des Redners dar, das Überzeugende (πιθανόν) in einem jeden Redegegenstand zu erkennen und herauszustellen: πρὸς δὲ τούτοις ὅτι τῆς αὐτῆς τό τε πιθανὸν καὶ φαινόµενον ἰδεῖν πιθανόν, ὥσπερ καὶ ἐπὶ τῆς διαλεκτικῆς συλλογισµόν τε καὶ φαινόµενον συλλογισµόν· ἡ γὰρ σοφιστικὴ οὐκ ἐν τῇ δυνάµει, ἀλλ᾽ ἐν τῇ προαιρέσει. 270
Durch die topische Verbindung des πιθανόν mit der δύναµις (die hier ausdrücklich keine reine Absicht [προαίρεσις] darstellt, also nicht auf eine Handlungsebene [πρᾶξις] zu beschränken ist) erhalten die epistemischen Größen diejenigen Eingebungen, die auf Wirkungen – hier auf das Überzeugtsein des Rezipienten – abzielen. Diese Wirkungen spielen für das Rednervermögen offenkundig eine größere Rolle als der propositionale Wissens- und Wahrheitsgehalt, der in den Äußerungsgegenständen liegt – was freilich längst nicht heißt, dass das Überzeugende, das Wissen und das Wahre ein kontradiktorisches Verhältnis innehätten. Wichtig ist vielmehr, dass es hier weder einen Gott noch eine göttliche Idee gibt, welche(r) so etwas wie Wahrheit überhaupt stiften müsste. Die platonischen ἐπιστήµη/δύναµις-Aporien kommen somit gar nicht erst zur Geltung. Ähnliches gilt nun erklärtermaßen für die Poetik: Reine Wissensvermittlung ist für Aristoteles eines der denkbar unpoetischsten Ziele und daher ein leeres Argument, wollte man es – wie es noch Platon vorschwebte – gegen die Dichtkunst überhaupt ins Feld führen. Vielmehr scheint die Darstellung allgemeiner Weltzusammenhänge für Aristoteles eine gewichtigere Rolle bei der Bestimmung der Dichtkunst einzunehmen. Hierbei kann er an Traditionslinien anschließen, die – wie im historischen Verlauf bisher continuo inest eloquentia.« (»[W]enn man diese [Philosophen und Redner] jedoch unterscheiden wollte, so werden sie [die Philosophen] dadurch einen geringeren Rang einnehmen, dass sich in einem vollkommenen Redner das gesamte Wissen jener [Philosophen] befindet, in der Erkenntnisgabe der Philosophen jedoch nicht notwendig die Beredsamkeit vorhanden ist.«). 270 Aristot., rhet., 1, 1, 1355b15–17: »Hinzu kommt, dass es ihre [der Rhetorik] Aufgabe ist, das Überzeugende und das überzeugend Scheinende zu erkennen, wie es auch bei der Dialektik die Aufgabe ist, den Syllogismus und den scheinbaren Syllogismus [zu erkennen]: Die sophistische [Fertigkeit] nämlich gründet sich nicht auf ein Vermögen, sondern auf eine Absicht«. Der rhetorische Vermögensbegriff, hier noch in Abgrenzung zur Sophistik, jedoch in Analogie zur Dialektik vorgeführt, erfährt im Folgenden zusätzlich noch eine funktionale Bestimmung; vgl. ebd., 1, 2, 1355b25– 27: »ἔστω δὴ ἡ ῥητωρικὴ δύναµις περὶ ἕκαστον τοῦ θεωρῆσαι τὸ ἐνδεχόµενον πιθανόν. τοῦτο γὰρ οὐδεµίας ἑτέρας ἐστὶ τέχνης ἔργον.« (»Daher muss das rhetorische Vermögen darin bestehen, hinsichtlich eines jeden [Gegenstandes] das darin befindliche Überzeugende zu betrachten. Denn dies ist die Aufgabe keiner anderen Kunstfertigkeit.«).
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gesehen – seit der griechischen Archaik als Standardmotive gedient haben: an die Erfindungsgabe, die Substrate der Wirklichkeit und die Wirkweisen der Poesie. Wo nun die Rhetorik hieraus vor allem die Wirkweisen favorisiert, nimmt für die Dichtkunst der zweite Punkt eine gewisse Vorrangstellung vor den anderen beiden ein, wie Fuhrmann ausführt: Sie [die Poetik; D. B.] nahm auch auf und verwandelte sich an, was man außerhalb der Akademie über Fragen der Dichtkunst geäußert hatte. Es waren insbesondere drei Themen, welcher sich die ältere Tradition mehr oder minder intensiv angenommen hatte. An erster Stelle pflegte man über das Wesen und die Quellen der dichterischen Erfindung nachzudenken: Hierbei haben von Anfang an, seit Homer, die Kategorien der Inspiration und der Technik, der erlernbaren Regeln, eine Rolle gespielt. Desweiteren ging es in der älteren Tradition – von den Anfängen bis zu den Zeitgenossen des Sokrates, den Sophisten – um den Wirklichkeitsbezug der Dichtung, um die Frage also, wie sich die Dichtung zur Natur, zur Wahrheit verhalte und verhalten müsse. [. . . ] An dritter Stelle endlich diskutierte man über die Wirkungen und Wirkungszwecke der Dichtung, wobei man sich von der Antithese ›Vergnügen – Belehrung (Nutzen)‹ leiten ließ. Für die aristotelische Poetik war von alledem vornehmlich das Stratum von Bedeutung, das die Sophistik hinterlassen hatte. 271
Der hier vorgenommenen Gewichtung zugunsten eines vorwiegenden Bezugs auf Wirklichkeit, Wahrheit und Natur, der in der aristotelischen Poetik vorliege, lässt sich nach den Vorbetrachtungen in Kapitel ii.2 problemlos zustimmen – gleichwohl ist noch anzufügen, dass Wirklichkeit, Wahrheit und Natur nicht unbedingt in einem Verbund betrachtet werden sollten, sondern als jeweils selbständige Instanzen einzustufen sind und im vierten Jahrhundert v. Chr. mittlerweile in höchst diversifizierten Begründungsverhältnissen auftreten, nämlich in den benannten technischen, epistemischen und dynamischen. Das bedeutet auch, dass diese Zuschreibungen weder hinter die in Kapitel ii.3.c erläuterten Bedeutungsdimensionen der τέχναι noch hinter einen diese τέχναι umfassenden Beschreibungsanspruch zurückfallen dürfen. Genau dieser Anspruch ist es, den die aristotelische Philosophie – es genügt ein beliebiger Blick auf ein beliebiges Proömium – an sich selbst stellt und geradezu akribisch verfolgt. Für den Bereich, der uns hier am meisten interessieren soll, den der Poiesis (ποίησις), zeigt sich nunmehr ein τέχνη-Begriff bestimmend, der erheblich von einer produktiven 272 Aneignung von weltkonstitutiven Paradigmen Fuhrmann (2003), 71. Der von Aristoteles ausgeführten naturalistischen Analogie von τέχνη und φύσις folgend, meint ›produktiv‹ hier ein Prinzip des Hervorbringens, das auf einer menschlich-gestalterischen Form der Bewegung (κίνησις) beruht. 271 272
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geprägt ist, um diese dann in eine allgemeine Bedeutsamkeit zu überführen. Wie schon der im Proömium indizierte κατὰ φύσιν-Anspruch gerade nicht – wie man vielleicht mit Blick auf die Rezeptionsspanne der späteren römischen ingenium/natura-Debatten vermuten könnte – auf innere Anlagen des Dichters oder damit in Zusammenhang stehende Größen (enthousiasmós/furor poeticus) verweist, sondern ganz basal auf die naturgemäßen Anfangsgründe der Dichtkunst, so wird auch in den modallogischen Paradigmen der Naturphilosophie und Metaphysik eine eher regelgeleitet anmutende Zugriffsweise auf die Wirklichkeit beibehalten. Im Anschluss an die bisherigen Darstellungen zum Verhältnis von Dichtung und Weltvermögen sowie nicht zuletzt aus seiner eigenen Programmatik heraus lässt sich diese Perspektive in einem ersten Zugriff als extrinsisch geprägt auffassen. 273 Die Poetik erscheint als ein Traktat, der sich von der Frage nach der Dichterperson als solcher durchaus entfernt; was demgegenüber in den Mittelpunkt tritt, sind die Dimensionen von Stoff und Form des dichterischen Kunstwerks. Um nun die Verschränkung von Stoff und Form als ein Vermögen sui generis zu begreifen, genügt es nicht anzuführen, dass der κατὰ φύσιν-Anspruch erkennbar nicht auf die Dichterperson zu beziehen ist und dass interiore Produktionsaspekte in der aristotelischen Poetik – abgesehen von der kurzgehaltenen Erwähnung einer εὐφυία – eine merklich untergeordnete Rolle spielen. 274 Wichtiger ist demgegenüber, dass die überwiegende Zahl an Begründungsinstanzen sich auf die Wirklichkeit und deren Darstellungsmodi in der DichtUm ein mögliches Missverständnis zu vermeiden: Hierdurch ist keineswegs ausgesagt, dass die von Aristoteles herangezogenen und als konstitutiv behaupteten Eigenschaften den dichterischen Werken nicht in gewisser Weise ›innewohnen‹. Jedoch wird dasjenige, was die Dichtkunst in ihrer genuinen Machart auszeichnet – sei diese nun als sprachliche Substanz oder als Wirkvermögen gedacht – argumentativ nicht wie in der Physik aus physikalischer Technizität (gerade weil diese dort bereits umfassend und prospektiv beschrieben worden ist), sondern aus externen Bezugsbereichen gewonnen: Der Dichter, der Geschichtsschreiber und der Philosoph unterscheiden sich nicht dadurch, dass sie eine andere Gemütslage hätten, sondern dass sie einen nach unterschiedlichen Regeln geleiteten Zugriff auf die Welt verfolgen. Dazu bedarf es jedoch vorrangig einer Welt. 274 Vgl. die Vorstellung von einer εὐφυία in Bezug auf die Fähigkeit, Metaphern zu bilden (Aristot., poet., 22, 1459a6 f.) sowie in einem ähnlichen, jedoch auf die Rhetorik bezogenen Sinn auch Aristot., rhet., 3, 10, 1410b8. Dilcher (2009), 174 fasst die εὐφυία als eine wohlgeordnete Naturanlage und daher als Gegensatz zum manisch-ekstatischen Dichter auf. Dass der aristotelischen Auffassung von Begabung ein irrationales Moment fehlt, ist dabei einigermaßen unstrittig. Zu fragen wäre allerdings, ob der zweite Typus, gerade wenn er einem ἐνθουσιασµός, einer göttlich gestifteten Begeisterung entspringt, tatsächlich keinerlei, nicht einmal metonymischen Ordnungsprinzipien unterliegt. Gegenüber Kyriakou, für den »human nature in general and the artist’s nature and ἦθος in particular« (Kyriakou [1993], 351) in der aristotelischen Poetik geradezu gleichberechtigt nebeneinanderstehen, scheint doch der erste Aspekt eines allgemein gefassten menschlichen Fundamentalvermögens – gerade im Verhältnis zur Frage nach dem Individualvermögen eines Dichters – signifikant zu überwiegen. 273
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kunst beziehen. Auch die Mimesis bildet hierzu keine Ausnahme, sondern im Gegenteil das prominenteste Beispiel. Als anschlussfähig an Fuhrmanns Vorschlag erweisen sich Höffes Einlassungen, denen zufolge Mimesis weder ein naturalistisches Nachahmen noch in planer Entgegensetzung pure Fiktion [bedeutet, D. B.], sondern dass ihre Werke kein bloß innersprachliches Phänomen sind; sie beziehen sich vielmehr auf eine unabhängige, vorgängig existierende Wirklichkeit. 275
Hieran anschließend drängt sich allerdings die Frage auf, ob es sich – wie von Fuhrmann und Höffe angenommen – um einen bloßen Wirklichkeitsbezug handelt, mit dem in der Poetik operiert wird, oder um komplexere Verfahren, die hier für die Entstehung des poetischen Kunstwerks verantwortlich sind. Eine richtungsweisende Rolle zur Beantwortung dieser Frage spielt die im Proömium genannte δύναµις εἰδῶν. Die dort angeführte δύναµις scheint nur äußerst wenig mit göttlichen Anstößen, inneren Begabungen oder metonymischen Kraftübertragungen zu tun zu haben. Vielmehr drückt sich bereits in der Kopplung an das εἶδος ein Anspruch aus, der auf gewisse, von der Form herrührende Wirkprinzipien verweist. Ebendiese Formgebung ist nun gerade nicht als bare äußerliche Gestalt einzustufen (der von Aristoteles hierfür bevorzugte Begriff hieße ohnehin µορφή), sondern fußt auf mimetischen Prinzipien, die sich nach modallogischen und somit naturgemäßen Dimensionen ausrichten. Erst eine solche Fundierung verhilft – worauf noch genauer einzugehen sein wird – der Dichtkunst zu ihrer eigentümlichen Wirkkraft. Für Aristoteles leitend ist der Gedanke, dass ohne ein prospektives Vorverständnis einer äußeren Welt die Poiesis mit einiger Grundsätzlichkeit nicht gelingen kann. Hierdurch liegt es für den Leser nahe, zunächst von einer Überführung von Weltinhalten in poetische Inhalte auszugehen. Mithin erscheint es einerseits von großem Interesse, welche metaphysischen Prädikamente es sind, die Aristoteles' τέχνη ποιητική zu einer derart natürlich bestimmbaren machen, andererseits erscheint es dann erst recht erläuterungswürdig, wie aus einem vorangestellten Wirklichkeitsbezug – sollte es sich hierbei tatsächlich um eine Referenz-, Repräsentations- oder Assimilationsfunktion handeln – affektive Wirkungen erzielt werden können. Und schließlich stellt sich in diesem Zusammenhang die für unser Thema vielleicht drängendste Frage, welchen Umfang nämlich die δύναµις der poetischen Erscheinungsarten – auch in Abgrenzung zu den zeitgenössischen akademischen und sophistischen Auffassungen – hier eigentlich innehat. Denn neben ihrer proömialen Erwähnung findet sich die δύναµις in diversen Bestimmungsmomenten der Dichtkunst wieder. Dabei zeichnet sich 275
Höffe (2009), 3.
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in den jeweiligen Begründungskontexten ein vielschichtiger Vermögensbegriff ab, den wir bereits in der Naturphilosophie kennengelernt hatten. Wird er im Proömium als vorwiegend formaler eingeführt, so ist er in seinem weiteren Gebrauch auf Stoff und Form zu beziehen – etwa wenn gefordert wird, die Dichter sollten »den Erzählstoff nicht über sein Vermögen hinaus strapazieren«, 276 oder die Melopoiia sei »dasjenige, was sein Wirkvermögen gänzlich als offenbares besitzt.« 277 Während im ersten Fall die auf den mythischen Stoff bezogene δύναµις im Sinne eines intrinsischen Potentials auftritt, das durch die Dichtkunst erst zur angemessenen Wirksamkeit kommen solle, lässt sich die der Melopoiia zugewiesene δύναµις φανερά als eine den Sinnen geöffnete und daher bereits in ihrer energetischen Überführung befindliche auffassen. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Melopoiia um die lyrische Gestaltung der Dichtkunst handelt, deren Energetizität hier thematisiert wird, wird die δύναµις hier mit einem formalen Kriterium verknüpft. Mag Aristoteles mit all diesen Begrifflichkeiten taxonomisch in der Poetik auch nicht ganz so präzise operieren, wie er es in der Physik und der Metaphysik tut, so lässt sich dennoch anhand der beiden dynamischen Grundaspekte, zum einen des Potentials eines in der Welt vorzufindenden Stoffs, zum anderen der affektiven Wirkweisen, ein Gesamtbild nachzeichnen, das sich von der Tradition eines enthusiastischen Hervorbrechens weitestgehend entfernt, dafür jedoch dem Welt- und Rezipientenzugriff von Seiten der Dichter einen hohen Stellenwert zuschreibt. Hier ist gewissermaßen die Brücke zwischen der Welt und den Rezipienten zu vermuten. Daher sind es vor allem die strukturellen Beziehungen zwischen den kompositionellen und den wirkästhetischen Beschreibungsebenen, die zur Erläuterung der Vermögensweisen poetischer Artefakte beitragen. Unter besonderer Ansehung des Spannungsverhältnisses von εἶδος und µῦθος wird der Blick im Folgenden zunächst auf die formalen und die stofflichen Kategorien gerichtet, die dem dichterischen Kunstwerk prinzipiell zuordenbar sind. Die Blickrichtung dieser Beschreibung soll dabei bereits auf die für das Verhältnis von Dichtung und Welt entscheidende Kategorie, das Mögliche (δυνατόν) selbst abzielen.
276 Aristot., poet., 9, 1451b38: »παρὰ τὴν δύναµιν παρατείνοντες τὸν µῦθον« – ein Appell, den auch Horaz in der Ars poetica noch aufgreifen wird; vgl. Hor., ars, 38–40: »Sumite materiam vestris, qui scribitis, aequam / viribus et versate diu, quid ferre recusent, / valeant umeri. cui lecta potenter erit res,/nec facundia deseret hunc nec lucidus ordo.« (»Nehmt, die ihr schreibt, einen Stoff, der euren Kräften entspricht, und erwägt lange, was eure Schultern zu tragen verweigern und was sie [sc. tragen] können. Demjenigen, der die Sache mit der nötigen Kraft gewählt hat, wird es nicht an Redegewandtheit und klarer Ordnung fehlen.«). 277 Aristot., poet., 6, 1449b35 f.: »ὃ τὴν δύναµιν φανερὰν ἔχει πᾶσαν«.
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5.a.α. Formale Ansprüche
Nach Aristoteles besteht eine Darstellung von Handlungen (µίµησις πράξεων) im sprachlichen Kunstwerk konkreterweise in einer Zusammenstellung von Gegebenheiten (σύστασις πραγµάτων). Die Bestandteile der Poesie erscheinen nicht ungeordnet, vielmehr folgen sie Kriterien der Kohärenz, die den poetischen Erscheinungsformen zuzukommen hat. Die τέχνη ποιητική verhält sich mithin dann naturgemäß, wenn sie eine gewissen Anforderungen genügende Struktur an Entitäten im Gedicht hervorbringt; diese Zusammenstellung gehört somit zu den wichtigsten Ansprüchen, die an die Dichtkunst überhaupt gestellt werden können. 278 Angesichts einer differierenden Begriffswahl – hier sind die µίµησις gegenüber der σύστασις und die πράξεις gegenüber den πράγµατα zu nennen – erscheint es etwas eng gefasst, ein πρᾶγµα mit einer πρᾶξις gänzlich gleichzusetzen, also in beiden Fällen von ›Handlungen‹ zu sprechen. Für die weitere Betrachtung sei daher für πρᾶγµα als heuristischer Terminus ›Gegebenheit‹ vorgeschlagen. 279 Dies schließt mit ein, dass diese im Kunstwerk auftretenden Gegebenheiten von Aristoteles bald konkreter, 280 bald abstrakter 281 gefasst werden können. Die Erläuterung derartiger Einheiten nach quantitativen und qualitativen Aspekten spielt bereits entsprechend den Äußerungen im Proömium (ἐκ πόσων καὶ ποίων) eine funktional höchst relevante Rolle für die Poetik: Ein Mythem wie ›Ödipus tötet seinen Vater‹ lässt sich, je nach veranschlagter Ebene, nicht nur im engeren Sinn als Handlung Vgl. etwa ebd., 6, 1450a15: »µέγιστον δὲ τούτων ἐστὶν ἡ τὼν πραγµάτων σύστασις« (»Am wichtigsten von diesen [Teilen der Tragödie] ist indes die Zusammenstellung der Gegebenheiten«) oder ebd., 7, 1450b22 f.: »ἐπειδὴ τοῦτο καὶ πρῶτον καὶ µέγιστον τῆς τραγῳδίας ἐστίν.« (»da dies das Erste und Wichtigste an der Tragödie ist.«). 279 Die meisten verbreiteten Übersetzungen scheinen durchaus ähnliche Bedenken zu haben; vgl. Schönherr (1972) und Fuhrmann (32008) sowie in jüngerer Zeit Schmitt (22011). Dass es bei den hier genannten πράγµατα nicht direkt und ausschließlich um Handlungen oder Taten geht, drücken Schönherr (1972), 27 und Fuhrmann (32008), 21 in ihren Übersetzungen mit »Begebenheiten« beziehungsweise ›Geschehnisse[n]‹ aus. Eine sehr allgemeine und dadurch eher ungenaue Übersetzung wäre es, von ›Sachen‹ oder ›Dingen‹ zu sprechen. Der hier vertretene Vorschlag ›Gegebenheiten‹ möchte – auch in Abgrenzung zum dynamischeren Begriffsaspekt der πράξεις – auf die Anordnung abgeschlossener oder zumindest abschließbar gedachter Sachlagen und Umstände abzielen. Denn gegenüber dem recht beliebten Translationsausdruck ›Sache‹ betont ›Gegebenheit‹ den im µα-Suffix enthaltenen Aspekt der Abgeschlossenheit. Nach Liddell / Scott wird dieser Sachaspekt vor allem im Pluralgebrauch repräsentiert – vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »πρᾶγµα«, 1457: »in pl., πράγµατα, 1. circumstances, affairs« –, der in der Poetik wiederum die häufigste Erscheinungsform ist. 280 Vgl. Aristot., poet., 6, 1450a33, dort auf die Stoffe bezogen. 281 Vgl. ebd., 7, 1451a10, dort anhand ihrer Natur, Größe und Fassbarkeit diskutiert. Es mag ein wenig überraschen, dass auch Platon bereits von dieser einer solch ›höheren‹ Semantik Gebrauch machte – bisweilen gar im Rahmen der Ideen- und Seelenlehre; vgl. Plat., Phaid., 66e2. 278
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(πρᾶξις) oder als stoffliche Grundlage (µῦθος) auffassen, sondern in seiner vorzüglichsten Weise als Sachverhalt, dem es innewohnt, auf etwas allgemein Bedeutsames zu verweisen, und der daher geradezu als ein solches gelten kann. 282 Seine Bedeutsamkeit erschließt sich jedoch keineswegs allein aus seiner topischen Präsenz heraus, sondern erst im Verhältnis zu weiteren Entitäten – eben in jener benannten σύστασις πραγµάτων. Ihrer eigenen Substanz nach sind die πράγµατα, ganz in der Tradition stofflicher Dispositive, nach wie vor an den Mythos gebunden; 283 unter dem Mythos ist demnach kein statisches Reservoir an Erzählungen oder Geschichten zu verstehen, das dann vom Dichter nach Belieben auszuschöpfen wäre – ein solches Bestreben wäre nach Aristoteles dezidiert »lächerlich« 284 zu nennen –, sondern, wie in der Neuzeit vor allem Lévi-Strauss in seinem strukturanalytischen Ansatz aus einer universal-anthropologischen Perspektive heraus vorgeschlagen hatte, als ein Beziehungsbündel aufzufassen, das vorwiegend in einem Verhältnis zu anderen Erzähl- und Verstehenspatterns einzuordnen ist. Der Mythos erscheint seinem Sinngehalt nach hier nicht orphisch tief oder dunkel, sondern enthält bereits eine noch zu verwirklichende Erzählgestalt. 285 Seine stoffliche Anlage bestimmt auch bereits seine zukünftige Form. Die Gegebenheiten können daher als handelndes wie auch als erzählendes Element auftreten, müssen jedoch in beiden Fällen über ihre jeweilige Funktionsweise qualitative Rechenschaft ablegen. Nach Aristoteles schlagen sich derartige Patterns konkret in den Struktureinheiten der Zusammenstellungen (συστάσεις, συνθέσεις) nieder, insofern diese Anfang (ἀρχή), Mitte (µέσον) und Ende (τελευτή) besitzen. Sie liefern zugleich diejenigen Paradigmen, die ihrer natürlich-notwendigen Ordnung gemäß erscheinen: 282
Vgl. auch Liddell / Scott (91982), s. v. »πρᾶγµα«, 1457: »thing of consequence or impor-
tance«. Vgl. am ausdrücklichsten Aristot., poet., 6, 1450a3 f.: »ἔστιν δὴ τῆς µὲν πράξεως ὁ µῦθος ἡ µίµησις« (»Die Darstellung der Handlung ist der Mythos.«); hier ist für πρᾶξις – in Hinblick auf das den Gedankengang einleitende »πράττοντες« (ebd., 6, 1449b31; »Handelnde«) – tatsächlich der Begriff ›Handlung‹ zu wählen. Zur definitorischen Abgrenzung der σύστασις und des µῦθος zur ῥῆσις vgl. ebd., 6, 1450a29–34. 284 Ebd., 6, 1451b25: »γελοῖον«. 283
Nach den bekannten Ausführungen bei Lévi-Strauss (1977), 226–254. Es mutet erstaunlich an, dass Lévi-Strauss den hohen Stellenwert, den Aristoteles der σύστασις sowie der semantisch benachbarten σύνθεσις beimisst, in seine eigene Strukturanalyse nicht mit einbezieht. Zur methodischen Erfassung dieser Beziehungen in einem weniger anthropologischen als vielmehr diskurstheoretischen Sinne erscheint demgegenüber der foucaultsche Begriff des Dispositivs geeignet; vgl. dessen Erstbestimmung: »Was ich unter diesem Titel (Dispositiv; D. B.) festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.« (Foucault [1978], 119 f.). 285
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διωρισµένων δὲ τούτων, λέγωµεν µετὰ ταῦτα, ποίαν τινὰ δεῖ τὴν σύστασιν εἶναι τῶν πραγµάτων, ἐπειδὴ τοῦτο καὶ πρῶτον καὶ µέγιστον τῆς τραγῳδίας ἐστίν. κεῖται δὴ ἡµῖν τὴν τραγῳδίαν τελείας καὶ ὅλης πράξεως εἶναι µίµησιν, ἐχούσης τι µέγεθος· ἔστιν γὰρ ὅλον καὶ µηδὲν ἔχον µέγεθος. ὅλον δὲ ἐστιν τὸ ἔχον ἀρχὴν καὶ µέσον καὶ τελευτήν. ἀρχὴ δὲ ἐστιν ὃ αὐτὸ µὲν µὴ ἐξ ἀνάγκης µετ᾽ ἄλλο ἐστίν, µετ᾽ ἐκεῖνο δ᾽ ἕτερον πέφυκεν εἶναι ἢ γίνεσθαι· τελευτὴ δὲ τοὐναντίον ὃ αὐτὸ µὲν µετ᾽ ἄλλο πέφυκεν εἶναι ἢ ἐξ ἀνάγκης ἢ ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, µετὰ δὲ τοῦτο ἄλλο οὐδέν· µέσον δὲ ὃ καὶ αὐτὸ µετ᾽ ἄλλο καὶ µετ᾽ ἐκεῖνο ἕτερον. δεῖ ἄρα τοὺς συνεστῶτας εὖ µύθους µήθ᾽ ὁπόθεν ἔτυχεν ἄρχεσθαι µήθ᾽ ὅπου ἔτυχε τελευτᾶν, ἀλλὰ κεχρῆσθαι ταῖς εἰρηµέναις ἰδέαις. 286
Anfang, Mitte und Ende repräsentieren einerseits – wie hier über ihre Funktion als substantielle Kernelemente – ausdrücklich quantitative Prinzipien (τι µέγεθος); darüber hinaus treten sie als diejenigen Grundgrößen in Erscheinung, die für die taxonomische Abgrenzung der Fiktion von wirklichen Geschehnissen (γενόµενα) von Bedeutung sind. Denn die durch Kontingenzen stets aufs Neue umformatierte Wirklichkeit kann schwerlich ein Ganzes (ὅλον) bilden – geschweige, dass man sie derartig erfassen könnte. Vielmehr bedarf es der Kunstfertigkeit, um ein solches Ganzes in Form einer wohlgeordneten Handlungs- und Verlaufsstruktur überhaupt erst hervorzubringen. Die Exponierung des ὅλον weist daher bereits auf den Allgemeinheitsaspekt (καθόλου) voraus, der an späterer Stelle noch für die höhere Dignität der Dichtkunst gegenüber der Historiographie herangezogen wird. Anders gewendet: Die Wirklichkeit ist für sich genommen niemals allgemeiner Natur, sondern aufgrund ihrer kontingenten Ereignishaftigkeit immer eine spezielle und uns nur über Teilansichten gegeben. Die Dichtkunst hingegen strebt bereits dadurch nach dem Allgemeinen, dass sie die Wirklichkeit in poetische Strukturen transformiert und im selben Zuge ein Ganzes schafft. In der naturphilosophischen Diktion (πέφυκεν, ἐξ ἀνάγκης, etc.), mit der ebendiese poetische Vorstellung Aristot., poet., 7, 1450b21–34: »Da diese Dinge nun bestimmt sind, wollen wir daraufhin darlegen, von welcher Art die Zusammenstellung der Gegebenheiten sein muss, da dies ja das erste und bedeutendste an der Tragödie ist. Es ist von uns festgestellt worden, dass die Tragödie die Darstellung einer vollendeten und ganzheitlichen Handlung ist, die eine gewisse Größe hat. Es gibt ja auch ein Ganzes, das gar keine Größe hat. Ein Ganzes jedoch ist, was Anfangsgrund, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht aus Notwendigkeit nach einem anderen steht, nach dem jedoch etwas anderes natürlicherweise steht oder entsteht. Ein Ende hingegen ist im Gegenteil dasjenige, was selbst nach einem anderen natürlicherweise steht, und zwar entweder aus Notwendigkeit oder wie es der Regel nach geschieht, dass nämlich nach diesem nichts anderes mehr steht. Ein Mittleres indes ist, was sowohl selbst nach einem anderen steht als auch ein anderes, das nach jenem steht. Also müssen die Mythen, wenn sie auf gute Weise zusammengefügt sein sollen, weder von einem beliebigen Punkt aus beginnen noch an einem beliebigen Punkt enden, sondern sie müssen sich der genannten Konzepte bedienen«. 286
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von Ganzheit ausgedrückt wird, tritt darüber hinaus der transdisziplinäre, sich souverän zwischen Physik, Metaphysik und Poetik bewegende Ansatz Aristoteles' ein weiteres Mal zutage.
5.a.β. Stoffliche Ansprüche
In den bisher betrachteten Passagen lässt auch der Mythos sein Potential erkennen: Zum einen bildet er das grundlegende stoffliche Element nicht nur bei Aristoteles, sondern überhaupt der antiken Fiktionskünste. Mythen werden, im Gegensatz zur Wirklichkeit, bei Aristoteles grundsätzlich nicht mimetisch gedacht, also ›nachgeahmt‹ oder ›zur Darstellung gebracht‹; vielmehr werden die auf das Allgemeine abzielenden poetischen Aussagen durch sie erst in Form von Handlungs- und Narrationsmustern fassbar. Sie selbst repräsentieren daher die Ebene der Darstellung – eben um die µίµησις πράξεων in ihren jeweiligen Ausdrucksformen zu vollziehen. 287 Sie sind daher keine beliebig verwendbare Substanz, die man nur deswegen benötigte, um überhaupt über irgendetwas dichten zu können. Das mythologische Potential lässt sich mithin über seine Rolle eines formbaren Potentials auch als formgebendes Prinzip verstehen. Denn für Aristoteles ist die Ebene, auf der Mythen eine bestimmte Handlung zur konkreten Gestalt bringen, wichtiger als die Funktion eines bloßen StoffReservoirs. Mythen weisen somit ihrerseits einen genuin passiven Charakter auf, insofern sie stofflich vorliegen; sie haben jedoch darüber hinaus ein aktivierendes Potential inne, insofern sie in der Lage sind, das Allgemeine in Form von epischen und dramatischen Handlungen zu einem anschaulichen Ausdruck zu bringen. Die Zusammenstellung der Mythen (σύνθεσις µύθων), sei sie nun an den mündlichen Vortrag, an die schriftliche Fixierung oder an die szenische Darstellung geknüpft, meint somit nicht den Darstellungsprozess an sich – dieser hieße tatsächlich einmal µίµησις –, sondern die stoffliche Sichtbarmachung der πράγµατα (als deren Gegensatz ihre weitere Transzendierung anzusehen wäre) anhand der jeweiligen πράξεις. Ihre Komposition muss dabei Gesetz- und Regelmäßigkeiten folgen, die der Natur der Dichtkunst entsprechen. Insofern die Mythen vom Dichter mit derselben Sorgfalt wie die πράγµατα und πράξεις, das heißt nach bestimmten Regeln zusammengestellt werden müssen, ergibt sich hinsichtlich der Aufgabe des Fingierens ein mehrgliedriger Kompositionsan-
287
Vgl. am ausdrücklichsten hierzu ebd., 6, 1450a3 f.: »ἔστιν δὲ τῆς µὲν πράξεως ὁ µῦθος ἡ
µίµησις« (»Der Mythos ist die Darstellung der Handlung.«).
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spruch. 288 Er bewegt sich entlang der drei Ebenen des Zusammenfügens, der Darstellung und der Wirkaufgaben: ὧν δὲ δεῖ στοχάζεσθαι καὶ ἃ δεῖ εὐλαβεῖσθαι συνιστάντας τοὺς µύθους, καὶ πόθεν ἔσται τὸ τῆς τραγῳδίας ἔργον, ἐφεξῆς ἂν εἴη λεκτέον τοῖς νῦν εἰρηµένοις. ἐπειδὴ οὖν δεῖ τὴν σύνθεσιν εἶναι τῆς καλλίστης τραγῳδίας µὴ ἁπλῆν ἀλλὰ πεπληγµένην, καὶ ταύτην φοβερῶν καὶ ἐλεεινῶν εἶναι µιµητικήν (τοῦτο γὰρ ἴδιον τῆς τοιαύτης µιµήσεώς ἐστιν), πρῶτον µὲν δῆλον [·] 289
Die mimetische Darstellungsart ([τέχνη] µιµητική) wird nicht einfach als die poetische schlechthin eingestuft, sondern dezidiert als verflochtene Zusammenstellung (σύνθεσιν [. . . ] µὴ ἁπλῆν ἀλλὰ πεπληγµένην) gedacht – und nur als solche vermag sie ihre Wirkziele, namentlich das Jammer- und Schaudervolle, zu erreichen. Das generische Beispiel, das zudem im überlieferten Textbestand der Poetik am ausführlichsten behandelt wird, ist dasjenige der Tragödie. Sie zielt auf die beiden genannten Hauptaffekte ab und ruft diese nie durch eine einfache Darstellungsweise, sondern durch die µίµησις in Form der σύνθεσις πεπληγµένη hervor. 290 Die in der Folge aufgezählten Kriterien bleiben daher nicht auf ihre qualitativen Eigenschaften beschränkt, sondern verweisen darüber hinaus auf ihre korrelativen Zuschreibungen im Zusammenhang des Handlungsverlaufs: Zur ersten Dimension, derjenigen der inneren Qualität, zählt die Disposition des Handlungsträgers. Dieser sollte in hohem Maße von seiner eigenen Handlungsfreiheit bestimmt sein; ohne diese grundsätzliche Autonomie erschiene es wenig sinnvoll, überhaupt darüber zu spekulieren, was den tragischen Helden oder den spezifischen Effekt tragischer Elemente 288 Vgl. ebd., 6, 1450a35–38: »ἔτι σηµεῖον ὅτι καὶ οἱ ἐγχειροῦντες ποιεῖν πρότερον δύνανται τῇ λέξει καὶ τοῖς ἤθεσιν ἀκριβοῦν ἢ τὰ πράγµατα συνίστασθαι, οἷον καὶ οἱ πρῶτοι ποιηταὶ σχεδὸν ἅπαντες.« (»Außerdem ist ein Anzeichen hierfür [für den höheren Komplexi-
tätsgrad der Handlung gegenüber der sprachlichen Gestaltung und den Charakteren], dass auch diejenigen, die sich als Anfänger daran versuchen zu dichten, es eher vermögen, in der sprachlichen Gestaltung und in den Charakteren Treffliches zu erreichen, als die Gegebenheiten zusammenzustellen – was auch bei fast allen ersten Dichtern der Fall ist.«). 289 Ebd., 13, 1452b28–34: »Was man beachten und was man vermeiden muss, wenn man die Mythen zusammenfügt, und woher die Funktion der Tragödie kommen wird, das sollte nunmehr im Anschluss an das Gesagte dargelegt werden. Da nun die Zusammenfügung der bestmöglichen Tragödie nicht einfach, sondern verflochten sein muss und da diese Schauer- und Jammervolles darstellen muss (dies nämlich ist das Eigentümliche einer derartigen Darstellung), ergibt sich klarerweise zuerst«. 290 Ob es sich beim Aufrufen dieser Affekte, die im besten Fall zur Katharsis führen mögen, um einen Vorgang handelt, der unmittelbar im Rezipienten stattfindet und in der Folge gar dessen Ethos verbessert, ist dabei keineswegs ausgemacht. Am prominentesten hat dies wohl Goethe in seiner Nachlese zu Aristoteles’ »Poetik« (1827) bestritten. Demzufolge handle es sich um einen werkimmanenten Vorgang, insofern der Zuschauer nach Betrachtung des Schauspiels grundsätzlich »um nichts gebessert nach Hause gehen« (Goethe, Nachlese zu Aristoteles’ »Poetik«, 125) werde.
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auszeichnen könnte. Das Vermögen, das einem Charakter zukommt, meint das freie Handlungsvermögen, das dann wiederum nicht nur speziellen, sondern allgemeinen Zuschnitts ist, insofern es am Charakter selbst liegt, gemäß seinem Vermögen zu handeln, also πράξεις hervorzubringen und damit auch die Struktur der πράγµατα des dichterischen Werks zu bestimmen. Es kann dann nicht mehr nur darum gehen, wie ein bestimmter Held handelt, sondern welche Bedeutungsweite seinem Tun überhaupt zukommt. Wie zuletzt von Schmitt gezeigt, lässt sich nämlich gerade in der prinzipiellen Offenheit der Handlungsmöglichkeiten eines Helden ein Moment erkennen, in dem sich der Allgemeinheitsbegriff der Poiesis mit einem auf den dramatischen Charakter bezogenen Vermögensbegriff trifft: Wenn Aristoteles dieses Allgemeine zugleich ein ›Mögliches‹ nennt (51a38) und die dieses Mögliche verwirklichende Handlung eine Handlung, die zeigt, ›wie etwas geschehen müsste‹ (51a37), dann wird hier also das Allgemeine mit den Handlungsmöglichkeiten eines Charakters identifiziert. Diese Möglichkeiten sind [. . . ] nicht unbestimmte Möglichkeiten zu allem und jedem, sondern es sind die von einem Menschen zu bestimmten Grundhaltungen ausgebildeten Vermögen, über die er als Mensch im Allgemeinen und als dieser einzelne Mensch im Besonderen verfügt. Ein Vermögen ist immer, wie Aristoteles betont, ein Vermögen zu etwas Bestimmtem. Wer sehen kann, kann Farben und Formen unterscheiden, wer laufen kann, kann Bewegungsrichtungen unterscheiden, Gleichgewicht halten usw. Ausgebildete Vermögen enthalten also ein Arsenal an zu ›Fertigkeiten‹ entwickelten ›Fähigkeiten‹. Ein Tapferer zum Beispiel ist in aristotelischem Sinn nicht tapfer, weil er einen eisernen Willen, standzuhalten, hat, sondern weil er über ein reiches Arsenal an Erfahrung verfügt, gegen wen oder was, wann, in welcher Weise, in welchem Maß er einer Bedrohung standhalten kann. Diese aus Erfahrung gewonnene Tapferkeit steht ihm allgemein zur Verfügung als ›ein Mögliches‹, d. h. als etwas jederzeit Verwirklichbares (soweit es an ihm liegt). 291
Hieran ist zu erkennen, dass sich der poetologische Anspruch mit dem metaphysischen deckt. Die Eigenschaften des tragischen Helden sind nun im Vergleich zu dem von Schmitt beschriebenen Vermögen wiederum auch relational zum Dichtwerk selbst, nämlich in einem Verhältnis zum Handlungsverlauf, zu sehen – insbesondere hinsichtlich der für die Tragödie so elementaren Verlaufsumschwünge (µεταβολαί). 292 So offen der tragische Held also in seiner HandSchmitt (2013), 209. Diese Vorstellung eines Umschwungs (µεταβολή, µεταβάλλειν, µεταπίπτειν) ist das für die Tragödie wichtigste – und in der weiteren Geschichte europäischer Poetiken am häufigsten diskutierte – Handlungsmoment. 291 292
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lungsfähigkeit gedacht wird, so klar und eindeutig ist er eingeschränkt hinsichtlich seiner ethologischen Eingebungen: Er dürfe weder den »makellosen Menschen« 293 noch den »Schurken« 294 zugerechnet werden, noch dürfe es sich um einen »gewaltig schlechten« 295 Menschen handeln. Die Merkmale, die der Dichter ihm einschreibt, meiden vielmehr derartige Extrema und konvergieren in der Forderung nach dem »mittleren [Charakter]«. 296 Dieser zeichne sich wiederum dadurch aus, dass er »weder durch Tugend und Gerechtigkeitssinn hervorsticht noch wegen Schlechtigkeit und Gemeinheit ins Unglück stürzt.« 297 Mit dem Ins-Unglück-Stürzen (µεταβάλλων εἰς τὴν δυστυχίαν) wird indes ein Aspekt angeführt, der nicht mehr die Eigenschaften des Helden, sondern die Handlungsstruktur des dichterischen Werks betrifft. Der mythische Stoff kündet also von Helden und deren Grundeigenschaften (der vielgewandte Odysseus, der fromme Aeneas etc.), die Handlungsmöglichkeiten stiften und dann über Handlungen die Form des poetischen Werks konstituieren. Dass hier kein willkürliches Verhältnis vorherrscht, sondern die möglichen Verlaufsformen des (erzählerischen oder dramatischen) Kunstwerks bereits in den Charakteristika vorgeprägt werden, lässt sich wie folgt nachvollziehen: Da Odysseus in den Stoffen (µῦθοι) der Ilias und Odyssee als überzeugender Kriegsredner gilt, 298 erschiene es wenig konsistent, wenn er die Achaier nicht davon überzeugen könnte, weiterzukämpfen. 299 Oder es entstünde eine neue Anforderung an das dichterische Werk, etwa zu vermitteln, warum er ausgerechnet in einer seiner elementaren Professionen 300 scheitert. Unter solchen Inkonsistenzen würde Aristot., poet., 13, 1452b34: »ἐπιεικεῖς ἂνδρας«. Ebd., 13, 1452b36 f.: »τοὺς µοχθηροὺς«. 295 Ebd., 13, 1453a1: »τὸν σφόδρα πονηρὸν«. 296 Ebd., 13, 1453a7: »ὁ µεταξύ«. 297 Ebd., 13, 1453a8 f.: »µήτε ἀρετῇ διαφέρων καὶ δικαιοσύνῃ µήτε διὰ κακίαν καὶ µοχθηρίαν µεταβάλλων εἰς τὴν δυστυχίαν«. 298 Vgl. Hom., Il., 2, 273: »βουλάς τ᾽ ἐξάρχων ἀγαθὰς πόλεµόν τε κορύσσων« (»der gute Ratschläge anbringt und zur Schlacht antreibt.«). 299 Gegen seinen Vorredner Thersites, der die Achaier zur Heimkehr bewegen will; vgl. ebd., 2, 224–244. 300 Zu diesen zählen etwa seine bis zur Verschlagenheit reichende List (vgl. zum Beispiel ebd., 2, 173: »πολυµήχαν᾽ ᾿Οδυσσεῦ«; ganz ähnlich auch Verg., Aen., 2, 90: »pellacis Ulixi«), seine Gewandtheit (vgl. etwa Hom., Od., 1, 1: »πολύτροπον«), seine Klugheit (vgl. beispielsweise Hom., Il., 3, 200: »πολύµητις«), seine Kriegskunst (vgl. ebd., 2, 278: »πτολίπορθος ᾿Οδυσσεὺς«) Derartige epithetische Zuschreibungen arbeiten einerseits, wie die mit der oral poetry befassten Forschungstendenzen herausgestellt haben, metrischen wie mnemotechnischen Ansprüchen zu (vgl. hierzu Parry [1972], Clark [2004] und Latacz [2000b]); sie enthalten allerdings auch – wie im Falle des πτολίπορθος – häufig proleptische Sachverhalte, die in der Erzählung noch einzulösen sind (›Durch Odysseus wird Troja untergehen‹), erzeugen also zugleich Erwartungen für den weiteren Handlungsverlauf, mit denen wiederum durchaus gebrochen werden kann; zu den Begriffen einer actorial oder eben false prolepsis vgl. in jüngerer Zeit De Jong (2014), 84–87. Wichtig für uns ist, 293
294
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dann auch die Handlung selbst leiden: Dass etwa ein Mensch in einer Tragödie stirbt und kurz darauf wieder auf der Bühne steht, würde einen hochgradig außernatürlichen Eingriff oder einen unglaubwürdigen Charakter erfordern. Zwar gesteht Aristoteles einer Figur hier Ungleichmäßigkeiten zu, aber nur solange diese Ungleichmäßigkeiten auf einer höheren Ebene wieder ausgeglichen würden; der Charakter solle dann – so die fast schon sophistisch anmutende Einlassung – »immerhin auf gleichmäßige Weise ungleichmäßig sein«. 301 Es sind demnach die Handlungsmöglichkeiten des Charakters, die – als Mittleres zwischen dessen Eigenschaften und Handlungen – den Konnex zwischen den stofflichen und den formalen Aspekten des Kunstwerks bilden. Dies lässt die Frage ins Blickfeld rücken, wie das Mögliche im dichterischen Werk in einem weiteren Sinn aufzufassen ist.
5.a.γ. Das Mögliche im Poetischen
Wie schon an mehreren Stellen gesehen, kann es zu den wichtigsten Aufgaben des Dichters gezählt werden, über ein Zusammenfügen (σύστασις, συνίσταναι) beziehungsweise Zusammenstellen (σύνθεσις, συντίθαναι) von Gegebenheiten, Handlungen und Mythen poetische Entitäten zu erzeugen. Diese befinden sich gerade deswegen nicht in einer beliebigen Abfolge, da sie von zwei verbindlichen Teilaspekten aus dem Bereich der Ontologie reguliert werden: Der gute Dichter hat stets das Notwendige (τὸ ἀναγκαῖον) und das Wahrscheinliche (τὸ εἰκός) in den Blick zu nehmen; beide Kriterien gewährleisten im Zusammenschluss, dass die Dichtung ebenjene gleichmäßige Form annimmt, die Aristoteles an die Charaktere stellt. Diese Forderung ist nun nicht den Charakteren allein, sondern auch den Zusammenstellungen selbst eingegeben. Hierdurch wird – nach den oben beschriebenen Vermögensweisen der Charaktere – eine weitere Schnittstelle zwischen Allgemeinem und Möglichem begründet: Χρὴ δὲ καὶ ἐν τοῖς ἤθεσιν ὁµοίως, ὥσπερ καὶ ἐν τῇ τῶν πραγµάτων συστάσει, ἀεὶ ζητεῖν ἢ τὸ ἀναγκαῖον ἢ τὸ εἰκός, ὥστε τὸν τοιοῦτον τὰ τοιαῦτα λέγειν ἢ πράττειν ἢ ἀναγκαῖον ἢ εἰκός, καὶ τοῦτο µετὰ τοῦτο γίνεσθαι ἢ ἀναγκαῖον ἢ εἰκός. 302 hierbei festzuhalten, dass ein solcher Bruch bei Aristoteles nicht als Bruch bestehen bleibt, sondern wieder in eine konsistente Handlunsfolge zu überführen respektive einzubetten ist. 301 Vgl. Aristot., poet., 15, 1454a27 f.: »ὅµως ὁµαλῶς ἀνώµαλον δεῖ εἶναι«. 302 Ebd., 15, 1454a33–36: »Man muss indes auch bei den Charakteren, genauso wie auch bei der Zusammenstellung der Gegebenheiten, stets das Notwendige oder das Wahrscheinliche anstreben, so dass es notwendig oder wahrscheinlich ist, dass ein bestimmter Mensch etwas
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Poetische Entitäten werden also vorwiegend anhand der grundlegenden Wirklichkeitskategorien des Wahrscheinlichen und Notwendigen hervorgebracht, die sich wiederum – nach einer der bekanntesten Zuspitzungen in der Poetik – von den Aussageformen der Philosophen und der Geschichtsschreiber unterscheiden. Im Möglichen (δυνατόν) ist also der poetische Seinsbegriff konstitutiv enthalten, insofern es gleichermaßen durch das Wahrscheinliche (εἰκός) und das Notwendige (ἀναγκαῖον) reguliert wird. Betrachtet man die entscheidende Aussage hierzu, Φανερὸν δὲ ἐκ τῶν εἰρηµένων καὶ ὅτι οὐ τὸ τὰ γενόµενα λέγειν, τοῦτο ποιητοῦ ἔργον ἐστίν, ἀλλ᾽ οἷα ἂν γένοιτο καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον 303,
so zeigt sich, dass der Dichter Handlungen und Ereignisse nach deren (und nicht seiner) Möglichkeit darstellt, indem er nicht auf Geschehnisse, γενόµενα, sondern auf die δυνατά rekurriert; 304 deren Pendant auf der Ebene des Aussagemodus drückt sich hier im potentialen Optativ οἷα ἂν γένοιτο (»was geschehen könnte«) aus. Die Bedeutungsfelder der δυνατά beziehungsweise der verwandten δύναµις belassen demnach auf der einen Seite die Möglichkeit an ihrem naturphilosophischen Ort eines innewohnenden Vermögens. 305 Dieser Aspekt wird nicht selten als der vorherrschende eingestuft und auf die aristotelische Herleitung des dichterischen Werks als solches bezogen. 306 Noch wichtiger hinsichtlich des eingeforderten Weltzugriffs erscheint jedoch noch ein zweiter Aspekt, der – wie in poet. 9 und 13 beschrieben – besagt, dass sich die Darstellungsweise als mögliche durch ihre Gemäßheit zur Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit konstituiert. 307 Dass das Notwendige das Mögliche Bestimmtes sagt oder tut und dass das eine nach dem anderen entweder als Notwendiges oder als Wahrscheinliches geschieht.«). 303 Ebd., 9, 1451a36–38: »Aus dem Gesagten ergibt sich offensichtlich, dass nicht dies die Aufgabe eines Dichters ist, das Geschehene mitzuteilen, sondern dasjenige, was geschehen könnte, das heißt das Mögliche gemäß dem Notwendigen und Wahrscheinlichen«. Schmitt ergänzt in seiner mit vielfachen Erläuterungen versehenen Poetik-Übersetzung an dieser Stelle noch einen sinngemäßen Bezug auf die πρᾶξις: »d. h. was 〈als eine Handlung eines bestimmten Charakters〉 möglich ist« (Schmitt [22011], 13). 304 Vgl. zu dieser Forderung ex negativo auch Aristot., poet., 25, 1460b23: »ἀδύνατα πεποίηται, ἡµάρτηται« (»Dichtet man Unmögliches, so macht man einen Fehler.«). 305 Vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »δύναµις«, 452: »capability of existing or acting, potentiality« sowie ebd., s. v. »δυνατός«, 453: »of things, possible«. 306 So etwa Söring (1976), 46: »Daher ist auch der Ausdruck ›Verwirklichung‹ von ›Werk‹ gebildet und zielt auf die Vollendung (entelecheia), und zwar auf die Vollendung eines in der Anlage, dem Vermögen (dynamis) nach vorhandenen«. 307 Zur Abgrenzung des δυνατόν vom analytisch geprägten und deutlich abstrakter gefassten Modalbegriff ἐνδεχόµενον vgl. Buddensiek (1994), 13–26, insbesondere 25 f.
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mitbestimmt, mag auf den ersten Blick in einem gewissen naturphilosophischen Widerspruch stehen: Der Intuition nach werden Dinge ja häufig gerade dadurch als ›mögliche‹ aufgefasst, dass sie eben nicht aus Notwendigkeit heraus, sondern eben nur ›möglicherweise‹ entstünden. Das Argument wird von Aristoteles jedoch konsistent im Sinne der regelmäßig betonten Gesetzmäßigkeiten fiktionaler Gebilde – der vielbesprochenen σύστασις πραγµάτων – eingebracht, insofern auf ein Mögliches natürlicherweise nicht ein beliebiges Mögliches folgt, sondern eben ein wahrscheinliches Mögliches oder notwendiges Mögliches. 308 Denn würde ein jedes Mögliches ein jedes andere Mögliches hervorbringen, so fiele das daraus resultierende Werk vollständig in den Bereich der Kontingenz. Dies widerspräche nicht nur der Forderung nach einer plangemäßen Gestaltung, einer technisch realisierten φύσις, die dem dichterischen Kunstwerk zugrunde liegen muss, sondern auch der finalursächlichen Bewegung, die den Schöpfungsprozessen schlechthin eingegeben ist. Die stofflichformalen Ansprüche erscheinen, da genau jene Kontingenz nach Aristoteles zu vermeiden ist, insgesamt von jeglicher Willkür und extrinsischen Einflüssen befreit. Dasselbe gilt für die Auflösung (λύσις) der Mythen, die aus sich selbst heraus und nicht durch einen göttlichen Eingriff (ἀπὸ µηχανῆς) geschehen sollte. 309 Hier bietet sich nun an zu überprüfen, wo die τέχνη innerhalb dieses gesetzten φύσις-Rahmens ansetzen kann. Zunächst gilt: Das Notwendige liegt Zur Illustration ein Beispiel: Die Sätze, (1) dass es regnet oder (2) dass es nicht regnet, lassen sich umstandslos als konträre Wirklichkeitsaussagen beschreiben. Dass es regnet, kann dabei grundsätzlich als ein wahrscheinliches Ereignis gelten. Als solches ist es auch in der Kunst darstellbar. Wenn es im Kunstwerk allerdings regnet, so sollte auch dort daraus folgen, dass die Straße nass wird (wobei diese Forderung zugestandenermaßen im Gros der Avantgarde-Theorien schwerlich funktionieren würde). Aus der Perspektive eines äußeren Betrachters heraus sind die beiden Sachverhalte, (1) dass es regnet, und (3) dass die Straße nass wird, im Rahmen des Kunstwerks als mögliche supponierbar, denn beide Sachverhalte sind darin Teile einer möglichen Realität. Ihr innerer Zusammenhang jedoch ist ein notwendiger. Daher genügt es nicht, alle in einem Kunstwerk fingierten Ereignisse als schlechthin mögliche zu bezeichnen, sondern sie weiterhin, wie es Aristoteles eben auch vollzieht, nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit zu differenzieren. 309 Auch in der Behandlung des Wunderbaren – das nach Aristoteles’ Auffassung ein sehr geeignetes Mittel darstellt, Jammer und Schauder hervorzurufen oder auch überhaupt nur eine Handlung interessant zu machen – bleiben die rationalen Anforderungen des Zusammenfügens bestehen. Das Wunderbare tritt überraschend auf und genügt dabei dennoch den Kriterien in der Handlungsfolge; vgl. etwa Aristot., poet., 9, 1452a3–11: »ταῦτα δὲ γίνεται καὶ µάλιστα [καὶ µᾶλλον], ὅταν γένηται παρὰ τὴν δόξαν δι᾽ ἄλληλα· τὸ γὰρ θαυµαστὸν οὕτως ἕξει µᾶλλον ἢ εἰ ἀπὸ τοῦ αὐτοµάτου καὶ τῆς τύχης [. . . ]· ὥστε ἀνάγκη τοὺς τοιούτους εἶναι καλλίους µύθους.« (»Diese [Wirkungen] entstehen am allermeisten dann, wenn die Dinge wider Erwarten und doch einander bedingend eintreten; so besitzen sie nämlich eher den Charakter des Wunderbaren, als wenn sie aus Zufall und Willkür entstünden. [. . . ] Daher müssen die so beschaffenen Erzählstoffe die besseren sein.«). 308
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nach Aristoteles als Prinzip im Stoff selbst begründet, der gemäß seinen Möglichkeiten zu der ihm eigenen Gestalt gelangen kann. Das zweifellos wichtigste Prinzip stellt hierfür die Zweckursache (τέλος) dar, denn eine solche verfolge eine jede Kunstfertigkeit geradezu wie die Natur selbst: φανερὸν δὴ ὅτι τὸ ἀναγκαῖον ἐν τοῖς φυσικοῖς τὸ ὡς ὕλη λεγόµενον καὶ αἱ κινήσεις αἱ ταύτης. καὶ ἄµφω µὲν τῷ φυσικῷ λεκτέαι αἱ αἰτίαι, µᾶλλον δὲ ἡ τίνος ἕνεκα· αἴτιον γὰρ τοῦτο τῆς ὕλης, ἀλλ᾽ οὐχ αὕτη τοῦ τέλους· καὶ τὸ τέλος τὸ οὗ ἕνεκα, καὶ ἡ ἀρχὴ ἀπὸ τοῦ ὁρισµοῦ καὶ τοῦ λόγου, ὥσπερ ἐν τοῖς κατὰ τέχνην. 310
Aus dem Einschluss von Kunst und Natur über das Prinzip des Telos kann gefolgert werden: Durch die τέχνη lässt sich ein bestimmter Stoff grundsätzlich zu seiner finalursächlichen Bestimmung führen; dabei vollzieht sich gewissermaßen all dasjenige, was sonst der Natur obliegen würde. Ausgerechnet in der Behandlung des Möglichen scheint diese Analogie zwischen Poetik und Physik aber nun an ihre Grenze zu gelangen: Während in der Natur praktisch fortwährend Dinge aus ihrem Vermögen (δύναµις) in ihre Verwirklichung (ἐνέργεια, ἐντελέχεια) überführt werden, 311 können in der Dichtkunst selbst Dinge, die bereits entelechische Wirklichkeit erlangt haben, als mögliche vorgestellt und dadurch poetisch werden. 312 Indem Dinge, die längst eine aktuale Realität erAristot., phys., 2, 9, 200a30–b1: »Offenkundig ist also, dass das Notwendige in den natürlichen Dingen das ist, was gleichsam der Stoff genannt wird und dessen Bewegungen. Und beide Ursachen müssen vom Naturforscher benannt werden, besonders aber diejenige wegen etwas. Denn dies ist die Ursache des Stoffes, nicht jedoch [ist] dieser [Ursache] für das Ziel. Und das Ziel ist das wegen etwas. Und der Anfangsgrund ergibt sich aus der Bestimmung und dem Begriff, so wie auch in den Dingen gemäß einer Kunstfertigkeit«. 311 Zur Frage nach dem Vorrang von δύναµις oder ἐνέργεια vgl. Aristot., metaph., 12, 6, 1072a3–18. Das δυνατόν selbst wird unter dem Aspekt seiner aussagenlogischen (ebd., 9, 4, 1047b3–30) und hinsichtlich seiner praxeologischen Geltungsweise (ebd., 9, 6, 1048a25–1048b36) beschrieben. 312 Das Faktische kann ohne Einschränkungen gedichtet werden, denn es lässt sich konsistent auch als ein Mögliches hervorbringen. Hierin zeigt sich ein weiteres Mal in eindrucksvoller Weise der für die Dichtkunst konstitutive Vorrang des Wahrscheinlichen vor dem Wirklichem; vgl. Aristot., poet., 9, 1451b29–32: »κἂν ἄρα συµβῇ γενόµενα ποιεῖν, οὐθὲν ἧττον ποιητής ἐστι. τῶν γὰρ γενοµένων ἔνια οὐδὲν κωλύει τοιαῦτα εἶναι οἷα ἂν εἰκὸς γενέσθαι [καὶ δυνατὰ γενέσθαι], καθ᾽ ὃ ἐκεῖνος αὐτῶν ποιητής ἐστιν.« (»Auch wenn es vorkommt, dass er Geschehnisse dichtet, so ist er doch um nichts weniger Dichter. Denn nichts hindert daran, dass von den Geschehnissen einige so beschaffen sind, dass sie nach der Wahrscheinlichkeit und daher als Mögliche geschehen könnten; und im Hinblick auf diese [Wahrscheinlichkeit] ist er ein Dichter dieser [Geschehnisse].«) Fuhrmanns Auffassung, den relativischen Anschluss »καθ᾽ ὃ« ganz auf das Beschaffen-Sein zu beziehen (vgl. Fuhrmann [32008], 33), ist nicht ohne Alternative; vielmehr lässt er sich auf das zuvor ausdrücklich genannte εἰκός, das Wahrscheinliche, beziehen. Dass die Dichtkunst es vermag, Faktisches auf ein Mögliches hin zu dynamisieren (und eben nicht zu assimilieren), stellt darüber 310
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langt haben – wie etwa bestimmte Orte, Ereignisse und Personen –, in eine Reihe mit anderen δυνατά treten, wird auch ihr eigener ontischer Status zu dem eines δυνατόν. Ein Wirkliches in ein Mögliches zu transformieren kann daher als eine der eigentümlichsten Aufgaben und Leistungen der Dichtkunst gelten. Das Allgemeine, in dem sich nach Aristoteles diese Vorzüglichkeit dann anschließend ausdrücken müsste, fällt daher durchaus unter dieselben Prädikamente wie das Mögliche, betont jedoch darüber hinaus den Aspekt seiner Dignität und wird erst als eine Folge der Transformation aufgefasst; denn es konstituiert sich aus den Struktureinheiten gemäß einem Ganzen (καθόλου), die wir im siebten Kapitel der Poetik erläutert fanden. In diesem verfahrenstechnischen – und nicht etwa auf die Topik abzielenden – Sinne sei dann die Dichtkunst, einem vielfach rezipierten Passus der Poetik nach, höher einzustufen als die Historiographie, insofern sie ja gerade in dieser Darstellungsmethode philosophischer sei: διὸ καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν· ἡ µὲν γὰρ ποίησις µᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ᾽ ἱστορία τὰ καθ᾽ ἕκαστον λέγει. ἔστιν δὲ καθόλου µέν, τῷ ποίῳ τὰ ποῖα ἄττα συµβαίνει λέγειν ἢ πράττειν κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον, οὗ στοχάζεται ἡ ποίησις ὀνόµατα ἐπιτιθεµένη· τὸ δὲ καθ᾽ ἕκαστον, τί Α ᾿ λκιβιάδης ἔπραξεν ἢ τί ἔπαθεν. 313
Dass die Gegenstände der Dichtkunst allgemeiner Natur (τὰ καθόλου) sind, heißt also nicht, dass Dichtkunst über alles und jeden in jeglicher Weise sprechen könne, sondern vielmehr, dass die Dichtkunst durch die Verfahren der µίµησις und σύστασις die Dinge des Seins strukturell offenlegt; sie operiert gleichermaßen mit Faktischem, Notwendigem und Wahrscheinlichem, indem sie sie über das Mögliche auf eine Ebene bringt, und darf gerade in diesem souveränen Umgang mit den unterschiedlichsten ontologischen Aussageformen – der sich erkennbar eher Transformations- denn Nachahmungsaspekten verschreibt – eine höhere Allgemeingültigkeit im Vergleich zu denjenigen sprachlichen Kunstwerken, die sich der bloßen Bezugnahme auf wirkliche Dinge verschreiben, für sich beanspruchen. Ein wesentlicher Prozedurschritt bei der Transformation in ein Mögliches besteht in der Dichtkunst nun darin, dass sie hinaus ein evidentes Argument gegen die Annahme dar, bei der aristotelischen Mimesis handele es sich im wörtlichen Sinne um einen Nachahmungsprozess; vgl. Petersen (2000), 43. 313 Aristot., poet., 9, 1451b5–11: »Daher ist die Dichtkunst auch etwas Philosophischeres und Bedeutenderes als die Geschichtsschreibung. Die Dichtkunst spricht nämlich mehr vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Speziellen. Das Allgemeine indes bedeutet, dass einem bestimmten [sc. Charakter] etwas Bestimmtes zu sagen oder zu handeln zukommt gemäß dem Wahrscheinlichen oder dem Notwendigen; auf dieses [sc. Allgemeine] zielt die Dichtkunst ab, auch wenn sie Eigennamen hinzusetzt. Spezielles hingegen bedeutet, was Alkibiades getan oder was er erlitten hat«.
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sich nicht in ihrem Wirklichkeitsgehalt erschöpft, sondern ihre Wirkziele mit ihren ontologischen Bedingungen dynamisch zu verknüpfen weiß.
5.a.δ. Das Prinzip der Dynamisierung
Wie an der Betrachtung der modallogischen Eingebungen gesehen, erlangen die in der Dichtkunst verhandelten Gegenstände bei Aristoteles erst über bestimmte Argumentationswege diejenige Bedeutsamkeit, die man seit der Archaik zum Universalanspruch der Dichtkunst zählen durfte. Verbürgte sich in der Tradition des Lehrgedichts noch in autarker Weise die Wahrheit als das dominante Paradigma für die Universalität von Weltwissen, so blieb ihr numinoser Zuschnitt dabei im Wesentlichen unangetastet. Es kann zu den bemerkenswertesten Leistungen Aristoteles' gezählt werden, diesen Schwerpunkt zugunsten neuer Paradigmen zu verschieben und die Dichtkunst von den Wahrheitsdiskursen weitestgehend zu entkoppeln. Denn die Transformation einer als vorrangig angesetzten Wirklichkeit auf ein Mögliches und ein Allgemeines hin, wie sie sich in der poetischen Darstellung vollzieht, hat nicht mehr viel mit einer Alterität von Wahrheit und Falschheit zu tun, auch nicht mit den Problemen ontologischer Verhaftungen auf Grundlage eines mehrgliedrigen Weltenbaus, wie sich unter Berufung auf Platon behaupten ließe. Diskutabel erscheint jedoch, dass eine solche Auffassung von Poiesis, wie Aristoteles sie vertritt, gelegentlich als eine Tendenz zur Transzendierung schlechthin verstanden wird. So fasst Söring die naturphilosophischen Aspekte der aristotelischen Poiesis in einem Grundriss wie folgt zusammen: Poiesis als kunstfertige Hervorbringung in solchem Gegebenen, für welches Wirklichkeitsbezug immer schon konstitutiv ist, vereinigt, so will uns scheinen, beide Momente: Abhängigkeit wie Autonomie in sich. Denn sie ist einerseits angewiesen auf das, was im Sprachgebrauch als dem Substrat poietischer Genese an Welt erschlossen ist, gewinnt jedoch andererseits durch Transformation [als dasjenige Verfahren, das nicht zuletzt im Prozeß einer qualitativen Veränderung (alloio¯ sis) des ›Materials‹ die eigentliche Veränderung durch Gestaltwandel (metabole¯) bewirkt], Möglichkeiten hinzu, die jede bestehende Wirklichkeit transzendieren. 314
Berücksichtigt man die modallogische Einbettung, in der das hier benannte Umschwungs- beziehungsweise Veränderungsmoment zu sehen ist, so ist einzuwenden: Der in der Poiesis angestrebte Gestaltwandel (µεταβολή) wirkli314
Söring (1976), 59.
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cher Gegenstände (πράγµατα) hat nicht zum eigentümlichen Ziel, die Welt zu transzendieren, sondern zu dynamisieren. Im Hervorbringen einer σύστασις πραγµάτων, die sich, wie gesehen, erst aus einer Verschränkung mit der σύνθεσις µύθων und πραξέων und dementsprechend aus den damit verbundenen Teilaspekten von Anfang, Mitte und Ende ergibt, kurz: in der sorgsamen Ausarbeitung und Kombination der einzelnen Mytheme tritt der Folgeaspekt der δύναµις, nämlich die angestrebte Verwirklichung eines Ausgangsstoffes am deutlichsten zutage. Die Poiesis selbst ist nun jedoch, bei all ihrer Analogizität zur φύσις, kein Prozess, der sich aus der Natur allein erklären ließe, sondern entspringt unverbrüchlich der τέχνη ποιητική. Diese macht sich mit der Natur in zweifacher Hinsicht gemein: Einerseits folgt sie einer gewissen Bestimmungsrichtung, strebt also wie die Natur nach Vollendung; dabei allerdings nur scheinbar einer metaphysisch vorgelagerten Welt entgegen. Denn einem der Wirklichkeit entnommenen Substrat eine neue Form nach den hier aufgeführten Kriterien zu verleihen, kann sowohl ihrer eigenen poetischen Entsprechungsrichtung als auch dem aristotelischen Möglichkeitsbegriff nach keinen Transzendierungsprozess meinen. 315 Denn ohne die Ansetzung konkreter Paradigmen, die überhaupt verwirklicht werden sollen, ist auch die Ansetzung eines Möglichen Aristoteles zufolge schlichtweg unnötig. Die τέχνη ποιητική stellt daher in ihrer Hinwendung zum Möglichen keine metaphysische Abstraktionsleistung dar, sondern erzeugt Handlungsverläufe, die der Natur – 315 Schon gar nicht in dem von Söring wohl angedachten Sinne, sich weg von der Wirklichkeit und hin zur Möglichkeit zu bewegen. Vielmehr liegt in der wirklichen Tätigkeit eine metaphysische Priorität gegenüber der δύναµις im umfassenden Sinne, das heißt hinsichtlich ihres Anfangsgrundes (ἀρχή) und Zieles (τέλος) vor, insofern sich diese Größen bereits auf energetische Handlungen und Zustände richten. Besonders nachdrücklich führt Aristoteles dies unter Anführung mehrerer Beispiele im neunten Buch der Metaphysik aus: »Nachdem das Vorrangige bestimmt worden ist, nämlich auf wie viele Weisen es ausgesagt werden kann, ist offenbar, dass die Wirklichkeit vorgängig gegenüber dem Vermögen ist. [. . . ] Sie ist es indes auch der Wesenheit nach. Zunächst deshalb, weil dasjenige, was der Entstehung nach später ist, der Form und der Wesenheit nach früher ist (zum Beispiel der Mann früher als das Kind, der Mensch früher als der Same; denn das eine hat bereits die Form, das andere jedoch nicht), ebenso weil alles, was entsteht, auf einen Anfangsgrund und ein Ziel hingeht (Anfangsgrund nämlich ist das Weswegen, das Entstehen indes gibt es wegen des Ziels); Ziel aber ist die Wirklichkeit, und um ihretwillen erhält man das Vermögen. Denn nicht, um den Gesichtssinn zu haben, sehen die Lebewesen, sondern um zu sehen, haben sie den Gesichtssinn.« (Aristot., metaph., 9, 8, 1049b4–1050a11: »ἐπεὶ δὲ τὸ πρότερον διώρισται ποσαχῶς λέγεται, φανερὸν ὅτι πρότερον ἐνέργεια δυνάµεώς ἐστιν. [. . . ] ἀλλὰ µὴν καὶ οὐσίᾳ γε, πρῶτον µὲν ὅτι τὰ τῇ γενέσει ὕστερα τῷ εἴδει καὶ τῇ οὐσίᾳ πρότερα (οἷον ἀνὴρ παιδὸς καὶ ἄνθρωπος σπέρµατος· τὸ µὲν γὰρ ἤδη ἔχει τὸ εἶδος, τὸ δ᾽ οὐ) καὶ ὅτι ἅπαν ἐπ᾽ ἀρχὴν βαδίζει τὸ γιγνόµενον καὶ τέλος (ἀρχὴ γὰρ τὸ οὗ ἕνεκα, τοῦ τέλους δὲ ἕνεκα ἡ γένεσις), τέλος δ᾽ ἡ ἐνέργεια, καὶ τούτου χάριν ἡ δύναµις λαµβάνεται. Οὐ γὰρ ἵνα ὄψιν ἔχωσιν ὁρῶσι τὰ ζῷα ἀλλ᾽ ὅπως ὁρῶσιν ὄψιν ἔχουσιν[.]«) Es macht demzufolge keinen Sinn, überhaupt eine Möglichkeit für etwas anzusetzen, für das es kein entsprechendes Wirklichkeitsparadigma gibt.
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beziehungsweise unseren Vorstellungen über die Natur – entlehnt sind. Damit verhält sich die Mimesis auch produktiv zur Wirklichkeit beziehungsweise zu unseren Annahmen über dieselbe. Wo Fuhrmanns und Höffes Ansetzen eines Wirklichkeitsbezug, eines bloßen Referenzmoments – das im Übrigen zuletzt von Geisenhanslüke ein weiteres Mal vertreten wurde –, 316 als eine allzu zurückhaltende Einschätzung anmutet, scheint mit Sörings Transzendierungsargument wohl in umgekehrter Richtung zu viel ausgesagt. Auch im Gegensatz zu Fuhrmanns Vorschlag von einer Nachahmung der Möglichkeit, die sich in der Dichtkunst, wie sie Aristoteles vorschwebt, vollzöge, 317 lässt sich – wollte man hierzu überhaupt einen einheitlichen Terminus veranschlagen – besser von einer ›Vermöglichung der Wirklichkeit‹ sprechen. Wir befinden uns dann an dem Punkt, an dem der Terminus der Dynamisierung eine poetologische Bedeutung erhält. Es lassen sich darüber hinaus noch weitere Punkte anführen, die für eine solche Dynamisierung sprechen. So lässt sich anhand der Linie des von Natur aus Möglichen hin zu den psychologischen Wirkvermögen ein umfassender Erklärungsanspruch geltend machen, den Aristoteles verfolgt: Das δυνατόν nämlich enthält nicht nur die Naturkategorien einer äußerlich vorgelagerten Welt, namentlich die des Wahrscheinlichen und Notwendigen, in ihm liegt darüber hinaus auch die Wirkweise auf die Rezipienten und damit ein energetisch auf den Menschen gerichtetes Moment begründet. Um diesen Zusammenhang zu illustrieren, lässt sich am sinnvollsten beim bereits aus der Rhetorik beVgl. die Ausführungen zur aristotelischen Poetik bei Geisenhanslüke (2015), 20: »Nicht die Darstellungsweise allein macht etwas zur Kunst, sondern der Bezug zum Gegenstand, wobei es sich im Falle der Dichtkunst eben um den Gegenstand der Nachahmung handelt, die Handlung«. In diesen Äußerungen lässt sich eine eigenwillige Auslegung des von Arbogast Schmitt vorgelegten Poetik-Kommentars sehen, insofern Schmitt an der von Geisenhanslüke in diesem Kontext zitierten Stelle – noch unter Verwendung der Erstauflage der Poetik-Übersetzung Schmitts von 2008 – erkennbar kein Bezugsmoment meint; vgl. Schmitt (2008), 196: »Ein künstlerischer Gegenstand ist nicht der Gegenstand selbst, sondern ein (der Wirklichkeit entnommener oder erfundener) Gegenstand, der in einem – von ihm verschiedenen – Medium auf eine bestimmte Weise dargestellt wird«. Die Diskrepanz besteht in einer sprachlichen Ungenauigkeit, dass nämlich die von Schmitt angeführten Verfahren ›Darstellen‹, ›Entnehmen‹ und ›Erfinden‹ nicht einfach mit dem Momentum des Referierens gleichzusetzen sind. 317 Diese Position lässt sich als ein – im Übrigen von Petersen (2000) vehement kritisierter – Rettungsversuch des konventionellen Nachahmungsgedankens auffassen: Die aristotelische Mimesis ziele Fuhrmann zufolge – in Abgrenzung zum platonischen Begriffsgebrauch – »nicht auf die Nachahmung von Wirklichem, als vielmehr auf die Nachahmung von Möglichem« ab (Fuhrmann [2003], 18). Eine solche Haltung setzt sich tatsächlich zumindest dem Verdacht aus, hier werde lediglich eine Verschiebung des Problems von einer ontologischen Kategorie auf die nächste vorgenommen. Zudem würde eine Nachahmung von Möglichem selbst nur Mögliches zweiter Stufe hervorbringen – und dies stünde im Widerspruch zu der von Aristoteles verfochtenen Energetizität, die von dichterischen Werken ausgeht, mithin einen Schritt zur aktualen Wirklichkeit verfolgt. 316
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kannten Glaubwürdigkeitskriterium (πιθανόν) ausholen. Dieses kann – noch dezidierter als das Mögliche – als wirkintensiv gelten, insofern es auf die Seelenteile – wie auch bereits viel früher bei Parmenides gesehen – in unterschiedlichem Grade wirkt. Exemplarisch hierfür tritt bei Aristoteles die Frage ein, warum Tragödiendichter in ihren Werken überhaupt historische Eigennamen verwenden, die doch auf den ersten Blick als referenzielle Wirklichkeitsgrößen par excellence aufzufassen sind. Die Antwort hierauf führt die Verbindung zwischen dem Wirkbereich (Glaubwürdiges) und dem Transformationsbereich (Mögliches) vor Augen: αἴτιον δ᾽ ὅτι πιθανόν ἐστι τὸ δυνατόν. τὰ µὲν οὖν µὴ γενόµενα οὔπω πιστεύοµεν εἶναι δυνατά, τὰ δὲ γενόµενα φανερὸν ὅτι δυνατά. οὐ γὰρ ἂν ἐγένετο, εἰ ἦν ἀδύνατα. 318
Dem Möglichen gelingt es demzufolge über seine Eigenschaft der Glaubwürdigkeit, auch Faktisches als poetisch erscheinen zu lassen. Im selben Zuge gelingt es durch die Poiesis, etwas Faktisches als möglich erscheinen zu lassen. Die Delegierung der Glaubwürdigkeit – die hier nicht mit der parmenideischen πίστις, dafür aber mit dem damit eng verwandten Verb πιστεύειν aufgeworfen wird – an die δυνατά erweist sich hier bereits freilich als eine graduelle. In demselben Maße, in dem sich das Mögliche dem Unglaubwürdigen nähert, muss sich das Glaubwürdige von ihm lossagen und sich dem Wahrscheinlichen und gegebenenfalls gar dem Unmöglichen zuwenden. 319 Der Grad der Glaubwürdigkeit befindet sich in einem poetischen Spiel mit dem Grad der Möglichkeit. Das πιθανόν wird dadurch fast beiläufig zum neuen Telos der poetischen Darstellungsrichtung erklärt. Diese auf die Rezipienten fokussierte Bestimmung wird von Aristoteles noch weiter verfolgt: Während das Glaubwürdige mit dem Verstandesvermögen in Verbindung zu bringen ist, geht es in einem weiteren Schritt um den Bereich des rein Affektiven: Aristot., poet., 9, 1451b16–18: »Grund dafür [dass die Tragiker Eigennamen verwenden] ist, dass das Mögliche glaubwürdig ist. Von demjenigen, was nicht geschehen ist, glauben wir nicht ohne Weiteres, dass es möglich sei, während es offenkundig ist, dass das Geschehene möglich ist. Denn es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre«. 319 Vgl. die chiastisch gesetzten Asyndeta ἀδύνατα εἰκότα und δυνατὰ ἀπίθανα ebd., 24, 1460a26 f.: »προαιρεῖσθαι τε δεῖ ἀδύνατα εἰκότα µᾶλλον ἤ δυνατὰ ἀπίθανα.« (»Das Unmögliche, aber Wahrscheinliche verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist«), der sich auf den ersten Blick gegen das Mögliche als poetologische Leitkategorie zu richten scheint, tatsächlich jedoch hier – sowie fast entsprechend ebd., 25, 1461b11 f. – etwas anderes ausdrückt, dass es nämlich neben dem ›regulären Fall‹ (das Mögliche erscheint uns glaubwürdig) auch die umgekehrte Perspektive gibt, indem die Rezipienten bereit sind, zugunsten ihrer eigenen Überzeugtheit Abstriche an eine streng realistische Darstellungsweise zu machen. Hierin zeigt sich besonders deutlich, dass es sich bei der Glaubwürdigkeit im aristotelischen Sinne nicht um ein rationales, sondern um ein wirkintensives Moment handelt. 318
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Die Zuwendung zum Unmöglichen sei erst recht legitimiert, »wenn sie [die Dichtkunst] auf solche Weise entweder dem entsprechenden Teil selbst oder einem anderen Teil ein stärkeres Erschütterungsmoment verleiht«. 320 Anders gesprochen: Aristoteles erlaubt hier dem poetischen Kunstwerk eine Verringerung an Weltstärke zugunsten der Wirkstärke auf die Rezipienten. Dass es sich hierbei um eine Größe handelt, die graduell korreliert zu denken ist, drückt sich im Gebrauch des Komparativs ἐκπληκτικώτερον aus. Das Wirkvermögen der Dichtkunst wird demnach zum einen von der Überzeugungskraft des δυνατόν selbst gespeist; zum anderen müssen, soll die Seele intensiv gerührt werden, auch Verstärkungseffekte eine Rolle spielen. Sie erinnern auf den ersten Blick an die in der poetologischen Tradition so häufig diskutierten Schemata zur Übermittlung interiorer Zustände vom Dichter an sein Publikum. Denn am überzeugendsten wirke die Dichtkunst, wenn die hervorzurufenden Affekte bereits im Produktionsstadium beim Urheber vorlägen: πιθανώτατοι γὰρ ἀπὸ τῆς αὐτῆς φύσεως οἱ ἐν τοῖς πάθεσίν εἰσιν, καὶ χειµαίνει ὁ χειµαζόµενος καὶ χαλεπαίνει ὁ ὀργιζόµενος ἀληθινώτατα. διὸ εὐφυοῦς ἡ ποιητική ἐστιν ἢ µανικοῦ· τούτων γὰρ οἱ µὲν εὔπλαστοι οἱ δὲ ἐκστατικοί εἰσιν. 321
Die hier verhandelten Affekte der leidenschaftlichen Erregung und des Zorns sind bei aller Bezugnahme auf die gängige Begriffstradition (ἐκστατικοί) indes nicht zu verwechseln mit dem enthusiastischen Vermögen, das von Platon noch im Ion diskutiert wurde. Die Glaubwürdigkeit wird durch jene Emotionen, das heißt: in ihrer Wirkintensität, vielmehr verstärkt und auf ihren höchsten Grad (πιθανώτατοι) gebracht. Dass sie sich dabei aber nicht auf einen göttlichen ἐνθουσιασµός verlassen kann, sondern durchaus mit der regelgeleiteten τέχνη verhaftet bleibt, zeigt sich in der rationalen Behandlung des πάθος. Denn insofern der Dichter sich in eine Handlung, die er darzustellen beabsichtigt, nur hineinversetzen, sie sich gleichsam »möglichst vor Augen stellen« 322 solle, bleibt ein Distanzmoment bestehen, das sich schwerlich mit der Kraftübertragung der im Ion verhandelten θεία δύναµις gleichsetzen lässt. Aristoteles' δύναµις käme vielmehr auf problematische Abwege, wollte sie sich auf ein Gemüt des Dichters berufen, das von einem Gott enthusiastisch erhitzt worden
Ebd., 25, 1460b25 f.: »εἰ οὕτως ἐκπληκτικώτερον ἢ αὐτὸ ἢ ἄλλο ποιεῖ µέρος«. Ebd., 17, 1455a30–34: »Am überzeugendsten nämlich sind diejenigen, die bei selbiger Naturanlage sich in Leidenschaften versetzt haben, und am wahrhaftigsten stellt der selbst Erregte die Erregung und der Erzürnte den Zorn dar. Daher ist die Dichtkunst die Sache eines wohlbegabten oder eines leidenschaftlichen Menschen; von diesen nämlich sind die einen wandlungsfähig, die anderen erregbar«. 322 Ebd., 17, 1455a23: »µάλιστα πρὸ ὀµµάτων τιθέµενον«. 320
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wäre. 323 Die Intensität des πιθανόν zeigt sich vielmehr anhand zweier Dimensionen: Sie wird vom Grad des Möglichen (je möglicher, desto glaubwürdiger) sowie vom Grad eines priorisch vorgestellten Affektes (je aufgeregter, desto ekstatischer) bestimmt. Das technische Vermögen des Dichters, sei es in einem glaubwürdigen, phantasiebegabten oder erregbaren Urgrund vorgestellt, behält bei alledem indes stets seinen regulativen Zugriff im Sinne des einmal gefassten Plans, und das heißt: der einmal gefassten κίνησις bei. Die Art von Poiesis, die Aristoteles vorschwebt, erfordert somit mehrere prozedural aufeinander abgestimmte Fertigkeitsaspekte: Sie geht von einer anthropologisch fundierten τέχνη aus, vollzieht sich über stofflich-formale Zusammenfügungen nach Maßgabe des δυνατόν und reicht – konkret auf das Beispiel der Tragödie bezogen – bis hin zur Bewirkung des Jammer- und Schaudervollen. Wendet sie sich den Affekten zu, so darf sie sich indes auch bis zu einem gewissen Grade anderen Paradigmen als dem Möglichen zuwenden. Genau diese Umfänglichkeit impliziert die im Proömium genannte δύναµις εἰδῶν. Handelte es sich, wie Geldsetzer zusammenfasst, bei der dezidiert naturphilosophischen Betrachtung der δύναµις »noch [um] reine Beschreibungsmittel, die erinnerte und erwartete Zustände auf Substanzen und Lebewesen beziehen«, 324 so schwingt hier stets das konkrete kinetische Potential mit, das die δύναµις als »der Anfangsgrund der Bewegung oder der Veränderung«, 325 das heißt in Form ihres poetischen Darstellungsvermögens und ihrer Wirkkraft besitzt. In der Poetik ist sie daher kein rein abstraktes Beschreibungsmittel, das einem Gegenstand zukommt, sondern eine aus und entlang der poetischen Tätigkeit entwickelte Bestimmungsrichtung. Die dichterischen Kunstwerke beZur Bedeutung des Vor-Augen-Stellens – das sich nicht auf einen irrationalen Schaffensakt beziehen kann, sondern in seiner Begründung durch das naturphilosophische Prinzip der ἐνέργεια, und darin verweisend auf die κίνησις, als rational erfassbar und reduzibel erweist – vgl. Aristot., rhet., 3, 11, 1411b24–27: »λέγω δὴ πρὸ ὀµµάτων ταῦτα ποιεῖν ὅσα ἐνεργοῦντα σηµαίνει, οἷον τὸν ἀγαθὸν ἄνδρα φάναι εἶναι τετράγωνον µεταφορά (ἄµφω γὰρ τέλεια, ἀλλ᾽ οὐ σηµαίνει ἐνέργειαν: ἀλλὰ τὸ, ἀνθοῦσαν ἔχοντος τὴν ἀκµήν᾽ ἐνέργεια, καὶ τὸ, σὲ δ᾽ ὥσπερ ἄφετον᾽ ἐλεύθερον ἐνέργεια, καὶ, τοὐντεῦθεν οὖν ῞Ελληνες ᾁξαντες ποσίν.« (»Ich verstehe unter ›VorAugen-Stellen‹ all das, was Wirksamkeit zum Ausdruck bringt – beispielsweise zu sagen, dass ein guter Mann ein Quadrat sei, ist eine Metapher (denn beides ist vollkommen, indes bringt es nichts Wirksames zum Ausdruck) – wohingegen ›Er steht im blühenden Alter‹ Wirksamkeit bedeutet, ebenso wie ›dich, gleichsam entfesselt‹ und ›Da sprangen die Griechen auf ihre Füße‹« sowie im Anschluss daran ebd., 1412a10: »ἡ δ᾽ ἐνέργεια κίνησις.« (»Wirksamkeit aber ist Bewegung.«) Die ersten beiden von Aristoteles bemühten Zitate finden sich bei Isokr., or., 5, 10, 127, das dritte bei Eur., Iph. A., 80. (dort allerdings δορί statt ποσίν überliefert). Zu alledem tritt der für das antike Verständnis so grundlegende Gedanke, dass die Geometrie als eine mathematische Teildisziplin selbst in ihrer rhetorischen Nutzbarmachung abstrakt bleiben muss, hier hervor. 324 Geldsetzer (2009), 47. 325 Aristot., metaph., 5, 12, 1019a15 f.: »ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως ἢ µεταβολῆς«. 323
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sitzen nach diesem Prozess keinen Veränderungsdrang (ὁρµή) mehr, da sie ja – ausgehend vom natürlichen Urgrund ihrer Bewegung, der bereits ein Ziel enthalten muss – nunmehr zu ihrem teleologischen Zustand in se gelangt sind; wohl aber besitzen sie eine aus ihrer jeweiligen Realisation gewonnene Wirkkraft. Die Momente, in denen sich deren Intensität bemessen lässt, sind dabei, wie gezeigt, begrifflich und konzeptionell eng mit poetischen Formen, Vermögen und Darstellungsweisen verbunden. Einige wesentliche Schritte in diesem Vorgehen können nach den bisherigen Betrachtungen folgendermaßen zusammengefasst werden: (1) Der aus Vermögen (δύναµις) und Darstellung (µίµησις) hervorgehende Formaspekt (εἶδος) der Dichtkunst betrifft vor allen Dingen die Zusammenstellung und -fügung (σύστασις, σύνθεσις) von Gegebenheiten (πράγµατα), Handlungen (πράξεις) und Mythen (µῦθοι). Sie sind extrinsischen Zusammenhängen entnommen und erzeugen auch wiederum solche Zusammenhänge, insofern Mythen einen allgemeinen kulturellen Schatz an Geschichten und Handlungen zum Ausdruck bringen. (2) Der poetischen Zusammenstellung wird als Leitparadigma das Mögliche (δυνατόν) zugrunde gelegt. Dieses setzt sich naturphilosophisch aus den Prinzipien des Wahrscheinlichen (εἰκός) und Notwendigen (ἀναγκαῖον) zusammen. (3) Mit dem Möglichen eng verhaftet ist die Glaubwürdigkeit (πίστις). Denn was uns als möglich erscheint, erscheint uns grundsätzlich auch als glaubwürdig (πιθανόν). Zudem lässt sich die Glaubwürdigkeit – im Sinne ihrer Verunmittelbarung – über Affekte weiter intensivieren. Das Wunderbare (θαυµαστόν) kann dabei zur Wirkintensität elementar beitragen, muss sich aber im Rahmen des Glaubwürdigen, das heißt: immer noch nach den Regeln der σύστασις beziehungsweise der σύνθεσις abspielen. Der Schnittpunkt zwischen der Extensivierung von Sachverhalten (›Vermöglichung‹, selbst von Faktischem / Historischem, in der Dichtkunst) und der Intensivierung von Affekten liegt demnach in vorzüglicher Weise in der Koinzidenz von Möglichkeit und Glaubwürdigkeit vor. (4) In der weitestgehenden Entkopplung der Dichtkunst von Wahrheits- und Wissensdiskursen zugunsten der genannten wirkintensiven Kategorien (πάθος/παθητικόν, πίστις/πιθανόν, θαῦµα/θαυµαστόν, ἔκπληξις/ἐκπληκτικόν) lässt sich nicht nur eine neue Verankerung der Stoff- und Formfunktionen der Poiesis, sondern auch eine deutlich stärkere Dynamisierung des poetischen Produktionsaktes feststellen. Diese Dynamisierung nimmt im Vergleich zu Referenzialisierungs- und Transzendierungsmodellen eine autarke Stellung ein. Hierin zeigt sich eine augenfällige Weiterentwicklung
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sowohl in Hinsicht auf die Inspirationstopiken der Lyrik, Epik und Lehrdichtung als auch auf die Epistemologien der sophistischen Aufklärung sowie auf die Argumentationsmuster eines Platon, der noch die Transzendenz als oberste (und für die Dichtkunst praktisch unerreichbare) ontische Ebene festsetzte. Nimmt man die Art und Weise in den Blick, wie sich in der Poetik ontologische und psychologische Größen miteinander verbinden, kann es nicht verwundern, dass ihre Rezeptionsgeschichte so vielfältig ausfallen musste. Durchweg lässt sich dabei eine gewisse Konstanz in der Hinwendung zu regelgeleiteten Kohärenzprinzipien feststellen. Selbst in der Behandlung der Affekte und des Wunderbaren, die wohl noch die geeignetsten Kandidaten für irrationale Begründungsmomente darstellen könnten, scheinen Aspekte einer taxonomisch geordneten Prozeduralität durch. Kontingenzaspekte, die ja in der Behandlung von Produktionsprozessen durchaus einer Erwähnung wert wären, werden demgegenüber geradezu eliminiert. Aristoteles überführt dadurch die Dichtkunst aus der vorsokratischen und platonischen Vertikalen (θεοί – ἄνθρωποι) auf die horizontale Ebene der Kohärenz (πρᾶγµα – πρᾶγµα). Jene so häufig als eine Art initialer Topos eingeführte Diskrepanz zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre wird daran anschließend durch eine neue Vertikale ersetzt. Diese verläuft, von den Mythen (µῦθοι) ausgehend, über die Handlung (πρᾶξις) und die allgemein bedeutsame Gegebenheit (πρᾶγµα) über deren Strukturfolgen (σύστασις, σύνθεσις) bis hin zu den Affekten (πάθη) selbst. Struktur und Wirkung werden dadurch nicht länger voneinander geschieden, sondern als sich zu einer gemeinsamen Bestimmungsrichtung ergänzende Aspekte betrachtet. Die narrative und performative Kraft der Handlung finden sich in der Kategorie des Glaubwürdigen (πιθανόν) wieder. Dieser formale Anspruch, den Aristoteles an die Dichtkunst stellt, wird für zahlreiche Grundgedanken der frühneuzeitlichen ars aesthetica – die sich ihrem eigenen Selbstverständnis nach selbst aus einer naturphilosophisch fundierten Psychologie heraus generiert – von einiger Bedeutung sein – etwa in den Geltungsansprüchen des nexus rerum und der series in Bezug auf Wahrnehmungen, Wörter und Vorstellungen, der rationalen Betrachtung der inneren repraesentationes sowie in den modallogischen Implikationen, die für Gottsched, Wolff, Baumgarten, Bodmer und Breitinger von elementarer Bedeutung für die Bestimmung des poetischen Kunstwerks sind.
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5.b. Wirkkräfte und Vermögen bei Cicero
Im Sinne der oben genannten Zielsetzung, individuelle Tugenden und Vermögen mit der Möglichkeit der Nachahmung zu belegen, wird der Topos der imitatio oratorum in der spätrömischen Republik sowie in der frühen Kaiserzeit weitgehend im Sinne einer Vorbildsfunktion aufgefasst: Der Schüler orientiert sich an dem, was sein magister oder praeceptor ihm vorgibt, ja geradezu vorlebt. Er entwickelt seine eigenen rhetorischen Fähigkeiten anhand der Beispielhaftigkeit seines magister dicendi. 326 Hierbei geht es nicht um das Erlernen abstrakter Regeln, etwa aus den Bereichen der Logik, der Mathematik oder verwandter Disziplinen; vielmehr steht die Aneignung eines bestimmten Lebensmodells auf Grundlage der eigenen Begabung zur Diskussion. Varwig führt dies mit Blick auf Cicero und Quintilian folgendermaßen aus: Es geht also um die Frage, wie weit begabungsbedinge (d. h. sensibilisierbare) Erfahrungen und Erkenntnisse, die ›schlecht‹ in Kunstregeln zu fassen sind, durch Modelle ›erlernbar‹ gemacht werden können, und – hier speziell – wie weit zur perfekten ›Imitation‹ (= Modell und damit als ›tertium comparationis‹ verschwunden und deshalb ohne besonderen Terminus von der Konzeption der Nachahmung getrennt) Begabung Voraussetzung ist. So kann die willentliche, nachahmende Veränderung der ›natura hominis‹, d. h. Bildung z. B. nach dem Modell Cicero [. . . ] eines Tages in die Erfüllung dieses Modells übergehen und damit das ›imitatio‹-Verfahren abgeschlossen sein. Den Gegensatz bildet die logische Methode, d. h. ›ars‹, die immer als Verfahren Gültigkeit hat und nie abgeschlossen ist [. . . ]. 327
Die Beispielhaftigkeit des Lehrers ist, wie bereits oben angedeutet, zuallererst in der Tugend (virtus) selbst zu suchen. Dieser Nexus ist so weit verbreitet, dass er nicht nur für Autoren gilt, die sich zuvorderst der Ausbreitung einer rhetorischen Theorie verschreiben. So wirkt Horaz' Spott in der epistula 1, 19 über denjenigen, der sich ausgerechnet Untugenden (vitia) zum nachahmenswerten Vorbild nehmen wolle umso eindringlicher, wenn er in Form einer gnomisch anmutenden Sentenz angeführt wird: »Es täuscht ein Vorbild, das durch seine Laster nachahmenswert ist.« 328 Zudem klingt in diesem Zusammenhang die Forderung an, dass sich Nachahmung stets auf etwas Interiores richten solle – denn »würde jemand, wenn er ungeschlacht barfuß mit finsterem Blick und Vgl. zu dieser Tradition die exemplarisch angeführten Streitpunkte des Redeschmucks bei Cic., orat., 5 (17) sowie der Vokalverschleifung ebd., 44 (151). 327 Varwig (1976), 74. 328 Hor., epist., 1, 19, 17: »[D]ecipit exemplar vitiis imitabile«. 326
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im Gewand einer knapp geschnürten Toga Cato nacheifert, dessen Tugend und Charakter widerspiegeln?« 329 Von einem tugendhaften und charaktervollen Cato wird hier nicht grundlos gesprochen. Der ältere Cato, den auch Cicero noch so hoch schätzen wird, dass er ihm mit Cato maior de senectute (44 v. Chr.) ein regelrechtes literarisches Denkmal setzt, verkörpert nicht nur all die nachahmenswerten Charakteristika 330 eines römischen Ehrenmannes in Personalunion, sondern forderte ebendiese Tugenden auch stets von seinen Zeitgenossen ein – dies besonders nachdrücklich in seinen Auftritten im Senat. 331 An ihm spiegeln sich daher nicht nur die Vorzüge eines vir honestus, sondern auch die damit verbundene Aufforderung wider, sich eine solche Tugendhaftigkeit auch selbst anzueignen. Durch die explizite Nennung Catos positioniert sich Horaz zu solchen Werten, die mit der virtus und damit auch der imitatio einher gehen, scheinbar in ganz ähnlicher Weise. 332 Für unser Thema konstitutiver als diese Tugendkataloge Ebd., 1, 19, 12–14: »si quis voltu torvo ferus et pede nudo / exiguaeque togae simulet textore Catonem, / virtutemne repraesentet moresque Catonis?« Der Fragemodus ist hier rhetorisch und impliziert seine eigene ablehnende Antwort bereits (coniunctivus indignationis); ab Vers 21 überträgt Horaz im Übrigen die Frage, ob Nachahmung auf der reinen Oberfläche überhaupt als Nachahmung gelten dürfe, auf einen zeitgenössischen poetologischen Diskurs, in den er sich auch selbst mit einbezieht. Namentlich verweist er auf den eventuell vorbringbaren Vorwurf, er selbst stelle nicht mehr als einen elitären Nachahmer griechischer Vorbilder dar. Die rhetorische Verfahrensweise, durch expliziten Hinweis auf ein Negativbeispiel das darzustellende Positive umso deutlicher hervortreten zu lassen, ist aus den sermones bekannt und wird, worauf Steidle (1939), 10 hinweist, programmatisch in Hor., serm., 1, 4, 103–106 ausgeführt und wohl am prominentesten in Hor., ars, 1–4 zur Anwendung auf ästhetische Urteile gebracht. In der hier diskutierten Stelle scheint es vor allem die diätetische, die Lebensweise betreffende Ebene zu sein, auf der es um die Frage nach Vor- und Gegenbildern geht. 330 Hierzu zählen etwa die auctoritas, die gravitas und die dignitas, ganz besonders aber die virtus, die zur Zeit der späten Republik nach Ciceros Auffassung angesichts eines mutmaßlichen Sittenverfalls einen derart schweren Stand habe, dass es für einen Autor fast schon gefährlich werden könnte, überhaupt noch ein Enkomion auf Cato zu schreiben; vgl. Cic., orat., 10 (35): »Itaque hoc sum aggressus statim Catone absoluto, quem ipsum numquam attigissem tempora timens inimica virtuti, nisi tibi hortanti et illius memoriam mihi caram excitanti non parere nefas esse duxissem.« (»Daher bin ich sogleich an dieses [sc. Werk, nämlich den Orator] gegangen, sobald der Cato beendet war, den ich niemals angerührt hätte – da ich die Zeitumstände fürchtete, die der Tugend feindlich gesonnen sind –, wenn ich nicht geglaubt hätte, dass es ein Frevel wäre, dir nicht Folge zu leisten, so du mich doch zu der mir lieben Erinnerung an jenen nachdrücklich ermahnst und aufforderst.«) Zur Ethik der exempla in Ciceros theoretischen Schriften und Dialogen vgl. in jüngerer Zeit Sauer (2018). 331 Zum Leben und Fortwirken Catos aufgrund seiner virtutes vgl. den Abriss bei Albrecht (1992), 314–326; zum Cato-Bild bei Cicero vgl. Kammer (1964); zur Rezeption Catos als historischer Figur insgesamt vgl. Della Corte (21969). 332 Dies heißt wohlgemerkt nicht, dass sich Horaz durch solche – immerhin in einem stichischhexametrischen Kunstbrief verfassten – Äußerungen de facto solchen Werten verschreiben noch dass er sich zu ihnen persönlich ›bekennen‹ würde. Vielmehr bilden die Lebensweisen des älteren 329
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oder -projektionen – und erst recht die Frage, inwiefern es legitim ist, von derartigen Projektionen auf die Haltung des Dichters Horaz selbst zu schließen – ist nun die Rolle, welche die simulatio selbst an dieser Stelle spielt. Die im Text aufgerufene Funktion der simulatio richtet sich offenkundig nach dem Äußeren, dem Anschein und wird für diese Oberflächlichkeit auch getadelt; 333 zudem erscheint sie kaum von einem selbständigen Interesse geleitet und kann gar, wie auch die ihr verwandte assimulatio, bis hin zu einer ›Selbstverstellung‹ reichen. 334 Die richtig verstandene imitatio hingegen verweist unmittelbar auf persön-liche Anlagen, auf Vorstellungen innerer Güter, kraft derer ein Mensch überhaupt erst zum exemplar wird. Bezogen auf die Rhetorik kann dies nur heißen, dass sich in der rednerischen Performanz des magister dicendi daher zugleich auch die beispielhaften Vorzüge (exempla) seiner natürlichen Anlage (ingenium) manifestieren. Sie sind dabei ihren Äußerungsformen nach durchaus empirisch bestimmbar – man kann sie loben (laudare), bewundern (admirari), nachahmen (imitari) etc. – und beziehen auch ihren Wirkgehalt zu nicht unerheblichen Teilen aus der sich im täglichen Auftreten offenbarenden Lebenspraxis. In ihr verbinden sich so unterschiedliche Lebensbereiche wie Kriegskunst, Politik und Poesie. Krasser hat dieses Zusammenspiel unter Bezug auf das horazische carmen 3, 2 herausgestellt: Alle Qualitäten, die Horaz an großer virtus rühmt, sind zugleich die spezifischen Qualitäten der eigenen Dichtung und der eigenen Existenzform als Lyriker. Umgekehrt bedeutet dies, daß man getrost auch dort, wo Horaz die Größe der (und auch des jüngeren) Cato in der Rhetorik- und Bildungstheorie der römischen Republik florierende Topoi, die bevorzugt in rhetorischen, politischen und philosophischen Diskursen als Vorbilder für bestimmte Grundhaltungen aufgegriffen werden; so wird etwa Cato maior geradezu im Sinne einer Chiffre für eine sittenstrenge und altrömische Lebensführung verwendet; hinsichtlich der politischen und moralischen Qualitäten von Cato minor lassen sich demgegenüber gewisse Kontroversen ausmachen; man betrachte nur Ciceros Lobschrift (46 v. Chr.) sowie die darauf folgenden Repliken, wie sie sich in Brutus’ Cato und Caesars Anticatones zeigen. Über die letztere Schrift sind wir – neben wenigen erhaltenen Fragmenten – durch Plutarchs Caesar-Biographie unter- richtet; vgl. Plut., Caes., 3 und 8. Horaz bedient sich solcher Vorbilder allerdings – wie Müller treffend zuspitzt – insbesondere in den Epistulae auf eklektische Weise, die »weniger auf Rezeption und Weiterentwicklung einer bestimmten philosophischen Schule beruht, sondern in der Vermittlung einer bestimmten Lebenshaltung liegt, die für Horaz das Ziel ethischer Reflexion markiert.« (Müller [2018], 118) Zum Rezeptionsverhältnis, das im ersten Jahrhundert n. Chr. Seneca bezüglich der stoischen Tugendlehre und auch allgemein zu Horaz einnimmt, vgl. Stöckinger – Winter – Zanker (2017). 333 Zu dieser lexikalischen Grundbedeutung vgl. Georges (81998), s. v. »simulo«, 2679: »etwas zum Scheine äußern, [. . . ] sich den Anschein geben«. Sie ist sowohl bei prosaischen (etwa bei Cicero, Sallust und dem jüngeren Plinius) wie auch poetischen Autoren (etwa bei Ovid und Vergil) umfangreich belegt. 334 Vgl. Georges (81998), s. v. »simulatio«, 2678 und ebd., s. v. »assimulatio«, 643.
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eigenen Dichtung rühmt, selbst wenn der Begriff virtus nicht genannt wird, die hier zugrundeliegende Konzeption von virtus voraussetzen darf. Wie der Soldat oder der Politiker kann also auch der in iii 2 nicht unmittelbar genannte, nur im Zitat latent gegenwärtige Dichter als Repräsentant der hier beschriebenen virtus gefaßt werden. Dies bedeutet, daß Horaz die virtus-Ideologie, die ja auch realiter [. . . ] der Selbstdarstellung von Feldherren und Politikern vorbehalten war, zur Beschreibung poetischer Leistungen einsetzt und damit eine prinzipielle Gleichwertigkeit politisch-militärischer und poetischer Tüchtigkeit behauptet. 335
An Krassers Einlassungen lässt sich manches gewiss kritisieren, wie etwa der heroisch-männlich konnotierte Begriffe der »politisch-militärische[n] [. . . ] Tüchtigkeit«. Dass aber eine Forderung nach Ideologie überhaupt in den rhetorischen Künsten eine hohe Verbreitung findet, verwundert nicht so sehr, wenn man den Stellenwert mit einbezieht, den der Lebenswandel in einer politischen Ämterkarriere an der Seite der rednerischen Ausbildung genießt. Zudem wird auch in poetologischen Begründungszusammenhängen der vita, die zum exemplum taugt, ein durchaus hoher Stellenwert beigemessen. So wird nicht nur in Horaz' carmina, sondern auch in der Ars poetica als ein elementarer Anspruch an den Dichter formuliert: »Auf das Musterbild des sittlichen Lebens zu blicken, dazu will ich auffordern, und [dazu auffordern,] als gelehrter Nachahmer von dort lebendige Worte abzuleiten«. 336 Während Horaz sich in seinen Ausführungen auf die Dichter bezieht, kann Cicero als Verfechter der Lebenstüchtigkeit in Bezug auf die Rhetorik gelten. Mit am prägnantesten kommt das in De Oratore zum Ausdruck: Krasser (1995), 70. Hor., ars, 317 f.: »Respicere exemplar vitae morumque iubebo / doctum imitatorem et vivas hinc ducere voces«. Dass es sich bei dem hier angeführten exemplar vitae um eine derartige Lebenswirklichkeit handeln könne, dass sie in einem rein assimilierenden Sinne von der Poesie nachgeahmt werde, vertritt Fuhrmann (2003), 153. Dem kann indes mit Kiessling (51957), 344 und Petersen (2000), 73–76 entgegengehalten werden, dass es sich durchaus um Ideale handelt, die durch die Lebensführung gleichsam lebendig werden und dadurch zu einer Aneignungsfähigkeit gelangen können. Der Dichter muss die exempla gewissermaßen in ihrer sinnlichen Gegebenheit zunächst erkennen und dann auf eine eigene, lebendige Vorstellungswelt hin entwickeln (vivas voces ducere). Er behält dabei – darin dem aptum/decorum-Anspruch der Redner durchaus ähnelnd (vgl. auch Hor., ars., 308) – im Blick, dass Ausdruck und Gesagtes in angemessener Weise zueinander passen mögen – so sehr beim Vorbild wie beim darauf blickenden Redner und Dichter. Der doctus imitator ist daher alles andere als ein bloßer Kopist oder gar Nachäffer, sondern jemand, der mit verständigem, tiefem Blick die Mustergültigkeit in den beispielhaften Vorbildern erkennt und daraus – in Verbindung mit seiner eigenen Gelehrsamkeit – etwas Eigenes, und zwar Lebendiges schafft. Für beide mit der Sprachkunst befassten artes, die Poetik und die Rhetorik, ist somit die Rolle der Mustergültigkeit und der Vorbildhaftigkeit in Verbindung mit ihrer sinnlichen Repräsentationskraft zentral. 335 336
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Valet igitur multum ad vincendum probari mores et instituta et facta et vitam eorum, qui agent causas, et eorum, pro quibus, et item improbari adversariorum, animosque eorum, apud quos agetur, conciliari quam maxime ad benevolentiam cum erga oratorem tum erga illum, pro quo dicet orator. Conciliantur autem animi dignitate hominis, rebus gestis, existimatione vitae; quae facilius ornari possunt, si modo sunt, quam fingi, si nulla sunt. 337
Die Worte des Redners erhalten ihren besonderen Wert erst aufgrund der Quelle und mit welchem Können sie zur Darstellung gebracht werden – und nicht dadurch, dass der Rezipient sie auf willkürliche Weise ›schön‹ findet. Die Quelle der Redekunst ist daher nicht platonisch idealisiert zu denken, sondern ein Ideal, das aus der Begabung, der Bildung und der lebensweltlichen Praxis einer Person gleichermaßen schöpft. ›Muster‹ und ›Vorbilder‹ lassen sich somit anhand von Bildungsidealen präzisieren. Die Ideale vir bonus, vir peritus und vir doctus arbeiten weder dem Eigeninteresse noch der Rhetorik als Disziplin zum Selbstzweck zu, sondern werden als Leitbilder mit weiteren überindividuellen Wirkgehalten, dabei besonders häufig einem politischen, assoziiert. 338 Ein solcher Anspruch beschränkt sich nicht auf die bloße Beherrschung der officia oratoris, die traditionellerweise ganz in taxonomischen Gerüsten eingehegt sind, 339 sondern meint stets auch eine Aneignung elementaren Wissens über die Welt vermittels der freien Künste (artes liberales). Hierfür tritt zunächst das bereits von Cato eingeforderte – und nach Meinung seiner zeitgenössischen Zuhörer durchaus auch von ihm selbst verkörperte – Ideal eines vir bonus dicendi peritus ein. 340 In der peritia lässt sich somit zum einen die konkrete Erfahrung im Reden, die in einem grundlegenden Sinne überhaupt erst zur rednerischen Praxis befähigt, 341 jedoch darüber hinaus auch ein durch WelterfahCic., de orat., 2 (182): »Es ist also für den Erfolg [sc. der Rede] wichtig, dass man die Sitten, die Gepflogenheiten, die Taten und das Leben derer, die einen Fall verteten, wie auch derer, für die [sc. der Fall vertreten wird], anerkennt, ebenso die der Gegenseite verwirft und dass man die Gemüter derjenigen, vor denen [sc. der Fall] verhandelt wird, möglichst zum Wohlwollen hin neigt, sowohl gegenüber dem Redner als auch gegenüber jenem, für den der Redner spricht. Die Gemüter lassen sich aber gewinnen durch die Würde eines Menschen, durch seine Taten und durch die Beurteilung seines Lebens. Diese Dinge kann man leichter hervorheben, wenn sie vorhanden sind, als sie zu erfinden, wenn sie nicht vorhanden sind«. 338 Hier sei auf die Bemerkungen bei Kühnert (1996), 457 hingewiesen. 339 Zu den einflussreichsten Referenztexten, aus denen Taxonomien wie die partes orationis, die genera orationis oder auch die partes rhetorices hervorgegangen sind, zählen Aristoteles’ Rhetorica und Topica, Ciceros Brutus, Orator, De oratore und De inventione sowie die anonym verfasste und lange Zeit Cicero zugeschriebene Schrift Rhetorica ad Herennium. 340 Vgl. die diesbezügliche Äußerung bei Quint., inst., 12, 1, 1, worauf bei der Behandlung der Institutio oratoria in Kapitel II.5. noch näher einzugehen sein wird. Zu den Rollenbildern Catos und ihrer Funktionalität im Rahmen politischer Kommunikation vgl. Nickl (2011). 341 Vgl. Georges (81998), s. v. »peritia«, 1607: »durch Erfahrung erlangte praktische Kenntnis«. 337
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rung angereichertes Vermögen ausmachen. Der die römische Antike prägende und rezeptionsgeschichtlich einflussreiche Ausdruck für einen solchen vollkommenen Rednerstatus ist derjenige des orator perfectus. 342 Fuhrmanns Diktum, dass »das rhetorische Handwerkszeug [. . . ] in einem größeren Ganzen, in einer Allgemeinbildung philosophisch-literarischen Gepräges auf[ging]«, 343 lässt sich noch dahingehend präzisieren, dass die produktive Aneignung der artes zur natürlichen Aufgabe des nach Perfektion strebenden Redners zählt und dass dieser in seiner Weltzugewandtheit Dinge verkörpert, die über ihn selbst hinausgehen. Dabei verschränken sich in ihm Vermögen (ingenium, δύναµις) und persönliche Beispielhaftigkeit (exemplar, παράδειγµα) zu einem gelehrten Rednerideal. Anders gewendet: Das Rednerideal weist in sich bereits eine Komplexität auf, die aus der Diversität der artes liberales gespeist wird, um dann im Redner selbst zu einer Einheit gebracht zu werden. Aus der Vielfältigkeit der artes entsteht erst die Vielseitigkeit des Redners; aus dieser Vielseitigkeit resultiert dann wiederum eine bestimmte Umfänglichkeit der Kompetenz. Und diese sich aus so verschiedenen Wissensbereichen heraus entwickelnde Kompetenz ist es dann, die sich in der Lage zeigt, Anknüpfungspunkte zur Nachahmung zu bieten. Dass an die Seite eines Weltwissens immer auch eine entsprechende, nach außen hin wirksame Repräsentationsweise zu treten habe, wird dadurch angezeigt, dass sich nach römischer Überzeugung das ingenium über seine intrinsischen Qualitäten hinaus notwendigerweise auch in der Lebens- und Redeweise eines Menschen in praxi niederschlagen müsse. 344 Die ars dicendi eines Redners geht dabei wohl nicht so sehr – wie es Fuhrmann vorschwebt – »in einem größeren Ganzen auf«, sondern sie wird umgekehrt über die WeltaVgl. hierzu vor allem Ciceros ausführlichen Traktat De oratore, der hauptsächlich um diesen Gegenstand kreist und ihn auch anhand historischer Größen exemplifiziert: Cic., de orat., 2 (92–95); (122–201). Eine prägnante Zusammenfassung dieses Konzepts formuliert Möller (2004), 149: »Er [der orator perfectus; D. B.] zeichnet sich durch gute theoretische wie praktische Kenntnisse in allen Bereichen aus, besonders auch in den iura und in der Historie, und auf diesem Wege gelangt er zu philosophischer Einsicht, von der er mittels politischer Aktivität die Gesellschaft profitieren läßt«; vgl. außerdem die den Sachverhalt treffenden Beiträge von Classen (1986) und Narducci (2002); zur systematisch-theoretischen Verortung der De oratore-Programmatik vgl. Merklin (1987); zur Trias von Leben, Rhetorik und Schönheit bei Cicero vgl. Gammel (2015). 343 Fuhrmann (52003), 61. 344 Eine solche Dialektik zwischen rednerischer Befähigung und Lebenspraxis scheint mehr noch eine Bedingung für die Entwicklung der historischen Literarkritik – insbesondere in der Frage nach der imitatio auctorum; vgl. die diesbezüglichen Erläuterungen von Möller (2004), 137–165. Das Verhältnis der vita zur oratio scheint zudem in der Frage, welcher Größe der Vorrang gebühre, nicht mit letzter Sicherheit bestimmbar zu sein, da »aus den ciceronischen Formulierungen nicht ganz klar hervorgeht, was durch was beeinflußt wurde: das Leben durch die Rede oder die Rede durch das Leben« (ebd., 151). Unstrittig erscheint dabei indes, dass beide Größen, vita wie oratio, stets Ausdruck eines ingenium sind. 342
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neignung regelrecht gespeist, um dann im Individuum selbst eine Einheit zu bilden – und um letztlich in dessen Reden und Handeln zu ihrer eigenen vollen Repräsentations- und Wirkkraft zu gelangen, sich mithin als vis dicendi zu erweisen. Die vis dicendi befindet sich demnach in einem Spannungsfeld zwischen Redner, Künsten und den Dingen in der Welt. Im Bildungsprozess des Redners erscheinen die artes zunächst von außen nach innen, von der Welt auf den Menschen gerichtet, werden dann jedoch in entscheidendem Maße durch die Befähigung, ein Vorbild in den entsprechenden gesellschaftlich anerkannten Bereichen zu sein, wieder entäußert. So allgemein das Rednerideal als Ideal auch sein mag, es nimmt durch die lebenspraktische Bezugsebene immer wieder eine individuierte und zugleich unifizierte Form an, aus der die rednerische Kraft selbst hervorgeht. Diese nicht als Widerspruch zur Mannigfaltigkeit, sondern als deren Vollendung verstandene Einheit ermöglicht das Lernen durch Nachahmen in einem umfassenden, die vita im Ganzen betreffenden Sinne. Es darf angenommen werden, dass der von Cicero wie von Horaz so prominent angeführte Cato maior genau hierfür eine Chiffre darstellt, die von einem römischen Leser unmittelbar verstanden wurde. 345 Für die Nachahmung derlei prominenter viri boni sind indes natürlich auch Fähigkeiten von Seiten des Schülers nötig, namentlich die oben genannte Art der imitatio, die auf die dezidierte Entwicklung einer wahren Tugendhaftigkeit gerichtet ist und sich somit auch von einer bloßen simulatio und assimulatio klar abgrenzt. Ganz im Gegenteil: Erst in einem vielgliedrigen, an unterschiedlichen Fähigkeiten (facultates) hängenden Bildungsprozess scheint die Redekunst ihre eigene Dignität und nicht zuletzt ihre soziopolitische Bedeutung zu erlangen. 346 Ein sich Vgl. Albrecht (1992), 324: »Noch bedeutender als die Ausstrahlung des Werkes [Catos; D. B.] ist diejenige der Persönlichkeit: Der blau- oder grünäugige Rotkopf aus Tusculum wird zum Inbegriff des Römers. Man tradiert seine angeblichen Aussprüche; Anekdoten ranken sich um ihn; Cato der Jüngere stellt den Moralismus des Urgroßvaters auf eine stoische Grundlage, ohne dessen Realismus zur Kenntnis zu nehmen. Cicero macht den greisen Cato zum Idealbild römischhellenistischer Weisheit; Plutarch überzeichnet vielleicht etwas die Griechenfeindschaft, gibt aber von dem Geschäftssinn und der Rechthaberei des Mannes ein Bild, das frei von Übermalungen ist«. 346 Diese Bedeutung lässt sich vor der Folie der griechischen Tradition in einem fundamentalanthropologischen Sinne lesen; als der kleinste gemeinsame Nenner ist hierbei die staatspolitische Initiation bestimmbar; vgl. Robling (2009a), 194: »Isokrates und Cicero meinen hier [im Zusammenhang der Enkulturation durch Staatenbildung; D. B.] die komplexe Interaktion von Arbeit und Sprache bei der Entstehung der Kultur, in der die natürlichen Lebensgrundlagen verändert werden. Sie argumentieren hier anders als Aristoteles, der vor allem die menschliche Naturanlage als treibendes Moment der Staatenbildung sieht, dabei aber die kulturelle Tat als Akt der Verwirklichung voraussetzt. Gemeinsam ist aber Aristoteles wie Isokrates und Cicero die Auffassung vom kultivierten Menschen als ›staatlichem Wesen‹ und darüber hinaus die Auffassung, daß zu seinem Tun die Sprache gehört, genauer: der λόγος, lógos als ›vernünftige Rede‹«. 345
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politisch betätigender Redner lässt andere an seiner Erfahrung und an seinem Wissen über die Welt teilhaben; er lässt zu einem gewissen Teil auch erkennen, woher dieses Wissen stammt, zumindest dass es aus den Wissens-, Werte- und Tugendsystemen der vorhergehenden Generationen Vorbilder zieht. Es verwundert daher nicht, dass spätestens mit dem Bildungsprogramm, das Cicero in De oratore um 55 v. Chr. vorschlägt, zu erkennen ist, dass mit der Weltaneignung auch die Nachahmung im Bereich der Rednerausbildung nochmals an Bedeutung gewinnt. Zu ihrer höchsten Form gelangt sie dabei, wenn sie sich auf das ingenium, das innere Vermögen selbst bezieht. 347 Die hohe Würde des ingenium zeigt sich auch daran, dass es bisweilen mit einer mens divina enggeführt wird. Um dies zu illustrieren, seien zunächst zwei Beispiele aus dem Bereich der Poesie synoptisch angeführt:
45
ingenium cui sit, cui mens divinior atque os magna sonaturum, des nominis huius honorem. idcirco quidam comoedia necne poema esset, quaesivere, quod acer spiritus ac vis nec verbis nec rebus inest [.] 348
Die Bezeichnung (nomen), von der hier die Rede ist, ist die Bezeichnung eines wahren Dichters. 349 Die Kraft, die seinen Werken zuzukommen habe, wird nicht als einfache vis, sondern als acer spiritus ac vis aufgefasst und somit um den Aspekt des Geistesaufschwungs ergänzt. 350 Das ingenium wiederum ist in seiner vorzüglichen Güte erkennbar, erstrebens- und nachahmenswert, liegt jedoch keineswegs in autarker Vollkommenheit vor, sondern bedarf gewissen Bestimmungsrichtungen, die ihm noch von Seiten anderer Seelenvermögen oder – sofern diese Seelenvermögen selbst noch nicht ausgeprägt wurden – eben seitens eines magister zukommen müssen. Die Vorstellung einer Seelenlenkung ist in der römischen Literatur geradezu ubiquitär verbreitet und prägt Hieraus resultiert also ein enges Zusammenspiel von ingenium (natura) und ars (doctrina); vgl. hierzu auch Robling (2007), 87: »Natura beziehungsweise ingenium, wie der genaue rhetorische Terminus für die natürliche Anlage beziehungsweise Begabung lautet, und ars sowie doctrina müssen also zusammenwirken, um den guten Redner hervorzubringen.« Robling bezieht sich in seinen Ausführungen sachlich sowohl auf das Œuvre Ciceros als auch auf die Rhetorica ad Herennium. 348 Hor., serm., 1, 4, 43–47: »Wer Begabung hat und einen göttlicheren Geist [sc. als andere Menschen] und einen Mund, / der Großes verkünden wird, dem möge man die Ehre dieser Bezeichnung verleihen. / Deswegen haben manche gefragt, ob die Komödie Dichtkunst / sei, weil sich weder in ihren Worten noch in ihren Gegenständen heftiger Geistesaufschwung und Kraft befinden«. 349 Vgl. ebd., 1, 4, 42: »hunc esse poetam«, worauf sich »nominis« (ebd., 1, 4, 44) rückbezieht. 350 Vgl. Georges (81998) s. v. »spiritus«, 2764: »Geistesaufschwung«. Büchner (22006), 39 übersetzt acer spiritus mit »heftiger Schwung«. 347
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auch im Bereich der Epik etliche Motive aus. Ein eingängiges Beispiel hierfür findet sich in Ovids Metamorphosen. Dort spricht beim Streit um Achilleus' Waffen Odysseus zu seinem Rivalen Aiax unter anderem Folgendes:
365
[. . . ] tibi dextera bello utilis; ingenium est quod eget moderamine nostro. tu vires sine mente geris, mihi cura futuri; tu pugnare potes, pugnandi tempora mecum eligit Atrides; tu tantum corpore prodes, nos animo, quantoque ratem qui temperat anteit remigis officium, quanto dux milite maior, tantum ego te supero. nec non in corpore nostro pectora sunt potiora manu; vigor omnis in illis. 351
Es verdiente eine eigene Untersuchung, die rhetorischen Mittel, die hier auf engem Raum und zugleich auf unterschiedlichen und dennoch offen gestalteten Ebenen eingesetzt werden, im Kontext der gesamten Dialogsituation auszuführen. 352 Für unser Thema, das zuvorderst auf die Vermögenslehre abzielt, sind vor allem die Fähigkeiten von Bedeutung, die den Figuren hier eingegeben werden beziehungsweise die von ihnen indirekt erwartet werden. Sie werden nämlich anhand verschiedener Arten von Kräften vorgeführt – mit einem semantischen Repertoire, das durchaus beeindruckt: Es reicht von äußerlich sichtbaren Kräften (vires) über die Planungsumsicht (cura futuri, tempora eligere), mithin über Kräfte, die im Inneren, in den pectora schlummern, bis hin Ov., met., 13, 361–369: »Dir ist die rechte [sc. Hand] für den Krieg / nützlich. Deine Veranlagung ist es, die meiner Lenkung bedarf; / du trägst Kräfte ohne Verstand vor dir her; mir obliegt die Sorge um das Zukünftige; / du vermagst es zu kämpfen, den Zeitpunkt des Kämpfens sucht mit mir / der Atride [sc. Agamemnon] aus; du bist nur mit dem Körper nützlich, / ich mit dem Geist; so sehr wie derjenige, der das Schiff auf ruhiger Fahrt hält, den Dienst des Ruderers übertrifft und der Feldherr wichtiger ist als der Soldat, / so bin ich dir überlegen; und gewiss ist in unserem [sc. dem menschlichen] Körper / die Herzenskraft vermögender als die Hand: In ihr [sc. der Herzenskraft] liegt jegliche Stärke«. 352 Um die Virtuosität, die bei weitem nicht nur an dieser Stelle vorliegt, wenigstens zu umreißen, sei nur auf die Anapher tu, die Alliterationen pugnare potes pugnandi (zugleich ein Polyptoton zwischen pugnare und pugnandi), milite maior und nec non, den Parallelismus quantoque [. . . ] quanto (zugleich eine weitere Anapher), auf Klangfiguren wie das Wechselspiel zwischen spitzem i-Laut und dumpfem u-Laut (tu vires sine mente geris, mihi cura futuri.), den o-Vokalismus (tantum ego te supero; nec non in corpore nostro (zugleich ein Binnenreim zwischen der – zudem als Interpunktionszäsur fungierenden – Penthemimeres [supero] und dem Versende), die autoritäres Gewicht suggerierende Wahl des Patronymikons Atrides, die schroffen Antithesen tu – ego, corpus – animus / pectus, die Paronomasie pectora sunt potiora sowie die Parallelisierungen und Gegenüberstellungen, die zwischen den semantischen Feldern des Krieges (bellum, pugnare, dux, miles), der Seefahrt (ratis, remex) und den seelischen Vermögen (ingenium, mens, animus) stattfinden, hingewiesen. 351
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zu einer Art von Tatkraft (vigor), die sich nicht aus der motorischen Konstitution allein speist, sondern intellektuelle Umsicht benötigt. Ausgerichtet sind die angeführten Kräfte offenbar nach dem klassischen dualistischen Prinzip von Körper und Geist. Bei den Kräften Aiax' scheint es sich nun um solche zu handeln, die sich zwar durch körperliche Übung ausprägen lassen, aber ohne den verständigen Sinn – worin sich ja gerade Odysseus nach eigener und fremder Meinung gegenüber Aiax auszeichnet – nicht denselben Wert besitzen wie die geistigen; vielmehr weisen Aiax' Kräfte eine Art blindwütigen Charakter auf (sine mente). Sein ingenium muss daher noch in die richtigen Bahnen gelenkt werden, um die – vielleicht ja durchaus vorhandenen – Anlagen in sinnvoller Weise fruchtbar zu machen. Was zum Dualismus hinzutritt, ist somit die Vorstellung einer geistigen Steuerung, eines moderamen – hier ausgeführt auf der Bildebene des Steuermanns, der das Schiff auf ruhiger Fahrt hält (ratem qui temperat) und somit auf die Mäßigung (temperantia) als eine in der Seele verankerten Tugend im Zuge seiner Anführung mit verweist. Diese Denkfigur hat einige Vorbilder in der griechischen Philosophie. Dort finden wir sie vor allem in Form von Steuerungsvorgängen, die die Seele bereits von sich aus mitbringe; die Selbst- und Fremdsteuerung der Seele wird also tendenziell intrinsisch begründet 353 und fußt auf der (von Platon wie von Aristoteles gleichermaßen vertretenen) Haltung, die menschliche Seele sei ihrer Natur nach wohlgeordnet sowie mit formenden und formbaren Kräften ausgestattet. 354 Der Einfluss dieser Denkfigur auf die römische Rhetorik ist enorm; denn Nachahmung meint, und hiermit betreten wir wieder den Bereich der Rhetorik, für römische viri boni nie ein oberflächliches Kopistentum, sondern die Aneignung und simultane Ausbildung derartiger Seelenvermögen, die ihrerseits für den Status eines vir dicendi peritus vonnöten sind. Die Ausprägung der eigenen Seelenvermögen gelingt daher nicht allein aus naturwüchsiger Selbstbestimmung heraus, sondern unterliegt einem fortwährenden Lern- und Steuerungsprozess. Auch die virtus, als ein fortwährend ersichtliches Resultat politischen Eines der einflussreichsten Gleichnisse hierzu findet sich bei Plat., Phaidr., 246a–257d. Vgl. hierzu die den Phaidros leitende Vorstellung, dass leidenschaftliches Gemüt und edle Besonnenheit »durch eine natürlich vereinte Kraft« (ebd., 246a6 f.: »συµφύτῳ δυνάµει«) beherrscht werden müssten. Durch die Wortwurzel des nicht grundlos gewählten συµφύειν (»συµφύτῳ« bildet hierzu das verbaladjektivische Derivat) werden Natur und Kraft in einem engen Verbund gesehen. Das diese Einheit zur Darstellung bringende Pferde / Seelenwagen-Gleichnis findet sich indes nicht nur im Phaidros wieder, sondern zählt zu den verbreiteten Bildern, die in der griechischen und römischen Antike zur Bildungsfähigkeit und Kontrollierbarkeit der menschlichen Seele bemüht werden. Der Mensch sei demzufolge – einem ungezähmten Pferd gleichend – auf Zügelung in Form erzieherischer Kräfte angewiesen, um selbst nützliche Fähigkeiten für die Gemeinschaft zu erlangen; vgl. etwa Xen., mem., 4, 1, 3 und Rhet. ad Her., 4, 46 (59). 353
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und sozialen Lernens, stellt nach römischem Verständnis eine Größe dar, die erworben werden muss. 355 Die daraus im Idealfall hervorgehende Seelenformung, die beim Adepten stattfinden soll, ist in der antiken Schultradition nun nicht in Kompaktheit – auch nicht in Fuhrmanns »großem Ganzen« –, sondern stets in Form eines bereichsweise unterteilten Komplexes zu denken, in dem sich das ingenium nach weiteren Teilvermögen differenzieren lässt; zu deren wichtigsten sind die geistige Beweglichkeit (celeres motu¯ s animi), die Gedächtnisstärke (ad memoriam firmus) sowie der Scharfsinn im Dialektischen (acumen dialectorum) zu zählen. 356 Solche Paradigmen beschränken sich nicht auf die in der griechischen Tradition als höherwertig eingestuften, weil der Vernunft näherstehenden Seelenregionen, sondern weisen durchaus eine größere Bandbreite auf; sie verweisen mithin auf eine Überwindung des hergebrachten Hierarchiedenkens zwischen νόησις und αἴσθησις. Die bereits in der griechischen Tradition so häufig rekapitulierte Frage, ob die Sprachkünste vorwiegend epistemisch, dynamisch oder als Emergenz eines technischen Vermögens aufzufassen sind, wird von der römischen Rhetorik – so die sich hier aufdrängende Annahme – auf zahlreiche neue Funktionen hinsichtlich der Entfaltung einer Person im öffentlichen Leben hin diversifiziert. Es sind somit nicht nur die res und verba, die – immerhin als Hauptgrößen aus der rhetorischen Tradition (πράγµατα und λόγοι) bekannt – eine Konzentration auf die Aspekte des Weltwissens (res) und dessen Darstellung (verba) vorantreiben, sondern auch die Weiterentwicklung von Kraftkonzepten, also die Entfaltung von Beweggründen, die sich auf die δύναµις beziehungsweise die vis kaprizieren. Die umfängliche und zugleich in sich differenzierte Etablierung der vires in der Redner- und Stillehre ist in der römischen Antike zu einem gewissen Teil mit Neuerungen gegenüber den griechischen Traditionen verbunden. Dies zeigt sich erst recht, wenn man sie auf der Folie der Poetik betrachtet. Denn während – ins Allgemeine gewendet – die Rhetorik durch Cicero zu ihrer weitInsbesondere, da es sich hierbei – bereits etymologisch: Georges (81998), s. v. »virtus«, 3514 – um eine Vorstellung von Männlichkeit handelt, die nach römischer Tugendvorstellung nicht von Natur aus mitgegeben wird, sondern erst im politischen Leben mühsam erworben werden muss; vgl. hierzu in jüngerer Zeit die sich auf eine Relektüre der Werke Tacitus’ stützenden Ausführungen von Späth (2014), 26: »Vielmehr adaptiert sich die Männlichkeitsnorm an politische und gesellschaftliche Verhältnisse; Männlichkeit erweist sich damit als eine Kategorie, die nicht isoliert ist, sondern notwendig mit anderen Kategorien der Lebensgestaltung eines Aristokraten in wechselseitiger Beziehung steht. [. . . ] Während Männlichkeit erworben werden muss, ist Weiblichkeit angeboren – in Umkehrung der vielzitierten Feststellung von Simone de Beauvoir ließe sich für die antiken römischen Geschlechtsvorstellungen (um)formulieren: In Rom wird man nicht als Mann geboren, man macht sich zum Mann«. Die Anspielung auf Simone de Beauvoir bezieht sich auf das mittlerweile sprichwörtlich gewordene Zitat ›On ne naît pas femme: on le devient‹ aus Le deuxième sex (1949). 356 Vgl. hierzu Cic., de orat., 1 (113) sowie ebd., 1 (128). 355
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hin als genuin ›römisch‹ veranschlagten Neubestimmung findet, beruft sich dessen Dichtungstheorie erheblich auf Bestimmungsgrößen, die man bereits für die griechischen Aufklärungsdiskurse als konstitutiv erachten konnte. Dass in der Behandlung der vis ein weiteres Mal die Kontroversen aus der sophistischen Zeit modifiziert werden und dabei nur wenig von ihrem grundsätzlichen Geltungsanspruch einbüßen, lässt sich recht unmittelbar erkennen, wenn man die teils verbindlich, teils auch spielerisch anmutenden Bezugnahmen auf den ἐνθουσιασµός/(enthousiamós)-Begriff ins Auge fasst, wie wir ihn in der Tradition Demokrits und des platonischen Ion in Kapitel ii.4.a der Studie beobachten konnten. So wird in Ciceros Spätschrift De divinatione (um 44 v. Chr.) unter Verwendung zahlreicher für die dichterische Ekstase typischer Ausdrücke das Bild eines furor poeticus gezeichnet. Welche Rolle kann dieser furor nun über ein scheinbar kontingent waltendes, letztlich nicht rational erklärbares Aufflackern dichterischer Ekstase hinaus spielen? Hierzu lohnt ein genauerer Blick auf die Kraftvorstellungen, die im Zuge der Explikation dichterischen und rhetorischen Wirkvermögens von Cicero angeführt werden: Qui quidem ipsi se nobis non offerunt, vim autem suam longe lateque diffundunt, quam tum terrae cavernis includunt, tum hominum naturis implicant. Nam terrae vis Pythiam Delphis incitabat, naturae Sibyllam. [. . . ] Fit etiam saepe specie, saepe vocum gravitate et cantibus, ut pellantur animi vehementius, saepe etiam cura et timore, qualis est illa flexanima tamquam lymphata aut Bacchi sacris / commota in tumulis Teucrum commemorans suum. Atque etiam illa concitatio declarat vim in animis esse divinam. Negat enim sine furore Democritus quemquam poetam magnum esse posse, quod idem dicit Plato. Quem, si placet, appellet furorem, dum modo is furor ita laudetur ut in Phaedro laudatus est. Quid? Vestra oratio in causis, quid? ipsa actio potest esse vehemens et gravis et copiosa, nisi est animus ipse commotior? Equidem etiam in te saepe vidi et, ut ad leviora veniamus, in Aesopo, familiari tuo, tantum ardorem vultuum atque motuum, ut eum vis quaedam abstraxisse a sensu mentis videretur. 357 357 Cic., div., 1, 79 f.: »Diese [sc. Götter] zeigen sich uns zwar nicht persönlich; ihre Kraft jedoch verbreiten sie weit und breit; sie schließen diese teils in den Höhlen der Erde ein, teils verweben sie sie mit den Naturen der Menschen. Denn die Kraft der Erde stachelte die Pythia in Delphi an, die der Natur die Sibylle. [. . . ] Oft kommt es auch vor, dass durch eine gewisse Erscheinung, oft auch durch die Schwere der Worte und durch die Gesänge, die Gemüter noch heftiger angestoßen werden, oft auch durch Sorge und Furcht, wie diejenige, die ›bewegt im Herzen, gleichsam rasend, oder wie von Bacchus’ Mysterien / ergriffen, an dem Grabe ihren Teucer ruft.‹ Und auch jene Erregung zeigt an, dass sich in den Seelen eine göttliche Kraft befindet. Demokrit nämlich leugnet, dass es
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Die hier vorgestellte Kraft der Dichter wird zweifellos als eine göttlich entstandene und göttlich wirkende aufgefasst – zunächst als chthonische Kraft (terrae vis), die im Sinne der Inspirationslehre die apollinische Priesterin Pythia befalle, dann als die Kraft der Natur, die auf die Sibylle übergehe; die Kraft wird demnach urwüchsig freigesetzt, um auf die Priesterin überzugehen; gleiches gelte schließlich für die Dichter selbst. 358 Wir finden hier eine ähnliche Kettenreaktion vor, wie sie in Kapitel ii.4.a anhand des Ion feststellbar war. Die Reaktionsweise von Kräften, die ausdrücklich mit Affekten beziehungsweise affektiven Zuständen (cura, timor, vehemens, commotus etc.) enggeführt wird, lässt über die Rezeption Demokrits 359 sowie die anhand des strukturellen Ion-Bezugs 360 und des ausdrücklich benannten Phaidros verfolgte PlatonRezeption hinaus auch die stoische φαντασία/phantasía- und συµπάθεια/sympátheia-Lehre anklingen. 361 In dieser semantisch verdichteten Passage werden somit Rekurrenzen sichtbar, die vollends dem pluralistischen und eklektischen Denken entsprechen, das Cicero nicht nur in seinen dichtungstheoretischen Einlassungen, sondern in seinem gesamten philosophischen Denken verfolgt. 362 Uns interessiert an dieser Stelle mit der göttlichen Kraft vor allem ein Paradigma, das sich grundsätzlich in stoischer, als λόγος, wie auch in platonischer Prägung, namentlich (im Sinne des Ion und Phaidros) als θεία δύναµις, ohne Raserei irgendeinen großen Dichter geben könne, und dasselbe sagt Platon. Mag er dies, wenn es ihm beliebt, Raserei nennen, solange diese Raserei nur so gelobt wird, wie sie in Platons Phaidros gelobt wurde. Und weiter, wie verhält es sich mit eurer Rede vor Gericht? Wie kann ein theatralischer Vortrag wirksam, gewaltig und voll Fülle sein, wenn nicht die Seele selbst recht stark bewegt ist? Ich wenigstens habe oft bei dir und – um auf Geringeres zu kommen – bei deinem Freund Äsop ein solches Feuer der Mienen und Bewegungen gesehen, dass ihm eine gewisse Kraft dem verständigen Sinn entrissen zu haben schien.« (Kursivierung in der Übersetzung: D. B.) Die beiden von Cicero zitierten jambischen Senare entsprechen Pacuv., fr. 251; vgl. hierzu luzide Schierl (2006), 509–511. 358 Vgl. als eine der jüngeren Interpretationen zum existentiellen Status, der Göttern in De Divinatione zugeschrieben wird, Ciafardone (2017). Zum weiten Feld hexenartiger Frauengestalten in der antiken Literatur vgl. Reif (2016). 359 Vgl. Demokr., DK B 68, 16a–21 und die weitere Rezeption bei Cic., de orat., 2 (194) und Hor., ars, 295–298. 360 Insofern die hier erwähnte vis divina geradezu als wörtliche Entsprechung der θεία δύναµις, der furor (sc. poeticus) indessen als Pendant zum ἐνθουσιασµός gelten kann. Auch die Begriffsführung verhält sich analog zu den Erörterungen im Ion, nämlich von der natura (φύσις) über die vis divina (θεία δύναµις) auf den furor (ἐνθουσιασµός) hin ausgerichtet. 361 Vgl. die zutreffenden Beobachtungen bei Chalkomatas (2007), 260–264, die sich besonders auf den Einfluss der mittleren Stoa, wie sie von Poseidonios verkörpert wird, beziehen. 362 Dass dieser Eklektizismus bei Cicero keine willkürliche Zugriffsart oder gar Trivialisierung bedeutet, sondern vielmehr als eigenständige philosophische Leistung zu betrachten ist, bedarf nach den Darstellungen von Görler (1974), Grimal (1988), Woolf (2015) und Stroh (32016) glücklicherweise keiner ausführlichen Erläuterung mehr.
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lesen lässt. Bei Cicero bildet diese Kraft zunächst aber eins: ein Kriterium zur Bestimmung des großen Dichters (poeta magnus). Die Dichter sind von einer solchen Kraft – wenn auch in durchaus unterschiedlichem Grade – unwillkürlich ergriffen und eingenommen. 363 Auffällig – und im Vergleich zur Vorlage des Ion durchaus neu – ist hieran, dass Cicero eine simultane Gültigkeit dieser göttlichen Kraft in der Poetik und der Rhetorik vorschwebt: Bereits die Formulierung, es gehe bei der Schwere der Worte und Gesänge darum, dass die »Gemüter noch heftiger angestoßen werden« (animi pellantur vehementius), befindet sich in auffälliger Nähe zum rhetorischen Wirkziel des animum/-os movere; 364 die komparativisch gefasste Heftigkeit der Gemütsbewegung (vehementius) lässt wiederum Paradigmen anklingen, die wir in Kapitel ii.5.a in der Affektenlehre der aristotelischen Poetik ausmachen konnten (ἐκπληκτικώτερον). Neben der Benennung derartiger Wirkziele wird zudem hier ausdrücklich die Rede vor Gericht (oratio in causis) angeführt, in der sich eine solche Einflussnahme vollführen lasse; hierdurch scheint eine bestimmte Auffassung über die genera in Hinsicht auf deren energetische Wirksamkeit durch. Es scheint nämlich vor allem das genus iudicale zu sein, das für die Entfaltung rednerischer Kräfte die beste Exerzitationsfläche bietet. Der Zusammenhang von Poetik und Rhetorik könnte, im hier veranschlagten Sinne, in der mit Vernunftgründen nicht allein erfassbaren Kraft des Urhebers liegen; dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es hier um den mit dem terminus technicus der actio ausdrücklich benannten letzten Teil in der Produktionskette einer Rede geht. In diesem Teil erst bricht sich demzufolge ein innerer Zustand nach außen hin Bahn und reißt die Zuhörer mit. Daher ist es kein umfassender, sondern noch ein eher vager Sinn, anhand dessen hier eine Die Affinität der Dichter zum Göttlichen lässt sich, wie Cicero bereits in seiner Rede Pro Archia poeta (62 v. Chr.) fast schon katalogartig anführt, weiterhin an den Aspekten ihres Wesens (natura), ihrer eigenen Kräfte (vires) sowie ihrer göttlich-geistigen Beseeltheit (spiritus [inflatus]) ablesen; vgl. Cic., Arch., 8 (18) sowie zu dieser dreifachen Gliederung die sprachlich wie sachlich präzise Interpretation bei Chalkomatas (2007), 255 f.: »In Ciceros Konzeption der dichterischen Gottähnlichkeit sind drei Aspekte eingeflossen: die ›natura ipsa‹ des Dichters, die ›vires mentis‹ und die göttliche Inspiration. Auch in den weiteren Textstellen, die die Enthusiasmoslehre betreffen, geht Geistesexaltation mit göttlicher Erleuchtung einher. All das konstituiert die Besonderheit der Poeten. [. . . ] ›mentis viribus excitari‹ muss man trotz des Infinitivs nicht als auf die Inspiration bezogen ansehen, denn diese beinhaltet der darauffolgende Satzteil (›et quasi divino quodam spiritu inflari‹)«. Anzumerken bleibt noch, dass die Göttlichkeit der dichterischen Kraft durch die seit Hesiod und Homer fortwährend problematisierte Beziehung zwischen Dichtkunst und göttlicher Sphäre so fest bezeugt erscheint, dass sie auch in römischer Zeit über fast schon obligatorisch zu nennende Zuschreibungen wie Homerus divinus, Hesiodus divus, Pindarus divinus etc. zum Ausdruck gebracht werden kann. 364 Die Engführung des animum/-os pellere und animum/-os movere tritt in der römischen Rhetorik in einer solchen Häufigkeit auf, dass sie als topisch zu betrachten ist. 363
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mögliche Übertragung der vis divina auf die Rhetorik durchgespielt wird. 365 Die Dichter benötigen sie in griechischer Tradition; die Gerichtsredner könnten sie brauchen, und zwar in römischer Tradition; denn die griechische Antwort hierauf hieße ja (in sophistischer, platonischer und aristotelischer Diktion) nun einmal ›τέχνη‹ – und nicht ›θεία δύναµις‹. Die Übertragung des furor poeticus auf die actio bildet in De divinatione mithin eine Art Gedankenspiel, eine intellektuelle Auseinandersetzung mit spezifischen Versatzstücken aus der rhetorischen Tradition. Halten wir für den weiteren Untersuchungsgang fest, dass es wohl nicht zufällig die forensische Redegattung ist, die hier überhaupt als empfänglich für eine im Menschen waltende, unergründliche und dadurch besonders wirkmächtige Kraft in Erwägung gezogen wird. Wie wir in der weiteren Betrachtung anderer Traktate Ciceros sehen werden, bleibt es grosso modo bei diesem Gedankenspiel. In der Regel wird für die rhetorische Wirkkraft keine göttliche Inspiration im Sinne des Enthusiasmos veranschlagt. Sie ist vielmehr Sache des Überzeugens und Überredens (persuadere). Dass Cicero jedoch ausgerechnet eine vis divina aus der poetologischen Tradition bemüht, um dann auf die Gerichtsrede zu sprechen zu kommen, soll als Ausgangspunkt dienen, um das Grundproblem zu skizzieren, um das es geht: Blickt man auf so zentrale Werke wie den Orator, De inventione oder De oratore, so kann für die Rhetorik nicht die gleiche Tradition eines ἐνθυσιασµός veranschlagt werden wie für die Dichtkunst; zumindest lässt sich eine göttliche Inspirationstheorie – die im Übrigen auch den Griechen im Bereich der Redekunst weitestgehend fremd geblieben ist – nicht in dem Maße ausmachen, dass hieraus rednerische Befähigung, Aneignung, Lehre und Praxis abgeleitet werden könnten. Wenn die rednerischen Kräfte also nicht göttlich herleitbar sind, was macht dann ihr Wesen aus? Was bestimmt in der Rhetorik die autochthone Kraft, den göttlichen Urgrund der Priester und Dichter? Betrachten wir dazu zunächst diejenigen Konzepte, die sich auf Paradigmen stützen, die wir bereits von den Dichtern kennen, und betrachten, wie diese neu besetzt werden: Diese Größen sind zunächst das ingenium und die natura des Redners selbst. Denn Cicero setzt neben der auf der peritia beruhenden Vertrautheit mit den Künsten die Kraft des Naturvermögens als Richtschnur für den Erfolg der Ausbildung an. Hieran nämlich lasse sich die Qualität desjenigen bemessen, der in einem Professionsbereich – in der Rhetorik wie in der Poesie, im Übrigen auch in der Philosophie – nach einem hohen Rang strebe. Hierbei kommt nun ein Kraftbegriff ins Spiel, der in eine deutlich lebenspraktischere Richtung zielt als 365 Cicero spricht nicht grundlos, bezogen auf das Momentum dieser Übertragung, von einer vis quaedam.
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die vis divina der Dichter. Es geht hierbei um keinen rednerischen Olymp, auch keinen Helikon oder um ein pythisches Orakel, sondern um ein ganz weltliches Phänomen, nämlich die Richtung, welche die Ausbildung einschlagen soll: Sed par est omnis omnia experiri, qui res magnas et magno opere expetendas concupiverunt. Quod si quem aut natura sua [aut] illa praestantis ingen¯ vis forte deficiet aut minus instructus erit magnarum artium disciplinis, teneat tamen eum cursum quem poterit[.] 366
Der Hinweis auf einen cursus deutet zugleich auf den engen Zusammenhang, der zwischen rhetorischer Ausbildung und politischem Leben (cursus honorum) besteht. Die instruktive Diktion erinnert an die Vorstellung einer professionell erwerbbaren τέχνη, wie sie aus sophistischer Zeit bekannt ist. Was nun jedoch hinzu kommt, ist eine Betonung der Fähigkeiten: Der Aspirant soll eine Laufbahn entsprechend seinem Vermögen (cursum quem poterit) verfolgen und sich, wie Cicero im Folgenden anführt, auch nicht davon abschrecken lassen, dass Vorgänger bereits die ersten Ränge einnehmen und praktisch nicht mehr einholbar sind. 367 Der Grad des Erfolgs ergibt sich daher sowohl aus dessen Leistungsumfang (ingen¯ vis – in einer bemerkenswerter Verschiebung der griechischen δύναµις τέχνης von einer Fertigkeit auf ein inneres Vermögen hin) wie auch aus der Aneignung (instructus – als Resultat des instruere beziehungsweise einer dem Schüler persönlich zukommenden instructio) der entsprechenden großen Künste (magnae artes). Wie wir schon bei Aristoteles sahen, ist ein Vermögen kein Vermögen zu Beliebigem, auch wenn alle natürlich grundsätzlich zu allem (omnes omnia) streben wollen; vielmehr ist die Ausprägung des Vermögens von Entscheidungen abhängig, die sich im Einklang mit der Begabung und den Erfordernissen der Außenwelt befinden. Das Mögliche bestimmt das Allgemeine und nicht umgekehrt. Bei der Explanation rhetorischer Wirkziele geht es daher nicht nur darum, was ein Redner erreichen will, sondern noch mehr darum, was er zu erreichen vermag. 368 366 Cic., orat., 1 (4): »Es ist aber angemessen, dass alle, die nach großen und sehr erstrebenswerten Dingen trachten, alles dazu versuchen. Sollte aber nun jemanden aufgrund seiner Anlage jene Kraft einer hervorragenden Begabung einmal verlassen oder sollte er mit den Fächern der hohen Künste weniger vertraut sein, so möge er dennoch die Laufbahn einschlagen, so viel er kann«. 367 Diese Vorläufer sind für Cicero sowohl griechischer als auch altrömischer Provenienz. Er gesteht hier auch Raum für Zweit- und Drittrangiges zu – vgl. ebd., 1 (4–5) –, um dann jedoch pointiert auf die besondere Stellung Demosthenes’ im Bereich der Redekunst hinzuweisen, an der man doch wohl kaum Zweifel hegen könne; vgl. ebd., 1 (6). 368 Auch in der jüngeren Forschung wird sich noch immer allzu sehr auf den Aspekt der Intention allein kapriziert; vgl. exemplarisch Böhn (2009a), 1378: »In Bezug auf das Verhältnis von Rede beziehungsweise Text und Rezipient ist ›Wirkung‹ Sammelbegriff für Veränderungen auf der Rezipientenseite, die mit der Rede und dem Rezeptionsakt in Zusammenhang stehen. Als
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Gegenüber jener Vorstellung einer autark waltenden Göttlichkeit aus De divinatione, die stark an griechische Traditionslinien anschließt und in vielen Bereichen – sei es als Adaptation, sei es als Modifikation, sei es als Kontrafaktur – die poetologischen Diskurse weiterhin mitbestimmen wird, 369 aber auch gegenüber dem ingenium-Konzept im Orator ist für die Rhetorik eine Begründungsebene anzusetzen, die beide Aspekte umfasst und dabei dann doch einen durch und durch energetischen Weg einschlägt: die menschliche Performanz. Sie nämlich repräsentiert die Redekunst in actu. Sie kann, mehr noch, in dieser Bestimmung geradezu als Ausgangspunkt der Redetheorie gelten. Denn ein rhetorisches artificium mag seine taxonomischen und didaktischen Vorzüge haben, es kann jedoch genuin erst aus der eloquentia selbst entstehen und nicht vice versa. 370 Ein Redner kann sich nur schwerlich auf eine göttliche Inspiration berufen, um sein Publikum zu überzeugen – seien dies im genus iudicale das Gericht, im genus deliberativum die (Volks- oder Rats-)Versammlung oder im genus demonstrativum eine vermischte, am Thema in unterschiedlicher Hinsicht interessierte Menschenmenge. Ein guter Redner überzeugt demnach nicht durch seinen Bezug auf Wahrheiten und Ideen, sondern durch seine Überzeugungskraft. Dabei handelt es sich, aristotelisch gesprochen, um den energetischen Vollzug einer Fertigkeit. Überzeugen stellt nun jedoch eine – im Gegensatz zur göttlichen Kraft der Dichter – reduzible Größe dar, insofern sie auf Wissen, Argumente, Logik, Schlussvermögen, Erfahrung etc. beruht. Ein derartiger Vorrang, der dem Redeakt als solchem hier zukommt, weiß sich in seiner Grundtendenz indes nicht nur von metaphysisch vorgelagerten Welten abzugrenzen, sondern auch von Vorstellungen stoischer Provenienz, wie wir sie in Ciceros Dichtungstheorie vorfinden konnten. Denn dort stellt die Redekunst nach einhelliger Meinung ebendieser Schule vor allem eine Wissenschaft vom trefflichen Reden (ἐπιστήµη τοῦ εὖ λέγειν) dar. 371 Dass jedoch die Effektivität der Wirkabsichten in einer reinen wissenschaftlichen oder auch nur taxonomischen Betrachtung aufgehen könnte, scheint vielmehr eine gewisse Gefahr für den Begründungskern der Rhetorik – hier sei an die gorgianische δύναµις kommunikative Handlung ist jede Rede durch Intentionalität gekennzeichnet und hat daher eine Wirkung zum Ziel. Die intendierte Wirkung wird in der rhetorischen Tradition generell als Persuasion bestimmt und differenziert nach Anlaß und Publikum der Rede«. 369 Vgl. die Studie von Bösel (2008), in der die Rolle des Enthusiasmus in ihren Facetten gegenüber der Philosophie nachgezeichnet wird. Die Frühe Neuzeit arbeitet in vielen Punkten einer Affirmierung des enthousiasmós-Begriffs zu; vgl. die aus zahlreichen eigenen Vorstudien kompilierte Monographie von Krummacher (2013), die für die poetologischen Betrachtungen in Teil V der Studie noch eine zentrale Rolle spielen wird. 370 Vgl. am ausdrücklichsten hierzu Cic., de or., 1 (146). 371 Vgl. hierzu die Einlassungen bei Cicero selbst (ebd., 1 [83]) sowie bei Quint., inst., 2, 15, 34 und Diog. Laert., 7, 42.
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τῆς τέχνης τοῦ ἀνδρός und deren römische Umformatierung zu einer ingen¯ vis erinnert – darzustellen. Cicero tritt – so ein weiter zu entwickelnder Hauptgedanke des folgenden Teils – genau dieser Gefahr entgegen, indem er, ausgehend vom Spannungsverhältnis zwischen den weltlichen Künsten (artes) und der individuellen Naturanlage (ingenium), Kräfte (vires) in die Stil- und Redelehre auf vielschichtige Weise mit eingliedert. Insofern auf der Grundlage eines homo doctus-Ideals immer auch Fragen des Weltwissens und der Bildung diskutiert werden, soll im Folgenden eine der wichtigsten Verbindungen für den orator perfectus erörtert werden: diejenige zwischen Kraft und Kompetenz. Wenn nun für die Dichter eine mit der göttlichen Sphäre verhaftete vis veranschlagt wird, diese aber für die Bestimmung des rhetorischen ingenium in vielerlei Hinsicht nicht übertragbar erscheint, wie muss dann die vis bei den Rednern ausfallen? Und nach welchen Kriterien könnte eine konsistente Beschreibung des ingenium zur vis gelingen, wenn die Inspiration als ein solches ausfällt? Es gilt zu berücksichtigen, dass die Ausprägung der Redekraft bereits in den Ausbildungsstufen des Redners, zumal in der Ausprägung seines eigenen Vermögens (ingenium), eine zentrale Rolle spielt. Dieser Zusammenhang ist gleichwohl aus der Perspektive der artes zu betrachten; denn sie treten – und dies in Analogie zur griechischen Tradition – für einen allgemeinen epistemischen Anspruch ein und machen die Ressourcen eines umfassenden Gelehrtenideals derart fassbar, dass sie auch als Grundlage des rednerischen Vermögens selbst dienen können. Die elocutio setzt daher bei Cicero eine solche umfängliche Kompetenz voraus: Der vir peritus dicendi hat selbstverständlich über eine hohe Redebegabung und -erfahrung zu verfügen; stets verkörpert er dabei auch Kompetenzen in den verschiedenen Wissensbereichen. Sein ingenium mag auch noch so stark sein, ohne die entsprechende doctrina wird es nicht zu der Entfaltung kommen, die ihm möglich und gemäß ist. 372 Hier greift ein weiteres Mal die platonisch-aristotelische Psychologie, nach der die Vermögen des Menschen ausbaufähig und formbar sind – nicht so sehr jedoch der Stoizismus, da dieser einen Ausbau der Seelenvermögen mit der Zielrichtung einer vollkommenen Beherrschung der Affekte verfolgt. Dass nämlich ein solches Leitziel bestimmten rhetorischen Zielen wie dem movere und dem animum/-os pellere widerspricht, ist geradezu offensichtlich. Was Cicero vorschwebt, ist Vgl. exemplarisch Cic., de orat., 2 (5): »[I]llud autem est huius institutae scriptionis ac temporis, neminem eloquentia non modo sine dicendi doctrina, sed ne sine omni quidem sapientia florere umquam et praestare potuisse.« (»[J]enes aber ist wichtig für diese Schrift und die jetzige Zeit: Dass niemand jemals hinsichtlich seiner Redegewandtheit nicht nur ohne Unterweisung im Reden, sondern nicht einmal ohne jegliches Wissen darin aufblühen oder hervorragen konnte. «) Die Engführung von scriptio und tempus ist auch hier signifikant: Die Rednertheorie fordert den Anspruch an Bildung ein, denn die Lage der späten res publica wird von Cicero negativ bewertet. 372
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dementsprechend etwas anderes: Die Redekraft gründet sich auf die Kraft und die Kompetenz des Redners und vermag es gerade in diesem Verbund, die Seele des Rezipienten zu bewegen. Aus genau diesem Grund können die Bewegungen des Geistes (motu¯ s animi) in Bezug auf die Tugend (virtus) des vollkommenen Redners eine Verschränkung mit Wissensbegriffen und deren praktischer Anwendung (prudentia, calliditas, sapientia, scientia) eingehen. Denn beides, Wissen und Handeln, stellen gewissermaßen zwei Seiten derselben Medaille in Bezug auf die Kraft jener Tugend (vis virtutis) dar, wie Cicero in seinem spät verfassten Lehrbuch Partitiones oratoriae (wohl um 44 v. Chr.) 373 prägnant darlegt: Est igitur vis virtutis duplex: aut enim scientia cernitur virtus aut actione. Nam quae prudentia, quae calliditas quaeque gravissimo nomine sapientia appellatur, haec scientia pollet una. Quae vero moderandis cupiditatibus regendisque animi motibus laudatur, eius est munus in agendo[.] 374
Zwei Aspekte werden an dieser Stelle herausgestellt: Die Tugend, die hier im Sinne der Begriffe prudentia, calliditas und sapientia nachgezeichnet wird, erhält ihre Stärke (pollet) durch Wissen (scientia). Außerdem übt sie – und dies wird hier als ein ganz praktischer Aspekt (in agendo) vorgeführt – eine souveräne Kontrolle über die ihr untergeordneten motu¯ s animi aus. Der Redner profitiert hierdurch gleich in zweifacher Weise: Er reguliert die inferioren Seelenregungen, allen voran natürlich die Begierden (cupiditates), und manifestiert 375 in dieser souveränen Steuerung auch nach außen hin sein eigenes, gemäßigtes Wesen – eine Tugend, die im weitläufigen Sinn als Selbstbeherrschung (temperantia) firmiert. 376 Und eben hierdurch ergibt sich die Möglichkeit der imitatio überhaupt erst im Sinne einer Aneignung vorzüglicher Seelenkräfte: Zur Verortung dieser Schrift in ihren zeitgeschichtlichen, theoretischen, kompositionsästhetischen und rezeptionsgeschichtlichen Dimensionen vgl. umfassend und luzide Arweiler (2003), zu ihrer Anlage als kunstvolles Lehrbuch insbesondere ebd., 17–84. 374 Cic., part., 22 (76): »Die Kraft der Tugend ist also eine zweifache: Die Tugend wird nämlich entweder hinsichtlich des Wissens oder des Handelns beurteilt. Denn diejenige [sc. Kraft der Tugend], die Klugheit, die Schlauheit und die – mit ihrer gewichtigsten Bezeichnung – die Weisheit genannt wird, erhält ihre Stärke einzig durch das Wissen. Diejenige [sc. Kraft der Tugend] indes, die wegen ihrer Steuerung der Leidenschaften und ihrer Lenkung der Gemütsbewegungen gelobt wird, hat ihre Aufgabe im Handeln«. 375 Insofern diese Form der Tugend auch von anderen gelobt (laudatur) und dadurch allgemein anerkannt wird. 376 Das moderamen beziehungsweise die moderatio sind, wie wir bereits in Ovids Metamorphosen sehen konnten, auf das Engste hierauf zu beziehen; vgl. außerdem Cic., fin., 2, 60: »Transfer idem ad modestiam vel temperantiam, quae est moderatio cupiditatum rationi oboediens.« (»Übertrag das selbige [sc. Prinzip der Sittsamkeit] auf die Mäßigung oder Selbstbeherrschung, die eine der Vernunft gehorchende Lenkung der Begierden ist.«). 373
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Die an die virtus gekoppelte Verbindung zweier Vermögensweisen – namentlich des Bereichs von Wissen und Weisheit auf der einen und demjenigen der Seelenlenkung auf der anderen Seite – sorgt dafür, dass die ars nicht nur mit dem ingenium, sondern auch mit der vis in enge Begründungszusammenhänge treten kann. Die Kontrolle über die Seelenvermögen ist daher Bestandteil der virtus und des ingenium des Redners sowie Voraussetzung, um Seelenrührungen (auch beim Rezipienten) hervorzurufen. Blicken wir nun etwas genauer auf das Verhältnis zwischen der Kompetenz und der Kraft in Hinblick auf die Erfordernisse, die an einen Redner in actu zu stellen sind. Dabei geht es insbesondere um die Beziehungen zwischen Kompetenz, Handeln und die energetische Verwirklichung rednerischer Vermögen.
5.b.α. Kompetenz in der Kraft
Bisher waren es zwei Aspekte der vis virtutis, die wir in Bezug auf die Rede kennengelernt haben und die man jeweils als den ›epistemischen‹ und den ›psychologischen‹ Teil der Tugend bezeichnen kann. Naheliegend wäre nun, dass beide Bereiche zwar voneinander profitierten – indem etwa die Kenntnis über den Seelenaufbau die Lenkung der Rezipienten begünstigte und umgekehrt der eigene, wohlgeordnete Seelenaufbau die Aneignung von Wissen erleichterte –, dabei aber in getrennten Sphären beheimatet wären und dadurch erst recht an Schärfe gewännen. Dem widerspricht allerdings, dass es keine blinde, theoretisch unzugängliche Kraftübertragung ist, die hier vorherrscht, sondern dass es vielmehr um einen Habitus geht, der sich im rhetorischen Vorbild in nach außen hin tätiger Form wiederfindet. Die Übertragung der inneren Kraft nach außen entzieht sich gerade nicht einer theoretisch-praktischen Beschreibung, sondern der ambitionierte Schüler kann sich bereits bei der Wahl seines Lehrers an genau diesem Kriterium orientieren, wie Cicero im Orator ausführt: [A] quo censet eum, cum alia praeclara quaedam et magnifica didicisse tum uberem et fecundum fuisse gnarumque, quod est eloquentiae maximum, quibus orationis modis quaeque animorum partes pellerentur. 377
Der rhetorische Impetus wird hier nicht nur als vehemente, sondern auch als bereichsweise Wirkmöglichkeit gefasst (animorum partes pellere); sie wird zudem als das oberste Ziel der Redekunst (eloquentiae maximum) vorgeführt und Cic., orat., 4 (15): »Er [sc. Perikles] meint, er habe von ihm [sc. Anaxagoras], außer dass er manche andere großartige und herrliche Dinge [sc. von ihm] gelernt habe, vor allem Reichtum und Fülle erlangt und – was für die Beredsamkeit das Wichtigste ist – Wissen darüber gewonnen, durch welche Redeweisen die einzelnen Teile der Seele jeweils angestoßen werden können«. 377
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tritt als eine methodisch versierte (quibus [. . . ] modis) Fertigkeit hervor. Zudem wird die Wirkkunst auf einer trophologischen Bildebene als Reichhaltigkeit (ubertas) und Fruchbarkeit (fecundia) vorgeführt. Mehr als auf die taxonomisch eingehegten Produktionsstufen, die einer starren rhetorischen Anleitung (praecepta) entspringen würden, kommt es vielmehr auf die Fähigkeit an, die Seele eines Gegenübers in Bewegung zu versetzen. Sie wird hier außerdem, was überraschen mag, als eine Art von Wissen (gnarum) dargestellt. Hierdurch gewinnt das Auslösen seelischer Affekte eine epistemische Seite. Die Wirkkraft erhält im Zuge dessen nun zwei entscheidende Vorzüge: Zum einen zeigt sie sich curricular weniger widerspenstig; denn Cicero benötigt, wie gezeigt, im Rahmen seiner Redner-Theorie die Kompetenz als substantiellen Träger eines ingenium, um die Seelenwirkungen dauerhaft und zuverlässig begründen zu können. Zum anderen lassen sich durch eine derartige ›Epistemisierung‹ auch äußere Übertragungsmomente, die zwischen Redner und Schüler stattfinden, leichter objektiv begründen. In diesem Zugriff klingt hier auch Perikles' Lernprozess gegenüber seinem Mentor Anaxagoras an (didicisse). 378 Ein Schüler, der die Befähigung zur Seelenwirkung erwerben will, hängt somit natürlich nach wie vor von der souveränen Beherrschung von Lerngegenständen aus den artes liberales ab; hinzu kommt aber – mit Blick auf die Partitiones und den Orator – auch die Nachahmung der in zweifacher Hinsicht (in ihrer prudentia und ihrer Fähigkeit zum pellere) kenntnisreichen Vorbilder. Anders gewendet: Das Wissen über die Welt kann zuverlässig über die freien Künste erworben werden; das Wissen um die Seelenrührung vorwiegend über die Nachahmung des rhetorischen Vorbilds; zusammengenommen machen sie wesentliche Schritte auf dem Weg zum orator perfectus aus. Eine derartige Verschränkung epistemischer, dynamischer und mimetischer Größen, die sich an den beiden grundsätzlichen Dimensionen ›Kompetenz‹ (prudentia, scientia, peritia) und ›(Wirk-)Kraft‹ (potentia, vis, facultas) bemessen lässt, weist nun nicht nur in praktischer Sicht, sondern auch in Bezug auf die theoretischen Gebäude der Rhetorik einige Vorzüge auf: Nicht nur, dass über die Verknüpfung der Affektenlehre mit dem Wissensbereich psychagogische Fähigkeiten grundsätzlich auf Dauer gestellt und noch über die ihnen ohnehin zugeschriebenen Realisationsmomente in actu hinaus fassbar gemacht werden können; vielmehr lässt sich auch die vis selbst taxonomisch, namentlich in der Ausformung der Dreistillehre, theoretisch mitbegründen. 378 Das von Cicero hierzu angeführte Zeugnis ist Plat., Phaidr., 269e1–270a8. Auffällig ist hierbei die Umgestaltung, die Cicero vornimmt: Während es im Phaidros darum geht, dass Perikles sich über seine eigene gute Anlage (εὐφυής) hinaus durch Anaxagoras noch eine genauere Kunde von der Natur des Verstandes und der Erkenntnis (φύσις νοῦ τε καὶ διανοίας) erworben habe, bezieht Cicero dessen Lernerfolg auf den wirkintensiven Aspekt: animorum partes pellere.
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Es werden – und dies in enger Anlehnung an die griechische Tradition – in der römischen Rhetorik bekanntlich drei genera voneinander unterschieden, die zudem unterschiedliche Stilhöhen und Naturanlagen bezeichnen: das genus humile (subtile) das genus medium (modicum) und das genus grande (sublime). Dadurch, dass Cicero bestimmte Vorstellungen von Kunstfertigkeit und Wissen vertritt, die durchaus auf die politischen Erfordernisse der spätrömischen Republik ausgerichtete aufzufassen sind, muss hierfür die aus der griechischen Tradition hergebrachte Polarität von τέχνη und ἐπιστήµη nicht noch einmal in Gänze aufgerollt werden. 379 Soll die vis nun über ihre Eingliederung in den Bereich der Rednerkompetenz (ingen¯ vis) hinaus jedoch auch Eingang in die rhetorischen Taxonomien finden, so ist sie zunächst an die Redegattungen zu koppeln, das heißt in ihrer jeweiligen (in singulis) Wirkweise bezogen auf die einzelnen genera zu beschreiben. Cicero drückt genau diesen Anspruch im Orator prägnant aus: »Diejenigen, die sich jeweils die Kraft der einzelnen [Rede-]Arten angeeignet haben, hatten zu Recht einen großen Namen unter den Rednern.« 380 In verbreiteten Übersetzungen wie derjenigen von Merklin (2004) wird diese enge Verbindung von Kraft und Redestil übergangen, indem die vis mit dem »Wesen« 381 der Redegattung als solcher gleichgesetzt wird. Gemeint ist von Cicero aber – wie noch weiter zu zeigen sein wird –, dass in den Redegattungen eine spezifische Stärke liegt und die Aneignung dieser Stärke auch mit der Ausprägung der persönlichen Redekraft zu tun hat. Somit gibt es Redner, die sich in einem oder in mehreren, selten gar in allen Redestilen hervorgetan haben. Letztere sind dann endlich als die wahren oratores magni beziehungsweise perfecti zu bezeichnen. Sie nämlich verfügen aufgrund ihrer 379 Das Verhältnis zwischen griechischer τέχνη/ἐπιστήµη und römischer ars/scientia wird auch von sprachgeschichtlichen Faktoren bestimmt, für deren ausführliche Erörterung hier nicht der Ort ist; vgl. präzise zum Bedeutungswandel Wiegmann (1977). 380 Cic., orat., 6 (22): »Horum singulorum generum quicumque vim in singulis consecuti sunt, magnum in oratoribus nomen habuerunt«. 381 Merklin (2004), 31. Dieser Bedeutungsaspekt ist bei Cicero kaum ausgeschlossen, drückt sich aber vorzugsweise in Junkturen wie ›natura et vis‹ aus; vgl. etwa Cic., div., 1, 6 (12): »Est enim vis et natura quaedam, quae tum observatis longo tempore significationibus, tum aliquo instinctu inflatuque divino futura praenuntiat« oder Cic., div., 2, 45 (94): »Quod non contingeret, si haec non vis et natura gignentium efficeret, sed temperatio lunae caelique moderatio« oder Cic., fat., 11: »Quae tolluntur omnia, si vis et natura fati ex divinationis ratione firmabitur«. Kraft und Natur finden sich hier als komplementäre Eigenschaften des menschlichen Wesens wieder. Auch Cic., Lael., 15 – von Georges (81998), s. v. »vis«, 3516 als ein Beleg für die Bedeutung »Wesen« angeführt – muss nicht zwingend auf die Wesenheit der amicitia abzielen. Die Macht der Freundschaft liegt hier nämlich in der consensio im Sinne ihrer wechselseitigen Bedeutsamkeit begründet. Anders gesprochen, es geht an dieser Stelle noch nicht so sehr um eine philosophische Wesensbestimmung, sondern um dasjenige, was Cicero mit Scipio faktisch auf einzigartige Weise verbinde; denn »es werden aus allen Jahrhunderten kaum drei oder vier vergleichbare Freundschaften aufgezählt.« (Cic., Lael., 15: »ex omnibus saeculis vix tria aut quattuor nominantur paria amicorum.«).
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sämtliche genera umfassenden Ausbildung in den verschiedenen Wirkbereichen auch über unterschiedliche und in ihnen zur Einheit kommende Kräfte. Die Fähigkeiten des Redners sind daher in einem Feld zwischen den virtutes und den genera dicendi bestimmbar. Zur Ausführung des ciceronischen Standpunktes, der sich an dem Spannungsverhältnis zwischen Allgemeingültigkeit (Stilhöhe) und Individualität (Naturanlage) orientiert, sei die konzise Darstellung Möllers herangezogen, nach der [i]m Hinblick auf die stilistische Durchformung und ihre Bewertung [. . . ] Cicero indes eine Unterscheidung vor[nimmt]: Während die virtutes dicendi (latinitas, perspicuitas, aptum, ornatus und brevitas) als überindividuelle, allgemeinverbindlich-objektive Stilqualitäten aufgefaßt werden und im Prinzip allen gleichermaßen zur Verfügung stehen, sollen die genera dicendi (neben genus grande, genus medium und genus subtile jede stilistische ›Unterart‹) den natürlichen Anlagen der einzelnen Rednerindividuen entsprechen. 382
Die Hierarchie zwischen den Redestilen wird von Möller zu Recht in Entsprechung zu den natürlichen Anlagen gesehen. 383 Die natürliche Anlage wiederum muss, wie gesehen, bei Cicero indes auch die rednerischen Kräfte umfassen. Somit drückt sich die von Möller benannte Rednerindividualität nicht zuletzt auch in den Kräften aus, die dem einzelnen Redner zukommen. Für das Lehrer / Schüler-Verhältnis, mithin für die imitatio, heißt dies zunächst nichts anderes, als dass ein Lehrer über Kräfte verfügen muss, die für seinen Schüler erstrebenswert sind. Die Antipode zu den vires wird von Cicero auch ausdrücklich als Schwäche (imbecillitas) bezeichnet – und nicht etwa mit einer Form des Nicht-Naturgemäßen gleichgesetzt, wie es bei einer Auffassung der vis als eines Wesens der Fall wäre. Vielmehr heißt es, die Adepten sollten »lernen, was ›attisch‹ bedeutet, und die Beredsamkeit an dessen [sc. Demosthenes'] Kräften statt an ihrer eigenen Schwäche ermessen«. 384 An dieser Stelle, an der es nun explizit um die Aneignung von Redekräften in Verknüpfung mit dem Verständnis einer bestimmten Stilart (quid Atticum sit) geht, muss nach Ciceros Vorstellung ein Vorbild (exemplar) für die genannte Redekraft ins Spiel kommen: Die Aneignung des rechten attischen Stils orientiert sich im besten Falle auch an der Stärke des größten Redners – dies meint bei Cicero in der Regel Demosthenes –, 385 verglichen mit dem die Redekraft der Adepten natürlich Möller (2004), 140 f. Vgl. zu dieser Hierarchie darüber hinaus den konzisen Beitrag von Adamik (1995). 384 Cic., orat., 7 (23): »[Q]uid enim sit Atticum discant eloquentiamque ipsius viribus, non imbecillitate sua metiantur«. 385 Zu diesem wichtigen Rezeptionsverhältnis, das Plutarch noch zum Anlass nehmen wird, eine seiner Parallelviten diesen beiden Rednern zu widmen, vgl. ausführlich Hajdú (1995). 382 383
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zunächst als schwach zu bewerten ist. Sie kann aber durch Lernen (discant) durchaus an Stärke hinzugewinnen. Was zeichnet nun die Wirkkraft eines solchen Vorbildes nun im Besonderen aus? Ein Kriterium dafür, für wen man sie überhaupt veranschlagen kann, hängt entscheidend vom Redevortrag (eloqui) ab. Ein homo loquens zeigt sich selbst grundsätzlich jederzeit in der Lage, seine Kraft in den Momenten im höchsten Grade hervortreten zu lassen, in denen er selbst vorträgt; so beansprucht »von den übrigen Dingen, die einem Redner innewohnen, nicht ein jeder irgendeinen Teil für sich; die größte Kraft des Redens indes, das heißt diejenige des Vortragens, wird einzig diesem [sc. dem vollkommenen Redner] zugestanden.« 386 Die Dinge (re¯s), von denen hier die Rede ist, sind als philosophische und praktische Wissensbereiche auffassbar; im Redner sind sie als Kompetenzen vorhanden, sie finden sich dort als ein Ergebnis seiner doctrina intrinsisch wieder (sunt in oratore). Das heißt zunächst, dass jeder Redner mit einiger Selbstverständlichkeit die Gegenstände genau kennen muss, von denen er künden will. Es handelt sich hierbei um ein Argument, das taxonomisch in den officia oratoris mit der inventio erfasst wird und das – wenn wir auf die Diskussionen im Ion und deren Aufgreifen durch Cicero in De divinatione zurückblicken – für den Bereich der Dichtkunst in dieser Form nur schwerlich zu veranschlagen erscheint. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Rhetorik im Umkehrschluss allein in Wissensformationen aufgehen würde. Vielmehr konzediert sie ja, dass es für jeden einzelnen dieser Bereiche in der Welt noch größere Experten und noch weisere Denker geben mag; jedoch obliegt es – und hiervon lässt die Rhetorik weder in ihrem griechischen noch in ihrem römischen Verständnis irgendwann ab – ganz genuin dem Redner, durch sein Sprechen (dicere) über jene Gegenstände einen wirkungsvollen Redevortrag (eloqui) zu vollführen. Die Gegenstände werden vom Redner beherrscht, woraus die Rede und ihre Wirkung entsteht. Nicht erschöpft sich jedoch die Rede in ihren Gegenständen. 387 Es geht also nicht nur um hochtrabende Gedanken und Gegenstände, sondern um die Tugend, die in der Wirkkraft liegt. Dieser Punkt wird von Cicero im weiteren Verlauf des Orator anhand griechischer Beispiele sowie unter Heranziehung einer prominenten virtus dicendi, derjenigen des Redeschmucks (ornatus), noch weiter erläutert: Quamquam enim et philosophi quidam ornate locuti sunt – si quidem et Theophrastus divinitate loquendi nomen invenit et Aristoteles Isocraten ipsum 386 Cic., orat., 19 (61): »ceterarum enim rerum quae sunt in oratore partem aliquam sibi quisque vindicat, dicendi autem, id est eloquendi, maxima vis soli huic conceditur«. 387 Hier mag noch ein weiteres Mal der Allgemeinheitsanspruch aus der peripatetischen Tradition anklingen: Ein Redner behält es sich grundsätzlich vor, über alle Gegenstände sprechen zu können. Zu einem guten Redner wird er indes erst, wenn er wirkintensiv zu sprechen in der Lage ist.
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lacessivit et Xenophontis voce Musas quasi locutas ferunt et longe omnium quicumque scripserunt aut locuti sunt exstitit et gravitate 〈et suavitate〉 princeps Plato –, tamen horum oratio neque nervos neque aculeos oratorios ac forensis habet. 388
Mit Theophrast, Aristoteles, Isokrates, Xenophon und Platon sind es Namen ersten Ranges, die hier aufgerufen werden – von den als Vergleichsgröße herangezogenen Musen ganz zu schweigen. Umso eindrücklicher kommt dann der Gedanke zur Geltung, dass ihre Redekünste, ihren großen Namen zum Trotz (tamen), hinter der im forensischen Betrieb erworbenen Versiertheit noch zurückstehen müssten – eben weil sie als Philosophen vor allem im Bereich einer vergeistigten Sphäre tätig waren und mutmaßlich keine mitreißende Wirkkraft entwickeln konnten – eine Wirkkraft, die sich vor allem an der Hingerissenheit des Publikums bemessen ließe. 389 Eine Ausnahme bildet unter den angeführten Namen in dieser Hinsicht nur der attische Redner Isokrates; dazu passt allerdings wiederum, dass seine Rolle ja gerade als diejenige inszeniert wird, Aristoteles dazu zu bewegen, es mit ihm hinsichtlich seiner Redekunst aufzunehmen (ipsum lacessivit). Es handelt sich somit um ein Spiel mit wohlbekannten Autoritäten, dem wiederum die Frage unterlegt wird, ob gedankliche Brillanz als Kriterium zur Beurteilung von sprachlichen Werken erschöpfend zu nennen wäre – wenn eben daraus keine Wirkkraft zu schöpfen ist. Und diese Wirkkraft besteht nun einmal nicht in einer rationalen oder logischen Überzeugungsarbeit, vielmehr wird sie hier – anhand der Erwähnung der Spannkräfte (nervi) und Stacheln (aculei) – in Form von Spann- und Eindruckskräften vorgestellt. 390 Und damit ist auch die Klasse an Kräften benannt, die sich primär außerhalb des Bereichs philosophischen Traktierens ausprägen lässt. 391 Der Gestus, mit dem diese Grundidee im obigen Passus vorgetragen wird, mag teils hyperbolisch anmuten – wenn etwa vom attischen Melos eines Xenophon vorgeblich die Musen selbst noch profitieren könnten, und nicht
388 Ebd., 19 (62): »Obschon nämlich auch manche Philosophen schmuckvoll geredet haben – wenn etwa Theophrast durch die Göttlichkeit seines Redens seinen Ruf im Reden [loquendi in apò koinoû-Stellung zu divinitate und nomen] erlangt hat und Aristoteles es mit Isokrates selbst aufgenommen hat und wenn – wie man sagt – die Musen gewissermaßen mit der Stimme Xenophons sprachen und unter allen, die geschrieben oder gesprochen haben, aufgrund seiner Würde und Annehmlichkeit Platon als der Erste hervorstach –, so besitzt ihre Rede dennoch weder die Spannkräfte noch die Eindrücklichkeit der forensischen Beredsamkeit«. 389 Einen kurzen Gang durch Quintilians »Seitenblicke« in der Institutio oratoria auf Philosophen – wozu auch die hier diskutierte Stelle zählt –, bietet Schirren (2018), 244–246. 390 Vgl. zu diesem prägnanten Wortgebrauch Georges (81998), s. v. »aculeus«, 95: »der tiefe Eindruck, den der Redner od[er] die Rede beim Zuhörer zurückläßt«. 391 Diese Sichtweise wird in Kapitel II .5.c bei Quintilian noch genauer behandelt werden.
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vice versa, wie es die poetische Tradition suggerieren sollte –, aber selbst diese Hyperbolik arbeitet einem bedeutsamen Darstellungszweck zu. Er besagt, dass keine philosophische Leistung – weder die eines Platon oder die eines Xenophon, 392 noch die eines Aristoteles oder die eines Theophrast – diese auch zu wirkmächtigen Rednern machen würde. Die Philosophie muss sich hier also ein weiteres Mal der Rhetorik unterordnen, diesmal jedoch nicht aufgrund des Anspruchs eines Redners, grundsätzlich über alles sprechen zu können, sondern aufgrund der unterschiedlichen Wirkintensitäten, die den einzelnen Professionsbereichen in verschiedenem Grade zukommen. Somit mögen sich die Philosophen zwar hinsichtlich des Kriteriums, mit angemessenem Schmuck zu reden (ornate dicere) bewährt haben; 393 sie überlassen es, wie Cicero auch an anderer Stelle im Orator bekräftigt, jedoch »ungeschliffeneren Musen«, 394 eine echte rhetorische Wirkkraft im Sinne der im genus iudicale zu erzielenden aculei oratorii ac forenses hervorzubringen. Es genügt also nicht, allein die virtutes dicendi zu befolgen. Genauso sind die Rollen der verschiedenen genera in Betracht zu ziehen. Denn sie erst ver392 Die Einordnung Xenophons mag hier auf den ersten Blick verwundern, erscheint aber über dessen Rolle als Schüler des Sokrates sowie als Verfasser sokratischer Schriften (Memorabilia, Symposion, Apologie etc.) für Cicero hinreichend gerechtfertigt – erst recht im Rahmen einer Stillehre, in welcher der xenophontische Attizismus gerade aufgrund seiner Schlichtheit hinsichtlich einer rhetorischen Vorbildfunktion diskutiert wird. Die Bezeichnung Platons als princeps hingegen ist gerade für das Spätwerk Ciceros typisch; vgl. hierzu Altman (2016). 393 Dass der ornatus auch für einen (Natur-)Philosophen einen Ausweis von dessen Redetalent, nicht jedoch von dessen sachlichem Standpunkt gibt, führt Cicero darüber hinaus in De Oratore an; vgl. Cic., de orat., 1 (49): »Quam ob rem, si ornate locutus est, sicut et fertur et mihi videtur, physicus ille Democritus, materies illa fuit physici, de qua dixit, ornatus vero ipse verborum oratoris putandus est; et, si Plato de rebus ab civilibus controversiis remotissimis divinitus est locutus, quod ego concedo; si item Aristoteles, si Theophrastus, si Carneades in rebus eis, de quibus disputaverunt, eloquentes et in dicendo suaves atque ornati fuerunt, sint eae res, de quibus disputant, in aliis quibusdam studiis, oratio quidem ipsa propria est huius unius rationis, de qua loquimur et quaerimus.« (»Daher muss, wenn jener Naturphilosoph Demokrit, wie es überliefert ist und wie auch ich es glaube, schmuckvoll sprach, jener Stoff, über den er sprach, als derjenige eines Naturphilosophen, der Schmuck der Worte indes als derjenige eines Redner betrachtet werden; und wenn Platon Streitpunkte, die weit abseits politischer Angelegenheiten lagen, auf göttliche Weise behandelte – worin ich zustimme –, und wenn ebenso Aristoteles, Theophrast und Karneades in denjenigen Dingen, über die sie Erörterungen machten, redegewandt sowie lieblich und schmuckvoll im Sprechen waren, so mögen die Gegenstände, über die sie diskutieren, in gewissen anderen Studiengebieten liegen, ihre Rede selbst ist freilich typisch für diesen einen Zweck, über den wir sprechen und nach dem wir fragen.«). 394 Cic., orat., 3 (12): »agrestioribus Musis«. Auch an dieser Stelle spielt der ornatus, namentlich die »mit Worten und Gedanken geschmückte Beredsamkeit« (ebd., 3 [13]: »eloquentia [. . . ] ornata verbis atque sententiis«), die Hauptrolle bei der Frage, welche Art von dezidiert rhetorischer Prägung den Reden der Philosophen angesichts ihrer Abneigung gegenüber einer sophistischen Überredungskunst überhaupt noch zugestanden werden könne. Zur musa agrestis vgl. auch Lucr., 5, 1398.
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binden – einer ›klassisch‹ zu nennenden Taxonomie nach – die rhetorischen Wirkziele mit der entsprechenden stilistischen Redehöhe. So wird in diesem Sinn die höchste Stilart, das genus grande, auch als vehemens bezeichnet und kurzerhand mit der vis oratoris enggeführt: »Indes gibt es so viele Redearten, wie es Aufgaben eines Redners gibt: die schlichte beim Überzeugen, die gemäßigte beim Erfreuen, die heftige beim Umstimmen; einzig in dieser liegt die ganze Kraft des Redners.« 395 Erschien die Übersetzung der vis mit »Wesen« bereits zuvor als fragwürdig, stößt sie hier nun endgültig an ihre Grenzen. 396 Die Hierarchieabstufungen zwischen den drei genera, die nach Möllers zutreffenden Ausführungen nur als die wichtigsten Oberkategorien für individuellere Verfeinerungen zu sehen sind – wird hier in enger Analogie zu den Wirkzielen des Redens abgebildet. Hieraus folgt dann, dass bestimmte Wirkziele einen bestimmten Vorrang gegenüber anderen einnehmen können. Besonders augenfällig an diesem Kunstgriff ist etwa die Vorrangstellung des flectere gegenüber dem auf die aristotelische Tradition des πιθανόν rekurrierenden probare sowie dem an die Traditionen der poetologischen und rhetorischen Hedonik 397 anschließenden delectare. Es lässt sich also zum einen ablesen, dass der große Redner (orator magnus) selbst heftig in der Beugung der Gemüter (vehemens in flectendo) sein müsse. 398 Zum anderen ergibt sich eine wesentliche Neubesetzung der hergebrachten psychologischen Hierarchien: Während in der Tradition der akademischen Philosophie die seelischen Vermögensbereiche von der intellektuellen ErkenntCic., orat., 21 (69): »Sed quot officia oratoris, tot sunt genera dicendi: subtile in probando, modicum in delectando, vehemens in flectendo; in quo uno vis omnis oratoris est.« Der Satzanschluss in quo uno ist nicht summativ auf alles Vorhergehende, sondern nur auf in flectendo zu beziehen – dies zeigt bereits der vorhergehende Kontext des flectere victoriae [est]: »Nam id unum ex omnibus ad obtinendas causas potest plurimum.« (»Denn das [sc. das Beugen der Gemüter] allein vermag am ehesten von alledem die Prozesse zu gewinnen.«); vgl. darüber hinaus ebd., 28 (97): »Tertius est ille amplus copiosus, gravis ornatus, in quo profecto vis maxima est.« (»Der dritte [sc. Stil] ist jener großartige, wortreiche, mächtige, schmuckreiche, in welchem sich tatsächlich die größte Kraft befindet.«). 396 So sieht sich Merklin (2004), 65 nunmehr dazu angehalten, von einer »Wirkungsmöglichkeit« zu sprechen, und lagert damit ein weiteres Mal die vis aus dem Bereich des energetischen Vollzugs rednerischer Kräfte aus. Weder ›Wesen‹ noch ›Wirkungsmöglichkeit‹ harmonieren mit der rhetorischen Funktion der vehementia, die ja gerade als wirkungsvolle beziehungsweise wirksame Kraft festzuhalten ist. 397 Bereits in Aristoteles’ Poetik hat das Empfinden von Freude (τὸ χαίρειν) an der Mimesis eine konstitutive Funktion bei der anthropologischen Grundlegung der Dichtkunst; vgl. Aristot., poet., 4, 1448b8; in diese Tradition schreibt sich bekanntermaßen auch Hor., ars, 333 f. ein: »aut prodesse aut delectare volunt poetae / aut simul« (»Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter, / oder beides zugleich.«). 398 Bei Cicero regelmäßig in brachylogischer Form für das Wirkziel animum(-os) flectere angeführt. 395
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nis (νοητόν) hinab zu den äußeren Sinnen (αἰσθητόν) Dignität einbüßen, so wird hier die probatio – eine der genuinsten Tätigkeiten des Verstandes – mit dem niedrigen Stil gleichgesetzt. Dies vermag jedoch mit Blick auf die Stilideale der spätrepublikanischen Rhetorik nur vordergründig zu überraschen. Denn eines der eigentümlichsten Merkmale des genus subtile ist dasjenige der Schlichtheit (simplicitas). Ihr liegt die stilistisch-psychologische Überzeugung zugrunde, dass eine einfache Ausdrucksweise – ganz im Sinne der Klarheit (claritas) – 399 in besonderem Maße der Verstandestätigkeit zuarbeiten könne. Deren Antipode, der Redeornat, scheint demgegenüber vorzugsweise zur Gemütsbewegung (animos flectere) geeignet. Die Redetugenden (virtutes dicendi) sind daher zunächst – in Bezug auf das in den Partitiones vertretene actio/scientia-Begriffspaar – als zweiseitig gerichtete Kräfte bestimmbar und auch als solche in einem einzelnen Redner in unterschiedlichem Maße ausgeprägt. Die Kraft scheint also im von Cicero vertretenen Sinn eine über die Stillehre zu erlangende Fähigkeit zu sein, die sich in der Folge auf die Zuhörer überträgt. Betrachten wir im Folgenden noch etwas genauer die Einschätzung der Stilarten in Hinsicht auf die Kompetenz des Redners, indem wir das Verhältnis von Kompetenz und Kraft umkehren. Hier geht es nun darum, inwiefern die Kraft des Redners in dessen eigener Kompetenz liegt.
5.b.β. Kraft in der Kompetenz
Wie bereits anhand des ciceronischen Standpunkts gesehen, kann das individuelle ingenium eines Redners, in dem sich alle Kompetenzen und Tugenden bündeln, zum Ausgangspunkt fremder Seelenrührungen werden. Um solche Wirkung zu vollführen, ist dieses ingenium allerdings in bestimmte Richtungen zu entwickeln. Die gemäß dem Analogieverhältnis, das zwischen oratio und vita zu herrschen habe, neben der konkreten Lebensführung zu beachtende Größe ist die Rede selbst. Hieraus folgt, dass von der Redekraft, über die oben angeführte Stillehre hinaus, auch die Redeinhalte selbst betroffen sind. Über die kanonisierten Arbeitsschritte der Redekunst werden sie ins-
Diese ist als eine die perspicuitas und die brevitas umgreifende Kategorie zu fassen. Die brevitas ist in ihrer Wirkweise wie auch die perspicuitas graduell, in unterschiedlichen Intensitäten, zu denken. Hierin gründet sich wiederum eine Gefahr und zugleich Herausforderung für den Redner. Übertreibt man es nämlich mit der Kürze, so kann dies der Klarheit durchaus schaden. Eine stilkritisch einprägsame Reflexion hierzu findet sich bei Horaz: »Ich bemühe mich, kurz zu sein, und werde dunkel.« (Hor., ars, 25 f.: »Brevis esse laboro, / obscurus fio«); zum Verhältnis von Ausdruckskürze und Luzidität vgl. zudem Cic., part., 6 (19). 399
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besondere anhand der inventio, der dispositio und der elocutio bestimmt. 400 Sie sind, bezogen auf die inventio und die dispositio, in den Dingen (re¯s), sowie, bezogen auf die elocutio, in den Worten (verba) fest verankert. Die vis tritt nun in diesen Zusammenhängen weniger als ein Mittel zur Durchsetzung von Wirkzielen, dafür umso mehr als ein formgebendes Prinzip auf. Denn neben ihrer bereits vielfach beobachtbaren psychagogischen Funktion verleiht sie auch der Rede selbst Sinn und Bedeutung. Ihre Bestimmung erfolgt dann gewissermaßen in Form einer Trockenübung, ohne Zuhörer. In eben dieser Übung treten Wort und Welt umso wichtiger auf den Plan. Vorgeführt wird ein solcher Gedanke etwa in den Eingangspassagen der Partitiones oratoriae. Wir hatten die Partitiones bereits bei der Bestimmung der Kraft der Tugend (vis virtutis) besprochen; nun geht es um die konkrete Kraft des Redners (vis oratoris) im Sinne ihrer Einhegung in ein taxonomisches System, das zum Hervorbringen einer Rede befähigt. In den Eingangspassagen finden sich, ohne dass dabei die Rolle der Rezipienten diskutiert würde, Zuschreibungen, die zwischen der doctrina dicendi, den re¯s, den verba und der vis oratoris getätigt werden: C[icero]. Quot in partis tribuenda est omnis doctrina dicendi? / P[ater]. Tris. / C. Cedo quas? / P. Primum in ipsam vim oratoris, deinde in orationem, tum in quaestionem. / C. In quo est ipsa vis? / P. In rebus et in verbis. 401
Die Redekraft – die bisweilen leicht verengend als schiere »Fähigkeit« 402 aufgefasst wird – fügt sich hier in die taxonomischen Gerüste der Topik und der Redeform ein. In den Dingen ist sie zu verorten wie in den Worten. Daher steht dasjenige im Vordergrund, was der Redner sich an Wissen über diese Dinge bereits erworben hat. 403 Dieser aus heutiger Sicht ›klassisch‹ zu nennende Verbund, der zwischen den Dingen und den Worten zu herrschen hat, mündet argumentativ schließlich in den Einteilungen des Stoffes (partitiones) Diese stellen gemeinsam mit der memoria und der actio die wichtigsten Produktionsstufen der rhetorischen Tätigkeit dar. Sie sind jedoch von der Vortragstätigkeit als solcher stärker entkoppelt. Dies führt, wie unter anderem Barthes betont, bisweilen dazu, dass memoria und actio gar »fallengelassen [wurden], als sich die Rhetorik nicht mehr bloß auf die gesprochenen (deklamierten) Diskurse von Advokaten oder Politikern oder von Vortragenden (epideiktische Gattung) bezog, sondern auch und später nahezu ausschließlich auf (schriftliche) Werke.« (Barthes [1988], 53). 401 Cic., part., 1 (3): »C[icero]. In wie viele Teile muss die Redeausbildung eingeteilt werden? / V[ater]. In drei. / C. Weiter, in welche? / V. Zunächst in die Kraft des Redners selbst, dann in die Rede, dann in den rednerischen Stoff. / C. In welchem befindet sich die Kraft? / V. In den Dingen und in den Worten«. Zur prägnanten Bedeutung der quaestio als rednerischer Materie vgl. unter anderem Cic., de inv., 1, 8. 402 Bayer / Bayer (1994), 7. 403 Daher deutlich besser die Übersetzung bei Rackham (31960), 313: »the speaker’s personal resources«. 400
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selbst – beginnend mit dem Auffinden der Topoi ([locos] invenire) und dem Anordnen derselben (conlocare). 404 Die Produktionsschritte der inventio und der dispositio spielen also bereits im Stadium der Entfaltung der Rednerkraft in der Rede und den Stoffen selbst eine gewichtige Rolle, ihre Zielpunkte sind und bleiben die res und die verba; die Kraft des Redners bezieht sich mithin auf den Umgang mit ebendiesen Größen. Die Rolle der vis besteht also darin, den Stoff zu beherrschen und in eine angemessene Menge und Ordnung zu bringen. Die Redekraft ist somit eine wichtige Ausgangsgröße mit differenzierter und differenzierender Ausprägung, mithin Grundlage des Rede-Arrangements, der accomodatio: Quoniam fides est firma opinio, motus autem animi incitatio aut ad voluptatem aut ad molestiam aut ad cupiditatem aut ad metum – tot sunt enim motus genera, partes plures generum singulorum – omnem conlocationem ad finem accomodo quaestionis. 405
Die Anordnung des Stoffes (accomodare) erfolgt zum Zwecke der Untersuchung (quaestio). Die diskutierten Zwecke wiederum stammen aus der Emotions- (fides, metus) und Affektenlehre (incitatio, voluptas, molestiam, cupiditas). Die kausale Verbindung (quoniam) zwischen den bewegenden Kräften und dem Stoff bereitet der Rückbeziehung der Gemütsbewegungen auf die Anordnung des Stoffes den Boden. Wenn man so möchte, steht die vis am Anfangspunkt der Rede, im Stadium des invenire, wie sie auch (im gelungen Fall) deren Endpunkt, das incitare, bildet. Für Cicero bedarf es keiner ausführlichen Begründung, dass der orator perfectus sich zwischen den einzelnen genera souverän zu bewegen hat und daher seine Vehemenz idealerweise in gleichem Maße ausbildet wie seine Fähigkeit der Beweisführung. Denn das impliziert das Attribut perfectus. Es kann im Umkehrschluss geradezu als ein Mangel gelten, wenn der Redner Vgl. Cic., part., 1 (3–5): »Sed et res et verba invenienda sunt et collocanda.« (»Aber sowohl die Dinge wie auch die Worte müssen gefunden und angeordnet werden.«). 405 Ebd., 3 (9): »Da ja eine ›starke Meinung‹ in der Vertrauenswürdigkeit besteht, die Anstachelung des Geistes indes in der Bewegung zum Vergnügen, zur Beschwerlichkeit, zum Begehren oder zur Furcht – denn so viele Arten der Bewegung gibt es [und] noch mehr Teile einzelner Arten – nehme ich die Anordnung [sc. der Stoffe] gänzlich zum Zwecke der Untersuchung vor«. Das Genitivattribut motus zu genera wird in einer Handschrift (in einem der beiden grundlegenden Pariser Codices aus dem 10. Jahrhundert) ausgelassen. Die Argumente für und gegen seine Aufnahme halten sich die Waage; die Frage ist aber nicht sinntragend, da aus dem Kontext heraus klar ist, dass es nicht um die genera dicendi im Sinne des genus demonstrativum, des genus iudicale oder des genus deliberativum gehen kann, auch nicht um diejenigen der Stillehre im Sinne des genus grande, des genus medium und des genus subtile, sondern dezidiert um die verschiedenen Arten der durch das Reden ausgelösten Seelenbewegungen. 404
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die Stilarten nicht zu verbinden weiß. 406 Hierbei ist zu betonen, dass die mitreißende Kraft entlang des erhabenen, seine rationale Überzeugungskraft entlang des schlichten genus entwickelt wird. Die Gestaltformen der Rede erscheinen dann – aufgrund ihrer prinzipiellen Aneignungsfähigkeit – überindividuell, in ihrem Aneignungsvollzug indes auf das Rednerindividuum selbst bezogen. Der letztgenannte Aspekt ist insofern nicht trivial, als er gleichermaßen den Charakter und die Persönlichkeit des Redners betrifft – wodurch das Konzeptpaar von Moralischem und Affektivem in den Blickpunkt gerät, wenn auch nunmehr gerichtet auf das Verhältnis zur vehementia und eben nicht mehr nur zum ingenium. Die prägnantesten Ausführungen hierzu finden sich ein weiteres Mal im Orator. Cicero bezieht hier ausdrücklich mimetische und dynamische Aspekte aufeinander. Nach einer Abhandlung des Redeschmucks (ornatus) – der entgegen der attizistischen Leitvorstellung der Einfachheit durchaus zu den Vorzügen eines guten Redners zu zählen sei – seien noch zwei weitere Dinge zu beachten, die man am Redner bewundern könne: Quorum alterum est, quod Graeci ἠθικὸν vocant, ad naturas et ad mores et ad omnem vitae consuetudinem accommodatum; alterum, quod idem παθητικὸν nominant, quo perturbantur animi et concitantur, id quo uno regnat oratio. Illud superius come iucundum, ad benevolentiam conciliandam paratum, hoc vehemens incensum incitatum, quo causae eripiuntur; quod cum rapide fertur, sustineri nullo pacto potest. 407
Wie man es auch aus philosophischen Traktaten Ciceros wie De finibus bonorum et malorum oder den Tusculanae Disputationes (beide 45 v. Chr.) kennt, wird hier der Anschluss an die Tradition griechischer Terminologie deutlich formuliert (quod Graeci [. . . ] vocant). Sachlich werden zwei scheinbar recht 406 Vgl. am ausdrücklichsten hierzu Cic., orat., 28 (99): »At vero hic noster quem principem ponimus, gravis acer ardens, si ad hoc unum est natus aut in hoc solo se exercuit aut huic generi studet uni nec suam copiam cum illis duobus generibus temperavit, maxime est contemnendus.« (»Jedoch dieser unser Redner, den wir an die Spitze stellen – ein mächtiger, scharfzüngiger und leidenschaftlich brennender – ist am meisten dann zu verachten, wenn er für diesen [sc. Stil] allein geboren ist oder sich einzig in diesem geübt hat, oder wenn er sich einzig um diesen Stil bemüht und seine Redefülle nicht mit jenen beiden Stilen in ein angemessenes Maß gesetzt hat.«). 407 Cic., orat., 37 (128): »Das eine von diesen [sc. Mitteln], welches die Griechen e ¯ thikón [zum Charakter gehörend] nennen, steht mit den Wesenszügen, dem Charakter und der ganzen Lebensgewohnheit in Einklang; das andere, das sie als pathe¯ tikón [sc. zum Affekt gehörend] bezeichnen, ist dasjenige, wodurch die Gemüter aufgeregt und in Bewegung versetzt werden und alleinig das, wodurch die Rede obsiegt. Jenes Erstere ist zuvorkommend, angenehm und dazu angetan, Wohlwollen zu gewinnen; das Letztere ist heftig, entbrannt und angetrieben, wodurch die Streitfälle geradezu fortgerissen werden; wenn dieses sich unvermittelt Bahn bricht, kann es auf keine Weise mehr aufgehalten werden«.
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strikt voneinander getrennte (alterum . . . alterum) Felder geöffnet: der Bereich des Affektiven (παθητικόν/pathe¯tikón) und derjenige der Lebensführung (ἠθικόν/¯ethikón). Dies geschieht in einer Bildsprache, die selbst dazu angelegt erscheint, geradewegs mitzureißen (vehemens incensum incitatum, eripiuntur, rapide etc.). 408 Die Lebensführung eines Redners ist demnach eine ebenso konstant gegebene Begründungsinstanz für dessen Stil, wie es dessen psychagogische Fähigkeiten sind. 409 Der Begriff ingenium wird an dieser Stelle zur Beschreibung dieser Lebensführung offenbar bewusst vermieden, da der Blick gerade weg von den interioren Anlagen und dafür hin zum Habitus gelenkt werden soll – zu dessen Beschreibung dominieren die entsprechenden Ausdrücke der Wesenszüge (naturae), 410 des Charakters (mores) sowie der Lebensführung selbst (consuetudo vitae). 411 Dass diese Beschreibungsgrößen hier herangezogen werden, impliziert selbstverständlich – wenn auch nicht erschöpfend – auch die Befähigung zum politischen Leben, den Nachweis, eine tragende Rolle in der res publica spielen zu können. Im Vergleich zur Lebensweise wird die (nicht nur) politische Redeweise indes in actu sichtbar in den παθητικά/pathe¯tiká. 412 Auch in ihrer römischen Entsprechung der passiva – sind sie keinesfalls als ›passiv‹ im geläufigen Wortsinn aufzufassen; denn sie lassen sich nicht auf ein verharrendes oder erleidendes Vermögen reduzieren, sondern umfassen all dasjenige, was mit dem Evozieren und Verarbeiten von Affekten und Empfindungen zu tun hat. Angesprochen wird zuvorderst der Bereich der Fähigkeiten hierzu. 413 Die scheinbare Antithetik zwischen Moral- und Affektenlehre ist in Wahrheit ein komplementäres Verhältnis. Cicero scheint es dem Redner vordergründig zu erlauben, aus der gewohnten oratio/vita-Analogie auszuscheren, um sich ganz in den passiva zu ergehen. Wie aber in Kapitel ii.5.b.α gesehen, bedeutet dies nicht unbedingt eine Verabschiedung von der virtus, sondern deutet auf eine Kompetenz hin, die für die Erlangung der Redeziele von hohem Nutzen ist. So kann sie etwa dem BekämpDas mitreißende Moment schlägt sich sowohl in der Wortwahl als auch in der teils asyndetischen Reihung dieser Ausdrücke nieder. 409 Der erste Aspekt wird von Möller (2004) ausführlich in den Blick genommen. 410 Der Pluralgebrauch scheint hier auf die Vielzahl individueller Wesenszüge und nicht unbedingt auf einen in Einheit zu denkenden, ›anthropologischen‹ Kern abzuzielen. 411 Sie lassen sich vor allem in stoischer Tradition lesen. Dort schlägt sich die innere Einrichtung der Seele, die oikeío¯ sis, auch im Habitus, im äußerlich erkennbaren politischen Handeln nieder – eine Denkfigur, die im Begriff des Kosmopolitismus zur besonderen Geltung gelangt ist. 412 Vgl. zu den griechischen Vorlagen (insbesondere zu der aristotelischen) und ihrer Aneignung in der ciceronischen Rhetorik Wisse (1989). 413 Vgl. hierzu den lexikalischen Eintrag bei Georges (81998), s. v. »passivus«, 1502: »der Empfindung und der Affekte fähig«; zum παθητικόν vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »παθητικός«, 1285: »capable of emotion«. 408
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fen von Feinden dienen, mithin dem eigenen Standpunkt indirekt zuarbeiten. Cicero schließt daher unmittelbar an: Quo genere nos mediocres aut multo etiam minus, sed magno semper usi impetu saepe adversarios de statu omni deiecimus. Nobis pro familiari reo summus orator non respondit Hortensius; a nobis homo audacissimus Catilina in senatu accusatus obmutuit; nobis privata in causa magna et gravi cum coepisset Curio pater respondere, subito assedit, cum sibi venenis ereptam memoriam diceret. 414
Cicero führt berühmte Beispiele aus seinem Leben in vorgeschützter Zurückhaltung der eigenen Fähigkeiten an (nos mediocres), um dann doch zu betonen, von welch großem Antrieb (magno impetu) er Gebrauch zu machen wusste, wenn es vor Gericht darauf ankam. Und natürlich sind Ausdrücke wie homo audacissimus keine zufälligen Zuschreibungen, sondern – gerade im hier angeführten Fall Catilinas, aber auch bei ähnlich gelagerten Fällen wie demjenigen Marcus Antonius' – 415 eng mit dem Aspekt der Lebensführung verknüpft. Die Gegner Ciceros vor Gericht waren nicht einfach statische Gegner, sondern sie wurden von ihm leidenschaftlich – und das insbesondere in Ansehung seiner eigenen Lebensführung und Vorstellungen einer gerechten res publica – energisch bekämpft. Was heißt das für den orator perfectus? Ihm kommen vor allem zwei Dinge zu: einerseits die Versicherung, in den Dingen beflissen zu sein, über die er spricht; andererseits die höchste Kraft, die menschlichen Gemüter zu bewegen (movere), gar zu beugen (flectere). Das substantielle Kriterium einer innewohnenden Kraft wird dadurch mit einem äußerlich wirksamen Kriterium verbunden. Die stoffliche Bestimmungsseite meint wiederum ein Verhältnis, welches mit der dispositio seinen Platz in den officia dicendi gefunden hat. Diese Bedingtheit der klassischen oratorischen Wirkziele durch die innere Beschaffenheit des Redners lässt sich noch weiterdenken: Denn auch die Wortfügungen (compositio verborum) – eigentlich ein Aspekt, dem man intuitiv keinen Anspruch auf Innigkeit beimessen würde – stellt dann im Grunde eine Teilaufgabe Cic., orat., 37 (129): »In dieser Art [sc. der emotionalen Redeweise] war ich mittelmäßig oder noch viel weniger [sc. begabt], aber stets nutzte ich meinen starken Antrieb und streckte meine Feinde häufig auf ganzer Linie nieder. Hortensius, ein höchst erfolgreicher Redner, hat mir keine Gegenrede geliefert, als ich einen seiner Verwandten als Angeklagten vor Gericht brachte; das viel zu tollkühne Subjekt Catilina wurde von mir im Senat angeklagt und verstummte augenblicklich; als der Senator Curio in einem privaten und bedeutsamen Fall begonnen hatte, eine Gegenrede zu halten, setzte er sich urplötzlich nieder, wobei er behauptete, dass ihm durch Gift das Gedächtnis geraubt worden sei«. 415 Zum Kontrast zwischen dem historischen und dem von Cicero inszenierten Bild von Marcus Antonius vgl. Hedemann (2017). 414
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der vis dicendi dar, selbst wenn dies auch von manchen Ungeschulten bestritten werde – laut Cicero allerdings eben aufgrund ihrer Ungeschultheit: Itaque qualis eorum motus quos ἀπαλαίστρους Graeci vocant, talis horum mihi videtur oratio qui non claudunt numeris sententias, tantumque abest ut – quod ei qui hoc aut magistrorum inopia aut ingeni tarditate aut laboris fuga non sunt adsecuti solent dicere – enervetur oratio compositione verborum, ut aliter in ea nec impetus ullus nec vis esse possit. 416
Daraus, dass die Rede ohne Spannkraft (enervetur) ist, folgt, dass sie auch keinen Schwung (impetus) und keine weitere Kraft (vis) entwickeln kann. Das hieraus hervorgehende Gegensatzpaar von Trägheit (tarditas) und Schwung (impetus) stellt eine recht unmittelbare Verbindung zwischen dem Redner und seiner Rede her. Denn der mangelnde Schwung der Rede – dasjenige, wovon Cicero so gern Gebrauch machte, um seine Gegner vor Gericht zu besiegen – wird hier aus der defizitären Anlage (ingenium) seines Urhebers erklärt. Der Zusammenhang zwischen persönlicher Anlage und Kraftentwicklung soll im Folgenden als Folie dienen, um die Rolle des Erhabenen in diesem Kontext genauer zu verstehen. Dabei wird auch der Gegensatz zwischen philosophischer Rede und rhetorischer Überwältigung eine Rolle spielen, wie wir ihn bereits bei Cicero beobachten konnten.
5.c. »vim dico δύναµιν« – Kräfte in Quintilians Institutio oratoria
Wie in Kapitel ii.4.b gesehen, werden Kraftkonzepte in der Schrift Περὶ ὕψους ganz wesentlich über zwei Begründungsverhältnisse organisiert: einerseits über dasjenige zwischen Denkinhalten und Pathos, andererseits über dasjenige zwischen Dichter und Dichtung. Insgesamt findet sich dort ein nur wenig bildungsbezogener Impetus. Demgegenüber schlägt sich in Quintilians Institutio oratoria der »Funktionswandel von der forensischen Technik zur höheren literarischen Bildung« 417 nieder, und dies in Auseinandersetzung mit den BeCic., orat., 68 (229): »Daher erscheint mir die Rede derjenigen, die ihre Sätze nicht metrisch abschließen, so wie die Bewegungsversuche derer, welche die Griechen Ungeschulte [ἀπάλαιστροι] nennen; und es fehlt soviel daran, dass – dies pflegen diejenigen zu behaupten, die dies entweder aus Mangel an Lehrmeistern oder wegen der Behäbigkeit ihrer Natur oder aus Scheu vor der Mühe nicht erreicht haben – die Rede nicht durch die Wortfügung entkräftet würde, so dass in ihr auf andere Weise weder irgendein Schwung noch eine Kraft sein könnte«. 417 Fuhrmann (52003), 71. Fuhrmann setzt diesen Prozess in der frühen Kaiserzeit an. Es spräche allerdings, je nach ideengeschichtlicher Auslegung, auch wenig dagegen, den Beginn dieser Entwicklung bereits um 55 v. Chr. in Ciceros De oratore zu verorten. Zum Bildungsbegriff in der flavischen Zeit vgl. Too (2016), zu dessen Abgrenzung vom Erziehungsaspekt vgl. Bloomer (2015). 416
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stimmungsweisen, die bereits von der ciceronischen Rhetorik ausgegangen waren. 418 Dieser Umstand liegt zu einem gewissen Teil in der Ausrichtung des Werks selbst begründet: Es sind Bildungsideale, oder praktisch gewendet: Bildungsziele, die als richtungsgebende Größen des menschlichen ingenium und damit auch der Ausprägung seiner Kräfte dienen. Quintilian beschreitet in der Darstellung der Redekunst mitnichten besonders abstrahierende oder sich von der Wirklichkeit entfernende Wege, wie gelegentlich behauptet wird. 419 Im Gegenteil, wird doch auch hier bei aller durch Konzepte wie den vir bonus verfolgten Idealität nicht außer Acht gelassen, die Rhetorik über die Eingliederung der Redekräfte (vires dicendi) auch auf eine Wirkästhetik hin zu entwickeln und dabei die Urgründe des rednerischen Vermögens zu bekräftigen. Durch die gorgianische δύναµις τῆς τέχνης und Ciceros vis ingen¯ lässt sich hierzu bereits an eine gewisse Traditionslinie anschließen. Dennoch schiene allzu eng gefasst, Quintilian in den dynamischen Aspekten seiner Behandlung der Rhetorik als bloßen Ciceronianer oder gar als ungebrochenen Fortführer einer sophistischen Weisheitslehre einzustufen. Vielmehr grenzt er sich – wie die definitorischen Vergleiche bei Quint., inst., 2, 15, 1–22 zeigen – gerade in den Fragen nach Kraft und Vermögen der Redekunst von den römischen und griechischen Vorläufern merklich ab, da sie ihm das Thema nicht in allen Facetten zu behandeln scheinen; 420 er wählt vielmehr in der Formel »vim dico δύναµιν« 421 mit vis denjenigen Begriff, dem das weitestmögliche semantische Spektrum im Bereich der Kraft- und Vermögenslehre zukommt und der dem Autor daher viele Freiheiten gewährt. 422 Vgl. zum Fortwirken der ciceronischen Ideale im ersten nachchristlichen Jahrhundert die konzisen Ausführungen bei Conley (1990), 38–43. 419 Daher auch in Absetzung von der Fokussierung, wie Robling sie vornimmt: »Quintilians Werk drückt aus, daß sich analog zu den politischen Verhältnissen in der Kaiserzeit die Unterweisung in der Rhetorik und die hier vermittelten Inhalte der Rhetorik selbst wandeln. Standen ursprünglich die Rede vor Gericht und die politische Debatte im Mittelpunkt, wird Rhetorik nun zu einem allgemeinen Merkmal höherer literarischer Bildung, wie sich später in den septem artes liberales zeigt. Wirklichkeitsferne Übungsreden in Form von Deklamationen (controversiae et suasoriae) oder Quintilians Stilkritik legen den Wandel der Rhetorik zu einer ›allgemeinen Theorie und Kritik der Kunstprosa‹ nahe.« (Robling [2009b], 3). 420 Demzufolge haben manche die Rhetorik »allein als eine Kraft, andere als eine Wissenschaft, nicht jedoch als Tugend, manche als Erfahrung, wieder andere zwar als Kunst, aber als eine [sc. Kunst], die von Wissenschaft und Tugend geschieden sei, und manche sogar als eine gewisse Verunstaltung der Kunst, das heißt als kakotechnía bezeichnet.« (Quint., inst., 2, 15, 2: »vim tantum, quidam scientiam, sed non virtutem, quidam usum, quidam artem quidem, sed a scientia et virtute diiunctam, quidam etiam pravitatem quandam artis id est κακοτεχνίαν nominaverunt.«). 421 Ebd., 2, 15, 3: »Ich nenne die δύναµις eine vis«. 422 Auf diese grundsätzliche Vagheit des Begriffs, wie er hier verwendet wird, weist auch Cousin hin – wenngleich er dabei weniger auf die systematischen Vorzüge einer solchen Wahl als vielmehr auf die philosophische Eklektik eingeht, die methodisch zugrunde liegt: »Vis correspond ici au grec 418
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Diese Freiheiten weiß Quintilian dann zu nutzen: Er legt gegenüber der spät-republikanischen Beredsamkeit neue Dimensionen des vis-Begriffs offen, indem er häufig auf die Redekraft (vis dicendi) selbst und daneben – als Ausdruck des wohl wichtigsten oratorischen Wirkzieles – 423 auf die Überzeugungskraft (vis persuadendi) rekurriert. Beide Größen spielen dabei zwei argumentativen Zwecken zu: Einerseits stellen sie Konzepte dar, an denen sich die Ansprüche aus der Moraldidaxe reflektieren und überprüfen lassen (in der Frage, wozu man seine Redekraft einzusetzen habe); andererseits sind sie sinnstiftende Begründungsinstanzen für die Redekunst selbst. Dass dabei manche hergebrachten Topoi durchaus um neue Aspekte erweitert werden, zeigt der Beginn des zwölften Buchs der Institutio. Dort wird das dem älteren Cato zugeschriebene Postulat eines vir bonus dicendi peritus zunächst im Sinne eines Autoritätsarguments eingeführt 424 und im Zuge dessen das oratio/vita-Korrelat in der von Cicero her bekannten Gültigkeit aufgerufen – denn nichts anderes meint auch in der Institutio die topische Verbindung eines vir bonus mit dessen Güte im Reden. 425 Im weiteren Kontext dieser Verbindung muss die Rolle der vis dicendi ins Auge fallen: Sie nämlich könnte sich den quintilianischen Bildungszielen leicht widersetzen oder ihnen gar entgegenwirken, indem sie die Menschen zur Schlechtigkeit (malitia) hinreißt. 426 Daher wird sie im Vergleich zu Cicero und (Ps.-)Longin in neuen argumentativen Funktionsweisen eingeδύναµις mais le terme est à mon sens trop vague, car les platoniciens et les péripatéticiens, qui n’ont pas les mêmes idées sur la rhétorique, se servent du même mot; Athénée, qui est un éclectique stoïcisant, définit lui aussi la rhétorique par l’expression λόγων δύναµις« (Cousin [21967], 136 f.: »Vis entspricht hier der griechischen dýnamis, jedoch ist der Begriff meines Erachtens allzu vage, denn die Platoniker und die Peripatetiker, die bezüglich der Rhetorik nicht dieselben Vorstellungen hatten, bedienten sich desselben Wortes; Athenaios, der ein eklektischer Stoizist ist, definiert die Rhetorik ebenfalls mit dem Ausdruck l’ogo¯ n dýnamis [Kraft der Worte].«) Die Ambiguität des Begriffs ist, wie weiterhin gezeigt werden soll, aber nicht zu verwechseln mit dessen Vielseitigkeit, dich sich insbesondere in Bezug auf die Erfordernisse der forensischen Aufgaben abzeichnet – und, wie wir in Kapitel II.5.b sehen konnten, auch bereits bei Cicero abgezeichnet hatte. 423 Insofern die drei Tätigkeiten des movere (animum flectere), delectare und docere der persuasio zuarbeiten sollen. 424 Das hierzu verwendete finitur (Quint., inst., 12, 1, 1) lässt sich in verschiedene Richtungen auffassen – zum einen dahin, dass Cato einen solchen Anspruch an den Redner selbst vorgebracht und dadurch in bestimmtem Sinne ›definiert‹ hat; zum anderen, dass er ihn selbst auch am stärksten verkörperte und ihn dadurch gewissermaßen ›vollendet‹ hat. Dass seine auctoritas, gravitas und potestas gerade an dieser Übereinstimmung von Anspruchsdenken und persönlichem Inbild festzumachen sind, befindet sich im Einklang mit der politischen communis opinio über Cato, ganz besonders aber mit den Charakteristika, die ihm von Ciceros Seite aus an verschiedenen Stellen zugeschrieben werden; vgl. exemplarisch Cic., Mur., 58–67, insbesondere solch emphatische Junkturen wie totius vitae splendor et gravitas (58), bona quae videmus divina et egregia (61) oder vi naturae atque ingen¯ı elatum (65). 425 Vgl. die prägnante Zuspitzung bei Quint., inst., 12, 1, 3. 426 Vgl. ebd., 12, 1, 1.
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bracht, wie sich im Kontext ihrer häufigen Begleiter eloquentia und der facultas erkennen lässt. Diese Paradigmen kulminieren etwa im weiteren Verlauf des zwölften Buches an mehreren Stellen zum Hendiadyoin vis ac facultas dicendi. So wird in inst., 12, 1, 33 – unter Heranziehung eines Interlocutors – die Hypothese eingebracht, dass Redekräfte gerade insofern verderblich seien, als sie doch bisweilen gegen die Wahrheit ankämpfen und diese gleichsam besiegen könnten: Videor mihi audire quosdam (neque enim deerunt umquam, qui diserti esse quam boni malint) illa dicentis: ›quid ergo tantum est artis in eloquentia? Cur tu de coloribus et difficilium causarum defensione, nonnihil etiam de confessione locutus es, nisi aliquando vis ac facultas dicendi expugnat ipsam veritatem? bonus enim vir non agit nisi bonas causas, eas porro etiam sine doctrina satis per se tuetur veritas ipsa.‹ 427
Angeführt wird eine Wirkweise der Rede, die scheinbar nur wenig mit einem vir bonus zu tun hat und die aus dem Platonismus bekannte Unterscheidung zwischen der wahrheitssuchenden Philosophie und der wahrheitsverdrehenden Rhetorik zu bekräftigen sucht. Eine solche Gefahr spielt jedoch in Quintilians Erwägungen zum Verhältnis von Rhetorik und Moral eine allenfalls untergeordnete Rolle. Denn auch die Verteidigung des Schlechten und Falschen, ja selbst die bewusste Trugrede, könne durchaus von hohem Nutzen sein – bisweilen gar nach (vorgeblicher) Meinung der Akademiker sowie unter den in dieser Hinsicht zweifelsfrei unverdächtigen Augen des älteren Cato: neque enim Academici, cum in utramque disserunt partem, non secundum alteram vivent, nec Carneades ille, qui Romae audiente censorio Catone non minoribus viribus contra iustitiam dicitur disseruisse quam pridie pro iustitia dixerat, iniustus ipse vir fuit. verum et virtus quid sit adversa ei malitia detegit, et aequitas fit ex iniqui contemplatione manifestior, et plurima contrariis probantur: debent ergo oratori sic esse adversariorum nota consilia ut hostium imperatori. 428 Quint., inst., 12, 1, 33: »Mir scheint, als hörte ich, wie manche (denn es wird nie an Leuten fehlen, die lieber redegewandte als gute [sc. Menschen] sein wollen) jenes sagen: ›Was also soll die ganze Kunst in der Beredsamkeit? Warum hast du über die Schönfärbereien und die Verteidigung schwieriger Fälle sowie einiges über das Schuldbekenntnis gesprochen, wenn nicht bisweilen die Kraft und Fähigkeit des Redens die Wahrheit selbst besiegt? Denn ein Ehrenmann vertritt ausschließlich ehrbare Fälle, und diese [sc. Fälle] nimmt ja wohl die Wahrheit selbst, auch ohne [sc. rednerische] Lehre, durch sich in Schutz.‹«. 428 Ebd., 12, 1, 35: »Denn sowohl die Akademiker werden, wenn sie beide Seiten [sc. eines Problems] erörtern, gemäß der einen der beiden [sc. Seiten] leben, und auch Karneades, von dem man sagt, dass er in Rom mit dem Zensor Cato in der Zuhörerschaft mit nicht geringeren Kräften 427
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Und Quintilian geht noch weiter, wenn im Folgenden zur weiteren Legitimierung, Unwahres sprechen zu dürfen, gar die Stoa bemüht wird: ac primum concedant mihi omnes oportet, quod Stoicorum quoque asperrimi confitentur, facturum aliquando bonum virum ut mendacium dicat, et quidem nonnumquam levioribus causis, ut in pueris aegrotantibus utilitatis eorum gratia multa fingimus, multa non facturi promittimus[.] 429
Wenn also selbst der gestrenge Cato, die Akademiker und die Stoiker eingestehen müssen, dass das Umgehen der Wahrheit und das Beteuern der Unwahrheit den Redner vielseitiger machen, so spricht viel dafür, dies durchaus zu den positiven Vermögen zu zählen. Will der Redner sein Vermögen zur Geltung bringen, darf er folglich mit verschiedenen Redetechniken experimentieren, eignet sich dadurch wiederum neue Fertigkeiten an und verbessert sich selbst im Zuge eben jener Ausübung der bisher erworbenen Fähigkeiten. 430 Es ist also gerade die Sukzession in der Ausbildung des rednerischen Vermögens mit dem Ziel höchstmöglicher Versiertheit, wodurch die Rhetorik von Wahrheitsansprüchen entkoppelt wird. Die Kräfte und Fähigkeiten des Redners, die ihn nicht nur zum Reden, sondern zum Überzeugen ermächtigen, werden einerseits mit Elan gegenüber den Einwänden verteidigt, die von Seiten derjenigen eingebracht werden, die auf wahrheitsgebundene Argumente pochen (probantes); andererseits findet geradezu eine Sublimierung dieser Größen – namentlich aus der Tradition der Dreistillehre heraus – in Abgrenzung zur Schlusslehre der Logik statt. Beispielhaft dafür ist zunächst die dezidierte Ablehnung eines Zuviels an Konklusionen und Widerlegungen (colligere ac resolvere, quae velis). 431 Denn ähnlich zu Cigegen die Gerechtigkeit gesprochen habe als er am Vortag für die Gerechtigkeit gesprochen hatte, war selbst kein ungerechter Mann. Was das Wahre und die Tugend ist, enthüllt ja die Schlechtigkeit, die diesem entgegengestellt ist; auch die Billigkeit wird aus der Betrachtung des Unbilligen klarer, und die meisten Dinge werden durch Gegenbeweise einleuchtender. Also müssen dem Redner die Absichten der Gegenseite genauso bekannt sein wie einem Feldherrn diejenigen des Feindes«. Bei Karneades handelt es sich um einen akademischen Vertreter der Philosophengesandtschaft, die im Jahr 155 v. Chr. Rom besuchte. 429 Ebd., 12, 1, 38: »Und zunächst müssen wir alle zugestehen, was auch die strengsten Stoiker bekennen, dass nämlich ein ehrenhafter Mann auch einmal in die Lage geraten wird, eine Lüge auszusprechen, und zwar bisweilen gar in harmloseren Fällen – wie wir etwa bei Kindern, die erkrankt sind, vielerlei erfinden, weil es ihnen gut tut, und vielerlei versprechen, ohne dass wir es einhalten werden«. 430 Der naheliegende Einwand, dass die sittliche Ausrichtung der vita ein solches Handeln doch eigentlich nicht zulassen könne, wird von Quintilian antizipiert und ebd., 12, 1, 37–40 zurückgewiesen. Dass diese Zurückweisung selbst sophistisch anmutet, bekräftigt nochmals das elastische Verhältnis zwischen Wahrheit und Unwahrheit, das Quintilian bei der Aneignung der Redekraft so hochhalten will. 431 Vgl. zu diesem Begriffsbestand ebd., 12, 2, 10.
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cero ist es auch hier eine allzu große Verstandestätigkeit, welche die Kraft der Rede verringern und damit auch das persuadere erschweren kann. 432 Zu diesem Zweck wird eine genaue Unterscheidung zwischen forensischen und philosophischen Wirkweisen in ihren jeweils typischen Vollzugsformen, der actio und der disputatio, vorgenommen und auf den Aspekt der Publikumswirkung bezogen: quamquam ea non tam est minute atque concise in actionibus utendum quam in disputationibus, quia non docere modo sed movere etiam ac delectare audientis debet orator, ad quod impetu quoque ac viribus et decore est opus, ut vis amnium maior est altis ripis multoque gurgitis tractu fluentium quam tenuis aquae et obiectu lapillorum resultantis. 433
Man könnte in diesem Passus vordergründig ein illustres Beispiel für die der Institutio oratoria eingegebene Tendenz sehen, ausgiebigen Gebrauch von Naturmetaphern zu machen. 434 Wichtig ist daran aber, dass die herangezogene Bildsprache einer weiteren Unterordnung der an der Wahrheit orientierten probatio gegenüber den an die persuasio gekoppelten vires ac facultates zuarbeitet. Somit wird die Wahrheit nicht – was im Sinne der vielbeschworenen Bildungsziele ja durchaus naheläge – gegenüber der Redekraft, sondern die Redekraft gegenüber den philosophischen Beweisführungen erhöht. 435 Über Zur traditionellen Engführung der Redekraft mit dem Überzeugungsakt vgl. hingegen Sext. Emp., Adv. Rhet., 61: »οἱ περὶ τὸν Πλάτωνα εἰς τοῦτο ἀποδόντες δύναµιν εἰρηκάσιν αὐτὴν τοῦ διὰ λόγων πείθειν.« (»Die Anhänger Platons haben darüber Zeugnis abgelegt und haben sie [sc. die Rhetorik] die Kraft des Überzeugens durch Worte genannt.«). 433 Quint., inst., 12, 2, 11: »Allerdings darf man hiervon nicht so kleinlich und zerstückelt bei Gerichtsreden Gebrauch machen wie bei philosophischen Erörterungen, weil der Redner nicht nur die Zuhörer belehren, sondern auch bewegen und erfreuen muss, wozu man auch Schwung, Kräfte und Schmuck benötigt, wie auch die Kraft der Flüsse größer ist, die zwischen hohen Ufern und in strömender Flut fließen, als diejenige flachen Wassers, das sich zudem am Widerstand kleiner Steinchen bricht«. 434 Vgl. als einen hervorragenden Beitrag zur Illustrationskraft der Bildsprache Quintilians im Spannungsfeld von Klarheit (claritas) und Dunkelheit (obscuritas) Dozier (2013). 435 Bisweilen werden die probationes von Quintilian mithilfe rhetorischer Kunstgriffe – etwa über die Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen der vis persuadendi und der adfirmatio – geradezu getilgt, weil unnötig gemacht; vgl. etwa Quint., inst., 11, 3, 154: »Tria autem praestare debet pronuntiatio: conciliet persuadeat moveat, quibus natura cohaeret ut etiam delectet. conciliatio fere aut commendatione morum, qui nescio quomodo ex voce etiam atque actione perlucent, aut orationis suavitate constat, persuadendi vis adfirmatione, quae interim plus ipsis probationibus valet.« (»Drei Dinge indes muss der Vortrag zur Verfügung stellen, dass er nämlich geneigt macht, überzeugt und bewegt. Diese Dinge haben von Natur aus ihren Zusammenhang darin, dass er [sc. der Vortrag] auch erfreut. Die Geneigtmachung besteht entweder aus der Empfehlung des Charakters, welcher auf irgendeine Weise aus der Stimme und auch aus dem Vortrag hervorscheint, oder aus der Lieblichkeit der Rede, die Überzeugungskraft indes aus der Bekräftigung, die bisweilen 432
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die zentral gesetzten Begriffe impetus, vires und decus werden gerade diejenigen Kategorien abgebildet, die sich von den res weg- und zu den verba, und zwar diejenigen in actu, hinbewegen. Dies kann als Beispiel dafür gelten, dass sich die Redekunst bei Quintilian gerade nicht auf ihre didaktisch-moralischen Eingebungen, schon gar nicht auf eine Art von Bildungsauftrag reduzieren lässt, sondern an den publikumsbezogenen Wirkaspekten sowie an der Optimierung des eigenen rednerischen Vermögens orientiert. Kraft (vis) und Gewandtheit (facultas) der Rede können die Wahrheit gleichsam zu Fall bringen. Votiert Quintilian also für eine Entbindung der Rhetorik von Vernunft und Wahrheit und plädiert er, wenn man diesen Gedanken weiterführt, für Trug und Täuschung und spricht er den Redner damit von der Verpflichtung auf die Moral frei? In jedem Fall hält es Quintilian nicht für unnütz, wenn ein Redner weiß, wie man der Unwahrheit das Wort redet. Eine Ironie, der wir uns im Folgenden näher zuwenden, besteht nun darin, dass Quintilian auch im Bereich der Kräfte selbst zwischen verschiedenen Wertigkeiten unterscheidet, unter Zuhilfenahme genau derjenigen Größe, die durch die rednerischen Kräfte ja besonders effektiv bekämpft werden könne – der Wahrheit.
5.c.α. Kräfte und wahre Kräfte
Im Zuge der theoretischen Bestimmung der vires ac facultates werden in der Institutio oratoria auch Möglichkeiten der rednerischen Nachahmung diskutiert. Hierin unterscheidet sich Quintilian nicht grundlegend von Cicero, Horaz und (Ps.-)Longin. Allerdings entwickelt er hierzu ein durchaus eigenständig zu nennendes Modell, das über die bisherigen Konzepte hinausgeht: Zunächst wird neben der einfachen Kraft (vis) auch eine wahre Kraft (vera vis) eingeführt, die im Redner besonders tief eingepflanzt sei. Am augenfälligsten trete sie nun gerade dann in Erscheinung, wenn sie fehle: non subest vera vis nec penitus immissis radicibus nititur, ut quae summo solo sparsa sunt semina celerius se effundunt et imitatae spicas herbulae inanibus aristis ante messem flavescunt. 436 mehr wert ist als die Beweisgänge selbst.«) Die adfirmatio meint hier – über ihre logische Tradition hinausgehend – gerade keine syllogistische Überzeugungsarbeit, sondern die intensive Bekräftigung einer durch die Rede vorgetragenen Behauptung. 436 Quint., inst., 1, 3, 5: »Nicht steckt wahre Kraft dahinter; auch stützt sie sich nicht auf tiefgründige Wurzeln – ganz so, wie Samen, die auf der Oberfläche des Bodens verstreut sind, zu schnell aufgehen und die Pflänzchen dann zwar die Büschel nachahmen, vor der Ernte aber mit leeren Grannen gelb werden«.
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Der besondere Wert der wahren Kraft rührt demnach von ihrer wahren Urwüchsigkeit her. In diesem Sinn wird unter ihrer Ägide noch ein Katalog an intrinsischen Eigenschaften eröffnet, die sich sowohl partiell als auch in toto der Nachahmung sowie überhaupt der künstlichen Vermittlung (denn dies meint an der folgend zitierten Stelle die ars) widersetzen: namque iis quae in exemplum adsumimus subest natura et vera vis, contra omnis imitatio facta est et ad alienum propositum commodatur. quo fit ut minus sanguinis ac virium declamationes habeant quam orationes, quod in illis vera, in his adsimulata materia est. adde, quod ea, quae in oratore maxima sunt, imitabilia non sunt, ingenium, inventio, vis, facilitas et quidquid arte non traditur. 437
Über das Hendiadyoin natura et vera vis wird – ähnlich dem vis-Gebrauch in den entsprechenden Junkturen Ciceros – der endogene Urgrund der Rednerfähigkeit ausgedrückt, dessen Einfluss selbst bis in den stofflichen Bereich (materia) der Rede hineinzureichen vermag. Während Cicero dabei jedoch tendenziell auf eine allgemeine Essenz, auf das Musterbild des vir bonus abzielt, um das Vermögen des Redners zu bestimmen, geht es hier noch dezidierter um die pulsierende Kraft (sanguinis ac virium), durch welche die vera vis erst andere Seelenvermögen in Gang zu setzen vermag. Stets behält sie dabei eine höhere Dignität gegenüber jeglicher fremden Vorgabe (alienum propositum) und erst recht gegenüber ihrer Vermittlung (arte traditur) bei. Sie ist daher – nicht ausschließlich, aber auch durch ihre Engführung mit der natura – merklich intrinsischer angelegt als die bloße vis – die eben auch auf Effekthascherei, das Verdrehen der Wahrheit und schieres Manipulieren aus sein kann. Hierin lässt sich auch eine Neujustierung der Diskurse um die rednerischen Anfangsgründe erkennen: Kam in der ciceronischen Theorie, wie wir sie etwa im Orator ausgedrückt fanden, noch der maxima vis die höchste Wertigkeit zu und stellte sich diese dort erst als Ziel des vollkommenen Redners dar, so enthält eine vergleichbare Würde hier nur die vera vis. Diese gilt nunmehr allerdings als Urgrund der rednerischen Fähigkeiten. Bezogen auf die officia oratoris ergibt sich ein Kontrast, der sich insbesondere in der Ausarbeitung der partes orationis widerspiegelt: Während die inventio als Initialstadium der
Ebd., 10, 2, 11 f.: »Denn in denjenigen, die wir zum Vorbild nehmen, liegt Natur und wahre Kraft; dagegen ist jegliche Nachahmung hergestellt und passt sich einer fremden Vorgabe an. Dadurch geschieht es, dass Deklamationen weniger Blut und Kräfte haben als Reden, weil in ihnen der Stoff wahrhaftig, in den anderen jedoch angeglichen ist. Hinzu kommt, dass diejenigen Dinge, die beim Redner am bedeutendsten sind, nicht nachahmbar sind: Anlage, Erfindungsgabe, Kraft, Gewandtheit und alles, was sich nicht durch eine Kunstlehre vermitteln lässt«. 437
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curricularen Redetätigkeiten 438 bei Cicero bereits mit dem ingenium als Anlage und Anfang der Rednertätigkeit enggeführt wird, 439 so ist die inventio bei Quintilian integraler Bestandteil der vera vis; sie entzieht sich mithin der Nachahmbarkeit. Das ingenium, die natura und die (vera) vis scheinen also auf den ersten Blick Ähnliches zu bezeichnen, nehmen jedoch unterschiedliche Funktionen in Bezug auf die Verbindung eines natürlichen Vermögens mit den Aufgaben und Tätigkeiten des Redners ein. Die ciceronische Auffassung bildet für diese Aspekte zwar durchaus einen kanonischen Ausgangspunkt, ist jedoch gerade für die Programmatik der Institutio Quintilians nicht erschöpfend. Hinsichtlich der Nachahmbarkeit von Kräften erscheint sie sogar gegenläufig. Zudem zeigt diese Stelle einen weiteren Grundzug der quintilianischen Rhetorik an: Auch die Verortung der vis dicendi hängt von der Dreiteilung der ars dicendi unverbrüchlich ab. 440 Denn es sei eine irrige Meinung, dass alles, was die Redekunst ausmache, entweder vollständig in der Kunstlehre (ars) oder 438 Zu den partes orationis vgl. in konziser Zusammenfassung Cic., inv., 1, 9: »Quare materia quidem nobis rhetoricae videtur artis ea, quam Aristoteli visam esse diximus; partes autem eae, quas plerique dixerunt, inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio. Inventio est excogitatio rerum verarum aut veri similium, quae causam probabilem reddant; dispositio est rerum inventarum in ordinem distributio; elocutio est idoneorum verborum [et sententiarum] ad inventionem accommodatio; memoria est firma animi rerum ac verborum ad inventionem perceptio; pronuntiatio est ex rerum et verborum dignitate vocis et corporis moderatio.« (»Daher scheint mir freilich der Stoff der Redekunst in dem zu bestehen, für den ihn Aristoteles – wie ich sagte – hielt; die Teile sind indes diejenigen, welche die meisten benannt haben, nämlich die Auffindung, die Anordnung, die sprachliche Gestaltung, das Gedächtnis und der Vortrag. Die Auffindung besteht im Ersinnen wahrer oder möglicher Dinge, die einen Fall glaubwürdig machen sollen; die Anordnung besteht in der Verteilung der aufgefundenen Dinge, gerichtet auf eine Ordnung; die sprachliche Gestaltung besteht in der Anpassung geeigneter Wörter und Sätze [sc. an den Stoff]; das Gedächtnis ist das starke geistige Erfassen der Dinge und Wörter gemäß der Auffindung; der Vortrag besteht in der Lenkung der Stimme und des Körpers entsprechend der Würde der Dinge und Wörter.«). 439 Im Sinne dieser doppelten Zuschreibung wird beispielsweise Cic., de orat., 3 (123–125) von der Forschung gelegentlich mit der programmatischen Intention in Verbindung gebracht, einen engen Konnex zwischen ingenium und inventio herzustellen, überzeugend etwa von Chalkomatas (2007), 253. 440 Vgl. etwa Quint., inst., 3, 3, 11 f.: »Fuerunt etiam in hac opinione non pauci, ut has non rhetorices partis esse existimarent, sed opera oratoris; eius enim esse invenire, disponere, eloqui et cetera. quod si accipimus, nihil arti relinquimus. nam bene dicere est oratoris, rhetorice tamen erit bene dicendi scientia: vel – ut alii putant – artificis est persuadere, vis autem persuadendi artis.« (»Nicht wenige waren sogar der Auffassung, diese Teile nicht der Rhetorik zuzuordnen, sondern als Aufgaben des Redners zu erachten; es sei nämlich dessen Aufgabe, zu erfinden, anzuordnen, darzustellen etc. Wenn wir dies annehmen, so werden wir der Kunstlehre nichts übriglassen. Denn gut zu reden ist Aufgabe des Redners, die Wissenschaft des guten Redens indes wird die ›rhetorische‹ sein: Zum Beispiel – wie andere glauben –, dass es Aufgabe des Künstlers ist zu überreden, die Kraft der Überredung aber Aufgabe der Kunst.«).
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im Künstler (artifex) liege. 441 Dass genau dies nicht zutreffen kann, zeigt sich am deutlichsten anhand der vis persuadendi. Denn diese läge dann in der ars oder im artifex selbst vor und wäre damit ein nur wenig autarkes Wirkziel zu nennen. Sie nimmt vielmehr eine diese Instanzen umfassende Stellung ein und kann nicht auf eine einzige Seite – sei es auf ihre Freisetzung durch den Redner oder auf ihre Erlernbarkeit auf Grundlage einer Kunstlehre – reduziert werden. Die von Quintilian angedachte Überzeugungskraft lässt sich – anders als bei Horaz und Cicero – nicht ohne Schwierigkeiten nachahmen: Manche Aspekte der Rhetorik müssen, gemäß den taxonomischen Annahmen zur ars, scientia und zum artifex, ganz für den Redner veranschlagt werden, andere ganz für die Kunstlehre. So liegt die Überzeugungskraft natürlich auch im Handeln (faciendo) – etwa in der Gestik des Redners oder indem er Dinge ostentativ vor Augen führt. Daher ist die Überzeugungskraft auch als Wirkmacht des Handelns zu explizieren. Dies betrifft besonders den prozdeduralen Schritt der actio, wo es es um die Vorführung des Gegenwärtigen (res praesens) anhand der Verbindung von Kraft (vis) und Bewegung (motus) geht. 442 Ein im sechsten Buch angeführtes Beispiel zieht als eine Teilfunktion des movere die Fähigkeit, Tränen hervorzurufen (lacrimas movere), heran: Quarum rerum ingens plerumque vis est velut in rem praesentem animos hominum ducentium, ut populum Romanum egit in furorem praetexta C. Caesaris praelata in funere cruenta. Sciebatur interfectum eum, corpus denique ipsum impositum lecto erat, [at] vestis tamen illa sanguine madens ita repraesentavit imaginem sceleris ut non occisus esse Caesar sed tum maxime occidi videretur. 443 Zur begrifflichen Gliederung der Rhetorik in ars, scientia und artifex vgl. die programmatischen Einlassungen ebd., 2, 14, 5. 442 Vgl. hierzu die in movendo vis-Formel in Abgrenzung zu den übrigen Wirkzielen bei Quint., inst., 12, 10, 59: »Quorum tamen ea fere ratio est, ut primum docendi, secundum movendi, tertium illud, utrocumque est nomine, delectandi sive, ut alii dicunt, conciliandi praestare videatur officium, in docendo autem acumen, in conciliando lenitas, in movendo vis exigi videatur. Itaque illo subtili praecipue ratio narrandi probandique consistet, estque id etiam detractis ceteris virtutibus suo genere plenum.« (»Deren [sc. der Stilarten] Grundsatz ist ungefähr der, dass die erste [sc. Stilart] die Verrichtung des Belehrens, die zweite die des Bewegens und die dritte – hier gibt es zwei Bezeichnungen – des Erfreuens oder, wie andere sagen, des Geneigtmachens zu bieten scheint; im Belehren scheint indes Scharfsinn, im Geneigtmachen Sanftheit, im Bewegen Kraft verrichtet zu werden. Daher wird die Richtschnur des Erzählens und Beweisens vor allem aus jenem schlichten Stil bestehen, und dieser ist, auch wenn die übrigen Kräfte abgezogen wurden, voll von seiner eigenen Art.«). 443 Ebd., 6, 1, 31: »Die Kraft dieser Dinge ist meistens gewaltig, da sie ja gewissermaßen die Gemüter der Menschen auf die gegenwärtige Sache lenken, wie etwa die Purpurtoga C. Caesars, die blutig auf einem Leichenbegängnis vorangetragen wurde, das römische Volk zum Rasen gebracht hat. Man wusste, dass Caesar gewaltsam getötet worden war – schließlich lag sein Leichnam selbst 441
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Die Bewegtheit des Publikums durch Vergegenwärtigung eines bereits Vergangenen zieht ihre Kraft nicht aus einer Kunstlehre, nicht aus einem Redner, sondern aus der Kraft der Dinge (vis rerum) selbst. Im Gegensatz zu (Ps.-)Longin stellt hier der Sachverhalt in der äußeren Welt den Grund des spontanen Gefühls dar. Es liegt, so Quintilian, eine (Ausdrucks-)Kraft in bestimmten Dingen. Die Kraft der bluttriefenden Purpurtoga Caesars liegt im gesteigerten Affektmodus, an Vergangenes zu erinnern, es gleichsam gegenwärtig zu machen. Somit kommt man mit der vis persuadendi auf der Ebene der rhetorischen Verfahren angekommen, wodurch sich das spezifische Wirkprofil der Rhetorik bestimmen. Kraft wird somit zu einer wesentlichen Dispositionsgröße des Redens, indem sie aus den Quellen der Kunstlehre (ars dicendi), der Dinge (vis rerum) und des Redners selbst (vera vis) gespeist wird. Die Disposition der Rede ist somit auch eine Disposition dieser Kräfte zueinander. Aus der Lehre des Überzeugens wird im weiteren Verlauf des sechsten Buchs eine taxonomische Bestimmung der passiven und aktiven Gefühlsregungen entwickelt, die – gemäß der Dreistillehre – werden bevorzugt auf die forensische Tätigkeit (in causa) bezogen werden. Angenommen wird ein Primat der forensischen vor der philosophischen Rede auf Grundlage der durch sie ausgelösten Affekte. Eine solcher Vorrang wird in inst., 6, 2, 2–6 dann selbst mit einigem rhetorischen Aufwand ausgeführt: Nam et per totam, ut diximus, causam locus est adfectibus, et eorum non simplex natura nec in transitu tractanda, quoniam nihil adferre maius vis orandi potest: nam cetera forsitan tenuis quoque et angusta ingeni vena, si modo vel doctrina vel usu sit adiuta, generare atque ad frugem aliquam perducere queat: certe sunt semperque fuerunt non parum qui satis perite quae essent probationibus utilia reperirent. quos equidem non contemno, sed hactenus utiles credo, ne quid per eos iudici sit ignotum, atque (ut dicam quod sentio) dignos a quibus causam diserti docerentur: qui vero iudicem rapere et in quem vellet habitum animi posset perducere, quo dicente flendum [gaudendum] irascendum esset, rarus fuit. atqui hoc est quod dominetur in iudiciis: hic eloquentia regnat. namque argumenta plerumque nascuntur ex causa, et pro meliore parte plura sunt semper, ut qui per haec vicit tantum non defuisse sibi advocatum sciat: ubi vero animis iudicum vis adferenda est et ab ipsa veri contemplatione abducenda mens, ibi proprium oratoris opus est. Hoc non docet litigator, hoc causarum libellis non continetur. probationes enim efficiant sane ut causam nostram meliorem esse iudices putent, adfectus praestant ut etiam velint; sed id quod volunt auf der Bahre –, doch machte jenes vor Blut triefende Gewand den Anblick des Verbrechens so gegenwärtig, dass es den Anschein hatte, Caesar sei nicht getötet worden, sondern werde geradezu in dem Moment getötet«.
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credunt quoque. nam cum irasci favere odisse misereri coeperunt, agi iam rem suam existimant, et, sicut amantes de forma iudicare non possunt quia sensum oculorum praecipit animus, ita omnem veritatis inquirendae rationem iudex omittit occupatus adfectibus: aestu fertur et velut rapido flumini obsequitur. 444
Die vis ruft demnach Affekte hervor, die ihren Urgrund als vera vis im Redner verankert haben und nicht durch Lehre (doctrina) oder Übung (usus) erst erworben werden. Die verstandesgemäße Sprechweise (probationibus utilia) ist demgegenüber zwar erlernbar, entfernt sich durch ihre Verortung in der numinosen Geistessphäre aber allzu sehr von den Gefühlsregungen. Ein weiteres Mal scheint die Distanzierung von der Betrachtung des Wahren, der veri contemplatio, auf. Das probare, ein typischer Geistesakt der oberen Seelenregionen, kann überhaupt nur in ironischer Brechung (sane) als ein vorzüglicher Akt der Gerichtsrede gepriesen werden. In der polemischen Gegenüberstellung 444 Quint., inst., 6, 2, 2–6: »Denn es gibt ja durch den gesamten Prozess hindurch, wie ich gesagt habe, Raum für Gefühlsregungen, und deren Wesen ist nicht einfach und nicht im Vorbeigehen zu behandeln, da ja die Redekraft nichts Größeres bewirken kann. Denn die übrigen Dinge könnte vielleicht auch ein schwächlicher [sc. Mensch] von geringer geistiger Anlage hervorbringen und zu einem gewissen Erfolg bringen – wenn ihm bloß Lehre oder Übung zustatten gekommen sind. Gewiss gibt es und gab es zu allen Zeiten nicht gerade wenige, die sich darauf verstanden herauszufinden, welche Dinge für Beweisgänge nützlich sind. Diese will ich auch gar nicht geringschätzen, sondern halte sie insofern für nützlich, als durch sie dem Richter nichts unbekannt bleibt, und – um zu sagen, was ich darüber denke – für wert, dass die Beredten von ihnen in einem Prozess unterrichtet werden. Derjenige jedoch, der einen Richter an sich reißen und in jeden beliebigen Gemütszustand versetzen kann, so dass dieser durch sein Reden weinen, frohlocken oder erzürnen muss, ist eine Seltenheit gewesen. Und doch ist es gerade dies, was in den Gerichten vorherrschen muss. Diese Dinge beherrscht die Beredsamkeit. Denn die Beweisgründe erwachsen häufig aus dem Fall, und für die rechthabende Partei sind sie immer in größerer Zahl vorhanden, so dass derjenige, der durch sie zum Sieg gelangt ist, lediglich weiß, dass ihm kein Anwalt gefehlt hat. Wo es aber gilt, auf die Gemüter der Richter Kraft anzuwenden und deren Geist von der Betrachtung des Wahren abzubringen, da liegt die eigentümliche Aufgabe des Redners. Dies lehrt keine Prozesspartei, dies ist nicht in den Prozessakten enthalten. Denn freilich bewirken die Beweisgänge, dass die Richter glauben, unsere Sache sei die bessere, die Gefühlsregungen leisten, dass sie das auch wollen; dasjenige indes, was sie wollen, glauben sie auch. Wenn sie nämlich begonnen haben zu zürnen, zu begünstigen, zu hassen oder Mitleid zu empfinden, meinen sie bereits, es ginge um ihre eigene Sache, und so wie Verliebte über Schönheit nicht urteilen können, da das Gefühl die Wahrnehmung der Augen vorwegnimmt, verliert der Richter jeglichen Sinn für die Wahrheitsfindung, da er von Gefühlsregungen eingenommen ist: Von Hitze wird er ergriffen und er folgt ihr wie einem reißenden Strom«. Konjiziert wird mit Radermacher gaudendum zum syllabisch aufsteigenden Trikolon flendum gaudendum irascendum. Sie bilden die drei Hauptaffekte der antiken Psychologie ab; vgl. hierzu auch das von Radermacher angeführte Laus Pisonis (entstanden im 1. Jahrhundert), wo es heißt: »flet si flere iubes, gaudet gaudere coactus et te dante capit iudex, quam non habet, iram.« (Laus Pis., 47 f.). Die Konjektur gaudendum ist zugegebenermaßen zu den gewagteren Zusätzen in der Textbehandlung Radermachers zu zählen. So verzichtet beispielsweise Rahn (1972), 698 – der sich ansonsten eng an der Edition Radermachers orientiert – auf sie, erwähnt aber ebenfalls die Referenzstelle in der Laus Pisonis.
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der veritatis inquirendae ratio mit der Zuschreibung occupatus adfectionibus werden zugleich die Seelenregionen (ratio und adfectu¯ s) aufgerufen, die im Widerstreit stehen; mit dem Suchen (inquirere) und dem Vereinnahmen (occupare) sind außerdem die ihnen zukommenden typischen Tätigkeiten benannt. Die daran anschließenden Ausführungen zu den Gefühlsregungen werden von den Kategorien des πάθος (adfectus) und des ἦθος (mos) bestimmt, die in ein wechselseitiges Wirkverhältnis gesetzt werden. 445 Die Rolle der Redekraft liegt nun darin, den bestehenden Gemütszustand durch Antreibung zu Affekten noch zu übersteigern – selbst für den Fall, dass diese noch einen negativ besetzten Urgrund (also einen Grund, der an sich Missfallen erregt) in den res aufweisen: namque in hoc eloquentiae vis est, ut iudicem non in id tantum compellat in quod ipsa rei natura ducetur, sed aut qui non est aut maiorem quam est faciat adfectum. haec est illa quae δείνωσις vocatur, rebus indignis asperis invidiosis addens vim oratio, qua virtute praeter alias plurimum Demosthenes valuit. 446
Vorausgesetzt, dass die Bildungsideale immer auch einer Form von Sachlichkeit und Angemessenheit im Sinne eines rebus decorum entsprechen sollen, stellt sich spätestens an dieser Stelle eine Überraschung ein: Die Trope der ›Übertreibung‹ kann eigentlich als ein Stilmittel der Verunsachlichung gelten, 447 das sich in etymologischer Hinsicht geradezu als eine ›Verschreck-lichung‹ (δείνωσις) 448 auffassen lässt: Dinge werden nicht nur größer, sondern auch schlimmer gemacht, als sie eigentlich sind, und bringen dem Rezipienten gerade dadurch Furcht bei. Die Intensivierung des Gemütszustands des Gegenübers weist sich hier also als eine ganz entscheidende Tugend des Redners aus; sie stellt, mehr noch, geradezu einen Vorzug im Bereich der bewussten Manipulation dar. Im Folgenden wird nun begründet, warum eine solche bewegende Kraft zunächst im Redner selbst liegen müsse, bevor er andere bewegt. Hierzu ist es nicht nur erlaubt, sondern gar geboten, sich zunächst auch selbst in Aufruhr zu versetzen: Vgl. Quint., inst., 6, 2, 12. Ebd., 6, 2, 24: »Denn hierin besteht die Kraft der Beredsamkeit, den Richter nicht nur dahin zu treiben, wohin er von der Natur der Sache ohnehin geführt wird, sondern eine Gefühlsregung zu bewirken, die entweder noch nicht da ist oder größer als die bestehende ist. Dies ist jene Redeform, die deíno¯ sis genannt wird, die den unwürdigen, misslichen, Unmut erregenden Dingen Kraft verleiht. In dieser Tugend war Demosthenes neben seinen sonstigen [sc. Tugenden] besonders stark«. 447 Vgl. zur rhetorikgeschichtlichen Entwicklung der Hyperbel von Aristoteles bis zu Quintilian Delarue (2014). 448 Als Nominalderivat zu δεινόω; vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »δεινόω«, 375: »make terrible: exaggerate« sowie ebd., s. v. »δείνωσις«, 375: »exaggeration or exacerbation«. 445
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summa enim, quantum ego quidem sentio, circa movendos adfectus in hoc posita est, ut moveamur ipsi. nam et luctus et irae et indignationis aliquando etiam ridicula fuerit imitatio, si verba vultumque tantum, non etiam animum accommodarimus. quid enim aliud est causae ut lugentes utique in recenti dolore disertissime quaedam exclamare videantur, et ira nonnumquam indoctis quoque eloquentiam faciat, quam quod illis inest vis mentis et veritas ipsa morum? 449
Der Beginn der Affekte liegt hier ein weiteres Mal im Redner selbst, der sich medial zu seinen eigenen Emotionen verhält (moveamur ipsi) – ein Anspruch, der gegenüber der epistemischen Einbettung der vires bei Cicero noch deutlich stärker auf die Affekte als solche abzielt. Das aus Horaz' Ars poetica bekannte Diktum, dass die Selbstbewegung des Gemüts der Fremdbewegung vorauszugehen habe, 450 scheint hier in neuer rhetorischer Gültigkeit auf. Von einem vir bonus, der sich der temperantia verschreibt, bleibt somit nicht mehr viel übrig. Darüber hinaus kommt in dieser Passage eine weitere Position zum Ausdruck, die Cicero so gewiss nicht mitgegangen wäre: Die vis mentis kann prinzipiell jedem zukommen, auch dem Ungebildeten. Kräfte werden dadurch gleichmäßiger und fast willkürlich einer weitaus größeren Menge an Menschen zugestanden. Wenn aus dem Redner der ehrliche Zorn spreche, so sei dies gar als charakterliche Aufrichtigkeit (veritas morum) zu werten. Zudem erhält auch die Wirklichkeit, die Situation, in der eine Rede stattfindet, 451 in solcherlei Hinsicht eine neue Bewertung. Denn selbst in den Umständen und Gelegenheiten einer Redesituation liege eine Art von Kraft, derer sich die mit den artes unvertrauten Gemüter bedienen könnten. Dabei handle es sich um »eine so gewaltige Kraft, dass mit ihrer Hilfe [sc. der Gelegenheit] oft nicht nur ungebildete, sondern sogar ungehobelte [sc. Menschen] witzig sprechen«. 452 Im Umkehrschluss könnte sich also prinzipiell selbst der ungebildetste Mensch mit Demosthenes messen, indem er von Begleitumständen profitiert. Die Kraft Quint., inst., 6, 2, 26: »Die Hauptsache nämlich – soweit ich zumindest meine – im Bereich der Gefühlsregungen liegt darin, dass wir uns selbst aufrühren. Denn eine Nachahmung von Trauer, Wut und Missbilligung könnte zuweilen lächerlich sein, wenn wir bloß Worte und Mimik, nicht aber auch das Gemüt darauf einstellten. Denn was für einen anderen Grund gibt es dafür, dass Trauernde besonders im frischen Schmerz gewisse Dinge am beredtesten auszurufen scheinen und dass der Zorn manchmal auch den Ungebildeten eine Beredsamkeit verschafft, als, dass ihnen eine Geisteskraft und die Aufrichtigkeit ihres Charakters selbst innewohnt?«. 450 Wir hatten dieses in Kapitel II .1 in Form des si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi (Hor., ars, 102 f.) als affektpoetologische Begründungsfigur eingeführt. 451 Zur Bedeutung der äußeren Umstände für die Rede im historischen Kontext der römischen Republik vgl. Steel (2017). 452 Quint., inst., 6, 3, 13: »tanta vis, ut saepe adiuti ea non indocti modo, sed etiam rustici salse dicant«. 449
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muss hier nicht mehr, wie noch bei Cicero, im engsten Verbund mit der durch Bildung und Lebensführung erprobten Tugend stehen, sondern verhilft autark zu rednerischen Fähigkeiten, die sonst vorwiegend den (alt-)römischer Tugenden zugeschlagen wurden. Quintilian betreibt demnach ein sehr viel flexibleres Spiel mit den Größen vita, vis, virtus und ars, als man es bei einem Theoretiker vermuten könnte, der so häufig auf seinen Ciceronianismus reduziert wird.
5.c.β. Autorenkritik
Ganz ähnlich zu Cicero und (Ps.-)Longin ist auch in der Institutio oratoria ein Einschluss der Autorenkritik in die Stillehre zu beobachten. Dabei werden philosophische und psychologische Aspekte zur Begründung von Werturteilen über die jeweiligen Dichter und Redner mit vorgebracht. In dem Zusammenhang erhält auch die vis – in Bezug auf die Redeweise vorzugsweise kombiniert mit sermonis, elocutionis, orandi und dicendi – 453 ihre eigenen herausragenden Vertreter (principes) in der Poesie und Redekunst zugewiesen. Jeder dieser Vertreter verfügt demnach über eine eigene, ihm zukommende Sprachgewalt. Um diese Kräfte zu demonstrieren, werden unter anderem Autorenbeispiele in Form von Dichterkatalogen angeführt. 454 Anschaulich vorgeführt wird die vis elocutionis etwa im zehnten Buch, 455 wo es zunächst – unter Heranziehung einer körperlichen Bildsprache, die von der Kraft der Muskeln und des Blutes geprägt ist – um Archilochos und Pindar geht: summa in hoc vis elocutionis, cum validae tum breves vibrantesque sententiae, plurimum sanguinis atque nervorum, adeo ut videatur quibusdam quod quoquam minor est materiae esse, non ingeni vitium. novem vero lyricorum longe Pindarus princeps spiritus magnificentia, sententiis, figuris, beatissima rerum verborumque copia et velut quodam eloquentiae flumine: propter quae Horatius eum merito nemini credidit imitabilem. 456 453 Die vis persuadendi mag sich hier auch noch einreihen – allerdings mit dem nicht lapidaren Unterschied, dass sie sich nicht auf die Redeweise eines Dichters beziehungsweise Redners reduzieren lässt, sondern auch in der Rede und im Rezipienten ihre Fortsetzung findet. 454 Zum generellen kanonisierenden Anspruch Quintilians vgl. in jüngerer Zeit Stachon (2016). 455 Zu den Dichterkatalogen im zehnten Buch der Institutio vgl. Mérot (2016); eine kommentierte Bibliographie zu diesem für die Geschichte der Rhetorik besonders zentralen Buch bieten Franchet d’Espèrey / Guérin (2016) 456 Quint., inst., 10, 1, 60 f.: »Am größten ist die Kraft der Rede in diesem [sc. Archilochos], seine Sentenzen sind sowohl kräftig, aber auch kurz und schwungvoll, mit einem Übermaß an Blut und Muskelsträngen – so sehr, dass es manchen scheinen könnte, es sei der Fehler des Stoffes und nicht seiner Anlage, dass er überhaupt hinter jemandem zurücksteht. Unter den neun Lyrikern steht indes bei weitem Pindar an erster Stelle durch die Großartigkeit seines Schwungs, durch die Sentenzen,
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Es handelt sich um Vorstellungen von Prägnanz und Bewegung, die in Form des cum validae, tum breves vibrantesque Archilochos' Sentenzen zugeschrieben werden und somit als repräsentative Größen für dessen Kraft in der Redeweise (vis elocutionis) eintreten. Für Pindar kennzeichnend sei indes die Großartigkeit seines Geistes (spiritus magnificentia). Eine solche magnificentia wiederum ist konnotiert mit Pathos und Erhabenheit und lässt die griechische µεγαλοπρέπεια in der Tradition (Ps.-)Longins anklingen. 457 Fülle (copia) und Fluss (flumen) sind indes als Begründungsinstanzen in einem analogen Verhältnis zur eingangs erwähnten Redekraft Archilochos' und deren Explikationen aufzufassen: Die Fülle entspricht dabei der Prägnanz des Redestoffes 458 und der Fluss der Bewegung. Poetik und Rhetorik werden, wie wir es bereits bei (Ps.-)Longin beobachtet haben, durch eine solche Bildanalogie noch weiter einander angenähert. In jedem Fall ist es bemerkenswert, dass mit Pindar ein ausgewiesener Lyriker in den res und verba sowie in der eloquentia, mithin in der Fügung seiner Wortfiguren (figurae) hervorrage, wodurch er unter den neun kanonischen Lyrikern des griechischen Altertums als princeps zu gelten habe – einem princeps entsprechend, der nicht auf eine einzelne Sprachkunst zu beschränken ist, sondern sich Rhetorik und Poesie gleichermaßen angeeignet hat. Die sich an Pindar manifestierende Kraft ist daher ein beide Disziplinen durchdringendes Element. 459 Dass mit Horaz eine der größten lyrischen Autoritäten nun Pindar für nemini imitabilem hielt – eine Anspielung auf das schon in der Antike weithin prominente horazische carmen 4, 2 –, lässt zwei Interpretationsmöglichkeiten zu: Entweder handelt es sich bei Pindars Eigenschaften um Vorzüge, die gerade aufgrund ihrer Individualität unveräußerlich und von Grund auf unnachahmlich erscheinen müssen; oder es geht um die Kennzeichnung dichterischer Kraft als eine prinzipiell schwerlich erreichbare Disposition. 460 Was in jedem Fall bemerkenswert ist: Es sind Paradigmen aus der klassischen Rhetorik, die in allen behandelten Stellen Quintilians über die die Wortfiguren, die überreiche Menge an Gegenständen und Worten und gleichsam durch einen gewissen Fluss an Beredsamkeit. Aus diesen Gründen hielt ihn Horaz zu Recht für unnachahmbar«. Die Junktur sanguinis atque nervorum lässt Ciceros nervi et aculei anklingen, die wir in Kapitel II.5.b kennengelernt hatten. 457 Diese hat, wenn man etwa Burke, Schiller und Kant in den Blick nimmt, im 18. Jahrhundert einen erheblichen Einfluss auf die Diskussionen über Anmut, Würde und das Kunstschöne im Allgemeinen genommen; vgl. Lyotard (1994), Till (2006a) sowie, als einen der besten jüngeren Beiträge, Doran (2015). 458 Vgl. zu diesem quintilianischen Topos Hinojo Andrés (2015). 459 Das galt im Übrigen, wie in Kapitel II .4.b zu sehen war, auch schon für (Ps.)-Longin. 460 Für einen Vergleich zwischen Horaz’ carmen 4, 2 und Pindars vierter und fünfter Pythischer Ode hinsichtlich des Nachahmungsaspekts vgl. Athanassaki (2016). Bezüglich der Rolle, die Pindar als laudator equorum – sowohl in Hor., carm., 4, 2, 17–20 als auch in Hor., ars, 83–85 – zukommt, vgl. zuletzt Kovacs (2017).
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auf Kraft und Bewegung fußende Bildsprache mit der Poesie, namentlich mit den novem lyricorum, auf eine Ebene gebracht werden. Bei allen Analogien, die zwischen Pindar und Archilochos herrschen, liegt ja dennoch eine Steigerung vor, die keinen Zweifel am ersten Range lässt, der Pindar zukommen müsse. Eine mangelnde vis elocutionis ist demgegenüber nicht nur, aber stets auch ein Zeichen für ein ebenso defizitäres ingenium. Ein weiterer Aspekt ist derjenige des Schwungs (assurgere), der von einem Autor in unterschiedlichem Maße mitgebracht werden könne: raro adsurgit Hesiodus magnaque pars eius in nominibus est occupata, tamen utiles circa praecepta sententiae, levitasque verborum et compositionis probabilis, daturque ei palma in illo medio genere dicendi. contra in Antimacho vis et gravitas et minime vulgare eloquendi genus habet laudem. Sed quamvis ei secundas fere grammaticorum consensus deferat, et adfectibus et iucunditate et dispositione et omnino arte deficitur, ut plane manifesto appareat quanto sit aliud proximum esse, aliud secundum. Panyasin, ex utroque mixtum, putant in eloquendo neutrius aequare virtutes, alterum tamen ab eo materia, alterum disponendi ratione superari. 461
Antimachos' vis und gravitas reichen demzufolge nur für den zweiten Platz; er muss hinter Urgrößen wie Homer, die von wahrer Kraft zeugen, zurücktreten. 462 Dichter können somit von einem Übermaß und einem Mangel an Kraft genauso betroffen sein wie Redner. Die Vergleichsebene findet mit Demosthenes, dem aus Quintilians wie aus Ciceros Sicht unzweifelhaften princeps der Rhetorik ihren Abschluss: quorum longe princeps Demosthenes ac paene lex orandi fuit: tanta vis in eo, tam densa omnia, ita quibusdam nervis intenta sunt, tam nihil otiosum, is dicendi modus, ut nec quod desit in eo nec quod redundet invenias. 463 Quint., inst., 10, 1, 52–54: »Selten schwingt sich Hesiod auf, und ein großer Teil von ihm ist von Namen beschlagnahmt; dennoch sind seine Sentenzen um die Vorschriften herum [sc. gruppiert] nützlich, wie auch die Glätte der Worte und der Zusammenstellung Beifall verdient; ihm wird die Siegespalme in jenem mittleren Redestil verliehen. Demgegenüber werden bei Antimachos Kraft und Gewicht und seine nicht alltägliche Sprache gelobt. Doch obwohl ihm die Grammatiker fast einstimmig an die zweite Stelle setzen, fehlt es ihm an Affekten, Annehmlichkeit, Anordnung und überhaupt an Kunstfertigkeit, so dass es ganz deutlich wird, um wieviel es etwas anderes bedeutet, der nächste oder der zweite zu sein. Über Panyassis, der aus beiden zusammengemischt ist, herrscht die Meinung, dass er im sprachlichen Ausdruck den Kräften keines von beiden gleichkomme, dafür aber den einen in der Stoffwahl und den anderen im Plan der Anordnung [sc. der Stoffe] übertreffe«. 462 Zur Rolle Homers bei Quintilian sowie generell in der römischen Rhetorik vgl. in jüngerer Zeit Mal-Maeder (2015). 463 Quint., inst., 10, 1, 76: »Unter diesen [sc. Rednern] stand bei weitem Demosthenes an erster Stelle und war so ziemlich die Richtschnur des Redens. So groß ist die Kraft in ihm, so dichtgedrängt 461
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Über Ausdrücke wie longe princeps und im parallelen Vergleich angebrachte Zuschreibungen wie vis in hoc (Archilochos) – vis in eo (Demosthenes) sowie nicht zuletzt durch die Beibehaltung der Körpermetaphorik (nervis) werden die rhetorischen Aussagen mit den Aussagen aus der Dichterschau weiterhin auf einer Ebene gehalten. Hier ist es indes die eigene Angespanntheit (intenta), die zur vorzüglichsten Eigenheit Demosthenes' zu zählen sei. Die angeführte Trägheit, die im Kontext der nervis intenta mit Schlaffheit gleichgesetzt werden kann, gilt es hingegen – wie man eben von Demosthenes lernen könne – zu meiden. Es sind daher intensive Kräfte – Kräfte, die von Angespanntheit zeugen und in einem Redner und Dichter vorhanden sind –, die zur Geltung gebracht werden. Schließlich wird im Folgenden als ein weiteres Beispiel für eine nie erlahmende Anspannung Caesar angeführt; und das in geradezu martialisch anmutender Diktion, denn er sei derjenige gewesen, der nachgerade mit derselben Redekraft gegen Cicero angetreten sei, mit der er Krieg führte: C. vero Caesar si foro tantum vacasset, non alius ex nostris contra Ciceronem nominaretur. tanta in eo vis est, id acumen, ea concitatio, ut illum eodem animo dixisse quo bellavit appareat. 464
Hier werden mit vis, acumen, concitatio und animo zwei semantische Ebenen, der Kriegsführung (bellavit) und der Rhetorik (dixisse), übereinander gelegt. Es geht um Caesars Kraft, Schärfe und Leidenschaft, die sein kämpferisches Gemüt ausmachten und sich auch in seinen Reden niederschlugen. 465 Sie werden zudem autodidaktisch begründet: Caesar hat seine rhetorischen Kräfte auf Feldzügen und Schlachtfeldern erlernt, 466 um sie dann auch auf dem Forum zur Anwendung zu bringen. Er brauchte für seine eigene Kraft keine fremde alle Dinge, so angespannt vor Muskelsträngen, so frei von Muße, sein Redemaß ist von der Art, dass man darin nichts finden könnte, was fehlen, noch etwas, was überflüssig sein könnte«. 464 Ebd., 10, 1, 114: »Hätte sich aber Gaius Caesar nur für das Forum freigehalten, so würde kein anderer aus unseren Reihen gegen Cicero namhaft gemacht. So groß ist die Kraft in ihm; seine Schärfe, seine Leidenschaftlichkeit ist von der Art, dass er offenkundig mit derselben Energie gesprochen hat, mit der er Krieg führte«. Rahns Übersetzungsvorschlag »die Kraft, die er besitzt« (Rahn [1975c], 479) scheint sich stark an einer besitzanzeigenden Sinnrichtung zu orientieren. Im präpositionalen Ausdruck in eo liegt jedoch – mehr noch als ein possessives – ein endogenes Moment begründet, also eine Eigenschaft, die nicht auf oberflächliche Effekte abzielt, sondern in Caesar selbst zur vollen Ausprägung gelangt ist. 465 Die concitatio meint dabei nicht nur das Anstacheln der Soldaten (oder allgemeiner der Zuhörer), sondern auch die intrinsische Fähigkeit, sich selbst in Bewegung zu versetzen; vgl. Georges (81998), s. v. »concitatio«, 349: »das Sich-in-Bewegung-Setzen«. 466 So machen nicht ohne Grund Passagen direkter Rede – bevorzugt an die eigenen Soldaten oder an die feindlichen Fürsten gerichtet – beträchtliche Teile sowohl des Bellum Gallicum wie auch des Bellum civile aus. Der Aufenthalt auf dem Forum, mithin die Abwendung vom Kriegsgeschehen, wird demgegenüber mit freier Zeit (vacare) gleichgesetzt.
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Lehre. Es wird nahegelegt, dass allein durch den Aufenthalt auf dem Forum der Erwerb solcher Kompetenzen nicht möglich gewesen wäre; vielmehr ist es die militärische Laufbahn, die Caesars Leben auszeichnet; die Ergebenheit seiner Soldaten seit dem Gallien-Feldzug ist bereits in der Antike fast sprichwörtlich zu nennen. Krieg bedeutet aber unvermeidbar Kampf, Kampf wiederum Wetteifer. Gerade dieser Umstand lässt Caesar nun als einen den wirkungsvollen Redner erscheinen, der er sei, und weist ihn darüber hinaus dem für Quintilian wichtigsten rhetorischen Wirkbereich, dem forensisch-agonalen, zu. 467 Die tatkräftige Erprobung Caesars in der Kriegsführung lässt, daran besteht nach Quintilians Einlassungen kein Zweifel, auch dessen vorzüglichste Eigenschaften aufscheinen, seinen explizit genannten animus, aber dann auch seine virtus und sein ingenium. Und damit befinden wir uns wieder in den durch Cicero abgesteckten Feldern der rhetorischen Vermögens- und Nachahmungslehre. Wo aber bei Cicero die Tugend und die Bildungsfähigkeit des Menschen absolute Größen darstellten, sind sie bei Quintilian mit in das Spiel der rednerischen Kräfte einbezogen.
5.d. Résumé zum rhetorischen Kraftbegriff
Bei Cicero wird das Ideal des orator perfectus philosophisch begründet und praxeologisch greifbar gemacht. In seiner Theorie ist ein rhetorisches Kraftkonzept integriert, das begrifflich anders gewichtet wird als bei Quintilian – auch wenn Cicero natürlich ein zentraler Referenzautor für letzteren bleibt. Cicero macht seinen Kraftbegriff vor allem im Spannungsfeld von klassischer Dreistillehre, dem oratio/vita-Korrelat und den Redeaufgaben (officia) geltend. Einen geeigneten Punkt, um die Gemeinsamkeiten zwischen Cicero und Quintilian zusammenzufassen, stellt der Nexus zwischen der Lebensweise einer in den Sprachkünsten versierten Person und den in ihr liegenden Kräften dar. Dass das Vermögen eines Redners grundsätzlich in Einheit zu sehen ist, ist Resultat der oratio/vita-Analogie. Dass es aber zudem als in sich unterschiedene Einheit zu sehen ist, ist ein zweifaches Resultat der antiken Tugendlehre und der Wirkziele, die ein Redner zu erreichen sucht. Wir trafen auf der einen Seite eine Vielzahl ethologischer Einstellungen an, die als die vorzüglichsten Eine weitere Reflexionsfigur für die scheinbar so militärische Sprechweise Caesars findet sich bei Plut., Caes., 3, wo Plutarch auf Caesars Entschuldigung in den Anticatones verweist, nach der er um Nachsicht für seine wohl allzu zackige Rhetorik bittet. Sie lasse sich nämlich eben aus seinem militärischem Engagement erklären. Er selbst sieht sich dort eher als Soldat denn als klassisch geschulten Redner. Klar wird dadurch auch: Nicht jeder Lebensbereich ist für jeden Aspekt der Redekunst selbst zuträglich, das Forum nicht dasselbe wie das Schlachtfeld. 467
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Eigenschaften eines vir bonus zu verstehen sind – die Selbstbeherrschung (temperantia), die Klugheit (prudentia), die Weisheit (sapientia), schließlich die Tugend (virtus) als das wohl richtungsweisendste Paradigma. Sie alle sind Voraussetzungen einer politischen Laufbahn sowie einer fruchtbringenden Rolle in der Gesellschaft. Bei Cato fanden wir dies als die konservative Sittenstrenge, bei Cicero als die Hingabe an das Gemeinwesen und bei Caesar als die militärische Aktivität bis hin zur Verklärung ausgeführt. In solchen Charakterisierungen erschöpft sich jedoch nicht die Fähigkeit des orator perfectus. Vielmehr schlägt sich die Differenzierung nach inneren Vermögen auch in der Wirksamkeit bei der Ausübung rhetorischer Kräfte nieder. Die (ps.-)longinische Zuschreibung des »ἄλλοτ᾽ ἀλλοίως ἐν αὐτῷ« an Cicero war hierfür nur das auffälligste Beispiel. Der Möglichkeit, einzelne Teile der Seele zu beeinflussen (animorum partes pellere), entspricht die Versiertheit in den unterschiedlichen genera; vis dicendi und genus dicendi stehen daher in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Die vis ist die Bedingung der rednerischen Möglichkeit; das genus ist das Exerzierfeld rednerischer Kräfte, zugleich aber auch Mittel zur Ausprägung der Redekraft. Denn es formuliert die Zielrichtung, auf welche die Redekraft zuzusteuern hat, und macht sie dadurch nicht blind. Die maxima vis ist in diesem Spiel zuvorderst an das genus iudicale gebunden. Die Entfaltung einer rednerischen Kraft wird bestimmt durch die Erfordernisse der genera sowie durch deren energetische Funktionen. Die Intensivierung von Affekten bei den Zuhörern hängt jedoch entscheidend davon ab, dass der Redner sich aller prinzipiell erschließbaren Wirkbereiche bemächtigt und dadurch seinen eigenen Seelenapparat der Unterschiedlichkeit der Wirkziele entsprechend einrichtet. Bei Quintilian findet neben dem Ideal des vir bonus besonders der Redner in actu Berücksichtigung, der zudem höchst variabel vorgeführt wird: Er macht von Antrieb (impetus) und Übertreibung (δείνωσις) Gebrauch, er bemächtigt sich seiner Zuhörer (occupare), er zieht sie an sich (attrahere), er stößt sie an (pellere), er beugt ihre Gemüter (flectere), er zieht gar Nutzen aus den Begleitumständen seiner Rede, also aus Akzidenzien. Zentral für Quintilians Bestimmung des Wesens sowie des Ziels der Rhetorik ist die vis persuadendi, die Kraft zu überreden, wobei eine auf die Affekte des Publikums ausgerichtete Redeweise die größte Kraft besitzt. Der moralisch spannungsreiche Kontrast zwischen affektiver Wirkintensität und Wahrheitsvermittlung wird zugunsten der Einübung einer Redepraxis überwunden, insofern die affekterregende, kraftvolle Rede den Wahrheitssinn des Publikums auszusetzen vermag; vice versa vermag eine allzu sehr auf Wahrheit und logische Schlüsse abzielende die Gemüter abzukühlen, da dadurch die oberen, mit dem abstrakten Denkvermögen konnotierten Seelenregionen adressiert werden.
Komplexe Vermögensbegriffe
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Die Reibungsfläche gegenüber dem homo doctus scheint auf den ersten Blick enorm. Denn er strukturiert sein Wissen über die Welt, indem die Wissenssysteme der Freien Künste in ihm und durch ihn zu einer einheitlichen und doch unverwechselbar individuellen Gestalt gebracht werden. Die widerstreitenden Seelenkräfte werden im Zuge dessen unter Kontrolle gebracht und gehen – so zumindest das proklamierte Ideal – in einer vorbildlichen, nachahmenswerten Art der Lebensführung auf. Der sachliche Hintergrund hierfür ist einerseits in einem umfassenden Bildungsprogramm, zum anderen aber auch in der Naturanlage des Menschen selber zu sehen. Festzumachen ist das nicht allein an Beobachtungen wie derjenigen, dass Horaz die Nachahmung der virtus des Cato nur in der richtig verstandenen Nachahmung von dessen ingenium bestehen könne; 468 hinzu kommt, dass Cato mehr als andere seiner Zeitgenossen von diesem ingenium Gebrauch gemacht hat, es nach außen hin sichtbar gemacht hat. Demgegenüber steht nun die Engführung der maxima vis mit dem genus iudicale. Sie scheint auf den ersten Blick eine völlige Fokussierung auf die Affektenlehre zu bedeuten. Denn alles, was mit dynamischen Größen wie Spannkraft, Bewegung, Überwältigung etc. zu tun hat, wird bevorzugt mit diesem genus in Verbindung gesetzt. Aber genau dies, die einseitige Hinwendung zu den Affekten, wird dann doch von Cicero und Quintilian auf elegante Weise vermieden, und zwar durch die Verschaltung der rednerischen Kraft mit epistemologischen Größen – in den vorangehenden Kapiteln wurde sie als das vis/scientia-Korrelat bezeichnet. Fest verbunden mit der Lebensweise nämlich ist das Wissen um die entsprechenden Redeinhalte. Und an dem Punkt macht auch die Strukturierung der Rede selbst einen wesentlichen Teil der Redekraft aus. Es zeichnet das Vermögen des orator perfectus aus, dass er prinzipiell alle diese Register beherrscht. Es zeichnet ihn ferner aus, dass er sie aus seinen Wissensbeständen mit Leben füllt. Er ist dann mit vollem Recht kundig darin zu nennen, mit seinen Reden Kraft auszuüben. Gerade in Ciceros Theorie oszilliert der Kraftbegriff zwischen Dreistillehre, dem oratio/vita-Korrelat und den officia oratoris. Der Begriff des homo doctus beinhaltet für sich genommen zunächst keine Bindung an bestimmte Stil- und Redegattungen; erst als vir peritus dicendi wird es zum Ziel gesetzt, sich mit den jeweiligen Gattungen vertraut zu maAn Stellen wie dieser scheint die Engführung der vis mit der virtus – die sich spätestens im Mittellatein zunehmend synonym auffassen lassen – grundsätzlich angelegt zu sein; vgl. exemplarisch für historische Wörterbücher Diefenbach (1857), s. v. virtus, 622: »krafft, [. . . ] muglichkait der sele, stereke des gemutß« sowie für gegenwärtige Wörterbücher Habel / Gröbel (22008), s. v. »virtus«, 427: »Tugend; Kraft«, wohingegen Georges (81998), s. v. »virtus«, 3514 für das klassische Latein die Bedeutung ›Kraft‹ vor allem in Form eines metaphorischen Gebrauchs, »übertr[agen] v[on] Tieren, ebenso v[on] Sachen«, anführt. 468
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chen. Hierin findet sich die entscheidende Analogie: Setzt man sich den orator perfectus zum Ziel, so entwickelt man sein eigenes ingenium in individueller wie auch überindividueller Weise weiter. Denn die ›Nachahmung‹ der Kräfte des Redevorbilds bedeutet keine Übertragung der selbigen, sondern den Ansporn, dasselbe Wirkvermögen zu erreichen. Das allgemeine Bildungsideal mag mit Mustergültigkeit, mit Vorstellungen von Vor- und Abbild, von Ideal und Wirklichkeit, viel zu tun haben, der rhetorische Lernprozess indes entzieht sich solchen Dualismen und setzt auf die Ausprägung eigener rednerischer Kräfte aufgrund eines rhetorischen Lernprozesses, der zwar individuell ausgeprägt wird, dabei aber nicht allein individuell begründbar erscheint. An dem Punkt nun entfernt sich die imitatio von der Vorstellung einer bloßen Musterhaftigkeit: Selbst unerreichbare, ›unnachahmliche‹ Vorbilder (allen voran Demosthenes) eignen sich zur Nachahmung – so diese denn der Ausprägung der eigenen Kräfte dient. Davon ausgenommen ist jedoch, bei Quintilian, die ›wahre Kraft‹ (vera vis) als endogener, unveräußerbarer Urgrund der rednerischen Anlage. Wie steht es um die Nachahmbarkeit von Affekten? Sie mag zwar auf die Verstärkung von Wirkkräften gerichtet sein, meint jedoch allererst ein inneres Aufwühlen: In Aristoteles' Poetik hatten wir das ›Voraugenstellen‹ der Affekte als ein probates Mittel kennengelernt, um die Poiesis mit Wirkkraft auszufüllen. Bei Quintilian fanden wir eine Aufforderung zur künstlichen Selbstaufruhr, um das Publikum noch besser überzeugen zu können. Die Kraft der Rede ist in der Lage, mit Affekten wie mit der Wahrheit spielerisch umzugehen. Wahrheit existiert demzufolge nicht mehr diskursiv, sondern in der Anlage des Redners. Der Redner gibt dadurch jedoch nicht zwingend einen zweifelhaften Charakter zu erkennen; vielmehr weist seine Versiertheit auch auf seine davorliegende, umfassende Weltaneignung hin. Die Funktionen, die von der Redekraft ausgefüllt werden, sind somit vielseitig, zugleich aber auch auf eine gewisse Vereinheitlichung bedacht. Sie bewegen sich stets im Spannungsfeld von Mensch, Kunst und Natur. Auf einen groben Abriss gebracht, liegen die rednerischen Kräfte (1) im ingenium selbst und der damit in enger Verbindung stehenden virtus (2) in der Fähigkeit (facultas), sich Wissensgegenstände aus den artes liberales anzueignen (3) in der Fähigkeit, die eigene Rede nach Gegenständen (re¯s) und Worten (verba) zu strukturieren (4) in den in der Rede verhandelten Gegenständen selbst (5) in der Kontrolle (moderamen) der eigenen seelischen Begierden (cupiditates animi) (6) in der fremden Seelenrührung (animum/-os pellere, flectere, movere) (7) in den Begleitumständen der Rede
Das Erbe des antiken Essentialismus
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Es treten daher naturalistische, epistemologische, psychologische und akzidentelle Größen Seite an Seite – woraus allerdings nicht folgt, dass sie gleichberechtigt wären (bei Quintilian kann die Kraft der Begleitumstände beispielsweise Defizite hinsichtlich des Bildungsstandes des Redners in den Hintergrund treten lassen). Was bedeutet das für Auffassungen über die römische Rhetorik, nach denen sie eine Wissenschaft darstelle, die letztlich nach Idealen strebe – dass es sich also bei Konzepten wie dem vir bonus, dem vir dicendi peritus und vor allem dem orator perfectus um Idealvorstellungen handle, die nicht unbedingt der Realität entnommen sein müssen? Angesprochen sind hiermit Einschätzungen wie die Peter L. Oesterreichs in der Fundamentalrhetorik: Sowohl die Omnipotenz-Idee (peithous demiourgos) des klassischen Rhetorikidealismus als auch der Autarkiegedanke (vir bonus dicendi peritus) der idealistischen Rhetoriktheorie tendieren geradezu zu einer kunsttheoretischen Aufhebung von Lebensweltsituiertheit durch die Macht totalokkupatorischer Persuasion oder die Isolation durch rhetorische Autonomie. 469
Der von Oesterreich aufgeworfene Totalitätsgedanke erscheint vor dem Hintergrund des Wechselverhältnisses zwischen Kraft und Episteme hinterfragbar, da die Autonomie, die im Reden herrscht, ja gerade darin besteht, Weltwissen im Redner zu bündeln und in individuierter Form wieder zu entäußern. Eine derartige Individuation betrifft die Rednerpersönlichkeit ebenso wie die Wahl des genus dicendi und damit auch die von ihm zu erzielenden Affekte. Die Affekte werden gerade nicht in toto erzeugt, sondern dezidiert zugewiesen, anhand von genera, anhand von konkreten Redesituationen und anhand von Seelenbereichen, auf die mit der Rede kraft ihres affektiven Wirkpotentials abgezielt wird.
6. Das Erbe des antiken Essentialismus
Zieht man in Betracht, wie die antike Philosophie in verbreiteten zeitgenössischen Standardwerken behandelt wird, so scheint die grundsätzliche Überzeugung, Vorstellungen von Essentialität seien mit den Begriffspaaren von Idee und Abbild, von Form und Stoff, von Geist und Materie erschöpfend begründbar, durchaus attraktiv und naheliegend. 470 Immerhin führten schon Hesiods Musen vor allem einen einzigen Umstand rigoros vor Augen: Es besteht ein signifikanter Unterschied zwischen der Welt der Götter und derjenigen der 469 470
Oesterreich (1990), 92. Vgl. exemplarisch Seidl (32013) und Kunzmann – Burkard – Wiedmann (102002), 28–63.
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Menschen – und damit auch zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit, zwischen Notwendigkeit und Kontingenz, zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. Dass die antike Philosophiegeschichte und ihre Rezeption von diesen Konzeptpaaren ganz erheblich geprägt sind, ist unzweifelhaft. Und doch lassen sich, mit Blick auf die im ersten Teil der Studie behandelten Kräfte, bestimmte Positionen unterscheiden, wie mit Essenzen zu verfahren sei. Wir wollen sie, um eine bestimmte Anschaulichkeit zu erzielen, an dieser Stelle zu zwei Positionen vereinfachen: (1) Essenzen werden über Kräfte transportiert. (2) Essenzen sind Kräfte. Den ersten Fall hatten wir bei Hesiod als ein zwischen Literatur und Philosophie oszillierendes Phänomen kennengelernt und in der Vorsokratik weiter prominent vertreten gesehen: Hesiods Musen können uns Wahres berichten, wenn sie wollen; es liegt einzig in ihrer Macht. Die Wahrheit, von der sie dann künden, existiert für sich unabhängig von der kontingenten Wirklichkeit. Gleiches gilt für Parmenides und die bei ihm auftretende Pistis. Sie tritt in unterschiedlichen Stärken vor unser Bewusstsein und zieht dadurch gleichsam die Grenzlinie zwischen wahrem Sein und bloßer Meinung. Ihre vorzüglichste Ausformung ist ihre Erscheinung als ›wahre Pistis‹. Diejenigen Größen, die sich intensivieren lassen (›Überzeugung‹, ›Redekraft‹), beruhen bei Quintilian nicht umsonst auf ›wahren Kräften‹. Ausgerechnet Platon erscheint aber nun in dieser Frage ein wenig zwiegespalten: Eigentlich ist seine Philosophie im höchsten Maße dazu geeignet, Essenzen und Kräfte voneinander zu trennen; denn die platonischen Ideen sind ja unveränderlich, unvergänglich und unbeweglich – allesamt Eigenschaften, die man für Kräfte intuitiv nicht unbedingt veranschlagen möchte. Und doch ist der Fall nicht so eindeutig, wie wir in Kapitel ii.3.b in der Behandlung der Idee des Guten sehen konnten: Sie fiel mit der Kraft der Sonne in eins und wurde dadurch zu ihrem eigenen Ursprung und Vermittler. Anders gewendet, handelt es sich bei der Weitergabe der Essenz in diesem Fall zugleich um die Essenz selbst. Eindeutiger ist der Fall im Ion: Er fällt in die zweite der oben genannten Traditionslinien – in diejenige, in der die Übereinstimmung von Essenz mit Kraft vertreten wird. Ihr prominentester begrifflicher Vertreter ist in der griechischen Philosophie der Enthusiasmos; er entfaltet seinen Reiz gerade dann, wenn er – wie eben in Platons Ion – dialektisch diskutiert wird, wenn seine urwüchsige, auf Natur und Götter zurückgehende Kraft auf epistemische Größen wie die der Erkenntnis und des Weltwissens stößt. Aristoteles wiederum lehnt eine solche Form der dichterischen Kraft ab und greift vielmehr auf die durch die Sophistik zu der Zeit weit verbreitete Vermögenslehre zurück – auf eine τέχνη, die sich
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nach bestimmten Zielen ausrichtet und diese in unterschiedlichem Grade erreichen kann. Wirkintensive Größen wie das παθητικόν, πιθανόν, θαυµαστόν, ἐκπληκτικόν sind mithin als Vermögensweisen der dichterischen Fähigkeiten, zudem der dichterischen Gattungen, einstufbar. Es läge nun sehr nahe, hieraus zu schließen: Die Geschichte der τέχνη scheint in vielerlei Hinsicht eine Geschichte der Vermögenslehre zu sein. Allerdings ist dieses Phänomen nicht eindimensional: Wir sahen bei Aristoteles den Einschluss der Natur in die der τέχνη und damit das Prinzip der Bewegung in voller Gültigkeit einer ἀρχή; ein Einschluss der Natur in den Bereich der Kunst gilt ebenfalls für (Ps.-)Longin, dessen Traktat De sublimitate insgesamt eine weitreichende Übereinstimmung zwischen Essenz und Kraft herstellt. Seine taxonomische Scheidung nach noetischen und pathetischen Gesichtspunkten ergibt sich ja gerade erst nach der Beurteilung des Erhabenen anhand der Kraft, die diesem zukommt. Wir sehen: Es sind nicht nur menschliche Essenzen (etwa die Seele mit ihren Bereichen und Affekten), sondern auch kunsttheoretische Größen sowie solche göttlicher Provenienz, die in einer Kraft aufgehen. Sie beanspruchen für sich, mit ihrer eigenen Essenz zugleich auch Vermittler der selbigen zu sein. Das Entsprechungsverhältnis zwischen Person und Redeweise drückt sich im individuellen Vermögen einer Person aus, dessen energetische Umsetzung in der Redekraft besteht. In diesem Sinn ist es auch keine Nachbildung (assimilatio), sondern eine Aneignung von Kräften zwischen Lehrer und Schüler. Es darf daher zu den größten Einflüssen der Sophistik gezählt werden, die dynamischen Kraftbegriffe zugunsten einer Vermögenslehre zu desavouieren, in der das Gelingen und Misslingen unverbrüchlich im Vordergrund steht. Diese Verlagerung hat den Effekt, den Menschen in gewisser Weise zu einem Herausforderer der Natur zu stilisieren. Die Rhetorik erweist sich hingegen als erfolgreich darin, die Wissensseiten mit einzugliedern, ohne ihre dynamischen Urgründe dafür aufgeben zu müssen. Die Fähigkeiten werden virulent und wertvoll, indem sie sich an Idealen orientieren. Mögen die Ideale selbst auch nie erreicht werden, so sind sie doch bedeutend für die energetische Ausformung auf bestimmte rhetorische Ziele hin. Somit ist auch der orator perfectus keine rein abstrakte Größe, sondern findet sich in bestimmten Rednerindividuen und deren Performanzen immer wieder aufs Neue verwirklicht. Hieraus resultiert ein umfassender Fähigkeitsbegriff, dessen häufigste Chiffre die facultas ist. Sie ist als eine Fähigkeit aufzufassen, die auf einem Vermögen beruht, und kann dementsprechend auch selbst als ›Vermögen‹ bezeichnet werden. An dieser Stelle treten die dynamischen Urgründe hervor, die sich nur scheinbar jeglicher Vernunft und Essenz entziehen. Wichtig erscheint, durchaus in Analogie zu Cicero und in einhelligem Einklang mit Horaz, dass sich die imitatio auctorum auch hier gerade nicht in der Ansetzung abstrakter Muster
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erschöpft. Sie ist vielmehr geprägt von inneren und äußeren Dispositionen. Die forensischen genera erweisen sich dabei als vorzüglich zur Ausprägung der rednerischen vis geeignet. Es ließe sich umgekehrt sagen: Die Forensik ist die vis-Gattung par excellence. Man ahmt die Kraft forensisch nach und entwickelt sie dabei selber. Das bedeutet, dass sich epistemische Größen, wie wir sie im ἀληθές (verum), der σοφία (sapientia) oder der ἐπιστήµη (scientia) repräsentiert fanden, der τέχνη (ars) der µίµησις (imitatio) dem πρέπον (aptum) etc. nicht mehr unbedingt in ein kontradiktorisches Verhältnis zu naturphilosophischen Paradigmen wie δύναµις, ἐνέργεια, κίνησις (vis, facultas, potentia, potestas, ingenium) etc. fassen lassen. Die Konstruktion der Gegensätze findet nicht über eine unterstellte Diskrepanz von Diskurs und Wirklichkeit statt, sondern über die verschiedenen οὐσία-Konzepte selbst. Somit können die intrinsischen Vermögen nach intensiven und extensiven Kräften unterschieden werden. Während der Enthusiasmos als furor poeticus regelrecht im Dichter selbst wütet, so ist das ingenium zwar auch im Dichter selbst vorhanden; es steht aber zudem auch für ein veräußerbares, an der Lebensweise ablesbares Seelenvermögen. Dass die Affektenlehre eine zentrale Rolle für die Bestimmung des Erhabenen spielt, darf zu den wichtigsten ideengeschichtlichen Gemeinplätzen gezählt werden, die aus der Antike überhaupt hervorgegangen sind. 471 Mit der Entkoppelung der Poetik vom Kriterium der Wahrheit durch Aristoteles sowie der Entkoppelung der Redetechnik von der Verpflichtung auf strikt wahrheitsgemäße Propositionen sind es zwei weitreichende Entscheidungen, die eine solche Entwicklung über die Antike hinaus ermöglichen. Betrachten wir die Dicht- und Redekunst nach ihren von den antiken Autoren angenommenen essentiellen Eigenschaften, so entspricht dieser Blick nicht nur dem Blick auf die vom Künstler geschaffenen Werke, sondern auffälligerweise immer wieder dem Blick auf den Aufbau der menschlichen Seele. Und hier finden wir von Beginn an hierarchisierte Ordnungen vor: Bereits die Lehrgedichtstradition setzt die Erkenntnis als streng von den Sinnen geschiedene an. Wir treffen aber beim Blick in die Psyche auch besondere Kräfte, Vermögen und Bewegungen an, niedere und obere Seelenteile, die sich gegenseitig steuern – denken wir an die Auseinandersetzung zwischen Aiax und Odysseus in den Metamorphosen zurück oder an den Seelenwagen im platonischen Phaidros. So wird auch Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner Aesthetica (1750/1758) auf Steuerungsmomente in seiner Bestimmung der Erkenntnisvermögen nicht verzichten können:
Die von Schneider (52010), 12–20 aufgeworfenen Gegensatzpaare ›endogen versus extern‹ sowie ›nachahmend versus expressiv‹ erweisen sich spätestens hier als nicht mehr tragfähig. 471
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a) Man benötigt gegenüber den unteren Vermögen eine Herrschaft, keine Gewaltherrschaft. b) Hierhin wird die Ästhetik, sofern dies auf natürliche Weise erzielt werden kann, [sc. uns] gleichsam mit der Hand führen. c) Die Ästhetiker dürfen die unteren Erkenntnisvermögen nicht anregen und stärken, solange sie verdorben sind, sondern müssen sie in eine Richtung bringen, damit sie nicht durch ungeschickte Übung noch mehr verdorben werden und damit nicht unter dem wohlfeilen Vorwand, man müsse sich des Missbrauchs wehren, auch der legitime Gebrauch einer von Gott verliehenen Gabe entwertet wird. 472
Demzufolge wird es noch eine eigene Disziplin, die ars aesthetica sein, der die Leitung der Seele übertragen wird (manu quasi ducet aesthetica). Auch sie bringt eine als Ideal gedachte Chiffre hervor; diese wird nicht im orator perfectus, nicht im vir bonus oder im poeta doctus bestehen; es wird der ästhetische Mensch (homo aestheticus) sein, der aus seiner vermögenden Naturanlage schöpft, um eigene und fremde Wirkungen zu erzielen. Diese werden freilich in einem Maße auf der sinnlichen Bezugsebene festzusetzen sein, wie es in der Antike nur schwer vorstellbar erschien. Vielmehr gilt, dass der Mensch sich als denkendes und sinnliches Wesen begreift, seine Selbsterkenntnis aber in ein enges Verhältnis zu seiner Selbsterfassung setzt. Die Nähe zur körperlichen Welt, zur kontingent wirkenden, sinnlichen Wirklichkeit, muss nicht mehr als Kontrafaktur zur ideellen Seinsschau aufgefasst werden. Quintilian deutete diesen Weg bereits an, indem er die »wahre Kraft« der Wahrheit selbst überordnete. Die weitere Aufwertung der Kraft gelingt mit Blick auf die Frühe Neuzeit auf einem langen Weg, der durch zwei Entwicklungslinien geprägt ist – diejenige der Naturphilosophie und diejenige der Ästhetik. Beide öffnen sich in der Frühen Neuzeit in besonderem Maße der Sinnlichkeit. Eine prinzipielle Absage an Transzendenz und Essenz muss das allerdings nicht bedeuten. Die beiden zentralen Philosophien, denen eine essentialistische Ausrichtung zu attestieren ist, der Platonismus und der Aristotelismus, werden anhand ihrer Rezeptions- und Transformationsgeschichte als zwei wesentliche Faktoren zu berücksichtigen sein, wenn es um die Beschreibung der Entwicklung der Naturphilosophie in der Frühen Neuzeit geht. Intensitätsbegriffe werden, wie etwa anhand der »wahren Überzeugung« bei Parmenides oder der »wahren Kraft« bei Quintilian gesehen, bereits in der Antike durch die Attribuierung von Wahrheit erhöht. Um zu zeigen, dass das Spannungsfeld zwischen Affekt 472 Baumgarten, Aesthetica, prol., § 12: »a) Imperium in facultates inferiores poscitur, non tyrannis. b) Ad hoc, quatenus naturaliter impetrari potest, manu quasi ducet aesthetica. c) Facultates inferiores non, quatenus corruptae sunt, excitandae confirmandaeque sunt aestheticis, sed iisdem dirigendae, ne sinistris exercitiis magis corrumpantur, aut pigro vitandi abusus praetextu tollatur usus concessi divinitus talenti«.
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und Wahrheit auch in der Aufklärungszeit in den von uns betrachteten Perspektiven eine gewichtige Rolle spielt, lohnt es sich, hier etwas vorauszugreifen und Äußerungen von Herder zur Antike in Betracht zu ziehen: Ja, die damalige Art der Weltweisheit, die halb dichterisch und halb vernünftelnd war, die Wahrheiten in Erdichtungen kleidete, und bilderreiche Hypothesen schuf, hatte am wenigsten den Gesichtspunkt, dies zu untersuchen. In diesem Betracht kann ich mir des Platons Gespräch, Jo, das mit so dichterischem Enthusiasmus von dem Enthusiasmus der Dichter spricht, erklären, ohne nach dem alten Sprüchwort der Wahrheit, oder dem Plato unrecht zu thun, weil er nicht minder wollte, als den Ursprung und das Genie des Dichters erklären. Aristoteles war der erste, der in seiner Poetik ganz und gar die dichterischen Gottheiten entfernte, was das Wesen und den Ursprung jeder Dichtart anbetrifft: und in den spätern Zeiten hat man diese Sprache entweder blos den Dichtern überlassen, oder die poetische Begeisterung mit uneigentlichen Ausdrücken bezeichnen wollen: ich nehme bei der Wiedererweckung der Wissenschaften einige Anbeter des Homers, oder noch heute etwa solche aus, die in mehr als dichterischer Verzückung sich von einem Gott ergriffen glauben, weil oft Dichter und Rasende mit brüderlich verschlungenen Händen gehen. 473
An dieser Stelle ist noch nicht zu beantworten, ob Herder eine schiere Aufrechterhaltung des aristotelischen Dichtungsverständnisses vorschwebt, im Sinne eines Konservierens einer in der Antike einst originell zu nennenden Geisteshaltung. Was sich aber bereits erhellt, ist das Bestreben, das Wesen der Dichtkunst ohne Gottheiten zu denken. Ebenso zeigt sich das Bewusstsein, dass es neue Antworten auf die alten Fragen der Antike geben muss. Eine solche Antwort hat die Frühe Neuzeit gegeben; sie tat dies in Form der Naturphilosophie und Ästhetik, eingebettet in das große Bezugssystem der Mechanik.
473
Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 101.
III. Antikenrezeption in der Naturphilosophie um 1700
1. Die Entwicklung der neuen Naturen: Descartes, Newton und Leibniz 1.a. Der frühneuzeitliche Naturbegriff
Bei aller Zurückhaltung, die bei der Klassifizierung von Epochen angebracht ist, erscheint es nicht zu hoch gegriffen, bezüglich des 17. Jahrhunderts von einem Zeitalter naturphilosophischer Revolutionen zu sprechen. Eine solche Einordnung hängt zunächst mit den weithin bekannten technischen Innovationen und Progressionen zusammen, die in dieses Jahrhundert fallen. Sie sind bereits ihrer schieren Häufigkeit nach signifikant und lassen sich durchgängig in so unterschiedlichen Fachwissenschaften wie der Astronomie, der Medizin und der Physik ausmachen: Vehement debattiert wird in dieser Zeit über Probleme wie das des absoluten Raums oder das der Thermodynamik; Mikro- und Teleskop werden erfunden, effiziente Möglichkeiten zur Erzeugung von Vakuen ebenso entwickelt wie die dampfbetriebene Hydraulik; der Magnetismus erhält mit William Gilberts De Magnete Magnetisque corporibus et de Magno Magnete Tellure (1600) sein erstes Standardwerk; die elliptischen Bahnen der Planetenbewegungen werden bis zum Saturn hin berechnet und der Blutkreislauf medizinisch nachgewiesen. Die Vorstellungen, die man sich bis dahin vom Mikro- und Makrokosmos zu machen bereit war, werden auf ein grundlegend neues und möglichst vereinheitlichtes Naturverständnis hin entwickelt. 1 Es zeigt sich gleichermaßen geprägt von der technischen Freisetzung neuer Erkenntnismöglichkeiten und den daraus hervorgehenden Theoriegebäuden. In diesem Zusammenhang stellt – neben der genannten Erfindung, Weiterentwicklung und Bereitstellung neuer Gerätschaften – vor allem die transdisziplinäre Aufwertung der bis dahin wenig privilegierten Mechanik einen bemerkenswerten Schritt dar. Gerade in den Gelehrtendiskursen werden ihr ein erhöhtes Erklärungspotential und eine neue Dignität zugeKonzise hierzu Gaukroger (2016), 71: »It had been the defining assumption of mechanism that, to account for the behaviour of macroscopic bodies, all one ultimately needed to understand was the behaviour of the microscopic corpuscles of which they were composed. Everything that occurred at the macroscopic level was simply an effect of activity at the microscopic level, and this microscopic activity was characterizable wholly in terms of mechanical interactions between corpuscles of matter differentiated only by their position, shape, size, speed, and direction of motion«. 1
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sprochen – wohl auch nicht zuletzt, weil eben diese sozialen Milieus von den technischen Errungenschaften in erster Linie profitieren konnten. 2 Es lässt sich sagen, dass die Mechanik nunmehr vollends als Wissenschaft sui generis wahrgenommen wird und dementsprechend Versuche unternommen werden, sie in ihrem Stellenwert mit der über den Platonismus und den Aristotelismus traditionell hochangesehenen Metaphysik auf Augenhöhe zu bringen. Eine derartige Sublimierung ist nun nicht ohne eine gleichzeitige Revitalisierung des Naturbegriffs zu denken. Das gilt umso mehr, da es zu den Hauptaufgaben der mechanischen Gerätschaften zählt, einen besseren Einblick in die Natur zu ermöglichen (re¯s inspicere), bisweilen gar die Kontrolle über die Natur zu erlangen (naturam regere). Tatsächlich entwickeln sich natura und φύσις (physis) in den frühneuzeitlichen Wissenschaftsdiskursen zu den dominanten Chiffren, anhand derer über die Existenz verschiedener Arten von Kräften sowie über deren Begründungsverhältnisse zueinander diskutiert wird – selbst wenn ihnen, wie im Falle der maschinellen Kräfte (vires machinarum), nicht einmal so etwas wie ›Natürlichkeit‹ auf begrifflicher Ebene unterstellt wird. Hieraus ergibt sich als eines der bedeutendsten Charakteristiken frühneuzeitlichen Denkens, dass Naturwissenschaft 3 und Philosophie in bis dahin nicht gekannter Weise miteinander verknüpft werden. Zu den einflussreichsten Weltanschauungen können dabei der ontologische Dualismus eines Descartes, der Holismus eines Leibniz sowie das von Newton entwickelte – und bis heute ›klassisch‹ genannte – System der Mechanik gezählt werden. In diesem historischen Rahmen lassen sich Erscheinungen wie der Okkasionalismus eines Malebranche, der Atomismus eines Gassendi sowie nicht zuletzt Die Erfindung des Teleskops stellt einen technikgeschichtlichen Entwicklungsschritt dar, der in den akademischen und aristokratischen Milieus rasche Anerkennung und Verbreitung findet; vgl. Helden (1974), Weigl (1990), 25–52 und Vermij (2010). Ebenso löst das Mikroskop, bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts von Hooke und van Leuwenhoek in den Niederlanden erfunden und im 17. Jahrhundert dann immer weiter verbreitet, eine nachhaltige Euphoriewelle aus; vgl. für einen geschichtlichen Abriss der optischen Medien Hick (1999); zur sozialen und öffentlichen Rolle der Mechanik, die insbesondere durch ihre Verschränkung von Technologie und Naturphilosophie spätestens ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine große Faszination ausübt und etwa in England zum Phänomen der public science führt, vgl. ausführlich Stewart (1992). 3 Mit ›Naturwissenschaft‹ sind hier nicht die modernen Auffassungen gemeint, sondern eine Betrachtung der Natur im Sinne einer Beschäftigung mit den Phänomenen einer als kontingent, wechselhaft und unvollkommen aufgefassten Wirklichkeit, die sich zunächst in einer gewissen Unverträglichkeit zu den auf unabänderliche Wahrheiten abzielenden Philosophenschulen wähnen muss – und die dennoch ihren Stellenwert als eine philosophia naturalis bis in das 19. Jahrhundert hinein mehr als nur behaupten kann. Zur Genese der frühneuzeitlichen Naturwissenschaften vgl. die umfassenden und unterschiedlich akzentuierten Darstellungen von Hall (1954) und Boas Hall (1962). 2
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der monistische Materialismus, der im Sinne einer prototypischen Ausprägung recht häufig mit Hobbes assoziiert wird – wenn auch Hobbes und seine Rezipienten selbst freilich einen solchen Begriff gemieden hätten –, 4 teils als explizite, teils als indirekte Erwiderungen auf das in der Antike entwickelte und durch Descartes umformatierte Geist / Materie-Problem erklärbar machen. Wie in der Aufklärungsforschung der letzten Jahrzehnte zunehmend offengelegt wurde, stellt eines der wichtigsten Exerzierfelder in dieser philosophiegeschichtlichen Gemengelage die Neubewertung dar, die der Sinnlichkeit zukommt. Nimmt man die jeweiligen philosophischen Schulen hinsichtlich ihres erkenntnistheoretischen Geltungsanspruchs in den Blick, so kündigt sich – nach einem der von Kondylis als grundlegend eingebrachten Befunde – gerade in den so polemischen wie produktiven Auseinandersetzungen mit den Cartesianern eine Rehabilitierung der Sensualität an, die sich an der Vorlage des res extensa/res cogitans-Dualismus geradezu abarbeitet und bis in die Zeit der Debatten zwischen Newton und Leibniz um 1700 als eine Triebfeder für Denkrichtungen mit hochgradig konkurrierenden Axiomatiken erweist. Entgegen dem häufig aufgeworfenen Gemeinplatz, demzufolge die Aufklärung ein Zeitalter darstelle, in dem die Vernunft zu ihrer höchsten und scheinbar alleingültigen Stellung gelange, bildet die Vernunft vielmehr, wie prominent Kondylis und Gaukroger aufgezeigt haben, einen Rahmen, 5 innerhalb dessen sich Sinnlichkeit vollzieht. Um die neuen Bewertungen, die Geist und Materie sowie der Vernunft und den Sinnen zugedacht werden, zu vereinfachen – und damit auch didaktisch leichter applizierbar zu machen –, wird nicht selten eine ideengeschichtliche Trias zwischen einem britischen Empirismus (Locke, Hume), einem französischen Rationalismus (Descartes) und einem deutschen Intellektualismus (Leibniz, Wolff) angesetzt. Diese teils in den Status von ›Nationalphilosophien‹ erhobenen Pauschalzuschreibungen werden dann bisweilen gar bis in das 18. oder 19. Jahrhundert hinein ausgeweitet. 6 Dass derartige Schemata bestenfalls Bis in zeitgenössische Darstellungen hinein wird Hobbes vor allem – und das nicht völlig zu Unrecht – mit einem durch und durch »mechanistische[n] Weltbild« (Maissen [2013], 81) beziehungsweise einem »mechanistische[n] Materialismus« (Schneider [2018], 131) in Verbindung gebracht. 5 Für einen ideengeschichtlichen Überblick, der in einer prägnanten Darstellung von den Cambridge-Platonikern bis zur anatomischen Physiologie eines Denis Diderot reicht, vgl. Kondylis (22002), 191–286. Für eine Skizzierung der Situation im 18. Jahrhundert, die sich vor allem aus der Rezeption der Weltbilder Newtons und Lockes durch die Pariser Gelehrtenzirkel – vor allem in Person von Maupertuis, Montesquieu, Voltaire und Condillac – ergibt, vgl. Gaukroger (2010), 257– 289. Unabhängig von Kondylis’ Präzedenzleistung wird auch bei Gaukroger ein realm of reason angesetzt, um die Voraussetzungen jenes Aufstiegs der Sinnlichkeit hin zu einem der wichtigsten Aufklärungsparadigmen erklärbar zu machen. 6 In unterschiedlichem Ausmaß auch bis in gegenwärtig kursierende Schulbücher hinein; vgl. Heller (1998), Draken / Flohr (2005) oder Wittschier (2008). 4
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Grundtendenzen repräsentieren können und zudem nur begrenzt in der Lage sind, transnationale Dependenzen als historische und damit eben auch bis zu einem gewissen Grade als nicht konzise trennbare zu erfassen, vermittelt bereits ein Blick auf die radikalsten Vertreter des Sensualismus: Sie lassen sich nämlich mit Paul-Henri Thiry d'Holbach, Ètienne Bonnot de Condillac, Julien Offray de la Mettrie und Claude Adrien Helvétius ausgerechnet im scheinbar so rationalistisch geprägten Frankreich ausmachen. 7 Es ist festzuhalten, dass zumindest die Neigung zur Aufwertung der Sensualität als eines zuverlässigen Kognitionsorgans sich allen Divergenzen zum Trotz, die man auch innerhalb der philosophischen Schulen Frankreichs, Deutschland und Englands beobachten kann, mit Hartnäckigkeit verstetigt: Die sinnliche Erfassung der Welt wird im 18. Jahrhundert zu einem mehr als ernstzunehmenden Gegner für diejenigen Erkenntnismethoden, die bis dahin in unverbrüchlicher Weise den vernunftgeleiteten Seelenbereichen (intellectus, ratio, cogitatio) zugeschrieben wurden. Der Optimismus, der in die sinnlichen Erkenntnismöglichkeiten gesetzt wird, geht auffälligerweise mit der Hinwendung zu und Fortentwicklung der physikalischen Welterschließung einher. Eine zwingende wechselseitige Beziehung ist damit freilich noch nicht ausgesagt, geschweige nachgewiesen. Was sich allerdings bereits weit vor dem 18. Jahrhundert ersehen lässt, ist eine Erneuerung des Wissenschaftsverständnisses, prominent verkörpert etwa durch Kopernikus, Galilei und Kepler als Physiker, Kosmologen, Mathematiker und Philosophen in Personalunion. Dieses Verständnis beruht auf der Vernetzung neuer Wissensfelder zwischen den ehemals strenger geschiedenen Gebieten von Philosophie und der Betrachtung inferiorer Naturerscheinungen. 8 Wenn sich die Physik – als dasjenige Beschäftigungsfeld, das sich mit der kontingenten Wirklichkeit auseinandersetzt – nicht mehr auf den Bereich der Kontingenz beschränken muss, sondern sich im Gegenteil mit ubiquitär und ewig gültigen Gesetzen befasst, ja diese aus ihren immer umfassender werdenden Theoriegebäuden geradezu hervorbringt, so leiden die Sinne in ihrer erkenntnistheoretischen Zuordnung hieran zumindest keinen Schaden. Denn sie sind es – und für diese Überzeugung muss man nun nicht unbedingt ein Sensualist sein –, die ja unseren ersten Kontakt zur physikalischen Welt herstellen und diese somit auf eine Weise erfahrbar machen, der unsere vorzügliche AufAls dezidiert auf sensualistische Erkenntnistheorien ausgerichtete Werke seien Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746) und D’Holbachs Système de la nature (1770) angeführt. 8 Die Inferiorität ist hierbei auf das Verhältnis zu den unverbrüchlichen Wahrheiten zu beziehen, die sich im Gegensatz zur wahrnehmbaren Wirklichkeit und deren wechselhaften Naturphänomenen befinden. 7
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merksamkeit zukommen sollte. Nicht zuletzt durch ebendiese Tendenz, eine Aufwertung des Erkenntnisbereichs der sinnlich erfassbaren Natur, konnte sich die Ästhetik, die ja ihrem antiken begrifflichen Bestimmungsfeld nach bereits in ihrer Grundbedeutung des ›Wahrnehmens‹ (αἰσθάνεσθαι) dezidiert mit den nicht-intellektualen Bereichen der Seele verhaftet ist, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Disziplin, namentlich zu einer ars aesthetica, hin entwickeln. Im Folgenden soll es indes weniger um einen ideengeschichtlichen Abriss dieser Gretchenfrage in der Erkenntnistheorie gehen; 9 vielmehr soll hier zunächst der Frage nachgegangen werden, was die philosophische Aszendenz der Mechanik zum Naturbegriff produktiv beizutragen hatte; ferner, wie ihr Verhältnis zu den aus der Antike, Scholastik und Renaissance tradierten Disziplinen wie der Geometrie, der Mathematik, der Kosmologie und der Metaphysik einzustufen ist. Dies dient dem Zweck, ein prospektives Verständnis dafür zu schaffen, wie sich ihre essentiellen Paradigmen, allen voran Kraft und Bewegung, zu ernst genommenen Größen der Ästhetik, der literarischen Gattungspoetiken und schließlich auch des Antikenbildes im 18. Jahrhundert entwickeln konnten. Um den weitreichenden Einfluss des sich im 17. Jahrhundert Bahn brechenden mechanistischen Weltbildes anzudeuten, erscheint es sinnvoll, den Blick zunächst nicht so sehr auf die Unterschiede der einzelnen Philosophenschulen als auf deren Gemeinsamkeiten zu richten. Was sich in den Naturdebatten des 17. Jahrhunderts für sämtliche auftretenden Parteien, für Monisten wie für Dualisten, für Materialisten wie für Neoplatoniker, für Sensualisten wie für Rationalisten, in bemerkenswerter Einigkeit konstatieren lässt, besteht – es ließe sich sagen, in Form eines gelegentlich explizierten, gelegentlich auch stillschweigend vorausgesetzten Konsenses – darin, dass man sich von jeglicher Art von Naturfeindlichkeit, die in christlichen Strömungen seit dem Mittelalter in unterschiedlichem Grade noch konserviert wurde, entschieden und nachhaltig verabschiedet. 10 Die Hinwendung Sie wird in Teil IV noch genauer behandelt werden, wenn es um die Etablierung der Ästhetik im Kanon der freien Künste geht. 10 Vgl. Kondylis (22002), 59–80. Kondylis argumentiert überzeugend, dass die im Thomismus konstatierbare Aufwertung der Natur zunächst dem Denkparadigma unterliege, eine Vertiefung in die Natur könne durchaus mit dem Erkennen des göttlichen Wesens einhergehen. In einer derartigen Aufwertung der Naturbetrachtung sei indes noch eine übergeordnete Strategie erkennbar, die darauf abziele, Philosophie und Theologie in ihrem Erkenntnisanspruch möglichst zu assimilieren – ›möglichst‹ meint hier die Einschränkung, dass sich die Glaubensfrage bei Thomas se ipso noch einem rein philosophischen Zugriff entziehen müsse. Die vermeintliche Sublimierung der Natur arbeite bei Thomas also im Grunde noch einer Validierung theologischer Elementarien zu. Gleichwohl zeigt sich anhand dieses in Kondylis’ Darstellung initial gesetzten Paradigmas, dass am Kognitionsvermögen als einem Spezifikum der geistigen Anschauung gegenüber einer als ›natürlich‹ vorgestellten Welt festgehalten wird. Der erkenntnistheoretische Dualismus aus den 9
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zur Natur unter Zuhilfenahme menschlich gefertigter Erkenntnisinstrumente – und gerade nicht durch das kontemplative Betreiben einer Ideenschau – stellt keine Abwendung mehr von einem Gott dar, dessen Wege dem Menschen unergründlich scheinen und im Interesse des Gros christlicher Strömungen durchaus auch weiterhin so scheinen dürften. Vielmehr trifft man nun sehr reduzierte Vorannahmen zu ontologischen Fragen, bedient sich vermehrt induktiver Verfahren, insbesondere der physikalischen Erprobung und des Experiments, und entscheidet erst dann, welche Auffassungen vom Kosmos und der Natur selbst als möglichst angemessene anzunehmen sind. Diese naturphilosophische Methodik stellt bei weitem kein Spezifikum der britischen Philosophie dar, wird aber dort auf besonders einflussreiche Weise entwickelt. Hier ist es vor allem das von Francis Bacon (1561–1626) im Novum Organum (1620) vertretene Wissenschaftsverständnis, das einen europaweiten Erfolg zeitigt. 11 Bacon zufolge stellt die Naturbetrachtung, die sich mithilfe künstlicher Hilfsmittel (instrumentis et auxiliis) vollzieht, in ihrer dezidierten Verbindung mit dem Verstandesapparat, dem verstandesgemäßen (ad intellectum) Auslegen, nicht weniger dar als die sicherste und den neuzeitlichen Erkenntnismöglichkeiten angemessenste Methodik zur Welterschließung: antiken Schulen bleibt bei Thomas also grosso modo bestehen, sei es – je nach argumentativem Kontext – in Form eines platonischen Aristotelismus oder eines aristotelischen Platonismus. Demgegenüber entwerfe Cusanus (1401–1464) ein Bild der Natur, das unter Annahme einer monistisch geprägten Grundstruktur noch versuche, eine gewisse Transzendenz wenigstens rudimentär aufrechtzuerhalten. (vgl. Kondylis’ zuspitzende Paraphrase ebd., 70: »[D]ie Dinge sind ohne Gott nichts, Gott ist aber auch ohne die Dinge.«) Die Synthese hieraus gelinge dann wiederum am wirkungsvollsten in der Renaissance-Philosophie, namentlich bei Marsilio Ficino (1433–1499): Er generiere durch die Schaffung panpsychistischer Strukturen, die sich durchaus auf Cusanus’ monistische Natur berufen konnten, eine Form des Spiritualismus, die sich geradewegs zu einer emphatischen Naturfreundlichkeit aufschwinge. Sie enthalte den Neoplatonismus als ein wesentliches Substrat und präformiere zugleich bereits einen Anti-Aristotelismus, der schließlich bei Bernardino Telesio (1509–1588) und Francesco Patrizi (1529–1597) in recht radikalen Lesarten zum peripatetischen Substanzbegriff aufgehe und dadurch einen neuen Begriff der Naturbetrachtung erfordere. Dieser nun besagt – durchaus in Rekurrenz auf naturphilosophische Theoreme, wie wir sie bereits bei Empedokles vorgefunden haben –, dass der Kosmos von gegensätzlichen Prinzipien (etwa: Wärme und Kälte) konstituiert werde, die von einem dezidiert sinnlichen Standpunkt aus zu erfassen seien. Diese aus der italienischen Naturphilosophie heraus entwickelte Blickrichtung kann nun methodisch wie theoretisch als vorausweisend auf die neuen Formen der Naturbetrachtung im 17. Jahrhundert gelten. 11 Über die Jahrhunderte besehen nahm Bacons Reputation als Philosoph und Wissenschaftler zwar einen durchaus uneinheitlichen Lauf; seine wegweisende Rolle für das 17. Jahrhundert blieb indes praktisch unangetastet und kann kaum hoch genug eingeschätzt werden; vgl. hierzu Urbach / Gibson (21995), XIII–XIV: »After his near deification in the seventeenth century as creator of the new experimental approach to science, he was largely eclipsed in the eighteenth century, scarcely mentioned by the great philosophers of that era; and then the nineteenth century saw an enthusiastic revival of scholarly interest in Bacon«.
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Weder ist eine nackte Hand noch ein sich selbst überlassener Verstand viel wert; durch Werkzeuge und Hilfsmittel wird eine Sache vollendet; ihnen obliegt eine nicht weniger auf den Verstand als auf die Hand gerichtete Aufgabe. Und wie die Werkzeuge der Hand deren Bewegung entweder veranlassen oder lenken, so legen die Werkzeuge des Geistes entweder dem Verstand etwas nahe oder raten davon ab. 12
Die von Bacon angeführte Hand (manus) tritt einerseits synekdochisch für die neuen naturwissenschaftlichen Gerätschaften, für das ›Handwerkszeug‹ ein; zum anderen wird sie auch zur Metapher der Erkenntnisarbeit des Geistes erhoben. Die instrumenta mentis verhalten sich analog zu den instrumenta manus; 13 der Geist bewegt die Hand, wie die Hand das Werkzeug bewegt. Körperliche und geistige Welt arbeiten demnach in einem wechselseitigen Verbund miteinander, um dem Menschen zur Welterschließung zu verhelfen. Die hergebrachte Antithetik von körperlichen und geistigen Fähigkeiten, von Hand (manus) und Verstand (intellectus), wird dementsprechend zugunsten eines höheren Erkenntnisziels überwunden. Intendiert ist ein Zusammenspiel der Kräfte des Geistes mit den Befunden, die aus den mechanisch angebrachten Experimenten selbst resultieren. Dieser als neuer Schulterschluss zwischen den menschlichen Fähigkeiten (foedus facultatum) eingeführte Methodengang wird gegenüber einem bloßen Empirismus, aber auch gegenüber einem dogmatischen Rationalismus abgegrenzt: Diejenigen, welche die Wissenschaften betrieben, waren entweder Empiriker oder Dogmatiker. Die Empiriker tragen, nach Art einer Ameise, nur zusammen und ziehen Nutzen; die Vernünftler schaffen, nach Art der Spinnen, die Netze aus sich selbst; das Verfahren der Biene aber, die den Stoff aus den Blüten des Gartens und Feldes auswählt, ist ein mittleres, aber dennoch behandelt sie ihn mit der ihr zukommenden Fähigkeit heraus und verdaut ihn. Und dem nicht unähnlich ist das wahre Verfahren der Philosophie; es beruht nicht ausschließlich oder überwiegend auf den Kräften des Geistes, auch nimmt es den von der Naturgeschichte und den mechanischen Experimenten dargebotenen Stoff nicht unverändert in das Gedächtnis auf, sondern als einen solchen, der im Verstand verändert und verarbeitet worden ist. Daher muss man aus einem engeren
12 Bacon, Novum Organum, lib. I , Aphor. II , 157: »Nec manus nuda nec intellectus sibi permissus multum valet; instrumentis et auxiliis res perficitur; quibus opus est non minus ad intellectum quam ad manum. Atque ut instrumenta manus motum aut cient aut regunt, ita et instrumenta mentis intellectui aut suggerunt aut cavent.« (Hervorhebung in der Übersetzung: D. B.). 13 Vgl. die apò koinoû-Stellung des Genitivattributs manus zu instrumenta und motum.
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und festeren Bündnis (das bisher nicht geschaffen wurde) dieser (das heißt der experimentellen und der rationalen) Fähigkeiten heraus guter Hoffnung sein. 14
Die Beobachtungs- und Geisteskräfte kooperieren hier eng miteinander, um die Wirklichkeit wissenschaftlich zu erschließen; es geht Bacon also nicht um eine plane Bekräftigung der Erfahrungswissenschaften, sondern um eine Erfassung der Natur, die sich auf dasjenige stützt, was zunächst mit den empirischen Möglichkeiten erfasst, dann jedoch im Verstand geändert und verarbeitet wurde (in intellectu mutatam et subactam). Wichtig ist zudem, dass es sich auch bei dieser Geistestätigkeit nicht um ein in sich gekehrtes Räsonieren (contemplatio), sondern um ein aktives, tätiges Verfahren (opificium) handelt. Denn dies weist den Menschen als selbständigen, sich eigens geschaffener Hilfsmittel bedienenden Beobachter und Deuter der ihn umgebenden Welt aus. Eine solche Methodik entfernt sich nun in keiner Weise von der Natur im Sinne einer theoretischen Größe, sondern arbeitet ihr im Gegenteil besonders zu, da sie diese verfahrenstechnisch genauer und in deren Diversität zu erfassen vermag, als es ein Spekulieren über die Wesenheit stiftenden Funktionen könnte. Zwar mag es nicht verwunderlich erscheinen, dass die Rolle, die hier den über mechanische Experimente (experimenta mechanica) validierten Erfahrungen zukommt, Strömungen wie dem Empirismus den Weg bahnen konnte; dennoch geht es Bacon nicht schlicht darum, eine von der Erfahrung ausgehende, aus ihr heraus dann fortschreitende und schließlich im Verstand ankommende Erkenntnismethodik zu entwerfen – wie es sich etwa bei Locke anhand des auf der Sinnes- und Geistesarbeit von sensation und reflection basierenden, stufenweisen Übergangs von den simple ideas zu den complex ideas ausmachen lässt. 15 Vielmehr geht es im Novum Organum darum, ein allgemeines Verständnis zu gewinnen, das eben nicht linear von den Sinnen zum Geist verläuft, sondern eine Rückprojektion der Theorie auf die Tatsachen der wahrnehmbaren Welt ermöglicht. 16 Das Wechselspiel aus Einzelbeobachtungen, den daraus abgeleiEbd., Aphor. XCV, 201: »Qui tractaverunt scientias aut Empirici aut Dogmatici fuerunt. Empirici, formicæ more, congerunt tantum et utuntur; Rationales, aranearum more, telas ex se conficiunt; apis vero ratio media est, quæ materiam ex floribus horti et agri elicit, sed tamen eam propria facultate vertit et digerit. Neque absimile philosophiæ verum opificium est; quod nec mentis viribus tantum aut præcipue nititur, neque ex historia naturali et mechanicis experimentis præbitam materiam, in memoria integram, sed in intellectu mutatam et subactam, reponit. Itaque ex harum facultatum (experimentalis scilicet et rationalis) arctiore et sanctiore fœdere (quod adhuc factum non est) bene sperandum est«. 15 Vgl. Locke, An Essay concerning human understanding, 2, 23, 148–168. 16 Zu dieser wichtigen Differenz zwischen der Philosophie Bacons und derjenigen Lockes vgl. Krohn (1990), XXVI, der zuvorderst darauf hinweist, dass es in Lockes Essay concerning human understanding um eine empiristische Philosophie geht, »nach der die Erkenntnis mit einfachen oder unbezweifelbaren Sinneseindrücken beginnen und von hier aus schrittweise sich zu Begriffen 14
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teten Gesetzen und deren erneuter Anwendung auf die daran anknüpfenden Beobachtungen öffnet den Blick auf die Welt im methodisch umfassendsten, nämlich sich auf Empirie und Verstandestätigkeit kaprizierenden Sinne; mithin folgt daraus eine Generalisierung unseres Wissens über die Natur, das in einer sich fortlaufend differenzierenden und sich zugleich erweiternden Erschließung der Wirklichkeit besteht. 17 Das von Bacon vertretene Wissenschaftsverständnis, von ihm selbst ohne allzu große Bescheidenheit auch als Große Erneuerung (Instauratio magna) bezeichnet, darf in zentralen Punkten tatsächlich als wegweisend für den Fortgang der Naturphilosophie und den mit ihr vernetzten Disziplinen in der Frühen Neuzeit bezeichnet werden. 18 Die Erwartungen an die experimentelle Wissenschaft als Verfahrensweise richten sich auf die Verknüpfung induktiv gewonnener Tatsachen mit dem Abstrahieren, dem Theoretisieren und dem Rückprojizieren dieser Tatsachen. Mit anderen Worten: Es lässt sich vergleichsweise kaum ein Jahrhundert ausmachen, in dem der Untersuchungsgegenstand (natura) so sehr in Übereinstimmung mit, wenn nicht gar in Abhängigkeit größerer Allgemeinheit hocharbeiten müsse«. Auf die Wichtigkeit, die demgegenüber dem Wechselverhältnis von theoretischen Grundsätzen und empirischen Daten im Wissenschaftsverständnis Bacons zukommt, weisen Urbach / Gibson (21995), XXVIII hin: »He [Francis Bacon; D. B.] was right to stress the importance of deep explanations that dealt with underlying physical causes over what he called the ›simple enumeration‹ of surface properties. Bacon was the first to try to explore systematically the different kinds of experimental evidence and to lay down principles to guide the collection of ›histories‹, or observational and experimental data«. 17 Vgl. zu dieser Auffassung vom induktiven Verfahren luzide Krohn (1990), XXIV–XXV : »Während das zentrale Problem der logischen Induktion die Rechtfertigung allgemeiner Sätze aus einzelnen Beobachtungen oder Behauptungen ist, ist das zentrale Problem der induktiven Methode die Entdeckung neuer Tatsachen aus der Aufstellung von theoretischen Sätzen und deren weitere Generalisierung aufgrund neuer Tatsachen, so daß diese Generalisierung wiederum zu neuen Tatsachen führt«. Zu den problemgeschichtlichen Implikationen der Methodik Bacons vgl. Gniffke (1968), Schüling (1969) und Kotarbiñski (1935). 18 Dass sich dieser methodologische Ansatz bis weit in das 18. Jahrhundert, etwa zu Diderots Pensées sur l’interpretation de la nature (1754) durchschlägt, betont Winter (1987), 157: »Ein Schwerpunkt der von Diderot in den Pensées sur l’interpretation de la nature entworfenen Methodologie besteht darin, auf der Basis der Beobachtung der empirischen Realität jeweils provisorische Hypothesen aufzustellen, die Ausgangspunkt neuer wissenschaftlicher Fragestellungen und Forschungsprojekte sein sollen, jedoch immer explizit als approximative, als durch die Forschung wieder zu überschreitende gesetzt werden«. Der Einfluss der Philosophie Bacons auf den französischen Materialismus drückt sich zudem darin aus, dass sich Diderot gemeinsam mit D’Alembert in der Encyclopédie (1751–1780) noch dazu angehalten sieht, dem ›Baconisme‹ ein eigenes, umfangreiches Lemma zuzuweisen. Die Encyclopédie selbst stellt wiederum eines der luzidesten Beispiele für den nachhaltigen Einfluss der im 17. Jahrhundert betriebenen epistemischen Vernetzungen zwischen den metaphysischen und den erfahrungsbasierten Wissenschaften dar. Sie wird, neben Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique (1694–1697), bis heute mit großem Konsens als das lexikographische Standardwerk der Aufklärungszeit eingestuft.
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von der gewählten Methodik (ratio, via, occasio, methodus) entworfen wird, wie das siebzehnte. 19 Aus dieser Verschwisterung heraus wird auch ein zeitgeschichtliches Phänomen besser verstehbar, das sich mit Blick auf die naturaund φύσις (phýsis)-Konzepte, die wir in Teil ii der Studie kennengelernt hatten, nicht unbedingt von selbst ergibt: Aus den neuen Modi der Naturbetrachtung entsteht auch eine neue Auffassung von der Natur selbst. Der Mensch erkennt die Natur nunmehr anhand mathematisch fundierter Experimente, anhand ihrer distinkten Merkmale, die sich ihm durch einen mikroskopisch verfeinerten, einen teleskopisch erweiterten oder einen experimentell in Szene gesetzten Blick offenbaren; zudem fasst er die Welt als eine nach bestimmten Gesetzen gestaltete Körperwelt auf, die er mithilfe geometrischer Beschreibungsmodelle zu einer abstrakten und mathematisch fundierten Darstellung bringen kann. Aus diesem der Optik, Mathematik, Geometrie und Astronomie profund verhafteten Wissenschaftsverständnis entwickeln sich polyseme Erweiterungen des Naturbegriffs, die derart rasche Verbreitung finden, dass sie im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts zusehends auch in enzyklopädischen Zusammenhängen Explikationen erfahren. Dies lässt sich besonders im Verbund mit ihrer traditionellen begrifflichen Schwester, der ars, bemerken. Beide, ars und natura, werden gerade hinsichtlich ihrer ausladenden Polysemie in einem Zuge erwähnt, wenn man die durchaus exemplarisch zu nennende Einschätzung des Astronomen und Mathematikers Johann Christoph Sturm (1635–1703) besieht, der im Rahmen seiner taxonomischen Grundbetrachtungen zum Verhältnis von Kunst und Natur in De artis et natura sororia cognatione (1686) eine nach wie vor weitverbreitete »Mehrdeutigkeit der Bezeichnungen ›ars‹ und ›natura‹« 20 für die zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurse feststellt. Zu nennen sind hier insbesondere die rein auf physischen Merkmalen beruhende Natur (natura physica), die mathematische Natur (natura mathematica), die schöpferische Natur (natura naturans) oder die Natur in Form der empirisch erfassbaren Welt, wie sie sich als in sich selbst unterschiedene Einheit vor den Menschen tagtäglich ausbreitet (natura naturata). 21 Demnach folgt aus den Diese Gleichrangigkeit betont an prominenter Stelle Johannes Kepler (1571–1630), wenn er direkt zu Beginn seines epochemachenden Werks Astronomia nova (1609), nämlich in der Inhaltsangabe zum 45. Kapitel, davon spricht, was für ihn das Faszinosum an der Astronomie ausmache: »Ja, überhaupt scheinen mir die Wege, auf denen die Menschen zur Erkenntnis der himmlischen Dinge gelangen, kaum weniger bewunderungswürdig als die Natur der himmlischen Dinge selbst.« (Kepler, Astronomia nova, arg. cap. XLV: »Quippe mihi non multo minus admirandæ videntur occasiones, quibus homines in cognationem rerum cœlestium deveniunt; quam ipsa Natura rerum cœlestium«). 20 Sturm, De artis et naturae sororia cognatione, Exercitatio VIII , 373: »vocabulorum artis & naturæ ambiguitas«. 21 Eben diese natura naturata, als Vorstellung einer Allheit der Naturdinge, und die natura naturans, als das Tätigsein durch Gott oder als Gott höchstselbst, prägen ein komplementäres 19
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neuen Betrachtungen der Natur deren vielgliedrige Modifizierung, jedoch – wenigstens in keinem prominenten Fall – deren Desavouierung. Bevor wir zu den Implikationen der neuen Naturen, wie sie hier und im Folgenden genannt werden sollen, 22 kommen werden, ist auf einen Punkt hinzuweisen, der sie überhaupt in der beschriebenen Weise ins Rollen bringen konnte. Als wesentliche Schaltstelle zwischen altem und neuem Naturverständnis ist die Substanzlehre der Cartesianer anzusetzen; denn angeleitet durch die Problemstellungen, die das durch Descartes neu organisierte Verhältnis von Geist und Körper aufgeworfen hat, werden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Kontroversen geführt, die in erheblichem Maße von einer Fortschreibung physikalischer Wissenschaft, mechanistischer Kräftelehre sowie einer nach wie vor als ›allgemein‹ (universalis, universa, generalis) aufgefassten Form der Naturphilosophie (philosophia naturalis) geprägt sind. Die Philosophie Descartes' wird um die Mitte des 17. Jahrhunderts gerade dadurch prominent, dass sie die Tradition des dualistischen Denkens mithilfe einer neuen dichotomen Auffassung fortschreibt und zugleich überwindet. In ihrer Hinwendung zur reinen Substanzlehre ruft sie einen merklichen Bruch mit dem seit der Antike kanonisierten und in der Renaissance- und Barockphilosophie höchst virulenten platonischen Dualismus hervor, der sich zwischen der Ideenwelt und der materiellen Welt bewegte. Anhand ihrer prominentesten Paradigmen tritt denn auch die zentrale Bruchstelle des oben benannten Chiasmus mitunter am klarsten vor Augen: Die res extensa kann – bei all ihrer Hinwendung zur Körperwelt – in keinem Fall als Hypostasierung der res cogitans gelten, wie es im Platonismus noch über das Verhältnis zwischen Ideen und Wahrnehmungsgegenständen bisweilen in so topischer wie bildreicher Weise ausgesagt und zudem über die méthe¯xis- und die anámne¯sis-Lehren legitimiert worden Gefüge aus, das in der Lage ist, sich von der antik scholastischen Naturauffassung als Wesentlichkeit (essentia) oder Washeit (quidditas) abzuheben. Denn die Vorstellung von einer naturierenden Natur hängt in entscheidendem Maße von der Grundannahme einer Tätigkeit ab und verlässt dadurch den Bereich statischer metaphysischer Essenzen – die man etwa im platonischen Ideenhimmel in unveränderlicher und unbeweglicher Entrückung verorten würde – in Richtung der physikalischen Wirklichkeit – einer Wirklichkeit wiederum, die man, insofern sie eben Resultat dieser Tätigkeit ist, dann als natura naturata bezeichnen würde; vgl. zum Spannungsverhältnis zwischen naturans und naturata in der Frühen Neuzeit Leinkauf (2010). 22 Die Rede von ›neuen Naturen‹ unterliegt an dieser Stelle zwangsläufig noch einem heuristischen Gebrauch. Es soll vor allem zunächst die Darstellungsweise erleichtern, indem dasjenige, was in der Frühen Neuzeit unter natura beziehungsweise physis firmiert, auch in seinen strukturellen Diversitäten unter Berücksichtigung seiner historischen Bedingtheit fassbar gemacht wird. Es geht mithin um einen Begriffsbestand, der eine große antike Tradition aufweist und aus dieser Tradition heraus neue philosophische Richtungen entwickelt. Anhand der in den folgenden Teilen der Arbeit zu entwickelnden Fragestellungen wird er je nach philosophiegeschichtlichem Kontext nochmals weiter spezifiziert.
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war. 23 Genau hiervon setzt sich Descartes augenfällig ab: Die Trennung der Substanzen lässt ebenso wenig das Konzept einer Teilhabe zu, wie der Skeptizismus eine Art von transzendentalem und sicherem Wissen über die Welt voraussetzen würde. 24 Auffassungen, welche die Ontologie Descartes' auch nur annähernd als platonisch oder idealistisch betrachten, müssen daher erratisch erscheinen. 25 Descartes selbst schwebt an keiner Stelle eine Ideenwelt oder auch nur ein priorisch vorgestelltes wahres Sein vor. Der Geist wird von Descartes vielmehr gänzlich anders verstanden, als dies im Platonismus und Neoplatonismus der Fall ist. Sein Hauptanliegen besteht nicht mehr darin, eine vertikale Hierarchie zwischen den oberen und niederen Seelenbereichen zu entfalten, sondern Geist und Körper auf horizontaler Ebene, nämlich anhand zweier nebeneinander existierender Substanzen, disjunktiv zu scheiden. Letztere Substanz wird nun auch als res corporea und damit spezifischer bezeichnet, als es die res extensa ausdrücken könnte. In der Körperlichkeit drückt sich eine Substanz aus, die zur materiellen Bewegung befähigt und befähigt ist. 26 In den Diskussionen, die zwischen den englischen, deutschen, französischen und italienischen Protagonisten geführt werden, erweisen sich nun zuUm nur einige der traditionsreichsten loci classici zu dieser Anteils- und Erinnerungslehre anzuführen, soll der Hinweis auf die drei ontologischen Gleichnisse der Politeia (vgl. Plat., Pol., 6, 508a4–511a2; 7, 514a1–517a7), die Bekräftigung der vorgeburtlichen Existenz der Seele im Phaidon (Plat., Phaid., 91c–92e), Plotins Diskussion des noetischen und des sinnlichen Kosmos in den Enneaden (vgl. Plot., enn., 4, 1) sowie Ficinos ›Gefieder der Seele‹ als willentliche Aszendenz der menschlichen Seele zur göttlichen Ideenwelt hinauf (vgl. Ficino, In Phaedrum, 1363) genügen. 24 Diese Haltung wird etwa im Briefverkehr (1648–1649) zwischen Descartes und Henry More deutlich. More selbst wendet sich in der Folge mehr und mehr von Descartes ab und schließt sich bezeichnenderweise den Cambridge-Platonikern an. 25 Vgl. etwa merkwürdige Äußerungen wie diejenige Cassirers in den Leibniz-Übersetzungen von Buchenau (31966), 82 über einen »cartesischen Idealismus«. Auch Weiß (1992), 1309 spricht davon, man könne »dem ›Idealisten‹ Descartes [. . . ] den ›Materialisten‹ Hobbes [. . . ] entgegenstellen«. 26 Nicht nur an dieser Stelle ist der Einfluss von Robert Boyles (1627–1691) Korpuskulartheorie wahrnehmbar, und zwar nicht so sehr in ihren iatrophysikalischen Spielarten, mit denen sich noch ein Franz Anton Mesmer im 18. Jahrhundert auseinandersetzen wird. Mag Descartes’ rigoroses Festhalten an der Ausdehnung als Kriterium der Körperlichkeit auch dem Anschein nach in eine andere Richtung als eine Theorie von Korpuskeln weisen, so ist dennoch etwa Barkhoff darin zuzustimmen, dass der Cartesianismus auch »auf der Grundlage der auf Boyle zurückgehenden atomistischen Korpuskular-Philosophie [beruht], die die Mechanik der Maschine des Universums auf die ›two grand and most catholick principles of bodies, matter and motion‹ zurückführt und alle Naturphänomene durch die positionelle Verhältnisbestimmung der Korpuskeln zwischen Bewegung und Ruhe erklärt. Entsprechend ist das Weltall für Descartes ein vollständig mit mechanischen Teilen gefüllter Raum, welche sich nach den Gesetzen von Druck und Stoß wechselseitig verdrängen.« (Barkhoff [1995], 32) Anzumerken bleibt noch, dass es sich bei Descartes’ Mechanik nicht um einen epikureistischen, von Kontingenz geprägten Atomismus handelt, sondern – um in Descartes’ Terminologie zu bleiben – um ein nach rationalen Kriterien erfassbares Uhrwerk, das in der ›Naturmaschine des Weltalls‹ (machine d’universe) vorherrsche. 23
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nehmend diejenigen Modelle als erfolgreich, die in der Lage sind, Beschreibungsfiguren aus unterschiedlichen Disziplinen einzugliedern und theoretisch zu vereinheitlichen – bei gleichzeitiger Bewahrung ihres differenzierten Modellcharakters. So stellt es alles andere als eine Kuriosität dar, wenn sich in philosophischen Abhandlungen geometrische Illustrationsarten neben mathematischen Berechnungen sowie kosmologische Modelle neben einer systematischen Paragraphik wiederfinden. Und doch lässt sich zugleich eine gewisse Gegenläufigkeit im Hinblick auf deren Naturverständnisse ausmachen: Denn konträr zu jener geradezu überbordenden Neigung, Naturerkenntnisse in möglichst umfangreichen und zugleich immer weiter ausdifferenzierten Modellen zu erfassen, zeichnet sich – und dies auf axiomatischer Ebene – eine Art reduktionistisches Begehren unter dem Einfluss der immer weiter florierenden Mechanik ab. Dieses Desiderat lässt sich, kurzgefasst, in der Rückführung der Naturphilosophie auf die Grundbegriffe von Kraft und Bewegung ablesen. Sie bilden die wesentlichen mechanischen Tätigkeitsprinzipien. Wo die antike Philosophie von der ontologischen Hauptgröße der Existenz (ὄν, οὐσία) schlechthin ausgeht, die in ihrer physikalischen Präsenz (Aristoteles) beziehungsweise Repräsentation (Platon) dem Prinzip der Veränderung (µεταβολή) unterliegt, und diese Veränderung an die metaphysischen Instanzen der Notwendigkeit (ἀνάγκη) oder der Kontingenz (συµβεβηκός, τύχη, αὐτόµατον) koppelt, verschiebt man im 17. Jahrhundert den Fokus darauf, dass es bereits die mechanischen Tätigkeiten der Dinge an sich sind, die uns auch Auskunft über die Verfasstheit der selbigen geben können – wobei es dann möglichst wenige Grundgrößen sind, die eben dazu genügen sollen, Zustände, Prozesse und deren Ursachen universell beschreibbar zu machen. Daraus ergibt sich – worauf noch an verschiedenen Stellen einzugehen sein wird – nicht immer eine explizit-programmatische, aber doch signifikante Modifizierung vom antiken Essentialismus. Wo Platon die wahre Existenz der Dinge einzig in den Ideen verortet sah und Aristoteles die Seinsweise der Dinge als mehrstufig und von Gott als letztgültigem Anstoßgeber in Bewegung gesetzt auffasste, sucht die Frühe Neuzeit nach Bewegungs- und Existenzursachen in den Dingen der körperlichen Welt und leitet die mechanischen Gesetze aus ihnen ab. Es lässt sich infolgedessen von einer neuen Problematisierung des antiken Weltbildes, insbesondere der platonischen und peripatetischen Schulen sprechen. Auffällig ist hierbei, dass deren Geltungsansprüche nun nicht mehr im Rahmen ihrer geschlossenen – und historisch immer weiter gewachsenen – Systematiken virulent werden, sondern neue naturwissenschaftliche Konturierungen sowie einen Anschluss an die dynamische, das heißt vorwiegend mit Kräften argumentierende Naturphilosophie erfahren. In der Form am prominentesten und kunstvollsten zeigt sich dies wohl in Giordano Brunos (1548–
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Ergo age, comprende ubi sit Natura Deusque; Namque ibi sunt rerum causae, vis principiorum, Sors elementorum, edendarum semina rerum, Formae exemplares, activa potentia promens Omnia, substantis celebrataque nomine primi: Est quoque materies, passiva potentia substans, Consistens, adstans, veniens quasi semper in unum; Non minime tamquam adveniens formator ab alto Adstat, ab externis qui digerat atque figuret. 28
Das Lehrgedicht schließt in seinen hexametrischen Passagen stilistisch ganz an die Tradition an, die wir in Kapitel ii.3.a kennengelernt hatten. Inhaltlich verteidigt es die Möglichkeit einer gänzlich diesseitigen Ausformung der materiellen Welt gemäß der Kraft, die in den Prinzipien und Elementen liegt. Mag Bruno auch gemeinhin als Platoniker angesehen werden, 29 so ist hier doch die Ablehnung eines δηµιουργός, wie er von Platon wirkmächtig etwa im Timaios vertreten wurde, augenfällig. 30 Dies gelingt bei gleichzeitigem Aufrufen eines peripatetischen Potenzbegriffs (activa potentia; passiva potentia) sowie eines inneren Prinzips, das der körperlichen Welt selbst zuzukommen habe. 31 Dass die Phänomene der Wirklichkeit aufgrund der schieren Eigentätigkeit der Materie erfolgen, wird im Folgenden noch weiter ausgeführt: Prosa-Passagen wechseln sich in diesem Werk mit Passagen aus stichischen daktylischen Hexametern ab. 28 Bruno, De immenso et innumerabilibus, lib. VIII , cap. 10, 1–9: »Wohlan, vernimm also, wo sich Natur und Gott befinden. Denn dort sind die Ursachen der Dinge, die Kraft der Prinzipien, das Los der Elemente, die Samen der Dinge, die hervorzubringen sind, die beispielhaften Formen, das aktive Vermögen, das alles hervorbringt, das zu Recht unter dem Namen der ersten Substanz gerühmt wird: Auch gibt es Materie, ein passives, substistierendes Vermögen, beständig, dastehend, gleichsam stets auf Eines hinkommend; keineswegs tritt gleichsam ein Gestalter aus der Höhe hinzu und stellt sich dazu, der von außen lenken und gestalten könnte«. 29 Siehe beispielsweise passim bei Kirchhoff (41993). 30 Vgl. treffend hierzu Mahlmann-Bauer (2005), 142: »Brunos Kritik an der aristotelischen Bewegungslehre und Metaphysik erfolgt nicht im Namen Platons. Sein Spott richtet sich gegen jede dualistische Metaphysik. Auch für platonische Ideen als unveränderliche Urformen der sichtbaren veränderlichen Erscheinungen gibt es in Brunos materiegefülltem Kosmos keinen Platz; sie werden zur Erklärung von Bewegung und Veränderung nicht gebraucht«. 31 Auffällig ist hierbei das Spiel mit lukrezischem Vokabular (rerum causae; semina rerum). Das Ergo age wiederum greift Formeln wie Nunc age (Lucr., 1, 921; 2, 333; 2, 730 etc.) auf, die auf griechische Vorlagen wie »ἀλλ᾽ ἄγ[ε]« (Emp., DK 31 B 8, 8) rückzuführen sind. 27
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Atqui materies proprio e gremio omnia fundit: Interior siquidem natura ipse est fabrefactor, Ars vivens, virtus mira quae praedita mente est, Materiaeque suae dans actum non alienae, Non haerens, non discurrens, mediatur, at ex se Cuncta facit facile, velut ignis splendet et urit, Ut lux per totum diffunditur absque labore, Nec distracta meat, sed constans, una, quieta, Temperat, apponit, componit, distribuitque. 32
Die Fähigkeit zur Bewegung wird in letzter Instanz nicht einer bloßen Form, sondern der selbsttätigen Materie überantwortet. Ihr wird eine Wirkung (actus) aus sich selbst, ihrem eigenen Schoß (proprio e gremio) heraus attestiert. Diese Fähigkeit wird allerdings keineswegs, wie man vielleicht mit Blick auf die lukrezischen Anleihen vermuten könnte, 33 mit der Oberflächenstruktur von Korpuskeln, kleinster körperlicher Teilchen, begründet, sondern mit einer Innerlichkeit, die in der Natur selbst liege ([i]nterior [. . . ] natura). An der Naturphilosophie, die Bruno in De immenso et innumerabilibus vertritt, lässt sich exemplarisch ein aus der mittelalterlichen Scholastik noch weithin ungekanntes Dilemma ablesen: Die Antike sollte als philosophische und literarische Einflussgröße nach wie vor eine überragende Rolle spielen, die man in Ansehung ihrer monumentalen Leistungen nur schwerlich übergehen kann; jedoch sind diese Leistungen nicht mehr für sich allein genommen bewundernswert, sondern anhand der mechanistischen Theoreme neu zu hinterfragen und gegebenenfalls fortzuentwickeln. Diejenige Instanz, die sich gleichsam gegen all diese Schwierigkeiten stemmt und immer wieder Antworten hierauf findet, ist der Naturbegriff selbst: Denn die Antike hat – wie in den Kapiteln ii.1– 6 dargestellt – selbst in der Verschränkung philosophischer, poetologischer und rhetorischer Fragen valide und umfassende Naturbegriffe entwickelt, die
32 Bruno, De immenso et innumerabilibus, lib. VIII , cap. 10, 10–18: »Vielmehr gießt die Materie alles aus ihrem eigenen Schoß aus: Sofern ja die innere Natur ein selbständiger Werkmeister ist, als lebendige Kunst, als wunderbare Kraft, die mit Verstand ausgestattet ist und die ihrer eigenen, also keiner fremden Materie eine Wirkung verleiht, vermittelt sie nicht zögernd, nicht auseinanderlaufend, sondern bewirkt aus sich selbst mit Leichtigkeit alles; gleich dem Feuer leuchtet sie und brennt; wie das Licht verbreitet sie sich ohne äußere Mühe durch das All und fließt nicht in Teilen, sondern als beständige, einheitliche und ruhige mäßigt sie, fügt hinzu, fügt zusammen und hat [sc. alles] verteilt«. 33 Auch hier fällt wieder die Neigung zu lukrezischen Sprachspielen (facit facile) ins Auge. Die voranschreitenden, bisweilen die Spondeen rahmenden Daktylen (temperat, apponit, componit, distribuitque) zeigen zudem die Spannung zwischen Ruhe und schneller Bewegung an, die der Natur in ihren Operationen bei der Verteilung der Materie eingegeben ist.
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in der Lage sind, die einzelnen artes transdisziplinär zu durchdringen. Den Ausgangspunkt der nun folgenden Überlegungen bildet die Annahme, dass die Naturphilosophen des 17. Jahrhunderts spätestens ab der cartesischen Wende mitunter dadurch erst besonders produktiv werden können, dass sie sich zu den hergebrachten antiken Schulen im Sinne ihrer ›Neuzeitlichkeit‹ positionieren und durch ihre naturphilosophischen Weltbilder auch die artes ein weiteres Mal neu justieren. Es handelt sich um eine Entwicklung, die letztlich auch den Weg für die Etablierung neuer artes, wie etwa der ars aesthetica, zu ebnen vermag. In der zeitgenössischen Gewichtung kosmologischer, astronomischer und physikalischer Theoreme finden sich daher zugleich Aussagen über die zugrundeliegenden philosophischen Archive sowie deren Vernetzungskontexte angelegt. Derartige Positionierungen lassen dabei stets auch die zeitgenössischen naturphilosophischen Schulen in neuem Licht erscheinen und bringen sie bisweilen mit neuen Geltungsansprüchen über das Wesen des Kosmos und des Menschen in die jeweiligen Debatten ein. Aus einer solchen Grundeinstellung heraus ergeben sich dann wiederum diejenigen Konfigurationen, die als konstitutiv für die Geschichte der Naturphilosophie im Sinne ihrer Selbstreflexion anzusehen sind; sie lassen sich augenfällig in einem Bereich heute weitestgehend kanonisierter Autoren ausmachen, die zugleich als Antikenrezipienten wie als Wegbereiter, teils geradezu als Mitbegründer der frühneuzeitlichen Mechanik in Erscheinung treten. Auf dieses Spannungsverhältnis ist dementsprechend der Fokus zu legen, wenn man die Fortentwicklung der neuen Naturen im Auge behalten möchte – und zwar anhand derjenigen Protagonisten, die sich im 17. und 18. Jahrhundert in den Diskursfeldern zwischen antiker und frühneuzeitlicher Naturphilosophie bewegen Einen wichtigen Bezugspunkt für die genannten Entwicklungen stellt der französische Philosoph und Naturwissenschaftler Pierre Gassendi (1592–1655) dar. 34 Bei ihm lässt sich ein grundsätzlich materialistischer Ansatz zur Erklärung der Weltphänomene ausmachen, der sich im Rekurs auf die Antike vor allem auf Epikur beruft. Zudem begibt sich Gassendi in eine gewisse Abgrenzung zu Aristoteles. So widmen sich die Exercitationes paradoxicae adversus Aristoteleos (1649) insbesondere der Widerlegung zentraler Theoreme aus der aristotelischen Physik. 35 Das dritte Buch der Exercitationes wird dementsprechend im Vorwort als Ablehnung der aristotelischen Physik und im selben Atemzug wie ein Bekenntnis zum Atomismus epikureischer Provenienz angekündigt: »Buch iii ist der Vorlesung über Physik gewidmet. [. . . ] Hier wird das Vakuum in die 34 35
Zu Gassendis Philosophie vgl. umfassend Bloch (1971). Dies vor allem im fünften Buch, und dort in der Exercitatio V, 109–126.
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Natur der Dinge eingeführt – oder vielmehr zurückgeführt.« 36 Es geht im von Gassendi avisierten Buch um die Verteidigung der Existenz eines Leeren in der Natur, ein Theorem, das bekanntermaßen zu den wichtigsten Anliegen der Atomisten zählt, da durch den Gegensatz Atome / Leeres die räumliche Bewegung erklärt werden kann. Die Anspielung auf Lukrez, und damit auf den antiken Epikureismus, wird hier durch die angedachte Rückführung »in rerum Naturam« zum Ausdruck gebracht, das neben seiner wörtlichen Bedeutung zugleich den Werktitel De rerum natura bezeichnet. Gleichwohl wird das Leere hier nicht mehr – wie noch bei Lukrez – als inane, sondern – ganz in frühneuzeitlicher Prägung – als vacuum angeführt. 37 Der alte Gegensatz zwischen Aristotelismus und Epikureismus wird nun aber nicht so radikal vorgeführt, wie man vielleicht vermuten könnte. Denn mag Gassendi auch die peripatetische Philosophie programmatisch ablehnen, so begreift er sich doch als jemanden, der durch seine Exercitationes die eigentliche doctrina des Aristoteles unverfälscht wiedergibt und dadurch gewissermaßen wieder zurechtrückt. Denn nach seiner Meinung hätte sich der von seinen philosophischen Zeitgenossen vertretene Aristotelismus allzu weit von der ursprünglichen Lehre entfernt: Ich habe sie auch deswegen Exercitationes Paradoxicae betitelt, weil sie Paradoxa enthalten, beziehungsweise Meinungen gegen den Menschenverstand. Obschon ich die Menge hier nicht als eine von niederen Menschen verstehe (Denn was will der Esel mit der Lyra?), sondern als eine Philosophengemeinschaft, deren Verstandesanlage so grobschlächtig ist, dass sie, dem Volke gleich, die Barbarei bejubeln und, haben sie einmal ihre Meinungen im Vorhinein gefasst, etwas bekämpfen. Da ich indes sah, dass die Aristoteliker – sowohl hinsichtlich ihrer Anzahl als auch hinsichtlich ihrer Hartnäckigkeit – alle übrigen [sc. Philosophenschulen] bei weitem noch übertrafen, liegt der Grund tatsächlich nahe, warum ich mir einen Auftrag gegen die Aristoteliker gegeben habe. Sollte mich zufällig jemand fragen, warum ich es [sc. das Werk] gegen die Aristoteliker, nicht gegen Aristoteles betitelt habe, dessen Lehre ich unleugbar bekämpfe, so soll er wissen, dass ich am meisten durch drei Gründe dazu gebracht worden bin. 38 Gassendi, Exercitationes paradoxicae, praef., 16: »Liber III destinatur in Acroasin Physicam. [. . . ] Hîc Vacuum inducitur, reducitur-ve in rerum Naturam.« Kursivierung der Werktitel in der Übersetzung hier und im Folgenden: D. B. 37 Für einen allgemeinen Abriss der Rezeption Lukrez’ in der Frühen Neuzeit vgl. Erler (2009) und Albrecht (2013c), 31–55. 38 Gassendi, Exercitationes paradoxicae, praef., 13: »Hinc & Exercitationes inscripsi P ARADOXICAS, quòd Paradoxa contineant, seu opiniones præter vulgi captum. Quamquàm vulgus hîc intelligo non plebeiorum hominum (quid enim Asino cum lyra?) sed Philosophorum communium, quibus ingenium est ita vulgare, ut vulgi instar Barbariem inclament quicquid præconceptis 36
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Die im Folgenden von Gassendi genannten Gründe (argumenta) bestehen zum einen darin, dass er nicht glauben könne, dass »jene Werke [. . . ] von Aristoteles stammen, sondern aus der Meinung der Aristoteliker«, 39 insofern nämlich »Aristoteles ein zu großer Mann war, als dass man ihm derart unwürdige Werke zuschreiben müsste«; 40 zum anderen darin, dass »diese [sc. die Aristoteliker] nicht so sehr die Meinung Aristoteles' als ihre eigene und dem ausdrücklichen Geist des Aristoteles widersprechende Meinung oftmals verteidigen«, 41 und schließlich darin, dass »sie Kleinigkeiten und Nichtigkeiten tagelang aufhäufen, die Aristoteles nicht in den Sinn kommen konnten.« 42 Diesen Überlegungen zufolge stellen die Exercitationes paradoxerweise zugleich eine Invektive gegen die Peripatetiker wie auch ein Kompendium zu Aristoteles dar – der, wie Gassendi bemerkenswerterweise selbst anführt, nach wie vor als ein großer Mann (vir magnus) zu gelten habe; denn er gebe sich nicht mit Kleinigkeiten (quisquiliae) ab. 43 Gassendi streut demnach immer wieder Äußerungen ein, in denen die philosophische Valenz Aristoteles' eher bekräftigt denn widerlegt wird. Die Verfahrensweise Gassendis ist so polemisch wie doppelbödig. Sie vollzieht sich auf mehreren Ebenen, wenn etwa gesagt wird, die aristotelische Metaphysik besitze überhaupt nur wenige Teile, die von der Metaphysik handelten: So pflegen sie [sc. die Aristoteliker] wegen jenes [sc. Ausspruchs] gleich am Anfang der Metaphysik: Alle Menschen streben von Natur aus danach, [sc. etwas] zu wissen, über die Begierde im Allgemeinen, dann wiederum über die Wissenschaften im Allgemeinen, ebenso über die Sinne und über möglichst viele andere [sc. Gegenstände] zu diskutieren. Unnötig ist zu erwähnen, wie groß die Verwirrung schließlich ist, da weder irgendeine Ordnung von Aristoteles eingehalten wird noch in der gesamten Metaphysik Aristoteles' irgendetwas Metasemel opinionibus adversatur. Cùm autem viderem Aristoteleos & numero, & pertinaciâ cæteros omnes longè superare: ratio profecto in promptu est, cur negotium mihi sumpserim ADVERSUS ARISTOTELEOS. Quòdsi quispiam fortè ex me quærat, quamobrem inscripserim adversus Aristoteleos, non adversus Aristotelem, cujus tamen doctrinam videor ex-professo impugnare: noverit me potissimum tribus adductum argumentis«. 39 Ebd.: »opera illa [. . . ] esse Aristotelis, quàm ex opinione Aristoteleorum«. 40 Ebd.: »Maior quippe [. . . ] Aristoteles vir fuit, quàm ut ipsi adscribi debeant tam indigna opera«. 41 Ebd., 14: »isti non tam Aristotelis, quàm suam, & expressæ menti Aristotelis repugnantem sæpe defendant sententiam«. 42 Ebd.: »quisquilias, gerrásque quæstionum conglobent in dies, quæ Aristoteli in mentem non potuerunt occurrere«. 43 Die gleichzeitige Schelte an einem gewissen scholastischen Denken mit seiner in der Neuzeit als unzeitgemäß empfundenen Fokussierung auf quis / quid- und qualia-Fragen ist hierbei unüberhörbar.
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physisches behandelt wird – ausgenommen einige wenige Kapitel des zwölften Buches. 44
Der metaphysische Anspruch Aristoteles' wird zu einer Psychologie umgedeutet, unter bemerkenswerter Betonung der Sinnes- (de sensibus) und Strebevermögen (de appetitu). Hierüber sei nicht in Form von Gemeinplätzen (in genere), sondern anhand der Wirklichkeit selbst zu diskutieren. Die Stellung, die diesem philosophischen Amalgam aus Epikureismus und manchen aus der aristotelischen Seelenlehre bekannten Axiomen im Rahmen des gassendischen Programms zukommt, heben auch Carrier und Mittelstraß hervor. Sie betonen dabei den Konnex zwischen aristotelischer Psychologie und einer monistischmechanistischen Naturauffassung, der sich bei Gassendi in Form der oben beschriebenen Polemik ausmachen lässt: Epicurean explanations were to replace Aristotelian explanations not only in physics and physiology but also in psychology. However, this remains rather program than result in Gassendi. Seemingly animistic descriptions and a retention of Aristotelianism (especially in the conception of the soul) are linked abruptly to mechanistic theorems. What is clear is only to attempt pre-Cartesian notions of automatons with an atomistic (materialist) approach which tendentially favored monistic explanations in the treatment of the mind-bodyproblem. 45
Verbindet Gassendi in seiner Behandlung des Aristotelismus und des Epikureismus zwei in der Antike noch konträr gefasste Denkrichtungen, so opponiert er zugleich mit seinem atomistischen Materialismus, der sich recht unvermittelt im Epikureismus gründet, ja beide Richtungen – wie es in der Barockphilosophie ein durchaus verbreitetes Phänomen war – geradezu synonym fasst, 46 wiederum in ausdrücklicher Polemik gegen die hermetische Theosophie eines
44 Ebd., exerc. I , 19: »Sic initio statim Metaphysices, propter illud, omnes homines naturâ scire desiderant, disputare plærúmque [sic] solent de appetitu in genere, de scientiis rursus in genere, itémque de sensibus, aliisque quam plurimis. Nihil necesse est commemorare quanta sit deinceps confusio: cùm neque ullus ab Aristotele servetur ordo: neque in tota Aristotelis Metaphysica quidpoiam Metaphysicum tractetur, nisi paucis duodecimi [sic] libri exceptis capitibus«. Das von Gassendi herangezogene Zitat aus der Metaphysik entspricht der latinisierten Form von Aristot., metaph., 1, 1, 980a1: »Πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει«. 45 Carrier / Mittelstrass (1995), 28 f. 46 Zur historischen Genese dieser sich arg auf den Bereich der Naturphilosophie konzentrierenden Epikur-Rezeption, die mit nur wenigen Einschränkungen auf die basale Formel gebracht werden kann, Epikureismus sei nichts anderes als der Inbegriff einer Philosophie, die sich auf eine kontingent waltende, atomistisch erklärbare Materie zurückzieht, vgl. ausführlich Jones (1992).
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Robert Fludd (1574–1637) 47 sowie schließlich gegen Descartes persönlich. 48 Dessen Leistung, Geist und Materie substantiell zu trennen, muss aus einem streng monistischen Weltbild heraus gedacht höchst fragwürdig erscheinen. An Gassendi spiegeln sich daher paradigmatisch sowohl die antiken Reibungsmomente zwischen atomistischer und peripatetischer Philosophie als auch das frühneuzeitliche Substanzenproblem, wobei er selbst keinen Zweifel daran lässt, dass ein Ausweg einzig in einem rein mechanischen Weltbild zu suchen – und zu finden – sei. Demzufolge sei evident, dass keine Wirkung ohne Ursache existiert, dass keine Ursache ohne Bewegung wirkt und dass nichts auf einen entfernten Gegenstand wirkt, für den es nicht gegenwärtig ist, sei es durch sich selbst oder durch ein – entweder verbundenes oder übertragenes – Mittel. 49
So revolutionär die Reduktion der Welt auf mechanische Prinzipien auch anmutet, so wenig kommt sie ohne die philosophischen Systeme der Antike aus. Dass die bereits von den antiqui hochdifferenzierten Lehrmeinungen über dualistische, monistische und materialistische Weltbilder im 17. Jahrhundert nach wie vor eine mehr als partikulare Rolle spielen, gerade indem sie mit den Systemen eines Descartes, Leibniz und Newton kontrastiert werden, die in vielen Momenten bereits aus ihrem eigenen Anspruchsdenken heraus mit ihnen paradigmatisch operieren, kann auch ein über den Epikureismus hinausgehender, synoptisch geraffter Blick vermitteln. Blicken wir daher zunächst auf einige Beispiele für die Neujustierung der klassischen naturphilosophischen Grundhaltungen. So teilt Gassendi etwa seine monistische Grundauffassung mit Thomas Hobbes (1588–1679): Nach Hobbes ist in der Naturbetrachtung stets vom einfachsten auszugehen, was möglich erscheint; er findet dabei sein methodisches Vorbild in der Antike, namentlich in der euklidischen Geometrie als Verkörpe-
47 Vgl. die Epistolica exercitatio (1630) und darin insbesondere die einleitende Epistola Marin Mersennes – dem darüber hinaus das Werk als Ganzes gewidmet ist – an Nikolaus de Baugy, wo in der konzisen Rekonstruktion der theologischen Auseinandersetzungen zwischen Gassendi und Fludd die Hinweise auf die Unfrömmigkeiten (impietates) Robert Fludds geradezu immer weiter Überhand gewinnen (Gassendi, Epistolica exercitatio, 3–26). Auch in der folgenden, als zur Epistolica exercitatio zugehöriger Teil veröffentlichten Replik des Franciscus Lanoui (ebd., 27–33) fällt das Urteil über Fludd nicht eben günstiger aus. 48 Vgl. die programmatisch betitelten Disquisitiones Anticartesianae (1643) sowie die Disquisitio metaphysica (1644), die sich ebenfalls einer Widerlegung des cartesischen Weltbildes verschreibt. 49 Gassendi, Syntagma Philosophicum, vol. I , 450: »nullus effectus sine causa sit; ut nulla causa sine motu agat; ut nihil agat in rem distantem, seu cui non sit praesens vel per se vel per organum, aut coniunctum aut transmissum«.
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rung des reinen mos geometricus. 50 Hobbes' Zeitgenosse Joseph Glanvill (1636– 1680) versteht sich demgegenüber zunächst als ein Anhänger Descartes', entwickelt dann jedoch im Laufe seiner philosophischen Biographie zunehmend eine Affinität zu den Cambridge-Platonikern. 51 Der strenge Cartesianer Antoine Arnauld (1612–1694) tritt in dieser Konstellation wiederum als Figur in Erscheinung, die sich zunächst vom Okkasionalismus eines Nicolas Malebranche (1638–1715) abgrenzt und schließlich Leibniz' Discours de métaphysique (1686) in einem parallel zu dessen Produktionszeit stattfindenden Briefverkehr auf argumentative Schwachstellen überprüft. 52 Zur gleichen Zeit tritt Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757) als einer der letzten Cartesianer mit einiger Vehemenz gegen das zu dieser Zeit reüssierende newtonsche Weltbild auf; Jean-Pierre de Crousaz (1663–1750), der noch das antike Kunstideal von der Einheit in der Mannigfaltigkeit vertritt, nähert sich demgegenüber Newtons mechanischem Kraftbegriff an, indem er die Sprunghaftigkeit – durchaus im Sinne eines kontingenten Ereignismoments – an die Seite eines ästhetischen Einheitspostulats stellt. 53 Der materialistische Monismus eines Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), der sich selbst – darin Gassendi ähnlich – an den naturphilosophischen Kontext des barocken Epikureismus rückkoppelt, stuft die Seele wiederum ausschließlich als körperlich und durch die Sinne erfahrbar ein; er kann daher ebenso exemplarisch für den Aufstieg des Sensualismus stehen wie das mechanistische Menschenbild eines Claude Adrien Helvétius (1715–1771). Letzterer zeigt sich gleichwohl noch merklicher von der Vgl. zu diesem Paradigma, das Hobbes im Übrigen erheblich mit Descartes eint, Weiss (1992). Der menschliche Verstand soll diesem mos gemäß mit derselben methodischen Exaktheit vorgehen, wie sie die euklidische Geometrie einfordert. Dem hobbesschen Vorgehen nach kann erst das naturphilosophische Weltbild die anthropologischen Theoreme grundieren, wie wir sie umfassend in De homine (1658), aber auch bereits in den ersten Kapiteln des Leviathan (1651) formuliert finden. 51 Etwa in seiner Hinwendung zum Latitudinarismus, wie sie sich in der Philosophia pia, or a discourse (1671) ausgedrückt findet. Die Erforschung der Natur (insbesondere in ihren experimentellen Spielarten) und die Gottesfrömmigkeit werden dabei als Synthese gedacht – denn ebendies meint hier eine philosophia pia –, wobei Moral und Vernunft an mathematische Modelle gekoppelt werden und aufgrund der Dignität, die der Mathematik als einer Leitwissenschaft zu dieser Zeit allenthalben zugeschrieben wird, noch weiter affirmiert werden. Diese Disposition weist Glanvill gleichermaßen als Cambridge-Platoniker aus wie sie ihn in die theologische Nähe der Latitudinaristen rückt. Zu den wichtigsten Traditionslinien der philosophia pia (et perennis) von Ficino bis Johann Arndt vgl. die hervorragende Darstellung bei Neumann (2004), 16–73. 52 Dies wohl mit einigem Erfolg, denn es führte – nach Leibniz’ eigener und in diesem Fall durchaus nicht polemisch gemeinter Aussage – unter anderem zu einer präziseren Strukturierung seiner Theologie; vgl. Leibniz, Correspondance avec Arnauld, besonders die Lettres 5–12. 53 Vgl. dessen ästhetisches Hauptwerk Traité du beau (1712), insbesondere die in chap. 3 behandelte Kontroverse zur Subjektivität ästhetischer Eindrücke sowie dann vor allem die in chap. 9 diskutierten Stoßgesetze, in denen Schönheit (beauté) und Kraft (vertu) eng geführt werden – dies insbesondere anhand des Paradigmas des »aufmerksamen Geistes« (esprit attentif). 50
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englischen Philosophie, namentlich von der sinnlichen Imprägnationstheorie eines John Locke (1632–1704) beeinflusst. 54 Auch Paul Henri Thiry D'Holbach (1723–1789), der wie La Mettrie ebenfalls einen strikten Materialismus vertritt, diesen allerdings nicht mit kontingenten Kräften begründet, sondern ihm ein deterministisch anmutendes Bewegungsparadigma unterlegt, verfolgt ein monistisches, auf wenige Grundgrößen reduziertes Weltbild. Und schließlich lässt sich auch Franz Anton Mesmer (1734–1815), der im 18. Jahrhundert dazu antreten wird, den cartesischen Mechanizismus auf eine einzige Substanz zu reduzieren und dabei den daraus – durchaus ungewollt – resultierenden Anticartesianismus in Teilen aus den Desideraten der newtonschen Physik, insbesondere aus dessen hermetischer Theorie heraus bezieht, 55 noch in dieser dem Geist / Materie-Problem zugewandten philosophischen Tradition verorten. In solchen Konstellationen, die sich in gleichzeitiger Anlehnung an und Auseinandersetzung mit den Denksystemen eines Descartes, Leibniz und Newton formieren, werden jedoch nicht nur Geist und Materie, sondern auch immer wieder neue Spielarten von Kraft und Bewegung verhandelt. Sie werden dabei in häufiger Rekurrenz auf eine bald aktivisch, bald passivisch gedachte Materie diskutiert. 56 Findet man also in der Antike, und im Anschluss daran auch in der Scholastik, eine gewisse Menge an οὐσία/essentia-Zuschreibungen 57 vor, die den Naturbegriff in ein immer wieder neues Gleichgewicht zwischen menschlicher und göttlicher, zwischen technischer und natürlicher Sphäre brachten – und dadurch nicht zuletzt die Grundfragen für das philosophische Denken des Mittelalters stifteten –, so lässt sich demgegenüber spätestens mit Thomas Hobbes und Pierre Gassendi eine merkliche AufwerVgl. hierzu Voegelin (1999), 46–51. Zu den natur- und medizingeschichtlichen Einflüssen, die auf Mesmer wirkten und die von ihm ausgingen, vgl. ausführlich Kupsch (1985). Es erscheint in Ansehung dieser ziemlich komplexen Gemengelage ungerechtfertigt, dass Mesmer in der Rezeption des späteren 20. und frühen 21. Jahrhunderts häufig als Archeget eines bloßen Parapsychologismus und im schlimmsten Falle gar als ›Schein-Wissenschaftler‹ aufgefasst und bewertet wird. 56 Sich mechanisch zu verhalten, ist hier – im Anschluss an das oben genannte Begehren nach systematischer Reduziertheit – zunächst ganz schlicht auf den mathematisch-pragmatischen Umgang mit physikalischen Konzepten wie ›Trägheit‹, ›Bewegung‹, ›Schwere‹, ›Gewicht‹ etc. zu beziehen. Die bevorzugte ontische Größe, aus der sie hergeleitet werden, stellt – ausgehend von Gassendi und in Abgrenzung zum Aristotelismus und Platonismus – vermehrt die Materie selbst dar. Dass es dabei spätestens mit Descartes nicht bleiben muss, sondern die physikalische Mechanik vielmehr Umformungen durch und Ergänzungen um intellektualistische Elemente erfährt, wird an den entsprechenden Argumentationsstellen dieser Studie noch eine gesonderte Rolle spielen. 57 Hierunter sind – nicht unbedingt in Form eines Synkretismus, wie man ihn vielleicht noch bei den Thomisten ablesen konnte – sowohl Platons Ideenlehre als auch die sich am Bewegungsprinzip orientierende, dreistufige οὐσία-Hierarchie der peripatetischen Schultradition fassbar. 54 55
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tung des Materialismus sowie des Monismus in den unterschiedlichsten ontologischen Teilfragen erkennen – ohne dass diese Aufwertungen in eine plane Revitalisierung des Epikureismus oder des Stoizismus rückgeführt würden. 58 Monismus und Materialismus sind vielmehr als Denkschulen auffassbar, die sich in gleichem Maße den neuen naturwissenschaftlichen Prämissen zuwenden, wie sie auch ihre traditionsreiche Abkunft aus dem antiken Denken reflektieren (reducitur in Rerum naturam). Aus dieser Gemengelage, die zwischen den Spannungsfeldern von Geist und Materie, Kraft und Bewegung sowie von Antike und Früher Neuzeit besteht, lassen sich wesentliche Präliminarien zur Entwicklung der neuen poetologischen Leitdisziplin des 18. Jahrhunderts, der psychologischen Ästhetik gewinnen. Denn die Annahme von Seelenkräften und -vermögen stellt – wie wir in Teil ii der Studie sehen konnten – nicht nur eines der ersten Anliegen der antiken Psychologie dar, sondern legt ein profundes Verständnis von der Art und Weise offen, wie sich der Mensch zum Kosmos, zu sich selbst und schließlich auch zur Kunst positioniert; die Vermögenslehre bleibt somit ein zentraler und ideengeschichtlich nur schwer hintergehbarer Gegenstand der Ästhetik – erst recht, wenn diese, wie es Baumgarten noch vorschweben wird, in Entsprechung zum Erkenntnisvermögen in Form eines analogon rationis ausgearbeitet werden soll. Daher wird im Folgenden – nebst den bereits genannten Gesichtspunkten – prospektiv auch die Frage in den Blick genommen werden, unter welchen Voraussetzungen sich eine auf Wesenhaftigkeit und Idealität gründende Kunstauffassung, wie es im gängigen Antikenbild der Renaissance zu weiten Teilen verfochten wurde, zu einer vermögenspsychologisch argumentierenden und dabei die unteren Seelenteile, zuvorderst die Sinne und die Einbildungskraft, affirmierenden entwickeln konnte. Es ergeben sich im Zuge dessen zwei Hauptfragen bezüglich der Einforderungen des antiken Essentialismus – zum einen die Frage, wie eine vollständige Abkehr von den antiken Vorläufern, die nicht erst seit der Scholastik und zumal der Renaissance in vielerlei Hinsicht als mustergültig zu gelten haben, vermieden werden kann; denn die physis / natura-Auffassungen der Antike erscheinen nicht erst in historischer, sondern bereits in systematischer Sicht deutlich entfernt von den oben genannten, sich der mathematischen Methodik und der geometrischen Exaktheit verschreibenden Denksystemen Mag auch Gassendi philosophiegeschichtlich immer wieder als Epikureer durch und durch bezeichnet werden, so ist diese Zuschreibung zumindest arg verkürzt: In der Natur herrscht nach Gassendi keine Kontingenz, sondern eine von Gott gestiftete Harmonie vor – ein Gedanke, der dem Epikureismus so fremd ist wie nur irgend möglich. Die Gassendi vorschwebende Harmonie, die in der Welt herrsche, drückt sich indes in einem mechanistischen Weltbild aus – ein Grundgedanke, der selbst für neoplatonisch geprägte Weltbilder wie dasjenige Keplers eine wichtige Rolle spielen wird – worauf insbesondere in Kapitel III.1.c.β noch genauer einzugehen sein wird. 58
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eines Descartes, Newton und Leibniz. 59 Zum zweiten stellt sich die Frage, wie das Konzept einer metaphysischen Natur noch derartig mitgetragen werden kann, um in der Mitte des 18. Jahrhunderts tatsächlich noch von ›edler Einfalt und stiller Größe‹, von einem ›Wesen der Antike‹, einer ›reinen Natur der Alten‹ etc. sprechen zu können, den Naturbegriff also auf sämtliche antike Gattungen sehr eng zu beziehen, ohne dabei die Risiken einzugehen, entweder in eine von der Naturphilosophie im engeren Sinne entrückte Sphäre spekulativer Inhalte zu geraten oder – was für aufklärerische Ansprüche beinahe noch fataler wäre – in einen geistesgeschichtlichen Regress zu münden. Man hält daher, bei aller Künstlichkeit, die den mechanischen Kräften zugeschrieben wird und die durch den technikgeschichtlichen Fortschritt mit immer neuen Innovationen evident bestätigt wird, bei Kepler wie bei Descartes, bei Leibniz wie bei Newton, erstaunlich strikt an den zentrierenden Paradigmen der natura und der philosophia naturalis fest. Ein solches Vorgehen mag in seiner Insistenz auf den ersten Blick essentialistisch anmuten und dabei vielleicht sogar konservativ oder gar rückschrittlich erscheinen. Tatsächlich werden jedoch genau diese Tendenzen vermieden, denn die Annahme, derartige Konzepte stellten eine bloße Differenzierung nach der essentia dar, dass also jede Fortschreibung eines Naturbegriffs nur aus der Fortschreibung eines vorgängigen Essenzbegriffs gelänge, 60 hält keiner Überprüfung mit der Komplexität der neuen philosophischen Kontroversen und den daraus hervorgehenden Paradigmen stand. Ein Gegenmodell zu jenen klassischen Gleichungen ›Natur=Wesen‹ oder ›Natur=das Unveränderliche‹ oder eben ›Natur=Essenz‹ könnte daher etwa lauten: Die neuen Naturen sind keineswegs in planer Rückbesinnung auf, sondern in Progression aus der chiastischen Verschränkung der essentialistisch-antiken und der cartesianisch-neuzeitlichen Diskurse heraus zu denken. Wir finden auf Die mathematische Methode kann spätestens ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, namentlich im Zuge der großen Erfolge der Astronomie, zusehends als eine der Triebfedern für die Progression der Naturwissenschaften bezeichnet werden – eine disziplinäre Aufwertung, die sich vornehmlich in ihrem internen Spannungsfeld zwischen Geometrie und Arithmetik ausnimmt; vgl. Kondylis (22002), 59–118, Gaukroger (2010), 55–96 sowie die konzisen Studien von Whiteside (1960), Baker (1975) und Mancosu (1996). Da die Frage nach der Beschaffenheit der Natur stets in hohem Maße mit der zugrunde gelegten Erkenntnismethode enggeführt wird, wird auf die Situierung der Mathematik in der weiteren ideengeschichtlichen Betrachtung der Mechanik an verschiedenen Stellen Rücksicht genommen werden. 60 Vor allem im Sinne der quid est?-Frage beziehungsweise der quidditas. Die Einstufung einer Existenz im naturgemäßen Sinne (κατὰ φύσιν / katà phýsin) meint auch hier im Gegensatz zu ihrer akzidentellen Bestimmung (κατὰ συµβεβηκός / katà symbebe¯ kós) dasjenige, was einer Entität unveräußerlich, weil prinzipienhaft zukommt. Für den Begriffsstatus der quidditas selbst zeichnen sich in der Frühen Neuzeit tatsächlich vorwiegend die scholastischen Traditionen und dabei insbesondere spätscholastische Strömungen wie die Schule von Salamanca verantwortlich; vgl. etwa Leinkauf (2000). 59
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der einen Seite die Antike mit ihrem elaborierten Essenzbegriff vor, auf der anderen Seite die Frühe Neuzeit mit ihrem mechanistischen Weltbild. Wenn also die Antike in der Neuzeit Berücksichtigung finden soll und wenn die Frühe Neuzeit sich auf Augenhöhe zur Antike begeben soll, so muss sich die Substanz- an der Essenzlehre messen lassen sowie die Mechanik an der Naturlehre; umgekehrt muss sich aber auch der Essentialismus mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft auseinandersetzen beziehungsweise neue Antworten auf die mechanische Rolle finden, wie sie etwa der Materie zuteil wird. Aus dieser doppelten Verschränkung folgt daher auch ein doppeltes Maß an Neubewertungen. An diesem Punkt nun zeichnen sich im 17. Jahrhundert bedeutsame Linien der Kosmomechanik in Abgrenzung zu den hergebrachten neoplatonischen Dualismen ab, und das mit einer bestimmten Blickrichtung auf auch psychologische Dispositionen. Sie bestehen darin, dass die seelischen und kosmischen Vorgänge gerade in ihrer Reduktion auf die Prinzipien von Kraft und Bewegung umso vielseitigere Deutungsangebote für die menschliche Natur zeitigen; dass sie mehr noch dazu in der Lage sind, die historischen Sedimente aus Renaissance- und Barockphilosophie dahingehend zu transformieren, dass sich die Technik (τέχνη, ars), als Repräsentantin künstlicher Kräfte, und die Natur (φύσις, natura), als Repräsentantin natürlicher Kräfte, befördert durch den neuen Umfänglichkeitsanspruch des mechanistischen Denkens einander nicht mehr wechselseitig ausschließen. Sie berufen sich zunächst auf keinen eigenen ars-Status, der sie zu vollständigen Erklärern des Weltbildes machen würde, 61 sondern sorgen dafür, dass sie unter Billigung und Förderung einer fortschreitenden natura-Mehrdeutigkeit in neuen Verhältnissen zueinander justiert werden; ferner, dass sie Paradigmen und Modelle hervorbringen, die mit dem steten Fortschritt der Technikgeschichte mithalten können. Diese Leistungen erscheinen aus historischer Sicht umso erstaunlicher, wenn man Die artes mechanicae stellen zwar – vor allem von klösterlicher Seite – einen veritablen Versuch dar, die auf Technik beruhenden Künste in den Kanon der traditionellen artes zu etablieren; sie blieben aber in der Regel mit der Vorstellung einer schieren Handwerklichkeit verhaftet und wurden auf Berufsstände wie die Schmiede- (ars metallaria), die Jagd- (ars venatoria) oder die Kochkunst (ars coquinaria) beschränkt. Sie konnten, bei allen Bemühungen von Seiten der Klosterschulen, nicht in derselben Weise institutionalisiert werden wie die sieben artes liberales (ars grammatica, ars dicendi / rhetorica, ars dialectica [Trivium]; ars arithmetica, ars geometrica, ars astronomica, ars musica, [Quadrivium]); vgl. zu diesem Spannungsverhältnis Bacher (2000) sowie zu den mittelalterlichen Entwicklungsmustern vor allem Allard / Lusignan (1982) und Sternagel (1966). Noch bei Descartes wird von den arts mécaniques gelegentlich in diesem handwerklichen und durchaus pejorativ aufzufassenden Sinne gesprochen. Für die Unterschiedlichkeit ihrer Stellenwerte ist zudem bezeichnend, dass es mit der Geometrie, der Astronomie und der Mathematik gerade Disziplinen aus den artes liberales waren, die zur Sublimierung der Mechanik bis zu ihrem Status einer vollwertigen Naturphilosophie bereits ab dem 15. Jahrhundert herangezogen wurden. 61
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bedenkt, dass die Mechanik in den Dimensionen der hergebrachten Naturkonzepte, das heißt: im platonischen oder peripatetischen Sinne, zunächst sehr wenige Begünstigungen zu erwarten hatte.
1.b. Zur Ausgangslage der Mechanik 1.b.α. Mechanische Probleme zwischen (Ps.-)Aristoteles und Archimedes
Noch 1577 konnte Guidobaldo del Monte (1545–1607) im Vorwort seines vielbeachteten Mechanicorum Liber folgende kategorische Aussage tätigen: Sie [sc. die Mechanik] bringt freilich nicht nur die Geometrie zur Vollendung und Vervollkommnung (wie Pappos bezeugt), sondern sie hat auch die Herrschaft über die physischen Dinge inne, da sie ja allem, was von Zimmerleuten, Baumeistern, Lastenträgern, Bauern, Schiffsleuten und zahlreichen anderen (auch gegen die Gesetze der Natur) geleistet wird, ihren Beistand verleiht. 62
Del Monte bemüht hier eine Auffassung, nach der die Mechanik einerseits als die höchste Stufe der Geometrie anzusetzen sei, sich andererseits aber durch Naturwidrigkeit (repugnantibus naturæ legibus) auszeichne; zudem wird sie von eher niedrigen Berufsständen aus den Bereichen des Handwerks, der Agrarwirtschaft und der Nautik vertreten. Es handelt sich um eine auf mehreren Ebenen differenzierte Aussage, aus der sich für die Mechanik ein Moment der wissenschaftlichen Nobilitierung (ausgehend von ihrem Verhältnis zur Geometrie), eine soziale Inferiorisierung (anhand der Aufzählung ihrer prototypischen Berufsvertreter) sowie ein indifferentes, bisweilen gar negativ auszulegendes Moment (in ihrem Verhältnis zur Natur) ergeben. An diesen –
Del Monte, Mechanicorum Liber, praef., 1 f.: »[Q]uae quidem non solum geometriam (ut Pappus testatur) absolvit, & perficit; verum etiam & phisicarum rerum imperium habet: quandoquidem quodcunque Fabris, Architectis, Baiulis, Agricolis, Nautis, & quam plurimis alijs (repugnantibus naturæ legibus) opitulatur«. Die Erwähnung des spätantiken Mathematikers Pappos von Alexandria spielt auf dessen Hauptwerk Mathematicae collectiones (erste Hälfte des vierten Jahrhunderts) an. Dessen erste lateinische Übersetzung wurde in den 1570er Jahren bereits von Federico Commandino angefertigt und von Del Monte dann 1588 herausgegeben. Del Monte selbst war, als Schüler Commandinos, in den Entstehungsprozess dieser Übersetzung mit hoher Wahrscheinlichkeit eingebunden. Da Pappos wiederum – seinem eigenen Selbstverständnis nach – der archimedischen Mathematik-Tradition angehörte, eignet sich dieser Verweis außerordentlich gut, um sich selbst im 16. Jahrhundert noch – wie es Del Monte im Mechanicorum Liber auch insgesamt vorschwebt – in die von Archimedes energisch eingeforderten Prinzipien mathematischer Strenge einzuschreiben. 62
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durchaus in apodiktischem Ton vorgetragenen – Punkten interessiert uns zunächst der letztgenannte: Die Prämisse, die zu Del Montes Auffassung führt, besteht offenkundig darin, dass die Mechanik nach Gesetzmäßigkeiten funktioniere, die nicht notwendig naturgemäß sein müssen. Dass beide Größen, die Mechanik und die Natur, doch einmal in eins fallen, liegt demnach zwar durchaus im Bereich des Möglichen, ist aber keinesfalls als zwingend einzustufen; mehr noch: Die Mechanik sei für ihre Leistungen gerade deswegen zu loben, weil sie die souveräne Fähigkeit besitze, sich entweder »gegen die Natur [zu richten] oder deren Gesetze nach[zu]ahme[n].« 63 Es liegt somit noch ein distinkter Naturbegriff zugrunde, demzufolge natürlich in Gang gesetzte Prozesse (das Wachstum einer Pflanze, der Strom eines Flusses, der Ausbruch eines Vulkans etc.) von künstlichen Bewegungen (das Umlegen eines Hebels, das Einsetzen einer Waage etc.) zu scheiden sind – und zwar so, wie es ein Naturphilosoph schon »früher von Aristoteles lernen konnte.« 64 Diese Anspielung richtet sich prägnant auf Aussagen aus den Problemata mechanica, die im 16. Jahrhundert noch dem Corpus Aristotelicum angehörten, mithin noch nicht als pseudo-aristotelische Schrift galten. Vielmehr erlangten sie in dieser Zeit einen zuvor ungekannten Stellenwert. 65 Es geht im von Del Monte aufgeworfenen Sinn vor allem um Aussagen der Art, dass Del Monte, Mechanicorum Liber, praef., 2.: »adversus naturam vel eiusdem êmulata leges«. Ebd.: »prius ab Aristotele didicerit«. 65 Zwar kursierten bereits im Mittelalter in überschaubarer Zahl griechisch- und lateinischsprachige Ausgaben der Problemata mechanica; allerdings wurden – wie unter anderem Capecchi (2012), 91 f. ausführt – diese in nur geringem Maß zur intellektuellen Kenntnis genommen. Den Durchbruch dieser Schrift für die Renaissance stellt zweifelsohne die lateinischsprachige Übersetzung 1525 von Niccolò Tomeo (1456–1531) dar, insbesondere deren zweite Auflage von 1530. Sie kursierte vor allem in den Gelehrtenkreisen, die Zugang zu den größeren europäischen Bibliotheken besaßen. Obschon im 16. Jahrhundert über die Bibliotheksbestände weithin verbreitet, erfolgte die Publikation der Problemata mechanica im Sinne einer allgemein zugänglichen Ausgabe erst im Jahr 1613 auf Grundlage der Arbeiten von Maurolico (1494–1575). Dieser hatte gemeinsam mit seinem Schüler Guiseppe Moletti (1531–1588) – dessen unvollendetes Hauptwerk Dialogo intorno alla meccanica sich selbst von den pseudo-aristotelischen Theoremen stark inspiriert zeigt – in genau der Zeit eng zusammengearbeitet, in der Del Montes Mechanicorum Liber publiziert wurde. Alle drei waren wiederum über den Mathematikerkreis um Federico Commandino und Guidobaldo del Monte eng miteinander bekannt; vgl. hierzu Rose (1975) und Jaumann (2004), s. v. »Federico Commandino«, 192 f. Inwiefern hieraus nun eine wechselseitige Einflussnahme resultierte, kann nicht en détail nachgezeichnet werden und muss zu einem gewissen Teil im Modus der Mutmaßung bleiben; eine produktive Einflussnahme erscheint aber alles andere als unwahrscheinlich. In jedem Fall bemerkenswert ist die enorme Wertschätzung, die der pseudo-aristotelischen Mechanik bei Commandino, Del Monte, Tomeo, Maurolico und Moretti zwischen (mindestens) 1577 und 1613 zukommt. Das betrifft ganz besonders ihre lateinischen Übersetzungen, insofern selbst in Gelehrtenkreisen profunde Kenntnisse im Altgriechischen und somit ein Verständnis des ›Originals‹ nicht unbedingt vorausgesetzt werden konnten. Eine Auflistung der lateinischsprachigen Editionen und Kommentierungen der Problemata mechanica im 16. und frühen 17. Jahrhundert bietet Capecchi 63
64
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wenn es denn nötig ist, etwas gegen die Natur zu vollführen, es wegen seiner Feindseligkeit [sc. gegenüber der Natur] eine Schwierigkeit bereithält und einer Kunstfertigkeit bedarf; daher nennen wir auch den Teil der Kunstfertigkeit, der bei derartigen Schwierigkeiten zur Hilfe kommt, die Mechanik. 66
Der Mensch sieht sich demnach bei der Bewältigung seines Lebens bisweilen Aufgaben gegenübergestellt, bei denen er sich nicht gänzlich auf die Natur verlassen kann. Was er dann vollführt, geschieht mithin nicht im Sinne der Natur, sondern explizit gegen diese gerichtet (παρὰ φύσιν). Und damit ist auch diejenige Auffassung von Mechanik benannt, die bei Del Monte zugrunde liegt. Ihr Status erweist sich bei (Ps-)Aristoteles wie bei Del Monte als ein nichtnaturgemäßer. Vielmehr tritt ihr Wert umso deutlicher hervor, je mehr ihre Eigenständigkeit anhand von Tätigkeiten außerhalb des Bereichs des naturgemäß Notwendigen hinaus bezeugt wird. Es geht mehr um den Nutzen (τὸ συµφέρον), den sie für den Menschen bedeutet, 67 und dieser unterliegt eben der Akzidenz, insofern er sich – je nach situativem Erfordernis – ja fortwährend ändern kann. Die Mechanik vollzieht somit die Naturgesetze nach, bedient sich gleichsam ihrer, um für den Menschen nützliche Dinge zu vollführen, und ist in ihrem ganzen Zuschnitt dennoch ganz und gar nicht ›natürlich‹ zu nennen. 68 Die nach Aristoteles zweite antike Bezugsgröße, die im Mechanicorum Liber eingeführt wird und sich zudem im gesamten Werk topisch wiederfindet, stellt nun Archimedes dar: Indes ist noch vollmundiger vor allen [sc. anderen] Mathematikern einzig Archimedes zu loben, von dem Gott wollte, dass er in der Mechanik gleichsam
(2012), 94, wobei dort nicht zwischen den bloßen Bibliotheksbeständen und den frei verfügbaren Textausgaben unterschieden wird. 66 Aristot., mech., 847a10 f.: »ὅταν οὖν δέῃ τι παρὰ φύσιν πρᾶξαι, διὰ τὸ χαλεπὸν ἀπορίαν παρέχει καὶ δεῖται τέχνης. διὸ καὶ καλοῦµεν τέχνης τὸ πρὸς τὰς τοιαύτας ἀπορίας βοηθοῦν µέρος µηχανήν«. 67 So zählen zu den Dingen, die man neben den natürlich hervorgebrachten bewundern dürfe, ausdrücklich diejenigen, »die durch eine Kunstfertigkeit zum Nutzen für die Menschen hervorgebracht werden.« (ebd., 847a5 f.: »ὃσα γίνεται διὰ τέχνην πρός τὸ συµφέρον τοῖς ἀνθρώποις.«). 68 Vgl. die Anspielung auf eine Sentenz des Dichters Antiphon ebd., 847a12: »καθάπερ γὰρ ἐποίησεν Α ᾿ ντιφῶν ὁ ποιητής, οὕτω καὶ ἔχει· τέχνῃ κρατοῦµεν, ὧν φύσει νικώµεθα.« (»Wie es der Dichter Antiphon formuliert hat, so verhält es sich auch: ›Mit der Kunstfertigkeit bewältigen wir dasjenige, worin wir kraft unserer Natur unterlegen sind.‹«) In Del Montes Wendung imperium habere spiegelt sich das τέχνῃ κρατοῦµεν aus dem Zitat Antiphons wider, allerdings durchaus in ausgeweiteter Form: Es geht nicht mehr ›nur‹ darum, in einem bestimmten Moment eine bestimmte Aufgabe zu bewältigen; vielmehr hat die Mechanik geradezu eine dauerhafte Herrschaft über die Dinge der physischen Welt inne.
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ein einzigartiges Ideal darstelle, dem nachzueifern sich alle vornahmen, die sich dieser [sc. mechanischen Wissenschaft] befleißigten. 69
Somit wird bereits im Vorwort bei Del Monte eine Gliederung der leges naturae und der leges mechanicae vorgenommen, die sich ontologisch bestenfalls potentiell zu überschneiden wissen; und diese Gliederung wird im Bereich der maschinellen Kräfte nochmals auf Grundlage einer Trennung von Statik und Dynamik vollzogen, die dann auch im gesamten Werk strikt aufrechterhalten wird; die Trennung spiegelt sich zudem wider in der gesonderten Referenz auf die antiken Referenzgrößen Archimedes (Statik) und Aristoteles (Dynamik). Archimedes – der bereits im Vorwort noch vollmundiger (pleniore ore) als alle seine Konkurrenten zu loben sei – wird im Laufe des Werkes gleichsam die Überhand gegenüber dem (Ps.-)Aristotelismus gewinnen, und dies im weitreichenden Sinne einer »full application of Archimedean statics«. 70 Hieraus lässt sich ableiten: Indem ein antiker Mathematiker emphatisch als einzigartiges Ideal (idea singularis) für ein Buch über statische Gesetze angeführt wird, kann auch die Mathematik ohne große Umwege zu einem Ideal der Mechanik verklärt werden – eine Rollenzuweisung, die man mit einigem Recht als typisch für die Renaissance-Philosophie bezeichnet hat. 71 Diese Bezugsebene bleibt für den weiteren Verlauf der Wissenschaftsgeschichte maßgeblich: In den folgenden Jahrzehnten wird sich – vor allem mit mathematischen, nicht so sehr rein mechanistischen Argumenten – Joseph Justus Scaliger (1540–1609) gegen Anhänger des Archimedes wie Del Monte wenden, 72 was dann wiederum Adriaan van Roomen (1561–1615) zu einer Apologia pro Archimede (1597) veranlassen wird. Diese Apologia zeigt sich schließlich »nicht nur der Ehrenrettung Archimedes', sondern auch der notwendigen Verbindung von Geometrie und Arithmetik« 73 verpflichtet. Del Montes Mechanicorum Liber bildet somit, wenn auch ungewollt, den Ausgangspunkt für Kontroversen, die sich um 1600 Del Monte, Mechanicorum Liber, praef., 5: »sed prae omnibus mathematicis unus Archimedes ore laudandus est pleniore, quem voluit Deus in mechanicis velut ideam singularem esse, quam omnes earum studiosi ad imitandum sibi proponerent«. 70 Laird (2000), 39. 71 Vgl. etwa Koetsier (2010), besonders prägnant 86–88 und 110. In Bezug auf die im 16. Jahrhundert forcierte Archimedes-Rezeption hat sich im anglo-amerikanischen Raum gar der Terminus der Archimedean Renaissance etabliert; Koetsier weist in diesem Zusammenhang eine ideengeschichtliche Mittelstellung Del Montes zwischen den Archimedes-Anhängern Federico Commandino (1509–1575) und Simon Stevin (1548–1620) nach. 72 Vgl. vor allem dessen Cyclometria Elementa Dua (1594), worin er sich zwar als grundsätzlicher Bewunderer des archimedischen ingenium ausgibt, diesen jedoch zugleich aufgrund dessen vorgeblich allzu arithmetisch anmutenden Mathematikverständnisses kritisiert, wie Achermann (2015), 40 f. anführt. 73 Ebd., 41. 69
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über eine methodische Justierung entfalten, welche sich zuvorderst auf Figuren und Zahlen zu gründen habe. Geometrie und Zahlenlehre stellen in diesem Sinn die wichtigsten Applikationsfelder der Diskussionen um die Naturgemäßheit oder eben -feindlichkeit der Mechanik dar. In dieser Verschwisterung zweier mathematischer Teildisziplinen handelt es sich um eine Entscheidung, die – wie an späterer Stelle noch genauer auszuführen sein wird – auf das methodologische Grundverständnis eines Descartes vorausweist. Dort wird sie jedoch zu einem ganz anderen Schluss, nämlich zu einer Mechanisierung des Naturbegriffs führen. Dass das zwischen der natura und der (ars) mechanica aufgebaute Spannungsfeld zunächst noch für weitere Jahrzehnte einen erfolgreichen Schematismus bilden konnte, zeigt sich nicht nur an den oben diskutierten Beispielen, sondern auch und besonders eindrücklich an der Behandlung, die Aristoteles bei Bernardino Baldi (1533–1617) zukommt. Demselben Mathematikerkreis um Guidobaldo del Monte und Federico Commandino angehörend, befasste sich Baldi mit sehr unterschiedlichen Wissensbereichen, besonders intensiv jedoch mit der Mathematik und Mechanik. 74 Mit Blick auf seine In Mechanica Aristotelis problemata Exercitationes, die postum 1621 veröffentlicht wurden, lässt sich eine Konstante ersehen, die für das frühe 17. Jahrhundert maßgeblichen Bestand hat. Denn auch den Exercitationes Baldis zufolge sei es zum Wesen der Mechanik zu zählen, dass sie »entweder der Natur selbst folgt oder sie übertrifft.« 75 Dabei vollführe sie, mehr noch, geradezu »wunderbare Dinge«. 76 Es handelt sich um eine Bestimmung, die wir in ihrem grundlegenden Zuschnitt bereits bei Del Monte ersehen konnten, dort mit Aristoteles und Archimedes als den Struktur verleihenden Referenzfiguren bei gleichzeitiger Lobpreisung Pappos'. In diesem Feld bewegt sich nun auch die programmatische Ausrichtung der Exercitationes Baldis, insofern [w]ir anhand dieser Definition beziehungsweise Beschreibung recht genau all dasjenige aufgenommen haben, was am umfassendsten von Guidobaldo [sc. del 74 Zur Rolle Baldis in der komplexen Gemengelage des Wissenschaftsbetriebs in der Spätrenaissance vgl. ausführlich Ferraro (2008). 75 Baldi, In mechanicam Aristotelis problemata Exercitationes, 1: »Naturam ipsam vel secundans, vel superans«. Dass diese Bestimmung gleich zu Beginn des Hauptteils in einer Sektion untergebracht wird, die mit »Beschreibung, Wesen und Zweck der Mechanik« (ebd.: »Mechanices descriptio, natura, finis«) betitelt ist, birgt eine gewisse Ironie: Es handelt sich um ein luzides Beispiel für die Ambiguität, die dem Naturbegriff im 17. Jahrhundert in immer höherem Maße zukommt – namentlich im Spannungsfeld der Natur als Essenz (essentia) und als Daseinsbereich der diesseitigen Welt (natura naturata). Eine schulmeisterliche Strenge vorausgesetzt, ließe sich hier unterstellen, der Verfasser vertrete die scheinbar widersprüchliche Auffassung, dass es zur natura der Mechanik zu zählen sei, sich bisweilen gegen die natura zu richten. 76 Ebd: »mirabilia«.
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Monte], Pappos und Aristoteles sowie anderen hinsichtlich dieses Gegenstandes [sc. der Mechanik] überliefert worden ist. 77
Hier wird, knapp 50 Jahre nach Veröffentlichung des Mechanicorum Liber, Del Monte auf eine Ebene mit den antiken Autoritäten Aristoteles und Pappos gebracht, so dass sich in deren Behandlung von Mathematik und Mechanik Antike und Frühe Neuzeit in trauter Einigkeit versammelt sehen – ein Umstand, der umso mehr gilt, wenn es um Fragen nach der Natürlichkeit und Unnatürlichkeit beider Disziplinen, derjenigen der Naturphilosophie und derjenigen der Mechanik, geht. Dieses Phänomen soll sich noch als typisch für die gesamten 1620er Jahre erweisen: So finden wir denselben Grundgedanken zur vermeintlichen Natur-Unverträglichkeit der Mechanik auch bei Giovanni de Guevara (1561–1641), der sich wiederum in einem engen fachwissenschaftlichen Kontakt mit Bernardino Baldi befand, in seiner kommentierenden Übersetzung In Aristotelis Mechanicas Commentarij (1627). 78 Gleichwohl verleiht De Guevara der Mechanik bereits eine über Del Monte und Baldi hinausgehende Nuance: Er setzt sie zwar auch in einen strikten Gegensatz zur natura, erkennt dabei jedoch ihren unzweifelhaften Status einer ars an und – was alles andere als selbstverständlich erscheint – gesteht ihr gar Wesensmerkmale einer scientia zu. Zur Begründung dieser Haltung werden Pappos und Aristoteles Seite an Seite gestellt. So heißt es in der Additio tertia, die De Guevara den Problemata mechanica beifügt: Daher wird erstens zu sagen sein, dass die mechanische Fähigkeit wahrhaftig und angemessenerweise eine Kunst ist, so wie es in diesem Buch und im [sc. hier] ausgebreiteten Text von Aristoteles angenommen wird. [. . . ] Zweitens ist zu sagen, dass ebendiese mechanische Fähigkeit wahrhaftig und auf angemessene Weise eine Wissenschaft ist und [sc. eine solche] genannt werden kann. Das, was Aristoteles an der angeführten Stelle der Metaphysik implizit lehrt, während er auf diese Weise unter der Bezeichnung einer Kunstfertigkeit über diese Fähigkeit und die Medizin spricht und sagt, dass dieser Grund der Wissenschaft mit ihr wetteifere und dass insbesondere die Architekten (die selbstverständlich Mechaniker sind) ehrenhafter und gelehrter sind als diejenigen, die mit ihren Händen einzig aus Gewohnheit und Erfahrung arbeiten; da sie ja (so sagt er) die Ursachen derjenigen Dinge, die geschehen, kennen und es Ebd: »Hac diffinitione [sic] descriptioneve breviter ea fere omnia complexi sumus, quæ fusissime ab Aristotele, Pappo, Guido Ubaldo, & alijs hac de re tradita fuêre«. 78 Die vielleicht etwas ungewöhnlich anmutende Schreibweise Commentarij statt Commentarii findet sich nicht nur bei De Guevara, sondern auch bei anderen Schriftstellern dieser Zeit, darunter auch den bereits behandelten Del Monte und Baldi. Sie setzt sich in den Werken selbst (wenn etwa alij statt alii steht) fort. 77
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ein Kennzeichen eines Wissenden ist, sie unterrichten zu können. Daher nennt Pappos die Mechanik zugleich eine Wissenschaft und eine Kunstfertigkeit. 79
Die Anführung einer facultas mechanica, die – je nach Perspektive – als ars oder als scientia auszulegen sei, fügt sich in den Beschreibungshorizont einer wissenschaftlichen Tätigkeit ein. Auch die im Titel enthaltene Zuordnung In Mechanicas (anstelle von in Mechanica) legt nahe, artes (anstelle von problemata) zu ergänzen. Die anzitierte Pappos-Aussage wiederum rekurriert auf dessen mathematisches Hauptwerk, die Collectiones mathematicorum. 80 Das enge Band zwischen Mechanik und Mathematik bleibt also unzweifelhaft bestehen, bei gleichzeitiger Betonung der neuen Tauglichkeit der Mechanik als einer sich mit menschlichen Fertigkeiten beschäftigenden Wissenschaft. Die Begründung, auf die sich De Guevara in seiner Rangerhöhung der Mechanik zuvorderst bezieht, ist eine dezidiert metaphysische; sie lässt sich bestimmten Äußerungen zum Verhältnis von Kunstfertigkeit und Wissenschaft in der aristotelischen Metaphysik zuordnen. De Guevara bezieht sich hierbei grob auf das erste Kapitel des ersten Buchs 81 und hat dabei offenbar Passagen wie die folgende im Blick: Denn nicht einen Menschen [sc. überhaupt] heilt der Heilende, sondern Kallias oder Sokrates oder jemanden von den anderen, die derart bestimmt werden, dass es ihnen zukomme, ein Mensch zu sein. [. . . ] Überhaupt besteht ein [sc. Unterscheidungs-]Merkmal des Wissenden und des Nicht-Wissenden in der Fähigkeit des Unterrichtens, und darum glauben wir, dass die Kunstfertigkeit eher eine Wissenschaft ist als die Erfahrung. Sie [sc. die Kunstfertigen] nämlich können unterrichten, die anderen [sc. die Erfahrenen] aber können es nicht. Ferner glauben wir, dass von den Sinnen keine Weisheit herrühre; dennoch sind De Guevara, In Aristotelis Mechanicas Commentarij, Additio tertia, 13: »Ex quibus primò dicendum erit, mechanicam facultatem verè & propriè esse artem, prout in hoc libello, & in explicato textu assumitur ab Aristotele. [. . . ] Secundò dicendum est, eandem facultatem mechanicam verè etiam ac propriè esse ac vocari posse scientiam. Id quod implicitè docet Aristoteles loco citato metaphisices, dum eodem pacto sub nomine artis, de hac facultate ac de medicina loquitur, eisq[ue] competere ait rationem scientiæ; & in specie Architectos (qui sanè mechanici sunt) honorabiliores, & doctiores esse ait ijs qui manibus propter solam consuetudinem & experientiam operantur: quoniam (inquit) causas eorum quæ fiunt, sciunt; & signum scientis est posse docere. Unde Pappus Mechanicam scientiam simul & artem appellat.« (Kursivierung in der Übersetzung: D. B.). 80 Vgl. Papp., Coll. math., 8. 81 Vgl. De Guevara, In Aristotelis Mechanicas Commentarij, Additio tertia, 12: »Nihilominus I . Metaphisices cap. I idem Philosophus artem videtur confundere cum scientia saltem practica.« (»Nichtsdestoweniger scheint im ersten Kapitel des ersten Buchs der Metaphysik der Philosoph ebenso eine Kunst zusammen mit einer zumindest praktischen Wissenschaft zu vermischen«; Kursivierung in der Übersetzung: D. B.) Mit philosophus ist natürlich, ganz in mittelalterlicher Tradition, ausschließlich Aristoteles gemeint. 79
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diese die vorzüglichsten Erkenntnisquellen derjenigen Dinge, die im Einzelnen zu betrachten sind. Aber sie [sc. die Sinne] sagen nichts über das Warum, zum Beispiel warum das Feuer warm ist, sondern nur, dass das Feuer warm ist. Wahrlich ist es angemessen, dass derjenige, der neben den allgemeinen Sinneswahrnehmungen zuerst eine Kunstfertigkeit erfand, nicht nur deswegen von den Menschen bewundert wird, weil etwas von dem Erfundenen nützlich ist, sondern weil er weise war und sich vor den anderen auszeichnete. 82
Der Aufstieg der Mechanik wird also über die antike Mathematik, namentlich Archimedes und Pappos, sowie über die antike Philosophie, namentlich Aristoteles, vollzogen. Dass sich ein derartiger Schulterschluss nicht von selbst versteht, sondern etwas Überzeugungsarbeit benötigt, zwingt De Guevara dazu, es aus demjenigen zu ziehen, was Aristoteles unterschwellig sage (quod implicitè docet). De Guevara stellt damit nicht nur seine eigene interpretatorische Leistung aus, sondern zeigt auch an, dass sich die Mechanik zu ihrer Legitimierung auf die artes-Lehre – und dabei vor allem auf die antike Metaphysik – verlassen könne – selbst wenn dies nicht für jedermann mühelos einzusehen sei. Die Instanz, die über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ars entscheidet, ist somit, auch bezogen auf die Mechanik, die Metaphysik. Anders gewendet, sind die Problemata mechanica verantwortlich für eine Beschreibung der Künste, die aus der Handwerkskunst hervorgehen; die legitimierende Instanz für eine Ursachenlehre derartiger Künste bleibt aber die Metaphysik. Ebenso sind die Physik und die Problemata mechanica – beides Schriften, die sich mit der physikalischen Wirklichkeit befassen – vollwertige Mitglieder im Bereich der freien Künste; und sie sind, wenigstens für das 16. und das frühe 17. Jahrhundert, ganz und gar aristotelisch. Soweit der erste Befund zum Stellenwert der Mechanik. Dafür, dass jene von Del Monte so facettenreich eingeführte, von Baldi weiterhin prominent vertretene und von De Guevara noch weiter verfeinerte Trennung zwischen unnatürlichen und natürlichen Kräften nun nicht unbedingt so bestehen bleiben muss, dass sich vielmehr die Sphären der natura und der ars mechanica einander zusehends annähern, sorgt eine bestimmte Entwicklung, die bereits Aristot., metaph., 1, 1, 981a18–981b17: »οὐ γὰρ ἄνθρωπον ὑγιάζει ὁ ἰατρεύων, ἀλλ᾽ ἢ κατὰ συµβεβηκός, ἀλλὰ Καλλίαν ἢ Σωκράτην, ἢ τῶν ἄλλων τινὰ τῶν οὕτω λεγοµνέων ᾧ συµβέβηκεν ἀνθρώπῳ εἶναι· [. . . ] ὅλως τε σηµεῖον τοῦ εἰδότος καὶ µὴ εἰδότος τὸ δύνασθαι διδάσκειν ἐστίν, καὶ διὰ τοῦτο τὴν τέχνην τῆς ἐµπειρίας ἡγούµεθα µᾶλλον ἐπιστήµην εἶναι. δύνανται γὰρ, οἱ δὲ οὐ δύνανται διδασκειν. ἔτι δὲ τῶν αἰσθήσεων οὐδεµίαν ἡγούµεθα εἶναι σοφίαν. καίτοι κυριώταταί γ᾽ εἰσὶν αὖται τῶν καθ᾽ ἕκαστα γνώσεις· ἀλλ᾽ οὐ λέγουσι τὸ διὰ τί περὶ οὐδενός, οἷον διὰ τί θερµὸν τὸ πῦρ, ἀλλὰ µόνον ὅτι θερµόν. τὸ µὲν οὖν πρῶτον εἰκὸς τὸν ὁποιανοῦν εὑρόντα τέχνην παρὰ τὰς κοινὰς αἰσθήσεις θαυµάζεσθαι ὑπὸ τῶν ἀνθρώπων µὴ µόνον διὰ τὸ χρήσιµον εἶναί τι τῶν εὑρεθέντων ἀλλ᾽ ὡς σοφὸν καὶ διαφέροντα τῶν ἄλλων«. 82
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einige Jahrzehnte vor Del Montes Mechanicorum Liber eingesetzt hat. Hierzu ist der Blick auf die sich verändernden Auffassungen über die mit der Natur befassten Disziplinen selbst zu richten: Anhand der historisch zunehmenden Engführung, die sich zwischen der Betrachtung und dem Begriff von Natur etabliert, wird die philosophia naturalis – spätestens seit der so vielbeschworenen Kopernikanischen Wende 83 – zwar noch nicht in rein mechanistischer Form gedacht, jedoch bereits in der Weise weiter entwickelt, wie es die mathematische und physikalische Methodik einfordern. Das gelingt wiederum am nachhaltigsten – und am richtungsweisendsten – in den Disziplinen der Geometrie, Kosmologie und Astronomie. Deren gegenseitige Konnektivität ergibt sich dabei in gewisser Weise bereits aus der Kongruenz ihrer Untersuchungsgegenstände: Sie erscheinen schon dadurch einander verwandt, dass sie diejenigen Wissenschaften repräsentieren, die sich mit Gegenständen im Raum auseinandersetzen und sich diesen mit jeweils eigenen Beschreibungsinstrumentarien nähern. Sie tun dies insbesondere in der Weise, dass sie dem Faktor ›Zeit‹ in der Beschreibung des Raums unterschiedliche Bedeutungen zukommen lassen: Während die Geometrie sie prinzipiell ausblendet und die Kosmologie ihre eigenen Modelle als überzeitlich gültige verstanden wissen will, nimmt die Astronomie die Zeit zu dem Zwecke hinzu, körperliche Be83 Auf diesen Begriff, so inflationär er in der Wissenschaftsgeschichte bisweilen auch verwendet wird, soll hier nicht verzichtet werden, insofern sich zumindest sein allgemeiner Wert in ideengeschichtlichen Fragen durchaus erwiesen hat; vgl. am prominentesten Blumenberg (1965 und 1975) und Kuhn (1980). In mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht mag dieser Wert indes in Zweifel gezogen werden, wenn etwa hierdurch nahegelegt werden soll, die Menschen hätten vor Kopernikus’ De revolutionibus orbium coelestium (1543) gewissermaßen in toto ›anders über die Welt gedacht‹. Gleichwohl muss hinsichtlich dieses Werks vor allem der neu begründete Stellenwert einer mathematisch exakt aufgebauten Kosmologie Berücksichtigung finden. Ohne diese Form der mathematischen Kosmologie ließe sich ein interdisziplinäres Ineinandergreifen von Geometrie und Theologie, wie es sich etwa im Holismus des ausgehenden 17. Jahrhunderts ausmachen lässt, zumindest in der Intensität, wie sie sich bei Leibniz vorfindet, nur schwerlich denken. Dass Kopernikus dessen ungeachtet von der nachfolgenden astronomischen Generation in Detailfragen nicht immer mit der gleichen Wertschätzung bedacht wurde, zeigt sich etwa im Briefverkehr Keplers mit dem Theologen und Amateur-Astronomen David Fabricius. Demzufolge habe in der Frage nach dem Peri- und Apogäum (den Punkten, in denen die Erde ihrer Laufbahn am nächsten kommt oder zu ihr am entferntesten steht) »Kopernikus anders und fehlerhaft, das heißt weniger gelehrt als Ptolemäus« (Kepler, An David Fabricius in Esens, 20: »[a]liter Copernicus et vitiosè, hoc est minus doctè quam Ptolemaeus.«) geurteilt. Die generelle Vorsicht, die man hinsichtlich einer monolithischen Stellung Kopernikus’ walten lassen sollte, wurde in jüngerer Zeit von Danneberg betont, dem zufolge es »nicht nur höchst umstritten [ist], was die Zeitgenossen in diesem Werk [De revolutionibus orbium coelestium; D. B.] gesehen haben, sondern auch, was wir darin sehen« (Danneberg [2003], 1). Im Folgenden setzt Danneberg Kopernikus’ Werk auf überzeugende Weise in eine zeitgeschichtlich relative Position zwischen Andreas Vesals De humani corporis fabrica und Petrus Ramus’ Institutiones dialecticae – beides Werke, die ebenfalls 1543 erschienen sind, jedoch nicht in vergleichbarer Weise kanonisiert wurden.
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wegungen als Kräfte beschreibbar zu machen: Der sich in der Zeit entfaltende Raum kann hierbei – worauf in späteren Kapiteln noch einzugehen sein wird – geradezu als die Grundvorstellung des Kraftvollzugs, mithin der Bewegungen von Planetenkörpern, aber auch von Körpern schlechthin in actu gelten. Die Frühe Neuzeit wird, mehr noch, mit der Dynamik eine Disziplin entwickeln, die sich dann dezidiert der Frage nach Kräften zuwendet. In all diesen Entwicklungssträngen geht es also nicht darum, eine bloße Vermessungskunst (agrimensura) zu betreiben, indem man etwa in der oberflächlichen Beschreibung physikalischer Realia verharrte (›Dieses Rübenfeld ist doppelt so groß wie jenes‹), sondern sich stets auch der Erkenntnis universeller Naturgesetze zu verschreiben. 84 Die Methodiken der Geometer, Kosmologen und Astronomen entsprechen daher, gliederte man sie je für ihren eigenen Bereich, den Grundsätzen mathematischer Präzision sowie einer ontologischen und theologischen Beweiskraft, im äußersten Falle gerichtet auf eine idealistisch anmutende Seinsschau (θεωρεῖν [theo¯ reîn], speculari). Derartige Erkenntnisziele sind jedoch selbst im letztgenannten Punkt nicht mit der traditionellen Metaphysik oder gar mit der Theologie thomistischer Provenienz gleichsetzbar, insofern die am Raum orientierten Wissenschaften ihre Anschauungsweisen explizit aus einer nicht-spekulativen Haltung heraus entwickeln wollen. 85 Was gegenüber dem klassischen speculari für das 17. Jahrhundert deutlich reizvoller erscheint, sind zum einen die Aufwertungsmomente der experimentellen Erprobung in Hinsicht auf die praktische Methodenbildung, zum anderen die reziproken Zuschreibungen der in den verschiedenen Wissenschaften hervorgebrachten Epistemen in Hinsicht auf deren disziplinäre und transdisziplinäre Theoriebildung. Eine geometrische Erkenntnis kann beispielsweise leicht zu einer astronomischen werden, wenn es darum geht, kosmische Ereignisse – wie etwa Kollisionen von Himmelskörpern – zu prognostizieren und zu deuten. So benutzt Pierre Bayle derartige Argumentationsfiguren gar in aufklärerischer Das mag mit ein Grund dafür gewesen sein, die historische Legitimierung der Mechanik in der Frühen Neuzeit vor allem griechischen Mathematikern zu überantworten (Archimedes, Diophantos, Pappos), während die römische Antike hierzu nur eine untergeordnete Rolle spielte. Die Kunst des agrimetrischen Verfahrens ist zwar seit den mittelalterlichen artes mechanicae von anerkanntem Wert, sie bleibt jedoch praktische Funktion der Mechanik und nicht deren wissenschaftliche Begründung; vgl. hierzu die zwar zugespitzte, im Kern aber zutreffende Formulierung bei Herrmann (2014), 395: »Aus römischer Zeit ist kein schöpferisch tätiger Mathematiker bekannt geworden. Die Mathematik war bei den Römern nur eine Hilfswissenschaft für Feldmesser (Agrimensoren), Ingenieure und Architekten«. 85 Gerade dies zeichnet mehr noch ihre Naturwissenschaftlichkeit aus. Spekulative Gegenmodelle, wie sie etwa die Astrologie vertritt, müssen sich im Vergleich zum Mittelalter zusehends gegenüber den exakten Wissenschaften legitimieren, wollen sie nicht in der Tradition (und dem Vorwurf) mystischer Welterschließung verharren. 84
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Manier zur Bekämpfung des Aberglaubens. Seine Lettre sur la comète (1680) und besonders seine darauf aufbauenden, stilistisch am platonischen Dialog orientierten Pensées diverses sur la comète (1683) sind von der Diktion getragen, dass der 1680 weithin am mitteleuropäischen Himmel sichtbare Komet keine schicksalhaften Ereignisse auf der Erde zeitigen könne, da er einzig von physikalischen Determinanten bestimmt sei. Bayle bezieht sich hierbei dezidiert auf die sich mechanistischen und rationalen Grundsätzen verschreibende Physik der Cartesianer. 86 Es ergeben sich aus derlei Wissenschaftsformationen, die als an der Schnittstelle zur Aufklärung befindliche Disziplinen auffassbar sind, insofern sie die traditionellen artes untereinander kombinieren und zur Vermeidung von Fehlurteilen verwenden, neue Verhältnisse und Zuschreibungen, die zwischen den Disziplinen herrschen: Geometrische Astronomie lässt sich nunmehr suo iure ebenso legitimieren wie astronomische Kosmologie, mathematische Geometrie ebenso betreiben wie mathematische Kosmologie; letztere steht – was im 16. Jahrhundert noch eines ihrer Kernprobleme bedeutete – nicht einmal mehr in einem prekär determinierten Verhältnis zur Theologie. 87 Und schließlich lässt sich auch die Mechanik im Sinne einer physikalisch-geometrischen Disziplin beschreiben. Hierbei nämlich handelt es sich um einen ihrer nächstliegenden Anknüpfungspunkte im Zuge ihrer methodisch-theoretischen Eingliederung in den Wissenschaftsbereich: Sie kann bezüglich ihrer Illustrationsmöglichkeiten auf Entitäten wie Punkt, Linie, Kreis, Ellipse etc. zurückgreifen. So lassen sich die Ausrichtungen und Intensitäten von Kräften über Vektoren unterschiedlicher Direktionen und Längen zur Darstellung bringen; 88 zirkuläre Bewegungen der Körper entsprechen der Figur des Kreises; Kraftzentren lassen
Vgl. hierzu zuletzt Bizeul (2015), besonders 182–186. Hier ist an die Problemlage zu denken, mit der sich noch Giordano Bruno auseinandersetzen musste, namentlich die Fragen um Raum und Zeit in einem verabsolutiert gedachten Universum – Fragen, die im 17. Jahrhundert deutlich weniger Sprengkraft besitzen werden als zuvor. Dieser Raum erscheint, einem Koordinatensystem gleichend, von der körperlichen Welt geradezu entrückt, ohne dass er dabei aus einem Gottesbegriff abgeleitet werden müsste; vgl. insbesondere die beiden 1584 publizierten Abhandlungen Brunos De l’infinito, universo e mondi und De la causa, principio e uno. Vgl. zu den theologischen Schwierigkeiten eines absolut gedachten Raums bei Giordano Bruno Singer (1950), 46–92. 88 In der klassischen Physik werden Größen wie Kraft und Beschleunigung als Vektoren anhand der Größen ›Betrag‹ und ›Richtung‹ zur Darstellung gebracht – hierdurch stehen sie im Gegensatz zu Größen wie ›Masse‹ oder ›Temperatur‹, die zwar skalierbar sind, jedoch keine Direktion aufweisen. Die physikalischen Vektoren können dabei als Applikationsformen der geometrischen Vektoren gelten. Dass Newton selbst diese nie als Vektoren bezeichnet hat, ändert nichts an der konzeptuellen Übereinstimmung mit den heutigen Vektoren. 86 87
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sich als Punkte bezeichnen, 89 die physikalischen Körper als geometrische Körper, der Raum als Koordinatensystem fassen etc. Die Mechanik selbst richtet sich dabei aber gerade nicht auf abstrakte Formen und Figuren, wie es der Geometrie obliegen würde, sondern sie bewegt sich in ihrem Erkenntnisinteresse hin zu den Körpern der physikalischen Wirklichkeit im Sinne der durch Kraft hervorgerufenen und in Kraft ausgedrückten Beeinflussungen. Umso erstaunlicher muss es dann erscheinen, dass sie für die Gewinnung von philosophischen Erkenntnissen überhaupt in Frage kommt. Denn legte man die Folien der aristotelischen Naturphilosophie oder der platonischen Erkenntnislehre an, so käme der Mechanik gleich zu Beginn ihrer disziplinären Karriere eigentlich eine undankbare Position zu – und dies nicht nur aufgrund der bei Del Monte verfolgten Idealisierung der archimedischen Statik, 90 sondern sowohl in Bezug auf ihre Kräftetheorie als auch auf ihre Methodik.
1.b.β. Kräftetheorie und mechanische Methodik
Zunächst zur Kräftetheorie: Im Zuge des Aufkommens präziser Beobachtungstechniken mithilfe maschineller Gerätschaften sieht sich prinzipiell jede naturphilosophische Schule zusehends mit neuen Kraft- und Bewegungskonzepten konfrontiert, die sich eines intellektualistischen ›Überbaus‹ oder auch nur einer metaphysischen Primärgröße geradezu entsagen. Betrachtet man nämlich die am häufigsten als für die Mechanik typisch angenommenen Axiome unter dem Gesichtspunkt einer Schulen übergreifenden Konsistenz, so ergibt sich ein scheinbar eindeutiges, ja fast einseitiges Bild: Die Mechanik befasst sich mit Kraftvorstellungen, die auf den ersten Blick wie eine schiere Kontrafaktur der aristotelischen Naturphilosophie anmuten. Denn ihre Kräfte (vires) widersetzen sich der Polarität von δύναµις (dýnamis)/potentia auf der einen und ἐνέργεια (enérgeia)/actus auf der anderen Seite auf fast schon trotzige Weise: 89 Del Monte lässt etwa den Hauptteil des Mechanicorum Liber gleich mit einer geometrisch instruierten Feststellung beginnen, nach der das »Zentrum der Schwerkraft eines jeden Körpers ein Punkt ist.« (Del Monte, Mechanicorum Liber, 1, 1: »centrum gravitatis uniuscumque corporis est punctum.«) Dieselbe Phrase wird im Übrigen auch von Bernardino Baldi in seinen In mechanica Aristotelis problemata Exercitationes, 2 aufgegriffen. 90 Dass die Archimedes-Rezeption – sei sie nun, wie bei Del Monte, aus einer affirmativen oder, wie bei Scaliger, aus einer kritischen Haltung heraus vorgeführt – die Mechanik in den Status einer philosophischen Erkenntnisdisziplin erheben könnte, wird bereits dadurch erschwert, dass Archimedes – im Gegensatz zu Platon und Aristoteles – epochenübergreifend vor allem als Mathematiker und nicht als Philosoph eingestuft wird. Anders gewendet: Die Mathematik muss zunächst als Disziplin der Philosophie angenähert werden, um ihre herausragenden Vertreter auf Augenhöhe (und dann auch in Einklang) mit den klassischen Philosophien zu bringen.
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Sie sind nicht final-, sondern kausalursächlich (nihil fit sine causa); sie wissen in der Regel nicht sonderlich scharf zwischen vordergründigem Vollzug und subkutanem Potential zu unterscheiden, sondern sind taxonomisch stets so einheitlich wie möglich gehalten (vis); 91 an ihrem Anfang stehen keine natürlichen, sondern künstliche Interessen; sie sind, je nach Perspektive, passiv (vis insita) und aktiv (impulsus) zugleich zu denken; sie weisen der Masse (massa, moles) und der Trägheit (inertia) eine eigene Substantialität zu; 92 und schließlich braucht, was in metaphysischer und zumal theologischer Hinsicht mitunter als die größte Zumutung erscheint, ihr erstes Bewegungsprinzip nicht zwingend Gott, nicht einmal im Sinne des so traditionsreichen und im Laufe der Epochen schon so häufig diskutierten ersten Seins-Urgrundes (οὐσία πρώτη/ousía pro´¯ te¯) darzustellen. Man könnte angesichts dieses Gesamtbilds leicht schließen, dass die Mechanik, indem sie sich scheinbar ausschließlich ›niederen‹ Kräften zuwendet, sich damit zugleich auch jeglichen sublimeren Erklärungsansprüchen enthalte. Sie ist daher im Zuge ihrer langwierigen wissenschaftlichen Etablierung wenigstens dem Verdacht eines pikaresk anmutenden Weltblicks, 93 häufig der Unterstellung einer subversiven Grundhaltung 94 und schlimmstenfalls gar Augenfällig ist hier die Tendenz, möglichst viele Kraftphänomene unter der vis als einer Kategorialgröße zu subsumieren und dabei weniger auf Vorstellungen einer potestas, einer potentia, eines robur, einer firmitas etc. zu rekurrieren. So bevorzugt man, obschon mit der potestas und dem robur adäquate Ausdrücke zur Verfügung stünden, mit der vis insita (in theologischer Sicht auch: vis indita) attributive Charakterisierungen, die – am prominentesten vielleicht in den Definitiones der Principia Newtons – gelegentlich auch in ein Wechselspiel miteinander treten können – ein für die Terminologie der klassischen Mechanik wichtiger Aspekt, der in Kapitel III.3 der Studie noch genauer behandelt werden wird. 92 Dies sind bei Weitem keine unschuldigen wissenschaftlichen Taten, die sich zur religiösen Tugendlehre völlig neutral verhielten: Bereits der Trägheit eine eigene Substantialität zuzurechnen, muss für einen bibeltreuen und mit etwas Abstraktionsvermögen ausgestatteten Christenmenschen schlechterdings bedeuten, eine der sieben Todsünden zu affirmieren. Auch der Zusammenhang von Masse und Völlerei ist in der christlichen Ikonographie ein traditioneller zu nennen und durch die Bildsprache eines Hieronymus Bosch (∼ 1450–1516) im 16. und 17. Jahrhundert als sehr präsent einzustufen. Den Aufwertungsstrategien von Masse und Trägheit wird sich daher in einem eigenen Kapitel ( III.1.c.β) noch genauer zugewandt werden. 93 Insofern ihre Ausgangsperspektive darin besteht, die Welt aus ihren internen Operationen heraus begreifen zu wollen. Ebenso gilt der teleskopische Blick ins Universum stets als ein Blick von unten nach oben, der sich in keiner göttlichen Position wähnen kann – und auch an keiner ernstzunehmenden Stelle dergestalt behauptet würde. 94 Vgl. als ein prominentes Beispiel den Prioritätsstreit zwischen Maupertuis und Voltaire am Hofe Friedrichs des Großen. Dabei ging es um das Prinzip der kleinsten Aktion, das in der Natur vorzufinden sei, insbesondere darum, aus welchen mechanischen Minimaleinheiten (Masse, Bewegung, Geschwindigkeit etc.) sich diese speise; vgl. hierzu Szabó (31987), 86–94. Allgemein äußert sich hierzu Wagner (1969), 24: »Die tiefe und echte religiöse Erschütterung durch die technischen Erfindungen, beispielweise Mikroskop und Teleskop, das Eindringen des bewaffneten menschlichen Auges in die Geheimnisse und Schönheiten der Natur führte zu einer Rationalisierung 91
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dem Vorwurf des Atheismus 95 ausgesetzt. Wie auch immer derartige Gefahren theologisch und philosophisch auszulegen sind, ergeben sich doch in jedem Fall beträchtliche Herausforderungen für die genannten Disziplinen der Geometrie, Kosmologie und Astronomie: Die Mechanik wäre in dem Moment, in dem sie als Beschreibungsinstrument für die Wirklichkeit ernst genommen wird, in der Lage, deren zentrale Kategorien umzuwerten, zu entwerten oder gleich ganz zu ersetzen. Wenn also in der Geometrie der Kreis noch eine vollkommene Figur symbolisiert, so wird er für einen Astronomen wie Kepler an Wertigkeit einbüßen, da er aufgrund der Bewegungsvoraussetzungen, die wiederum auf der Anziehungskraft der Körpermassen beruhen, nicht mehr als die urtümlichste Bewegungsart der Körper gelten kann; wenn ein sich der mittelalterlichen Scholastik verpflichtet fühlender Kosmologe in den höheren Himmelsregionen heilige Sphären vermutet, so herrschen für einen Mechanizisten dort dieselben Naturgesetze wie in den irdischen Gefilden vor; und wo ein humanistisch geprägter Astronom die Himmelskörper nach Gesetzen beschreibt, die sich von seiner Auffassung der physischen Verfasstheit des Menschen systematisch unterscheiden, wird ihn die Mechanik zuallererst darüber belehren, dass es sich bei den Himmelsbewegungen um ähnliche, wenn nicht gar um prinzipiell dieselben Vorgänge handelt, die im menschlichen Blutkreislauf walten. Homogenität und Isotopie sind somit die leitenden Vorstellungen, gegenüber denen die Auffassung von einem substantiell streng hierarchisierten Kosmos zurücktreten muss. Manche Grundüberzeugungen, derer sich die Wissenschaften seit der Scholastik verschrieben haben, werden somit eskamotiert oder zumindest auf eine dem einfachen Verstandesgebrauch zugänglichen Lehre hin reduziert. 96 Und der Glaubenswahrheiten; nur eine kurze Zeitspanne lang, der Newton zugehört, meinte man damit im tiefsten Sinne des Christentums zu handeln«. Zur allgemeinen Bedeutung Maupertuis’ für die Zeit der Aufklärung vgl. Terrall (2002). 95 Eines der polemischsten Beispiele hierfür ist Leibniz’ Brief an die Prinzessin von Wales (1715), in dem er Newton – und im Zuge dessen gleich auch den zu diesem Zeitpunkt längst verstorbenen John Locke – der Verbreitung gottloser Philosophien bezichtigt. 96 Eines der anschaulichsten Beispiele hierfür findet sich in Hobbes’ Elementa philosophiae (1642–1658), namentlich in der inhaltlich ersten Sektion, die jedoch publikationsgeschichtlich zwischen De cive (1642) und De homine (1658) den zweiten Teil einnimmt, De corpore (1655). Dort werden die basalen Operationen der Arithmetik – Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren – von vier auf zwei Rechenoperationen reduziert: »Unter Schlussfolgern aber verstehe ich Rechnen. Rechnen ist nämlich das Bilden der Summe aus mehreren addierten Dingen beziehungsweise die Kenntnis über den Rest, nachdem ein Ding von einem anderen abgezogen wurde. Schlussfolgern also ist dasselbe wie Addieren und Subtrahieren. Falls jemand Multiplizieren und Dividieren zu diesen hinzufügen möchte, so will ich das nicht ablehnen, ist doch die Multiplikation eine Addition des Gleichen, die Division hingegen, wie oft die Subtraktion des Gleichen durchgeführt werden kann. Daher lässt sich das Schlussfolgern gänzlich auf zwei Operationen des Geistes zurückführen,
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als wäre dies nicht genug, schickt sich die Mechanik noch dazu an, eigene stoffliche und formende Prinzipien wie etwa Masse (massa, moles), Schwerkraft (gravitatio), Eindruck (impressio) oder Anstoß (impetus) zu entwickeln, nach denen allein sich die Welt naturgemäß verhalte. Sie benötigt, um die sich dem Essentialismus verpflichtenden Denkungsarten so fundamental wie möglich auf deren eigene Stabilität hin zu prüfen, indes einen Sekundanten, der sich in noch dezidierterer Weise mit dem Sein als einem Begriff aus der antikscholastischen Tradition (ens, essentia; ὄν, οὐσία) auseinandersetzt. Erst hierdurch scheint eine gewisse philosophische Autoritätslinie gewahrt, wodurch wiederum die Umwertung der physikalischen Paradigmen umso wirksamer in Erscheinung treten kann. Diesen Gehilfen hat sie in offensichtlichster und zugleich radikalster Form im Monismus gefunden. 97 Er kann im 17. wie im 18. Jahrhundert als eines der aufsehenerregendsten Gegenmodelle zu der Form von Metaphysik gelten, die bislang auf die Stufenfolge der Substanzen nicht zu verzichten bereit war. 98 Gegenüber den hochgradig diversifizierten und dabei harmonisch aufgebauten Welttheatern des barocken Platonismus kann es nämlich auf Addition und Subtraktion.« (Hobbes, De corpore, pars 1, cap. 1, 2: »Per ratiocinationem autem intelligo computationem. Computare verum est plurium rerum simul additarum summam colligere, vel una re ab alia detractata, cognoscere residuum. Ratiocinari igitur idem est, quod addere et subtrahere, vel si quis adjungat his multiplicare et dividere, non abnuam, cum multiplicatio idem sit quod æqualium additio, divisio, quod æqualium quoties fieri potest subtractio. Recidit itaque ratiocinatio omnis ad duas operationes animi, additionem et subtractionem.«). 97 Der Begriff ›Monismus‹ wird hier im Rekurs auf seine naturphilosophische, nicht auf seine erkenntnistheoretische Prägung als ein methodologischer Schlüsselbegriff verwendet. Er dient in erster Linie der Beschreibung eines welterklärenden Prinzips der Produktivität, nach dem sich ein Substrat fortgesetzt realisiert – etwa dass aus Materie nur Materie hervorgehe, aus Bewegung nur Bewegung, aus Kraft nur Kraft etc. Zwar mögen sich die Folgephänomene in ihren Ausprägungen voneinander unterscheiden (X1 g X2 g X3 g Xn); sie unterliegen dabei jedoch noch immer demselben essentiellen Grundparadigma. Blickt man als Naturphilosoph nun vom anderen Ende (Xn) her auf die ontischen Größen, so ließen sich diese als ›immanent‹ in Bezug auf ihr priorisches Substrat bezeichnen. Wenn im Folgenden von Immanenz gesprochen wird, so wird methodologisch diese Perspektive eingenommen. 98 Dieser Punkt mag auf den ersten Blick gar nicht einmal hervorhebenswert zu sein, ist allerdings in seiner historischen Nachverfolgung nicht so trivial, wie es den Anschein hat. Denn der Monismus prägt sich sowohl als Fortschreibung der materialistischen Naturphilosophien wie auch als Subversion seiner eigenen Spielarten aus, indem er sich – etwa als Pantheismus – auch als dezidiert anti-materialistisch ausweisen kann, was ihn gelegentlich schwer erkennbar macht (vgl. generell hierzu immer noch Dilthey [1893]). Hinzu kommt, dass sich Monisten aus den genannten Gründen ohnehin höchst selten und ungern selbst als ›Monisten‹ bezeichnet hätten. Die Forschungslage zum Monismus erweist sich bis heute als ein einigermaßen merkwürdiges Konstrukt. Eine brauchbare Übersicht über die die differenten frühneuzeitlichen Strömungen bietet bis heute immerhin Drews (1908). Die umfassenden Darstellungen von Brücker (2011) und Lerch (2008) beziehen sich vor allem auf den Werdegang des Monismus ab dem 19. Jahrhundert und fassen dabei insbesondere theologische Problemstellungen ins Auge.
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hier als ein ausgemachtes philosophisches Ziel gelten, auf so wenige Grundannahmen zur Natur wie möglich zu rekurrieren. In dieser metaphysischen Askese fallen Mechanik und Monismus geradezu in eins. 99 Zwar muss der naturwissenschaftliche Reduktionismus nicht unbedingt in einem Monismus enden – insofern er natürlich eine Vielzahl an Gesetzen hervorbringen kann, die sich prinzipiell auch auf verschiedene Substanzen, auf den Körper, die Materie, den Geist, die Ausdehnung und vieles andere beziehen können – allerdings erscheint es dessen ungeachtet sehr attraktiv, bevor man sich auf die Beschreibung von Naturgesetzen einlässt, eine reduzierte ontologische Gestalt der Welt zugrunde zu legen und somit ontologische Beschaffenheit und Naturgesetzlichkeit aus Sicht desselben Grundgedankens zu behandeln. 100 Es sind die Vorstellungen von Einfachheit und Klarheit, die hierzu den Leitfaden bilden. Die operationalen Abläufe des Universums sind dementsprechend in absoluter wie auch in ubiquitärer Gültigkeit zu denken: Stößt ein Stein an einen anderen und versetzt ihn dadurch in Bewegung, so kann dies an jedem beliebigen Ort des Universums – in der sub- wie der translunaren Sphäre – nach denselben Regeln passieren. Denn hier gibt es keinen Ideenhimmel und keine dritte οὐσία, erst recht keine translunaren Sphärenklänge, die sich sonderlich von den irdischen Gesetzmäßigkeiten zur Akustik unterscheiden würden; es genügt vielmehr ein physikalisches ›Gesetzbuch‹ in simplice, um sämtliche Naturphänomene rational und universell zu erfassen. Dem Anschein nach ist es also zunächst eine axiomatisch eher genügsame Allianz, die sich im 17. Jahrhundert formiert und dabei doch eine beträchtliche diskursive Unruhe erzeugt. Diese Diskrepanz zwischen Diskurs und Axiomatik lässt sich indes nur aus der Geschichtlichkeit der genannten Umwertungsprozesse heraus erklären. Denn eben jenes Subversionspotential, das der Mechanik in ihrer Herausforderung des alten Naturbegriffs durchaus zukommt, löst der Mechanizismus – Ein solcher Reduktionismus wird auf ein Anspruchsdenken hin entwickelt, das die Mechanik epochenübergreifend an sich selbst stellt. Es reicht bis in das bürgerliche Zeitalter hinein, wenn man sieht, mit welch definitorischen Satz Gustav Robert Kirchhoff (1824–1887) seine Vorlesungen über Mechanik beginnen lässt: »Die Mechanik ist die Wissenschaft von der Bewegung; als ihre Aufgabe bezeichnen wir: die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben.« (Kirchhoff, Vorlesungen über Mechanik, Erste Vorlesung, § 1). 100 Vgl. exemplarisch Bacon, Novum Organum, lib. 1, Aphor. LXXXV , 191: »Res enim (exempli gratia) subtilis est certe et accurata confectio horologiorum, talis scillicet quæ cœlestia in rotis, pulsum animalium in motu successivo et ordinato, videtur imitari; quæ tamen res ex uno aut altero naturæ axiomate pendet«. (»So ist [beispielsweise] die Anfertigung von Uhrwerken gewiss eine feine und sorgfältige Sache; eine solche freilich, welche die Gestirne in ihren Drehungen, den Pulsschlag der Lebewesen in seiner fortschreitenden, wohlgeordneten Bewegung nachzuahmen scheint; dennoch hängt sie nur von einem oder zwei Grundsätzen der Natur ab.«). 99
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so man ihn nicht als rein systematisches Phänomen in den Blick nimmt – auch in Verschwisterung mit dem Monismus je nach zeitgeschichtlichem Zusammenhang auf sehr unterschiedliche Weise ein. Die oben angeführten und zu einer Art Grundinventar der mechanischen vires zusammenfassbaren Philosopheme kommen vor allem bei einer synchronen Betrachtungsweise auch zu ihrer so einschlägigen Geltung. Die historische Entwicklung des Mechanizismus fällt hingegen deutlich komplexer aus, als es ein bloßes Opponieren gegen die antiken Kraft- und Naturbegriffe oder deren völlige Desavouierung ausdrücken könnte – seien diese nun platonisch, aristotelisch, stoizistisch oder epikureistisch vorgestellt. 101 Der Mechanizismus trägt vielmehr indirekt zu einer Stärkung derjenigen Philosophenschulen bei, die in der abstrakten Erkenntnis nach wie vor den ersten Urgrund des Seins ausmachen wollen. So ruft gerade der grundsätzliche Mangel an intellektualistischen Bezugsgrößen in der mechanistischen Kräftelehre wiederum den Intellektualismus 102 selbst als eine virulente Reaktion auf den Plan. Zu dessen wichtigsten Sekundanten, der den Aufbau der Welt in den Kategorien der Harmonik und Perspektivität in den Blick nimmt, entwickelt sich dabei zusehends – und bei Leibniz in voller Ausprägung – der neuzeitliche Holismus. Hieraus, namentlich aus den Affirmationen des kontingenten Ereignismoments, wie wir es noch prominent bei Newton vorfinden werden, und des rationalen Weltblicks, wie er bei Leibniz auszumachen ist, gehen nun zwei mutmaßlich konfligierende Philosophien hervor, die sich wenigstens dem Anschein nach in ihren Grundannahmen nur schwerlich miteinander vereinbaren lassen: der monistische Mechanizismus und der holistische Intellektualismus. Der eine sieht in den Prozessen der Wirklichkeit einfache Bewegungsübertragungen, die sich auf einer ebenso einfachen Substanz gründen; der andere setzt für jegliche Welterkenntnis einen Gesamtzusammenhang voraus, der in und zwischen den Dingen vorherrscht und dessen Eingang in den menschlichen Geist zugleich den Existenzbeweis desselbigen darstellt. Es läge durchaus nahe zu vermuten, dass der Intellektualismus, gerade in seinen Vorzügen als ein den Verstand affirmierendes Erklärungsmodell, dem Mechanizismus gewisse Berechtigungen im Hinblick auf dessen physikalische Als eine der Schlüsselfiguren hierfür wurde bereits Pierre Gassendi vorgestellt, der in seinen Exercitationes paradoxicae eine kritische Auseinandersetzung mit den Peripatetikern bei gleichzeitiger Darlegung ihrer Lehre verfolgt und sich in seiner Beweisführung insgesamt stark dem Epikureismus verpflichtet. 102 Die hier und im Folgenden in den Blick genommene Auffassung von Intellektualismus meint, systematisch reduziert, die Intention, das Erkennen mit dem Erkenntnisgegenstand möglichst in eins zu nehmen. In geschichtlicher Sicht ist die Bedeutungsweite der res cogitans – als einer Substanz, in der eben dies zur Geltung kommt – angesprochen, wie sie sich dann auch erkenntnistheoretisch einschlägig und prominent etwa im cartesischen cogito ergo sum ausdrückt. 101
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Präzision zugesteht, ihn jedoch aus der Philosophie gleichzeitig herauszuhalten versucht. Was im Zuge der Descartes-Rezeption geschieht, ist jedoch etwas ganz anderes: Nicht der bloße Widerstreit von sensus und intellectus, sondern die Frage nach der Reduzibilität von Naturprinzipien selbst wird zur gemeinsamen Herausforderung für Mechanizismus und Intellektualismus entwickelt. Und dies kann nicht zuletzt deshalb so eindrucksvoll funktionieren, weil der Sensualismus derartig erfolgreich ist, dass die Frage nach dem primären Erkenntnisorgan, wenigstens nicht im Sinne einer singulären philosophischen Leitfrage, gar nicht mehr immer wieder neu mit derselben Intensität aufgerollt werden muss. Dadurch können in den naturphilosophischen Diskursen nunmehr neue Konkurrenzverhältnisse in den Vordergrund rücken, die sich mit den physikalischen Phänomenen selbst befassen, statt sich vollkommen auf erkenntnistheoretische Positionierungen kaprizieren zu müssen. Sie erscheinen gewissermaßen deutlich zeitgemäßer und aufschlussreicher als die ›altbekannte‹ quaestio nach dem Primat von Sinn oder Vernunft. Bereits in den Fragestellungen, die sie an die Welt richten, sind sie erkennbar vom Einfluss der mechanistischen Weltbilder getragen: Ist es die Masse oder die Monade, die als Schlüsselprinzip zu gelten hat und von der die kosmischen Kräfte und Bewegungen aus zu denken sind? Ist es die Trägheit oder die Spontaneität, die als kinetischer Urgrund in den Körpern liegt? Ist die Materie dementsprechend als selbsttätig oder als bloßer passiver Stoff zu betrachten? Ist es der Sprung oder die Elastizität, die das taktile (oder eben nicht-taktile) Verhältnis der Körper zueinander bestimmt? Diese und damit verwandte Fragen sind es, die spätestens ab der Mitte des 17. Jahrhunderts zusehends die novatorischen Diskurse um Kraft und Bewegung und damit auch das mechanistische Weltbild mit konstituieren werden. Als zeitgenössisches Charakteristikum kann dabei die Annahme vorwiegend stofflicher Größen, die sich nach den Eigenschaften innerer Kräfte disponieren, für den philosophischen Argumentationsgebrauch gelten. Auf einen schlichten Nenner gebracht meint dies, dass es in den Gelehrtendiskursen zusehends weniger um den metaphysischen als vielmehr um den substantiellen Gehalt der in der Natur vorkommenden Dinge (re¯s naturae, re¯s naturatae) geht. Die Transzendentalphilosophie wird – stärker als es noch im Renaissance-Humanismus der Fall war – durch die immer weiter fortentwickelten Funktionsweisen, die den in der Natur waltenden Immanenzen zugeschrieben werden – gleichsam dazu herausgefordert, ihre Haltung zu gewissen Ontologemen zu überprüfen. Bei den Herausforderern handelt es sich um intensive Größen, die selbst disponiert sind nach den Eigenschaften ihrer Kräfte – seien diese gravitätisch, spontan oder träge zu nennen. Und eben dieser Intensität entspricht dann auch der methodische Blickwinkel einer vorwiegend inspektiv gedachten Na-
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turschau. Eine solche Schau in das Innere der Dinge verliert sich indes nicht in dieser Immanenz, sondern bringt über das Tableau der Mechanik mithilfe der Mathematik (vor allem der Algebra, der Arithmetik und eben der Geometrie) ausgebreitete Ergebnisse hervor. 103 Da es in diesen disziplinären Zusammenschlüssen also nicht nur um abstrakte Erkenntnisfragen, sondern stets auch um Körper (corpora) geht und Körper wiederum nicht schlichtweg mit der Materie in eins fallen, sondern – wie in der Geometrie – auch ohne konkrete Materie denkbar sind, kann ein metaphysisches, sich gegenüber der Materie weiterhin autonom verhaltendes Anspruchsdenken nicht nur aufrecht erhalten werden, sondern strebt danach, in Richtung abstrahierender Größen weiterentwickelt zu werden. Was dennoch im Zuge der Suche nach den Naturimmanenzen in jedem Fall Gefahr läuft, hinfällig zu werden, ist jeglicher metaphysische Primat einer Ideenwelt. Denn Descartes' res cogitans zeichnet sich ja gerade nicht dadurch aus, dass sie der res extensa in irgendeiner Hinsicht – ideell oder materiell – vorgelagert wäre; es handelt sich vielmehr um zwei autonome Naturbereiche von jeweils eigenem substantiellem Zuschnitt. Die Frage nach der Substanz ersetzt daher – bei Cartesianern wie auch bei den Anti-Cartesianern – die Frage nach der Wesenheit, um dann paradoxerweise wiederum genau deren Funktion auszufüllen. Denn ebendies fordern die aus der Antike tradierten Naturbegriffe – auch nach ihrer scholastischen und humanistischen Transformierung – nach wie vor in unverbrüchlicher Weise ein: eines oder mehrere die Dinge vertretende Prinzipien, die sich selbst der Dinghaftigkeit entziehen. Es werden also im 17. Jahrhundert sukzessive Naturkonzeptionen entworfen, in denen sich die antiken Theoreme zur Essenz nach wie vor wenigstens strukturell verankert zeigen, dabei jedoch in Formen der Naturerkenntnis überführt werden, die den substantiellen Größen in sinnlicher, materieller und intellektualer Dimension zuarbeiten – ohne dabei bloß sensualistisch, bloß materialistisch oder bloß intellektualistisch zu sein. Worauf man in einer derartigen, in manchen Teilen beinahe ›ideologisch‹ zu nennenden Ideen-Zirkulation mit signifikanter Zuverlässigkeit zurückkommt, ist die Annahme von Kräften, die den Dingen bereits aufgrund ihrer Trägergrößen, namentlich den Körpern, inhärieren. Sie werden – wie noch zu zeigen sein wird – dabei zusehends nicht mehr als profan eingestuft, sondern als Ausgangspunkt göttlicher Proportionen und Bewegungen gesehen – und als solche zur Darstellung gebracht. Wollte man auf dem Hintergrund einer solchen frühneuzeitlichen NaEinen wichtigen Rezeptionspunkt dieses innermathematischen Beziehungsgefüges bildet im frühen 18. Jahrhundert Nicolas Guisnées Application de l’algebre a la geometrie (1705), eine insbesondere auf Protagonisten der Aufklärung wie D’Alembert einflussreiche Schrift; vgl. hierzu die Darstellung bei Peiffer (2005), 128–132. 103
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turphilosophie ein in Ansätzen konsistentes Grundmodell für die Naturen im 17. Jahrhundert benennen, wird dieses also nicht in einem persistenten Nebeneinander von einer präzise und diesseitig argumentierenden Naturwissenschaft auf der einen Seite und einer spekulativen, jenseitig orientierten Philosophie auf der anderen Seite, sondern vielmehr in der Form eines nur vermeintlichen Paradox, einer Art des intellektualistischen Mechanizismus bestehen. Diese Auffassung wird – wie sich anhand der Philosophien Descartes' und Leibniz' zeigen wird – die Erkenntnis der Dinge mit ihrer mechanischen Bedingtheit engführen, insbesondere mit den Größen von Bewegung und Kraft. Nun zur Methode: Da die Mechanik sich bis heute vor allem geometrischer Illustrationsmöglichkeiten bedient, liegt es nahe, eine solche Verfahrensweise ideengeschichtlich etwas genauer in den Blick zu nehmen. Die geometrische Betrachtung, wie sie von Platon in der Politeia einflussreich diskutiert wird, zielt bekanntlich auf eine Form der Erkenntnis zwischen Meinung (δόξα/dóxa) und vernünftigem Verstand (νοῦς/noûs) ab; sie geht als solche in einer mittleren Einstellung des Denkvermögens (διάνοια/diánoia) auf, wie es Glaukon an einer sinnfälligen Stelle zusammenfasst: Du [sc. Sokrates] scheinst mir die methodische Haltung der Geometer und ähnlicher [sc. Wissenschaftler] ein Denkvermögen, nicht jedoch ein vernunftgemäßes Erkenntnisvermögen zu nennen – ein Denkvermögen, das sich gewissermaßen zwischen der Meinung und dem Verstand befinde. 104
Hierauf folgt in der Politeia die Darlegung der Erkenntnishierarchie – geordnet, wie bei Platon üblich, nach ihrer Teilhabe an der Wahrheit (ἀληθείας µέθεξις) – von der reinen Schau des Intelligiblen (νόησις) über das produktive Denkvermögen (διάνοια) und die Überzeugung (πίστις) bis hinab zur schieren Mutmaßung (εἰκασία). 105 Wollte man die Mechanik als philosophische Erkenntnisdisziplin nun innerhalb eines solchen festgefügten Rahmens installieren, so fiele sie – insofern sie das geometrische Verfahren auf die Betrachtung der kontingenten Wirklichkeit und deren Körper appliziert – noch unterhalb des Verstandes und befände sich nur knapp oberhalb der Methodik einer schieren Meinungsfindung. Und selbst von einem historischen Blickpunkt, von der hier benannten platonischen Sichtweise, befreit, ließe sich kaum behaupten, dass die Geometrizität der Mechanik sonderlich philosophisch anmuten 104 Plat., Pol., 6, 511d2–5: »διάνοιαν δὲ καλεῖν µοι δοκεῖς τὴν τῶν γεωµετρικῶν τε καὶ τὴν τῶν τοιούτων ἕξιν ἀλλ᾽ οὐ νοῦν, ὡς µεταξύ τι δόξης τε καὶ νοῦ τὴν διάνοιαν οὖσαν«. 105 Vgl. ebd., 511d6–e2. Dass hier mit der Begriffswahl der διάνοια deren psychologische Mittelstellung auch paronomastisch (διᾶ µέσου) zum Ausdruck gebracht wird, merkt Vretska (42003),
574 an.
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würde; vielmehr geht es hierbei ja um kaum mehr als die graphische Repräsentation von Körpern, Bewegungen und Kräften – eine Einstellung, die erst mit der Vektorengeometrie Newtons und deren Fundament an Bewegungsgesetzen – den in den Axiomata vorgeführten leges motus – und Kraftbegriffen – den in den Definitiones iii–viii vorgeführten vires – von rein dynamischen Grundparadigmen abgelöst werden wird. Weiterhin ließe sich kaum behaupten, dass der Primärgegenstand der Mechanik, die sich den Sinnen darbietende Wirklichkeit, von Zufälligkeiten überhaupt befreit wäre. Vielmehr ist die physikalische Welt, wie sie sich dem Menschen tagtäglich darbietet, charakteristischerweise durchwirkt von Kontingenzen. 106 Eine mentale Hinwendung zu dieser Wirklichkeit entspräche daher strenggenommen einer geradlinigen Abkehr von einer höheren Wahrheitsschau, wie sie die philosophische Tätigkeit in antiker Tradition unverbrüchlich für sich reklamiert. Ein zu solcher Erkenntnis fähiges Seelenvermögen kann, wie bei Platon prominent gesehen, nur in der δίάνοια (diánoia) bezogen auf einen νοῦς (noûs) oder in diesem noûs selbst liegen; eine mittlere ἕξις (héxis) – wie sie dem Erkenntnisinteresse der Geometer nach Platon ganz zu entsprechen vermag – wäre demgegenüber als sicheres Erkenntnisorgan gar nicht erst diskutabel. Es wäre für die Philosophie ein Leichtes, die Mechanik hierin gleichsam in die Schranken zu weisen, sie aus dem Bereich der sicheren Erkenntnismöglichkeiten herauszuhalten. Genau dieses Ausschluss-Szenario findet im 17. Jahrhundert jedoch nicht statt. Die Mechanik wird sich ganz im Gegenteil dazu aufmachen, ebendiese Hierarchien in Frage zu stellen und damit auch so etwas wie neue Vermögensgrade der einzelnen Seelenteile mit zu begründen. Nicht sorgt die von jeher unterstellte Wertigkeit der oberen Erkenntnisvermögen für eine Inferiorität der Mechanik, sondern die Erkenntnisvermögen müssen sich umgekehrt den neuen, durch die Mechanik freigesetzten Kraftbegriffen öffnen. Dass dies so gut gelingen kann, liegt zu einem großen Teil darin begründet, dass die Begriffstableaus der Mechanik bereits aufgrund ihrer astronomisch-kosmologischen Genese eine bemerkenswerte Vielschichtigkeit aufweisen, in der sich nicht nur die oben genannten reziproken Begründungsverhältnisse der Mathematik und Naturwissenschaft widerspiegeln, sondern Ansprüche zutage treten, die sich mit sublimeren Erkenntnissen als der bloßen Beschreibung von Phänomenen auf korporalen Oberflächen respektive in deren Voluminalgebilden befassen. Die dafür zuständigen Paradigmen, die in fast schon traditionell zu nennender Diese Zuschreibung gilt, auch wenn es häufig so angenommen wird, keinesfalls nur für den Epikureismus oder manche Vertreter der vorsokratischen Atomisten, wenn man etwa die in Kapitel II.1–6 beschriebenen Kontingenzgrößen hinsichtlich der Wirklichkeit bei Hesiod (νύ ποθ[ε]), bei Platon (τρίτον ἀπὸ τῆς ἀληθείας) und bei Aristoteles (κατὰ συµβεβηκός) in Betracht zieht. 106
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Selbstverständlichkeit eng an die Theologie gekoppelt werden, 107 liefert nunmehr sola ipsa die Kosmologie. 108 Sie bewerkstelligt dasjenige, was die Mathematik alleine nicht vermag: Sie verklärt die Geometrie. Dass dies natürlich nicht ganz ohne theologischen Beistand geschehen kann, zeigt sich etwa in Keplers Dissertatio cum nuncio sidereo (1610), einer Abhandlung, deren Publikation von Galilei maßgeblich mit vorangetrieben wurde: Die Geometrie ist einzig und ewig, da sie einen Widerschein im Geiste Gottes gibt. Dass den Menschen die Teilhabe an ihr gestattet wurde, zählt zu den Gründen dafür, warum der Mensch ein Ebenbild Gottes ist. 109
Wenn Kepler überhaupt als Neoplatoniker aufgefasst wird, so heißt Neoplatonismus hier nichts anderes, als die Teilhabe- und Abbildfunktion der platonischen Ideen hin zur Geometrie zu verschieben. 110 Denn in der auf geometrischen Prinzipien fußenden Kosmologie gründen sich die umfassendsten Hoffnungen, metaphysische Prinzipien mit physischen Anfangsgründen zu vereinbaren, ohne den methodischen Weg der Mathematik zu verlassen oder gar auf barocke Gottesvorstellungen zurückzufallen. Die in der Geometrie repräsentierten Figuren sind nicht mehr Abbilder der Wirklichkeit, sondern Abbilder der Wahrheit, mithin ein Abglanz Gottes. Sie besetzen die Systemstelle der platonischen Ideen neu. 111 In diesem Sinn wird auch die Astronomie – die sich ja methodisch ganz der Geometrie verschreibt – vorzugsweise in ihren Explanationsangeboten bewertet, die sich auf nichts Geringeres als das Weltganze beziehen: Sie soll die Gesetze des Kosmos mit einem möglichst überschauund fassbaren Begriffsbestand zum Ausdruck bringen; sie soll aber auch den bereits in der Antike – und dort besonders im Platonismus – vorgebrachten Beschreibungsansprüchen an die mundiale Statik, Harmonik und Prognostik in möglichst umfassendem Sinne genügen. Daher ist sie in der Regel nicht ohne die entsprechenden Präliminarien aus den antiken Archivkontexten zu denken, seien sie nun aristotelisch, pseudo-aristotelisch, platonisch oder neoplatonisch (vor allem im Rekurs auf Plotin und Proklos) geprägt. Selbst der nicht von primär theologischen Erkenntnisinteressen geleitete Aristoteles identifiziert die letztgültige metaphysische Instanz, den unbewegten Beweger, mit Gott selbst (vgl. Aristot., metaph., 12, 6–10). 108 Spätestens mit Giordano Bruno emanzipiert sich die Kosmologie zusehends und weitreichend von der Theologie im Sinne eines ihr eigens zukommenden Objektivierungsanspruchs. 109 Kepler, Dissertatio cum nuncio sidereo, 48: »Geometria una & æterna est, in mente Dei refulgens: cuius consortium hominibus tributum inter causas est, cur homo sit imago Dei«. 110 Im klassischen Platonismus war es hingegen noch die Materie, die ein Abbild der Ideen lieferte. 111 Vgl. zu diesem Verklärungstopos auch Evangelista Torricellis Opera Geometrica (1644). 107
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Ungeachtet aller Verdienste des Neoplatonismus bildet der Aristotelismus – trotz und aufgrund seiner scholastischen Vorgeschichte – die ideengeschichtlich weitreichendste Folie für die ontologische Einbettung der Kosmologie in der Frühen Neuzeit. 112 Was gegenüber den Renaissance- und frühbarocken Aristotelikern gleichwohl im 17. Jahrhundert noch weiter in den Mittelpunkt des Interesses rückt, sind die gemäßigteren Spielarten seiner ontologischen Theoreme. Sie versuchen sich nun nicht mehr an einer materialistischen oder atomistischen Radikalisierung der Substanzlehre, wie es unter dem Eindruck der fortschreitenden Technisierung des Erkenntnisbegriffs bisweilen vor allem noch in der italienischen Philosophie vollzogen wurde, 113 sondern bringen sich als ein produktives Vergleichsmoment zur Prüfung der wissenschaftlichen Erkenntnisfähigkeit des Menschen in die Natur-Diskurse ein. Bis zur Zeit der Newton / Leibniz-Debatten vollzieht sich dies bevorzugt in der Erprobung des kognitiven und didaktischen Werts der cartesianischen Methodik. Sie nämlich erweist sich gerade in ihrer Koppelung an die Präzisionsansprüche der rationalen Erkenntnistheorie 114 als ein epochemachender Reizpunkt – ganz besonders, da sie – seit dem Discours de la méthode (1637) auch programmatisch – als eine vorwiegend mathematische einzustufen ist. Betrachten wir zunächst die Entwicklung dieser Methode etwas genauer: Descartes spricht im Discours de la méthode in autobiographischer Reflexion von der Mathematik als einer Wissenschaft, die mir aufgrund ihrer Zuverlässigkeit und Evidenz ganz besonders zusagte; dennoch bemerkte ich noch gar nicht ihren wahren Nutzen und ich war regelrecht verdutzt – da ich dachte, sie diente nur den mechanischen Handwerkskünsten –, dass man, wenn doch ihre Fundamente so unerschütterlich und fest sind, noch nichts Höheres auf ihr errichtet hatte. 115 112
Vgl. als facettenreiche Überblicke hierzu Leijenhorst – Thijssen – Lüthy (2002) und Mercer
(1993). Etwa nach Art der in Telesios De rerum natura (1565) durchweg feststellbaren Neigung, den aus seiner Sicht allzu intellektualistisch argumentierenden Aristoteles auf ein erfahrungsbasiertes Erkenntnisfundament zu stellen. Diese Linie lässt sich bis in die mittelalterliche Philosophie zurückverfolgen und besonders an den averroistischen Tendenzen eines Siger von Brabant und eines Boethius von Dacien festmachen; vgl. den Abriss bei Flasch (22011), 408–417. 114 Hierunter sind vor allem die Neigungen zu distinkten Begriffen (notiones distinctae), zur Klarheit (claritas) als einziger Erkenntniseigenschaft sowie zur vorzüglichen Rolle des Geistes (mens) bei der Erfüllung von Erkenntnisaufgaben zu fassen. Für all dies verbürgt sich der Rationalismus. Dass demgegenüber die Verworrenheit (confusio), die Dunkelheit (obscuritas) und die Sinnlichkeit (sensualitas) vor allem im Feld der Ästhetik ausgeprägt werden, wird in Kapitel IV.2 Hauptgegenstand der Studie sein. 115 Descartes, Discours de la méthode, 1ère part., 34: »[Je] me plaisais surtout aux mathématiques], à cause de la certitude et de l’évidence de leurs raisons; mais je ne remarquais point encore 113
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Die hier angeführten Handwerkskünste (arts mécaniques) scheinen zunächst auf die Vermessungskunst abzuzielen, die sich mit der Welt lediglich im Sinne ihrer Quantifizierbarkeit beschäftigt. 116 Es handelt sich in dieser Hinwendung zur schieren Metrizität um eine Form des Vernunftgebrauchs, die noch nicht auf eine genuin philosophische Erschließung der substantiellen Welt abzielen muss. Wie passt das nun zu der von Descartes an vielen Stellen so vehement verfochtenen Auffassung, wonach es doch vor allem Mechanizismen seien, nach denen sich unsere Welt ausrichtet – so die Mechanik hier doch eine bloße Handwerkskunst repräsentiert? Offenbar ist es gerade die Loslösung und gleichzeitige Überwindung von der planen Betrachtung der Welt hin zur Erklärung der Welt, die zu einem solchen Denken befähigt. Denn die Gedankenführung fällt hier sehr rasch von der mathematischen éducation des Sprechers auf dessen Anwendung der mathematischen Methode in praxi. Diese Verfahrensweise wird hier in ihrem universellen Anspruch ausgestellt. Sie gewinnt ihre Zuverlässigkeit aus einer Komplementarität heraus. Denn es ist gerade das Zusammenspiel der mathematischen Teildisziplinen, namentlich von Analysis und Algebra, das – nach einer bei Descartes weithin als notwendig vorgestellten Anfangsskepsis – zur Stabilität der mathematischen Methode selbst beiträgt. Diese Zuverlässigkeit hat Descartes nach eigener Aussage darin bestärkt, diesen Weg auch weiterhin zu beschreiten: Dann habe ich bemerkt, dass ich sie [sc. die Gegenstände der mathematischen Einzelwissenschaften], um sie zu verstehen, manchmal jeden im Einzelnen betrachten, manchmal nur im Gedächtnis behalten oder mehrere zusammenfassen müsste, weswegen ich dachte, dass ich sie, um sie besser im Einzelnen zu betrachten, als Linien annehmen müsste, da ich nichts Einfacheres fand und nichts, das ich mir deutlicher in meiner Einbildungskraft und meinen Sinnen vorstellen konnte; und dass es, um sie eher im Gedächtnis zu behalten oder zu mehreren zusammenzufassen, notwendig war, sie durch möglichst kurze Zeichen auszudrücken. Und so glaubte ich, dass ich durch dieses Mittel das Beste der geometrischen Analysis und der Algebra entlehnen und all die Fehler der einen durch die andere korrigieren würde. 117 leur vrai usage, et, pensant qu’elles ne servaient, qu’aux arts mécaniques, je m’etonnais de ce que, leurs fondements étants si fermes et si solides, on n’avait rien bâti dessus de plus relevé«. 116 Dieser ›profane‹ Anwendungsbereich der Mathematik bildete wohl einen maßgeblichen Teil der Ausbildung Descartes’ am Collège Henri- IV in La Flèche (1604–1612) – vgl. Ostwald (22012), 155 –, wodurch sich nicht zuletzt eine unterschwellige pädagogische Kritik artikulieren mag, die hier gleichwohl nicht weiterverfolgt werden soll. 117 Descartes, Discours de la méthode, 2ème part., 47: »Puis, ayant pris garde que, pour les connaître, j’aurais quelquefois besoin de les considérer chacune en particulier, et quelquefois seulement de les retenir, ou de les comprendre plusiers ensemble, je pensai que, pour les considérer
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Was neben den autobiographischen Momenten eine Erläuterung erfährt, ist die Eklektik aus verschiedenen Disziplinen und die gleichzeitige Rückführung der Erkenntnismethode auf möglichst reduzierte Zeichen (chiffres, les plus courts qu'il serait possible), wie sich überhaupt der ganze Passus dem methodischen Prinzip der Einfachheit (simplicité) verschreibt. Diese Bekenntnisse, die Descartes hier über seine philosophische Arbeitsweise ablegt, drücken in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Dimension nicht weniger aus als den Aufstieg der mathematischen Methode zur meist-approbierten des 17. Jahrhunderts. Ihre spezifischen Auswirkungen auf die Mechanik werden umso eindrucksvoller, als die methodische Karriere der Mathematik mit der disziplinären Karriere der Mechanik verknüpft wird – ein Phänomen, das sich bereits im fünften Teil des Discours ablesen lässt. Descartes führt hier zunächst die Geometrie zum höchsten Erkenntnisinteresse, demjenigen an Gott, indem er programmatisch festhält, dass [i]ch immer fest bei der Überzeugung geblieben bin, kein anderes Prinzip anzunehmen als das, dessen ich mich gerade bedient habe [sc. der geometrischen Betrachtung], um die Existenz Gottes und der Seele zu beweisen, und keine Sache als wahr anzunehmen, die mir nicht klarer und sicherer erschiene als zuvor die Beweise der Geometer. Indes wage ich zu behaupten, dass ich nicht nur das Mittel gefunden habe, mich kurzerhand bezüglich aller Hauptprobleme, die man in der Philosophie üblicherweise behandelt, zufrieden zu stellen, sondern dass ich auch gewisse Gesetze bemerkte, die Gott solchermaßen in die Natur eingesetzt hat, dass wir, nachdem wir genügend darüber reflektiert haben, nicht mehr daran zweifeln können, dass die Gesetze in allem, was auf der Welt ist oder geschieht, genau befolgt werden. 118 mieux en particulier, je les devais supposer en des lignes, à cause que je ne trouvais rien de plus simple, ni que je pusse plus distinctement représenter à mon imagination et à mes sens; mais que, pour les retenir, ou les comprendre plusiers ensemble, il fallait que je les expliquasse par quelqueschiffres, les plus courts qu’il serait possible ; et que, par ce moyen, j’emprunterais tout le meilleur de l’analyse géométrique et de l’algèbre, et corrigerais tous les défauts de l’une par l’autre«. 118 Ebd., 5ème part., 71 f.: »Je suis toujours demeuré ferme en la résolution que j’avais prise, de ne supposer aucun autre principe, que celui dont je viens de me servir pour démontrer l’existence de Dieu et de l’ âme, et de ne recevoir aucune chose pour vraie, qui ne me semblât plus claire et plus certaine que n’avaient fait auparavant les démonstrations des géomètres. Et néanmoins, j’ose dire que, non seulement j’ai trouvé moyen de me satisfaire en peu de temps, touchant toutes les principales difficultés dont on a coutume de traiter en la philosophie, mais aussi, que j’ai remarqué certaines lois, que Dieu a tellement établies en la nature, et dont il a imprimé de telles notions en nos âmes, qu’ après y avoir fait assez de réflexion, nous ne saurions douter qu’elles ne soient exactement observées, en tout ce qui est ou qui se fait dans le monde«. Descartes etabliert hier geradezu einen Leitgedanken seiner Philosophie. Die geometrischen Beweise verbürgen sich für die hier angedachte Erkenntnismethodik im umfassendsten Sinne. So wird Descartes auch vier Jahre später in den Meditationes de prima philosophia (1641) die Existenz Gottes ausgerechnet
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Im Weiteren wird von Descartes auf die eigenen physikalischen Vorarbeiten rekurriert, namentlich auf den Traité du monde et de la lumière (postum 1664 publiziert) und den dritten Teil der Principia Philosophiae (entstanden in den Jahren vor dem Discours, publiziert aber erst 1644), 119 um die Einrichtung und die Wirksamkeit der Naturgesetze (les lois) als die zentralen Momente der Wirklichkeitsprozesse anzusetzen; im Discours findet dies bisweilen auch in Form einer vorgestellten Kosmogenese statt – diese zeichnet sich nach der dort vertretenen Ansicht dann dadurch aus, dass er [sc. Gott] hiernach [sc. nach der Schaffung der Materie] nichts anders tat, als der Natur seinen gewohnten Beistand zu verleihen und sie gemäß den Gesetzen, die er eingerichtet hat, wirken zu lassen. 120
Die Schaffung der Materie und ihre Einrichtung nach Naturgesetzen sind die beiden wesentlichen Schritte der Kosmogenese. Gott schafft die Welt zunächst materialiter, um sie dann wie einen mechanischen Apparat wirken zu lassen. Der ontologische Primat des Stoffs vor den Prinzipien der Form und Bewegung ergibt sich hier scheinbar wie von selbst und wird, wenn man so möchte, in ergreifender Schlichtheit vorgeführt. Die Welt wird durch Descartes' Annahme einfacher Naturgesetze nicht nur besser zu betrachten, sondern vor allem zu erklären sein. Anders gewendet: Auf die deskriptive Beobachtung, dass Materie existiert, folgt der kognitive Schritt, dass diese Materie sich nach bestimmten Gesetzen ausformt und bewegt. Und damit entspricht die menschliche Erkenntnismethode prozedural im Grunde auch dem göttlichen Vorgehen in der creatio. Indem der Mensch sich mit der Geometrie daran diskutieren, dass er sie auf dieselbe Ebene der Existenz geometrischer Figuren bringt: »Da ich nämlich gewohnt bin, in allen anderen Dingen die Existenz vom Wesen zu unterscheiden, redete ich mir leichtfertig ein, dass jene [sc. Existenz] auch vom Wesen Gottes abgesondert werden und auf diese Weise Gott gleichsam als nicht existent gedacht werden könne. Aber dennoch wird jemandem, der sorgfältiger sein Augenmerk darauf richtet, offenkundig, dass die Existenz vom Wesen Gottes getrennt werden kann, wie es vom Wesen eines Dreiecks getrennt werden kann, dass die Größe dessen dreier Winkel zwei rechten [sc. Winkeln] entspricht, oder von der Idee eines Berges diejenige des Tales ist.« (Descartes, Meditationes, Med. V, 64: »Cum enim assuetus sim in omnibus aliis rebus existentiam ab essentia distinguere, facile mihi persuadeo illam etiam ab essentia Dei sejungi posse, atque ita Deum ut non existentem cogitari. Sed tamen diligentius attendenti fit manifestum, non magis posse existentiam ab essentia Dei separari, quam ab essentia trianguli magnitudinem trium ejus angulorum aequalium duobus rectis, sive ab idea montis ideam vallis.«). 119 Vgl. die Anspielungen auf »einen Traktat, an dessen Veröffentlichung mich gewisse Erwägungen hindern« (Descartes, Discours de la méthode, 5ème part., 72: »un traité, que quelques considérations m’empêchent de publier«) sowie auf dasjenige, »was ich vom Licht verstand« (ebd.: »que je concevais de la lumière«) und die Ausführungen »über die Himmelsmaterie« (ebd.: »des cieux.«). 120 Ebd., 73: »il ne fît autre chose que prêter son concours ordinaire à la nature, et la laisser agir suivant les lois qu’il a établies«.
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einer Wissenschaft befleißigt, die uns über das Göttliche Auskunft gibt, der – mehr noch – sogar ein gewisser Anteil am Göttlichen zugesprochen wird, kann er die Natur durchdringen und verstehen. ›Neuzeitlich‹ erscheint hieran, dass in demselben Maße, wie die Naturgesetze unverbrüchlich einen numinosen Ursprung wie auch eine mechanische Wirkung aufweisen, die letzten scholastischen Reliquien okkulter Kräfte en passant ausgeschlossen werden. Ebenso spielen scholastische Erwägungen zum Weltenpluralismus oder einer translunaren Dignität in der Ausgestaltung dieser Kosmogenese keinerlei Rolle mehr. 121 Nach dieser Darstellung der Weltentstehung verfällt der Traktat nun auf diejenige des Mikrokosmos. Er kommt dabei ausführlich auf den Blutkreislauf zu sprechen. 122 Eingeleitet wird dies – was an dieser Stelle nicht mehr zu überraschen vermag – von einer weiteren Affirmierung der Mathematik, die hier nun in engem Verbund mit der physikalischen Sinnlichkeit steht – unter Gebrauch einer rhetorisch versierten Doppeldeutigkeit von force, die hier bald die mathematische Überzeugungskraft, bald die physikalischen Kräfte meint: Damit übrigens diejenigen, welche die Kraft mathematischer Beweise nicht kennen und nicht gewohnt sind, wahre Gründe von wahrscheinlichen zu unterscheiden, nicht riskieren, diesem hier ohne Prüfung zu widersprechen, möchte ich sie darüber unterrichten, dass die von mir gerade erläuterte Bewegung [sc. des Blutes] mit der gleichen Notwendigkeit allein aus der Verfasstheit der Organe, die man mit dem Auge am Herzen sehen kann, und aus der Wärme, die man mit seinen Fingern fühlen kann, und aus der Natur des Bluts, die man aus der Erfahrung kennenlernen kann, folgt, wie die Bewegung eines Uhrwerks aus der Kraft, der Lage und der Gestalt seiner Gewichte und seiner Räder. 123 Vgl. die Ausformung der Himmelsmaterie, in der sich nach Descartes nichts bemerkbar mache, »was nicht auch in der von mir beschriebenen ganz ähnlich erscheinen müsste oder wenigstens könnte« (ebd., 74: »qui ne dût, ou du moins qui ne pût, paraître tout semblable en ceux du monde que je décrivais«), das heißt: sich nicht nach rationalen Gesetzen der Mechanik vollzöge. 122 Die exzeptionelle Bedeutung der ›Entdeckung‹ des Blutkreislaufs für die Entwicklung des mechanistischen Denkens im 17. Jahrhunderts bedarf nach den Erörterungen von Wink (2013) und Aschoff (2009) hier keiner ausführlichen Erläuterung mehr. Gewissermaßen ihren Ausgangspunkt nimmt sie mit der Vorlesung William Harveys über die Blutzirkulation vor dem Londoner Royal College of Physicians von 1615; endgültig einem breiteren und vor allem kontinentaleuropäischen Publikum zugänglich gemacht wurden Harveys anatomische Forschungen dann mit der Publikation der Vorlesung im Jahr 1628 unter dem Titel Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus. 123 Descartes, Discours de la méthode, 5ème part., 79 f.: »Au reste, afin que ceux qui ne connaissent pas la force des démonstrations mathématiques, et ne sont pas accoutumés à distinguer les vraies raisons des vraisemblables, ne se hasardent pas de nier ceci sans l’examiner, je les veux avertir 121
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Es ist selten der Fall, dass bei Descartes etwas nicht einer grundlegenden Skepsis unterzogen würde. Hier wird jedoch tatsächlich einmal außer Zweifel gelassen, dass es denjenigen, die mit der einen Kraft (force des démonstrations mathématiques) nicht versehen sind, dennoch möglich ist, in die Kraft des in der Natur waltenden Uhrwerks (horologe) wenigstens über ihre eigene sinnliche Anschauung Einblicke zu gewinnen. Und ebendiese neue Form des Einblicks gewährt der Traktat nun im Folgenden selbst anhand der Darstellung der mechanischen Präzision, die in den Naturgesetzen herrschte und die stets von körperlichen Qualitäten auszugehen hätte: Der Blutkreislauf sei dadurch gekennzeichnet, dass der Blutstrom vom Gewebe abhängig sei, das sich gelegentlich »weniger leicht zusammendrücken« 124 lasse, dass dieses also über verschiedene Grade an »Festigkeit« 125 verfüge, dass das Blut gegen die Arterien »mit größerer Kraft schlag[e]« 126 als gegen die Venen und dass die Körpersäfte – immerhin noch bedeutende Reliquien der scholastischen Medizin – schlicht dadurch zu erklären seien, dass »die Kraft, durch die das Blut – indem es sich verdünnt – vom Herzen aus die Enden der Arterien durchquert, bewirkt, dass einige seiner Bestandteile in den Gliedern, in denen es sich befindet, zurückbleiben und diese dort den Platz von anderen einnehmen, die sie verdrängen« 127 etc. Das entworfene Bild ist so geschlossen wie eindeutig: Es sind die Regeln der Mechanik (règles des mécaniques), die ubiquitär im menschlichen Körper wirken – und dies nicht nur im Blut, sondern auch in den Säften, im Gewebe und in den Gliedern. Hierin wiederum erweise sich, dass nach den Regeln der Mechanik, welche dieselben sind wie diejenigen der Natur, wenn mehrere Dinge versuchen, sich zusammen in die gleiche Richtung zu bewegen, wo es aber nicht genug Platz für alle gibt – wie dies bei den Bestandteilen des Bluts geschieht, die aus der linken Herzkammer austreten und in Richtung des Gehirns streben –, die schwächsten und weniger stark bewegten durch die que ce mouvement, que je viens d’expliquer, suit aussi nécessairement de la seule disposition des organes qu’on peut voir à l’ œil dans le cœur, et de la chaleur qu’on peut connaítre par expérience, que fait celui d’un horologe, de la force, de la situation et de la figure de ses contrepoids et de ses roues«. Die Desavouierung der Wahrscheinlichkeit als ontologischen Prinzips kann hier als ein weiterer indirekter Affront gegen die scholastischen Kraftbegriffe gelten, die sich eng an diese Grundgröße koppelten. So firmiert etwa der Intellekt für das Gros der Scholastiker unter einer vis possibilis. 124 Ebd., 81: »moins aisées à presser«. 125 Ebd.: »dureté«. 126 Ebd.:, 82 »avec plus de force«. 127 Ebd., 83: »la force, dont le sang en se raréfiant passe du cœur vers les extrémités des artères, fait que quelquesunes de ses parties s’arrêtent entre celles des membres où elles se trouvent, et y prennent la place de quelques autres qu’elles en chassent«. Der letzte Aspekt lässt sich geradezu als stark geraffte Paraphrase von Lucr., 1, 322–365 lesen.
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stärker bewegten weggedrängt werden; dadurch allein kommen letztere dorthin. 128
Es ist also nicht mehr von mühseligen Handwerkskünsten die Rede, sondern von hydraulischen Kräften, die – ganz im Gegensatz zu der Auffassung, wie wir sie noch in der Renaissance-Philosophie prominent bei Del Monte und den von ihm angestoßenen Debatten vorfinden konnten – keinen Widerpart zur Natur einnehmen (repugnantibus legibus naturae), sondern ihnen völlig entsprechen (les mêmes que celles de la nature). Für die Methodik bedeutet das nun: Der mathematische Vernunftgebrauch erschließt, offenbar in Verbindung mit einer strikten Vorstellung von Kausalität, 129 auch die mechanischen Vorgänge im Mikro- und Makrokosmos, und zwar nicht in Trennung, sondern in Abhängigkeit zueinander. Eine solche Form der Welterschließung – die als ›cartesische Methodik‹ großen Erfolg zeitigte – 130 führt darüber hinaus zu einer Mechanik-Auffassung unter Ausschluss des scholastischen Kriteriums der Wahrscheinlichkeit: Da die Natur nur und ausschließlich intelligibel ist, können ihre Prozesse auch nur wahr oder falsch sein. Die Erkenntnis der Natur fällt mit der Erkenntnis ihrer Gesetze überein. Sie weist daher bei all ihrer Mechanizität auch eine intellektualistisch zu nennende Komponente auf. 128 Ebd., 84: »selon les règles des mécaniques, qui sontles mêmes que celles de la nature, lorsque plusieurs choses tendent ensemble à se mouvoir vers un même côte, où il n’y a pas assez de place pour toutes, ainsi que les parties du sang qui sortent de la concavité gauche du cœur tendent vers le cerveau, les plus faibles et moins agitées en doivent être dé tournées par les plus fortes, qui par ce moyens s”, ’y vont rendre seules«. 129 Vgl. Gaukroger (2016), 71: »The microscopic level was one of common causation: every physical state and process could be traced back to causes at this level, so that the traditional classifications were rendered redundant«. Mit den »tradional classifications« sind die vorcartesischen, insbesondere scholastischen Annahmen zur Ursächlichkeit materieller Bewegungen angesprochen. 130 Man betrachte hierzu nur exemplarisch die Reflexionen Christian Huygens in seinem Briefverkehr mit Pierre Bayle, in dem er unter anderem davon spricht, dass »Herr Descartes die Manier gefunden [hatte], dass seine Vermutungen und Fiktionen für Wahrheiten gehalten wurden. Und es geschah denjenigen, die seine Prinzipien der Philosophie lasen, etwas ähnliches wie denen, die Romane lesen, die gefallen und den gleichen Eindruck machen wie wahrhafte Geschichten. [. . . ] Mir schien, als ich dieses Buch über die Prinzipien zum ersten Mal las, dass alles bestmöglich lief, und ich glaubte, wenn ich eine Schwierigkeit darin fand, dass es mein Fehler sei, seinen Gedanken nicht richtig zu verstehen. Ich war nicht älter als 15 oder 16 Jahre.« (Huygens, Lettres à Bayle, 403: »Mr des Cartes avoit trouvé la maniere de faire prendre ses conjectures et fictions pour des veritez. Et il arrivoit a ceux qui loisiont ses Principes de Philosophie quelque chose de semblable qu’a ceux qui lisent des Romans qui plaisent et font la mesme impression que des histoires veritables. [. . . ] Il me sembloit lorsque je lus ce livre des Principes pour la premiere fois que tout alloit le mieux du monde, et e croiois, quand j’y trouvois quelque difficultè, que c’étoit ma faute de bien comprendre sa pensée. Je n’avois que 15 à 16 ans.«) Mag sich Huygens also, wie hier ersichtlich, vom Cartesianismus selbst abgegrenzt haben, so wird dessen Einfluss auf seine philosophische Biographie von ihm nie angezweifelt.
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Ebendiese methodische Grundeinstellung gegenüber den Naturprozessen wird sich fortan, vornehmlich im Zuge ideengeschichtlicher Reflexionen der an Einfachheit oder an Komplexität orientierten Erkenntnisparadigmen, besonders gut für einen Vergleichspunkt mit den Peripatetikern eignen – insbesondere da nach einer verbreiteten Lehrmeinung Aristoteles und dessen Anhänger ja gerade nicht von ihr Gebrauch gemacht hätten. Für Aristoteles muss die Erkenntnis der ›Naturgesetze‹ (die er im Übrigen auch nicht als ›Gesetze‹ auffassen würde) nicht mit dem ›Sein‹ derselben in eins fallen; 131 ferner ist die hervorgehobene Stellung der Mathematik – durchaus in Absetzung von Platon – bei Aristoteles nicht mit einer ontologischen oder methodischen Bevorzugung verbunden, wie es für Platon (ontologisch) und Descartes (methodisch) gelten kann. Am prägnantesten zu diesem diachronen Verhältnis hat sich René Le Bossu (1631–1680) in seinem vielbeachteten Traktat Parallèle des principes de la physique d'Aristote & celle de René Des Cartes (1674) geäußert. Er stellt das genaue Gegenteil zu demjenigen dar, was wir bei Pierre Gassendi und dessen gleichzeitiger Ablehnung der aristotelischen wie der cartesischen Naturphilosophie gesehen hatten. Hier geht es nun vielmehr um die Gemeinsamkeiten der antiken und der frühneuzeitlichen Erkenntnismethodiken: Ich kann also nicht die Parallele dieser beiden Methoden unberücksichtigt lassen: Ich möchte über diejenige [sc. Methode] des Aristoteles sprechen, der zunächst die zusammengesetzten und fühlbaren Dinge vorbringt, zusammen mit derjenigen [sc. Methode] der Geometer, von der man behauptet, Herr Descartes habe sie gewählt, indem er mit dem begann, was am einfachsten ist. Ich gestehe die Schärfe und Exaktheit der Mathematiker in ihrer Methode zu und in derjenigen Reihenfolge, von der sie üblicherweise Gebrauch machen, um sie zu lehren, und ich zweifle nicht daran, dass Aristoteles Recht gehabt hätte, diese Reihenfolge zu bevorzugen, die sie befolgen, gegenüber der entgegengesetzten Reihenfolge, die weniger regelhaft und weniger lehrreich wäre: ich gestehe jedoch nicht zu, dass diese Schärfe und diese Exaktheit allgemein und unmittelbar von der Einfachheit im Gegensatz zur Zusammengesetztheit herrühren. 132 Hier sei an die in Kapitel II.1 dargelegte Position aus der Physik erinnert, die besagt, dass die Wirklichkeit zwar von kontingenten Ereignissen durchwirkt werde, das Erklären und Verstehen der Naturprozesse jedoch nach wesensgemäßen Ursachen (,Anfangsgründen’) zu fragen habe – und gerade nicht nach dem Akzidentellen. Die Trennlinie zwischen der Erkenntnis des Seins und dem Sein als solchem verläuft bei Aristoteles analog zur Trennlinie zwischen Akzidentellem und naturgemäß Notwendigem. 132 Le Bossu, Parallèle des principes, 36 f.: »Je ne puis donc omettre le Parallèle des ces deux méthodes: je veux dire de celle d’Aristote, qui propose d’abord les choses composées & sensibles avec celle des Géométres, que l’on prétend M. des Cartes a retenuë, en commençant par ce qu’il y a de plus simple. Je conviens de la justesse & de l’exactitude des Mathématiciens dans leur méthode, 131
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Le Bossu führt hier die Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung dadurch ein, dass er sie an Aristoteles und Descartes spiegelt: Unter Abgrenzung der beiden Grundsätze der Einfachheit (simplicité) und der Zusammensetzung (composition) wird die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gelegentlich aufkommende Lehrmeinung geprüft, Descartes und die Geometer seien in ihrer Weltbetrachtung deswegen einander ähnlich, weil sich beide – im Einklang mit dem keplerschen Diktum einer Geometrie, die una & aeterna sei – mutmaßlich der simplicité verschrieben hätten. 133 Sie werden zudem von Aristoteles abgesondert, da dieser stets vom Zusammengesetzten ausgehe und daher dem Prinzip der composition zuzuordnen wäre. 134 Le Bossu teilt diese aus seiner Sicht oberflächliche Meinung mancher Zeitgenossen offenkundig nicht, insofern die mathematische Exaktheit überhaupt nicht zwingend von der simplicité herrühren müsse. Daher stelle auch der von Descartes im Discours de la méthode verfolgte Primat der Mathematik alles andere als eine Abgrenzung von Aristoteles dar. Vielmehr müsste es dann als eine Frage der philosophischen Lehre gelten – erst recht, wenn sie nicht in einem esoterischen, selbstbezüglichen Status verharren wolle –, in welcher Reihenfolge die einzelnen Erkenntnisschritte vollzogen und vermittelt werden. In der zumindest partikularen Hinwendung zur kompositionellen und stufenweisen Erkenntnis ist daher die im Titel veranschlagte Parallele der Methoden auszumachen. Descartes' eklektisches Entlehnen, sein & dans l’ordre dont ils usent pour enseigner, & je ne doute pas qu’Aristote n’ait eu raison de préférer cét ordre, qu’ils observent, à l’ordre contraire, qui seroit moins régulier & moins instructif: mais je ne conviens pas que cette justesse & cette exactitude vienne en général & immédiatement de la simplicité opposée a la composition«. 133 ›Einfach‹ ist etwa die Methode der Geometer zu nennen, insofern sie von nicht zusammengesetzten Dingen, sondern vom Punkt als erster Größe ausgehen, und daran anschließend, durch Hinzunahme von Dimensionen, zur Beschreibung von Linien, Figuren und Körpern gelangen. Vgl. zu diesem Aspekt der einfachen Anfangsgründe auch Descartes, Discours de la méthode, 2ème part., 46 f.: »Et je ne fus pas beaucoup en peine de chercher par lesquelles il était besoin de commencer; car je savais déjà que c’était par les plus simples et les plus aisées à connaître; et considérant qu’entre tous ceux qui ont ci-devant recherché la vérité dans les sciences, il n’y a eu que les seuls mathématiciens qui ont pu trouver quelques démonstrations, c’est-à-dire quelques raisons certaines et évidentes, je ne doutais point que ce ne fût par les mêmes qu’ils ont examinées.« (»Und ich befand mich nicht gerade in großer Verlegenheit, um herauszufinden, womit [sc. hinsichtlich der Erkenntnismethode] anzufangen sei, denn ich wusste bereits: mit den einfachsten und am leichtesten zu erkennenden Dingen; und da ich bedachte, dass unter all denen, die zuvor nach der Wahrheit in den Wissenschaften gesucht haben, es allein die Mathematiker waren, die einige Beweise gefunden hatten, das heißt einige sichere und evidente Gründe, so zweifelte ich nicht im Geringsten daran, dass es an ihnen [sc. den einfachen und am leichteste zu erkennenden Dingen] selbst lag, die sie untersucht haben.«). 134 In Anspielung auf die ersten Anfangsgründe, die nach Aristoteles immer mehrere sein müssen und dabei nicht auseinander herleitbar sein dürfen; vgl. prominent Aristot., phys., 1, 2, 185a1–12, wo bezeichnenderweise auch der regelrechte Erklärungsnotstand der Geometer hinsichtlich dieser Frage explizit zur Sprache gebracht wird.
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emprunter le meilleur aus Analysis und Algebra, führt nicht zur Konfusion, sondern ganz im Gegenteil zu größerer Klarheit der Erkenntnis. Ebendies ist aber in keinem Widerspruch zu Aristoteles' Wissenschaftsbegriff zu sehen, der – wie an nahezu jedem Proömium einer beliebigen aristotelischen Schrift ablesbar – ebenso von einfachsten Grundaxiomen und terminologischen Beziehungen ausgeht. Sehr häufig bestehen diese Grundaxiome aus teleologischen respektive Natur-Argumenten. 135 Für uns hieran noch wichtiger als diese gewiefte, ja teils sophistisch anmutende Parallelisierung, die Le Bossu vornimmt, ist allerdings dasjenige, was an keiner Stelle angezweifelt wird, vielmehr schlechthin festzustehen scheint: dass die mathematische Methode weiterhin als exakte, wahrscheinlich gar als die exakteste wissenschaftliche Betätigung überhaupt zu gelten hat. Die Betrachtung der Natur sollte sich demzufolge gar nicht erst lange mit der Frage nach der Rolle der simplicité oder der composition im Bereich der Mathematik aufhalten, sondern durch ihre Hinwendung zur und Instrumentalisierung der Mathematik den Bereich des Spekulativen vermeiden und genaue Ergebnisse produzieren, die sich im Übrigen bereits an den sinnlichen Wahrnehmungen erproben lassen. Denn dass die Sinne der mathematischen Exaktheit nicht entsprechen können, sondern in verschiedenen Qualitätsgraden Eindrücke liefern, ändert nichts an der Tatsache, dass sie uns eine Vorstellung von Präzision überhaupt vermitteln können – gerade weil unsere Wahrnehmungen graduell unterschiedlich scharf – klar (clarus), unterschieden (distinctus), verworren (confusus), vermischt (mixtus), scharf (acer) oder stumpf (hebes) – sein können und somit überhaupt erst auf dieses Kriterium der Weltwahrnehmung nachdrücklich aufmerksam machen. Sie sind dementsprechend sowohl auf Wahrnehmungen als auch auf mathematische Begriffe selbst applizierbar. 136 Zudem ist es Aufgabe des skeptizistisch verfahrenden Philosophen, wie Descartes in den Meditationes de prima philosophia (1641) vorführt, nach 135 Vgl. als exemplarische, proömiale Stellen Aristot., eth. Nic., 1, 1094a1–4, Aristot., pol., 1, 1252a1–6, Aristot., an., 402a1–6 oder die in den Kapiteln II.2 und II.5.a der Studie bereits ausführlicher behandelte Stelle bei Aristot., poet., 1, 1447a8–13. 136 Sinneseindrücke, die wir von der Natur empfangen, sind nach weitgehender Überzeugung der Frühen Neuzeit nicht von Mathematizität befreit, denn die Natur verhält sich nach Gesetzen, die der Mathematik nicht nur entsprechen, sondern diese gleichsam als Medium gebrauchen. Vielfach bemüht und bis in die Gegenwart weithin bekannt ist etwa die dem Pythagoreismus und dem Platonismus entstammende Gnome, Mathematik stelle so etwas wie die ›Sprache der Natur‹ (vgl. etwa Behrends [2010]) dar. Die gelegentliche, auch von Behrends vertretene Rückführung dieser Denkfigur auf Galileis Il saggiatore (1623) ist indes leicht irreführend, da Galilei, wenn er dort – prominent etwa im sechsten Buch – Mathematik als Sprache einstuft, diese vor allem als eine Sprache der Philosophie betrachtet.
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seiner Verzweiflung an der Unzuverlässigkeit der Sinne zu einer Affirmierung des eigenen Denkvermögens zu gelangen. Aber selbst dies ändert nichts daran, dass die Sinne in jenem ersten Stadium des Philosophierens radikal auf die Probe gestellt werden und das Kriterium der Zuverlässigkeit (certitudo, certitude) der Erkenntnis dadurch noch umso deutlicher als Kriterium vor Augen tritt. Um nun die Naturbegriffe um 1700 in Hinblick auf eben diese Postulate methodischer Präzision und Zuverlässigkeit weiter zu skizzieren, ist daher auch bei den Beziehungen anzusetzen, welche die naturwissenschaftliche Praxis nicht nur zur Mathematik selbst, sondern zur mathematischen Naturbeschäftigung einnimmt. Die Mathematik wird dabei zusehends zu einer für die philosophia naturalis hochgradig applikationsfähigen Verfahrensweise fortentwickelt; sie entzieht sich dem Vorwurf einer planen Theorielastigkeit, indem sie »gleichzeitig die platonische Idealität des Mathematischen als auch die unplatonische Aufwertung körperlicher Sinneserfahrung« 137 bedient; sie entspricht daher in vorzüglicher Weise demjenigen, was nach antikem Denken mit dem νοῦς (noûs) in Verbindung gebracht wurde – der es nämlich sowohl vermag, uns abstrakte Gesetzmäßigkeiten vorzuführen, als auch das sinnliche Geschehen verstandesgemäß zu erfassen – und geht dabei doch noch über ihn hinaus, insofern die µάθησις (máthe¯sis) nicht, wie im Platonismus üblich, in den ihr einmal zugewiesenen Abstraktheitsgraden verharrt, sondern sich über ihre methodischen Wert in praxi die sinnliche Welt ebenso aneignet wie das Reich der Abstraktion. Ein derart umfassender Anspruch an eine Disziplin, die nunmehr als mathesis universalis oder mathesis universa firmiert und eben nicht auf jene Geistessphäre höherer Numinosität zu beschränken ist, vielmehr ganz besonders auf methodische Regeln und Gesetze und deren dynamische Applikationsweisen abzielt, kann nicht nur im 17. Jahrhundert für Philosophen wie Descartes und Astronomen wie Galilei und Kepler, sondern bis in das 18. Jahrhundert als ein sicheres Erkenntnisinstrument sowie als ein dezidiert moderner Weltzugriff gelten. 138 Eine frühzeitige und zugleich eine der eingängigsten Definitionen hierzu findet sich ein weiteres Mal bei Descartes, nämlich in dessen 1619–1628 entstandenen Regulae ad directionem ingenii. Diese Regulae wurden postum, als Teil der Opuscula postuma Physica et Mathematica (1701) veröffentlicht und enthalten einige der einflussreichsten Grundsätze, die zwar zu Descartes' Lebzeiten Fragment geblieben sind, aber für das cartesische und cartesianische Denken des 17. Jahrhunderts eine erheb137 Achermann (2015), 39. Achermann entwickelt diesen Gedanken vor allem in Bezug auf die Mathematik als ars inveniendi, die sich ihrem eigenen Anspruch nach selbst zum Ausgangspunkt des wissenschaftlichen, auf das Diesseits gerichteten Forschens erklärt. 138 Dies wird in Kapitel III .3 Hauptthema sein, in dem der Blick auf Newton, Leibniz und Wolff gerichtet wird.
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liche Mustergültigkeit entfalten konnten. Der Zusammenhang innerhalb der cartesischen Philosophie, etwa mit dem Discours de la méthode, erschöpft sich nicht im Produktionszeitraum, 139 sondern schlägt sich auch auf inhaltlicher Ebene nieder. So heißt es zur Rolle und Funktion der universellen Mathematik (mathesis universalis): Demjenigen [sc. René Descartes selbst], der hierauf näher sein Augenmerk richtete, wurde schließlich klar, dass sich nur all jene Dinge, in denen Ordnung oder Maß festgestellt werden, auf die Mathematik beziehen und dass es keine Rolle spielt, ob ein solches Maß in Zahlen oder in Figuren oder in den Gestirnen oder in den Tönen oder in irgendeinem anderen Objekt gesucht werden muss; und dass daher eine Wissenschaft eine gewisse allgemeine sein muss, die nämlich all dasjenige erklärt, was hinsichtlich der Ordnung und dem Maß untersucht zu werden keiner Spezialwissenschaft zugeschrieben kann, und dass ebendiese [sc. Wissenschaft] nicht mit einem unbekannten, sondern mit einem bereits eingebürgerten und durch Gebrauch bestätigten Ausdruck ›universelle Mathematik‹ genannt wird, da ja in dieser all jenes enthalten ist, weswegen andere Wissenschaften auch als ›mathematische Teile‹ bezeichnet werden. 140
Die mathesis universalis ist aus Sicht des hier in der dritten Person auftretenden Descartes im wahrsten Sinne eine allumfassende: Die Ebenen der Zahlenlehre (numeri), der Geometrie (figurae), der astronomischen Optik (astra) und der Akustik (soni) werden regelrecht gleichgeschaltet. Bemerkenswert ist zudem die Rückführung auf Pappos – eine Autorität, die wir bei Del Monte bereits als Zeugen für die Vervollkommnung der Geometrie besehen konnten. Descartes benutzt Pappos hier nun – an der Seite von Diophantos – als Gewährsmann für die neue Art der Mathematik; denn die Spuren dieser wahren Mathematik [sc. der mathesis universalis] scheinen mir bei Pappos und Diophantos offensichtlich zu sein, die freilich nicht im ersten Zeitalter, aber doch viele Jahrhunderte vor diesen [sc. unseren] Zeiten lebten. 141 Die Arbeit an den Regulae wurde von Descartes 1619 begonnen, wobei von ursprünglich 35 angedachten Prinzipien 21 umgesetzt worden sind. 140 Descartes, Regulae ad directionem ingenii, 13: »Quod attentius consideranti tandem inottuit, illa omnia tantum, in quibus ordo vel mensura examinantur, ad Mathesin referri, nec interesse utrum in numeris, vel figuris, vel astris, vel sonis, aliove quovis talis mensura querenda sit; ac proinde generalem quamdam esse scientiam, quae id omne explicet, quod circa ordinem et mensuram nulli speciali materiae addicta quaeri potest, eamdemque, non ascito vocabulo, sed iam inveterato atque usu recepto, Mathesin universalem nominari, quoniam in hac continetur illud omne, propter quod aliae scientiae et Mathematicae partes appellantur«. 141 Ebd., 12: »huius verae Mathesis vestigia quidem adhuc apparere mihi videntur in Pappo et Diophanto, qui, licet non prima aetate, multis tamen saeculis ante haec tempora viscerunt«. 139
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Somit sind Pappos und Diophantos zwar nicht die ältesten Mathematiker (zu dieser Riege zählen eher Pythagoras und Thales von Milet), aber doch diejenigen, auf deren Universalitätsanspruch sich auch die gegenwärtige Mathematik stützen kann. Erschien Pappos bei Del Monte noch als mathematische Koryphäe der alten Mechanik (die sich noch als widerspenstig zur Natur begriff), so besetzt er bei Descartes eine Vorreiterrolle hinsichtlich der neuen Mechanik (die sich mit der Natur – wie im Discours gesehen – in völliger Übereinstimmung befindet). In beiden Fällen findet die Mathematik jedenfalls in der Geometrie ihre Vollendung, insofern es ihr funktional erlaubt ist, prinzipiell alle Naturbereiche zur Darstellung zu bringen. Im 17. Jahrhundert wird also die Naturphilosophie durch die Fortschritte der Mathematik selbst in entscheidender Weise immer weiter zu einer Form praktischer Mathematik stilisiert. Diese Stilisierung funktioniert aber auch aus umgekehrter Perspektive: So wird der Entwurf eines physikalischen Systems für Newton in den Philosophiae naturalis Principia mathematica (1687) zum Anlass, die Mathematik weiter zu nobilitieren, gar als Grundlegung der philosophischen Erkenntnis auszustellen. 142 Hierin erweist sich nun die ideengeschichtlich vielleicht wichtigste Konstante: Mag es auch ein Anliegen Newtons sein, sich von den Cartesianern in möglichst vielerlei Hinsicht abzugrenzen, so halten beide Parteien doch in trauter Einigkeit am Vorrang mathematischer Erkenntnismöglichkeiten sowie am mechanistischen Denken fest. Beide müssen sich dabei gar nicht einmal in besonderem Maße gegen peripatetische Auffassungen richten, denn der Aristotelismus kann in seiner Hinwendung zu operationalisierbaren Anfangsgründen, zum Bewegungsprinzip als erstem Urgrund und zu einem produktiven, mit dem 17. Jahrhundert gesprochen: naturierenden Wesensbegriff (natura naturans) nach wie vor eine beträchtliche metaphysische Rolle spielen – und ebendies zeigt sich auch bei Le Bossu, der historisch, so die sich hier anbietende Lesart, gleichsam eine Brücke zwischen Descartes und Newton bildet: Die Mechanik mag sich zwar dem Prinzip der simplicité verschreiben, insofern ihre Anfangsgründe nicht zusammengesetzt sind und sie ihre methodische Präzision, einschließlich ihrer einfachen Semiotik, von der Geometrie herleitet; damit allein ist jedoch noch kein anti-aristotelisches Verhältnis hinsichtlich ihrer Verfahrensweise ausgesagt. Ebenso wenig hat hieraus ein Abgesang auf jegliche transzendentalen Ansprüche zu folgen. Vielmehr liegt der mechanistischen Theoriebildung, etwas gewagter ausgedrückt, eine in sich komplementäre physische und metaphysische Einstellung zugrunde. Nicht nur in der Titelgebung selbst – die eine augenfällige Kontrafaktur zu Descartes’ Principia Philosophiae (1644) bildet –, sondern auch in der graphischen Gestaltung des Frontispizes schlägt sich dies publikumswirksam nieder, wie Gaukroger (2010), 55–57 aufzeigt. 142
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Es lässt sich demnach für das 17. Jahrhundert eine Lage zusammenfassen, die in ihrer Verschränkung von Theorie und Methodik der Mechanik ein ziemlich unerwartet gutes Fundament bereitet. Dass sie auf dieser Basis bei all ihrer Tendenz zu einem minimalistisch anmutenden Naturbegriff eine eigene Systematizität (die bis heute von Seiten der Geistes- und Naturwissenschaften ›klassisch‹ genannt wird) errichten kann, ist, wie noch genauer gezeigt werden soll, nicht ohne die umfassenden Vorarbeiten zu denken, die in der Naturphilosophie des 15. und 16. Jahrhunderts begründet liegen. Es soll also im weiteren Verlauf der Studie um die oben genannte Komplementarität von Physik und Metaphysik gehen. Um den Blick hierbei nun auf diejenigen Größen zu richten, die sich in diesen Ausprägungen novatorisch zur eigenen Tradition verhalten, liegt es am nächsten, beim Massebegriff anzusetzen. Denn zum einen stellt dieser selbst eine zentrale Grundgröße dar, die bereits im Mittelalter als hochgradig vieldeutig aufgefasst und problematisiert wurde, 143 nur um dann in der Frühen Neuzeit in fast schon furioser Weise weiterentwickelt zu werden; zum anderen ließen sich in der Tradition von Galilei und Kepler gerade entlang der Masse Begriffe wie Trägheit (inertia) und Schwere (pondus, moles, gravitas) derartig fortschreiben, dass sie überhaupt erst zu unverbrüchlichen Bestandteilen des Mechanizismus werden konnten. Sie sind, da sie nicht genuin der Geometrie entstammen, wissenschaftsgeschichtlich zu denjenigen Paradigmen zu zählen, die sich anschicken werden, die Mechanik über den Status der bloßen Applikation mathematischer Teildisziplinen zu erheben und im Zuge der Sublimierung dieser Lehre an die Seite einer physikalischen dann auch eine philosophische Dignität treten zu lassen. Wenn sich über derartige Paradigmen der Anspruch der Mechanik ausdrückt, sich in metaphysische Gefilde zu begeben und dabei auch über vormals festgefügte Grenzen verschiedener Disziplinen zu treten, so liegt dies insbesondere daran, dass ihre Funktionalität – und dies dann wiederum in peripatetischer Tradition – darauf beruht, dass die Wirksamkeit ihrer Elemente in actu – das sind: die Naturphänomene – auf deren eigene Prinzipienhaftigkeit rückverweist. Diese Prinzipienhaftigkeit wird nunmehr – und dies ist dann nicht mehr ungebrochen ›peripatetisch‹ zu nennen – auf die materielle und körperliche Trägersubstanz bezogen. Denn es So stellt die Beschäftigung mit der Frage, ob Masse überhaupt existiere, prinzipiell eine der Hauptaufgaben für mittelalterliche Scholastiker dar. Auch über ihr Wesen wird im Rahmen der Alchemie und Substanzenlehre – wenn auch nicht exklusiv dort – vielfältig spekuliert. Die Restauration solcher Formen der Naturdeutung lässt sich besonders gut anhand von Mystikern wie Francis Glisson (vgl. umfassend und luzide Hartbecke [2006] sowie in Bezug auf die GalenRezeption Hartbecke [2005]) nachvollziehen. Es geht hierbei, kurzgefasst, um die Annahme eines Grundwiderstandes (resistentia), den die Materie in sich berge, um sich überhaupt zu einer substanzhaften Masse (moles substantialis) zunächst partikular und dann auch in korpuskularer Form vereinen zu können. 143
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geht in derartigen Begründungsmomenten um die jeweilige Primärgröße, die der diesseitigen Welt zugeschrieben wird – und nicht mehr, wie im Aristotelismus und Platonismus üblich, der metaphysischen Welt mit ihrem unbewegten Beweger oder ihren Ideen vom Guten, Wahren und Schönen. Somit spiegelt sich die Fokus-Verschiebung des sich im 17. Jahrhundert ausformenden neuen Erkenntnisinteresses vor allem entlang des Paradigmenwechsels von der οὐσίαbeziehungsweise εἶδος-Lehre zur neuzeitlichen Substanzenlehre wider – und dies unter einen bemerkenswerter Aufrechterhaltung der beiden wichtigsten antiken Philosophenschulen. 144 Während sich aber eine so traditionsreiche Strömung wie der Platonismus von der vorrangigen Stellung begrifflich erfassbarer Ideen überzeugt zeigt, kommt der Mechanizismus nicht ohne die Lehre von den Naturgesetzen und deren physischen Verwirklichungen aus, setzt diese – wie in Descartes' Discours de la méthode gesehen – gar recht früh überhaupt an den Beginn philosophischer Betrachtungen. Vorrangiges Ziel im Fortgang unserer Untersuchung stellt nun die Erörterung der Fragen dar, ob der Masse und der Materie so etwas wie autarke Kräfte zukommen können und wie diese Kräfte, so sie denn in simplice existieren, den aus dem Aristotelismus tradierten Unterschied zwischen Potentialität und Aktualität zu nivellieren oder gar ganz aufzulösen wissen. Zur allgemeinen Frage gewendet heißt dies: Wie können ehemals geschiedene Paradigmen wie ›Vermögen‹ und ›Vollzug‹ zu mechanischen Größen vereinheitlicht werden und infolgedessen auf der Ebene eines solchen Begriffstableaus neue Differenzen ausprägen, wie wir sie am prominentesten zwischen der energetischen Physik eines Leibniz und der krafttheoretischen Physik eines Newton vorfinden? Der weitere Blick der Studie ist somit prospektiv auch auf eine Betrachtung von Potentialen, Kräften und Energien um Vgl. treffend hierzu Kondylis (22002), 82 f.: »Platonismus und Aristotelismus bilden den mangels einer dritten Sprache unentbehrlichen Diskursrahmen der langen Übergangszeit [der Zeit vom 15. bis zum 17. Jahrhundert; D. B.], und in der jeweils verschiedenartig nuancierten Begrifflichkeit der beiden fanden sowohl Konservierungs- als auch Erneuerungsversuche ihren Ausdruck« sowie dezidiert auf die Descartes-Rezeption bezogen Hurson (2009), 19: »Was die Beziehungen zwischen Leib und Seele betrifft, die Descartes und Spinoza so mächtig beschäftigen werden, lehrte Aristoteles eine dissoziative Unaustauschbarkeit zwischen den Grundgattungen Geist und Naturgeschehen (›Dem Geschlechte / der Gattung nach andere heißen die Dinge, deren erstes Zugrundeliegendes ein anderes ist und welche nicht ineinander oder beide in dasselbe aufgelöst werden‹, Met. ∆ 28, 1024 c1 Anmerkung); dies wird die Mehrzahl der Spezialwissenschaften rechtfertigen mit, hinwiederum, der Beibehaltung der Beziehung Akt-Potenz als eines Universalprinzips. Plato trennte metaphysisch stromaufwärts, um dann stromabwärts didaktisch ein einheitliches Wissen herbeizuwünschen; Aristoteles begrüßte das Gedeihen der Teilwissenschaften, weil, für ihn, am Anfang keine Spaltung des Seins und kein Hinweis auf Hinterwelten bestehen konnten. Innerhalb dieser gedanklichen Spannweite stehen oder fallen die Bemühungen der deutschen Gelehrten, Descartes als ihren Zeitgenossen zu entziffern und sich anzueignen«. 144
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1700 gerichtet. Leitend kann bei der Erörterung dieser Größen zunächst nicht die klassische Wesensfrage der Scholastik (quid est?) sein, sondern – um der naturphilosophischen Bandbreite, die hier im Spiel ist, überhaupt gerecht zu werden – die Frage nach der Wirksamkeit mechanischer Prozesse in ihrer aktiven und passiven Präsenz. Denn Prozeduren, Dinge in Anstoß zu bringen oder selbst angestoßen zu werden, also eine entsprechende Anstoßkraft und Anstoßfähigkeit zu besitzen, verweisen als ausübende und empfangende Prinzipien nicht schlichtweg auf ante/post-Verhältnisse, namentlich auf die Konzepte von repraesentatio und idea oder von actus und potentia, sondern – um einen impliziten Punkt des mechanistischen Monismus nochmals aufzugreifen – auf das Desiderat, die Welt in einfachen und irreduziblen Größen zu betrachten. Die (neo-)platonischen Ideenwelten müssen hierbei zu einem gewissen Grade einem universell-mathematisch aufgefassten Wissenschaftsbegriffs fügen, eben jenem Wissenschaftsbegriff, den Descartes in den Regulae andachte und im Discours publikumswirksam verkündete. Ein solcher Prozess wiederum erscheint als Richtschnur der Studie bestens geeignet, da die für die Naturvorstellungen des 17. Jahrhunderts wegweisenden Traktate Galileis und Keplers noch recht konstant an Vorstellungen einer kosmologischen Harmonik gekoppelt sind; und diese befinden sich, wie wir an vielen Stellen noch genauer sehen werden, nun einmal in ausdrücklicher Tradition des Platonismus und Aristotelismus. Für uns wird hieran an verschiedenen Stellen wichtig sein, dass es im methodisch-theoretischen Verbund, der zu jenem neuen Naturverständnis führt, wenigstens in Teilen bereits um psychologische Zusammenhänge geht. Sie treten jedoch in einem neuen Zuschnitt auf: Die auf Mathematik und Geometrie beruhende Psychologie erklärt – darin den (Neo-)Platonikern noch ähnlich – die seelischen Tätigkeiten aus Prinzipien heraus, die es bereits in einem kosmischen Rahmen zu berücksichtigen und zu beschreiben gelte – mit dem Unterschied, dass ein Platoniker kaum jemals auf den Gedanken verfiele, dass es nun ausgerechnet mechanische Bewegungen seien, welche die Analogien zwischen Kosmos und Mensch konstituierten. Genau dies ist es aber, was sich in der Frühen Neuzeit, insbesondere im 17. Jahrhundert, radikal und nachhaltig ändern soll. Aus den Grundzügen, die bisher zur Entwicklung des mechanistischen Denkens skizziert wurden, ergeben sich daher bestimmte Lektüreeinstellungen, mit denen wir hier den Philosophen der Frühen Neuzeit begegnen wollen. Hierzu sind vorwiegend drei historische Linien synoptisch hervorzuheben, deren Darstellung ertragreicher erscheint, als es ein bloßer begriffsgeschichtlicher Abriss sein könnte: Zunächst möchte der folgende Gang durch den Aufstieg der Masse Ideengeschichte in dem Sinn betreiben, dass die Diskurse über Aktivität und Passivität in der Naturphilosophie im Übergang vom 16. zum 17. Jahr-
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hundert anhand wichtiger Stationen nachverfolgt werden können. Spezifisch sind hierzu die Fragen zu zählen, ob und inwiefern Bewegung aus Trägheit heraus resultieren könne, ob sich Materie stets passiv zum Geist verhalten müsse und ob Massen im Universum in holistischer Manier, nach Art eines Gesamt-Zusammenhangs, oder in krafttheoretischer Manier, konzentriert auf ihre unmittelbaren taktilen Momente, aufeinander Einfluss nehmen können. Im Zuge dessen sollen zweitens diese Fragen vorwiegend als Kontroversen um den Kraft- und Bewegungsbegriff aus den Umformatierungen physikalischer Theoreme der Renaissance-Philosophie heraus fassbar gemacht werden; 145 hierzu sind der Platonismus und der Aristotelismus in entscheidendem Maße mit einzubeziehen – nicht als bloße Sedimente, die auf eine diffuse Weise eine wie auch immer geartete stete Wirksamkeit auf sämtliche Philosophen zeitigen würden, sondern anhand auffälliger Beobachtungen, denen zufolge sich konkrete Theoreme aus diesen Schulen rezipiert, modifiziert und transformiert zeigen. Zum Dritten verfolgt sie das Ziel, die Entwicklung der dynamischen Naturphilosophie 146 in ihrer auffälligen Tendenz, operationale Tätigkeiten zu interiorisieren, die dann den Naturdingen selbst zuzuschreiben seien, mit dem ideengeschichtlichen Aufstieg mechanistischer und antik-philosophischer Größen zu verknüpfen. Der Vorzug des gewählten Vorgehens macht sich dabei an einem auffallend häufig auftretenden Kuriosum fest: Die Aspekte des Handelns (agere) und des Leidens (pati) der Wirklichkeitsgrößen (entia realia) werden gerade dann bevorzugt aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive fokussiert, wenn sie entweder nicht mehr im Widerspruch zueinander gesehen oder gar in einer bestimmten Simultaneität vorgestellt werden. Damit einher gehen dann auch gewisse Neubewertungen dieser Entitäten. Hierzu kann etwa gezählt werden, dass es in der frühneuzeitlichen Physik, wie sie sich ab der Mitte des 16. Jahrhunderts formiert, weder als ausgemacht gilt, dass die Materie untätig sei (materia iners), noch dass sie stets zur Ruhe strebe (motus ad quietem), noch dass Bewegung nur aus willentlichen Kräften (vires voluntariae) resultieren könne; noch dass eine anstoßende Kraft (impetus) bloß anstoßend sei, sondern vielmehr – je nach Perspektive – auch als erlittene Kraft (vis impressa) aufgefasst werden könne. In diesen Denkfiguren wird eine der wesentlichen Schnittstellen von naturphilosophischer Theorie und Methodik deutlich; sie lässt sich – unter Inkaufnahme einer gewissen Formelhaftigkeit – wie folgt umreißen: Bereits in passiv erscheinenden Körpern sind Bewegungs145 Nicht ins Zentrum gerückt werden daher diejenigen Traditionslinien, die Aktivität und Passivität in formallogischer oder auch sprachlicher Hinsicht (beispielsweise als grammatischer Diathese) zukommen. 146 Hierunter werden solche verstanden, die entweder vorwiegend von Kräften ausgehen oder die Erklärung solcher zum vornehmlichen Ziel erklären.
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potentiale vorhanden, und ebendiese Potentiale müssen als Kräfte sui generis angenommen werden; ferner gilt dann, dass eine ursprünglich als innerlich angenommene Kraft zu einer äußeren werden kann, wenn sie in ein Verhältnis mit anderen Kräften tritt. Diese Frage ist keineswegs eine bloß theoretische, sondern hat durchaus einen methodischen Einschlag. Denn setzt man immanente Mechanismen als die eigentlichen Aktivierungspotentiale von Körpern an – im Gegensatz zu äußeren Bewegern und Impulsen – so wird es erst recht zu einer Frage methodischer Entscheidungen, diese dann auf allgemeine Weise evident zu machen, das heißt die ihnen inhärierenden Substrate über den Weg der Fähigkeiten (facultates) und Tätigkeiten (operationes) als aktive Prinzipien offenzulegen. Diese sollten dann auch ihre aus der terminologischen Tradition des Aristotelismus bekannten Potentiale (potestates, potentiae) mit einschließen.
1.c. Masse, Materie und das Innerste der Dinge
Das umfassendste Prinzip für Fähigkeiten, Tätigkeiten und Potentiale lautet im 17. Jahrhundert, wenn man etwa lexikalische Einträge wie im barocken Standardwerk Lexicon philosophicum terminorum philosophis usitatorum (1653) des Philosophen und Schriftstellers Johannes Micraelius (1597–1658) besieht, unverändert ›Natur‹. Dort heißt es zunächst, »›Natur‹, ›physis‹ wird im Allgemeinen das innere Prinzip der Tätigkeiten genannt.« 147 Hierauf erst folgt eine Differenzierung des philosophischen Wortgebrauchs, demzufolge [d]as Wort ›Natur‹ von einem sehr hohen Bedeutungsausmaß ist, da es bald für das Wesen gebraucht wird, bald für die spezifischen Eigenschaften, bald für dasjenige, was dem ersten Anfangsgrunde innewohnt, bald für eine natürliche Ursache – sei sie nun Form oder Materie, bald für Gott selbst, wobei sie dann natura naturans genannt wird, bald für die Gesamtheit der Geschöpfe, wobei sie dann natura naturata genannt wird, bald für die Veranlagung und eine gewisse, spezielle Naturneigung. 148
Micraelius, Lexicon philosophicum, s. v. »natura«, 878: »natura, φύσις comunius [sic] vocatur internum operationum principiu¯ «. 148 Ebd., s. v. »naturæ vocabulum«, 878: »naturæ vocabulum est amplissimæ significationis, qvum jam sumatur pro essentia; jam pro proprietatibus; jam pro illo, qvod primo ortui inest, jam pro causa naturali sive forma sive materia; jam pro ipso Deo, & dicitur natura naturans; jam pro universitate creaturarum, & dicitur natura naturata jam pro indole & quadam naturæ inclinatione speciali«. 147
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Die hohe Ambiguität des Naturbegriffs erscheint für das 17. Jahrhundert zunächst nicht überraschend; wir konnten eine solche auch bereits bei Johann Christoph Sturm feststellen. 149 Was bei Micraelius indes über die bloße Feststellung einer weiten Bedeutungsspanne noch hinausgeht, besteht darin, dass die Identifizierung der Natur mit einer essentia nur noch eine Option unter vielen darstellt, während dem internum operationum principium ein gewisser Vorrang beigemessen wird. Erst im Anschluss an seine Nennung werden die aus dem Aristotelismus und Platonismus bekannten Ausdifferenzierungen angeführt – die schließlich gar in einem schon den Bereich des Psychologischen berührenden Paradigma, demjenigen der Naturneigung (naturae inclinatio), münden. Während diese Bedeutungsaspekte als naturae vocabula, als diverse Wortverwendungsweisen firmieren, wird das internum operationum principium unter dem Lemma natura selbst gefasst. Es ergibt sich somit ein Primat der Natur in Form eines Tätigkeitsprinzips, wobei die Auffassungen der Antike hierzu weiterhin eine zumindest kontextuelle Gültigkeit behaupten können. Für einen philosophisch instruierten Naturforscher muss es dementsprechend darum gehen, jenes principium internum auf eine plausible Weise beschreibbar zu machen, das heißt in die wissenschaftliche Evidenz zu überführen. Ein Mystiker unterschiede sich dann vor allem durch seine ihm eigene Art der Offenlegung von einem mathematisch orientierten Astronomen, ein Holist von einem Atomisten und ein Peripatetiker von einem Neoplatoniker. Natürlich wirken derartige Gefälle, die zwischen den einzelnen Zugriffsarten herrschen, nicht zwingend neuartig – erst recht auf dem Hintergrund einer Gemengelage, die sich bereits im Spätmittelalter anhand vehement geführter Kontroversen zwischen den einzelnen Naturphilosophien verstetigt hatte. 150 Die Demarkationen werden jedoch mittlerweile anders vorgenommen, als es noch im Mittelalter der Fall war: Konnte eine naturphilosophische Position dort bereits als fortschrittlich gelten, indem sie als hermeneutische Neuauslegung der seit der Antike kanonisierten Klassiker 151 auftrat – wobei Aristoteles in der Regel zum philosophus schlechthin erklärt wurde –, so ließ sich darin auch die peripatetische Unterscheidung zwischen den aktiven und passiven Dimensionen der Vgl. Kapitel III.1.a der Studie. Etwa im Spannungsfeld des Elementar-Atomismus eines Wilhelm von Conches (∼ 1090– nach 1150) – vgl. Flasch (22011), 266 –, der platonisch eingefärbten Natur-Allegoresen in Bernardus Silvestris’ (1085 – nach 1159) prosimetrischem Lehrgedicht Cosmographia (1147) – vgl. ebd., 270 – sowie der von Johannes von Salisbury (∼ 1115–1180) etablierten Verschränkung eines platonischen Idealismus und eines aristotelisch-ciceronianischen Universalismus (vgl. ebd., 275–277). 151 Derartige Klassiker sind, wollte man sie zeitlich eingrenzen, in der Zeitspanne von der Antike ab dem Platonismus bis zu den spätantiken / frühmittelalterlichen Kirchenvätern Augustinus und Isidor von Sevilla zu verorten und umfassen neben den beiden letztgenannten vor allem Platon, Aristoteles, Proklos und Plotin. 149 150
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Natur, nämlich als eine das Prinzip der Energetizität befördernde und zum Ausdruck bringende, aufrecht erhalten – sei dieses Prinzip nun in den Gegensätzen von motor und mobile, von agens und agendum oder von actus und potentia vorgestellt. Hiervon kann in der Frühen Neuzeit scheinbar nur noch bedingt die Rede sein: Die den physischen Einzeldingen zugeschriebenen Urgründe – die als erste Gründe (causae primae) zugleich die Existenzgründe (causae existentiae) bilden – brauchen sich nicht mehr so sehr dem Telos energetischer Überführungen zu verschreiben; vielmehr erscheinen sie, insofern sie nunmehr vorwiegend entlang eines auf dynamischen Prinzipien beruhenden Naturbegriffs vorgestellt werden, vor allem über ihre natürliche Operationalisierbarkeit erklärbar. Die in der Welt wahrnehmbaren Tätigkeiten und Prozeduren stellen keine Tätigkeiten eines gemäß seiner Wesenheit vorgestellten Gegenstandes (eine solche ginge vollständig in der klassischen aristotelischen phýsis auf) oder einen akzidentellen Eingriff von Seiten des Menschen (diese ginge vollständig in der klassischen aristotelischen me¯chan´¯e auf) dar. Sie sind also nicht primär damit beschäftigt, Potenzen in Energie zu überführen, sondern stehen in einem gewissen Verhältnis zueinander und hängen voneinander ab; mithin handelt es sich hierbei um Tätigkeiten, die nicht mehr als phänomenal auftretende Verwirklichungen einer finalursächlich aufgefassten Natürlichkeit zu verstehen sind, sondern sich – auf der ontologischen Grundlage eines über das natura naturata-Konzept legitimierten Einzeldings – 152 nunmehr imstande zeigen, einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu formulieren. Sie entsprechen dem neuen Verständnis von Natur und Naturbeobachtung, wie wir es prominent in Francis Bacons Novum Organum vorfinden konnten. Ihre universelle Gültigkeit wird nicht so sehr über den Aristotelismus als solchen befördert, sondern dadurch, dass sie sich in den weithin reüssierenden neuen Leitdisziplinen der Kosmologie und Astronomie bereits umfassend und prägnant beschrieben finden. Die Grundvorstellung eines mechanischen Wirkens in der Welt ist nicht mehr als naturwidrig einzustufen, sondern evoziert im Gegenteil mathematisch-mechanische, kosmologisch-mechanische, materiell-mechanische oder metaphysischmechanische Naturbegriffe, die dem jeweils gestellten philosophischen und auch theologischen Problem 153 zu genügen wissen. 152 Aufgrund von dessen Unterschiedenheit von anderen Dingen (distinctio) und dessen Platzeinnahme (positio) in der Welt. 153 Zu diesem Problemkomplex der Naturphilosophie im 16. und Jahrhundert zu zählen sind etwa die Gretchenfrage nach dem helio- oder geozentrischen Weltbild oder die Frage, ob man die dem Menschen zukommende Sonderrolle im Universum angesichts der biblischen Schöpfungsgeschichte überhaupt aufgeben könne und nicht vielmehr angesichts der Einbettung des biologischen Menschenbildes (Gewebe, Blutdruck, Organe etc.) in mechanistische Zusammenhänge wenigstens den reinen menschlichen Geist als gottgleichen hochhalten müsse.
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Es lassen sich im Zuge der genannten Problemstellungen auch epistemische Bewegungen ausmachen, die sich von einer mathematischen auf eine materialistische und von einer kosmologischen auf eine metaphysische Naturdisposition richten. Anders gewendet: Mit der von Kondylis konstatierten »Aufwertung der Natur« 154 geht zugleich auch eine Aufwertung der naturbezogenen Wissenssysteme einher. Hinsichtlich der neuen Auffassungen, die der erleidenden Natur (natura patiens/passiva) hierbei zukommen, interessiert im Folgenden vor allem die historische Entwicklung des Verhältnisses zwischen einem metaphysischen und einem materiellen Naturbegriff. Das Wissen über die Natur wird hierbei gleichsam auf den Kopf gestellt. Eines der wichtigsten Unterschiedsmomente zwischen Antike und Früher Neuzeit besteht darin, dass es im Platonismus und Aristotelismus noch als ausgemacht gelten konnte, dass die Metaphysik die Materie beherrscht, in der Frühen Neuzeit indes die Materie selbst zum neuen Ausgangspunkt von Tätigkeiten, zum principium operationum erhoben wird. Die Substanz gewinnt somit die Deutungshoheit gegenüber der Transzendenz, und die Materie wird zu ihrem erfolgreichsten Gewährsmann. Die Materie benötigt wiederum ihrerseits Größen, die ihren neuen Status im Sinne eines auf Tätigkeit beruhenden Prinzips legitimieren. Bewegte im klassischen Platonismus und Aristotelismus der Geist den Stoff, so muss der Stoff nun diese Funktion selbst übernehmen. Mit Größen, die genau dies gewährleisten, werden wir uns im Folgenden näher beschäftigen. Die Paradigmen, die hierfür in das naturphilosophische Untersuchungszentrum gerückt werden, stellen im 17. Jahrhundert die Masse (massa, moles) und die Materie (materia) selbst dar. Sie werden nicht mehr als eine bloße stoffliche Grundlage aufgefasst, der dann eine bestimmte Form beizumessen sei, sondern zu explanativen Größen eines Naturverständnisses in den Feldern zwischen Astronomie und Kosmologie beständig weiterentwickelt – eine Entwicklung, die sich von dem antiken Desiderat, körperlichen Größen ein geistiges Prinzip zuzuschreiben, nicht entbunden zeigt. Nur ist dieses Prinzip nicht mehr vorwiegend jenseitig aufzufassen – etwa als Idee, als translunarer Beweger oder gar als stoische εἱµαρµένη (heimarméne¯) –, sondern liegt in der einzelnen Tätigkeit des einzelnen Dinges selbst begründet. Ein im 16. und 17. Jahrhundert immer weiter zu Tage tretendes Indiz für die Materialisierung der metaphysischen Natur bildet der Aufstieg der Masse (moles, massa) zu einer unverbrüchlichen Eigenschaft der Materie. Ihre Validität als eine Größe, in der sich materieller Widerstand und materielle Bewegung widerspiegeln, wird in philosophischer wie physikalischer Hinsicht zusehends
154
Vgl. Kondylis (22002), 59–119.
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durch prominente Naturforscher bekräftigt und fortentwickelt, ganz besonders in der italienischen und deutschen Astronomie von Seiten Galileo Galileis (1564–1642), Johannes Keplers (1571–1630) oder auch Battista Balianis (1582– 1666). Diese Entwicklung steht in Einklang mit dem in Kapitel iii.1.a beschriebenen Interesse an den inneren Zusammenhängen der Natur. Es betrifft, mehr noch, in elementarer Weise die Deutungshoheit über vormals rein passivisch gedachte Größen wie der materia iners. Um diesen ambivalenten Aspekt nachzuvollziehen, wie nämlich ausgerechnet dasjenige, was in der Materie scheinbar träge und ohne jede Kunstfertigkeit daliegt, dasjenige verursachen soll, was sich an ihren äußeren Grenzen, nämlich den Körpern, vollzieht, ist der methodische Blickwinkel mit einzubeziehen, den die Frühe Neuzeit weithin einnimmt: Weniger, als man vielleicht vermuten möchte, richtet sich in der Frage nach der natura patiens der Blick auf die durch Anstöße verursachte Irritation ausgedehnter Körper in ihren Oberflächenstrukturen; vielmehr geht es hierbei vornehmlich um die Beschaffenheit und Beeinflussbarkeit, die den Körpern persistent zukomme, mithin um eine Art innere Resistenz und Renitenz. Die Janusköpfigkeit der Theorie (›Masse ist eine Widerstandskraft und zugleich eine Bewegungskraft‹) entspricht damit der Janusköpfigkeit der Methode (›Wir blicken in das Innere der Dinge und gelangen dadurch zu Erkenntnissen über Oberflächenphänomene‹). Dessen ungeachtet steht der naturwissenschaftlich zu begründende Primat der Substanz vor der Transzendenz weiterhin auf dem Prüfstand; denn es mutet intuitiv nicht einleuchtend an, dass der Blick in das Innere der Natur (inspicere) gleichbedeutend wäre mit dem Blick zu einem Ideenhimmel hinauf (speculari). Dies bedeutet aber im 16. und 17. Jahrhundert nicht mehr im selben Zuge, dass jener inspektive Blick auch weniger zur philosophischen Erkenntnis tauge. Ebenso wenig bedeutet es, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, eine plane Abkehr von der antiken Philosophie.
1.c.α. Die Neubewertung der Innerlichkeit
Gehen wir zunächst auf den Aspekt der Innerlichkeit ein: Im Sinne der mechanistischen Weltbetrachtung ließe sich leicht auf den Gedanken verfallen, eine Fokussierung auf die Eigengesetzlichkeit physikalischer Gegenstände würde eine Bevorzugung mikrokosmischer Details und im Zuge dessen gar eine Abwendung von der Philosophie bedeuten. Denn die Philosophie weist, wenn sie sich nicht aufgrund ihrer traditionellerweise unkörperlichen Argumentationsmuster ohnehin von der Betrachtung kleinster Dinge abwendet, überhaupt eine Affinität zur möglichst umfassenden Kosmologie und damit zum
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Makrokosmos auf. 155 Eine Ablehnung gegenüber der detaillierten Naturbetrachtung seitens der Philosophie tritt aber – wie wir in Kapitel iii.1.a–b sehen konnten, in der Frühen Neuzeit überhaupt nicht ein. Die Naturbeobachtung wird, im Gegenteil, nicht nur zur Hauptbeschäftigung der Philosophie, sondern auch und insbesondere zu einer sich selbst intensivierenden Wissenschaft. Sie zeigt ihre Bestimmung gerade in der Hinwendung zur Operationalität und Perzeptivität der von Gott – ob nun in demiurgischer oder nicht-demiurgischer Manier – geschaffenen Natur-Dinge (re¯s naturae, re¯s naturatae). Der Einblick in das Wesen der Dinge – oder nun besser: Substanzen – wird, wie nicht nur Descartes' Discours de la méthode gezeigt hat, zum Einblick in den göttlichen Schöpfungsplan. Das inspicere erweist sich demnach als eine vorzügliche Form praktischer Naturphilosophie und legt ein profundes Verständnis des Willens Gottes dar. Als Chiffre für jene tief sitzende Interiorität der Naturprinzipien in den Dingen wird in der Forschung bisweilen der Ausdruck eines Innersten der Dinge, einer intima rerum herangezogen. 156 Die intima Diese Affinität hatten wir in Kapitel II.3.a der Studie als eine vom parmenideischen Lehrgedicht ausgehende Disposition vorgefunden, die auf die Philosophien Platons und Aristoteles’ große Wirkungen ausübte. Es geht hierbei wohlgemerkt nicht um die Themen der Philosophie – denn natürlich können kleinste Teilchen umstandslos zu ihrem Erklärungsgegenstand werden – als vielmehr um die Erweiterung, mithin um die Augmentierung der geistigen Tätigkeit. Sie denkt sich selbst in immer größeren Zusammenhängen, bei Platon wendet sie sich von der Betrachtung der konkreten Wirklichkeit ab, um auf die ewig gültige Ideenwelt zu blicken, und bei Aristoteles strebt sie nicht zum Speziellen, sondern zum Allgemeinen hin. 156 Vgl. den konzisen ideengeschichtlichen Beitrag von Leinkauf (2000), der ausgehend vom Renaissance-Humanismus Ficinos (insbesondere von dessen Paradigma einer ars intrinsecus materiam temperans) die Tendenz zu inspektiven Verfahren im Zusammenhang der Naturbegriffe des 17. Jahrhunderts behandelt. Hieran lässt sich, wie Leinkauf elementar herausstellt, eine Auffassung über die natura/physis ablesen, die sich noch als signifikant für die dynamische Natur erweisen soll: Leinkauf setzt die intima rerum funktional als eine modellbildende Chiffre für die Naturdiskussionen barocker Philosophien an. Sie scheint zunächst ganz den Ansprüchen eines principium zu genügen, insofern sie als Naturgrund, der tief im Innersten der Dinge schlummert und nach außen hin bestenfalls eine obskure Präsenz erkennen lässt, ein hohes Maß an Irreduzibilität aufweist. Sie entzieht sich gerade dadurch der menschlichen Erkenntnis, dass ihr physikalisches Substrat »auch aber nicht nur der Horizont des Körperlichen und daher Ausgedehnten ist, der Gott oder dem Geistigen als dessen Anderes und somit als passiver oder dispositionaler Bereich einer handwerklichen Behandlung entgegensteht, dessen Sein den Gesetzen distinkter rationaler und geometrischer Urteile entspricht. Natur ist vielmehr insbesondere ein aktiver, selbständiger, aus der ursprünglichen schöpferischen Tätigkeit des ersten Prinzips (Gottes) entlassener Seinsbereich, dessen innere Organisation durch tätige Prinzipien bestimmt ist, die selbst nicht unmittelbar in Erscheinung treten.« (Leinkauf [2000], 408) Zu dieser treffenden Einschätzung lässt sich noch ergänzen, dass wohl zwei Hauptgründe für den Befund geltend gemacht werden können, dass sich die hier beschriebene Organisationsart dem menschlichen Erkenntnisblick entzieht: Entweder hat die intima rerum bereits aufgrund ihres allzu profunden Sitzes im Inneren keine Repräsentationskraft nach außen hin – oder aber sie entzieht sich der menschlichen Wahrnehmung, weil der Mensch selbst schlichtweg kein entsprechendes Organ mit ausreichendem Perzeptionsvermögen besitzt. Der eine Fall würde das Problem vom Menschen 155
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rerum weist nicht so sehr auf den Begriff einer sich selbst entfaltenden Natur hin, sondern bewegt sich in Richtung einer intrinsischen Verdichtung. Beschäftigt sich ein Philosoph mit der Natur, so werden deren Eigenschaften von Beginn des Erforschungsprozesses an nicht in einem Ideenhimmel verortet, sondern als aktive Prinzipien verstanden; sie liegen nicht nur einfach vor, sondern sie finden statt. Es handelt sich also nicht schlichtweg um ein verdichtetes, gedrungenes Prinzip, sondern um den Sitz der Ding-Tätigkeit, eben jenes principium operationum, um das es Micraelius in seinem Lexicon philosophicum so vorrangig ging. Es liegt nahe, dass ein solches Programm nur unter Verabschiedung mancher aristotelischer Grundannahmen funktionieren kann, etwa indem man die Akzidenz nicht mehr allzu streng von der Essenz scheidet, sondern beide schon fast wie einen natürlichen Fortsatz innerer Prinzipien behandelt. 157 Eine vollständige Gleichstellung dinglicher Tätigkeiten mit einer schöpferischen natura naturans erscheint hier zumal theologisch ausgeschlossen, da dann alle Dinge zu ihrem eigenen Schöpfer und Beweger würden und Gott als erstes Prinzip dadurch redundant, ja hinfällig würde. Warum entspricht dieses Prinzip nun aber auch keiner bloßen natura naturata im Sinne einer von Gott geschaffenen und quantitativ-distinkt ausgebreiteten Weweg-, der andere es weiter zu ihm hinrücken. Diese Denkfigur wirft zudem die Frage auf, ob eine solche Koinzidenz von Aktivität und Passivität der Naturprozesse anhand eines substantiellen Substrats dem Aristotelismus wenigstens in dessen Grundstrukturen zu genügen weiß, indem sie Form und Formbarkeit als elementare Prinzipien bereits nach Art der natura naturans und der natura naturata in sich enthält. 157 Zur Illustration dieses Unterschieds: Dass ein Baum wächst, kann nach Überzeugung der aristotelischen Physik als seine natürliche Bewegung angesehen werden. Sie geht gänzlich von ihm selbst aus und verhilft ihm zu seiner eigenen, ihm aus natürlicher Notwendigkeit zukommenden Form. Dass er durch sein Wachstum nun irgendwann an die Äste anderer, ihn umgebender Bäume stößt, kann – auch das gänzlich im aristotelischen Sinne – als ein akzidentelles Ereignis beschrieben werden. Aus der Annahme eines principium operationum würde indes folgen, dass dieses akzidentelle Ereignis (›Ast A stößt an Ast B‹) seinen Urgrund ebenfalls in der intima rerum habe; der Baum träte dann mit seiner Einflussnahme auf andere Bäume gewissermaßen über sich selbst hinaus, ohne dass er seine eigene Tätigkeit – das Wachsen – dabei verändert hätte. Vielmehr befindet er sich – als Körper – in einem stetigen Verhältnis zu den anderen Körpern und verwirklicht sich in seiner Tätigkeit. Eine Unterscheidung zwischen der Bewegung in Bezug auf andere Körper – das An-die-Äste-Stoßen – und eine solche seiner selbst gemäß – sein Wachsen und Gedeihen – ist dann entweder nicht mehr nötig oder kann als Übereinstimmung von Essenz und Akzidenz verstanden werden. Wurde das Bewegungsprinzip bei Aristoteles noch nach den Kriterien des Zufalls und der Notwendigkeit sowie nach dem aktiven Beweger (motor) und dem passiv Beweglichem (mobile) geordnet, so ist es hier vielmehr die Bewegung selbst, über deren priorische Setzung sich Zufall und Notwendigkeit sowie Aktivität und Passivität überhaupt erst als sinnvolle ontologische Größen differenzieren ließen. Der Baum bleibt in seiner notwendigen wie in seiner akzidentellen Bewegung in Tätigkeit befindlich. Somit stellt die Bewegung das neue Konstituens des esse per se dar, ohne dabei das esse per aliud suspendieren zu müssen. Ihr natürlicher, wenn man so möchte: wesensmäßiger Ausdruck bleibt dabei das sich in individueller Tätigkeit befindliche ›Ding an sich‹.
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senheit der Dinge? Die Antwort hierauf, legt man sie im Sinne einer sich an der operatio orientierenden Naturphilosophie aus, muss lauten: Die naturgemäßen Prozesse der Dinge sind dadurch erklärbar, dass sie Veränderung und Bewegung, aber auch den Widerstand gegenüber äußeren Einflüssen als Potenzen bereits intrinsisch – und dies im Sinne ihrer Selbstperzeption – enthalten. Diese Selbstperzeption wirkt sich dann auch auf ihre eigene Präsenz aus: Sie zeigt sich bestimmt durch die Absonderung von einem urtümlichen Schöpfungsakt sowie durch eine sich selbst zukommende und dadurch ausschließlich dinglich mittelbare Erscheinungsweise. Somit liegt sie nicht mehr in der Differenzbeziehung zwischen Prinzip und Prinzipiiertem begründet, woraus ja gerade die natura naturata ihren Status eines eigenständigen Naturbegriffs bezieht, ebenso wenig in der Differenzbeziehung zwischen einer potentia passiva und einer potentia activa, wie sie der klassische Aristotelismus noch unter Bezugnahme auf Aristoteles selbst für sich reklamieren konnte. 158 Die Dinge sind naturiert, nicht weil sie das Resultat eines Schöpfungsaktes sind, sondern weil sie zu anderen Dingen distinkt und relativ sind; die Dinge sind naturierend, nicht weil sie organisch schöpferisch sind, sondern weil sie sich in Tätigkeit befinden. Dennoch wird in einer solchen philosophischen Denkrichtung, die sich zuvorderst der Prämisse verschreibt, Tätigkeiten eng an die Naturgegenstände selbst zu koppeln, der Aristotelismus hinsichtlich seines Naturbegriffs keines158 Denn auch dieses Begriffspaar geht direkt zurück auf Aristoteles, insbesondere auf Aristot., metaph., 5, 12, 2, 1019a32–1019b4 und die darin behandelte Unterscheidung zwischen den Prinzipien der Bewegung und Veränderung: »λεγοµένης δὲ τῆς δυνάµεως τοσαυταχῶς, καὶ τὸ δυνατὸν ἕνα µὲν τρόπον λεχθήσεται τὸ ἔχον κινήσεως ἀρχὴν ἢ µεταβολῆς (καὶ γὰρ τὸ στατικὸν δυνατόν τι) ἐν ἑτέρῳ ἢ ᾗ ἕτερον, ἕνα δ᾽ ἐὰν ἔχῃ τι αὐτοῦ ἄλλο δύναµιν τοιαύτην, ἕνα δ᾽ ἐὰν ἔχῃ µεταβάλλειν ἐφ᾽ ὁτιοῦν δύναµιν, εἴτ᾽ ἐπὶ τὸ χεῖρον εἴτ᾽ ἐπὶ τὸ βέλτιον – καὶ γὰρ τὸ φθειρόµενον δοκεῖ δυνατὸν εἶναι φθείρεσθαι, ἢ οὐκ ἂν φθαρῆναι εἰ ἦν ἀδύνατον.« (»Da das Vermögen nun auf all diese Weise [sc. als Prinzip der Bewegung, der Veränderung, des Erleidens, des Vollendens und des Widerstandes] ausgesagt wird, so wird auch ›vermögend‹ in der einen Bedeutung als dasjenige benannt werden, was der Urgrund der Bewegung oder der Veränderung (denn auch das Stillstand Bewirkende ist ein gewisses Vermögendes) in einem anderen ist oder insofern es ein anderes ist; in einer anderen Weise wird man etwas ›vermögend‹ nennen, wenn etwas anderes über es selbst ein solches Vermögen besitzt; in einer [sc. wiederum] anderen Weise, wenn es das Vermögen hat, in irgendeinen anderen Zustand überzugehen, sei es in einen besseren, sei es in einen schlechteren – denn auch das Vergehende scheint vermögend zu sein zu vergehen, oder es wäre nicht vergangen, wenn es dazu nicht vermögend wäre.«) Somit umfassen die Begriffe des Vermögens respektive Unvermögens ausdrücklich aktivische und passivische, werdende und vergehende Zielrichtungen, und die einzelnen Vermögensweisen enthalten entweder den Grund der Bewegung oder Veränderung (ἔχον κινήσεως ἀρχὴν ἢ µεταβολῆς) in sich selbst oder werden von außen gesteuert (ἐν ἑτέρῳ ἢ ᾗ ἕτερον). Zur Ausprägung dieses Komplexes im mittelalterlichen Aristotelismus und Thomismus vgl. Friedrich (1969), Giacon (1949), Fuetscher (1933) und Appel (1930).
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falls gänzlich aufgegeben: Wichtige funktionale Aspekte weisen nach wie vor einen Allgemeinheitsanspruch auf, der sich über die Entlassung der Natur aus der transzendentalen Obhut Gottes in den ihr eigenen, inneren Bereich nicht abschwächt, sondern eher noch verstärkt. Da jedes Ding ein Ding an sich bleibt, bleibt auch sein Vermögen ein individuelles, mithin ein verkappt aristotelisches, das sich auf seine δύναµις καθ᾽ αὑτήν (dýnamis kath' haut´¯en) verlassen kann – mit dem feinen Unterschied, dass die δύναµις (dýnamis), als Urgrund der Bewegung (ἀρχή τῆς κινήσεως/arche´¯ te¯s kine´¯seo¯ s), nicht mehr mit dem sich an einem τέλος (télos) bemessenden Potential, sondern mit der vom Inneren ausgehenden Tätigkeit in eins fällt. In einer quantitativ ausgebreiteten Wirklichkeit, einer natura naturata, liegt das Ziel eines Körpers nicht mehr zuvorderst in der Verwirklichung eines qualitativen Potentials; vielmehr scheint es in einer ebenfalls quantitativ gefassten Wirklichkeit auf; und dies meint – wenn wir etwa an den Endpunkt einer Fallbewegung, das Ziel eines Wurfgeschosses o. ä. denken – eine auf geometrischen Bahnen zu verortende Größe. Der Verwirklichung des Vermögens eines Körpers entspricht dann der mechanischen Umsetzung seiner physikalischen Grundeigenschaften. Die Eigentätigkeit mag also von immanenten Eigenschaften ausgehen, die sich dem Erkenntnisblick entziehen; ihre Manifestation wird dessen ungeachtet über die mechanischen Gesetze beschreibbar gemacht. Fielen die physikalischen Bewegungen im klassischen Aristotelismus noch zu einem großen Teil in den Bereich des Akzidentellen, so sind sie nun auf neue Weise, nämlich mechanisch wesensgemäß. Die potentia activa lässt sich im Zuge der Etablierung des frühneuzeitlichen Naturbegriffs dadurch zu einer mechanischen Größe hin fortentwickeln, dass sie in ihrer Janusköpfigkeit 159 verschiedene Bewegungsprinzipien verkörpern kann – ein Aspekt, auf den in Kapitel iii.2 im Zuge der Erläuterung aristotelischer und nicht-aristotelischer Bewegungskonzepte noch genauer einzugehen sein wird. Bleiben wir jedoch, bevor wir uns auf diese neuen Spielarten des Aristotelismus einlassen, noch zunächst beim generellen Verständnis, das man sich von der Natur gemäß dem Entwicklungsgang der Philosophie im 17. Jahrhundert machen kann: Ruft man sich in Erinnerung, wie Bacon im Novum Organum aus den Einzelbeobachtungen allgemeine Schlüsse ableiten wollte und wie diese Schlüsse wiederum auf die weiteren Beobachtungen in der Dingwelt anzuwenden waren, so ist ein solches Wechselverhältnis von Allgemeinem und Speziellem durchaus als charakteristisch für die Frühe Neuzeit zu bezeichnen. Das Individuelle, das Ding an sich, entfalte sich demgemäß aufgrund seiner Tätigkeit im Allgemeinen, nämlich in der Totalität der Wirklichkeit. Im 159
Diese besteht in einem Potential (potentia) und einem aktiven Strebeprozess (activa).
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Umkehrschluss gilt aber ebenso, dass auch die Wirklichkeit dem mechanisch vernetzten Zusammenhang gegenseitig aufeinander einwirkender Einzeldinge entsprechen muss. Leinkauf fasst dieses philosophische Paradigma für das 16. und 17. Jahrhundert zusammen und richtet es dabei gar bis auf Fragen der Gegenwart hin aus: Theorien, die ein Inneres der Dinge ansetzen, stehen, obgleich sie vieles der mechanistisch-quantifizierenden Position entnehmen, der individualistischen, kontext-orientierten Naturtheorie des Aristoteles näher, und sie verweisen [. . . ], indem sie das Muster kombinatorischer vollständiger Wechselbestimmungen irreduzibler, elementarer Einheiten nicht nur zum Muster der Mikrostruktur der einzelnen Dinge, sondern der Totalität des Seienden machen, zusammen mit dieser und eher als die extrem reduktionistischen Theorien voraus auf Probleme, mit denen sich auch noch die heutige Naturwissenschaft herumschlägt. 160
Wollte man das angesprochene Phänomen auf eine Grundtendenz der Naturphilosophie bringen, so ist die Prinzipienhaftigkeit, die den Tätigkeitsgründen zukommt, nur in der Fortentwicklung einer Naturauffassung zu denken, die es vermeidet, sich zur scholastischen oder zur aristotelischen Philosophie schlicht identifikatorisch zu verhalten. Zugleich hält sie jedoch ihren Generalisierungsanspruch im Bezug auf die Substantialität des Dings aufrecht. Nimmt man im Sinne der intima rerum an, dass Körper über eine Art von Innenleben verfügen, dass dieses Innenleben unabhängig von einem göttlichen Schöpfungsakt Tätigkeiten vollführt und dass sich die innere dingliche Struktur mit der Struktur des Weltganzen in einem gewissen Band befindet: Was ließe sich dann für die Vorstellung von Masse als größtmöglicher Konsens ausmachen? Zunächst kann – selbst von Seiten eines vollkommen auf uniforme Elementarteilchen reduzierten Atomismus – kaum an den grundsätzlichen Beobachtungen gerüttelt werden, dass die körperliche Welt aus Materie von unterschiedlicher Menge (quantitas), Dichte (densitas) und Ausdehnung (extensio) besteht; ferner, dass sich – je nach verwendetem Beobachtungsinstrument – graduell immer feiner messbare Unterschiede hinsichtlich dieser Dimensionen bezogen auf die zu unterscheidenden Körper wahrnehmen lassen; und schließlich lässt sich – wenigstens einer gewissen Intuition folgend – mutmaßen, dass ebendiese Unterschiedsmomente einen signifikanten Einfluss auf die Konstitution körperlicher Größen überhaupt zeitigen. Anders gesprochen: Der Körper eines konkreten Baumes ist als Körper dieses Baumes identifizier160 Leinkauf (2000), 410. Dieser Befund stützt sich unter anderem auf die ideengeschichtlichen Vorarbeiten von Krafft (1982).
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bar 161 aufgrund der primären materiellen Qualitäten, die ihm zukommen. 162 Diese Qualitäten bilden dann zugleich Merkmale des entsprechenden Körpers. Sammelte man diese nun im Sinne von körperlichen Merkmalen dazu, einen Gegenstand als solchen zu erkennen, so müssten diese Qualitäten nicht nur deutlich, sondern in hinreichender Anzahl gegeben sein. Ließe sich diese Perspektive als eine auf die Arithmetik der Wirklichkeit ausgerichtete auffassen, so wäre diesem Verfahren ein abstrakteres, der konkreten Zahlenwelt entbundenes Beschreibungstableau entgegenzuhalten: In letzterem Fall nämlich stellt ein Körper einen Körper dadurch dar, dass er Qualitäten enthält, die geometrisch zu erfassen sind; diese Erfassung findet nicht in einem konkreten, sondern in einem abstrakten Raum statt – dessen Körper sich auf die Wirklichkeit dann applizieren ließen. Was beiden Zugangsweisen, der arithmetischen wie der geometrischen, jedoch gemeinsam ist, besteht darin, dass die Disziplinen der Mathematik und der Mechanik unverbrüchlich zusammenwirken, mögen sie nun im ersten Fall auf eine physikalische Präsenz – denn die Natur drückt sich demnach in Zahlen aus – oder im zweiten Fall auf eine theoretische Wiedergabe – denn das Räsonieren über die Natur drückt sich dort in abstrakten Figuren aus – ausgerichtet sein. Die Kognition fiele in diesem Fall nicht mehr auf die Arithmetik (was ein Anliegen von Monisten wie Hobbes wäre), sondern (was ein Anliegen von Dualisten wie Descartes wäre) auf die Algebra zurück. Sie teilt mit der Arithmetik den Gegenstand, die Zahlen, und mit der Geometrie die Abstraktionskunst der Methode. Allerdings handelt es sich – und dies unabhängig von der gewählten Methode – bei alledem stets um einen Akt der Hinwendung zur diesseitigen Wirklichkeit. Denn die Größen der Menge, Dichte und Ausdehnung scheinen vor allem in phänomenologischer und empirischer Dimension auf validen Füßen zu stehen und sind – wenigstens im Falle der Menge und der Ausdehnung – dementsprechend in ihrer diesseitigen Das Gegenteil hierzu hieße, den Körper eines Baumes als Körper zu identifizieren. Hierfür würden wir – nach transzendentalphilosophischer Auffassung – nicht die materielle Repräsentation des Baumes, sondern die Idee von Körperlichkeit benötigen. 162 Die Unterscheidung dieser Primärqualitäten von denjenigen Qualitäten, die der bloßen subjektiven Anschauung unterliegen, stellt einen der wichtigsten Denkschulen übergreifenden Grundsätze dar, die sich im 17. Jahrhundert im Spannungsfeld von Philosophie und Physik ausprägen. Die maßgeblichen Dimensionen der primären Qualitäten werden dabei vor allem von der Mechanik und der Geometrie bereitgestellt. Dass dies in vielen Fällen dazu führen sollte, auch die sekundären Qualitäten auf ihre mechanischen und geometrischen Dimensionen rückzuführen, wird von Dijksterhuis (1956), 482–485 betont. Dennoch wäre es vorschnell – und wird von Dijksterhuis auch vermieden –, aus der Mechanisierung subjektiver Anschauungen auf die Mechanisierung des Menschen schlechthin zu schließen, sie sozusagen als eine Art Vorgeschmack auf dasjenige aufzufassen, was im 18. Jahrhundert mit La Mettries L’homme machine (1747) in Form einer philosophischen Extremhaltung die europäischen Gelehrtenkreise in Aufruhr versetzt. 161
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Existenz nur sehr schwer bestreitbar. Mit einem kleinen Unterschied: Menge und Ausdehnung lassen sich an der Materie recht unmittelbar über die bloße Optik ablesen, bei der Einschätzung von Dichte und Gewicht hingegen versagt unser Gesichtssinn; 163 ferner benötigen wir in der Regel ein Vergleichsobjekt, um überhaupt Grade von ›schwer‹ und ›leicht‹, ›groß‹ und ›klein‹ aussagen zu können: Ein Mensch mag uns im Verhältnis zu einer Feder groß und schwer, im Verhältnis zu einem Elefanten indes leicht und klein vorkommen. Hierin liegt unter anderem die Vorzüglichkeit des Massebegriffs hinsichtlich seiner engen Verhaftung mit den Naturdingen im Sinne eines esse per se begründet: Wo nämlich das Gewicht (pondus) in seiner relationalen Prägung als ein esse per aliud bestimmbar erscheint, zeigt sich der Massebegriff seiner konzeptuellen Entstehungsgeschichte nach durchweg auf die Eigenkörperlichkeit des Gegenstandes selbst hin ausgerichtet, nämlich auf die Quantität der Materie in einem bestimmten Raum. Insofern er sich also mit einem einzelnen ›Ding an sich‹ begnügen kann, lässt sich an ihm auch besonders eingängig die neue methodische Blickrichtung in die intima rerum ablesen – und diese Blickrichtung schließt letztlich auch die Frage nach einem principium operationum mit ein. Ein solcher methodischer Einschluss von inneren Körperlichkeits- und Tätigkeitsprinzipien zeitigt zugleich einen wesentlichen Schritt aus der bloßen Mengenbetrachtung der re¯s naturatae heraus – eine Entwicklung, die in Ansehung der philosophiegeschichtlichen Rolle der Materie und der ihr traditionell zugeschriebenen Attribute 164 alles andere als selbstverständlich erscheinen muss.
1.c.β. Der historische Aufstieg der Masse – moles, massa und inertia
Ausgehend von den philosophischen Präliminarien aus Mittelalter und Renaissance lässt sich zunächst festhalten, dass bis zum 17. Jahrhundert das Konzept der Masse noch im Großen und Ganzen der Vorstellung einer Quantität Die Mechanik geht also – und dies im Schulterschluss mit der mathesis universa – über die reine Anschaulichkeit hinaus; wo die Mathematik algebraische Elemente in die Geometrie mit einbringt, bringt die Mechanik Größen ins Spiel, die sich den unmittelbaren sinnlichen Eindrücken entziehen; vgl. hierzu den prägnanten Befund für das 17. Jahrhundert bei Achermann (2015), 45: »Die neue Mechanik setzt also nicht nur Instrumente und Versuchsordnungen, sondern auch eine neue Mathematik voraus, welche die Dimensionen ihrer Anschauung beraubt und durch algebraische Formalisierung die Kluft zwischen Geometrie und Arithmetik zu überwinden vermag«. 164 Hierzu zu zählen sind, mit Blick auf den Platonismus und Aristotelismus, etwa ihre Trägheit (materia iners), ihre Formlosigkeit (materia informis), ihre Passivität (materia passiva), die sich darin ausdrückt, lediglich ein Bewegliches (mobile) und kein Beweger (motor) zu sein, sowie ihre Tendenz zur Ruhe (motus ad quietem). 163
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der Materie (quantitas materiae) verhaftet bleibt. Betrachten wir diesen Umstand rein systematisch, so wird die Materie primär in und aus ihrer schieren Menge heraus vorgestellt; alle weiteren Eigenschaften, die man für sie veranschlagen möchte, sind dementsprechend aus der Quantität allein erst zu deduzieren; dies kann mithin nur zu einem sehr rudimentären Massebegriff führen, der in der einfachen, intuitiven Einsicht besteht, dass an einem Körper, in dem mengenmäßig weniger Materie vorhanden ist als in einem anderen, auch die Masse geringer einzuschätzen ist. 165 Verfolgen wir aber diesen Umstand historisch etwas genauer, so lässt sich erkennen, dass einer solchen Auffassung – nicht zuletzt aufgrund ihrer beträchtlichen physikalischen Insuffizienz – im 17. Jahrhundert nicht mehr ein besonders weitreichender Erfolg beschieden war. So resümiert Jammer mit Blick auf philosophiegeschichtlich so zentrale Werke und Kommentierungen wie Richard Swinesheads Liber calculationum (1350), den Treatise in six books on metaphysics and natural philosophy (zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts) eines anonymen Verfassers, Jean Buridans Quaestiones super octo libros Physicorum (um 1360) und Nicole Oresmes Livre du ciel et du monde (1377), daß schon vor der klassischen Mechanik im 16. und 17. Jahrhundert der Begriff der Quantität der Materie für die Formulierung physikalischer Gesetze erforderlich war. Obwohl das allgemein stark empfunden wurde, handelte es sich hier um eine sehr vage und verschwommene Erkenntnis. Selbst in der Naturphilosophie der italienischen Renaissance, die, aufs Ganze gesehen, einen wichtigen Beitrag zur Begriffsbildung der modernen Wissenschaft leistete, trug man wenig zur Aufklärung der Sachlage bei. 166
In der Geschichte der europäischen Naturphilosophie lässt sich also für eine beträchtliche Zeit kein Masse-Begriff ausmachen, der einem strengen physikalischen Gesetzbuch genügen konnte, obschon dies im Zuge des sich ausbreitenden Interesses an den Bewegungen der Planetenkörper, an der Stellung der Erde im Verhältnis zur Sonne und an den Flugbahnen der Kometen ein Als einflussreichste antike Vorlage hierzu kann ein weiteres Mal Lukrez’ De rerum natura gelten, insbesondere dessen erstes Buch, in dem es an zahlreichen Stellen um den Beweis der Existenz des Leeren (inane) geht – denn diese Vorannahme muss nach atomistischer Überzeugung getätigt werden, um die Diversität der Mengenverhältnisse und den atomaren Positionsaustausch in der physikalischen Wirklichkeit erklärbar zu machen; so werde »indes nicht überall alles Körperliche durch die Natur [gleichermaßen] dicht zusammengedrängt gehalten; denn es gibt in den Dingen ein Leeres« (Lucr., 1, 329 f.: »Nec tamen undique corporea stipata tenentur / omnia natura; namque est in rebus inane.«) Das Leere liefert in diesem ersten Buch sowohl das Kriterium für die Dichte und das Gewicht der Körper als auch für deren Möglichkeit zur Bewegung (vgl. ebd., 1, 342–345). 166 Jammer (1964), 53. 165
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zunehmendes Desiderat darstellte. 167 Die Quantität der Materie konnte demzufolge, je nach dem, welches philosophische Programm man verfolgte, bald – im Sinne ihrer Ausdehnung – als eine geometrische, bald – im eben genannten Sinne der Masse – als eine stoffliche Eigenschaft aufgefasst werden. Damit war allerdings noch nicht festgelegt, ob es bei dieser Zuschreibung um eine primäre Eigenschaft im Sinne des (nach wie vor streng aristotelisch gedachten) Notwendigkeitsprinzips oder um eine sekundäre Qualität im Sinne einer durch Kontingenz verursachten (und demokritisch-epikureistisch gedachten) Eigenschaft ging. 168 Dieses in der scholastischen Philosophie noch nicht in den Vordergrund gerückte, geschweige befriedigend geklärte Grundproblem bildet nun eine wesentliche ideengeschichtliche Folie für die Naturphilosophie Galileo Galileis (1564–1642). Denn die oben angeführte Unklarheit des Quantitätsbegriffs findet sich tatsächlich nicht nur im Gros der mittelalterlichen Scholastiker, 169 sondern ist auch in weiten Teilen bei Galilei selbst noch auszumachen. Er vertritt im Gesamtkontext seines Œuvres zumindest keine konsistent zu nennenden Auffassungen zur Materie, die sich als rein physikalische auswiesen; er kehrt vielmehr in seinen Beschreibungsmustern immer wieder zu den Teildisziplinen der Mathematik, das heißt vor allem zur Arithmetik, Algebra und Geometrie 167 Vielmehr waren die naturphilosophischen Diskurse vor dem Erfolg der astronomischen Mechanik von den Kontro- versen zwischen Buridanern und Averrianern bestimmt. Zur allgemeinen historischen Situation der Philosophie im 15. Jahrhundert vgl. Flasch (22011), 561–574. 168 Erschwert wurde der Aufstieg der Masse als valider naturwissenschaftlicher Größe im Mittelalter auch durch die doch sehr zentrale Rolle der Bewegung (motus, motio), die als solche das Hauptinteresse darstellte und einen beherrschenden Schwerpunkt der Erkenntnisbemühungen in der scholastischen Naturphilosophie bildet; vgl. hierzu das treffende Diktum Grants, nach dem »[i]n the most general sense, Scholastic natural philosophers identified ›mobile being’‹ (ens mobile) as the basic subject matter of natural philosophy.« (Grant [2010], 283 f.) Weitere substantielle Prinzipien (materia, quantitas, gravitas etc.) werden demzufolge nicht als die eigentümliche Ursache der Körperbewegung angenommen – gerade weil diese ja selbst bereits eine substantielle Position einnimmt, indem sie ein eigenes ens bildet – und sind dementsprechend hiervon klar geschieden, wenn nicht gar sekundär zu behandeln. 169 Dijksterhuis macht dies unter anderem an der generellen Neigung der scholastisch-peripatetischen Philosophie fest, sich in ihrer Naturbetrachtung vorwiegend auf nicht-quantifizierbare Qualitäten zu kaprizieren, wobei er mit Thomas Bradwardine (1290–1349), Nikolaus von Oresme (1320–1382) und allgemein der im 14. Jahrhundert progressiv auftretenden Oxford-Philosophie ebenfalls prominente Gegenbeispiele anführt, in denen sich eine Hinwendung zur Quantifizierung physikalischer Prozesse (etwa durch die Zugrundelegung der latitudo und longitudo als Aktivitätsprinzipien in kinematischen Fragen) durchaus ausmachen lasse – bei Nikolaus von Oresme gar bis hin zu einer dezidierten Diskussion der quantitas qualitatis; vgl. Dijksterhuis (1956), 212–225. Demnach entzieht sich sich das wechselseitige Verhältnis zwischen der qualitas und der quantitas in der Scholastik zwar einer gewissen Eindeutigkeit; als Tendenz ist dennoch festzuhalten, »daß in der Scholastik eine Bestrebung im Gange war, Qualitäten unter voller Wahrung ihrer selbständigen Bedeutung quantitativ zu behandeln« (ebd., 212).
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zurück. Insbesondere die Geometrie ist hierbei nochmals gesondert hervorzuheben, wie Galileis grundlegendes und rasch populär gewordenes Werk Il saggiatore (1623) in einem frühen Kapitel zum Ausdruck bringt: Es [sc. das vorliegende Werk] ist in der mathematischen Sprache geschrieben, und deren Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum. 170
Wir sehen die Geometrie ex negativo mit der Erkenntnis schlechthin gleichgesetzt – deren Gegenteil besteht ja, wie wir seit Parmenides wissen, in der Dunkelheit und hier gar in einem dunklen Labyrinth. Die zweite mathematische Teildisziplin, die sich für Galilei als die maßgebliche erweist, ist die Arithmetik. Aus der Bevorzugung von Geometrie und Arithmetik, die sich ganz im harmonistischen Zeitgeist der italienischen und französischen Kunstepochen befand, 171 ergibt sich aber auch, dass kein Materiebegriff vorliegt, der konsistent aus rein stofflichen Paradigmen gezogen werden könnte. Ähnliches lässt sich diesbezüglich für den Massebegriff konstatieren. 172 Somit besteht in der galileischen Physik eine Leerstelle hinsichtlich der Beschreibung materieller Größen als materieller Größen. Die mathematische Beweiskraft reicht gewissermaßen nicht bis in den Bereich der physikalischen Kräfte hinein. Dieses Problem Galilei, Il saggiatore, cap. VI: »Egli è scritto in lingua matematica, e i caratteri son triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche, senza i quali mezi è impossibile a intenderne umanamente parola; senza questi è un aggirarsi vanamente per un oscuro laberinto«. 171 Dies vor allem bezogen auf die Entwicklung der Malerei und Musik zwischen ca. 1500 und 1650, die mit den Prinzipien der Zentralperspektive und des Goldenen Schnitts auf geometrische und arithmetische Bezugssysteme rekurriert. Dass es gerade diese beiden mathematischen Teildisziplinen sind, auf die vornehmlich zugegriffen wird (beziehungsweise – wie bei Descartes – auf die Algebra als abstrakte Form der Arithmetik), erklärt sich allerdings nicht nur aus einem übergeordneten Harmonieverständnis heraus, nach dem Philosophen und Kunstschaffende in scheinbarer Eintracht streben würden, sondern auch aus einer Komplementarität in den Verfahrensweisen: Was in Arithmetik und Algebra zu einer irrationalen Zahl führt (etwa die Zahl Pi um einen Kreisumfang zu berechnen, oder die Diagonale eines Quadrats), führt in der Geometrie selbst zu einer klar anschaulichen Figur (Kreis) beziehungsweise zu einer Linie, die sich in eine solche Figur (Quadrat) einzeichnen lässt. Umgekehrt gilt: Wenn in der Geometrie zwei Linien lediglich als ›länger‹ oder ›kürzer‹ zueinander angesetzt werden, so erfordert die Idee ihrer ›zusammengenommenen Länge‹ arithmetische Operationen, namentlich die Vermessung ihrer Längen (wofür es der Zahlen respektive der Variablen für die entsprechenden Zahlen bedarf) und deren Addition (wofür es wiederum der Grundrechenarten bedarf). Im Zusammenschluss beider Disziplinen profitieren also beide Seiten bald hinsichtlich ihrer Quantifizierbarkeit, bald hinsichtlich ihrer Repräsentationalität. 172 Vgl. etwa prägnant hierzu Heller (1970), 62: »[F]ür ihn [Galilei; D. B.] erschien Materie im Rahmen rein geometrischer, arithmetischer, oder kinematischer ›primärer Qualitäten‹: Gestalt, Größe, Lage, Berührung, Anzahl, Bewegung. Eigenartigerweise fehlt dabei ein ausgesprochener Massenbegriff; zu ihm stieß Galilei nicht vor, da sein Interesse vor allem den Messungen von Längen und Zeiten, nicht aber dem ›Maß der Materie‹ galt«. 170
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wird Galilei in seiner wissenschaftlichen Biographie lange Zeit beschäftigen. Es betrifft, wie Jammer herausstellt, Galileis Kraft-, Geschwindigkeits- und Trägheitsbegriff in elementarer Weise: Galileo, however, does not yet arrive at a mathematical definition of dynamic force, the reason being, as stated, that he still does not possess a clear definition of mass. Yet he already reduces the action of force to a gradual increase of velocity, to the accumulation of increments of speed, an idea that was possible only after he had assumed, at least implicitly, the principle of inertia. 173
An die funktionale Stelle einer moles tritt daher zunächst ein klassischer Trägheitsbegriff (inertia) – ein Bewegungsprinzip, das danach strebt, die Materie zur Ruhe zu bringen. Ungeachtet der Tatsache, dass wir keine befriedigende Erklärung für eine stoffliche Wirkursache der unterschiedlichen Bewegungsarten in der Welt erhalten, lassen einige Argumentationsstellen jedoch zumindest eine gewisse Tendenz zur Vorstellung einer trägen Masse im Sinne eines physicum reale – und darin dann durchaus in Absetzung von den mathematischen Eigenschaften (quantitas, extensio) einer bestenfalls als träge vorgestellten Materie – erkennen. 174 Eine derartige Bestimmungsgröße wiederum entfernt sich von den radikalsten neoplatonischen Überzeugungen, wonach die Materie selbst nichts als einen bloßen Mangel an reinem Sein darstelle. Sie schlägt sich allerdings auch nicht auf die andere Seite, die darin bestehen könnte, in atomistischen Theoremen aufzugehen. Die Annahme unteilbarer Teilchen als physikalischer Elementarien wäre nämlich keinesfalls tauglich, um dem ›dunklen Labyrinth‹ zu entgehen, das Galilei in seiner Wissenschaftstheorie meiden will. Die Vorstellung, immer weiter zu teilen, ist vielmehr dazu geeignet, im menschlichen Geist das Gegenteil einer luziden Vorstellung von der Natur hervorzurufen. Für Galilei viel tauglicher, weil vor allem durch die teleskopische Anschauung der Natur erprob- und validierbar, ist die Annahme einer ungleich verteilten Materie im Universum. Und hier kommt erstmals der Jammer (1957), 101. Vgl. die gute Zusammenfassung bei Jammer (1964), 53 f. unter Bezug auf Kommentierungen de Santillanas zu Galileis späteren Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo (1632) sowie Ruoff (2002), 48–50. Ruoff macht insbesondere die Inkompatibilität der mathematischen Methodik mit der Physizität des Untersuchungsgegenstandes (Körper, Gestirne etc.) als ein Problem für die Entwicklung eines konsistenten Materiebegriffs aus – gerade wenn es sich um eine Ablösung des aristotelischen Substanzbegriffs, der die Quantität eines Körpers noch als kontingente Eigenschaft fasste, handeln soll. Wovon sich Galilei indes nicht löst, ist die genuin aristotelische Annahme ›primärer‹ Qualitäten, die der Materie gegenüber ihren kontingenten, ›sekundären‹ Eigenschaften zufielen. Diese Qualitäten wiederum erscheinen, eben bis zur Einführung und Explikation der Masse, bei Galilei in Schriften wie dem genannten Dialogo tatsächlich stark geometrisch geprägt und daher erst in zweiter Linie philosophisch. 173 174
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Masse-Begriff ins Spiel: ›Masse‹ (massa) bezeichnet hier nicht mehr die schiere Ausdehnung (quantitas, extensio), auch nicht das Gewicht (pondus), das materielle Häufungen in ihren kontingenten Weltvorkommnissen aufweisen, sondern die Materie im Modus ihrer eigenen Beweglichkeit. Es geht um dasjenige, was sich unserem Blicke unmittelbar wie mittelbar offenbart: Planeten sind erkennbar als Anhäufungen von Masse, die sich im Raum bewegen – und dies ohne fremdes, künstliches Zutun. 175 Nicht selten wird die Masse gerade in diesem kinematischen Zuschnitt auch als moles klassifiziert. 176 Wichtig erscheint an diesem Konzept, dass die Körper – entgegen Galileis eigener Festlegung auf die rein mathematische Methodik – bereits aufgrund ihres eigenen Gewichts zur Bewegung neigen. Mehr noch: Der durch das Gewicht verursachte Impuls trägt zur Aufrechterhaltung und Steigerung der Körperbewegung bei. Es ist also noch überhaupt kein genuiner Kraftbegriff, der die Bewegung induzieren würde, sondern das gemeinsame Wirken zweier Größen, namentlich des Gewichts und der Geschwindigkeit. Gemäß ihrer Erkenntnis – die auf Messungen beruht – sind denn auch die Bewegungen der Körper miteinander vergleichbar. Die Objektwelt mag auf ihrer phänomenalen Ebene aus einheitlichen, geradlinigen Bewegungen bestehen; der Blick in das Innere der Dinge offenbart indes andere, zusammengesetzte Prinzipien: Es ist offensichtlich, dass die Kraft des bewegenden oder der Widerstand des bewegten [sc. Objekts] nicht einheitlich und einfach ist, sondern sich aus zwei Aspekten zusammensetzt, nach denen die Energie bemessen werden kann. Deren einer ist das Gewicht, so wie es vom bewegenden und widerstehenden [sc. Objekt] her kommt, deren anderer die Geschwindigkeit, entsprechend wie sie sich im bewegten [sc. Objekt] bewegt. 177
In dieser zentralen Passage aus dem Le mecaniche (1599) angeschlossenem Traktat Della forza della percossa wird ein komplexer Kraftbegriff (forza) entworfen, der rein auf physikalischen Elementarien beruht, insofern er aus dem Gewicht (peso) und der Geschwindigkeit (velocità) herzuleiten ist. Im Gewicht Die Masse lässt sich daher durchaus im Sinne der Materie selbst auffassen; vgl. hierzu auch Jammer (2000), 8: »True, he [Galilei; D. B.] uses the word ›massa‹, but only in a nontechnical sense of ›stuff‹ or ›matter‹«. 176 Dies bereits in seinem Frühwerk Theoremata circa centrum gravitatis solidorum (1585/86). Begriffsgeschichtlich stellt sich dies indes nicht unbedingt als ein Novum dar, insofern die moles bereits aus der antiken Lexik heraus umstandslos eine ›Masse‹ prädizieren kann; vgl. Georges (81998), s. v. »moles«, 975. 177 Galilei, Della forza della percossa, 329: »È manifesto, la facultà della forza del movente e della resistenza del mosso non essere una e semplice, ma composta di due azioni, dalle quali la loro energia de essere misurata; l’una delle quali è il peso, si del movente come del resistente, el’altra è la velocità, secondo la quale quello dee muoversi e questo esser mosso«. 175
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selbst, das in der massierten Materie vorzustellen ist, liegt also Bewegungspotential und gewissermaßen die eine Hälfte eines Kraftbegriffs vor. Die daran anschließende Bezeichnung einer solchen Kraft als ›Energie‹ (energia) zeigt zudem an, dass die Bewegung eines Körpers von sich aus nicht dazu neigt, abzunehmen, sondern vielmehr dazu, sich selbst zu erhalten. Es handelt sich demnach noch um ein altes, aus der peripatetischen Tradition wohlbekanntes Konzept, das sich in Anlehnung an die aristotelische Physik mit ›ἐνέργεια‹ erfassen ließe. Galilei überführt es indes in eine frühneuzeitliche Form, indem er nicht das metaphysische Potential, sondern physikalische Größen zu seinem Ausgangspunkt erklärt. Zudem erscheint hieran wichtig, dass die Kraft – oder eben Energie – als eine Folge physikalischer Grundeigenschaften der Körperwelt vorgestellt wird und noch nicht – wie sich dann später in der dynamischen Naturphilosophie beobachten lässt – als deren Substrat. 178 Im Sinne Galileis ist die Bewegung von Masse durch das Universum hindurch also nicht auf deren Gewicht allein zurückzuführen – denn Bewegung bleibt neben dem Gewicht als eine autarke Grundgröße bestehen – und auch nicht auf die bloße Geometrie – die dann wohl doch eine allzu mathematisch anmutende Bewegungsvorstellung evozieren würde. Durch die Ansetzung einer geometrisch nur indirekt repräsentierbaren Größe wie diejenige des Gewichts 179 wird eine solche allzu starke Fokussierung auf die Geometrie vermieden. Dessen ungeachtet sollen jene Grundeigenschaften, auf die es Galilei ankommt, zu einer ganz bestimmten Vorstellung beziehungsweise Form von Bewegung führen. Und an dieser Stelle kommt die Geometrie nun umso nachdrücklicher ins Spiel: Die aus dem Gewicht hervorgehende Bewegung erscheint in ihren natürlichen Ausprägungen bei Galilei auf genau eine Form beschränkt. Es ist der Grundgedanke einer kreisförmigen Bewegung (venendo dal centro alla circonferenza), der von Galilei bereits in Il saggiatore (1623) formuliert 180 wird und neun Jahre später im zweiten Kapitel des Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo (1632) eine entsprechende Darstellung erfährt. Das Modellhafte dieser Darstellung lässt sich leicht aus der Abstraktion lösen, wenn man zugrunde legt, dass die Linie AB eine Erhöhung auf der Erdoberfläche bildet, während M den Erdmittelpunkt bezeichnet. Wird ein Objekt von jenem Turm fallengelassen, so bewegt es sich entlang eines Kreises mit dem Durchmesser MB entsprechend der Anziehungskraft des Massenpunktes M, Dies wird das Hauptthema in Kapitel III.3 dieser Studie bilden. Im Gegensatz zu den Umrissen eines Körpers inhäriert das Gewicht diesem selbst, und die Darstellung des Gewichts ließe sich zwar mithilfe von Linien unterschiedliche Länge repräsentieren, jedoch bestünde hierzu kein Analogieverhältnis – im Gegensatz etwa zur Darstellung der Erde als Kugel oder der Erdbahn als Kreis. 180 Vgl. Galilei, Il saggiatore, cap. VI : »venendo dal centro alla circonferenza«. 178 179
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Abb. 1: Galilei, Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, cap. II, 191
bis es schließlich auf der Erdoberfläche – die selbst wiederum als Kreisbahn (hier mit dem Radius MA) vorzustellen ist – auftrifft. Auch die Wurfbewegung, so geradlinig sie auch anmuten mag, folgt im Modell Galileis einer Kreisbahn (mit dem Radius Ma1 beziehungsweise Mb1 und Mc1) entsprechend der Erdrotation. 181 Mag also auch die Grundbewegung eines fallengelassenen oder fortgeschleuderten Körpers uns auf den ersten Blick geradlinig erscheinen, so bewegt er sich dennoch prinzipiell nur entsprechend einer einzigen geometrischen Figur, nämlich zirkulär. Der Körper strebt hierbei naturgemäß auf einer bestimmten Bahn zu einem Ort, der bereits zum Zeitpunkt seines Bewegungsanstoßes (impetus, impeto) feststeht. 182 Gleichzeitig bemüht sich der Körper – und dies nun aufgrund seiner ihm innewohnenden Resistenzkraft (resistentia, resistenza) – in ebendiesem Bewegungsmodus zu verharren, diesen – mehr noch – gar zu intensivieren. Denn wie sich seine Masse im Fallen als Beschleunigungsimpuls erweist, so erweist sie sich im Ruhezustand als Gewicht – ein Phänomen, das klassischerweise mit dem Prinzip der Schwerkraft (gravitas, gravità) enggeführt wird. Anders gewendet: Die Schwerkraft eines Körpers im Ruhen entspricht derjenigen Kraft, mit der er sich beim Fallen beschleunigt: 181 Vgl. hierzu Dijksterhuis (1956), 390, wobei Dijksterhuis sich ausschließlich auf die Fallbewegung konzentriert. 182 Dass sich eine derartige Auffassung von Bewegung im Einklang mit der aristotelischen Physik befindet, die ja auch das naturgemäße Streben eines Körpers in bestimmte Richtungen beschreibt, legt Hecht (2009), 34–37 dar.
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Es ist klar, dass die antreibende Kraft, die auf einen Körper im Fallen wirkt, so groß ist wie die Widerstandskraft oder zumindest die Kraft, die notwendig ist, ihn ruhen zu lassen. Wollte man diese Kraft und diesen Widerstand bemessen, nehme ich die Schwerkraft eines anderen beweglichen Gegenstandes an. 183
Eine solche Auffassung von Resistenzkraft, die gerade nicht im Streben der Materie zur Ruhe oder in der Widerstandsfähigkeit gegenüber anderen korporalen Einflüssen aufgeht, sondern auf die Aufrechterhaltung, ja gar Steigerung ihrer Bewegung abzielt, ist ein typisches Merkmal der auf mechanischen Gesetzen beruhenden Naturphilosophie in der Frühen Neuzeit. 184 Peripatetisch gesprochen, strebt ein Körper im Fallen gewiss zur Ruhe, denn er beendet seine Fallbewegung erst dann, wenn er seinen Ruhezustand erreicht hat. Dieser ›letzte Zustand‹ kann mithin als das Telos der Fallbewegung gelten. Gleichwohl argumentiert Galilei nicht mit der Lehre von Finalursächlichkeit, sondern mit den physikalischen Größen einer antreibenden Kraft (impeto) und des Gewichts (peso). Demnach wird hier einerseits der Bewegungsimpuls vom System einer äußeren Kinetik in die Eigenschaften des Gegenstandes selbst verlagert, in dessen Gewicht und der damit einhergehenden Schwerkraft; 185 zugleich drückt sich der vom Körper ausgehende Eigenimpuls in einem einzigen Bewegungsmodus aus; insofern sich dieses Modell – wie im Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo gesehen – mit dem Kreis und der Kugel auf den geometrisch vollkommensten Figuren gründet, ist es – und dies mit antiker Legitimation – ebenso ›einfach‹ wie ›göttlich‹ zu nennen. Ziehen wir hierzu eine der bekanntesten Passagen aus Platons Timaios heran:
Galilei, Dialogi delle scienze nuovo, dial. 3, 140: »Qui è manifesto tanto esser l’impeto del discendere di un grave, quanta è la resistenza, o forza minima, che basta pre proibirlo, e fermalo: per tal forza, e resistenza, e sua misura, mi voglio fervire della gravità di un altro mobile«. 184 Dieser Trägheitsbegriff wird auch bei Descartes, wenn auch nun nicht gerade in Form von Kreisbewegungen, in den Principia philosophiae aufgegriffen werden. Er wird noch an späterer Stelle unserer Studie, in Kapitel III.2.a, noch genauer erörtert werden. 185 In einer solchen kinetischen Verlagerung direkt eine plane Abwendung vom Aristotelismus und Zuwendung zum Platonismus zu sehen, erschiene dennoch etwas vorschnell. Die Interiorisierung von Bewegungsimpulsen mutet vielmehr als eine ernsthafte Alternative zu diesen Traditionen an. Auch der umgekehrte Weg, die Exteriorisierung von Bewegungsprinzipien, hatte sich in der mittelalterlichen Philosophie in Form der impetus-Theorie als attraktiv erwiesen. Hierbei lassen sich zwei Konzepte unterscheiden: Während in der Schule des Nikolaus von Oresme impetus als die Ursache einer Beschleunigung gesehen wurde, so fand sich der impetus in der Schule Johannes Buridans als Ursache einer Bewegung mit prinzipiell konstanter Geschwindigkeit vertreten. Von diesen beiden ist es vor allem die Buridan-Auffassung, die einen großen Einfluss auf die neuzeitliche Mechanik gezeitigt hat; vgl. als eine der bis heute luzidesten Studien hierzu Maier (1940), insbesondere 153–176. 183
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Über die Reigen dieser [sc. Götter] selbst zu sprechen, über ihr Vorüberwandeln aneinander sowie über das Zurückkehren dieser Kreisbahnen im Verhältnis zu sich selbst und ihr Voranschreiten, welche dieser Götter bei ihrem Zusammentreffen in Vereinigung treten und welche in Gegenschein, in welcher Reihenfolge und zu welchen Zeiten sie sich unseren Blicken entziehen und dann wieder zum Vorschein kommen, böse Ahnungen hervorrufen, und denjenigen, die keine Berechnungen anstellen können, als Vorzeichen der Dinge, die noch kommen sollen, erscheinen, dürfte ohne ein genaues Betrachten der bekannten Modelle von eben diesen wohl eine vergebliche Mühe sein. 186
Soweit das klassische Bild, das man sich von den Kreisbahnen machte. Es sind Reigen (χορείαι) und Wandelwege (παραβολαί) der Götter, die sich für den fortwährenden Bestand der harmonischsten aller Bewegungsfiguren verantwortlich zeigen. Nun ist es bei Galilei aber ausgerechnet die Trägheit, die sich für ein Verharren in der Bewegung, mithin für ein Verharren in der Zirkularität, verbürgt. 187 Sie wird dadurch zu einem dynamische Grundprinzip erhoben und erfährt eine bis dahin beispiellose Nobilitierung. 188 Die Intensität, das heißt die Geschwindigkeit, mit dem sich diese Bewegung vollzieht, erscheint gegenüber dem reinen Formkriterium des Kreises respektive der Kugel bei Platon wie auch bei Galilei zunächst zweitrangig. Es ist nicht wichtig, welcher Gott der ›schnellste‹ ist (auch wenn Hermes hierfür zugegeben ein ernster Kandidat wäre), ebenso wenig wie die physikalische Geschwindigkeit bei Galilei Einfluss auf die Aufrechterhaltung der Kreisbahnen nehmen könnte. 189 Das der antiken Tradition entspringende Primat der Formgebung, die noch vor jeglichem physischen Vollzug anzusetzen ist, wird hier also durchaus aufrecht erhalten; seine Plat., Tim., 40c3–d3: »χορείας δὲ τούτων αὐτῶν καὶ παραβολὰς ἀλλήλων, καὶ πρὸς τὰς τῶν κύκλων πρὸς ἑαυτοὺς ἐπανακυκλήσεις καὶ προχωρήσεις, ἔν τε ταῖς συνάψεσιν ὁποῖοι τῶν θεῶν κατ᾽ ἀλλήλους γιγνόµενοι καὶ ὅσοι καταντικρύ, µεθ᾽ οὕστινάς τε ἐπί προ186
σθεν ἀλλήλοις ἡµῖν τε κατὰ χρόνους οὕστινας ἕκαστοι καταλύπτονται καὶ πάλιν ἀναφαινόµενοι φόβους καὶ σηµεῖα τῶν µετὰ ταῦτα γενησοµένων τοῖς οὐ δυναµένοις λογίζεσθαι πέµπουσιν, τὸ λέγειν ἄνευ δι᾽ ὄψεως τούτων αὖ τῶν µιµηµάτων µάταιος ἂν εἴη πόνος«. Hier wird – zugunsten der das kosmologische Modell selbst abbildenden Verschachtelung qua »πρὸς ἑαυτοὺς« – mit Diels »πρὸς« in 40c4 konjiziert. Vgl. hierzu auch Drake (1964), 607: »This restricted principle of inertia enabled Galileo and his followers to found the science of dynamics, by which physics was immeasurably advanced, though he neglected to state explicitly the general inertial principle as formulated two years after his death by Pierre Gassendi and René Descartes«. 188 Vgl. zu dieser Rolle der inertia in prägnanter Zusammenfassung der galileischen Position Westfall (1978), 19: »Inertial motion was conceived as uniform circular motion, the natural motion of a body in its natural place in a well-ordered universe«. 189 In seinen späteren Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze (1638) wird Galilei die Größen der Geschwindigkeit und Beschleunigung noch aufwerten, da er sie darin zur Erklärung parabelartiger Flugbahnen benötigt. 187
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Repräsentationsform ist jedoch nicht – wie noch bei Platon – metaphysischen, sondern – wie in Il saggiatore gesehen – geometrischen Zuschnitts. Darüber hinaus darf Galileis Ansatz, wenigstens in einem grundsätzlichen Sinne, bereits als holistisch gelten, insofern von der von Galilei unverbrüchlich angenommenen Kugelgestalt des Kosmos wiederum auf dessen interne Phänomene – wie eben die Bewegungen der in ihm enthaltenen Körper – zuverlässig und vice versa geschlossen werden kann. Dieses Wechselverhältnis existiert so bei Platon nicht, da die Götter nicht auf irdische Bewegungen angewiesen sind, um selbst in Bewegung zu sein. 190 Bei Galilei hingegen spiegelt sich die kosmische Gesamtgestalt in den physikalischen Eigenschaften seiner Einzelelemente wider. Erkennen wir den Verbund von Gewicht und Schwerkraft als dynamische Eigenschaften des galileischen Proto-Begriffs von Masse an, so wird diese Masse gar nicht mehr als schieres Quantitätsprinzip vorgestellt, sondern ruft eine selbsttätig wirkende und in ihrer formalen Ausprägung sogar als göttlich auffassbare Bewegung hervor. Diese Bewegung neigt dazu, sich selbst aufrecht zu erhalten – und dies ausgerechnet aufgrund der ihr zukommenden Trägheit, einer Größe, die von einem strengen platonischen Blickwinkel aus eigentlich den geeignetsten Kandidaten darstellen müsste, sie zur physischen Ruhe zu bringen. Kurz, die Masse ist aufgrund der Tatsache, dass die von ihr hervorgerufene Bewegung ihrem geometrischen Zuschnitt nach der curvitas folgt, in einem Zusammenhang mit dem Weltganzen zu sehen, und die Trägheit arbeitet, insofern sie Körper in der oben beschriebenen Weise in Bewegung hält, wiederum der Kugelgestalt des Kosmos zu, die sich ja in der fortlaufenden Kreisbewegung der Gestirne ausdrückt. Dieser zentrale Zusammenhang, der zwischen der antiken Kosmologie und den mechanischen Prinzipien herrscht, wird von Dijksterhuis präzise von einer traditionellen Schule, derjenigen des Atomismus, abgegrenzt: Eine ewig dauernde, geradlinige Bewegung, wie sie die Atomisten immer so gerne angenommen hatten, gehört für Galilei also ganz und gar nicht zu den natürlichen Möglichkeiten. Die ewige Kreisbewegung der Himmelskörper beherrscht sein Weltbild noch genau so stark, wie sie das der Griechen beherrscht hatte; Kreisbewegung ist die natürliche Bewegung par excellence, und wenn irgendwo von einer Tendenz zum Beharren die Rede ist, so kommt dafür in erster Linie eine kreisförmige Bewegung in Betracht. 191
Für die Verbindung zwischen diesen Prinzipien aus Galileis Physik und der in Kapitel iii.1.c.α beschriebenen Vorstellung einer intima rerum ist nun entscheiDieses Prinzip wurde in Kapitel II.3.a als ein wesentliches Sujet der von Hesiod ausgehenden antiken Lehrdichtung erschlossen. 191 Dijksterhuis (1956), 388. 190
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dend, dass Masse und Trägheit den Körpern in Form irreduzibler Prinzipien innewohnen; mehr noch, beide interagieren in einer Art interner Abhängigkeit miteinander: Die einem Körper zukommende Masse hält ihn in Bewegung, und er verhält sich in diesem Bewegungsdrang aufgrund seiner eigener Trägheit erst einmal renitent gegenüber äußeren Einflüssen. Anders gewendet: Ein Körper verlässt seine Bahn erst dann, wenn ein äußerer Anstoß, ein fremder impetus, dazu erfolgt. Die Trägheit hält also vor allem die von der Masse ausgehende Bewegung aufrecht gegenüber den Einflüssen, denen der Körper fortwährend ausgesetzt ist. Sie macht ihn mitnichten in erster Linie unbeweglicher, ›träger‹ als er sein könnte, sondern verleiht ihm im Gegenteil eine gewisse Autarkie. Sie ist gleichsam eine Trutzburg gegen die Akzidenz. Auf den ersten Blick mag also die Aufwertung der Materie, wie wir sie in der Astronomie vorfinden, zwar im Widerspruch zu den ideellen Weltgebäuden stehen, insofern hier die Materie zu anderen Selbsttätigkeiten neigt als lediglich zu ihrem eigenen Ruhebedürfnis; sie wird auch nicht mehr als das letzte Hypostat vorgeordneter geistiger Sphären begriffen, sondern ganz im Gegenteil zu einem Ausgangspunkt erklärt – wenn auch nicht der geistigen Prozesse (die ein radikaler Materialist freilich umstandslos darunter subsumieren würde), so aber immerhin der physischen Bewegungen. Sie ordnet sich aber bei alledem zuverlässig in die platonische Kosmologie ein. Die Körper befinden sich in dieser Übereinstimmung von Kosmos und Individualtätigkeit geradezu in ihrem vollkommenen Naturzustand. Das Allgemeine und das Spezielle werden somit über die Mechanik miteinander versöhnt, und selbst den einflussreichsten antiken Vorbildern wird im selbigen Zuge Genüge getan: Galilei, wie revolutionär gesinnt er auch zahlreichen überlieferten Vorstellungen gegenüber gewesen sein mag, hat stets an dem antiken Kosmosbegriff festgehalten, der die Endlichkeit der Welt einschließt. Mit Kopernikus und Kepler sieht er das Weltall immer noch so, wie Platon, Aristoteles und die Gelehrten des Mittelalters es gesehen hatten: als eine Kugel mit endlichem Radius. 192
Die für den Platonismus, den Neoplatonismus, den Aristotelismus, den Stoizismus und die Scholastik so wichtige Harmonie, die im Weltgebäude vorzuherrschen habe, wird grundsätzlich gewährleistet, wenn auch nunmehr – was von Dijksterhuis nicht so sehr herausgehoben wird – mit den denkbar unplatonischsten Mitteln, der Masse und der Trägheit. Im Zuge dieser Neubesetzung wird die physikalische Natur endgültig zum neuen Gewährsmann für eine antik instruierte Kosmologie. Die Körper sind von komplexen inneren Prinzipien bestimmt, die sie individuell tätig erscheinen lassen und sie zugleich 192
Ebd.
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in einen Einklang mit dem Weltganzen bringen. Auch die im Platonismus und Neoplatonismus noch so abstrakt gefasste Rolle der Mathematik ist in diesem Zusammenhang neu zu überdenken: Sie dient hier, ganz besonders in Gestalt der Geometrie, der Beschreibung physikalischer Prozesse, ohne dass dies auf der anderen Seite einen Verlust an Idealität bedeuten würde. Vielmehr wird ein neuer Leitaspekt zu allen geometrischen hinzugewonnen, nämlich die physikalische Realität, in denen sich die mathematischen Gesetze ausdrücken. Der Kreis, als Figur, deren Mangel eines Anfangs und eines Endes auf das Prinzip der Ewigkeit verweist, versinnbildlicht geradezu die Beharrlichkeit, mit der ein Körper danach strebt, seine eigene Bewegung aufrecht zu erhalten. Hierin liegt, nach der Loslösung der moles aus den quantitas materiae-Vorstellungen, der zweite wichtige Schritt begründet, den Galilei der Mechanik in ihrem ideengeschichtlichen Werdegang bereitet. Es lässt sich fürs Erste resümieren, dass die Körper in gleich zweifacher Weise von den Funktionalitäten der Masse und Trägheit profitieren: Sie sind selbstbestimmt und eingebettet in das vertraute kosmologische Grundmodell der Antike – in ein Modell, das seine Naturgemäßheit gerade nicht aus atomistischen Kontingenztheorien bezieht, sondern anhand klarer Formgedanken in den Vordergrund rückt. Die galileische Mechanik verlagert die Frage nach der Form vollständig in den Bereich der Geometrie. Sie betont zugleich die Rolle der sich im Vollzug befindlichen körperlichen Bewegung, welche die physikalische Einhaltung des kosmologischen Modells garantiert. Somit ist es nicht nur die erste Bewegungsursache – wofür klassischerweise etwa ein Schöpfergott, ein de¯miourgós oder ein unbewegter Beweger einstehen könnten –, sondern die körperliche Bewegung in actu, eine aus dem Aristotelismus wohlbekannte Verwirklichungsform der Energie, die mit einer neuen, vielseitigen Wertigkeit versehen wird. Wo das antike Bild von der physischen Wirklichkeit als solches die Wirklichkeit stets damit beschäftigt sah, Potentiale in energetische Zustände zu verwandeln, ist der Ausgangspunkt der Mechanik nun der energetische Zustand selber, der Körper in Bewegung. Dies hat bestimmte Auswirkungen auf die Ursachenlehre: Wenn der unbewegte Beweger noch vor den diesseitigen ursächlichen Verkettungen liegt (insofern er selbst keine Kausalursache benötigt), so sind Masse und Trägheit in eben diese Ursachenkette mit eingebettet, insofern sie die natürliche Energie eines Körpers aufrechterhalten. Wenn also aus den Körpern selbst heraus Zirkularität entsteht und wenn es gerade die inneren Prinzipien der Körper sind, die eine solche Kreisbewegung bewerkstelligen, so sind diese Prinzipien zugleich körperlich, substantiell und kosmologisch wirksam. Ihre Einrichtung kann – analog zu Descartes' Uhrwerk (horologe) – als göttlich verfasste vorgestellt werden – selbst wenn bei Galilei im Gegensatz zu Descartes nicht von einem weiteren Beistand (con-
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cours) die Rede ist, die der Schöpfergott nach seinem Schöpfungsakt der Welt und ihren Körpern leiste. Denn dies, so könnte man zuspitzen, erledigen ja Masse und Trägheit für ihn. Eben hierdurch kommt diesen Größen – mit einigem philosophiegeschichtlichen Nachklang – so etwas wie Numinosität zu. Ein wissenschaftsgeschichtlich an Galilei anschließendes, dann aber doch in vielerlei Hinsicht neu austariertes Verhältnis zwischen Masse, Trägheit und Bewegung findet sich bei Johannes Kepler (1571–1630). Er schließt in vielerlei Hinsicht an seinen Lehrer Tycho Brahe (1546–1601) an und verfolgt dabei eine moderne Sicht auf die Himmelsmechanik; zugleich lässt er die Verankerung seines Denkens im antiken Weltbild erkennen. Dies zeigt sich besonders eindrücklich in den Illustrationen seiner Sternenkarten:
Abb. 2: Kepler, De stella nova, 80
Die astronomische Sensation der Entdeckung einer Supernova im Jahr 1604 wird von Kepler in De stella nova (1606) mathematisch beschrieben und geometrisch festgehalten. Das ›N‹ markiert hier die Position des neu entstandenen Sterns am Rande des Sternbilds des Schlangenträgers. Die kunstvolle Darstellung sowohl des Schlangenträgers – die an mythische Figuren wie Laokoon erinnert –, des als geflügelter Kentaur inszenierten Mischwesens, des mit
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klassischen Attributen (Löwenfell, Keule) ausgestatteten Herakles sowie des geradezu vom Himmel stürzenden Adlers des Zeus verorten das Himmelsereignis auf einer antikisierten Folie. Mag mit der Entdeckung der Supernova die alte aristotelische Gewissheit, dass der Fixsternhimmel unveränderlich sei, gleichsam erschüttert worden sein, so wird dies hier kontrastiert mit der Einbettung des Ereignisses in eine nach wie vor antik vorgestellte Kosmologie. Galilei und Kepler sind beide Vertreter des antiken Weltbilds – eines Weltbilds, das von einer grundsätzlich in Vollkommenheit strukturierten Ordnung geprägt ist. Keplers Ellipsen scheinen einer solchen Idealität insofern entgegenzustehen, als die Planetenkörper bei ihm nicht nur zu einem zirkulären, sondern auch zu einem linearen Bewegung im Raum streben. 193 Die Bewegungen der Körper entziehen sich dadurch nicht nur der Idealität der geometrisch vollkommensten Figur, sondern auch dem Grundsatz der stetigen Gleichförmigkeit. Ellipsen eignen sich, bei aller Zuverlässigkeit, mit der sich die Bewegung der Himmelskörper auf ihrer Grundlage berechnen lassen, nicht unbedingt als ein herausragendes Beispiel für eine Weltordnung, die auf innerer Ausgewogenheit basiert. Wo bei Galilei Masse und Trägheit die Kreisbewegung gewährleisten, sind bei Kepler andere Prinzipien vonnöten. Deren Hauptgröße bildet nun die Kraft (virtus, vis), und zwar in ihren graduellen Zuständen (imbecillis, fortis, langidior, major, minor etc.), die sich für die Bewegung der Planeten verantwortlich zeichnen. Kräfte sind demnach nicht nur körperlich-intensiv, sondern stets auch örtlich-extensiv aufzufassen. Nicht zuletzt im Briefverkehr wird dieser Umstand von Kepler immer wieder betont, wenn er etwa 1606 an Samuel Hafenreffer schreibt:
Von der Grundfigur des Kreises her betrachtet kann die Ellipse nur als eine durch linearen Eingriff modifizierte Figur erscheinen. Wo ein Kreis, aufgrund seines konstanten Abstands zum Mittelpunkt, Gleichheit verkörpert, ›verzerrt‹ ihn die Ellipse in vertikale und horizontale Richtungen. Sie benötigt dementsprechend nicht einen, sondern zwei Radii (einen für jede Halbachse) und kann daher nur als eine uneinheitliche, geradezu zweideutige geometrische Figur gelten. Eine bis ins Unendliche verzerrte Ellipse wäre demnach gar nicht mehr von einer Geraden zu unterscheiden. Descartes wird genau diese Figur in den Principia diskutieren und als mögliche urtümliche Bewegungsform ablehnen; dabei wird er, in Form eines vermeintlichen Oxymorons, von »krummen Linien« sprechen (Descartes, Principia Philosophiae, pars 2nda, cap. XXXIX, 63: »lineas obliquas«). Seine für die Beschreibung natürlicher Bewegungen bevorzugte Figur, der sich dann auch Hobbes anschließen wird, ist demgegenüber die gerade Linie (linea recta). In diesem Sinn sind auch Kreisbewegungen nur als scheinbare Form der Bewegung einzustufen, denn »was sich kreisförmig bewegt, neigt stets dazu, sich vom Mittelpunkt des Kreises zu entfernen, den es beschreibt« (ebd.: »quae circulariter moventur, tendere semper ut recedant a centro circuli, quem describunt«), und ist damit wieder auf einer höheren Ebene ›linear‹ zu nennen – ein Kontrast zu Galilei, aber auch zu Kepler, der augenfälliger kaum sein könnte. 193
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Weder sind die Planeten durch Kreise [sc. geometrisch] eingeschlossen, nach denen sie sich umherbewegen, noch bewirkt die Bewegungskraft einen Kreis (außer wenn sie eine ist, die der Überführung der Apsis und der Knoten vorausgeht). Und diese [sc. Bewegungskraft] zielt selbst nicht auf die völlig gleiche Umlaufbahn der Kreise ab, sondern auf diejenige des Sternenkörpers [= Galaxie], in dem sie sich befindet. Denn dass diese Bewegung zu sich selbst zurückkehrt, bewirkt ebenso die Elliptik – eine Bezeichnung, unter der in gewisser Weise natürlich eine aufgrund der Fortdauer der Umläufe unendliche [sc. Bewegung] fällt. Jeder beliebige Umlauf ist jedoch nach Anfang, Mitte und Ende verschieden, daher unterliegt er dem Wachstum und Schwinden, also der Lebenskraft. Deswegen erschlafft eine bewegende Kraft an irgendeiner Seite [sc. ihres Sternenkörpers] selbst (sie ist nämlich örtlich ausgedehnt), und sobald sie dies einmal ist, bleibt sie dort auf Dauer. Ein Stern aber bewegt sich durch den Zusammenschluss verschiedener Kräfte von Seite einer schlafferen und schwachen Kraft her zu einer stärkeren, von der Kraftlosigkeit zur größeren Kraft – und umgekehrt; ganz so, wie wenn sich das, was sich an einem Punkt als schwach erweist, am entgegengesetzten Ende erholen würde. Und so bewirkt diese Unterschiedlichkeit der Entfernung zwischen Bewegendem und Beweglichem auf wahrhaftigste Weise eine [sc. in sich] ungleiche Bewegung. 194
Die Bewegungen der Gestirne werden als Umsetzung von Kraftpotentialen in Relation zu Entfernungen vorgeführt. Es wird also ein dynamisches Prinzip an die Seite eines geometrischen gestellt. In der dezidierten Verschränkung beider Betrachtungsebenen ist Kepler der erste bedeutende Astronom gewesen. 195 Die
Kepler, An Samuel Hafenreffer in Tübingen, 361: »Neque circulis revincti sunt planetae, quibus circumagantur, neque vis motrix affectat circulum (žnisi una quae praeest apsidum et nodorum translationiž). Atque haec ipsa non cogitat de circulorum, sed de corporis stellaris, in quo inest, conversione aequabilissimâ. Nam quod motus hic in seipsum redit, id facit et Ellipticus, quo nomine infinitus quidem est quodam modo, continuatione scilicet periodorum. At principio medio et fine distincta est quaelibet periodus, itaque incremento decremento et vigori obnoxius est. Quamobrem virtus movens aliqua sui parte (žextensa enim est localiterž) languet, et ubi hoc semel est, ibi est perpetuò. Sed Stella conspiratione diversarum virtutum promovetur à parte virtutis languidiore et imbecilli in fortiorem, ex ἀδυναµίᾳ in δύναµιν majorem, et contra; sicut quod in uno puncto deficit, id in opposito reficiatur: atque sic verissimè inaequalem motum causatur haec distantiae diversitas inter movens et mobile«. 195 Dijksterhuis zeichnet den Entstehungsprozess dieser für den weiteren Fortgang der frühneuzeitlichen Astronomie so zentralen Denkfigur nach: »Kepler stellt nun [im Anschluss an seine teleskopischen Beobachtungen zur Umlaufbahn des Mars; D. B.] zuerst auf Grund langer Berechnungen fest, in welchem Sinne die Bahn [der Planeten; D. B.] von einem Kreis abweicht. Es zeigt sich, daß Unterschiede zwischen Entfernungen, die aus Beobachtungen errechnet sind, und solchen, die aus der bisher angenommenen Hypothese folgen, desto größer sind, je weiter der Planet von den Absiden entfernt ist, und zwar so, daß die Bahn seitlich abgeflacht ist und also die Form eines Ovals 194
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dafür typische Form stellt die Ellipse dar – gerade weil sie als geometrische Figur, im Gegensatz zu Galileis Kreisbahnen, nicht idealtypisch ist. Die Ellipse erscheint als urtümliche Bewegungsbahn der Planeten vielmehr gerade aufgrund ihrer augenscheinlichen Imperfektion so attraktiv, da sie gewissermaßen eine Mittelstellung zwischen rein linearen und rein zirkulären Bewegungen repräsentiert. In dieser gemäßigten Figur lässt sich das der Wirklichkeit angemessenste, wahrscheinlichste Prinzip der natürlichen Bewegungen ausmachen. Es zeigt sich nämlich in der Lage, die Anziehungskraft der Körper auf erster Stufe mit einzubeziehen. Und dies stellt einen weiteren Aspekt dar, der Keplers Naturphilosophie so einflussreich werden ließ: Die Masse geht hier über die ihr traditionell zugeschriebenen Eigenschaften der Quantität und Passivität hinaus und dabei noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur für die Eigenbewegungen des Körpers sorgt, sondern auch auf andere Körper dynamische Wirkungen zeitigt. Für die Ausübung von Kräften im Universum spielt neben der den Körpern inhärierenden Masse auch die Entfernung zwischen den Körpern eine entscheidende Rolle (distantia inter movens et mobile). Dadurch kann die Masse zunehmend zu einer in mehreren Systemen wirksamen Kraft fortentwickelt werden – nämlich im System bewegender Entitäten ([ens] movens) und im System beweglicher Entitäten ([ens] mobile). Zudem kann sie in ihrer Bewegung gar von dem Körper ausgebremst werden, dem sie selber angehört. Dieses erstaunliche Momentum lässt sich wie folgt umreißen: Kepler gelangt auf Umwegen zu einer Neubewertung der Trägheit, indem er die vom Neoplatonismus unterstellte Passivität der Materie in eine Aktivität – und zwar im Sinne einer ihr zukommenden Resistenzkraft – umfunktioniert. Er führt hierzu, nicht zuletzt mit beträchtlichem rhetorischen Insistieren, das bereits aus der Renaissance bekannte physikalische Leitdiktum an, die Materie weise naturgemäß einen Hang zur Ruhe auf. 196 Für den Neoplatonismus war dies allerdings noch damit gleichbedeutend, dass die Materie in ihrem Ruhezustand
hat. In diesem Punkte setzt die dynamische Betrachtungsweise wieder ein. Kepler versucht, eine physikalische Ursache für die bisher unerklärliche Tatsache zu finden, daß der Planet, nachdem die von der Sonne ausstrahlende und mit dieser sich drehende species ihn erfaßt hat, nicht einfach mit konstanter Geschwindigkeit einen Kreis um die Sonne durchläuft. Er findet eine solche in einem eigenen inneren bewegenden Vermögen des Planeten, wodurch dieser einen Epizykel um einen ungleichförmig um die Sonne rotierenden Punkt beschreibt.« (Dijksterhuis [1956], 353 f.) Der Begriff der species wird von Kepler als Terminus für das Licht und dessen Strahlkraft verwendet und in unserer Untersuchung noch an späterer Stelle, namentlich bei der Diskussion der kosmologischen Psychologie in Kapitel IV.4.b, in Form der species immateriata eine wichtige Rolle spielen. 196 Vgl. die von Kepler in der Astronomia Nova (1609), im Tertius Interveniens (1610) und in der Epitome astronomiae Copernicanae (1621) beschriebene Vorstellung einer natürlichen Trägheit
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nicht nur Körper im bloßen Stillstand repräsentierte, sondern dass sie, mehr noch, in keinem ihrer Zustände von einer eigenen Kraft durchdrungen sei. 197 Die ihr zukommende ontische Ebene erscheint dadurch zugleich auch von niederer Qualität. Ein solches Streben in einen Ruhezustand stellt jedoch nun nach Kepler keine Hinwendung zur Passivität unter Einnahme eines gegenüber den Geistessphären inferioren Zustands dar, sondern kann geradezu als ein ihr gemäßes immanentes Prinzip, als eine eingegebene Kraft (vis insita) gelten. Hierdurch schreibt Kepler die Axiomatik einer neoplatonischen Kosmologie fort, um sie zugleich zu überwinden: Durch die Grundannahme einer trägen, im wörtlichen Sinne ›uninspirierten‹ Materie ist gewährleistet, sich einer stoi-
(naturalis inertia), die den Körpern innewohne und die sich nur durch einen Widerstreit (oppugnatio) mit anderen Kräften überwinden lasse. Dieser Auffassung traten dann unter anderem Gassendi in De motu impresso a motore translato (1642) und Descartes in den Principia Philosophiae (1644) entgegen. 197 Vgl. Plotins Enneaden und die darin diskutierten ›Klassen des Seienden‹, die sich nach der Materie und dem formenden Sein ordnen. Plotin verfolgt eine dergestalte Diktion, dass sich der Logos mehr als Bildekraft denn als abstraktes Prinzip zeigt, etwa im fünften Buch, worin es um das Verhältnis zwischen Geist, Ideen und Seiendem geht: »Die Kräfte in der Saat: Jede einzelne von ihnen ist eine einheitliche Bildekraft mit den Teilen, die in ihr umfasst werden, und hat das Körperliche als Materie – insofern es beispielsweise feucht ist –, die Bildekraft als solche ist aber insgesamt Gestalt, eine vernünftige Bildekraft, die mit der sie hervorbringenden Art der Seele identisch ist, die wiederum ein Abbild einer anderen, stärkeren Seele ist. Diejenige [sc. Seele], die in der Saat wirkt, bezeichnen manche als Natur; sie geht von oben aus, von denjenigen Dingen, die vor ihr sind, so wie Licht von Feuer, und wandelt und gestaltet die Materie, nicht indem sie sie anstößt oder indem sie von der vielbeschworenen Hebelkraft Gebrauch macht, sondern indem sie ihr etwas von den Bildekräften mitgibt.« (Plot., enn., 5, 9, 6, 15–24: »αἱ µὲν οὖν ἐν τοῖς
σπέρµασι δυνάµεις ἑκάστη αὐτῶν λόγος εἷς ὅλος µετὰ τῶν ἐν αὐτῷ ἐµπεριεχοµένων µερῶν τὸ µὲν σωµατικὸν ὕλην ἔχει, οἷον ὅσον ὑγρόν, αὐτὸς δὲ εἶδος ἐστι τὸ ὅλον καὶ λόγος ὁ αὐτὸς ὢν ψυχῆς εἴδει τῷ γεννῶντι, ἥ ἐστιν ἴνδαλµα ψυχῆς ἄλλης κρείττονος. φύσιν δέ τινες αὐτὴν ὀνοµάζουσι τὴν ἐν τοῖς σπέρµασιν, ἣ ἐκεῖθεν ὁρµηθεῖσα ἀπὸ τῶν πρὸ αὐτῆς, ὥσπερ ἐκ πυρὸς φῶς, ἤστραψέ τε καὶ ἐµόρφωσε τὴν ὕλην οὐκ ὠθοῦσα οὐδὲ ταῖς πολυθρυλλήτοις µοχλείαις χρωµένη, δοῦσα δὲ τῶν λόγων.«) Plotin lehnt es dezidiert ab, einen Kraftbegriff für die Materie überhaupt veranschlagen zu müssen: »Die Abbilder der wirklichen Dinge, die in sie [sc. die Materie] hinein und aus ihr herauskommen, gehen in sie nur wie ein Geist in einen formlosen Geist hinein und werden in ihr sichtbar, weil sie [sc. die Materie] von sich aus keine Gestalt hat. Sie scheinen nur auf sie zu wirken, bewirken jedoch nichts. Denn sie sind matt und schwach und besitzen keine Widerstandskraft. Aber auch die Materie besitzt keinerlei Kräfte. So gehen die Dinge durch die Materie hindurch wie durch Wasser, ohne den Durchgang deutlich werden zu lassen.« (Plot., enn., 3, 6, 7, 27–32: Τὰ δὲ εἰσιόντα καὶ ἐξιόντα τῶν ὄντων µιµήµατα καὶ εἴδωλα εἰς εἴδωλον ἄµορφον καὶ διὰ τὸ ἄµορφον αὐτῆς ἐνορώµενα ποιεῖν µὲν δοκεῖ εἰς αὐτήν, ποιεῖ δὲ οὐδέν· ἀµενηνὰ
γὰρ καὶ ἀσθενῆ καὶ ἀντερεῖδον οὐκ ἔχοντα· ἀλλ᾿ οὐδὲ ἐκείνης ἐχούσης δίεισιν οὐ τέµνοντα οἷον δι᾿ ὕδατος.) Die einleitende Phrase »Τὰ δὲ εἰσιόντα καὶ ἐξιόντα τῶν ὄντων µιµήµατα« stammt – unter Tilgung von »ἀεὶ« zwischen »τῶν ὄντων« und »µιµήµατα« – aus Plat., Tim., 50c4 f. Kurzgesagt vermeidet Plotin genau dasjenige tunlichst, was der Mechanizismus mit aller Macht verfolgt: der Materie ein dynamisches Prinzip einzugeben.
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zistischen oder pantheistischen Logos-Verteilung im Universum zu versagen 198 und im Gegenzug dem Neoplatonismus bis zu einem gewissen Punkt Genüge zu tun, 199 und dies, ohne dabei die eigenen astronomischen Erkenntnisse – die sich ja zuvorderst auf der präzisen Beobachtung der Materie gründen – zugunsten eines apriorisch gefassten Ideenkonzepts aufgeben zu müssen. 200 Nun stellt ein Streben in den Ruhezustand, wie es Kepler vorschwebt, gewiss noch kein bloßes Untätigsein, indes auch keine demiurgische Kraft dar, die eine göttliche Ordnung der Welt überhaupt zu schaffen in der Lage wäre; noch könnte es sich hierbei um handeln. Vielmehr ist es die physikalische Betrachtungsweise, die gegenüber den auf reiner Mathematizität (Pythagoreismus, Platonismus) und Geometrizität (Archimedes-Rezeption) beruhenden Philosophien einen Vorzug erhält. In einem solchen Entwicklungsschritt erweist sich Keplers Kosmologie als methodologische Neujustierung des Verhältnisses mathematischer (axiomata mathematica) und physikalischer Anfangsgründe (axiomata physica) – eine Maßnahme, von der vor allem die körperliche Welt zu profitieren weiß. Vor dem Hintergrund der Aussagen, die wir in Keplers Brief an Hafenreffer ausmachen konnten, ist weiterhin zu beachten, welche Rolle die Masse bei der Ausformung der Bewegung der Planetenkörper konkret spielt. Hierzu enthält die zweite Auflage des Mysterium Cosmographicum, die 1621 erschien, 201 wichtige Ausführungen: Man darf nämlich die Planetenkörper bei ihrer Bewegung beziehungsweise Verlagerung um die Sonne herum nicht als mathematische Punkte ansehen, Das Durchwalten der materiellen Welt durch einen Logos stellt für diese Philosophenschulen das göttliche Prinzip schlechthin dar; und als solches ist es auch vom menschlichen Geist erkennbar. 199 Da die Materie im Neoplatonismus selbst als untätig angenommen wird und erst vom wahren Sein erfüllt werden muss, um Gestalt und Bewegung zu erhalten, verhält sie sich passiv zu einer formenden Ordnung (›Kosmos‹). 200 Vielmehr orientiert sich auch Kepler an der Erstellung eines mechanischen ›Gesetzbuches‹. Prominentester Ausdruck hierfür sind die drei Keplerschen Gesetze: Die Lex I (formuliert in der Astronomia Nova) besagt, dass die Bahnen der Planeten elliptisch sind (sogenannter ›Ellipsensatz‹); die Lex II (ebenfalls formuliert in der Astronomia Nova) besagt, dass zwei Fahrstrahle, die zwischen Sonne und Planeten zum selben Zeitpunkt überstrichen werden, dieselbe Fläche aufweisen (sogenannter ›Flächensatz‹); die Lex III (formuliert in den Harmonices mundi Libri) wendet sich den Umlaufzeiten der Planeten zu und besagt, dass sich deren Quadrate wie die dritten Potenzen der Halbachsen ihrer Bahnen zueinander verhalten. Gerade beim dritten Gesetz handelt es sich um eine »Tatsache von großer historischer Bedeutung, und für Keplers Leben war sie äußerst wichtig, da sie die endgültige Bestätigung seiner Vermutung erbrachte, daß es eine mathematisch ausdrückbare Struktur des Planetensystems geben muß.« (Dijksterhuis [1956], 359). 201 Die Erstauflage ist auf das Jahr 1596 datiert. Sie erfuhr jedoch in den folgenden fünf Jahren eine nicht unerhebliche Überarbeitung und fand dann vor allem in der zweiten Auflage ihre größte Rezeptionsweite. 198
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sondern muss sie ausdrücklich als materielle Körper ansehen, die so etwas wie ein Gewicht haben (wie ich in meinem Buch über den Neuen Stern geschrieben habe), das heißt insofern sie mit der Fähigkeit ausgestattet sind, sich einer ihnen nach innen hin aufgezwungenen Bewegung zu widersetzen entsprechend der Masse des Körpers und der Dichte der Materie. 202
Was Kepler im Grundsatz seiner Himmelsmechanik vor allen Dingen vorschwebt, sind demzufolge keine rein abstrakten Beschreibungsebenen, sondern ein elementarer Einbezug der materiellen Korporalität der Planeten. 203 Da die Körper nun, wie in den Weltphänomenen zweifelsfrei sichtbar, sowohl mit gradueller Unterschiedlichkeit (›Geschwindigkeit‹) als auch in diverse Richtungen streben, wird indes ein Begriff erforderlich, der über die Materie selbst hinausgeht. Die Trägheit bietet sich hierfür kaum an, da sie dann doch – in galileischer Tradition – sehr unverbrüchlich als Widerstandskraft oder – im Einklang mit dem Platonismus – als eine ontologisch zwar notwendige, aber deswegen noch längst nicht eben würdevolle Eigenschaft der Materie vorgestellt wird. Vielmehr ist die Materie im Platonismus und im Neoplatonismus ohne das Zutun des formenden, vernünftigen Geistes, sozusagen als ›Ur-Materie‹ (materia prima) gefasst, nur in amorpher Ausbreitung vorzustellen. 204 Die Bewegungen der Körper werden von Kepler nun aber nicht, wie im klassischen Platonismus, im Neoplatonismus oder auch im Aristotelismus üblich, über eine ihr von außen zusätzlich zukommende Ursache oder das Konzept eines äußeren Bewegers, sondern durch die der Materie inhärierende Masse erklärt. 205 Kepler, Mysterium cosmographicum, 161: »Corpora planetarum in motu seu translatione sui circa Solem non sunt consideranda ut puncta mathematica, sed plane ut corpora materiata et cum quodam quasi pondere (ut in Libro de stella nova scripsi) hoc est, in quantum sunt prædita facultate renitendi motui intrinsecus illato pro mole corporis et densitate materiæ«. 203 Merkwürdig muten daher Äußerungen wie diejenige Thürings an, dem zufolge »das [dritte keplersche; D. B.] Gesetz rein kinematischer Art ist und Johannes Kepler einen auf Himmelskörper anzuwendenden Massenbegriff noch nicht besessen hat.« (Thüring [1967], 134). 204 Vgl. zu dieser Auffassung, die sich – bei allen Unterschieden in den theologischen und moralphilosophischen Ausdeutungen – in bemerkenswerter Einigkeit bei Aristoteles, Platon und Plotin findet, Aristot., phys., 3, 7, 207a15–32, Plat., Tim., 48e2–53b5 und Plot., enn., 2, 4, 1–12. 205 In diesem Sinn bedarf es nicht mehr so sehr einer impetus-Theorie, die noch im 16. Jahrhundert – im Zuge einer merklichen Revitalisierung der scholastischen Philosophie eines Johannes Buridanus (∼ 1300– ∼ 1358) – den aristotelischen Bewegungsbegriff dahingehend zu modifizieren suchte, dass sie fortwährende Anstöße annahm, um die Kontinuität von Bewegungen erklärbar zu machen. Funktional entsprach sie daher durchaus der ἐνέργεια, jedoch ohne dabei überhaupt einen entelechischen Anspruch zu verwirklichen. Im 17. Jahrhundert überwiegt dann hingegen, wie an Galilei und Kepler gesehen, die Überantwortung des energetischen Aspekts an die Trägheit. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der impetus-Begriff für das philosophische Mittelalter gerade deswegen vonnöten war, weil es im Gegensatz zur Frühen Neuzeit unter Trägheit noch nicht das Verharren eines Körpers in Bewegung, sondern das Streben der Materie zur Ruhe verstand; 202
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Diese paradigmatische Aufwertung der Masse markiert, wie zu sehen sein wird, dann zugleich die Überwindung eines sich rein auf physikalische Materialien kaprizierende Naturphilosophie: Während die Dichte dezidiert eine materielle Eigenschaft (densitas materiae) darstellt, handelt es sich bei der Masse um eine körperliche Eigenschaft (moles corporis). Es geht hierbei also nicht mehr um die Materie in ihrer nackten Gestalt, sondern bereits in ihrer körperlichen Erscheinungsweise. Ebendies ist der Punkt, an dem dann zugleich auch die Geometrie in die Beobachtungswelt eintritt. Es ist somit noch nicht die Ideenwelt, auch nicht die schiere Materie, sondern eine mittlere Sphäre, die hier zum Untersuchungsgegenstand wird – die Körperwelt. Dies schließt indes nicht aus, dass die Masse, wie wir im Mysterium cosmographicum sehen konnten, gelegentlich auch mit der Dichte der Materie definitorisch enggeführt wird, etwa wenn es darum geht, ihre Resistenz gegenüber äußeren Einflüssen vorzuführen. Daher lassen sich die Materie und deren Trägheit hier in physikalischer Hinsicht durchaus vorrangig zum Masse-Begriff fassen und die Masse selbst wiederum als ein tauglicher Erklärungsgrund für die unterschiedlichen Beobachtungen einstufen, die über die Diversität der körperlichen Phänomene Zeugnis ablegen. Die Masse mutet daher – wenn man diesen Vergleich ziehen möchte – als der philosophischere Begriff gegenüber der Materie an, wenn auch nicht als das im platonischen Sinne eigentliche philosophische Erkenntnisziel. Durch die Betonung der Körperwelt wird zudem die Gefahr vermieden, sich mit der Affirmierung der Masse einem radikalen Materialismus oder Physizismus anzunähern, insofern ja Materie und Trägheit ihr im Sinne beider Schulen als stoffliche Prinzipien noch vorgelagert wären. Zugleich ist mit diesem Massebegriff aber auch ausdrücklich nicht die plane Ausdehnung gemeint – ansonsten wäre er bloße Geometrie, fiele möglicherweise auf die Problemlage der quantitas materiae zurück, an der sich Galilei noch abgemüht hatte; sie wäre nur schwerlich brauchbar für die neuen astronomischen Beschreibungsansprüche an die physischen Realien, wie sie sich im Mysterium cosmographicum und im Liber de stella nova (1606) formuliert finden. Vielmehr handelt es sich um eine gemäßigte Stellung zwischen Physizität und Geometrizität, welche die Masse zu einer validen Größe – auch und gerade in Bewegungsfragen – werden lässt. Hierin manifestiert sich dann auch ideengeschichtlich eine gewisse Mittelstellung zwischen Neoplatonismus und archimedischer Renaissance: Es geht nicht mehr zuvorderst um die Trägheit – als ein physisches Prinzip der Materie im Neoplatonismus – und auch nicht mehr um die ›Veredelung‹ der Geometrie – als eine präferierte daher erfüllte der impetus gewissermaßen diejenige Funktion, die später der inertia in Bezug auf die ¯ zukommen sollte; vgl. hierzu prägnant Dijksterhuis (1956), 205. quantitas motus
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Erklärungsebene der Anhänger Archimedes'. Es geht um etwas im Grundsatz viel Einfacheres: In Keplers Hauptwerken, insbesondere in der vielfach rezipierten Epitome astronomiae Copernicanae (1617–1621), 206 neigen die Körper über ihre Masse, im Gegensatz zur Trägheit, spontan zur Bewegung; dies tun sie in einem streng korrelierten Verhältnis, nämlich in ihrer wechselseitigen Beeinflussung von und zu anderen Körpermassen. So sei bei zwei Körpern zu erwarten, dass diese, zwei magnetischen Körpern ähnlich, an einer dazwischenliegenden Stelle zusammenkommen, wobei sich jeder dem anderen um diejenige Strecke nähert, die zur Masse des anderen proportional ist. 207
Die Masse verfügt demnach über eine ihr eigens zukommende Kraft; diese Kraft – und das ist für die Abgrenzung zur aristotelischen potentia entscheidend – schlummert jedoch nicht allein in ihr, bis sie irgendwann (vielleicht aber auch niemals) zur energetischen Verwirklichung gelangt, sondern lässt ihre Wirkungen nach außen hin jederzeit erkennen; diese Wirkungen wiederum sind zuvorderst als in einem bestimmten Verhältnis zueinander gewichtete (tanto . . . quanta [. . . ] in comparatione) zu bemessen. Kepler entwickelt diese Denkfigur in seiner Abhandlung De causis planetarum (1625) fort und nimmt die Trägheit (inertia) dabei als wichtige Begründungsinstanz seiner Bewegungsgesetze hinzu. Sie nämlich stelle die zweite wesentliche Größe dar, die regulierend auf die Bewegungen einwirke; denn die jeder Materie innewohnende Trägheit sei so beschaffen, dass sie der Bewegung entgegenwirkt, und zwar umso stärker, je mehr Materie in einem begrenzten Raum versammelt ist. 208
Was in der synoptischen Betrachtung der zuletzt zitierten Passagen zum Ausdruck kommt, lässt sich nun nicht mehr auf eine der reinen Intuition folgende Naturbetrachtung zurückführen, sondern erscheint einer solchen eher gegenläufig: Die Trägheit wird nicht ausschließlich als grundsätzlicher Hang der Die Bedeutung dieser sukzessive entstandenen und publizierten Schrift für die Entwicklung der Astronomie im Sinne einer Himmelsmechanik stellt unter anderem Jammer heraus; so sei die Epitome »perhaps the first true treatise on celestial mechanics«, nicht zuletzt da hierin ein Kraftbegriff Geltung erlange, der zuvorderst »in the mechanical sense of the word« greifbar werde (Jammer [1957], 87). 207 Kepler, Epitome astronomiae Copernicanae, lib. IV , pars III , cap. 34: »ad similitudinem duorum magneticorum corporum coirent loco intermedio, quilibet accedens ad alterum tanto intervallo, quanta est alterius moles in comparatione.«). 208 Kepler, De causis planetarum, 175: »repugnans motui, eaque tanto fortior, quanto major est copia materiæ in angustum coacta spatium«. 206
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Materie zur Ruhe begriffen, 209 sondern – nach vorangehender Einführung des dynamischen Masse-Begriffs in der Epitome – als eine wirksame Kraft, namentlich als aktive Gegenwirkung (repugnans) vorgestellt; und dies wohlgemerkt nicht im Sinne eines Widerstands zu einer bereits äußerlich erlittenen Bewegung, eines externen Anstoßes, sondern als ein aus der Immanenz, nämlich aus der Dichte (copia materiæ in angustum coacta spatium) heraus wirkendes Prinzip der Materie selbst. 210 Sie beeinflusst die Bewegungsquantität der Masse, welche wiederum – im Verhältnis zu anderen Körpern – extensive Wirkungen ausübt. Kepler sieht also vor allem Attraktionskräfte am Werk. Dass es sich dabei um Naturkräfte im vornehmsten Sinne handelt, wird von Dijksterhuis illustriert: Die Erde und ein Stein außerhalb unterliegen beide dem Einfluß der Naturkraft, die danach strebt, sie zu vereinigen. Zeigt seine [Keplers; D. B.] Vorstellung also in dieser Hinsicht Verwandtschaft mit der späteren Gravitationstheorie Newtons, so weicht sie prinzipiell von dieser ab, daß die Kräfte, welchen die Körper unterliegen, nicht gleich gedacht werden. Sie verhalten sich wie die moles der Körper, welches Wort zwar Volumen bedeutet, aber, da gleiche Dichte der Körper vorausgesetzt wird, hier auch durch Masse wiedergegeben werden kann. Wenn die beiden Körper Gelegenheit haben, sich zu bewegen, so vereinigen sie sich in einem Punkte, der die Verbindungsstrecke ihrer Mittelpunkte umgekehrt proportional zu ihren Massen teilt. 211
Die Masse ist also aktives Prinzip im Zusammenspiel der Bewegungen der Körper untereinander. Dass sie sich aus ihrer Rolle der Passivität befreit, wird von Jammer ausgeführt: »Sobald aber die Schwere als eine Aktivität betrachtet wurde, die unter einem Einfluß von außen steht, und weniger ein der Bewegung anhaftendes Prinzip bedeutet, wurde die Situation ganz anders.« 212 Dieser Aspekt war noch leitend in der acht Jahre zuvor publizierten Epitome, der zufolge jede Himmelssphäre »eine natürliche Trägheit beziehungsweise Ruhe besitzt, durch die sie an jedem Ort ruhig verharrt, an dem sie für sich platziert ist.« (Kepler, Epitome astronomiae Copernicanae, lib. IV, pars III, cap. 41: »habet naturalem inertiam seu quietem qua quiescit in omni loco, ubi solitarius collocatur.«). 210 Diesem Prinzip wird im weiteren historischen Verlauf unter der Bezeichnung der ›Gravitationstheorie‹ noch eine beträchtliche Karriere beschieden sein; vgl. treffend hierzu Heller (1970), 63: »Darüber hinaus schrieb Kepler – in Anlehnung an das, was er über Magnetwirkungen wußte – der Materie eine Art Schwereanziehung zu und bereitete so den Boden für die allgemeine Theorie der Gravitation. Damit billigte er dem Stofflichen nicht nur räumliche Ausdehnung, sondern auch die Attribute der Trägheit und der Massenanziehung zu, und das war die Basis, auf der Newton weiterbauen konnte«. 211 Dijksterhuis (1956), 350. 212 Jammer (1964), 64. 209
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Was wurde also anders? Keplers Denkmuster, demzufolge in einem Körper zwei Kräfte miteinander wirken, von denen die eine in einem wechselwirksamen Verhältnis zur Außenwelt steht, fußt gleichermaßen auf der Art von Kinetik, die Galilei vorschwebte, wie es sich von ihr absetzt. Denn durch das Komplementieren der Trägheit mit der Masse über das Leitparadigma der Bewegung werden beide Größen zu aktiven Kräften erhoben, ohne sie dabei von der Materie prinzipiell entkoppeln zu müssen. Wenn der Materie also so etwas wie ein Eigendrang zur Bewegung eingegeben ist, so ist dieser Impetus in seiner inneren Struktur zugleich aktivisch (im Sinne ihrer Näherung an andere Körper) wie passivisch (im Sinne ihres selbst-induzierten Bewegungswiderstandes) zu denken. Die Bewegung der Körper wird von Kepler mithin durch beschleunigende und entschleunigende Kräfte simultan bestimmt. Auch wenn beide Prinzipien in den Körpern selbst in Koinzidenz vorhanden sind, verfolgen sie dessen ungeachtet unterschiedliche Interessen, die sich als anziehende beziehungsweise verlangsamende Kräfte beschreiben lassen. Ebendiese Entscheidung stellt nun eine bemerkenswerte Fortentwicklung gegenüber der antiken Naturphilosophie dar: Anziehung und Retardierung kommen in der Materie aufgrund eines janusköpfigen Begriffsverbundes (moles und inertia) in eins zusammen; sie fungieren dadurch als Konstituenten einer Aktivität und Passivität umfassenden mechanischen Bewegung. Die mechanische Bewegung erscheint selbst in ihrem vermeintlichen Widerstreben als aktive Kraft. Diese Bewegung kommt sowohl belebten als auch unbelebten Körpern zu. 213 Ein Die vis motrix bildet dabei denjenigen Ausdruck, der auch in sehr unterschiedlich gelagerten Kontexten, sowohl für die Erklärung der Planetenbewegungen wie auch derjenigen der belebten Körper, herangezogen wird; demgegenüber bezeichnet die facultas naturalis den äußeren, das principium animale indes den inneren Anlass zu allen natürlichen Bewegungen; vgl. Bialas (1998), 25: »On the other hand Kepler discussed the idea of planetary motion as a physical problem by the interplay of the central force of the sun and of the motive force or vis motrix of the planet. So he had to consider also scholastic ideas of motion and force in the Aristotelean tradition as he did in 1603 for the first time before his thorough reception of Gilbert’s idea of magnetism. Kepler differs natural faculty (facultas naturalis) and principle of mind (principium animale). Facultas naturalis is expressed by the vis motrix or vis naturalis of a body, and principium animale is considered as an inner principle of the body, both, to come into motion by its desire or will (nutus) and to resist by its reluctance or reaction (antispasis).« Diesen Aspekt, der einen der augenfälligsten Entwicklungsschritte aus den spätscholastischen Begriffssystemen heraus darstellt, die ja noch die Willenskräfte (vires voluntariae) als unphysikalischen Urgrund der physikalischen Kräfte angesetzt hatten, betont auch Jammer (1964), 60: »Weil allerdings in ihrer [der Scholastiker; D. B.] Sicht die bewegenden Kräfte hinter den Himmelssphären noch intelligente Geisteswesen sind, befaßte sich ihre Diskussion nicht mit Naturkräften (vires voluntariae), die keinen physikalischen Gesetzen unterworfen sind. Kepler verwandelte durch die Verknüpfung der inertia mit der copia materiae die metaphysische Vorstellung der inactivitas (,Plumpheit’) zu einem für die damalige Zeit wissenschaftlichen Begriff«. Ins Allgemeine gewendet: Der metaphysische Aspekt der (neo-)platonischen Trägheit wird durch Kepler in eine frühneuzeitliche Form gebracht. Die Möglichkeit, sie anhand 213
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für die Begründungsmuster spontaner Bewegungsursachen nicht unerheblicher Unterschied lässt sich zwischen beiden dann aber doch ausmachen: Die Masse besitzt – im Gegensatz zur Trägheit, die sich nur auf den ihr selbst zukommenden Körper beziehen kann – einen ununterbrochenen Einfluss auf die sie umgebenden Kräfte, die wiederum als von den Massen anderer Körper ausgehende Bewegungsursachen zu denken sind. Selbst wenn man, in Analogie zur Trägheit, in diesen Kräften eine Art passives Vermögen, eine potentia passiva, vermuten sollte, so wird doch vor allen Dingen eine reziproke Attraktionskraft ausgeprägt, die von einer immanent-renitenten Kraft dann wieder entschleunigt werden kann. Die Trägheit hängt hingegen von dem Umstand ab, dass zuvor überhaupt bereits eine Bewegung induziert wurde. Würde überall im Universum Ruhe herrschen, so bliebe die Trägheit als Größe unbemerkt; die Masse wiederum existierte nur in Form der Gesamtmasse des Universums, nicht jedoch auf eine nach Entitäten differenzierte Weise. Ungeachtet der Unterschiedlichkeit, die hinsichtlich der Bewertung von Trägheit und Masse zwischen Galilei und Kepler vorliegt, herrscht bei beiden dasselbe aus Geometrie und antiker Kosmologie bekannte Proportionsdenken vor – in Galileis Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo in Form der Proportionen der Kreisradien zueinander, in Keplers Epitome in Form eines auf die Idee der Gleichheit rekurrierenden quanta . . . in comparatione, in Keplers De causis planetarum wiederum in Form des auf Stärkegrade rekurrierenden quanto fortior . . . quanto maior. Die Proportionenlehre wird demnach auf so unterschiedlichen Größen wie Masse, Zeit, Raum und Kraft angewandt und stellt ein Bindeglied zwischen den Dimensionen dar. In der Summierung der Kräfte mag es für den äußeren Betrachter phänomenal nicht mehr wahrnehmbar sein, wie viel an Masse und wie viel an Trägheit nun zu einer konkreten, sichtbaren Bewegung führt. Das bedeutet aber nicht, dass keine Möglichkeit existieren würde, sich ihr wissenschaftlich zu nähern – im Gegenteil: Es ist die Mechanik, die dafür sorgt, dass diese Kräfte nach außen hin sichtbar gemacht werden, indem sie diese auf extensivierende Weise behandelt und auf dem Tableau der Geometrie zur Darstellung bringt. Sie bringt also, wenn man so möchte, das Prinzip der Proportionenlehre zur Anwendung. Auch aus diesem Grund ist der Rahmen der antiken Kosmologie selbst für so progressiv argumentierende Astronomen wie Galilei und Kepler geradezu unverzichtbar. Denn Kosmos und Proportion sind dem antiken Denken nach praktisch identisch.
mechanischer Bewegungen beschreibbar zu machen, eröffnet zugleich die Möglichkeit, sie von (Neo-)Platonismus und scholastischen Residuen zu emanzipieren.
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Bezüglich der naturphilosophischen Ausrichtungen der Frühen Neuzeit kann festgehalten werden: Die Bewegung der Körper wird mathematisch präzise über ihr eigenes, inneres Verhältnis von Masse und Trägheit sowie über ihre Distanz zur Masse und Trägheit anderer Körper bestimmt. Dies ist ein entscheidender Grund dafür, dass keine plane Umwandlung des Materialismus hin zum Mechanizismus verfolgt wird. Vielmehr müssen Körperwelt und mechanische Gesetze miteinander auf das Engste kooperieren. Der korporale Antrieb als Bewegungsursache befindet sich in augenfälligem Einklang mit der aristotelischen Physik – insbesondere hinsichtlich der Unterscheidung zwischen einem motor und einem mobile, 214 bei gleichzeitiger Erweiterung der klassischen potentia um die Vorstellung von einer moles, die unentwegt Einflüsse auf die sie umgebende Körperwelt zeitigt. Die Überführung der potentia in einen energetischen Zustand erzeugt dadurch eine potentia activa, dass sie die moles zum Ausgangspunkt des motus macht. Potenzen schlummern demnach nicht unbemerkt im Inneren der Dinge, sondern beeinflussen sich wechselseitig anhand eines kinetisch wirksamen Bandes, das in der Welt herrscht. Ohne diese wechselseitigen Beeinflussungen, die – wie am Magneten-Gleichnis in der Epitome gesehen – umstandslos auch als Fernwirkungen (actiones in distans) Gültigkeit beanspruchen, würden die Körper, wie die Materie überhaupt, ihrem ›Normalzustand‹ nach hingegen ruhen und den Fall wieder dem Platonismus überantworten – eben jenem Platonismus, der das mathematische Proportionalitätsdenken in einer abstrakten Sphäre verortet und von den physischen entia zuverlässig zu scheiden weiß. Dem Umstand, dass in der RenaissanceAstronomie das Innere der Materie (moles, inertia), ihre äußerliche Abgrenzung (corpora) und das Allumfassende (mundus) anhand der Bewegungen zusammen gedacht werden, entspringt indes auch eine neue Vorstellung von Universalität. Jener neue Stellenwert, der den Bewegungsimpulsen auf Grundlage der körperlich-materiellen Beschaffenheit und unter einer gleichzeitig zunehmenden Funktionalisierung der Mathematik zugemessen wird, wird in den folgenden Jahrzehnten noch eine nachhaltige Differenzierung des MasseBegriffs zeitigen – eine Differenzierung, die sich ein weiteres Mal von den quantitas materiae-Vorstellungen des Mittelalters und der Renaissance fortentwickelt. Die in Antike und Mittelalter vorherrschenden Assoziationen, die zwischen Trägheit und Masse sowie der Ruhe (quies) angesetzt wurden, werden durch eine erhebliche Dynamisierung abgelöst – um eine Bewegungslehre, wie sie im Rahmen der in der archimedischen Renaissance noch so gern verfochtenen Grenzziehung zwischen Statik und Dynamik kaum zu vermuten gewesen 214 Vgl. Kochiras (2008), 30: »His [Kepler’s; D. B.] concept of inertia is the tendency toward rest, the old [Aristotelian; D. B.] concept that supports the belief that all motion requires a mover«.
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wäre. Ganz verabschiedet wird die Quantität als Bemessungskriterium indes nicht; vielmehr wird sie von den Körpern auf die Bewegung selbst übertragen; der daraus hervorgehende Ausdruck einer quantitas motu¯ s findet – nachdem auch Galilei und Kepler mit ihm an verschiedenen Stellen operiert haben – mit Descartes seinen wohl prominentesten Verfechter. Verblüffend ist hieran gar nicht so sehr, dass die Bewegung als eine Menge gedacht wird; denn die Bewegung kann methodisch durch die Linien-Addition in der Geometrie gesteigert werden, wodurch sich umstandslos ihre Eigenschaft der Quantifizierbarkeit offenbart. Noch tiefgreifender als diese auf geometrischen und arithmetischen Operationen basierende Quantität ist der Aspekt, dass der Bewegungszustand immer weiter zum neuen Naturzustand der Körper entwickelt wird – dass diese also von sich aus über eine gewisse Bewegungsquantität verfügen. Eine solche Quantität kann über die den Körpern innewohnenden Prinzipien hervorgerufen, gesteigert und gemindert werden. Wenn selbst in der vermeintlichen Passivität, der Ruhe, ein aktives Prinzip gesehen werden kann, anhand dessen sich körperliche Fortbewegung in stofflicher Form gewährleisten lässt, so meint dies eine Aufwertung der stofflichen Welt gegenüber der begrifflichen. 215 Daraus lässt sich ein neues Beschreibungstableau ersehen, auf dem sich kinetische Funktionen in stoffliche integrieren lassen, dadurch selbst quantitativ werden und bei alledem von immanenten Bezugsgrößen auf der einen und extrinsischen Bezugsgrößen auf der anderen Seite bestimmt werden. Die Überführung von der einen Sphäre in die andere leistet die Mechanik. Sie werden dabei indes (noch) nicht in eins gesetzt. Vielmehr wird ein erheblicher Aufwand betrieben, beide Sphären, diejenige des motor und diejenige des von einem motor affizierten mobile, zu beschreiben. Was in einem Körper als Bewegungspotential vorliegt, stellt dann die Masse dar, was von ihm an äußerem Einfluss ausgeht, stellt demgegenüber das Gewicht dar. Die beiden Aspekte experimentell zu beweisen, wird den zeitgenössischen Physikern und Naturphilosophen noch gewisse Herausforderungen bereiten, wie man etwa bei Giovanni Battista Baliani (1582–1666) sehen kann. Baliani sieht sich in seinem Hauptwerk zur Bewegungstheorie, De motu naturali gravium, solidorum (1638), 216 genau dazu angehalten, den Kern der skizDer große Vorteil hinsichtlich der Werthaltigkeit einer physikalischen Immanenz besteht im Vergleich zu Aristoteles darin, dass die Bewegung nicht mehr über extern zugeführte Energie eines movens, sondern über die dem Körper eigene Masse und damit über sich selbst aufrechterhalten wird. 216 Die spätere, 1646 publizierte Ausgabe mit dem weitaus bekannteren Titel De motu naturali gravium, solidorum et fluidorum umfasst nicht nur die Behandlung der schweren, festen Körper (gravia, solida), sondern auch die der flüssigen (fluida) – einen Untersuchungsgegenstand, den 215
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zierten mechanistischen Problematik mit der Ansetzung zweier unterschiedlicher Begriffe zu beantworten, das heißt zwischen einem pondus im Sinne einer äußerlich wirksamen Kraft und einer im Gegenstand selbst liegenden, passiven moles zu unterscheiden. 217 Das klassische Differenzmoment zwischen Tätigkeit und Erleiden (ein motor bewegt ein mobile, aber niemals umgekehrt) wird hier also dadurch affirmiert, dass zwei unterschiedliche stoffliche Eigenschaften zwar in substantieller Einigkeit (insofern sie ja in einem einzigen Körper sind), aber in funktional unterschiedlichen Rollen definiert werden. Das pondus stellt hierfür die äußerliche und kontext-abhängige, die moles hingegen die körperimmanente, von der physischen Umgebung zunächst prinzipiell entkoppelte Größe bereit. Dem Aristotelismus wird damit auf erster Ebene ein Stück weit Genüge getan: Einem actus kommt dann die Wirkung zu, die wir im pondus ersehen können, und eine potentia kann umstandslos mit der moles identifiziert werden. Wie der motor das mobile bewegt, so bewegt das Gewicht die Masse, und zwar das Gewicht des selbigen Körpers. Mit dieser Ausdifferenzierung zwischen Masse und Gewicht als so unterschiedlichen Eigenschaften der Materie legt sich Baliani programmatisch bereits im Vorwort von De motu naturali gravium, solidorum fest, auch unter Bezugnahme auf frühere Aussagen, die er zu diesem Thema getätigt hatte: Ich wiederholte [sc. nochmals], dass es im Sinne der Gelehrten verkündet wurde, dass Schweres durch natürliche Bewegung bewegt wird, entsprechend dem Verhältnis der Schwerkräfte; ich ging noch weiter und machte den Versuch, ob dies denn entsprechend der Meinung dieser [sc. Gelehrten] gerade auch zuträfe, wenn zwei Körper fallen gelassen würden, die ungefähr die gleiche Masse, aber ein weitaus unterschiedliches Gewicht haben – man nehme dazu den einen als bleiern, den anderen als wachsartig an; und ich nahm beim wachsartigen eine gewisse längere Dauer beim Hinabfallen wahr. 218
Baliani in der Erstauflage noch nicht berücksichtigen konnte, da dieser Teil schlicht noch nicht abgeschlossen war. Dass sich Baliani dennoch dazu entschließt, das unfertige Werk herauszugeben, zeigt die Bedeutung, die der Beschreibung von Masse, Körpern und Materie zu dieser Zeit zukommt. Baliani konnte durchaus auf eine hohe Resonanz hinsichtlich der Rezeption seines Werks hoffen. Das Interesse an derlei Gegenständen ist im 17. Jahrhundert generell nicht zu unterschätzen; vgl. auch Edmé Mariottes Traité du mouvement des eaux et des autres corps fluides (1686). 217 Die moles wird, wie gesehen, von Kepler – anders als von Galilei – kontrastiv zum pondus, nämlich als Masse-Begriff unter dem Aspekt ihrer bloßen Schwere aufgefasst. Das pondus selbst fungiert dabei als die physikalische Messgröße, nach der sich die Körper zu den sie umgebenden Elementen verhalten. 218 Baliani, De motu naturali gravium, solidorum, praef., 3 f.: »Repetebam animo sapientum esse pronunciatum, gravia moveri naturali motu, secundum gravitatum proportionem; Processi ulterius, & periculum feci, num forte iuxta eorum sententiam contingeret, si corpora dimissa, ejusdem fere
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Mit der natürlichen Bewegung (naturalis motus) scheint hier nicht mehr gemeint zu sein als die Bewegung der Körper durch die ihnen innewohnende Masse; die von Baliani angeführten Gelehrten sind die Vorgänger Galilei und Kepler und deren Schulen. Natürlichkeit und Bewegung haben, entscheidend befördert durch die Renaissance-Astronomie, genau an der Stelle zusammengefunden, an der die Mechanik ihre größten Erfolge in ihrer Einbettung in die Naturphilosophie verzeichnen konnte. Baliani geht in seiner Theorie noch einen Schritt über diese Zusammenführung hinaus und findet im Gewicht eine Art sekundäre Qualität der Materie vor, die den Körpern in ihrem Verhältnis zur Außenwelt zukomme. Zwei Arten von Verhältnismäßigkeit scheinen hier auf: zum einen die Relativität zwischen Masse und Körper, zum anderen die Relativität zwischen Gewicht und Außenwelt – beides sind Verhältnisse, die jeweils über die Fallbewegung in optischer Evidenz, im Experiment, zu erweisen sind. Baliani muss in seinem Werk, nicht zuletzt um seinen eigenen Bewegungsbegriff gegenüber der Galilei / Kepler-Tradition sowie dem Aristotelismus zu legitimieren, auch einen komplexen Masse-Begriff ansetzen, an dem sich die intrinsischen und extrinsischen Qualitäten der Materie aufs Neue widerspiegeln. 219 Baliani geht es hierbei um Beschleunigungsgesetze (leges accelerationis), die sich nach Masse und Gewicht konstituieren. Hierdurch kommt ein perspektivisches Moment ins Spiel, insofern die moles – im materiellen Sinne aufgefasst – dasselbe verkörpert wie das pondus, jedoch auf den Gegenstand selbst bezogen bleibt, während das pondus relational zur Außenwelt gefasst wird. Mag hierin einerseits das Bestreben erkennbar werden, die keplersche Koinzidenz von Aktivität und Passivität zu suspendieren, um sie dann begrifflich von Neuem aufzugliedern, und sich andererseits das Desiderat erfüllen, die von Galilei lange offen gehaltene Leerstelle der Beschleunigungsgesetze praktisch zeitgleich mit ihm zu schließen, so beeindruckt hier vor allem die Relativität, mit der stoffliche Größen in ihren natürlichen Bewegungen betrachtet werden können. Bei Galilei und Kepler mutete all dies, in Form ewiger einheitlicher Bewegungen, noch deutlich absoluter an. In ähnlicher relativierender Diktion wird von Baliani im Folgenden – unter spielerisch-doppeldeutiger Verwendung der Begriffe pondus und moles – über das Gewicht als Größe selbst räsoniert, und zwar in Bezug auf die gebotenen, festen Stoffe (solida) in seinem Werk; denn diese finde der Leser ja – im Gegensatz zu den flüssigen Stoffen, deren Explikation noch aussteht – im vorliegenden Buch immerhin bereits behandelt: essent molis, sed longe diversi ponderis, puta unum plumbeum, cereum alterum; & expertus sum in cereo aliquam longiorem moram in descensu«. 219 Vgl. hierzu Russo (2005), 416 f.
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Geneigter Leser, ich reiche dir bald [sc. mein Buch] über die flüssigen [sc. Stoffe] nach und werde daraufhin noch vieles andere mehr liefern, was ich vorbereitet habe, so dies gewünscht ist. Ich habe freilich beschlossen, wenigstens ein bisschen hiervon dir darzureichen, da ich darauf vertraue, dass du von diesem Wesenszug bist, dass du nicht Worte, sondern Taten – und diese nicht nur hinsichtlich der Masse, sondern auch hinsichtlich des Gewichts – bewertest. 220
Wo heute weitverbreitete Sprichwörter ausdrücken, dass Worten auch Taten zu folgen hätten und dass Klasse statt Masse vorzuherrschen habe, sagt Baliani im 17. Jahrhundert ebenfalls, dass Taten einen Vorrang vor (leeren) Worten hätten, der schieren Masse jedoch nicht die Klasse (Qualität) an die Seite treten müsse, sondern das Gewicht. Dies meint nun keine Ablösung der Masse durch eine neue Größe – insofern die moles in De motu naturali gravium, solidorum eine unverrückbare Rolle spielt –, sehr wohl aber eine Differenzierung der Eigenschaften der Materie in ihrer mechanischen, und das heißt mittlerweile gänzlich naturphilosophischen Rolle. Es wird von Baliani ausdrücklich betont, dass er sich von der bisherigen Bewegungstheorie emanzipieren möchte (processi ulterius); dies gelingt jedoch nur durch neue Kommentierungen zur Masse – und zwar, indem diese nach ihren Wirkweisen neu aufgegliedert wird. Hieran lässt sich die theoretische Leistungsfähigkeit der mechanischen Physik des 17. Jahrhunderts erkennen: Das Aufgliedern eines Körpers nach zwei Qualitäten, die der Intuition nach eigentlich einer einzigen Entität, nämlich dem Körper selber, zuzuordnen wären, zum Zwecke, dann wiederum ein natürliches Phänomen – in diesem Fall die Beschleunigung (acceleratio) – naturgesetzlich erklärbar zu machen, zeigt eine Methodik an, die noch bei Newton zu einem gewissen Skandalon in der Wissenschaftswelt führen wird. Dort werden dann nämlich derartige Momente der Koinzidenz nicht mehr in materieller, das heißt mit der Masse verhafteter, sondern in unmittelbar krafttheoretischer Form angenommen – und somit für eine der Körperwelt noch vorgelagerte Ebene veranschlagt. Wo Baliani gravitätische Größen der Masse (moles) und des Gewichts (pondus) ansetzt, setzt Newton innewohnende (vis insita) und äußerlich einwirkende Kräfte (vis impressa) an. 221 Somit ebnet die Masse den Weg für einen komplexen Begriff von Kraft. Das Phänomen der Schwerkraft (gravitas) stellt hierfür nur das prominenteste und bis heute wohl meistdiskutierte Beispiel dar. Bemerkenswert bleibt allerdings, dass die die Masse ausdiffe220 Baliani, De motu naturali gravium, solidorum, praef., 5: »Amice lector tibi exhibeo, mox de liquidorum, & deinceps alia plura tam parata daturus, si haec placuerint. Placuit sane mihi, vel paucula tibi dare, qui te ejus ingenii esse confidam, ut non verba, sed res, easque non mole, sed pondere censeas«. 221 Dieses Begriffspaar wird in Kapitel III .3.b der Studie noch eine gesonderte Rolle spielen.
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renzierenden Größen bei Baliani nach Merkmalen geschieden werden, die sich der quantitativen Ausgedehntheit regelrecht enthalten. Denn Blei und Wachs verweisen nun einmal auf die Qualität der Materie. Für eine ideengeschichtliche Betrachtung ergibt sich hieraus wiederum gleichsam eine Mittelstellung der Masse, die sich wie folgt zuspitzen lässt: Die Masse hat in der Mitte des 17. Jahrhunderts endgültig nichts mehr mit der auf Menge und Ausdehnung beruhenden quantitas materiae des Mittelalters gemein, dafür aber bereits sehr viel mit den künftigen Formen der krafttheoretischen Mechanik, wie wir sie dann in den Philosophiae naturalis principia mathematica Newtons in systematisch geschlossener Weise beschrieben sehen. 222 Das wohl berühmteste Beispiel hierfür ist der Impulssatz. Er besagt: »Die Bewegungsquantität ist das Maß der selbigen, das zusammen aus der Geschwindigkeit und der Quantität der Materie hervorgeht.« 223 Mit der quantitas materiae wird von Newton in diesem Satz eine nur scheinbar anachronistische Größe bemüht – eine solche, die wir zu Beginn dieses Kapitels noch als insuffizient zur Beschreibung physikalischer Vorgänge eingestuft hatten. Es liegt aber alles andere als ein Anachronismus vor, wenn man nur besieht, was Newton unter der quantitas materiae verstanden wissen will: »Die Quantität der Materie ist das Maß der selbigen, das zusammen aus ihrer Dichte und Größe hervorgeht«. 224 Die Quantität entspricht hier also keinem schieren Mengen-, sondern vielmehr einem Massenbegriff. Mithin ist der Bewegungsimpuls das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit und zählt als solches bis heute zum Grundbestand der Klassischen Mechanik. 225 Wenn es im 17. Jahrhundert zum Paradigmenwechsel von der Masse zur Kraft kommen soll, ist eine der Voraussetzungen hierfür, dass auch die hergebrachten Materieauffassungen an die neue Naturphilosophie angepasst werden. Wie sich die Materie zum Raum verhält, ob sie diesen gänzlich erfüllt, ob sich dieser aus Materie allein konstituiert oder ob ein Leeres für die Erklärung der Interaktionen zwischen den korporalen Massen hinzutreten müsse – all dies sind nur einige der Fragen, die seit der Antike und der Renaissance-Philosophie ein weiteres Mal virulent in Erscheinung treten. Im 17. Jahrhundert sind es dann ganz besonders Leibniz und Newton, die das Verhältnis von Materie und Raum neu aufspannen. Leibniz fügt hierzu in den Jahrzehnten des späten Noch dezidierter und ausführlicher wird auf die darin vertretenen Kraftbegriffe in Kapitel dieser Studie eingegangen werden. 223 Newton, Principia mathematica, Def. II , 1: »Quantitas motus est mensura ejusdem orta ex velocitate et quantitate materiæ conjunctim«. 224 Ebd., Def. I , 1: »Quantitas materiæ est mensura ejusdem orta ex illius densitate et magnitudine conjunctim«. 225 Über den logischen Status dieses Satzes, insbesondere ob er als ein ›Naturgesetz‹ zu gelten habe, wurde und wird immer wieder debattiert; vgl. als einen hervorragenden Beitrag hierzu, der unter anderem die traditionellen Positionen referiert, Hoyer (1977). 222
III.3.b
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17. Jahrhunderts eine zweite Art von Masse den Dingen hinzu – eine Masse, die aus mehreren Substanzen bestehe. Hierfür rekurriert er auf beide Begriffstraditionen, auf die der massa und die der moles. Wir finden, wenn wir auf die biographische Episode Leibniz' blicken, in der er sich vom Cartesianismus abwendet, diesbezüglich ganz verschiedene Zuschreibungen vor: Eine primäre Materie (materia prima) zeichne sich demzufolge etwa noch nicht durch Selbsttätigkeit aus, sondern weise rein stoffliche Eigenschaften auf; die Masse vermöge es hingegen, die Materie im Zustand ihrer konkreten mechanischen Selbsttätigkeit zu beschreiben. Bald benutzt Leibniz, wie wir nun sehen werden, den Begriff der Masse selbst, um die erste Materie, die rein stoffliche, zu beschreiben; bald benutzt er sie, um auch die zweite Materie, die geformte und bewegliche, zu erläutern – und nutzt eben hierfür das terminologische Spektrum aus, das wir zwischen massa und moles erkennen konnten. 226 Betrachten wir zunächst die antiken Traditionen, denen Leibniz hiermit genügen möchte: Mit seiner Unterscheidung zwischen den beiden Dimensionen der Stofflichkeit und der Selbsttätigkeit scheint weder dem aus dem Atomismus bekannten Prinzip der Leere (inane, vacuum) noch einer universellen Fülle (plenum, plenitudo) das Wort geredet zu sein. Leibniz lehnt Modelle wie den Epikureismus, den Stoizismus, aber auch den Cartesianismus diesbezüglich ab und erweist sich in seiner Naturphilosophie vielmehr als entschiedener Anhänger der aristotelischen Physik und Physik. Prägnant lässt sich dies daran ablesen, was Leibniz in seinem Brief an Jakob Thomasius vom 20./30. April 227 1669 schreibt: Daher scheue ich mich nicht zu sagen, dass ich in den Büchern der Vorlesung über die Physik des Aristoteles mehr Dinge wertschätze als in den cartesischen Meditationes; ich bin weit davon entfernt, Cartesianer zu sein. Vielmehr könnte ich es wagen, jene acht Bücher [sc. der aristotelischen Physik] in Gänze hinzuzufügen, und dies vertreten zu können, ohne dass die Philosophie Schaden nähme. Aus diesem Grund würde es tatsächlich jene Dinge betreffen, die du, erlauchtester Herr, über den widerspenstigen Aristoteles zur Diskussion stellst. Was Aristoteles nämlich über Materie, Form, Privation, Natur, das Unendliche, Zeit und Bewegung erwägt, ist größtenteils gesichert und erwiesen – mit der einzigen Ausnahme desjenigen, was er über die Unmöglichkeit des Vakuums und [sc. die Unmöglichkeit] einer Bewegung im Vakuum anführt. Mir nämlich Zur Rolle der Masse in ihrem Verhältnis zwischen prima materia und secunda materia vgl. Jammer (1961), 77 f.: »Extension and antitypy, a favorite term with Leibniz for impenetrability, are thus the attributes of materia prima. On other occasions Leibniz reserves the term mass for secondary matter, a concept less abstract than primary matter because of the added notion of activity«. 227 Das Sendedatum des Briefs ist hier, wie auch bei einigen anderen Briefen Leibniz’, nicht auf den Tag genau festzulegen. 226
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scheint weder ein Vakuum noch eine Fülle notwendig zu sein; auf beide Weisen kann die Natur der Dinge erklärt werden. Für das Vakuum kämpfen Gilbert, Gassendi und Guericke; für die Fülle Descartes, Digbe, Thomas Anglus und Clerke im Buch über die Fülle der Welt; für die Möglichkeit beider [sc. Erklärungsweisen] Thomas Hobbes und Robert Boyle. 228
Ausgangspunkt für Leibniz, der hier offenbar zugleich den Anlass des Konflikts mit Thomasius gibt, ist der Vergleich zwischen Aristoteles und Descartes. Er bleibt jedoch – anders als wir es bei in Kapitel iii.1.b.β am Beispiel von Le Bossu sehen konnten – als Gegensatz bestehen; auch geht es hier nicht um die Frage nach der Einfachheit der Methode, sondern es wird auf die Frage nach dem Vakuum und der Fülle der Dinge abgezielt. Das rhetorische Vorgehen von Leibniz ist bemerkenswert: Er hält die aristotelische Physik der frühneuzeitlichen Naturphilosophie, namentlich dem Cartesianismus, entgegen, um Aristoteles dann ausgerechnet in genau demjenigen Punkt Unrecht zu geben, auf den es in diesem Brief ankommt: in der Unmöglichkeit eines Vakuums, das in der Welt existieren könne (impossibilitas vacui). Denn die Erzeugung von Vakuen sind ein technisches Desiderat, das sich in der Antike noch nicht erfüllen ließ, mit dem die Frühe Neuzeit jedoch bereits Erfahrungen gemacht hat. 229 Dessen ungeachtet stellt Leibniz sich nicht schlichtweg auf die Seite des technischen Fortschritts, indem er sich zum Vakuum bekennen würde; vielmehr gibt er beiden Lehrmeinungen recht und unrecht zugleich, indem er diese als indifferent betrachtet (neque [. . . ] neque [. . . ] necessarium esse). Die Nennung der rerum natura, lässt – ganz ähnlich, wie wir es in Kapitel iii.1.a schon bei Gassendis Exercitationes paradoxicae adversus Aristoteleos sehen konnten – auch hier den lukrezischen Werktitel anklingen, erweitert jedoch das Leibniz, Briefverkehr mit Thomasius, Brief vom 20./30. April 1669, 15: »Quare dicere non vereor plura me probare in libris Aristotelis περὶ φυσικῆς ἀκροάσεως, quam in meditationibus Cartesii; tantum abest, vt Cartesianus sim. Imo ausim addere totos illos octo libros, salua philosophia reformata ferri posse. Qua ratione illis ipso facto occurretur, quæ tu, Vir clarissime de Aristotele irreconciliabili disputas. Quæ Aristoteles enim de materia, forma, priuatione, natura, loco, infinito, tempore, motu, ratiocinatur, pleraque certa et demonstrata sunt, hoc vno fere demto, quæ de impossibilitate vacui, et motus in vacuo asserit. Mihi enim neque vacuum neque plenum necessarium esse, vtroque modo rerum natura explicari posse videtur. Pro vacuo pugnant Gilbertus, Gassendus, Gerickus; pro pleno, Cartesius, Digbæus, Thomas Anglus, Clerk in libro de plenitudine mundi. Pro possibilitate vtriusque Thomas Hobbes, et Robertus Boylius.« Bei dem angeführten Thomas Anglus handelt es sich um ein Pseudonym des Theologen und Philosophen Thomas White (1593–1676), der sich gelegentlich selbst Thomas Albius oder eben auch Thomas Anglus nannte. Beim Buch über die Fülle der Welt handelt es sich um das vielbeachtete Erstlingswerk des Mathematikers und Naturphilosophen Gilbert Clerke (1626–1697), das 1660 in London erschien und eine Verteidigung der Philosophie Descartes’ – insbesondere gegenüber der englischen Philosophie – unternahm. 229 Für einen geschichtlichen Abriss vgl. Shapin / Schaffer (1985). 228
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darin verfolgte Modell einer räumlichen Leere um die Möglichkeit des gänzlich gefüllten Raumes; zudem wird Gassendi im Katalog der Vakuum-Befürworter von Leibniz namentlich genannt. Die von Leibniz an dieser Stelle verfolgte Darstellungslinie verläuft daher von Gassendi zu Lukrez, von Lukrez zu Epikur und von Epikur zum (demokritisch inspirierten) Atomismus. Der gewichtige Unterschied zu Gassendis Exercitationes besteht hier nun allerdings darin, dass die rerum natura eine eindeutigen Affirmierung des aristotelischen Raumund Materiebegriffs bedeuten soll. Mit den Naturphilosophien eines Hobbes und Boyle teilt Leibniz nun in genau diesem einen Punkt die Meinung, beide Modelle (›Es gibt in der Welt ein Leeres‹ vs. ›Es gibt in der Welt nur die Fülle der Materie‹) als mögliche zu erachten. In der zitierten Passage schließt sich somit ein Kreis: Die Antike hatte in Gestalt von Aristoteles in grundlegenden Fragen der Naturphilosophie ganz umfassend recht, bei partikularen Problemstellungen kann sich die Frühe Neuzeit jedoch als aufgeklärter erweisen. Gehen wir nun noch genauer auf den Punkt ein, wie die Masse – als eindeutig durch die Galilei / Kepler-Philosophien und eben nicht durch die Antike vorgebrachte Größe – in diesem geschichtsträchtigen Spiel zwischen den Naturphilosophien einzuordnen ist: Auffällig bei der Verwerfung des Atomismus ist, dass an die Stelle der atomistischen Stoßgesetze das Prinzip der Kontinuität tritt. 230 Die Materie im Kontinuum bildet die Masse. Sie wird von Leibniz mit der prima materia gleichgesetzt: Die erste Materie ist die Masse selbst, in der sich nichts anderes befindet als die Ausdehnung und die Antitypie (ἀντιτυπία) beziehungsweise die Undurchdringlichkeit; die Ausdehnung hat sie von dem Raum, den sie ausfüllt; die Natur der Materie besteht darin, dass sie ein gewisses Rohes ist, sowohl undurchdringlich als auch beweglich, wenn etwas anderes durch die Folge auftritt (während das andere weichen muss). Bereits diese kontinuierliche Masse, welche die Welt erfüllt, während all ihre Teile ruhen, ist die erste Materie, aus der alles durch Bewegung entsteht und auf die hin sich alles durch Ruhe auflöst. 231 230 Die Definition der Kontinuität leitet Leibniz im selbigen Brief explizit von Aristoteles her; vgl. Leibniz, Briefverkehr mit Thomasius, Brief an Thomasius vom 20./30. April 1669, 17: »nam continua definit Aristoteles, ὧν τὰ ἔσχατα ἕν« (»[D]enn Zusammenhängendes definiert Aristoteles als dasjenige, deren äußerste Punkte Eines sind.«) Das Zitat stammt aus Aristot., phys., 6, 231a22 und bildet dort, gleich zu Beginn des sechsten Buches, die erste grundlegende Definition des Zusammenhängenden (συνεχές). 231 Leibniz, Briefverkehr mit Thomasius, Brief an Thomasius vom 20./30. April 1669, 16: »Materia prima est ipsa Massa, in qua nihil aliud est quam extensio et ἀντιτυπία seu impenetrabilitas; extensionem a spatio habet, quod replet; natura ipsa materiæ in eo consistit, quod crassum quiddam est, et impenetrabile, et per consequens alio occurrente (dum alterum cedere debet) mobile. Hæc iam massa continua mundum replens, dum omnes eius partes quiescunt, materia prima est, ex qua omnia per motum fiunt, et in quam per quietem resoluuntur«.
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Wenn man so möchte, wird hier die Materie in ihrem vor-mechanischen Zustand beschrieben; sie befindet sich in einem Modus, in dem sie noch nicht zur Bewegung gelangt ist. Es ist somit ein rudimentärer Status, welcher der Materie hier zukommt, dem so wenig Eigenschaften wie möglich zugeschrieben werden: Die Annahme einer Antitypie gewährleistet immerhin die Festigkeit der Körper und – damit einhergehend – deren Fähigkeit, Rückstöße gegenüber anderen Körpern zu verursachen. 232 Diese Art von Primitiv-Mechanik kennt zwei Zustände, Ruhe und Bewegung, und sie changiert zwischen diesen Zuständen in einem stofflichen Kontinuum, der Masse. Leibniz setzt die Undurchdringlichkeit, wie sie im 17. Jahrhundert vor allem Gassendi in seiner Atomtheorie vertreten hat, an die Seite des cartesischen Kriteriums der Ausgedehntheit, das der körperlichen Welt zukommt. 233 Und er tut dies eben nicht, um sich als ausgesprochener Anhänger dieser philosophischen Richtungen zu bekennen, sondern um die Masse zu einem Primärzustand der Materie zu erklären. Er bezeichnet sie daher folgerichtig auch als Essenz der Materie (essentia materiae). Betrachten wir, was Leibniz unter dieser Essenz verstanden wissen will: Die Essenz der Materie beziehungsweise die Form ihrer Körperlichkeit selbst besteht aber in der Antitypie beziehungsweise in der Undurchdringlichkeit; die Materie besitzt auch Ausdehnung, jedoch eine unbestimmte, wie sie die Averroisten nennen, beziehungsweise eine unbegrenzte, insofern sie nämlich kontinuierlich ist, nicht in Teile geteilt ist, und daher keine Bestimmungen in ihr durch den Actus gegeben sind; dennoch ist Ausdehnung beziehungsweise Quantität in ihr gegeben: Ich spreche nicht von den extrinsischen Welten beziehungsweise denjenigen der Masse insgesamt, sondern von den intrinsischen Bestimmungen ihrer Teile. 234 Zur grundlegenden Doppeldeutigkeit des von Leibniz nicht nur an dieser Stelle angeführten Begriffs der ἀντιτυπία vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »ἀντιτυπία«, 165: »resistence of a hard body [. . . ]; repercussion«. Die ἀντιτυπία meint also bereits ihrer antiken Lexik nach stets beides: Widerstand und Rückstoß. 233 Vgl. hierzu bis heute die prägnanten Einlassungen Herbertz’, demzufolge »einem so tiefen und umfassenden Denker wie Leibniz die Schwierigkeiten einer rein atomistischen Naturerklärung [nicht lange] verborgen bleiben [konnten]. Die Materie stellt sich uns zunächst als ein bis ins Unbegrenzte Teilbares dar. Dagegen nötigt das Postulat der Atomistik, letzte, unteilbare, materielle Elemente zu gewinnen, unser Denken, in der Teilung selbst an irgendeinem Punkte Halt zu machen. Dieser Widerspruch zwischen anschaulicher Evidenz und logischer Notwendigkeit haftet der Atomistik unvermeidlich an. Unter dem gleichzeitigen Einfluss der Einsicht in diesen Widerspruch und der Descartesschen Physik kommt Leibniz allmählich dazu, die atomistische Grundvoraussetzung bei der Behandlung des Substanzproblems fallen zu lassen. Mit dieser Reform war zunächst die Anerkennung des Descartesschen Satzes, dass das Wesen der Materie in der Ausdehnung betshee, verknüpft.« (Herbertz [1905], 31 f.). 234 Leibniz, Briefverkehr mit Thomasius, Brief an Thomasius vom 20./30. April 1669, 16: »Essentia autem materiæ seu ipsa forma corporeitatis consistit in ἀντιτυπίᾳ seu impenetrabilitate; 232
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Die hier angeführten Eigenschaften der Widerstands- und Rückstoßfähigkeit erinnern auf den ersten Blick an einen Materiebegriff des klassischen Atomismus. Mit den Averroisten wird jedoch ausgerechnet eine der bedeutendsten Strömungen des Aristotelismus 235 als Referenz aufgerufen, die Atomisten hingegen übergangen, obschon sich mit Gassendi mindestens ein bedeutender Vertreter aus dem 17. Jahrhundert hierzu anbieten würde. Zudem ist vom actus die Rede, der zur rohen, das heißt: noch nicht energetischen Materie noch hinzuzutreten habe. Leibniz landet also in seinen Ausführungen zur Körperlichkeit der Materie nicht bei Gassendi, nicht bei Descartes, sondern wieder einmal bei Aristoteles. Die Elastizität der Körper wird in den folgenden Jahrzehnten von Leibniz immer weiter zum neuen Modus ihrer Beweglichkeit erhoben. Letztlich sollte dies, wenn wir den Briefverkehr Leibniz' mit Huygens in den 1690er Jahren in Betracht ziehen, in einer völligen Ablehnung des Atomismus münden: Setzen wir uns also den jedenfalls möglichen Fall, daß alle Atome durchweg ebene Oberflächen haben, so ist es klar, daß alsdann das erwähnte Problem eintreten würde, und daß daher die Hypothese der vollkommenen Härte mit der Vernunft streitet. Mit der Annahme der Atome sind aber noch andere Probleme verbunden. So ist sie vor allem unvereinbar mit den Gesetzen der Bewegung; denn die Kraft von zwei gleichen Atomen, die unmittelbar mit gleicher Geschwindigkeit aufeinanderstoßen, müsste notwendig verloren gehen, da es offenbar nur eine Folge ihrer Elastizität ist, dass die Körper zurückprallen. 236
Der Elastizität der Spannkräfte (ressort) kommt der Vorrang gegenüber einem Weltbild zu, das auf die schiere Härte der Atome setzt. 237 Das von Leibniz quantitatem quoque habet materia, sed interminatam, vt vocant Averroistæ, seu indefinitam, dum enim continua est, in partes secta non est, ergo nec termini in ea actu dantur: extensio tamen, seu quantitas in ea datur: non de extrinsecis mundis seu totius massæ, sed intrinsecis partium terminis loquor«. 235 Zur Rezeption und Weitergabe der aristotelischen Philosophie durch den lateinischen Averroismus vgl. Calma (2011) und Hödl (1972), durch den jüdischen Averroismus vgl. Bazzana – Bériou – Guichard (2005); zur allgemeinen Rezeptionsgeschichte des Averroismus selbst vgl. Zanner (2002). 236 Leibniz, Briefverkehr mit Huygens, Brief vom 16./26. September 1692, 145: »Supposons donc une chose possible, scavoir que tous les atomes n’ayent que des surfaces plattes, il est visible qu’alors cet inconvenient arriveroit et par consequent l’hypothese de la parfaite dureté n’est point raisonnable. Il y a encore d’autres inconveniens dans les atomes. Par exemple ils ne scauroient estre susceptibles des loix du mouvement, et la force de deux atomes egaux, qui conscoureroient directement avec une vistesse egale, se devroit perdre, car il paroist qu’il n’y a que le ressort qui fait que les corps rejaillissent«. 237 Vgl. hierzu auch die treffenden Ausführungen von Jammer (1957): »Leibniz, on the contrary, conceived atoms as elastic, which seemed to him more in accordance with his monadology (a point
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angeführte Problem nimmt auf einen vorherigen Brief vom 11. April Bezug, wo es hieß, dass die Eigenschaft der Unzerbrechlichkeit den aus Atomen zusammengesetzten Körpern nicht aus naturgemäßer Notwendigkeit zukommen müsse. 238 Ein gewisser sophistischer Einschlag lässt sich dieser Argumentation nicht absprechen: Atomisten müssen nämlich überhaupt keine Kraft prädizieren, die den Elementarteilchen innewohne, sondern verlassen sich in ihrem Weltbild ganz auf das Prinzip der Bewegung. 239 So sehr das Fortstoßen und Abprallen zwischen den Teilchen deren Bewegungen konstituiert, so wenig wird das Ansetzen eines Kraftbegriffs benötigt. Dass Atome überhaupt über Kraft verfügen müssten, um in der beschriebenen Weise interagieren zu können, ist demnach nichts mehr als eine abstrakte Unterstellung. Wenn Leibniz der rohen Materie nun mechanische Tätigkeiten zusprechen möchte, so tut er dies anhand einer neuen Aufgliederung von massa und moles. Was er zuvor als massa bezeichnet hatte, wird dann zur moles; und was zur ersten Materie hinzutritt, wird zur neuen massa. Diese Differenzierung findet sich in einem Brief an Johann Bernoulli (1693) am prägnantesten ausgedrückt: Materie an sich, beziehungsweise die Masse [moles], die man die erste Materie nennen könnte, ist keine Substanz, auch kein Aggregat von Substanzen, sondern etwas Unvollständiges. Die zweite Materie, beziehungsweise die Masse [massa], ist keine [sc. einzige] Substanz, sondern es handelt sich um Substanzen. So ist keine Herde, sondern ein Tier, kein Fischteich, sondern ein Fisch eine einzige Substanz. 240 of great importance for the further development of Leibnizian dynamism into theories of force centers). This assumption also made it possible for Leibniz to maintain consistently that ›force‹ is conserved in the universe. For in the case of elastic collisions, Huygens, in an article in the Journal des Sçavants of 1699 and in another paper, published in the Philosophical Transactions of the Royal Society of London, of the same year, had shown that the sum of the products of the masses and the squares of their respective velocities, before the collision, is equal to the corresponding expression after the collision.« Bei der von Jammer angeführten Ausgabe des Journal des Sçavants handelt es sich um die zweite Ausgabe des Jahres 1699, bei der erwähnten Ausgabe der Gelehrten-Zeitschrift Philosophical Transactions of the Royal Society of London um die vierte Ausgabe des selbigen Jahres. 238 Vgl. Leibniz, Briefverkehr mit Huygens, Brief vom 11. April 1692, 133–136. 239 Ganz streng genommen sind es vier Größen, die wir als dem lukrezischen Atomismus genügend annehmen können: die Atome (primordia) selbst, der leere Raum (inane), die Bewegung (motus) und die Abweichung (clinamen) der Atome in ihren Fallbewegungen untereinander. Nirgends taucht dabei Kraft auf. Dieses ohnehin schon sehr überschaubare Begriffsensemble wird im frühneuzeitlichen Monismus noch weiter reduziert – ein Phänomen, dem sich in Kapitel III.2.a bei der Behandlung des Bewegungsbegriffs Thomas Hobbes’ noch ausführlicher zugewandt wird. 240 Leibniz, Briefe an Johann Bernoulli, 537: »Materia ipsa per se, seu moles, quam materiam primam vocare possis, non est substantia; imo nec aggregatum substantiarum, sed aliquid incompletum. Materia secunda, seu massa, non est substantia, sed substantiæ; ita non grex, sed animal; non piscina, sed piscis, substantia una est«.
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Legen wir die zitierten Stellen aus Leibniz' Briefverkehr synoptisch nebeneinander, so werden Ausdehnung und Antitypie als abstrakte Eigenschaften der Materie, die Anhäufung von Masse in einem konkreten Körper hingegen als eine konkrete Eigenschaft der Materie vorgeführt. Wir können die Masse einer Rinderherde bestimmen, es ist jedoch ausschließlich das einzelne Rind, das auf die konkrete Masse verweist. Sie zu einer Herde zusammenzufügen, bedeutet wiederum eine Abstraktion – wenn auch eine äußerst attraktive, da hierdurch mechanische Gesetze in allgemeiner Manier aufgestellt werden können. 241 Der Substanzbegriff des Aristotelismus wird auf die Welt der Mechanik appliziert. Halten wir fest: Leibniz' scheinbares Lavieren zwischen bloßer Stofflichkeit, Undurchdringlichkeit (Antitypie) und Substanzenlehre mag auf den ersten Blick inkonsequent anmuten; es zeigt aber vor allem die Vielseitigkeit der Funktionen an, mit denen die Masse gegen Ende des 17. Jahrhunderts und dann auch in den der psychologischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts belegt werden kann. 242 Weil es bei Leibniz um Kontinuität geht, geht es um Elastizität; weil es um Materie geht, geht es um Masse; und weil diese Masse Garant für Stoff und Bewegung ist, mithin für die Einheit, die zwischen Gegenstand und dessen Bewegungsimpuls herrscht, wird auch die Materie von zwei Seiten her mit neuer Wertigkeit versehen. Leibniz vollführt dies, ohne dass seine intellektualistischen und holistischen Annahmen daran Schaden nähmen. Selbst wenn ein mit dem Aristotelismus argumentierender Naturphilosoph sich mit Materialisten anlegt, so bleibt die Geschichte des Aufstiegs der Mechanik eng verhaftet mit der Geschichte des Aufstiegs der Materie.
241 Rufen wir uns noch einmal zurück, was wir in Kapitel III .1.b anhand von Descartes’ Discours feststellen konnten, so ist der Fortschritt für den Mechanizismus darin zu sehen, dass die erste Materie von Descartes noch vor den Naturgesetzen angesetzt wurde – denn Gott schuf Descartes zufolge zunächst die Materie selbst und tat hiernach nichts anderes, »als ihr [sc. der Materie] seinen gewohnten Beistand zu verleihen und sie gemäß den Gesetzen, die er eingerichtet hat, wirken zu lassen« (Descartes, Discours de la méthode, 5ème part., 73: »que prêter son concours ordinaire à la nature, et la laisser agit suivant les lois qu’il a établies«) –, während Leibniz unter der primären Materie eine in die Gesetze der Mechanik implementierte Größe versteht und die zweite Materie als die Realisation der Naturgesetze anhand konkreter Körper ansetzt. 242 Vgl. als vorweggenommenes Beispiel Sulzer, Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, 61: »Wären wir nur im Stande, die Massen der Materien jedes Sinns, und die Geschwindigkeit ihres Stoßes anzugeben, so könnten wir auch die Proportionen von der Lebhaftigkeit der Empfindung, welche die Sinne erwecken, geometrisch bestimmen«. Diesem Komplex werden wir uns vor allem noch in den Kapiteln IV.3, IV.4 und V.5 der Studie zuwenden.
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1.c.γ. Die doppelte Aufwertung der Materie
In den Theoremen Galileis, Keplers, Balianis und zuletzt auch in der Position Leibniz' zeichnet sich die Grundtendenz ab, den Urgrund der physikalischen Bewegung immer weiter zu interiorisieren. Was sich bei ihnen aber auch an Unterschieden ablesen lässt, besteht darin, dass bei Galilei zwar bereits intrinsische Kräfte am Werk waren, diese jedoch noch ausschließlich zu zirkulären Bewegungen führten, die einen äußeren Anstoß benötigten, um ihre prädisponierte Bahn zu verlassen (was zudem noch geradezu als eine Irritation ihres Naturzustands gelten konnte), bei Kepler indes die Einflussnahme der diversen Massen sowie deren wechselseitige Relativität unverbrüchlich und geradezu apriorisch feststand; bei Baliani wiederum schien alles an qualitativer Natur in der Bewegung aufzugehen; bei Leibniz wurde demgegenüber die abstrakte Trennung einer rein stofflichen Masse von ihren mechanischen Zuständen hochgehalten. All diesen Tendenzen ist indes eines wiederum gemein: Die theoretische Blickrichtung wird von einer mutmaßlich trägen Materie (materia iners) fort- und dafür zu den Kräften (vires) hingewendet – zu Kräften, die in zwei Richtungen, sowohl immanent als auch extrinsisch, aufeinander und miteinander wirken. Das Potential zur Bewegung, das den Körpern zukommt, lässt sich in diesem Sinn als ein der Materie inhärierendes und zur Bewegung wie auch Gegenbewegung gebrachtes Vermögen fassen. Wir sehen demnach den Materialismus und die Mechanik als zwei noch nicht in Einklang befindliche philosophische Schulen vor uns. Die Mechanik benötigt die Materie, um sich an einem eigenen Gegenstandsbereich gleichsam abzuarbeiten, die Materie wiederum benötigt die Mechanik, um als eigenständige Substanz gelten zu können – denn ohne die Mechanik käme ihr das für ihre Sublimierung so wichtige Prinzip der Selbsttätigkeit abhanden. Ein Schritt aus einer sich der reinen Kosmologie verschreibenden Physik heraus kann nun darin liegen, den Materiebegriff dahingehend zu reformieren, dass man die ihr zugeschriebenen Qualitäten ein weiteres Mal zu modifizieren sucht, indem man sie – wie anhand des Vakuum gesehen – in Zweifel zieht, gleich ganz aberkennt oder sie aus ihrem (durchaus sehr mühselig errungenen) Status als bündelndes Prinzip intrinsischer Prinzipien wieder herauslöst. Genau dieses Herauslösen aus der Innerlichkeit, im Sinne eines Beschreibbarmachens auf der Ebene geistiger Evidenz, leistet die Mechanik, wenn sie über Bewegungen spricht, aber auch, wenn sie über Begriffe spricht, die intuitiv nicht viel mit Bewegung zu tun haben – wenn man eben erwägt, wie bemerkenswert wenig träge selbst Größen wie die inertia, die moles (massa) oder das pondus anmute. Daher kann es nicht verwundern, auch im principium operationum eine Ursache mechanischer Bewegungen anzusehen, die selbst nicht mechanisch sein muss.
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Bei allen Kontroversen, die sich hinsichtlich Funktion und Rolle der Materie vom Spätmittelalter bis zur Aufklärungszeit praktisch ohne Unterlass ausmachen lassen, zeigt sich insgesamt doch eine erstaunliche Übereinstimmung in der Neigung, ihr außer ihrer auf Menge und Ausdehnung bezogenen Merkmale auch so etwas wie qualitative Eigenschaften zuzuschreiben. Dafür sind – neben den technologisch immer weiter verfeinerten Instrumenten, durch welche die Materie mit immer größerer Präzision inspizierbar wird – auch Gründe geltend zu machen, die sich aus der menschlichen Intuition selbst ergeben: Der Mensch ist – die Intaktheit seiner Sinnesorgane vorausgesetzt – jederzeit in der Lage, an der Materie unterschiedliche Temperaturen, Farben, Geschmäcker etc. zu unterscheiden, also Eigenschaften, deren philosophisches Hauptproblem traditionellerweise darin besteht, ob man sie nun, als primäre Qualitäten, im beobachteten ›Ding an sich‹ verankern oder vielmehr, als akzidentelle Qualitäten, als auf die Organe der Sensualität rückführbare Wahrnehmungen, mithin als sekundär gegenüber ihrer ontischen Selbstverfasstheit einstufen will. Hinsichtlich der antiken Tradition ließ sich bereits an zahlreichen Stellen ersehen, dass Platonismus und Aristotelismus, trotz erheblicher Differenzen in ihren ontologischen Grundgerüsten, den Seinsstatus von Eigenschaften durchaus der Materie selbst zuzusprechen bereit waren – sei es in Form einer aktualen Gestalt der Naturdinge oder einer gestaltbaren Masse und somit einer stofflichen Ursache – und dies nicht nur für den Kosmos, sondern auch und ganz besonders für die schöpferischen Künste. Die rein auf das Subjekt bezogene Erklärbarmachung materieller Merkmale ist demgegenüber im antiken Denken vor allem mit dem Atomismus in der Tradition Demokrits in Verbindung zu bringen. Im 17. Jahrhundert erfährt diese Frage über den Cartesianismus eine so spezielle wie weitreichende Wendung: Die verdienten qualitates materiae werden durch ein einziges, zudem vollständig quantitatives Kriterium ersetzt. Demzufolge sei als die einzige wirkliche Qualität der Materie ihre Ausdehnung anzusetzen. 243 Die bei Bruno, Galilei, Kepler und Baliani noch traditionell ge243 In Descartes’ Œuvre lässt sich vergleichsweise kaum ein naturphilosophisches Theorem ausmachen, das häufiger und vehementer verfochten würde und gegenüber dessen extensioArgument alle weiteren sinnlichen Qualitäten als sekundär zu betrachten seien; vgl. als prominente Passagen Descartes, Principia philosophiae, pars 2nda, cap. IV, 42: »Quod agentes, percipiemus naturam materiæ, sive corporis in universum spectati, non consistere in eo quòd sit res dura, vel ponderosa, vel colorata, vel alio aliquo modo sensus afficiens: sed tantum in eo quòd sit res extensa in longum, latum & profundum.« (»Wenn wir dies [sc. vorschnelle Urteile über die Körper aufzugeben] tun, werden wir begreifen, dass das Wesen der Materie beziehungsweise eines das Universum betreffenden Körpers nicht darin besteht, was seine Härte, sein Gewicht, seine Farbe oder etwas, was in irgendeiner anderen Weise die Sinne affiziert, ist, sondern nur darin, was seine ausgedehnte Substanz nach Länge, Breite und Tiefe ist.«) sowie – in enger Übereinführung der Methodik einer inspektiven Naturbetrachtung und des clare et distincte-Kriteriums – Descartes, Meditationes, Med.
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schiedenen Größen der Quantität der Materie (quantitas materiae) und deren Rauminhalt (spatium) fallen im Cartesianismus paradigmatisch und substantiell in eins. Zieht man zudem in Erwägung, dass hier die Materie, indem ihr die Ausdehnung als einzige primäre Qualität zugeschrieben wird, ein Alleinstellungsmerkmal zukommt, dessen Funktion es ist, sie vollständig vom Geist zu entkoppeln, so genügt auch dies ohne philosophische Vorausnahme einer bestimmten Intuition: Die Ausdehnung von Entitäten der geistigen Sphäre, eines Gedankens, lässt sich – ganz im Gegensatz zu den Entitäten der materiellen Welt – unmöglich bestimmen, schon gar nicht im mittlerweile mit hoher methodologischer Strenge versehenen Sinne der technischen Vermessungskünste. Es existiert keine Technik zur ›Vermessung‹ eines Gedankens. Descartes jedoch benötigt umgekehrt die Welt der Gedanken, um die Welt der Körper zu bestimmen. So erscheint es zwar intuitiv naheliegend und geradezu ›natürlich‹, dass körperliche Bewegungen, Schwere und Gewicht einen steten Einfluss auf die Wirklichkeit zeitigen, als Prinzipien selbst sind sie im Sinne Descartes' jedoch entkoppelt von jener Körperlichkeit, durch die sich die von uns wahrnehmbare Welt erst zu konstituieren weiß. Diese Auslagerung steht in einer gewissen Analogie zur abstrakten Rolle, die der quantitas motu¯ s zugewiesen wird: Aus dem Bemessungsparameter einer mathematischen Quantität folgt nämlich, dass die Materie als Materie der Bewegung keinerlei Widerstand entgegensetzen kann; ein solches Szenario wird schon dadurch verunmöglicht, dass sie ja ganz grundlegend zu einer anderen Substanz gehört. 244 Behält man diesen Umstand im Blick, kann es kaum überraschen, dass Descartes, ausgehend von seiner strikten Substanzentrennung, weder einen pondus/moles-Dualismus, wie ihn Baliani ansetzen wollte, um relatives und substantielles Gewicht voneinander zu scheiden, noch eine der galileischen und III, 43: »nam si penitius inspiciam et singulas examinem eo modo, quo heri examinavi ideam cerae: animadverto perpauca tantum esse, quae in illis clare et distincte percipio, nempe magnitudinem sive extensionem in longum, latum et profundum; figuram, quae ex terminatione istius extensionis exsurgit; situm, quem diversa figurata inter se obtinent; et motum, sive mutationem istius situs.« (»Denn wenn ich tiefer [sc. in die Vorstellungen körperlicher Dinge] hineinblicke und einzelne [sc. solcher Vorstellungen] einer derartigen Prüfung unterziehe, wie ich es gestern an der Vorstellung des Wachses getan habe, so bemerke ich, dass es nur sehr wenig ist, was ich in ihnen klar und deutlich erkenne, nämlich die Länge, Breite und Tiefe; die Gestalt, die der Begrenzung dieser Ausdehnung entspringt; die Lage, die diese einzelnen Gestalten zueinander einnehmen; und die Bewegung beziehungsweise die Veränderung dieser Lage.«) Descartes tritt hier also mit dem Plan an, immer tiefer in das Innerste der Dinge hineinzublicken (penitius inspicere), und landet, ganz im Sinne des zeitgenössischen Wissenschaftsverständnisses, bei einer extensiv darstellenden Disziplin (ex terminatione extensionis) – der Geometrie. 244 Dies stellt ausdrücklich keinen Zirkelschluss dar, insofern die substantielle Trennung sich vorgängig zur Beschreibung der Bewegung verhält und auch an dieser Stelle im Rahmen der cartesischen Philosophie bestehen bleibt.
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keplerschen Astronomie genügende Vorstellung von Masse und Trägheit zu entwickeln braucht. 245 Die teils kompliziert anmutende Positionierung zwischen den Gegensätzen eines neoplatonischen und eines rein physisch fundierten Materiebegriffs, wie sie als verbreitetes Phänomen des 16. Jahrhunderts anzusetzen war, wird hier durch die Voranstellung der optischen (etwa gegenüber haptischen, akustischen oder sonstigen) Charakteristika einerseits auf einer sinnlichen Ebene vollzogen; sie leistet zugleich jedoch insofern eine indirekte Verbindung zur Geometrie, als die durch Licht hervortretenden optischen Merkmale im 17. Jahrhundert – und dies dann doch wieder in eindeutiger Tradition zu Kepler – vorwiegend geometrisch beschreibbar gemacht werden sollten. 246 Optik, Geometrie und naturphilosophische Erkenntnis gehen somit einen engen Verbund ein. Hinzu kommt noch der im Discours de la méthode bereits mehrfach beobachtete Vorbehalt gegenüber scholastischen theoretischen Reliquien mit ihren als unzureichend eingeschätzten Annahmen wie etwa derjenigen, dass es sich bei den Eigenschaften der Materie – abgesehen eben von ihrer Ausdehnung – um okkulte Qualitäten handeln könnte beziehungsweise um Eigenschaften, deren hauptsächliche Gemeinsamkeit darin zu bestehen scheint, sich dem menschlichen Erkenntnisblick so vollständig wie möglich zu entziehen. Vielmehr lässt Descartes' Mechanik den Trägheiten, Bewegungen und Bewegungsverhältnissen mithilfe der Geometrie eine zutiefst wissenschaftliche Behandlung zukommen und entkoppelt sie im Zuge dessen von ihrer physikalischen Substantialität; er lässt sie dadurch in einem der Erfahrung entrückten Bereich aufscheinen – dies allerdings nun nicht mehr im (post-)scholastischen Sinne eines ens mobile und schon gar nicht im Sinne einer Descartes hat sich – wie wir ja auch bereits in Kapitel III.1.b ersehen konnten – regelrecht ein Leben lang daran abgearbeitet, ein rein auf mathematisch-geometrischen Größen gründendes Konzept der Mechanik zu erstellen; dass dies zu Lasten jeder Art von Kräften gehen musste und letztendlich ein Programm darstellte, das über die philosophische Machbarkeit hinausgeht, wird von Max Jammer in seiner konzisen Studie Concepts of force immer wieder betont; vgl. hieraus etwa Jammer (1957), 104 f.: »The concept of force, in Descartes’s view, had no place in his physics, which was to employ exclusively mathematical conceptions. [. . . ] A geometrization of physics – this was Descartes’s program before classical mechanics was born. It was a program too daring and too difficult, even for such an intellectual giant as Descartes«. 246 Insofern sich Länge, Breite und Tiefe eines Körpers hinsichtlich ihrer Wahrnehmbarkeit als visuelle Dimensionen auszeichnen. Hier lohnt nochmals ein genauerer Blick auf die bereits zitierte Passage im zweiten Teil der Principia philosophiae, wo nicht grundlos von einem corp[us] in universum spectat[um] (und nicht audit[um], tact[um] oder im allgemeinsten Sinne en[s]) die Rede ist. Der immense Einfluss der Optik auf die Naturphilosophie des 17. Jahrhundert – insbesondere in ihrem geometrischen Zuschnitt – zählt seit Langem zu den frühneuzeitlichen Forschungsgegenständen. Da er jedoch nicht das Hauptsujet dieser Studie bildet, sei hier auf die systematisch-historisch validen Standardwerke zu diesem Thema von Jäger (1990), Hick (1999) und Klein / Furtak (1988) hingewiesen. 245
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platonischen Transzendentalität, sondern im Sinne eines neuzeitlichen Wissenschaftsdenkens, das sie allesamt auf derselben Ebene behandelbar macht. Diese Ebene ist zugleich theoretisch und methodisch auf die Bewegungslehre zugeschnitten; denn Phoronomie, Kinematik und Trägheitslehre sind – zugespitzt auf den Terminus der quantitas motu¯ s – bei Descartes durchaus als disziplinäre Bestandteile eines umfassend, das heißt in zwei Richtungen, auf das körperliche Substrat wie auf das theoretische Beschreibungstableau hin gedachten Mechanizismus zu denken. Aus den genannten Umformatierungen – namentlich der Bestimmung der Quantität der Materie als ihrer einzigen Wesenseigenschaft, der Externalisierung des Bewegungsprinzips aus der Körperwelt heraus sowie der bei Descartes fest verankerten Skepsis gegenüber einer Entelechie der Materie – scheint sich nun auf den ersten Blick auch eine Absage auf die in Kapitel iii.1.c.α beschriebene intima rerum und das principium operationum zu ergeben. Denn es läge, nachdem Materie und Ausdehnung durch den Cartesianismus substantiell in eins genommen wurden, durchaus nahe, alles Unausgedehnte, mithin auch die Auslöser der Ding-Tätigkeit, als vollständig abstrakt aufzufassen und sich dann der Frage zuzuwenden, wo und auf welche Weise hier überhaupt eine Vermittlung zwischen Ausgedehntem und Unausgedehntem, zwischen Materie und Geist, stattfinden könnte. Aber auch an dieser Stelle wird der ideengeschichtliche Gang – trotz des fraglos bemerkenswerten Aufkommens der Debatten um die Zirbel-/Hirndrüsenfunktionen und deren hartnäckiger Aufrechterhaltung durch den Okkasionalismus – in der Hauptrichtung dann doch eine andere Tendenz verfolgen. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts zeigt gerade anhand derjenigen Philosophien, die sich extremer Positionen enthalten, also keinem reinen Sensualismus, Materialismus oder Atomismus folgen, dass durch die Auslagerung des mechanischen Begriffstableaus die intellektualistische Übereinstimmung von Erkenntnis und Sein nicht nur schadlos an die Seite jener mechanistischen principia operationum weiter bestehen kann, sondern dass sie ebenso zur Entwicklung novatorischer und auf Ausgewogenheit abzielender Philosopheme beitragen kann. Mit Ausgewogenheit ist dabei zum einen das Vermeiden von Extrempositionen (›Alles ist Materie‹, ›Alle Erkenntnis kommt über die Sinne‹, ›Einzig der Zufall herrscht in der Welt‹ etc.) gemeint; zum anderen wird hiermit eine philosophische Sichtweise benannt, nach der die Welt vor Verlusten der in ihr waltenden Kräfte gefeit ist. So wird Leibniz – der in seiner frühen Phase, die sich mit Garber ungefähr bis 1670 ansetzen lässt, 247 selbst als ein Anhänger der cartesischen Physik zu verstehen ist – in der Ent247 Vgl. Garber (1982). Dieser Befund deckt sich mit den Eindrücken, die wir im vorherigen Kapitel in Leibniz’ Briefverkehr mit Thomasius ausmachen konnten. Jedenfalls ist es bemerkenswert,
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wicklung seines Energie- und Monadenbegriffs vorführen, dass Subjektivität und Perspektivität mit der Erhaltung von Kräften in einem universellen Gesamtzusammenhang zu denken sind. Zudem ist dieser Zusammenhang als ein göttlicher vorzustellen. Bei der Behandlung des leibnizschen Energiebegriffs wird eine solche Vorstellung von Ausgewogenheit, die sich in Harmonie und Erhaltung des aktual gegebenen Kosmos ausdrückt, nicht zuletzt deshalb noch eine Rolle spielen, weil er das cartesische Vermittlungsproblem zwischen geistiger und materieller Welt löst und somit wieder zwischen Geist und Materie, mithin zwischen Mensch und Kosmos zu vermitteln weiß. Der Aufstieg der Materie beginnt dort, wo er nicht auf einen planen Materialismus abzielt, sondern materielle Eigenschaften mit geistigen zu analogisieren vermag – und genau dieser Moment fällt paradoxerweise mit der cartesischen Intention überein, die Materie gegenüber dem Geist zu entwerten. Um die geschichtlichen Bedingungen, die derartige Möglichkeiten überhaupt erst eröffnen, verständlich zu machen, werden zunächst die Hauptauswirkungen des Cartesianismus auf den weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts noch etwas genauer mit in die Betrachtung einfließen: Dass bei Descartes eine vollständige Entgeistigung der Materie stattfindet, indem sie von all demjenigen entgrenzt wird, was nichts mit ihrer Ausdehnung zu tun hat, mag vielleicht den Schluss nahelegen, dass der von der mathesis universa mitgetragene Aufstieg der Materie damit erst einmal aufgehalten wäre, die Materie also wieder in ihren aus dem Neoplatonismus wohlbekannten Status als träger, vom Geiste erst zu formender Stoffmasse zurückfiele und der Geist im Umkehrschluss nun endlich die natürlichen Tätigkeitsprinzipien wieder in die ihm eigene, das heißt von den dualistischen Traditionen 248 zugedachte Sphäre rückführen würde. Dies hieße, den Geist wieder zum formgebenden Prinzip zu erklären und die Materie ihm unterzuordnen, wie es der Platonismus und der Aristotelismus in trauter Einigkeit lehren. Genau das tritt jedoch nicht ein. Die ideengeschichtliche Ironie wird vielmehr darin bestehen, dass es genau jene substantielle Trennung der Materie vom Geist ist, die dann zu ihrer (der Materie) eigenen Aufwertung und vielseitigen philosophischen Applizierbarkeit führt. Dieses janusköpfige Phänomen hat Kondylis als einen der charakteristischen Wendepunkte der europäischen Ideengeschichte erkannt und folgendermaßen zusammengefasst:
wie sehr Leibniz im April 1669 noch daran gelegen war, auf seine Ablehnung gegenüber dem Cartesianismus so derart explizit hinzuweisen (tantum abest, ut Cartesianius sim). 248 Namentlich sind dies der Platonismus, der Neoplatonismus, der antike sowie der scholastische Aristotelismus mit ihren systematischen Antipoden zwischen Stoff und Idee beziehungsweise zwischen Stoff und Form.
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Die Zweideutigkeit des Cartesianismus bestand darin, daß gerade das, was den Geist absichern sollte, die Autonomisierung der Materie und somit die Unterminierung der Position des Geistes selbst zur Folge haben konnte; denn der metaphysische Dualismus machte zwar den Geist von jeder Bindung an die Materie unabhängig, als Preis dafür mußte aber deren Fähigkeit anerkannt werden, rein mechanische Aufgaben ohne Zutun des Geistes zu lösen. 249
An diesen Befund lässt sich, mit Blick auf den sich bei Leibniz ausprägenden Intellektualismus, noch anschließen, dass der Geist bei Descartes bereits über eine zutiefst intellektualistische Denkfigur (cogito ergo sum) beschrieben und zum einzig gültigen Existenzkriterium erhoben wird – und dass ausgerechnet im selben Atemzug Materie und Mechanik ihre wohl bis dahin engste Verschwisterung eingehen sowie einen eigens für sie reservierten Bereich in der Welt gewinnen, nämlich den Raum (spatium). Letzteres gelingt auf Grundlage des einzigen nach Descartes wahrhaft ›materiell‹ zu nennenden Merkmals, der Ausgedehntheit (extensio). Das Faszinosum an diesem beispiellosen philosophiegeschichtlichen Entwicklungsgang ist somit nicht allein in der bloßen Substanzentrennung im Sinne der Geschiedenheit der einen res von der anderen zu sehen; vielmehr beeindruckt hier nach wie vor, dass Materie und Geist, ausgehend von einem skeptizistisch erarbeiteten und streng intellektualistisch ausformulierten Erkenntniskriterium, mit verschiedenen Potenzen versehen werden. Hieraus nämlich ergibt sich erst eine Situation, von der beide Seiten profitieren. Der Status von Geist und Materie erschöpft sich nicht in den hergebrachten Schemata von Idealismus und Materialismus; sie wissen sich diesen vielmehr geschickt zu entziehen: Der Geist erhält – was Platon vermutlich mit Emphase mitgehen würde – als einzig gültiges Erkenntnisorgan einen überragenden Status zugeschrieben, und trotzdem gewinnt – was Platon niemals gestatten würde – auch die Materie neue, auf Eigentätigkeit beruhende Fähigkeiten hinzu. Als deren bedeutendste kann nun ihre mechanische Selbstbewegung gelten. Wo ein Materialist dem Geist jede Unterschiedlichkeit vom Stofflichen, und somit eine eigene Existenzweise, absprechen würde und wo ein (Neo-)Platoniker umgekehrt die Materie – insofern sie eine für uns erkennbare Gestalt hat – als defizitäres Abbild ewiger Ideen fassen würde, gelingt es Descartes, die Materie in ihrer Selbstbeweglichkeit aufrecht zu erhalten und den Geist, als den Garanten von Klarheit (claritas) und Unterschiedenheit (distinctio), auf seiner intellektualistischen Anspruchsebene zu halten. Die faszinierende Folge, die von Descartes' Philosophie ausgeht, besteht daher gerade darin, dass sie in beiden Sphären, der geistigen wie der materiellen, Tätigkeiten 249
Kondylis (22002), 192 f.
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freisetzen kann, die zwei hohen Wertigkeiten entsprechen: der Wertigkeit der ontologisch gesicherten Erkenntnis – die wir, wie Kapitel ii.3.a gezeigt hat, seit Parmenides als elementare und lichtmetaphorisch weithin ausgestaltete Denkfigur des Intellektualismus vorfinden – und der Wertigkeit der mechanischmateriellen Tätigkeiten – die wir, wie in den Kapiteln iii.1.c.α–β gesehen, als eine Haupterscheinung der frühneuzeitlichen Astronomie in ihrer Koppelung an die mathesis physica befördert sehen konnten. Eines der ältesten Desiderate der antiken Naturphilosophie steht somit unbeschadet an der Seite eines der novatorischsten Geltungsansprüche der frühneuzeitlichen Naturphilosophie – ohne dass Descartes dies umfassend angekündigt oder zum ausdrücklichen Programm erklärt hätte. Wo die Sublimierung der materiellen Tätigkeiten in der keplerschen Philosophie noch von der Verknüpfung mit den aus dem Platonismus bekannten Harmoniekonzepten abhängig war und somit aus kosmologischen Gründen heraus motiviert wurde, gelingt bei Descartes der Zugewinn an philosophisch ernst zu nehmenden Eigenschaften der Materie gerade deswegen so gut, weil die Materie durch die Vorarbeiten der aus der praktischen Mathematik und der antiken Naturphilosophie argumentierenden Astronomen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts längst mit einem Beschreibungssystem ausgestattet wurde, auf das sie leichter zurückfallen kann als auf neoplatonische Konzepte wie dasjenige einer materia iners. Die Vorstellung von einer materia iners würde eher zu einer Pejorisierung eben dessen führen, was durch die neuen Naturen ja gerade in einem hohen Wert gehalten werden soll: die Autarkie der stofflichen Welt. Es sind somit nicht die von Cambridge ab den 1760er Jahren ausgehenden Versuche, den Platonismus zu restaurieren, auch nicht die im 16. Jahrhundert noch so gerne verfochtenen pseudo-aristotelischen Problemata mechanica und schon gar nicht der kontingente Atomismus epikureistischer Provenienz, die als Theoriegebäude zur Entfaltung des klassischen Mechanizismus, wie er sich dann bei Newton vollends formiert finden wird, beitragen; vielmehr kommt der Verbund zwischen den mechanischen Eigentätigkeiten der Materie und einem neuen intellektualistischen und in der cogito-Formel bezeugten Gültigkeitsprinzip zum Tragen: Die Materie selbst gilt als ausgedehnt, der Geist wiederum als diejenige Instanz, die diese Eigenschaft als einzige wirkliche Eigenschaft der Materie zu erkennen vermag. Diese Disposition versetzt den Cartesianismus tatsächlich in die Lage, so etwas wie einen Rahmen zu bilden, in dem sich die dynamische Naturphilosophie – in ihrem programmatischen Zusammenschluss von Kraft und Philosophie – selbst zu einer eigenständigen Traditionslinie ausprägen kann. Nachdem also die Mechanik im 16. Jahrhundert die vormals auf die Sphären der Abstraktion abzielende Mathematik in eine dezidiert praktische Mathematik umgewandelt
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hat, kann als der zweite ideengeschichtliche Wendepunkt die vollständige Integrierung der praktischen Mathematik in die Naturphilosophie gelten. Und für diesen Prozess zeichnet sich ein zweites Mal die Mechanik verantwortlich, nunmehr jedoch nicht mehr in Form der von Galilei und Kepler veranschlagten Himmelsmechanik, sondern anhand des Cartesianismus und dessen Fortentwicklung einer materiellen Substanztheorie. Bei alledem wird die Mathematik niemals aus dem Spiel genommen; sie setzt sich, als practica, als universa, schließlich besonders prominent als Principia mathematica philosophiae naturalis Newtons in immer neuen mechanistischen Zusammenhängen fort. Hierbei geht es um einen historischen Sachverhalt, der sich mit Gaukroger wie folgt erfassen lässt: The problem of gravitation forced open the question of the competing demands of matter theory and mechanics. Cartesian mechanist cosmology had worked with an account that integrated matter theory – the account of the behaviour of physical phenomena in terms of their material constituents – and mechanics – the account of the behaviour of physical phenomena in terms of their motions and the causes of these motions. The internal balance varied, and mechanics increasingly took on greater significance, notably in Huygens, but the importance of integration remained paramount, for, in the mechanist tradition, mechanics without matter theory was simply not natural philosophy: it remained in the realm of practical mathematics. 250
Dass die Mechanik sich der Materie zuwendet, heißt demzufolge noch längst nicht, dass sie damit auch ihr mathematisch-geometrisches Gepräge ablegen würde. Im Gegenteil, sie nimmt die Mathematik gleichsam mit auf den Weg, da sie diese zur Bereitstellung von Erklärungsprinzipien und die Mathematik umgekehrt die Mechanik zur Erlangung einer physikalischen Validität benötigt. Hieraus folgt allerdings auch, dass eine derartige Philosophie ab einem gewissen Punkt – nämlich an demjenigen, an dem sie dem inspicere im weitreichendsten Sinne genügen möchte – auch klare Vorstellungen von Substantialität und Materialität benötigt, die auf die erkenntnisreiche Einsicht (evidentia) abzielen – und sei eine solche Einsicht auch nur durch ein einziges, aber dafür umso klarer vor Augen tretendes Kriterium wie dasjenige der Ausdehnung gewährleistet. Die Materie erfährt also vollumfängliche Substanzeigenschaften und wird im selben Zuge zu einem Gegenstand der als am modernsten geltenden Weltbetrachtung schlechthin, der Mathematik. Die beiden wesentlichen Aufwertungen der Materie im 17. Jahrhundert liegen somit in der Zuschreibung von Eigentätigkeit und in ihrer fortgesetzten Mathematisierbarkeit. Ihre 250
Gaukroger (2010), 83.
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natura naturans wird zur operatio, und ihre natura naturata wird zur mathesis universa. An dieser Stelle ist noch einmal das Gedankengerüst aufzugreifen, in dem sich die oben beschriebene simultane Aufwertung von Geist auf der einen und Ausdehnung auf der anderen Seite niederschlägt: Es kann mit Blick auf den Pivotpunkt des Cartesianismus kaum genug betont werden, dass die Ontologie ihre wichtigste Wurzel in der Kognitionstheorie hat; dass also die Verfahren und Grundsätze, die zur wahren Erkenntnis führen – das inspicere und das clare et distincte cognoscere – nur die Ausdehnung als Kriterium der körperlichen Welt akzeptieren. Das ontologische Problem, wie sich denn res cogitans und res extensa zueinander zu verhalten haben, läuft aber nicht nur auf die scharfe Trennung einer materiellen und einer geistigen Welt hinaus, sondern entspricht in ihrer Verankerung im Selbstzweifel auch der Dichotomie von Subjekt und Objekt. 251 Descartes' radikaler Skeptizismus braucht nicht nur als »notwendige[r] Stil des philosophischen Anfangens« 252 eingestuft zu werden, sondern prägt einen regelrechten Exordialtopos für die neuzeitliche Beschäftigung mit der Materie und den Sinnen aus – seien diese nun in einer vorwiegend naturphilosophischen (wie in den Principia philosophiae) oder in einer allgemein anthropologischen Dimension (wie im Traité de l'homme) vorgestellt. Mag auch Descartes – eben aufgrund seines sich stark auf die ratio beziehenden cogito-Arguments – in der Regel als prototypischer Rationalist gesehen werden, so kann nicht außer Acht gelassen werden, dass sein cogito-Argument erst den Schluss einer Argumentationskette bildet, die darauf abzielt, den Zweifel aus dem Bereich sicherer Erkenntnisse zu verbannen (wie in den Meditationes de prima philosophia). Descartes' zweifache Trennung von Subjekt und Objekt sowie von Geist und Materie ist indes nicht die plane Antwort auf sämtliche Fragen der post-scholastischen Welterschließung, sondern weist selbst ein kontroverses Potential auf, aus dem sich weitere Fragen ergeben: Müssen wir an den Sinnen grundsätzlich zweifeln, nur weil sie gelegentlich unzuverlässig sind? Funktioniert die Mechanik nur in der res extensa oder prinzipiell auch im Geist? Und ließe sich das Problem der Vermittlung geistiger und materieller Größen nicht viel Vgl. zu dieser sich von erkenntnistheoretischen zu ontologische Betrachtungen hin entwickelnden Denkfigur die Zusammenfassung bei Gabriel (32008), 22 f.: »Nachdem sich Descartes als Zweifelnder und damit als Denkender seiner Existenz vergewissert hat, kommt er in einem zweiten Schritt dazu, das Wesen des Menschen im Denken zu sehen. Das Wesen der Außenwelt, die sich als Außenwelt ja vom Denken getrennt erwiesen hatte, wird dagegen als Ausdehnung bestimmt. So stehen sich dann unausgedehntes Denken (oder Geist) und ausgedehnte Materie als die beiden Substanzen gegenüber. Dies ist Descartes’ Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit von Subjekt und Objekt«. 252 Gäbe (31992), Klappentext. 251
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einfach handhaben, wenn man – statt der Exponierung der Bewegung – ein energetisches Konzept hinzunähme, das in beiden Substanzen eine sich selbst erhaltende Wirkung entfaltet? Und wären solche Wirkungen dann wirklich noch streng geschieden nach Subjekt und Objekt, wie es der cartesische Skeptizismus suggerieren möchte? Die Antworten hierauf liegen im 17. Jahrhundert noch nicht so sehr in der Wirklehre von den Affekten begründet, sondern in der Weiterentwicklung der Lehre von den Bewegungen. Vergegenwärtigen wir uns hierzu nochmals Kondylis' Diktum von der Aufklärung als einer Epoche, die in wesentlichen Teilen der Rehabilitation der Sinnlichkeit zuarbeitet, so ist das Schicksal des Cartesianismus geradezu als symptomatisch für die Aufklärungszeit einzustufen. Es lässt sich ein Hang dazu feststellen, den Rationalismus als einen Rahmen zu entwerfen und die Sinnlichkeit innerhalb dieses Rahmens zu einer neuen, höheren Geltung zu verhelfen. Wir haben es mit einer Gemengelage zu tun, die von Kondylis in die Katachrese überführt wird, Descartes sei ein »Prügelknabe [. . . ] der Aufklärung« und zugleich ein »Stein des Anstoßes« 253 gewesen. Diese Ambivalenz kann indes, wie sich am ideengeschichtlichen Verlauf in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ersehen lässt, als ein nur vermeintliches Paradox gelten. Denn aus dem kritischen Umgang mit der cartesischen Philosophie werden, wie noch genauer zu zeigen sein wird, wichtige neue Ansätze nicht nur zum Verhältnis von Geist und Materie, sondern auch in Hinsicht auf ganz verschiedene Bewegungskonzepte veranschlagt und fortentwickelt. Die Anwendbarkeit gilt dabei für beide Bereiche: Die Bewegungen des Geistes sind, wie wir in Teil ii.5.b–c der Studie gesehen haben, seit der klassischen Antike ein Topos der Philosophie und Rhetorik (motu¯ s animi), die Bewegungen der Körperwelt (motu¯ s corporum) wiederum ein zentraler Gegenstand der Naturphilosophie.
2. Bewegung
Das ureigene Beschäftigungsfeld der Mechanik sind Dinge, die nicht in sich ruhen. Und wenn der Erfolg von Masse und Trägheit eines gezeigt hat, dann die Tatsache, dass beide Größen in genau dem Fall zur Disziplinen übergreifenden, ja kosmologischen Relevanz gelangen, in dem sie als Bewegungsimpulse und eben nicht als körperliche Tendenzen zur Ruhe hin konzipiert werden. ›Ruhe‹ stellt demzufolge eigentlich nur einen Spezialfall von Bewegung, sozusagen eine ›Nullbewegung‹ dar. Unter Billigung einer gewissen Verallgemeinerung und Verbildlichung herrscht die Bewegung im gleichen Moment 253
Kondylis (22002), 172.
Bewegung
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über die Ruhe, in dem die Mechanik zu einer Leitdisziplin in der Frühen Neuzeit erklärt wird. Dass sich mit Descartes und Newton zwei wesentliche Beförderer des mechanistischen Weltbildes einer eben solchen Sublimierung kinetischer Begründungsformen anschließen, ist Anlass genug, der Bewegung an dieser Stelle zwei nähere Betrachtungen zukommen zu lassen. Zudem wird hierdurch nachgewiesen, dass der Erfolg, welcher der dynamischen Naturphilosophie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zuteilwird, nicht auf einer willkürlichen, sondern auf verschiedenen philosophischen und mathematischen Grundsatzentscheidungen, namentlich auf einer phoronomischen Theorie, einer Impressionstheorie sowie auf dem Prinzip der Geometrisierbarkeit beruht. Deren Befürworter sind ganz und gar Vertreter eines Weltbildes, in dem die Bewegung stets Bewegung bleibt, so tief man sie auch zu ergründen versucht. Descartes, Hobbes und Newton werden hierfür als wichtige Beispiele dienen. Demgegenüber lässt sich bei Philosophen wie Aristoteles, Kepler und Leibniz eine Haltung ausmachen, die der Bewegung eine metaphysische Aufwertung zubilligt, und zwar anhand von Begründungsfiguren, die selbst nicht physikalischer Natur sind. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die aus dem Aristotelismus bekannte Entelechie. Die eine Partei übt sich also in metaphysischer Enthaltsamheit, während der anderen Partei mit großem Eifer an der Transzendierung gelegen ist. In beiden Lagern herrscht indes eine sehr ähnliche Tendenz vor, diejenige der Substantialisierung der Bewegung. Sie kann – erst recht im Vergleich zum hergebrachten Festhalten der Atomisten an der Zuschreibung von Stofflichkeit an die materiellen Teilchen – nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dieser Entwicklungsgang wird von Borzeszkowski und Wahsner zu Recht hervorgehoben: A science of nature could only be founded by starting from the modern-age (neuzeitlich) standpoint on motion as substance because only from it the subject of physics was grasped as substance or, to use other words, only from it something was grasped as substance, which could be quantified without resulting in pure mathematics. 254
Der Status der Bewegung als Substanz liegt nach den bisherigen Ausführungen nahe, insofern sie ja in der Frühen Neuzeit bevorzugt mit solchen Größen wie der Masse verschränkt wird. Wie und womit aber diese Substanz nun zu bemessen sei, wird im 17. Jahrhundert hochgradig unterschiedlich aufgefasst. Auch hier treffen die beiden Parteien verschiedene Entscheidungen: Die erste Partei bevorzugt die lineare Bewegung im Raum und verpflichtet sich strikt dem Maß 254
Borzeszkowski / Wahsner (2001), 75.
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der Bewegung. Es handelt sich bei ihrem Bewegungsbegriff um eine Substanz, die sich in rein mechanischen Gesetzen ausdrückt und nichts über sich selbst hinaus prädiziert. Die zweite Partei möchte demgegenüber der Qualität von Bewegungen besondere Bedeutung zurechnen. Es geht ihr nicht nur um die bloße Ortsbewegung, sondern auch um die Verwirklichung von Potentialen, bisweilen auch um ein wechselseitiges Verhältnis, das zwischen den Bewegungen der Seele und denen des Kosmos vorzuherrschen habe. Dieser zweite Weg führt, verkürzt gesprochen, von Aristoteles zum Aristotelismus. Für seine Vertreter besteht das Wesen der Bewegung in einem außerkinetischen Rahmen – sei dieser Rahmen nun als die Kosmologie, die Theologie oder die logische Ursachenlehre benannt. Beide Wege, der rein physikalisch-mechanistische und der metaphysisch aufgewertete, werden im Folgenden genauer betrachtet.
2.a. Bewegung I: Descartes, Hobbes und Newton
Die Tradition Galileis und Keplers, welche signifikant auf einer Geometrisierung der Bewegung beruhte, setzt sich bei Descartes in Form der Anwendung der analytischen Geometrie fort. Descartes' Bewegungsbegriff entfernt sich aber zugleich auch von beiden, insbesondere von deren Vorstellungen von Trägheit. Es lasse sich nämlich, wie bereits in den Principia philosophiae (1644) konstatiert 255 und dann im Briefverkehr mit Marin Mersenne in den 1650er Jahren weiterhin bekräftigt wird, keine natürliche Trägheit in den Körpern (tarditas in corporibus / tardiveté naturelle dans les corps) ausmachen. Denn die Trägheit stellt für Descartes lediglich ein Moment der Bewegungsgesetze und keinen Teil der Körperwelt selbst dar. 256 Es geht demnach in den cartesischen Vgl. die Einschätzung Descartes’, es bestehe eine Gegensätzlichkeit (contrarietas), die »zwischen Bewegung und Ruhe oder auch zwischen Schnelligkeit und Trägheit« herrsche, »sofern nämlich diese Trägheit an der Natur der Ruhe Anteil hat.« (Descartes, Principia philosophiae, pars 2nda, cap. XLIV, 67: »inter motum & quietem, vel etiam inter motûs celeritatem & tarditatem, quatenus scilicet ista tarditas de quietis naturâ participat.«). 256 Vgl. Descartes, Lettre à Mersenne, 37: »Je ne reconnois aucune inertie, ou tardiveté naturelle, dans les corps, non plus que M. Mydorge, et crois que lors seulement qu’un homme se promène, il fait tant soit peu mouvoir toute la masse de la terre, à cause qu’il en charge maintenant un endroit, et après un autre.« (»Ich erkenne keine natürliche Passivität oder Trägheit in den Körpern, ebenso wenig wie Herr Mydorge, und ich glaube, dass ein Mensch, wenn er spazieren geht, er die gesamte Masse der Erde ein klein wenig bewegen lässt, nur aufgrund dessen, dass er jetzt einen Ort damit belastet, und danach einen anderen.«) Bei dem von Descartes erwähnten »Herr[n] Mydorge« handelt es sich um Claude Mydorge (1585–1647), einem mehr mit Marin Mersenne als mit Descartes selbst befreundeten Mathematiker, der in seinen Hauptwerken Usage de l’un et l’autre astrolabe particulier et universel (1625) und Prodromi catoptricorum et dioptricorum sive Conicorum operis ad abdita radii reflexi et refracti mysteria praevij et facem praeferentis (1639), ganz 255
Bewegung
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Erwägungen immer um einen Bewegungszustand, der durch einen äußeren Beweger hervorgerufen wird. Selbst ein augenscheinlich zur Ruhe strebender oder in Ruhe daliegender Körper ist nicht ›träge‹, sondern befindet sich lediglich in einem bestimmten Modus, der sich aus dem Prinzip der Versetzung (translatio) ergibt: [E]s ist offensichtlich, dass diese Versetzung außerhalb eines bewegten Körpers nicht sein kann und dass dieser Körper sich auf die eine Weise verhält, wenn er versetzt wird, und auf die andere Weise [sc. verhält], wenn er nicht versetzt wird beziehungsweise wenn er ruht: Daher sind Bewegung und Ruhe in diesem nichts anderes als zwei verschiedene Modi. 257
In dem von Descartes veranschlagten Sinne stellen sowohl Ruhe als auch Bewegung nur unterschiedliche Zustände eines Körpers dar. Vom Neoplatonismus, der die Materie noch als passiv und stets nach Ruhe strebend auffasste, ist diese Haltung weit entfernt; viel eher scheint sie an das galileische Prinzip der Relativität anzuschließen, die zwischen Ruhe und Bewegung bestehe. 258 Zum Aristotelismus nimmt sie indes eine zwiespältige Haltung ein: Gänzlich im Einklang mit Aristoteles befindet sich der Ortsbegriff, der der Bewegung zugrunde liegt. Descartes legt fest, die Bewegung, über die er spreche, sei »natürlich die ortsgebundene, denn keine andere [sc. Bewegung] fällt unter meine Betrachtung.« 259 Wie bei Aristoteles, wird auch bei Descartes die Bewegung sich anhand der direkten Grenze bemessen beziehungsweise, seiner Formulierung nach, in der Versetzung eines Teils der Materie beziehungsweise eines Körpers aus der Nachbarschaft derjenigen Körper heraus [bestehen], die jenen [sc. Körper, der sich bewegt] umgeben und den Anschein machen, als ob sie ruhen würden, in die Nachbarschaft anderer [sc. Körper]. 260
ähnlich wie Descartes, auf der mathematischen und geometrischen Methodik bei der Behandlung von Naturphänomenen insistierte. 257 Descartes, Principia Philosophiae, pars 2nda, cap. XXVII , 55: »manifestum est hanc translationem extra corpus motum esse non posse, atque hoc corpus alio modo se habere, cum transfertur, & alio, cum non transfertur sive cum quiescit: adeo ut motus & quies nihil aliud in eo sint, quam duo diversi modi«. 258 Vgl. prägnant hierzu Lampariello (1965), 15: »Galileis Relativitätsprinzip setzt auseinander, warum der Zustand der Ruhe und der Zustand der geradlinigen gleichförmigen Bewegung eines materiellen Punktes gleichwertig sind, wie es von dem berühmten Trägheitsprinzip verlangt wird«. 259 Descartes, Principia Philosophiae, pars 2nda, cap. XXIV , 53: »scilicet localis, neque enim ullus alius sub cogitationem meam cadit«. 260 Ebd., cap. XXV , 53: »translationem unius partis materiæ, sive corporis, ex viciniâ eorum corporum, quæ illud immediatè contingunt & tanquam quiescentia spectantur, in viciniam aliorum«.
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Bemerkenswert für die generelle Aufwertung des Bewegungsprinzip im Rahmen einer Ontologie ist die Annahme, dass auch den Körpern Bewegung zukomme, die – nur dem Anschein nach – ruhen würden (tanquam quiescentia). 261 So lässt sich bei Descartes zudem noch die Überzeugung ausmachen, es widerspräche bereits der Eigennatur (natura propria) eines Körpers, der in Bewegung versetzt wurde, zur Ruhe zurück zu streben: Ruhe nämlich ist der Bewegung entgegengesetzt, und nichts kann es seiner eigenen Natur nach erdulden, sich zu sich selbst gegensätzlich zu verhalten oder gar zur Zerstörung seiner selbst [zu streben]. 262
Dass hier quies und motus als begriffliche Gegensätze gesehen werden, ändert nichts an Descartes' Diktum, es handle sich nur um verschiedene Modi der Bewegung. Im Gegenteil, würde man das Streben zur Ruhe zum ersten materialen Prinzip erklären, so würde dies erst recht die Selbstwidersprüchlichkeit zur eigenen Natur evozieren. Dies lehnt Descartes ja gerade ab: Körper streben weder zur Ruhe noch zur Bewegung – wie es etwa die Finalursächlichkeit im Aristotelismus fordern würde –, sondern weisen stets eine bestimmte kinetische Quantität auf, die durch ihre Umgebung modifiziert werden kann. 263 Die propria natura der Körper muss demgemäß gar nicht stofflich behandelt werden, sondern wird über die Mechanik hinreichend beschrieben und zur Darstellung gebracht. Die Mechanik füllt, so gesehen, die Bewegungstheorie des Aristotelismus aus. Sie ersetzt jedoch noch nicht Potenz mit Kraft. Wenn von Descartes nun in diesem Rahmen so etwas wie Trägheit angeführt wird, so geschieht auch dies nicht im Sinne einer stofflichen Eigenschaft; es lässt sich 261 So sehr ihn diese Annahme mit Newton einen wird, so sehr wird Newton dem Ortsund Raumkonzept eines Aristoteles und Descartes widersprechen, indem er den absoluten Raum (spatium absolutum) als nicht weiter reduzible Größe seiner Naturphilosophie ansetzt. Der Raum, bleibt – im Gegensatz zur Ortsgebundenheit des aristotelischen und des cartesischen Bewegungsbegriffs – in sich selbst gleich und unbeweglich (similare & immobile); vgl. Newton, Principia mathematica, Def., Schol. II, und diese Theorie vom ontologischen Status des Raums scheint für Newton auch nicht verhandelbar. 262 Vgl. Descartes, Principia Philosophiae, pars 2nda, cap. XXXVII , 63: »quies enim motui est contraria, nihilque ad suum contrarium, sive ad destructionem suî ipsius, ex propriâ naturâ ferri potest«. 263 Im Folgenden wird das Beispiel eines Wurfgeschosses (projectum) angeführt, das – einmal aus der Hand geworfen – weiter seine Flugbahn in einer bestimmten Richtung mit einer spezifischen Geschwindigkeit vollführt. Wenn es sich mit der Zeit verlangsamt, so sei dies einzig auf den Luftwiderstand (aëris resistentia) zurückzuführen, mithin auf einen extrinsischen Faktor, der außerhalb der natura des Gegenstandes anzusiedeln ist. An dieser Stelle erinnert Descartes’ Theorie wiederum an die aristotelische Disjunktion zwischen den naturgemäßen Bewegungen und den akzidentellen Ereignissen, die das Verhalten eines Körpers kontingent beeinflussen können – ohne dass hierzu von Descartes ein bestimmtes Strebevermögen im Sinne der Ursachenlehre angenommen werden müsste.
Bewegung
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jedoch allemal eine Tendenz zur Bewegungsverharrung in einem aristotelisch instruierten Sinne ausmachen, insofern Körper, sofern sie nicht akzidentell zu einer anderen Tätigkeit veranlasst werden, in ihrer jeweiligen physischen Bewegung bestehen blieben. Descartes' in den Principia hierfür angeführtes Beispiel ist kein materieller Körper, sondern mit der Figur des Quadrats bezeichnenderweise ein geometrischer: Es gibt aber keinen allzu bedeutenden Grund dafür, warum wir annehmen sollten, dass es [sc. das Quadrat], wenn es sich bewegen sollte, selbst jemals spontan und von nichts anderem gehindert seine Bewegung unterbrechen würde. Und daher ist zu schließen, dass dasjenige, was sich bewegt, sich stets um so viel bewegt, wie in ihm [sc. an Bewegung] ist. 264
Hier kommt mit der Quantität (quantum in se est) eine seit dem Mittelalter fast schon vergessen geglaubte Größe ins Spiel. Die Kraft der Bewegung, in sich selbst zu verharren, wird von Descartes stets als Menge (quantitas) aufgefasst, die in der Körperwelt – und zwar ausschließlich in diesem Rahmen – zu bemessen sei. 265 Diese Bemessung stellt nun ihren substantiellen Wert dar, und zwar in sich differenziert nach den Aspekten der Größe eines Körpers 266 und dessen Geschwindigkeit: Und jene Kraft [sc. das Verharren eines Körpers in seiner Bewegung] muss zum einen von der Größe des Körpers her, in dem sie sich befindet, und derjenigen 264 Ebd., pars 2nda, cap. XXXVII , 62: »Nec ulla major ratio est, si moveatur, cur putemus ipsam unquam suâ sponte & à nullo alio impeditam, motum illum suum intermissuram. Atque ideò concludendum est, id quod movetur, quantum in se est, semper moveri«. 265 Hierbei handelt es sich um ein genuines Anliegen der von Descartes so hochgehaltenen geometrischen Methode; vgl. auch die treffende Einschätzung bei Borzeszkowski / Wahnser, der zufolge »[t]he analytical geometry had a physical aim right from the beginning owing to the fact that it was developed by Descartes to craete the possibility to measure natural motions.« (Borzeszkowski / Wahnser [2001], 22) Das Maß der Bewegung besteht als Phänomen der natürlichen Wirklichkeit zum einen als physischer Gegenstand, zum anderen – aufgrund der Möglichkeit, ihn auf Grundlage mechanistischer Theoreme als hiervon entgrenzten zu behandeln – als abstrakter Gegenstand, für den dann mathematisch-geometrische Operationen, etwa die Addition von Linien beziehungsweise Vektoren, erforderlich sind. 266 Der in der Forschungsliteratur nicht selten vorgebrachte Befund, ›Masse mal Geschwindigkeit‹ stelle Descartes’ Bewegungsbegriff dar – vgl. Breidbach (2015), 301 und Falk / Ruppel (31983), 27 –, rückt stark von Descartes’ Grundannahmen zur Körperlichkeit ab, die sich vor allem auf die extensio – und nicht auf die moles – beziehen. Die Bevorzugung des Ausdehnungskriteriums drückt sich an zahlreichen Stellen im Rahmen derjenigen Paragraphen aus, die sich mit der Bewegungsdefinition anhand von Raumkonzepten befassen (wobei die epikureistischen Theorien, insbesondere bezüglich der Existenz des Leeren, abgelehnt werden). So sei die körperliche Substanz nicht im Material begründet, sondern von ihrer Räumlichkeit bestimmt, »eben weil die Quantität der Materienteile nicht von deren Schwere oder Härte abhängt, sondern von der Ausdehnung allein, die stets in demselben Gefäß gleich ist« (»quia partium materiæ quantitas non pendet ab earum
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seiner Oberfläche, der gemäß dieser Körper von einem anderen getrennt wird, bestimmt werden; zum anderen von der Geschwindigkeit der Bewegung sowie nach der Natur und der Gegensätzlichkeit der Art und Weise, wie die einzelnen Körper sich einander begegnen. 267
Diese Bewegungsdefinition lässt sich als ein Proto-Kraftbegriff auffassen, der zum Erhalt einer Größe im Sinne ihrer dynamischen Präsenz befähigt, insofern sie nämlich mit der Körpergröße und der Geschwindigkeit eine Entfaltung des Raumes in der Zeit enthält. Diesem Begriff ist jedoch – gerade im Vergleich zu den späteren Entwürfen eines Newton und Leibniz – noch die Verhaftung mit den Impuls- und Bewegungsregeln anzumerken; demgemäß erscheint er auch wenig selbständig gegenüber dem Anstoßmoment (impetus) und dem Bewegungsstreben (impulsus), das zwischen den einzelnen Körpern herrscht beziehungsweise von ihnen ausgeht. Zwar wird auf die vis hier, wie auch in den übrigen Sektionen der cartesischen Naturphilosophie, als Terminus vielfach rekurriert, jedoch kann von einer Emanzipation von der theoretischen Bewegungslehre zugunsten einer der Materie inhärierenden Größe – wie es später bei Newton zu beobachten sein wird – noch überhaupt keine Rede sein. 268 Anders gewendet: Wann immer von einer vis die Rede ist, liegt bereits der geometrisch erfasste motus zugrunde, wenn jene nicht gar aus diesem erst deduziert wird. 269 Kraft ist demnach in theoretischer Hinsicht dazu da, die gravitate aut duritie, sed a solâ extensione, quæ semper in eodem vase est æqualis.« [Descartes, Principia philosophiae, pars 2nda, cap. XIX, 51]). Der Weltenstoff ist demnach in allen Substanzen prinzipiell derselbe und wird erst divers durch die unterschiedliche Bewegung seiner Teile. Der Schwamm (spongia) ist das plastische Beispiel, das Descartes zur Illustration anführt, da dessen Größe gleich bleibe und nur dessen Poren, eben als Teileinheiten, für die Diversität seiner Zustände sorgen, und da zudem gerade über diesen Punkt irrige Populärmeinungen zu finden seien (vgl. ebd., cap. VII, 43 f.). 267 Ebd., cap. XLIII , 67: »Visque illa debet æstimari tum à magnitudine corporis in quo est, & superficiei secundùm quam istud corpus ab alio disjungitur; tum à celeritate motûs, ac naturâ & contrarietate modi, quo diversa corpora sibi mutuò occurrunt«. 268 Vgl. diesbezüglich die Analyse bei Liu: »Es ergibt sich [bei Descartes; D. B.] einerseits, dass die Kraft, ähnlich wie die subjektive Empfindung von Farbe und Härte, in den quantitativen Zuständen des Körpers auflösbar ist, andererseits scheint sie selbst durch die modalen Bestimmungen von Größe und Geschwindigkeit als eine gewisse ›modale Entität‹ an den Körpern zu finden zu sein. [. . . ] Der Begriff ›Kraft‹ ist also ein Phantom, das in der cartesischen Physik umherschweift.« (Liu [2014], 43 f.) Der Begriff einer »modale[n] Entität«, den Liu hier zur Umschreibung des cartesischen Kraftbegriffs anführt, spielt im Übrigen auch im Briefverkehr zwischen Descartes und Henry More von 1649 eine Rolle. 269 Vgl. hierzu die Explikation des sogenannten Dritten Naturgesetzes (tertia lex naturae) bei Descartes, Principia philosophiae, pars 2nda, cap. XL, 65: »[U]bi corpus quod movetur alteri occurrit, si minorem habeat vim ad pergendum secundùm lineam rectam, quàm hoc alterum ad ei resistendum, tunc deflectitur in aliam partem, & motum suum retindendo solam motûs determinationem amittit; si verò habeat majorem, tunc alterum corpus secum movet, ac quantum ei dat de suo motu,
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Bewegung aufrechtzuerhalten, und nicht umgekehrt. Wo keine Bewegung ist, bedarf es mithin auch keiner Kraft. Eine solche kinetische und eben noch längst nicht dynamische Modellierung der Körperwelt, in der der Bewegung ein ontologischer Vorrang zukommt, ist in Descartes' Naturphilosophie passim auszumachen; sie wird dementsprechend auch in den Grenzfragen, die das Universum betreffen, virulent. Descartes steht Galilei durchaus hinsichtlich der Annahme nahe, dass den Körper gleichsam daran gelegen sei, das ihnen zukommende Bewegungsmoment grundsätzlich aufrechtzuerhalten; er folgt ihm ferner – und darin im Grundsatz auch Kepler – in der Annahme eines geometrischen Tableaus, auf dem sich diese Formen erkennen und beschreiben ließen – auch wenn sich die für ihn urtümliche Bewegungsfigur in einer linea recta und keiner linea obliqua (Kepler) oder curvitas (Galilei) widerspiegelt. Descartes' Bewegungslehre ist, ganz analog zu seiner Körperlehre, nicht so sehr eine Lehre vom Stoff, sondern – mit fast schon apodiktischer Grundsätzlichkeit – eine schiere Geometrie. 270 Die Geometrie dient wiederum zur Illustration mechanischer Gesetze; und diese sind für Descartes – wie im Discours de la méthode bereits eindrucksvoll zu sehen war – nun einmal nichts anderes als die Regeln der Natur. So wird auch in den theologischen Begründungsmustern auf die Bewegungslehre zurückgefallen – namentlich in den Fragen nach dem letzten Urgrund der Bewegung (ultima causa motu¯ s) sowie nach der Aufrechterhaltung der Bewegung im Universum (quantitas motu¯ s in rerum universitate). Der letztere, für die Kosmologie entscheidende Begriff wird über das Axiom festgelegt, dass die Menge der Bewegung im Universum immer gleich groß bleibe, da etwas anderes von Unvollkommenheit zeugen müsste und somit nicht göttlich zu nennen wäre. Wieder einmal ist hier nicht zunächst von Gott, sondern vor allem vom Modus und der Quantität die Rede, die der Bewegung zukommen: tantundem perdit.« (»Sobald ein Körper, der sich bewegt, gegen einen anderen stößt, und wenn er dabei eine geringere Kraft hat, sich einer geraden Linie entsprechend fortzubewegen, als der andere besitzt, um ihm zu widerstehen, dann wird er in eine andere Richtung abgelenkt, wobei er seine Bewegung beibehält und einzig die Bewegungsrichtung verliert; wenn er aber eine größere Kraft besitzt, dann bewegt er den anderen Körper mit sich fort und verliert so viel von seiner Bewegung, wie er ihm gibt.«). 270 Vgl. hierzu die an den Leser gerichteten Einlassungen am Ende des zweiten Teils ebd., cap. LXIV, 78: »Et suppono meos lectores vel prima elementa Geometriæ jam novisse, vel saltem ingenium satis aptum habere ad Mathematicas demonstrationes intelligendas.« (»Auch setze ich voraus, dass meine Leser wenigstens die ersten Elemente der Geometrie bereits kennen oder wenigstens genügend Vermögen besitzen, das geeignet wäre, die mathematischen Beweisgänge zu verstehen.«) Die Botschaft des ansonsten durchaus im höflichen Gestus auftretenden Descartes ist eindeutig: Leser, die diese Vorbildung nicht genossen haben, mögen das Buch spätestens jetzt zur Seite legen.
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Denn obschon es sich bei der Bewegung in der bewegten Materie um nichts anderes handelt als um ihren Modus, so hat sie [sc. die Bewegung] dennoch eine bestimmte und festgelegte Quantität, von der wir leicht erkennen, dass sie in der Gesamtheit der Dinge stets die gleiche sein kann, auch wenn sie sich in deren einzelnen Teilen ändert. 271
Die Aufrechterhaltung der Bewegungsquantität im Universum stellt nach Descartes ein untrügliches Zeichen für die Vollkommenheit Gottes (perfectio Dei) dar – und zwar in genau dieser Reihenfolge: Die physischen Prinzipien verweisen auf die Tätigkeit Gottes und dessen Perfektion. Nicht jedoch setzen wir zunächst Gottes Existenz an und leiteten daraus Tätigkeitsprinzipien ab. Dass Gott als Schöpfer des Universums und der Naturgesetze die Bewegungsquantität nach ihrer erstmaligen Etablierung im Schöpfungsakt nicht nur still beschaue, sondern sie auch durch sein beständiges Eingreifen – seinen ›Beistand‹ (concours) – aufrechterhalte, ist ebenso in der Betrachtung des Discours de la méthode deutlich geworden und dort mit dem Bild des Uhrwerks (horologe) verknüpft worden. In den Principia philosophiae nimmt sich dieser Gedanke derart aus, dass die Vollkommenheit in Gott nicht nur darin besteht, dass er in sich unveränderlich ist, sondern dass wir auch in seinen Werken keine anderen [sc. Gründe] unterstellen dürfen als die, von denen aus keine Unbeständigkeit in ihm selbst behauptet werden könnte. 272
Eine solche theologische Annahme ist maßgeblich für die Frage nach der Notwendigkeit eines mechanischen Eingreifens Gottes in die Welt. Sie impliziert eine Vorstellung von Stabilität, die sich bemerkenswerterweise gerade nicht aus statischen Systemen, aus der Schaffung ideeller Sphären, herleiten lässt, sondern sich auf die Bewegungsquantität im diesseitigen Universum bezieht. Die Unveränderlichkeit Gottes garantiert somit nicht – wie noch im Platonismus – die Statik der Welt, sondern die Unveränderlichkeit der Bewegungsquantität im Universum. Dieser mechanistische Grundzug weist – wie in Kapitel iii.2.b der Studie zu sehen sein wird – auf die leibnizsche Kosmologie voraus. Dort wird es indes nicht mehr die Bewegungsquantität, sondern die Energie sein, die sich im Universum erhalte – und dies wohlgemerkt ohne ein ständiges Eingreifen, das ihr seitens einer göttlichen Instanz zuzukommen habe. 271 Ebd., cap. XXXVI , 61: »Nam quamvis ille motus nihil aliud sit in materiâ motâ quàm ejus modus; certam tamen & determinatam habet quantitatem, quàm facile intellegimus eandem semper in totâ rerum universitate esse posse, quamvis in singulis ejus partibus mutetur«. 272 Ebd.: »perfectionem esse in Deo, non solum quod in se immutabilis, sed etiam quod [. . . ] nullas alias in ejus operibus supponere debeamus, ne qua inde inconstantia in ipso arguatur«.
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Ließ sich in den Betrachtungen, die wir zur italienischen und zur deutschen Naturphilosophie verfolgt haben, in der Regel feststellen, dass Körperlichkeit auf Masse, Masse auf Materie und Materie wiederum auf das Prinzip der Trägheit zurückzuführen sei, man sich aber selbst dann noch mit zahlreichen ungelösten Problemen – wie etwa der Frage, ob die Materie auf Elemente, auf Atome, auf Korpuskeln, auf fluide Stoffe, auf ihre schiere Ausdehnung oder auf anderes zurückzuführen sei – auseinanderzusetzen hatte, erscheint die Bewegung demgegenüber als solche für das Gros der Naturphilosophen als eine ontische Gegebenheit dadurch unbestreitbar, dass sie jederzeit über die Phänomene der wahrnehmbaren Wirklichkeit offen sichtbar und für das subjektive Empfinden sinnlich erweisbar bleibt. 273 In der Bewegung treffen sich daher naturphilosophischer Urgrund – insofern Bewegung die Welt wie ein Uhrwerk in Gang setzt und hält – und Evidenz (Wahrnehmung ist selbst Bewegung). Die Seele verhält sich rezeptiv zu Naturvorgängen und zu ihren niederen Bereichen, den Sinnen. Damit fungiert Bewegung indes nicht nur als Repräsentation eines Gottesbegriffs, sondern wird auch als Chiffre für das Problem des Verhältnisses von Transzendenz und Empirie nutzbar gemacht: Beide werden über die Bewegung gewissermaßen begrifflich verschachtelt. Die Bewegung an den Anfang einer naturphilosophischen Erörterung zu stellen, muss daher für einen Philosophen attraktiv erscheinen, der es bereits programmatisch vermeiden will, ins Spekulative zu verfallen, um Erfahrungswerte überindividuell verwertbar zu machen – und der dazu seine eigene Naturphilosophie gar nicht einmal als dynamisch orientiert einstufen müsste. Hierbei rückt – wie es gerade für die englische Philosophie zu konstatieren ist – das Prinzip der einfachen Erfahrbarkeit gegenüber demjenigen der Komplexität in den Vordergrund. 274 Es ist daher nicht als Paradox zu werten, dass ein vorzügliches Mittel zur Aufwertung der Bewegung in einer weiteren Reduzierung auf eine noch geringere Axiomatik bestehen kann, als es die Kinematik mit ihrer strengen und ausschließlich auf der Geometrie beruhenden Ausrichtung ohnehin bereits geleistet hatte. Blicken wir, um die Tragweite dieser Entwicklung noch weiter einschätzen zu können, auf die Position, die bei Thomas Hobbes (1588–1679) auszumaAuch von Descartes wird hieran nicht gerüttelt, insofern zwar die Erkenntnis solcher Prozesse rein intellektual vonstattengehe, die Prozesse selbst aber in der körperlichen Welt verortet bleiben. 274 Die Zusammengesetztheit steht nach einer communis opinio der vom Idealismus weitgehend unberührten englischen Philosophie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stets in Posteriorität zur Einfachheit. Hier ist, um ein prominentes Beispiel zu nennen, etwa an die simple ideas gegenüber den complex ideas zu denken, wie sie John Locke im Essay concerning human understanding (1690) vertritt; vgl. zur Genese der complex ideas of substances aus den simple ideas heraus Locke, An Essay concerning human understanding, 148–168. 273
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chen ist. Hobbes, der selbst durchaus jene umfassende mathematische und geometrische Ausbildung genoss, die Descartes seinen Lesern so verbindlich abverlangte, argumentiert in seiner Bewegungslehre scheinbar gar nicht so sehr mit einem größeren mathematischen Vorbau, dafür aber auf eine Art und Weise, die vor allem der menschlichen Intuition zuzuarbeiten vermag – und dabei doch so minimalistisch wie nur irgend möglich anmutet. Hobbes' mechanistischer Monismus fungiert als das naturphilosophische Fundament seiner Anthropologie sowie, daran anknüpfend, seiner politischen Theorie. Er kann – nicht nur mit Blick auf die politischen Diskussionen um den Kontraktualismus und den Absolutismus – zu den einflussreichsten Grundideen gezählt werden, die im 17. Jahrhundert zu einem Reizpunkt der britischen wie auch der kontinentalen Philosophie werden. In merklicher Bewunderung der euklidischen Geometrie ist er grundsätzlich davon gekennzeichnet, auf möglichst wenige Voraussetzungen hinsichtlich der Natur zu rekurrieren; 275 gleiches gilt auch für die Hoffnungen, die man in diese setzen könnte. 276 Als wichtiger Ausgangspunkt der körperlichen Wirklichkeit – und dies in beträchtlicher Absetzung von Galilei und Kepler – erscheint hier zunächst, dass die überall im Universum stattfindende Bewegung weniger in den rein substantiellen Prinzipien der Materie selbst als vielmehr in der Bewegung der Materie zu sehen ist. War die Bewegung in der keplerschen Physik immerhin noch dasjenige Prinzip, über das sich Masse und Trägheit gemeinsam auf eine Vergleichsebene bringen ließen, nichtsdestoweniger aber eine aus diesen beiden Prinzipien heraus systematisch ableitbare Größe, so wird die Materie hier, noch bevor ihr überhaupt irgendwelche physikalischen Eigenschaften zugesprochen werden – von der Frage, ob diese nun als primäre oder als sekundäre Qualitäten anzusetzen seien, ganz zu schweigen –, unmittelbar an die Bewegung selbst gekoppelt. Dieser Dies hatten wir bereits in Kapitel III.1.b im Zusammenhang mit Hobbes’ Auffassung von Arithmetik feststellen können, insofern die basalen Rechenoperationen von Hobbes in De Corpore nochmals von vier (Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren) auf zwei (Addieren und Subtrahieren) reduziert wurden und die Tätigkeit des Rechnens (computatio) zudem mit dem Prinzip des Schlussfolgerns (ratiocinatio) schlechthin in eins gesetzt wurde. 276 Hier sei nur auf einen der meistzitierten Gemeinplätze der hobbesschen Philosophie, den Naturzustand hingewiesen, den Hobbes im dreizehnten Kapitel des Leviathan (1651) ausführt. Die am häufigsten damit in Verbindung gebrachten Zitate stammen allerdings vor allem aus der an den Grafen von Devonshire, William Cavendish, gerichteten Dedicatio von De cive (1642) und besagen, dass im Naturzustand ein Krieg aller gegen alle herrsche (bellum omnium contra omnes) und dass ein Mensch dem anderen ein Wolf sei (homo homini lupus; angelehnt an Plaut., Asin., 495: »lupus est homo homini«). Für unser Thema wichtig ist hieran, dass die Natur bei Hobbes in keiner Weise einem Idealzustand entspricht, sondern einem Stadium, dass es zu überwinden gelte, um überhaupt die Grundsicherheit der im (dann absolutistischen) Staat zusammengefassten Bürger gewährleisten zu können. Der Gegensatz zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit wird dabei entscheidend an der Fähigkeit des Menschen zur Vertragsbildung festgemacht. 275
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Umstand gilt auch vice versa: In dem Moment, in dem von Bewegung die Rede ist, ist Materie gemeint, und im selben Zug, in dem von Materie die Rede ist, befindet sich – wie wir noch genauer sehen werden – diese bereits in Bewegung. Mag Hobbes philosophiegeschichtlich gemeinhin als einer der einflussreichsten, mitunter auch als einer der radikalsten Materialisten eingeordnet werden, so findet sich in seinen Grundlegungen zur Weltbetrachtung gerade keine umfassende Katalogisierung stofflicher Charakteristika, die einen Materialismus gewissermaßen mit Inhalt füllen könnte; dafür findet sich allenthalben eine Affirmation des Prinzips der Bewegung selbst. In prägnanter Zuspitzung wird eine Theorie zu den Körperbewegungen, noch vor De corpore (1655), bereits im Leviathan (1651) vorgebracht. Hier kann es vor allem als monistischer Grundsatz und zugleich Ausgangspunkt des die Kapitel 1–16 umfassenden anthropologischen Teils gelten, dass aus Bewegung selbst wiederum nichts als Bewegung entstehen könne: All which qualities called sensible are in the object that causeth them but so many several motions of the matter, by which it presseth our organs diversely. Neither in us that are pressed are they anything else but diverse motions (for motion produceth nothing but motion). 277
Die sinnlichen Qualitäten haben nach Hobbes objektiven Charakter, da sie aufgrund eines engen Verbunds, der zwischen Bewegung und Materie herrscht, objektiv verursacht werden. Die Bewegungen der Materie (motions of matter) stehen kategoriell am Beginn jeglicher Erkenntnis, ohne dabei Eigenschaften wie Masse, Schwere oder Trägheit auch nur aufwerfen zu müssen. Dadurch liegt die Frage nach dem Primat von Bewegung oder Materie im Sinne eines ersten Naturprinzips nicht in einer dieser beiden Größen beziehungsweise deren Eigenschaften für sich begründet; vielmehr stehen hierfür ihr begrifflicher Zusammenschluss und – womit der eigentliche Mechanizismus beginnt – der daraus resultierende Druck ein, der auf die Materie selbst sowie – bezogen auf den Menschen – auf die inneren und äußeren Organe ausgeübt wird (by which it presseth our organs diversely). In dieser Denkfigur, die an Gesetze aus der Hydraulik und Pneumatik erinnert, wird ein systematischer Vorrang deutlich, den der Monismus noch vor dem Materialismus einnimmt: Ist die Bewegung in der galileischen und keplerschen Naturphilosophie auf Körpereigenschaften wie Masse und Trägheit rückführbar, so tritt sie hier gerade durch ihren frühestmöglichen Zusammenschluss mit der Materie als irreduzible Größe hervor. Wo Galilei und Kepler noch bestimmte mathematische Größen ansetzen mussten, um daraus Bewegungen erklärbar zu machen, setzt Hobbes die Bewegung an 277
Hobbes, Leviathan, 1, 1, 11 f.
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einem viel früheren Punkt, an der Verursachung der Qualitäten durch Bewegung selbst an – woraus sich im Übrigen dann auch das Prinzip der Kausalität ersehen lasse, mithin so etwas wie die Begründung von Kausalzusammenhängen überhaupt (the object that causeth them). Nur unterliegt diese Begründung hier keinem intellektualistischen Erkenntnisprinzip, sondern ebenfalls der Bewegung – und zwar in Form ihrer materiellen Verfasstheit. Logische Zusammenhänge sind demnach ebenfalls nichts anderes als eine Änderung des Bewegungszustandes zwischen verschiedenen Orten. Es ließe sich nun vermuten, dass der Aspekt der Zeit hierfür eine gewichtige Rolle spielen – etwa indem die Ursache X für ein Ereignis Y in zwei bestimmten Bewegungen zu zwei bestimmten Zeitpunkten läge. Hobbes schließt aber auch diese Bezugsgröße für die Anfangsgründe seiner auf geometrischer Einfachheit und Zeitlosigkeit beruhenden Philosophie aus. Erst der zweite Schritt, das Erkennen des logischen Zusammenhangs, ist bei ihm ein zeitlicher, wie De corpore (1655) zeigt. Dort wird die Ortsveränderung in genau diesem Sinne näher thematisiert sowie in grundlegende Zusammenhänge philosophischer Anfangsgründe, namentlich in den Kontext der Prima philosophia eingebettet: Bewegung ist das fortgesetzte Verlassen eines Ortes und das Erwerben eines anderen; der Ort aber, der verlassen wird, wird gewöhnlich als der Grenzpunkt, von wo, und derjenige, der erworben wird, als Grenzpunkt, zu dem er strebt, genannt. [. . . ] ›Bewegt zu werden‹ kann aber nur in der Zeit erfasst werden. Die Zeit ist nämlich, der Definition nach, ein Gegenstand der Vorstellung, das heißt das Erfassen einer Bewegung; daher könnte zu erfassen, dass sich etwas bewegt, nicht in der Zeit liegen, wenn nicht die Bewegung erfasst würde, was unmöglich ist. 278
Die Beschreibung der Bewegung erweist sich hier über die Annahme von Grenzpunkten (terminus) bereits deutlich geometrischer geprägt als im Leviathan, wo es ja noch um den wechselseitigen Einschluss von Materie und Bewegung und deren kausale Wirksamkeiten ging. Darüber hinaus wird über den Zusammenhang von Bewegung und Zeit hier auch die Frage nach den Seelenvermögen wenigstens indirekt aufgeworfen: Die Zeit, ein wichtiges und vor allem ontisch gegebenes Element der antiken Naturphilosophie, 279 wird hier zu einer Größe des Vorstellungsvermögens, einem phantasma, regelrecht Hobbes, De corpore, pars II, cap. VIII, 10: »Motus est continua unius loci relictio et alterius acquisitio; locus autem, quae relinquitur, terminus a quo, qui acquiritur, terminus ad quem dici solet. [. . . ] Moveri autem aliquid nisi in tempore concipi non potest. Est enim tempus, ex definitione, phantasma, id est, conceptus motus; itaque concipere moveri aliquid non in tempore esset concipere motum non concepto motu, quod est impossibile«. 279 Vgl. Aristot., phys., 4, 10–12, 217b29–224a17. 278
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degradiert. Insofern sie aber auch nichts anderes als ein auf Kombinatorik beruhendes Erfassen der Bewegung, einen conceptus motu¯ s darstelle, bleibt die Bewegung sowohl in Bezug auf die Zeit als auch auf die Einbildungskraft in einer gewissen Vorrangstellung. Mehr noch, manche ontischen Stufen der Zeit, die wir mit ›Zukunft‹ und ›Vergangenheit‹ fassen, seien nicht einmal mehr als objektive Realität auffassbar, sondern vielmehr allein als Bewegungskonzepte in unterschiedlichen Seelenvermögen angelegt. In diesem Sinn ist im Leviathan die Rede davon, dass die Vergangenheit nur im Gedächtnis und die Zukunft nur in der Einbildungskraft, als fiction of the mind, vorkomme; ›existent‹ im eigentlichen Sinne seien folglich nur die Dinge (things) und Prozesse (actions) in der Gegenwart zu nennen: The Present onely has a Being in Nature; things Past have a being in the memory onely, but things to come have no being at all; the Future being but a fiction of the mind, applying the sequels of actions Past, to the actions that are Present. 280
War noch ganz zu Beginn des Leviathan von einem gewissen Druck die Rede, der in unterschiedlichem Grade Wirkungen auf die menschlichen Organe zeitige, so ist es hier die Folge der Bewegungen, in Form von sequels of actions, die sich über die Tätigkeit des Geistes auf die gegenwärtigen Bewegungen applizieren ließen. Mit dem Wechsel von unmittelbarem Druck zu Sukzessionsfolgen ist jedoch keineswegs das grundsätzlich mechanische Wesen der Bewegung in Frage gestellt; sie wirkt hier nach wie vor von außen nach innen auf die einzelnen Seelenteile und affiziert diese mit Eindrücken – woraus in der Folge dann auch gelegentlich Fiktionen hervorgehen können. In der Erzeugung der phantasmata (in De corpore) beziehungsweise fancies (im Leviathan) werden somit weder Zeit noch Bewegung transzendiert, vielmehr sind die phantasmata selbst als schiere Resultate der Bewegung aufzufassen. Abgesehen von einem grundständigen Konnex zwischen Seele (mind; anima) und Bewegung (action, motion; actio, motus) erscheint es nicht gerade viel, was vom klassischen Aristotelismus hier noch übrig bliebe. 281 Für Galilei und Hobbes, Leviathan, 1, 3, 21. Der von Hobbes nicht nur an dieser Stelle favorisierte Ausdruck des Being in Nature prädiziert einen Wirklichkeitsbegriff, der zwar an die etablierten Kategorien des ens und der natura anschlussfähig ist, sie aber auf eine ausschließlich präsentische Gegebenheit reduziert – eine Vorstellung, die etwa für einen mit Augustinus und Thomas vertrauten Scholastiker nicht denkbar gewesen wäre. 281 Die Seele ist sowohl in ihren Teilfunktionen als auch als Ganzes auf das hier vorgeführte Bewegungsprinzip reduzibel. Bei Aristoteles stellt die Bewegung gar die ursprünglichste Eigenschaft der Seele dar. Hobbes greift zwar auf diese Grundannahme zurück, errichtet hieraus aber im Unterschied zu Aristoteles keine Dialektik von bewegtem Bewegendem und unbewegtem Bewegendem. Ferner kommt der Seele hier nicht mehr das allein stellende Merkmal zu, den Lebensgeist (Aristoteles: πνεῦµα/pneûma; Hobbes: animal spirit) aufrecht zu erhalten. Vielmehr wird sie hier zu 280
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Kepler wären die in Tradition der successiones hier noch im Sinne der sequels aufscheinenden Bewegungsabläufe vielleicht noch zu einem Teil hinnehmbar, solange die Bewegungen nur eine Art von Entsprechung zum Gesamtaufbau des Kosmos aufwiesen. Aber auch dies können Leviathan und De corpore nicht bestätigen. Jedwede Analogie zu einem wie auch immer sphärisch gefassten Weltenbau scheitert schon daran, dass es keine zirkulären oder elliptischen Bewegungsarten sind, die sich als urtümlich annehmen ließen; vielmehr sei es Geradlinigkeit – sowie die daraus ableitbare Kausalität –, durch die sich die Bewegung als naturphilosophisches Prinzip auszeichne. In De corpore wird eben diese auf einfache und geradlinige Figuren abzielende Axiomatik vorgeführt – unter Zuhilfenahme eines Vokabulars, das einen zusehends geometrischeren Zuschnitt erfährt: Wenn irgendein Körper sich bewegt und keine Größe in Erwägung gezogen würde (auch wenn es immer irgendeine gibt), so wird der Weg, den er durchquert, eine Linie, oder auch eine einzige und einfache Dimension genannt, der Raum indes, den er durchquert, wird Länge und der Körper selbst ein Punkt genannt; in dem Sinne, in dem man die Erde einen Punkt und ihren Jahresumlauf eine ekliptische Linie zu nennen pflegt. 282
Es gibt also so etwas wie eine urtümliche Bewegungsform, die den Körpern zukomme – eine auch in der Astronomie übliche Annahme, jedoch in ganz anderer Ausformung als im Platonismus und Aristotelismus: Die Körper streben hier grundsätzlich nicht nach Kreisbahnen, sie bilden nicht einmal mehr Ellipsen, sondern bewegen sich in Linearität, das heißt in einer einzigen und einfachen Dimension (dimensio una et simplex). Die ekliptische Linie (linea eccliptica) ist dementsprechend nur eine andere, jedoch sinngemäße Bezeichnung (eo sensu) für diese Bewegungsart. Geradlinigkeit, Folgerichtigkeit und einem Operator in Bezug auf die eigene Sinnlichkeit unter Anleitung des menschlichen Agenten – ein Gedanke, der sich bereits seit dem Short tract on first principles (1630) in der hobbesschen Philosophie ausmachen lässt; vgl. Leijenhorst (2002), 69: »Although Hobbes does mention the soul, he does not give it a traditional place in the account of sense perception. He classifies the soul as one of the possible agents that move the animal spirits in the act of sense. However, Hobbes proves that the soul’s agency is only possible when we assume that the soul is itself moved by the species«. Die verdienstvolle Untersuchung Leijenhorsts kommt insgesamt nicht ganz zu den Ergebnissen, die man vielleicht mit Blick auf ihren Titel The mechanisation of Aristotelianism annehmen könnte: Die Philosophie Hobbes’ gründe sich zwar auf einem aristotelischen Begriffstableau, baue daraus jedoch völlig andere Strukturen auf – ein Befund, der mit Blick auf andere Philosophen de 17. Jahrhunderts wenig spezifisch anmutet. 282 Hobbes, De corpore, § 12, 98 f.: »Si corporis quod movetur, magnitudo (etsi semper aliqua sit) nulla consideretur, via per quam transit, linea, sive dimensio una et simplex, dicitur, spatium autem quod transit, longitudo, ipsumque corpus punctum appellatur; eo sensu quo terra punctum, et via ejus annua linea eccliptica vocari solet«.
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Kausalität sind hier eng aufeinander bezogen zu denken und werden über die Bewegung der Materie realisiert. Mechanisch ist hieran, dass die Bewegung aus Druck zwischen den Körpern besteht; materialistisch ist hieran, dass außer der Materie keine weitere objektive Trägergröße hierfür angenommen wird; und monistisch ist hieran, dass die Unterschiede zwischen diesen Dimensionen möglichst keine Rolle spielen sollen. Ziehen wir noch etwas genauer in Betracht, inwiefern diese Prinzipien von Hobbes auch auf die Psychologie übertragen werden. Was genau passiert, wenn wir meinen, dass unsere Einbildungskraft Phantasiebilder in (scheinbarer) Selbsttätigkeit hervorbringe? Eine prägnante Antwort hierauf gibt ein weiteres Mal der Leviathan: All Fancies are Motions within us, reliques of those made in the Sense: And those motions that immediately succeeded one another in the sense, continue together also after Sense: In so much as the former comming again to take place, and be prædominant, the later followeth, by coherence of the matter moved, in such manner, as water upon a plain Table is drawn which way any one part of it is guided by the finger. 283
Zwei wesentliche Zuschreibungsmomente kommen hier zum Ausdruck: Zum einen wird die Bewegung nicht von den realen Entitäten entrückt, insofern sie als motions of matter und dann als sequels of actions in der menschlichen Außen- wie Innenwelt stets präsent und wirksam bleibt. Es handelt sich demnach um keinen planen Materialismus, der hier zur Darstellung kommt. Hobbes benötigt im Leviathan wie in De corpore vielmehr die Bewegung als erstes sinnliches und zugleich allen Sinnen vorgeschaltetes Prinzip; ebenso benötigt er die Geometrie als Disziplin, um bereits im frühesten theoretischen Stadium Kausalität und Sukzession als die wichtigen Prinzipien des Mikro- wie des Makrokosmos vorzuführen. Hierdurch wird eine erstaunliche Kontinuität zwischen äußerer Welt, den Sinnen und der Einbildungskraft gewährleistet. Carrier und Mittelstraß ist nicht vorbehaltlos zuzustimmen, wenn sie behaupten, »this [Gassendi's; D. B.] materialist view appears in radicalized form in Hobbes.« 284 Eher lässt sich sagen, dass Hobbes' Materialismus aus einer monistischen Denkfigur heraus fassbar wird, die sich mehr auf die Erscheinungsarten sowie – vor allem – auf die Auswirkungen einfacher Bewegungen als auf die Materie als stoffliches Prinzip als solches konzentriert. Hierdurch setzt Hobbes einen merklicheren Reizpunkt als etwa Spinoza, der zwar auch von einer einzigen Substanz in der Welt ausging, diese aber immerhin nach zwei Gege283 284
Hobbes, Leviathan, 1, 3, 19. Carrier / Mittelstrass (1995), 29.
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benheitsweisen ausdifferenzierte, die er als die körperliche und die geistige Welt bezeichnete. 285 Es ist – im Gegensatz zu der gelegentlichen Verortung Hobbes' als eines Empiristen – auch gar nicht so sehr die erfahrungsgemäße Erfassung der Bewegung als vielmehr die ihr zukommende Folgerichtigkeit, die für Hobbes zählt. Sie lässt sich auf Grundlage ihrer Mechanik und ihrer Geometrizität beschreiben und bildet für Hobbes offenbar einen entscheidenderen Faktor, als es ein sich der Erfahrung verschreibender Empirismus oder ein sich der Kontingenz verpflichtender atomistischer Materialismus leisten könnte. Die Kausalität wird stets höher veranschlagt als die Kontingenz. 286 Denkt man diese Philosophie zu Ende, so ist die menschliche Psyche letztlich nichts anderes als das Resultat linearer Bewegungen. Bei der Begründung dieser Philosophie spielt indes das geometrische Moment, wie vor allem aus De corpore ersichtlich wurde, eine tragende Rolle, insofern Größen wie longitudo, corpus, punctum, linea etc. das mechanische Wirken der Materie erst erfassbar machen. Hatte die Materie durch die Ausarbeitung stofflicher Größen wie des Masse-, Schwere- und Gewichtsbegriffs bereits im 16. Jahrhunderts eine beispiellose Sublimierung erfahren, so sorgt die Rolle der Bewegung hier für den Einschluss von Krafttheorie und Geometrie in ein einziges, monistisches Grundparadigma. Mögen auch Descartes und Hobbes gemeinhin als prototypische Vertreter einer ›französischen‹ und ›englischen‹ Philosophie eingestuft werden und ihre Grundannahmen in Konkurrenz, ja Unverträglichkeit zueinander gesehen werden, so zeigt sich doch anhand des basalen Status, welcher der linearen Bewegung bei beiden Protagonisten zukommt, eine die Grenze zwischen kontinentaler und englischer Philosophie übergreifende Konstante. Die begriffliche Aufwertung der Bewegung entwickelt sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem regelrechten naturphilosophischen Politikum. Die Bewegung findet in den Philosophien, Wissenschaften und Populärwissenschaften weiterhin höchst prominente Befürworter, wenn es darum geht, sie gegenüber den ›klassischen‹ Eigenschaften, in denen die Materie ihrer Wertigkeit nach gegenüber dem Geist degradiert wurde, hochzuhalten. In der englischen Philosophie wird es Newton sein, der den Primat der Bewegung, worunter bemerkenswerterweise auch die Ruhe (quies) selbst zu subsumieren sei, hochhält. So kehrt er gleich zu Beginn seiner epochemachenden Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1686) den Aspekt hervor, alles in der Natur sei grundsätzlich Vgl. Spinoza, Ethica, insbesondere prop. 17–21. Nicht konsistent wären ansonsten Annahmen von Hobbes wie diejenige, dass selbst Gedankenfolgen, die uns zufällig erscheinen, nicht unbedingt unmotiviert sein müssen; vgl. Hobbes, Leviathan, 1, 3, 18 f.: »When a man thinketh on any thing whatsoever, His next Thought after, is not altogether so casuall as it seems to be. Not every Thought to every Thought succeeds indifferently«. 285
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in Bewegung – und dies gegenüber vorgeblich grassierender und obendrein falscher Populärmeinungen zu diesem Thema: Das gewöhnliche Volk hat ruhenden [sc. Körpern] einen Widerstand und sich bewegenden [sc. Körpern] einen Impuls zugeschrieben. Aber Bewegung und Ruhe, wie sie allgemein aufgefasst werden, sind nur relativ voneinander verschieden; auch befinden sich die Dinge nicht immer tatsächlich im Ruhezustand, die man für gewöhnlich für ruhend hält. 287
Diese in der Definitio iii ausgedrückte Relativität, die zwischen Ruhe und Bewegung anzusetzen sei, ist zweifellos zu den wichtigsten Grundaxiomen der newtonschen Physik zu zählen. Nicht zuletzt geleitet von den Erkenntnissen mikroskopischer Weltbetrachtungen wird hier vertreten, dass Körper, die in einem ruhenden Zustand (quies) zu sein scheinen, sich dem normalen Blick zum Trotz eben doch in minimaler Bewegung (motus) befinden. Und selbst wenn sie vollkommen ruhen (quiescere) sollten, so wäre dies nicht als ein zur Bewegung entgegengesetzter, sondern lediglich als ein in demselben System befindlicher Zustand eines Körpers zu deuten. Ein eigenes Beschreibungssystem – das sich traditionellerweise etwa aus der Statik beziehen ließe – ist dementsprechend für ruhende Gegenstände gar nicht mehr nötig; die Mechanik hat die Statik mittlerweile in sich subsumiert. Newton beginnt die Lex i mit einem Axiom, das besagt, dass »jeder Körper in seinem Zustand, zu ruhen oder sich geradeaus zu bewegen, verharrt, sofern er nicht von eingedrückten Kräften dazu gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern.« 288 Die Richtung wird hier, ganz wie bei Descartes und Hobbes, als eine einfache Gerade angenommen (in directum); wie bei Descartes, wird hier auch nicht an der grundsätzlichen Aufrechterhaltung der Bewegung gezweifelt. 289 Es besteht ein Verharren (perseverare) im jeweiligen Zustand, solange keine akzidentellen Einflüsse auf den Körper einwirken, mithin wird eine Relativität zwischen dem Zustand angenommen, den der Körper ›von sich aus‹ mitbringt, sowie den äußeren Einflüssen. Zum Ausdruck kommt diese Relativität darüber hinaus in der grundsätzlichen Annahme, dass actio und reactio in Entsprechung zueinanderstehen (insofern eine Aktion eine quantitativ vergleichbare 287 Newton, Principia Mathematica, Def. III , 2: »Vulgus resistentiam quiescentibus & impetum moventibus tribuit: sed motus & quies, uti vulgo concipiuntur, respectu solo distinguuntur ab invicem; neque semper vere quiescunt, quæ vulgo tanquam quiescentia spectantur«. 288 Ebd., Lex I , 13: »Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus illud a viribus impressis cogitur statum suum mutare«. 289 Das folgende Beispiel der projectilia erinnert an Descartes’ projectum, auch der Widerstand der Luft (resistentia aëris), der von Descartes zu diesem Zwecke in den Principia angeführt wurde, wird an dieser Stelle von Newton aufgegriffen.
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Reaktion hervorruft) und zugleich entgegengesetzt sind (insofern ihre mechanischen Formen – etwa ›Anstoß‹ und ›Abstoß‹ – natürlich gegenteilige Prozesse bezeichnen). Diese Ansicht wird in einem weiteren Axiom der newtonschen Mechanik, in der Lex iii, ausgedrückt; dort heißt es, dass es zu einer Aktion immer auch eine entsprechend entgegengesetzte Reaktion gibt beziehungsweise dass sich die wechselseitig einander gegenübergestellten Aktionen zweier Körper stets gleich und in entgegengesetzten Richtungen ausrichten. 290
Sowohl die hier veranschlagte wechselseitige Bedingtheit von Aktion und Reaktion als auch die in der Definitio iii ausgedrückte Relativierung von Ruhe und Bewegung wird noch in der Behandlung der newtonschen Krafttheorie, der wir uns in Kapitel iii.3.b zuwenden werden, eine zentrale Rolle spielen. Bei aller Relativität, die zwischen den Aktionen der Körper zu herrschen habe, hält Newton aber die theoretische Existenz genau zweier Grundzustände (status quiescendi vs. status movendi) durchaus aufrecht. Dieser Unterschied wird nun von Seiten der Newton-Rezipienten indes immer weiter nivelliert, die Relativität zugunsten der Annahme ubiquitärer Bewegungen weithin ausgedehnt. Dabei wird bisweilen eine Haltung eingenommen, die besagt, dass es in der Welt eigentlich überhaupt keine Ruhe mehr geben müsse, sondern vielmehr alles in Bewegung sei. So wird mit John Toland (1670–1722) ein Philosoph der irischen Aufklärung in seinem von Beginn an zur Veröffentlichung angelegten Briefverkehr Letters to Serena (1704) 291 den oben angeführten newtonschen Passus aus der Definitio iii zitieren, 292 ferner in eklektischer Manier zwei weitere Stellen aus den Principia anfügen, die besagen, dass zum einen »sich vielleicht kein Körper in absoluter Ruhe befindet« und zum anderen »sich vielleicht kein unbewegliches, körperliches Zentrum in der Natur finden lassen wird.« 293 Toland verdichtet diese Exzerpte auf sein Hauptanliegen hin, das sich weitestgehend mit demjenigen deckt, was schon bei Hobbes zu beobachten war, dass nämlich Bewegung als eine essentielle Qualität der Materie zu gelten Ebd., Lex III, 14: »Actioni contrariam semper et aequalem esse reactionem: sive corporum duorum actiones in se mutuo semper esse aequales & in partes contrarias dirigi«. 291 Bei der titelgebenden Serena handelt es sich um Sophie Charlotte von Hannover (1668– 1705), ab 1701 Sophie Charlotte von Preußen. Wenn Toland in den Briefen eine männliche Person anspricht, so ist damit der hugenottische Gelehrte Pierre Desmaizeaux (1666–1745) gemeint (vgl. Woolhouse [1998]); zum literarischen Spiel der Kunstbriefkorrespondenz in den Letters vgl. Leask (2013). 292 Vgl. Toland, Letters to Serena, Letter V , 144. 293 Ebd. Tolands Äußerungen beziehen sich an dieser Stelle darauf, dass laut Newtons in der Lex I formuliertem Trägheitssatz die gleichförmige Bewegung als Normalzustand eines Körpers anzusehen ist, für den es keines weiteren zugeführten Kraftaufwands bedarf. 290
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habe – nicht jedoch, ohne sich zuvor für seinen Kompilationseifer zu rechtfertigen: Ich brauche wohl Sie, mein Herr, wegen dieser Ausführlichkeit [sc. des Anführens von Newton] nicht um Verzeihung zu bitten, einmal, weil sie mich darum ja gebeten hatten, und zum anderen, weil ich es nur zum Nutzen derjenigen tat, die vieles von all dem, was ich bei Ihnen voraussetzen darf, nicht kennen. Diesen können Sie nunmehr meinen Brief zeigen oder aber vortragen. Ich denke, ich kann es nun, nach all dem Gesagten, wagen, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Bewegung eine wesentliche Eigenschaft der Materie ist, da sie das reale Subjekt all jener Modi kationen sein kann, die wir Ortsbewegungen, Veränderungen, Verschiedenheiten oder Unterschiede nennen. Ich kann dies vor allem deshalb tun, weil die Vorstellung von einer absoluten Ruhe, auf der ja die Vorstellung von der Inaktivität oder Trägheit der Materie aufgebaut war, völlig widerlegt wurde und weil ich bewies, dass diese absolute Ruhe nirgendwo existiert. 294
Eine umfassende Bewegungstheorie wird gegenüber der Statik ausdrücklich bevorzugt: Mit den angeführten Ortsbewegungen und Veränderungen werden zwei kinetische, mit den Verschiedenheiten und Unterschieden hingegen zwei statische Aspekte der Materie herangezogen und über die Bewegung auf eine einzige paradigmatische Ebene gebracht. Zusammengeschlossen werden hierüber die materiellen Eigenschaften, die sich verändern, und diejenigen, die distinkt als solche in der Materie selbst vorliegen. Es ist demnach nicht mehr viel, was von der Differenzierung zwischen natura naturans und natura naturata hier noch übrigbleibt. Galileis und Keplers Festhalten an einer körperlichen Trägheit – das nach Tolands polemischer Einlassung mittlerweile zu einer weithin verbreiteten Fehlmeinung herabgekommen sei – wird hier nun wieder an seinen aus dem Aristotelismus und Platonismus bekannten Ort gesetzt, nämlich in ihre Rolle als Antipode zur Bewegung. Die Ruhe entspricht wieder der körperlichen Trägheit, die Bewegung der Aktivität. Jedoch ist die Bewegung in der Lage, jene zu umschließen beziehungsweise mit erklärbar zu machen. Unter der Ägide der newtonschen Autorität – über die zwei Jahrzehnte nach Erscheinen der Principia unter den Gelehrten Europas offenkundig kein Zweifel mehr besteht – 295 müsse der Ruhe eine ontische Qualität schlechthin abgesprochen werden, wohingegen die Bewegung geradezu ubiquitär und omnipräsent in Erscheinung tritt. Sie erfährt dabei eine Ausweitung bis hin zu der Annahme, dass sogar die Ruhe selbst nichts anderes darstelle als einen Toland, Letters to Serena, Letter V, 144 f. Zur Rezeption Newtons in der Wissenschafts- und Gelehrtenwelt, die im Europa des 18. Jahrhunderts teils in den Zustand regelrechter Apotheosen geriet, vgl. die Studie von Wagner (1974). 294 295
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Spezialfall von Bewegung beziehungsweise einen bestimmten Modus des bewegten Körpers (corpus motum). Der Bewegungsbegriff durchdringt somit diejenigen Disziplinen, die nach hergebrachter Auffassung bislang vor allem in statischen Systemen zu beschreiben waren: Wo die Mathematik als abstrakt und unveränderlich galt, die Geometrie zeitliche Aspekte vollkommen auslagerte und die Kosmologie sich vor allem mit dem Fixsternhimmel, also einem unveränderlichen Gebilde, befasste, wird nun die Bewegung zu einer zentralen Bestimmungsgröße naturphilosophischer und, wie bei Hobbes zu sehen, sogar gewisser psychologischer Betrachtungen. Betrachten wir diesen Befund nun auf der Folie des Aristotelismus: Auf den ersten Blick scheinen die mechanischen Bewegungsgesetze von Descartes, Hobbes und Newton dort durchaus wohl begründet zu sein oder zumindest keinen unüberwindbaren Widerspruch zu bilden: Sie sind als Translationsgesetze (›von A nach B‹) auffassbar und bedeuten bei Descartes wie bei Hobbes wie bei Newton in erster Linie Ortsveränderungen. Bei Descartes geht dies, wie gesehen, einher mit einem Begriff von Quantität, bei Hobbes von Kausalität und bei Newton von Relativität. Ortsveränderungen fallen nun bei Aristoteles, wie auch Anfang (ἀρχή/arch´¯e), Umschwung (µεταβολή/metabol´¯e) und Energie (ἐνέργεια/enérgeia), ebenfalls unter die Grundkategorie der Bewegung (κίνησις/kíne¯sis); sie werden von Aristoteles auf die Weise bestimmt, dass sie aus einem korporalen Größenbegriff heraus zu erklären seien: Der Ort eines Körpers sei von der ersten unbeweglichen Grenze (πέρας ἀκίνητον πρῶτον/péras akíne¯ton prôton) bestimmt, die ihn umgibt. 296 Bewegung im Sinne der Ortsveränderung findet daher hochgradig relational, nämlich im Verhältnis zu der jeweiligen Körpergrenze, dem πέρας (péras) statt. Dieses Prinzip kann somit zwar für geometrische und mechanistische Bewegungstheorien eine hervorragende Rolle spielen, eine entelechische Struktur ist durch die Koppelung an eine Körpergrenze indes bei weitem noch nicht bezeugt. Das πέρας definiert vielmehr den Körper als solchen. Die Körperwelt behält dadurch einen gewissen Vorrang gegenüber der Welt der bewegten Gegenstände beziehungsweise der Bewegung selbst bei. Anders gewendet: Um Bewegung zu erfassen, müssen wir zunächst über einen Körperbegriff verfügen, nicht jedoch umgekehrt. Um Bewegung nun aber als einen Vorgang energetischer Verwirklichung fassbar zu machen, ist die Natur (φύσις/phýsis) einer Entität mit einzubeziehen. Denn naturgemäße Bewegungen sind ja gerade von demjenigen bestimmt, was über das Prinzip der schieren Ortsveränderung hinausgeht: von der Entstehung Vgl. Aristot., phys., 3, 5, 205a10–206a7. Ein solches Ansetzen eines relationalen Ortsbegriffs, der dann auch die Grundlage des Bewegungsbegriffs bildet, hatten wir explizit in Descartes’ Principia Philosophiae vorfinden können. 296
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einer ἐνέργεια (enérgeia) aus einer δύναµις (dýnamis) heraus. 297 Dass eine Hauptfunktion der κίνησις in der Verwirklichung einer Entität hin zu ihrer natürlichen Gestalt besteht, war bereits in Kapitel ii.2 und ii.5.a der Studie Gegenstand philosophischer und poetologischer Betrachtungen geworden – dort unter besonderer Rekurrenz auf die Poetik, Physik und Metaphysik. Dabei erwies sich nicht nur der enge Zusammenhang von δύναµις, ἐνέργεια und κίνησις als das transdisziplinär bestimmende Moment, sondern es zeichnete sich auch ein bemerkenswerter Umstand ab: Die schöpferische Tätigkeit (ποιεῖν/poieîn) ist bei aller Handwerklichkeit, die ihr im Sinne einer τέχνη (téchne¯) zukommt, mit eidetischen Naturvorstellungen verbunden – das heißt, mit der φύσις (phýsis) in Bezug auf eine Form (εἶδος/eîdos). Die φύσις (phýsis) bietet somit nicht weniger als die Grundlage für schöpferische Bewegungen, willentliche wie unwillentliche; ihr gegenüber müssen außerordentliche – das heißt, Eingriffe, die von Kontingenz zeugen könnten (ἀπὸ µηχανῆς/apò me¯chanês, κατὰ συµβεβηκός/katà symbebe¯kós) – ihrem ontologischen Rang nach zurücktreten. Von derartigen energetischen Verwirklichungen konnte nun im vorherigen Kapitel hinsichtlich der Philosophien Descartes', Hobbes' und Newtons keine Rede sein. Sie kämen nicht auf die Idee, Bewegungsursachen (causae moventes) mit entelechischen Ursachen (causae finales), etwa das Fallen eines Gegenstandes mit dem Streben nach seiner natürlichen Bestimmung, im Sinne der aristotelischen Ursachenlehre, gleichzusetzen; sie gehen vielmehr von einer einfachen linearen Bewegung aus, die sich geometrisch exakt bestimmen lasse. Und wenn bei ihnen andere philosophische Bereiche ins Spiel kommen – etwa die Beschreibung der Sinnesfunktionen und der Einbildungskraft –, so enden derartige Einlassungen doch immer wieder bei der Bestimmung einer Quantität (quantitas motu¯ s). Somit scheinen sie um einen gewichtigen Bereich der aristotelischen Philosophie, nämlich denjenigen, welcher die Bewegung dem Bereich des naturgemäßen Strebens zuordnet, einen großen Bogen zu machen. Auf genau diesen Aspekt soll nun im Folgenden der Fokus gelegt werden. In der Bewegung mehr zu sehen als die Besetzung eines Ortes, als die kausale Verkettung körperlicher Ereignisse oder als die Wechselwirkung von Körper und Umgebung, stellt ein dezidiertes Anliegen der Philosophien Aristoteles', Keplers und Leibniz' dar. Kosmos, Bewegung und Seele gelten ihnen als zusammengehörig. In ihren naturphilosophischen Theorien prägen sich daher erstaunliche Analogien zwischen diesen Begriffsverbunden aus, die für unser Thema von einigem Interesse sind. Erinnert sei an die prägnante Formulierung bei Aristot., phys., 3, 1, 201a10 f.: »ἡ τοῦ δυνάµει ὄντος ἐντελέχεια, ᾗ τοιοῦτον, κίνησίς ἐστιν.« (»Die Verwirklichung eines bloß der Möglichkeit 297
nach Vorhandenen, insofern es ein solches [sc. Vorhandenes] ist, ist Bewegung.«).
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2.b. Bewegung II: Aristoteles, Kepler und Leibniz
Ganz offensichtlich hat Aristoteles die Notwendigkeit gesehen, neben der auf einer körperlichen Grenze beruhenden Bewegung auch eine auf metaphysischen Prinzipien beruhende Bewegung zu konzipieren. Nach der im dritten, vierten, siebten und achten Buch der Physik entwickelten Theorie Aristoteles' besteht die wesensgemäße Funktion der Bewegung vor allem darin, dass durch sie Übergänge von potentiellen in aktuale Zustände umgesetzt werden. Mit dem Wachsen (αὔξησις/aúxe¯sis) und Schwinden (φθίσις/phthísis) fallen hierunter auch Vorgänge, die aus Sicht der bisher behandelten Philosophen gar nicht unbedingt als Bewegung gelten müssen, da sie scheinbar nicht mit einer Veränderung des Ortes verbunden sind, sondern zu den notwendigen Vitalprozessen von Lebewesen zu zählen sind. Die Bewegung geht also über ein Vermögen hinaus, indem sie sich auf den energetischen Zustand richtet, zugleich bezeugt sie jedoch auch rückwirkend das Vermögen, insofern es ohne dieses Vermögen zu etwas auch keine Bewegung zu etwas gibt. Somit können die Herleitungen von Bewegungen, wenn ihre Entelechie nicht Gegenstand des Interesses sein sollen, in der Disziplin der Kinematik behandelt werden (motus), während sich die mit einer Zweckursache verhaftete Bewegung besonders zur Fundierung eines dynamischen Naturbegriffs eignet (vis). Denn wo die Kinematik Bewegungen anhand punktueller, linearer und korporaler Größen beschreibt, lässt sich mit der Dynamik eine Kraft als Bewegungsursache mit einbeziehen – wobei dabei zunächst offengelassen werden kann, ob diese nun kausalursächlich gefasst oder mit entelechischem Potential ausgestattet werden sollte. Das Prinzip der Entelechie muss nicht von der Existenz einer Seele oder eines Willens abhängen. Denn auch ein fallender Körper strebt nach etwas, nämlich zu seinem naturgemäßen Aufprallort. 298 Die Bewegungsursache wird dann, je nach Blickwinkel, zur Wirk- oder Zweckursache eines Gegenstands erhoben. Sie kann – zwar nicht mit cartesischer, hobbesscher oder newtonscher, sehr wohl jedoch mit aristotelischer Beglaubigung – auch beides zugleich erfüllen. 299 In der Ursache der Bewegung können somit im Gegensatz zur Bewegung Vgl. auch Hecht (2009), 33: »Will man etwa die Bewegung des freien Falls von Körpern beschreiben, so ist es mit dem Hinweis auf ein Kausalgesetz, wie es heute im Allgemeinen geschieht, keineswegs getan [. . . ] Grundlegend für Aristoteles ist die Tendenz des Körpers zu etwas hin, zu einem Ziel, dem natürlichen Ort, der für jedes Ding einzigartig ist. Die Tendenz zu seinem natürlichen Ort ist dem Körper wesenseigen und eine Konsequenz aus dem Postulat, dass Körper leicht oder schwer sein können. Leichte Körper besitzen die Tendenz aufzusteigen, schwere abzusinken. In beiden Fällen handelt es sich um inhärente Eigenschaften, d. h. um Eigenschaften, die einem Körper unabhängig von der Existenz anderer zukommen«. 299 Vgl. hierzu die solcherart akzentuierte Zusammenfassung des aristotelischen Standpunkts bei Dijksterhuis (1956), 46: »Bewegung ist die Form- oder Zweckverwirklichung des potentiell Sei298
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selbst – die ja in jedem Falle einen Vollzug darstellt, sei es von Ort A nach Ort B oder vom potentiellen in den energetischen Zustand – theoretisch Ziel und Grund in eins fallen. Der Weg hin zu einer Naturphilosophie, die das entelechische Potential ebenso umfasst wie die energetische Umsetzung des selbigen in Form von (Orts-)Veränderungen, führt also vom Bewegungs- zum Kraftbegriff, ohne dass die Bewegung dabei als solche aufgelöst werden müsste. Auf der Suche nach Bewegungsursachen und -zielen stellt sich für den Naturphilosophen zuvorderst die Aufgabe, einen ersten Anstoß zurück zu verfolgen und zu prüfen, ob diesem eine eigenständige Bewegungsursache zukomme oder eine von außen induzierte. Maßgeblich hierfür ist das siebte Buch der Physik, insbesondere dessen einleitendes Axiom »Alles Bewegte muss von etwas bewegt werden.« 300 Wir sehen hier die gegensätzlichen Prinzipien von Aktivität und Passivität anhand des Begriffspaares des Bewegenden (κινοῦν/kinoûn, movens) und des Bewegten (κινούµενον/kinoúmenon, motum) in voller Gültigkeit vorliegen. Auch im Rahmen der hierarchisierten Wirklichkeitslehre Aristoteles' bleibt dieser Gegensatz erhalten: Jede extrinsische Bewegungsursache müsse nun wiederum von etwas anderem bewegt werden, dies dürfe jedoch nicht in einer irreduziblen Reihung oder gar einer zirkulären Begründung aufgehen; vielmehr müsse es so etwas wie einen ersten Beweger geben, wie Aristoteles mit großer Deutlichkeit darlegt: »Es gibt irgendein erstes Bewegendes, und man darf dabei nicht ins Unendliche fortfahren.« 301 Bewegungen erhalten ihren Rang demzufolge aufgrund einer Ursächlichkeitshierarchie – vom ersten Bewegungsgrund, der selbst unbewegt ist, bis zum letzten Bewegten, das selbst nichts mehr bewegt –, an deren Anfang also der unbewegte Beweger (κινοῦν ἀκίνητον/kinoûn akíne¯ton) und an deren Ende wiederum die Materie (ὕλη/hýle¯) steht. Die Rezeption dieses Prinzips bleibt im Mittelalter wie in der Renaissance-Philosophie geradezu regelhaft von jener diathetischen Opposition zwischen dem movens (grch.: κινοῦν/kinoûn) und dem motum (grch.: κινούµενον/kinoúmenon) bestimmt. Diese wird dann bereits in der Scholastik noch häufiger auf die Begriffe eines motor und eines mobile gebracht. 302 Erkennt man Aristoteles weiterhin als philosophische Autorität, als den philosophus schlechthin an, an dem sich auch die frühneuzeitlichen Philosophien zu messen haben, so drängt sich ein enden, dieses betrachtet in seiner Potenz zu einer bestimmten Form oder seiner Eignung zu einem bestimmten Zweck. Wir bemerken noch, daß bei der lokalen Bewegung Form- und Wirkursache zusammenfallen können«. 300 Aristot., phys., 7, 1, 241b34: »ἅπαν τὸ κινούµενον ὑπό τινος ἀνάγκη κινεῖσθαι« (Hervorhebung in der Übersetzung: D. B.). 301 Ebd., 7, 1, 242a53 f.: »ἀνάγκη εἶναί τι τὸ πρῶτον κινοῦν, καὶ µὴ βαδίζειν εἰς ἄπειρον«. 302 Vgl. hierzu Maier (21952), 143–256 und Dijksterhuis (1956), 194–208.
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beträchtliches Problem auf. Es besteht darin, dass die kausal verursachten Bewegungen bei Aristoteles gegenüber den finalursächlichen, von der potentia auf den actus zielenden Bewegungen nicht denselben Naturstatus, mithin nicht dieselbe Dignität innehaben. Hierzu sind die Implikationen zu beachten, die das Konzept des unbewegten Bewegers enthält: Die erste Bewegungsursache kann selbst nicht von einer Bewegung verursacht werden, sehr wohl jedoch ein Ziel verfolgen. Sie ist daher eine ausschließlich entelechische und nicht mehr kausal verursachte Größe. Die Entelechie reicht also in die Ursachenlehre – so man sie als Bewegungstheorie versteht – weiter hinein als die Kausalität. Im Zuge der Auseinandersetzungen mit dem Aristotelismus stellt es nun eines der wichtigsten Anliegen für die Mechanik dar, sich die Bewegung systematisch anzueignen und dabei einen gangbaren Weg zu formulieren, der sie auch als ernsthafte Alternative zu den beiden Konzeptpaaren motor/mobile und potentia/actus erscheinen lässt. Das Interesse der Mechanik ist nicht auf die bloße Affirmierung des Kausalitätsprinzips zu beschränken, sondern hat darin zu bestehen, nicht nur die Bewegungen anhand der Weltphänomene erklärbar zu machen, sondern darüber hinaus die Welt durch Bewegungen erklärbar zu machen. Mag also auch die quantitative Wirklichkeit über Kausalursächlichkeit bestimmbar sein, so ist damit noch nicht der Gedanke verworfen, dass im anstoßgebenden Prinzip eine Zweckursache zu verorten ist. Die neue paradigmatische Erhöhung der Bewegung besteht demgemäß darin, sie aus ihrem Korsett als anstoßgebendes oder -erhaltendes Momentum gleichsam herauszulösen, und sie zu einem ersten Naturprinzip, mitunter gar bis hin zur ersten Ursache der menschlichen Erkenntnis weiterzuentwickeln. Hierzu ist in besonderer Weise die Denkfigur zu zählen, die geistige Sphäre formal gültiger Wahrheiten, die nach antikem Denken – im Kontrast zur kontingenten Wirklichkeit – noch unbeeinflussbar und unveränderlich sind, und daher gewissermaßen in sich ruhen, in Bewegungszusammenhänge einzubetten. Anders gewendet: Die Annahme, dass Bewegung ubiquitär in der Welt vorherrsche, sorgt auch dafür, dass die Analogisierung von Mensch und Kosmos im Rahmen eines mechanistischen Weltbildes funktioniert – und zwar nicht rein kausal. Der Zusammenschluss von Natur, Bewegung und Seele führt uns das neue Verständnis vor, das der Mensch über sich selbst und die Welt gewinnt. Wie wir in Kapitel iii.1.c.β vor allem mit Blick auf Galilei, Kepler und Baliani sehen konnten, sind es in disziplinärer Hinsicht die Astronomie und Kosmologie sowie in methodischer Hinsicht die Mathematik und Geometrie, die sich für Exaktheit, Zuverlässigkeit und Allgemeingültigkeit der Erkenntnisse verbürgen und sich entweder mit Bewegungen als einem ihrer Primärgegenstände beschäftigen (Astronomie, Kosmologie) oder diese zur formalen Repräsentation bringen und ihre Quantifizierbarkeit, mithin ihre mathematische Behandlung
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ermöglichen (Arithmetik, Geometrie). Somit wird die Bewegung vor allem im Austausch dieser Disziplinen als ein Prinzip für die frühneuzeitliche Psychologie erschlossen. Aus der Dynamisierung dieser Disziplinen folgt auch eine Dynamisierung der Psychologie. Dem Platonismus und Aristotelismus wird somit ein Drittes hinzugefügt – eine Bewegungstheorie, die aus beiden Traditionen Nutzen zieht und doch entschieden weitergeht. Die Sphäre der Erkenntnis ist nach platonischer Lehre in einem durch und durch statischen System zu beschreiben. Denn die Ideensphäre, der die Erkenntnisinhalte entspringen, ist selbst unsterblich, unbeweglich und unveränderlich. Kepler formuliert hingegen mit der Bewegung ein sich davon fortschreibendes Argument für den Nexus zwischen kosmischer Harmonie und menschlicher Erkenntnis. Die Bewegung fungiert dann nicht nur als ein Prinzip der in der Welt zwischen und in den Körpern stattfindenden Prozesse, sondern wird auch mit verschiedenen Seelenvermögen in argumentative Zusammenhänge gebracht. Hierdurch lassen sich wiederum natura, motus und anima in taxonomischer Hinsicht neu miteinander verbinden. So sind Keplers epochemachende Harmonices mundi Libri (1619) 303 von der Diktion geprägt, Harmonie, Proportion und quantitative physikalische Größen in Bewegungszusammenhänge zu setzen und dadurch in eine Art von Erkenntnistheorie zu überführen: Im Allgemeinen aber sind in allen Dingen, in denen Ausdehnung und dieser gemäß Harmonien gesucht werden können, jene [sc. Harmonien] umso deutlicher durch Bewegung eingepflanzt als ohne Bewegung. 304
Das hier über das Kriterium der Deutlichkeit (evidentia) angezeigte Erkenntnisvermögen erfasst die harmonische Struktur der Welt offenkundig am besten in den Momenten ihrer harmonischen Mobilität; der Zusammenhang von ἐνάργεια und ἐνέργεια wird mithin als Bewegung gedacht. Die der mathematischen Proportionslehre entsprechenden Harmonien des Universums – zu denen neben Keplers prominenten Strahlenformen (radii mundi) die linearen Winkelverhältnisse, Tangenten, Kreisschnittmengen etc. zu zählen sind – unterliegen dann keinem statischen System mehr, sondern treten gerade in ihren Bewegungen umso deutlicher in unserem Verstand auf. Im Folgenden wird Diese Zuschreibung rechtfertigt sich aus der Rolle der Harmonice als wohl wirkmächtiges Werk, das Kepler zu seiner Kosmologie und Psychologie verfasst hat. Die Weltharmonie meint dabei eine Auffassung von der Welt als geordnetes Werk neoplatonischen Zuschnitts; vgl. die konzisen Erläuterungen zur Harmonice Diederich (2014), 97–124. 304 Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV , cap. III , 126: »Generaliter autem in omnibus rebus, in quibus quantitas, & secundum eam Harmoniæ quæri possunt, insunt illæ multò evidentiores per motum, quam sine motu«. 303
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dieser Gedanke noch verallgemeinert, indem erklärt wird, dass Bewegungen überall und überhaupt dazu benötigt werden, die göttlich-harmonischen Proportionen erkennbar werden zu lassen. Die Größen in der körperlichen Welt werden durch Bewegungsprozesse von ihren disharmonischen Zusammenhängen regelrecht herausgelöst – eben ganz in der Weise, »wie es das Wesen der Bewegung ist.« 305 Kepler fasst dies wie folgt zusammen: So geschieht es durch den Fortgang der Bewegungen, dass die harmonischen Proportionen aus den Ungereimtheiten heraus erklärbar werden und dass sie von der Vermischung mit jenen [sc. Größen] getrennt gleichsam rein im Lichte stehen und sie sich den Sinnen zum Verständnis darreichen. 306
Die zur Offenlegung der kosmischen Harmonik nunmehr diskutierte psychologische Größe ist zunächst nicht der Verstandes-, sondern der Sinnesapparat (sensus). Er dient hier allerdings nicht nur zur Wahrnehmung, sondern auch zur Erfassung der Welt (ad comprehendendum) und weist dadurch bereits auf eine superiore Fähigkeit der menschlichen Seele voraus. 307 Davon ausgehend, dass die Proportionen grundsätzlich in einer disharmonischen Vermischung (mixtura) oder in reiner Form (purus) vorliegen können, gelinge die Trennung von den vermischten, unreinen Anschauungen gerade durch den Fortgang der Bewegungen. Die Trennung des vormals Gemischten wird als ausschlaggebend für den Erkenntnisgewinn aufgefasst. Die hier angesetzten Erkenntniskriterien erinnern recht unweigerlich an das Reine (ὑγιές) und die vom Geiste unterschiedenen Dinge (κρινόµενα) aus der Politeia, wie wir sie in Kapitel ii.3.b der Studie problematisiert hatten – namentlich im bipolar aufgespannten Feld von Wahrnehmung (αἴσθησις) und Denkkraft (νόησις). Neu gegenüber jener ästhetischen Erkenntnistheorie ist nun allerdings die Hinzunahme der Bewegung, eines mechanischen Prinzips, um die harmonische Konstitution des Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV, cap. III, 126: »ut est motûs essentia«. Ebd.: »Ita fit successione motuum, ut enucleentur proportiones harmonicæ ab inconcinnis, & secretæ à mixturà illarum, veluti puræ in luce constituantur, adque comprehendendum sensibus exporrigantur«. Die von Kepler häufig bemühten ›Ungereimtheiten‹ (inconcinna) sind – kontrastiv zu den harmonischen Proportionen – geradezu als ein Mangel an Harmonie auffassbar. Darüber hinaus lässt sich der Ausdruck sensibus in apò-koinoû-Stellung zu comprehendendum und exporrigantur auffassen. Hieraus bietet sich als reizvolle Lesart an, dass in genau dem Moment, in dem sich die harmonischen Proportionen des Universums den Sinnen darreichen (exporrigantur) bereits das Verständnis (comprehendendum) der selbigen vorliegt. 307 Mag auch das comprehendere beziehungsweise die comprehensio nicht mit dem reinen νοῦς-Gebrauch gleichzusetzen sein, so sind sie als philosophische Termini unweigerlich mit einem geistigen Erfassen verknüpft und gehen somit einen Schritt über die Sinne hinaus; sie markieren mindestens den Prozess der Begriffsbildung im menschlichen Geiste, wenn nicht gar den Begriff selbst; vgl. Georges (81998), s. v. »comprehensio«, 369: »das Erfassen mit dem Geiste, als philos. t. t. = κατάληψις, das Begreifen, der Begriff«. 305
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Universums von den ›unreinen‹ Vermischungen zu scheiden und sie dadurch umso sichtbarer vor das Erkenntnisorgan treten zu lassen. 308 Die κρινόµενα werden überhaupt erst zu κρινόµενα aufgrund des kinetischen Potentials, das in der νόησις liegt. Nach den Betrachtungen in Kapitel iii.1.c.β lässt sich hier ein weiteres Mal beobachten, dass Kepler dem Platonismus bis zu einem gewissen Punkt Genüge tut, jedoch bestimmte Prozesse, die zwischen Welt und Mensch stattfinden, an die kinematische Naturphilosophie delegiert. Die Bewegung wird dabei nicht nur – wie bereits gesehen – mit den unteren (sensus) und höheren (comprehensio), sondern auch mit den mittleren Seelenvermögen, vornehmlich mit der Einbildungskraft (imaginatio, vis imaginandi), in argumentative Kontexte gesetzt. Die harmonischen Proportionen sind auf dieser neuen hierarchischen Ebene – durch deren Hinzunahme sich der klassische Aufbau der menschlichen Seele gewissermaßen komplettiert – ein weiteres Mal nicht ohne eine Vorstellung von Bewegung von den Ungereimtheiten abzusondern: Und nicht einmal unterscheidet der Geist, selbst bei einer gegebenen Ausdehnung, ohne eine gewisse Vorstellung von Bewegung die harmonischen Proportionen so sehr von den zahllosen Ungereimtheiten, die davor und dahinter stehen. 309
War zuvor von der Essenz der Bewegung, ihrer kognitiven Evidenz und ihrer Erfassbarkeit durch die Sinne die Rede, so wird die Bewegung im hier vorgeführten Fall in Form eines Vorstellungsbildes (imago) aktiv, um die Harmonien aus den disharmonischen Welt-Zusammenhängen heraustreten zu lassen, die sie regelrecht flankieren (ante & post stantibus). Aus jenen Bildern resultiert daher keine bloße subjektive Phantasiewelt, ein entfesseltes Imaginieren in alle möglichen Richtungen, sondern ein rationales Urteils-, das heißt Unterscheidungsvermögen (discernere) hinsichtlich der Weltharmonie. Bereits an den hier diskutierten Textstellen, aber auch über das Gesamtwerk verteilt, lässt sich ablesen, dass einerseits die Geometrie nach wie vor eine gewichtige Rolle spielt und ihr einmal errungener Status als Bindeglied zwischen praktischer Mathematik und kinetischer Naturphilosophie nicht aufgegeben wird. Darüber hinaus werden der Bewegung nun umfassende Funktionen zugeschrieben; ihr kommt, um Die der klaren Erkenntnis der Weltharmonie entgegengesetzten ›Ungereimtheiten‹ (inconcinna) werden in Form der ›Verworrenheit‹ (confusio) noch eine gewichtige Rolle für die ästhetische Theorie spielen. Wir werden sie insbesondere in Kapitel IV.2 im Zusammenhang mit der auf Begriffen und Vorstellungen beruhenden Erkenntnistheorie noch näher betrachten. 309 Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV , cap. III , 126: »Adeóque ne mens ipsa quidem in datâ quantitate, proportiones harmonicas, sine quadam motus imagine, discernit ab inconcinnis infinitis, antè & pòst stantibus«. 308
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nur die auffälligsten zu rekapitulieren, mit einiger Selbstverständlichkeit ein eigenes Wesen (essentia) zu, sie assistiert der Erkenntnis (evidentia) und dient dadurch dem Menschen, bezogen auf dessen obere (comprehensio), mittlere (imaginatio) und untere Seelenvermögen (sensus), in ganzheitlicher Weise. Vor dem Hintergrund der Zuschreibungen regulierender Eigenschaften an die Masse und Trägheit erscheint es durchaus konsistent, dass auch hier die harmonische Beweglichkeit – dezidiert vorgeführt aus der Sicht des menschlichen Erkenntnisinteresses – gegenüber einer harmonischen Statik zu bevorzugen sei. Mögen also auch die Inkonzinnitäten statisch anmuten (stantibus), so sind sie als solche erst über eine Vorstellung von Bewegung für den Menschen erfassbar. Es lässt sich somit bei Kepler eine Hinwendung zur Bewegungslehre – im Gegensatz zu der in der italienischen Naturphilosophie von Seiten Del Montes und seiner Schüler noch unverbrüchlich aufrecht erhaltenen Rolle der Statik – ausmachen, die mit einem dezidierten Einbezug der Psychologie in die kosmologischen Zusammenhänge selbst einhergeht. Wie wir in Kapitel iv.4.a sehen werden, funktioniert dieser Einbezug indes auch vice versa – nämlich in der Form, dass die kosmische Bewegung in die menschliche Seele gelangt und die Seele sich simultan ebenso dem Kosmos nähert –, wodurch sie ebenjene Ganzheitlichkeit erzielt, die der Neoplatonismus und die mechanistische Naturphilosophie gleichermaßen einfordern. An dieser Stelle genügt es zunächst festzuhalten, dass es Kepler gelingt, Weltharmonik und menschliche Erkenntnis aus ihren statischen Systemen herauszulösen und gleichsam zu mobilisieren. Zunehmend fällt es schwer, überhaupt auszumachen, wie sich Aktivität und Passivität noch im klassischen aristotelischen Sinne als Differenzmomente bestimmen ließen, wenn doch scheinbar alles im Universum von Bewegung durchdrungen sei, nirgends absolute Ruhe vorliege, die Trägheit entweder – wie bei Galilei und Kepler – zu einem Bewegungsparadigma umformatiert wird oder – wie bei Descartes – entweder im Spannungsfeld von motus und quies modal eingehegt wird oder dazu dient, ausgerechnet die Bewegung eines Körpers aufrechtzuerhalten; wenn die Trägheit – wie bei Hobbes – selbst bei Einnahme einer völlig materialistischen Grundhaltung praktisch überhaupt keine Rolle mehr spielt oder wenn sie – wie bei Newton und dessen Popularisierung durch Toland – als eine zwar weitverbreitete, aber unhaltbare Falschannahme zur Materie bezeichnet wird. Die für die astronomischen und kosmologischen Problemstellungen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts leitende Unterscheidung zwischen einem abstrakten, sich auf die Geometrie und Mathematik berufenden Zugriff auf die Dinge (entia mathematica) und deren physikalisch-körperlichen Gegebenheiten (entia physica, entia realia), die wir in ihrem Wechselspiel geradezu als konstitutiv für die Weltbilder ei-
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nes Galilei oder Kepler kennengelernt hatten, stellt auch hier zumindest noch einen diskutablen Punkt dar. Denn die Körperwelt geometrisch zu betrachten, bedeutet noch nicht, dass hieraus die physikalischen Bewegungen der Materie befriedigend geklärt würden. Selbst Keplers Beschreibung der kosmischen Harmoniebewegungen scheint sich einer streng physikalischen Bezugsebene zu entziehen und vielmehr auf bekannte mathematisch-geometrische Größen wie Proportionen, Strahlen und Linien zu vertrauen. Eine mechanistisch einheitliche Verbindung von Materie, Körper und Geist steht damit jedoch noch aus. Die Lösung dieses Problems erscheint gegen Ende des 17. Jahrhunderts umso drängender, je mehr das cartesische Weltbild und dessen strikte Trennung der Substanzen in die Kritik gerät. Besonders klar tritt dieses Problem in der Bewegungstheorie Leibniz' vor Augen: Leibniz unterscheidet zwischen einer mechanischen Bewegung, die sich in einem abstrakteren Sinne unter Anwendung geometrischer Gesetze als Phoronomie beschreiben lässt und einer solchen, die sich unter Heranziehung von Kräften dann als Dynamik beschreiben lässt. Die Phoronomie bezieht sich somit auf eine abstrakte Beschreibungsebene, während die Dynamik demgegenüber insbesondere physikalische Erklärungen verfolgt. Hier sind es diverse Briefwechsel, vor allem diejenigen zwischen Leibniz und dem humanistischen Philosophen Jakob Thomasius (1622–1684), dem Jesuiten François de La Chaise (1624–1709) und eben Thomas Hobbes, die uns einen Aufschluss über die neuen, vielschichtigeren Bewegungsbegriffe geben. Ausgehend von der Dissertatio de arte combinatoria (1666) und der darin verfolgten Engführung eines Gottesbeweises mit einem aus den Körpern selbst ausgelagerten Bewegungsprinzip lässt sich bei Leibniz bis zum Ende der 1670er Jahre ein Bewegungsbegriff nachvollziehen, der sich im Sinne einer transcreatio dem aristotelischen äußeren Beweger verwandt zeigt und zudem die Gemeinsamkeiten dieses Bewegers mit dem frühneuzeitlichen Mechanizismus betont. 310 Die Materie ist dieser frühen leibnizschen Ansicht zufolge frei von einem Prinzip der Bewegung, das in ihr selbst liegen könnte (materia motu¯ s expers). Demgegenüber lässt sich – und dies erscheint als entschiedener Schritt fort vom Cartesianismus – spätestens ab 1670 als ein merklicher Paradigmenwechsel bei Leibniz ausmachen, dass das Bewegungsprinzip in den Körpern selber liegen müsse 311 Bei Leibniz lässt sich dieser Übergang besonders eindrücklich anhand dessen eigener philosophischen Sozialisation ablesen: Gewissermaßen wird er vom Cartesianer zum ›Dynamisten‹, zum Vertreter einer dynamischen NaturVgl. Leibniz, Briefe an Jakob Thomasius, Brief vom 20./30. April 1669 sowie Leibniz, Briefe an Thomas Hobbes, Brief vom 13./23. Juli 1670. 311 Vgl. Leibniz, Briefe an François de La Chaise, Brief vom April / Mai 1670. 310
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philosophie. 312 Während er in seinen ersten Lebensjahrzehnten als DescartesAnhänger eine kinematische Bewegungslehre – neben der Bevorzugung eines aristotelisch instruierten Beweger-Begriffs – zum Ausgangspunkt seiner Naturphilosophie nimmt, so drückt sich in der darauf folgenden Fortentwicklung der eigenen Philosophie, vor allem in der Bejahung körperlicher Bewegungsursachen, eine Hinwendung zur Kräftelehre aus. 313 Halten wir die darin aufscheinenden Unterschiede noch einmal in ihrer systematischen Folge fest: Die Gesetze der Phoronomie sind kinetische Gesetze immaterieller Natur – und dies eben im Sinne einer Theorie der abstrakten Bewegung (motus abstractus). Tritt nun ein substantieller, mit Aristoteles gesprochen: auf Energetik beruhender Austausch zwischen den Körpern hinzu, so wird der disziplinäre Übergang von der Phoronomie hin zur Dynamik hergestellt – zu einer Mechanik, die sich mit Bewegungen und mit Kräften befasst. Es ließe sich dann – und dies prominent seit Leibniz – von einem motus concretus sprechen. 314 Das Specimen Dynamicum (1695) stellt hierfür nur den bekanntesten und bis heute mit der größten Aufmerksamkeit bedachten Traktat dar. 315 Denn hierin wird ein Kraftbegriff vertreten, der weder die Körperlichkeit von Bewegungen negiert noch eine Absage an die Metaphysik formuliert. Denn Kräfte walten in Bezug auf die Dinge (res) in der Welt, über deren Zustand die Naturphilosophie ja Rechenschaft ablegen will – weder kontingent noch ordnungslos. Sie lassen sich vielmehr – Zu diesen Entwicklungsschritten in der philosophischen Biographie Leibniz’ vgl. Kabitz (1974), 54–60, Busche (1997), 218–296, Lee (2008), 11–59, Liu (2014), 83–115 sowie – als eine der bis heute wohl besten Darstellungen – Garber (1982). 313 Vgl. zu dieser Unterscheidung sowie zur Genese dieser Denkfigur in der philosophischen Biographie Leibniz’ Garber (1982), 168–176. Demnach stelle die aus der Synthese aus abstrakter und konkreter Bewegungstheorie resultierende Vergeistigung der physischen Körperwelt, die eine Perspektivität im Einklang mit dem Weltganzen supponieren könne, nicht weniger dar als »the first clear steps toward the monadology« (ebd., 176). Als ein wichtiger Entwicklungsschritt aus der Philosophie der Cartesianer heraus kann dabei Leibniz’ Unzufriedenheit darüber gelten, dass sich aus der Ausgedehntheit der Wirklichkeit nur schwerlich ein körperlich indizierter Kraftbegriff generieren lässt. 314 So lautet auch der Alternativtitel, den Leibniz selbst für seine Hypothesis physica nova (1671) veranschlagt, nicht grundlos Theoria motus concreti. Hierin geht es – kontrastiv zum zeitgleich vorgelegten Werk Theoria motus abstracti – um Bewegungsgesetze, die in der aktualen Welt konkretermaßen walten. Eine solche Denkfigur entspricht auch der von Leibniz vertretenen Komplementarität zwischen massa und moles, die wir in Kapitel III.1.c.β kennengelernt hatten. In dem Zusammenhang tritt auch bereits der für die spätere Dynamik wichtige Begriff der Elastizität, die den Körpern naturgemäß zukomme, auf. Dieser Faden wird noch in Kapitel III.3 eine weiterführende Rolle spielen. 315 Dass der Begriff der Phoronomie dessen ungeachtet bis in das 18. Jahrhundert hinein eine diskutable Rolle für sich beanspruchen kann, zeigt Jacob Hermanns Phoronomia (1716). Dort wird in einem umfassenden Entwurf das gesamte System der Bewegungsgesetze dargestellt, ohne dass dazu ein komplexerer Kraftbegriff bemüht würde. 312
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und dies zeigte uns der bereits in der Antike polyseme δύναµις-Begriff – je nach philosophischem Erklärungsbedarf bald als akzidentelle, bald als teleologisch fundierte verwenden. Wenn zu Beginn dieses Teilkapitels aufgezeigt wurde, dass es seit der Antike eine Riege an Philosophen gibt, die der Bewegung einen metaphysischen Überbau verleiht, so ist dieser Überbau bei Leibniz die Kraft, und seine antike Bezugsgröße ist die Entelechie, der Verbund von δύναµις und τέλος, und damit ein Kernbereich des Aristotelismus. Derartige Zusammenschlüsse, namentlich derjenige von Kräftelehre und Energetizität und derjenige von Energetizität und Entelechie, erscheinen – auch und gerade mit Blick auf die Etablierung der Ästhetik im 18. Jahrhundert – von so großer Bedeutung, dass ihnen im Folgenden eine ausführliche Behandlung in Form eines eigenen Kapitels zukommt. Konstellationsgeschichtlich geht es insbesondere um die Auffassungen, die zwischen Newton und Leibniz vorzufinden sind. Dass es sich dabei um einen Vertreter der ersten Partei und einen Vertreter der zweiten Partei handelt, ist kein Zufall, sondern Ausdruck der schwierigen Debatten und des Ringens um eine Wissenschaft, die physikalisch zuverlässige Aussagen hervorbringen und zudem ihr Aufrücken in die erste philosophische Reihe fortsetzen möchte. Zu diesem Aufstieg gehört – wie bereits in Kapitel iii.1.c ersichtlich – in besonderer Weise der Einschluss von Physik und Metaphysik in mechanistische Paradigmen. Ein physikalischer Vorgang benötigt, so er zur philosophischen Erklärung der Welt beitragen will, Prinzipien, die selbst nicht physikalisch sind. 316 Konnte diese Erklärungsweise seit der Renaissance-Philosophie als eine Leistung der Geometrie gelten, so muss diese nun auf andere Erklärungsbereiche ausgedehnt werden. Für den Fortgang der Mechanik gilt gegen Ende des 17. Jahrhunderts, dass es nicht mehr zwischen ›um‹ Bewegungen und Darstellungen von Bewegungen geht, sondern um dasjenige, was Bewegungen ermöglicht, und darum, in welcher Form sie weitergegeben werden können.
3. Kraft und Energie
Nachdem die körperliche Welt in den Philosophien Galileis und Keplers mit einem auf Substanzen beruhenden Bewegungsbegriff versehen wurde und dann über den Cartesianismus mithilfe eines rein quantitativen Kriteriums zu einer gegenüber dem Geist autonomen Stellung gelangt ist, wendet sich die MechaEine freilich beachtenswerte Ausnahme hiervon bildet, wie wir in Kapitel III.1.a am Beispiel von Gassendi und in Kapitel III.2.a am Beispiel von Hobbes sehen konnten, der monistische Materialismus. 316
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nik einem neuen Feld zu, dem sie innovative Impulse verleiht. Bei diesem Feld handelt es sich, wie in den vorherigen Kapiteln bereits an mehreren Stellen angerissen wurde, um die Dynamik. Der an Descartes anschließenden Mechanik gelingt die Ausweitung einer Weltbeschreibung, die sich bis dahin noch ganz auf Quantitätskriterien bezog, vor allem dadurch, dass sie ein bislang nur unbefriedigend geklärtes Desiderat bedient: Bei allen Verdiensten, die der cartesischen Mechanik zukommen, ergibt sich bei ihr eine empfindliche Leerstelle, die zuvor bei Galilei und Kepler noch über Größen wie Masse und Trägheit zuverlässig besetzt war: Diejenige Größe, mit der sich die Mechanik am hartnäckigsten beschäftigt, die Bewegung, wird bei Descartes nicht aus Kräften heraus erklärbar gemacht; vielmehr spielen – wie in Kapitel iii.2.a gesehen – Kräfte entweder nur eine geringfügige Rolle oder werden, wenn es denn einmal nötig erscheint, über sie zu sprechen, zur reinen Aufrechterhaltung, nicht jedoch als Initiationspunkt, mit Aristoteles gesprochen: als ἀρχή der Bewegung verstanden. Die Behandlung, die den Kräften dadurch zuteilwird, lässt sich daher als geradezu stiefmütterlich bezeichnen; zumindest bleibt für einen Naturphilosophen, der nach physikalischen Ursachenprinzipien sucht, die Frage nur unbefriedigend geklärt, wo Bewegungen denn überhaupt herrühren, wo ihr ursächlicher Platz im Kosmos ist. Damit einher geht das Bedenken, ob es ausreichen kann, sie allein aus phoronomisch-kinematischen Prinzipien – das heißt unter Fokussierung auf ihre Geometrizität bei gleichzeitiger Vernachlässigung ihrer Kraftursachen – zu beschreiben oder ob sie nicht vielmehr aus dynamischen Gründen heraus – das heißt ebenfalls unter Zuhilfenahme eines geometrischen Beschreibungsinventars, jedoch unter dezidierten Einschluss der zugrundeliegenden Kraftpotentiale – erklärbar zu machen sind. In letzterem Fall wird ein Prinzip benötigt, das über Figuren, aber auch über die Materie hinausgeht. Denn erstere wären allein zu einseitig geometrisch, letztere hingegen wäre zu einseitig stofflich ausgerichtet. Es muss demnach ein Drittes hinzutreten, um die Bewegung in der Materie aus ihrer Ursächlichkeit, ihrer ἀρχή heraus erklärbar zu machen. Jammers so knappes wie treffendes Diktum, demzufolge [t]he history of mechanics has shown that the transition from kinematics to dynamics requires only one additional concept – either the concept of mass or the concept of force, 317
kann nach unseren bisherigen Betrachtungen geschichtlich noch weiter spezifiziert werden: Während es in der Entwicklung der auf experimentellen Verfahren beruhenden und auf astronomische Erkenntnisse abzielenden Natur317
Jammer (2000), 5.
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philosophie des späten 16. Jahrhunderts und des frühen 17. Jahrhunderts vor allem die Masse war, durch welche die Körper nicht nur eine ponderable, sondern auch eine dynamische Verfasstheit erlangten, werden es gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Kräfte sein, die als neue Trägergrößen die Naturphilosophien maßgeblich mitbestimmen, sie zu ›dynamischen‹ aufwerten. Wenn wir also in den vorherigen Kapiteln zur Bewegung beobachten konnten, dass bei Descartes Kraft erst dann ins Spiel kommt, wenn sie zur Aufrechterhaltung von Bewegung vonnöten ist, so wird bei Newton der Fall genau anders herum gelagert sein: Zuerst werden die Kraft-Bestimmungen in den Definitiones angeführt, 318 dann erst folgen die Bewegungsgesetze (leges motus) in den Axiomata. 319 Auch Leibniz wendet sich der Kräftelehre als Grundierung seiner Bewegungstheorie zu. Er verhilft der Kategorie des Dynamischen zu einer neuen Gültigkeit in einem von Bewegungen bestimmten Kosmos. Traktate, die sich einem solchen Programm verschreiben, tragen demgemäß Namen wie Essai de Dynamique sur les lois du mouvement (1692) oder wie das bereits erwähnte Specimen dynamicum (1695). 320 Das methodische Instrumentarium, dessen sich der Naturphilosoph in einer auf Kräfte beruhenden Bewegungstheorie als Verfahren zu bedienen hat, wird – woran Newton bereits in der Titelgebung seiner Principia mathematica philosophiae naturalis (1684) keinen Zweifel lässt – unverbrüchlich die Mathematik sein, und zwar vor allem in Form der Geometrie. Hierdurch lassen sich nicht nur die verschiedenen Bewegungsformen, sondern auch unterschiedliche Arten von Kräften, etwa die Zentripetalkraft (vis centripeta), zur Darstellung bringen. Es sind nicht, wie wir es noch bei Galilei gesehen hatten, zuvorderst Bewegungen, sondern Kräfte, die auf dem geometrischen Tableau ausgebreitet werden und in ihren Proportionen erschlossen werden. Hier ist es die Kraft des Körpers Q, die auf der Ebene PQR zum Zentrum C strebt, und zwar proportional zum Abstand zwischen S und Q. Die Kraft VT verhält sich dementsprechend proportional zur Kraft CQ. Die Zentripetalkraft verhält sich proportional zum Abstand des Körpers vom Zentrum der Ellipse, die er beschreibt. 321 Auch in Vgl. Newton, Principia mathematica, 1–12. Vgl. ebd., 13–27. 320 Beide Schriften stammen von Leibniz, wobei das Specimen an Gedanken aus dem Essai anschließt und die Axiome der dynamischen Naturphilosophie Leibniz’ in ihrer klassischen Form wiedergibt. 321 Vgl. das entsprechende Theorema bei Newton, Principia mathematica, lib. I , sect. X , 143: »Posito quod vis centripeta proportionalis sit distantiæ corporis a centro; corpora omnia in planis quibuscunque revolventia describent ellipses, & revolutiones temporibus æqualibus peragent; quæque moventur in lineis rectis, ultro citroque discurrendo, singulas eundi & redeundi periodos iisdem temporibus absolvent.« (»Gesetzt, dass die Zentripetalkraft zum Abstand des Körpers vom Zentrum proportional sei, werden alle Körper, die sich in beliebigen Ebenen bewegen, Ellipsen 318
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Abb. 3: Newton, Principia mathematica philosophiae naturalis, lib. i, sect. x, 143
Abb. 4: Leibniz, Specimen Dynamicum, pars 1, fig. 24
Leibniz' Dynamik werden Kräfte auf eine derart geometrische Weise illustriert, beispielsweise die der zentripetalen Kraft entgegengesetzte Kraft, die Zentrifugalkraft (vis centrifuga) – wenn auch teilweise in etwas plastischerer Form als bei Newton. Hier wird eine Röhre mit der Länge AC angenommen, in der sich eine Kugel B befindet. Die kreisförmige Bewegung um das Zentrum C führt nicht nur zu einer Veränderung der Lage der Röhre selbst, sondern auch zu einer Bewegung der Kugel aus der Röhre heraus. Sie ›flieht‹ gewissermaßen vor dem Zentrum C und verkörpert damit eine vis centrifuga. Diese Kraft wird nach Leibniz wiederum von zweierlei Grundkräften bestimmt, dem Antrieb (impetus) und der Anregung (solicitatio). 322 Während Bewegung also in der Regel in einer einzigen geometrischen Figur, vor allem als Linie, Kreis oder Ellipse, gedacht beschreiben und sie in gleichen Zeiten durchlaufen. Körper aber, welche sich in geraden Linien hin- und her bewegen, werden die einzelnen Perioden eines Hin- und Hergehens in gleichen Zeiten vollenden.«). 322 Vgl. Leibniz, Specimen Dynamicum, pars 1, 238: »[M]anifestum est, initio conatum a centro recedendi, quo scilicet globus B in tubo tendet versus ejus extremitatem A, esse infinite parvum, respectu impetus quem jam tum habet a rotatione, seu quo cum tubo ipso globus B, a loco D tendit versus (D) retenta a centro distantia. Sed continuata aliquandiu impressione centrifuga a rotatione procedente, progressu ipso oportet nasci in globo impetum quendam centrifugum, completum (D) (B) comparabilem cum impetu rotationis D (D). Hinc patet duplicem esse Nisum, nempe elementarem seu infinite parvum, quem et solicitationem appello, et formatum continuatione seu repetitione Nisuum elementarium, id est impetum ipsum.« (»[E]s ist klar, dass am Anfang das Streben, sich vom Zentrum zu entfernen, durch das ja die Kugel B in der Röhre auf deren Ende A hin tendiert, unendlich klein ist in Hinsicht auf den Antrieb, den sie ja bereits von der Drehung hat, das heißt
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wird, erscheint der Kraftbegriff komplex, weil er aus verschiedenen ursächlichen Aspekten zusammengesetzt ist. Kommen wir daher zurück auf den ontologischen Gehalt, der den Kräften zuzusprechen ist: Das von Jammer ganz allgemein mit force bezeichnete Konzept lässt zunächst offen, ob es sich als geometrisch zu bestimmende Größe oder in der phänomenalen Wirklichkeit beobachtbar oder in beiden Dimensionen zugleich begreifen lässt. Es braucht sich somit nicht auf die Annahme zu beschränken, in der Welt existierten schlechthin Kräfte, die Bewegungen hervor brächten, die ihnen mehr oder weniger entsprechen würden; vielmehr kann ein Phänomen von seiner Kraftursache erheblich abweichen beziehungsweise sie ›verzerrt‹ darstellen. 323 Zwar kann die Masse die substantiellen Eigenschaften und Bewegungen der Dinge hervorragend erklären, sie verbürgt sich zugleich für die Einheit eines einzelnen Dinges in einem dezidiert mechanistischen kosmischen Gesamtkontext; 324 sie kann jedoch nicht erklären, ob Kräfte auch außerhalb körperlich-relationaler Zusammenhänge 325 existieren und sich manifestieren können. Und wenn bei Descartes ein Ding eine spezifische Bewegungsquantität innehatte, die ihm solange zuzukommen habe, wie kein akzidenteller Einfluss ins Geschehen eingreift, so gelang dies doch nur unter einer strikten Aufrechterhaltung der substantiellen Trennung von Einzelding und Geist. Die Masse hat also, wie wir vor allem bei Galilei und Kepler sahen, vieles erklärbarer gemacht und letztlich auch zum Aufstieg der Bewegung beigetragen; was ihr jedoch nicht gelang, war, die Metaphysik in die Sphäre der Physik zu bringen – nicht umsonst hat Kepler ja Größen wie die species immateriata angesetzt, um eine metaphysische Dimension in seinem durch den die Kugel B mit der Röhre selbst von Ort D zu (D) tendiert unter beibehaltener Entfernung vom Zentrum. Wenn aber die aus der Drehung hervorgehende zentrifugale Einprägung eine Weile lang fortschreitet, muss im Fortschreiten selbst in der Kugel ein gewisser zentrifugaler Antrieb entstehen, der als (D) (B) vollständig mit dem Antrieb der Drehung D (D) vergleichbar ist. Daraus erhellt sich, dass der Drang zweifach ist, nämlich sowohl elementar beziehungsweise unendlich klein, welchen ich auch als Anregung bezeichne, als auch durch die Fortsetzung beziehungsweise die Wiederholung der elementaren Dinge gebildet, das heißt: der Antrieb selbst.«). 323 Ein Beispiel hierfür ist das Phänomen des sogenannten Sonnenaufgangs: Die Sinne vermitteln uns nach dem morgendlichen Erwachen den Eindruck einer Sonnenbewegung, die auf einer Halbkreisbahn von unten nach oben und daran kontinuierlich anschließend von oben nach unten führt. Nicht jedoch zeichnet sich eine ›Aufstiegskraft‹ oder eine ›Abstiegskraft‹ hierfür verantwortlich; vielmehr ist es die Erde, die sich um die eigene Achse dreht, mithin eine Rotationskraft, die hier wirkt. 324 Denn ein Ding hat – wie bei Galilei und Kepler gesehen – eine spezifische Masse, die es zu spezifischen mechanischen Tätigkeiten befähigt. Die Masse gewährleistet dadurch die Einheit von Gegenstand und Tätigkeit. 325 Denn die Masse spiegelt die Relation von Materie und Raum wider, ihr eigenes Bewegungspotential ist wiederum nur in Relation zu einer anderen materiellen Größe, der Trägheit, zu sehen.
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grundständig antiken Weltbild aufrecht zu erhalten. Der Cartesianismus wiederum hat viele ontologische Fragen unter Verwendung der mathematischen Methode mit großer Klarheit beantwortet; was er aber schuldig blieb, war die Aussöhnung von Physikalismus und Intellektualismus. Ganz anders wird sich Leibniz zu alledem verhalten: Er wird mit der Monade ein subjektives, geistiges Prinzip entwickeln, das selbst eine aktive Einheit bildet, die wiederum als vis primitiva auch eine Kraftquelle darstellt – eine Kraftquelle, die in einen Universalzusammenhang eingebettet wird. Bevor wir auf dieses Potential der monadischen Denkfigur eingehen, 326 ist noch einmal auf die Dichotomie zwischen den Begriffen von Kraft und Energie einzugehen: Unter ›Kraft‹ werden in diesem Kapitel der Studie stipulativ diejenigen Bewegungsursachen verstanden, die sich in die newtonsche Überzeugung eines absoluten Raumes einfügen – eines Raumes, in dem sich aufeinander wirkende Körper befinden, die fortwährend Ereignisse des Anund Abstoßens untereinander verursachen; es geht also um Kräfte, die sich als spontan und gewissermaßen ›sprunghaft‹ zu erkennen geben. Die Körper stoßen aneinander und üben Druck aufeinander aus; in einem kurzen Moment findet daher so etwas wie eine Kraftübertragung statt. Diese Kraftübertragung ist jedoch nicht davor gefeit, dass beim Moment des Übergangs auch Verluste eintreten, etwa durch Reibung und den Luftwiderstand. ›Energie‹ lässt sich demgegenüber als eine im Universum waltende Kraft verstehen, die alle mikro- und makrokosmischen Bereiche ohne Sprunghaftigkeit durchwirkt. Dabei beruft sie sich indes gerade nicht auf stoizistische oder pantheistische λόγος-Vorstellungen, wie sie in der zeitgenössischen Philosophie etwa von Spinoza vertreten werden. Vielmehr zeigt sie sich in wesentlichen Punkten – wie wir noch genauer sehen werden – als anschlussfähig an den Aristotelismus; sie weiß, mehr noch, diese Anschlussfähigkeit nicht nur für sich selbst gewinnbringend zu nutzen, sondern reicht sie gleichsam an die ars aesthetica weiter. 327 Es lässt sich also von einer neuen Auffassung von Kräften sprechen, die sich sowohl in ihren Ursachen als auch in ihren Erscheinungsweisen komplex ausnehmen. Was aber sind die Bedingungen für diesen erstaunlichen Entwicklungsweg? Was hält bei allem Erneuerungsbestreben der neuzeitlichen Weltbilder die Rekurrenz auf die Antike aufrecht? Um das Verhältnis von Kraft und Energie einerseits im Sinne seiner mathematisch-mechanistischen Traditionen, andererseits aber auch in Hinsicht auf seine Anschlussfähigkeit an die antiken Naturphilosophien aufzuschlüsseln, ist in Erinnerung zu rufen, dass es nach wie vor Auffassungen von der Natur sind, an denen sich die unterschiedliche 326 327
Vgl. Kapitel IV.4.c der Studie. Dies wird in Teil IV der Studie eines der Hauptsujets bilden.
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Bearbeitung und Eingliederung der jeweiligen Entwicklungsstränge ablesbar werden. Die Natur kann prinzipiell für beides einstehen: für eine dynamische Weltsicht und für eine auf antiken Paradigmen beruhende Ontologie. Somit entwickelt sich auch im späten 17. Jahrhundert der Kraftbegriff in enger Verknüpfung mit dem Naturbegriff weiter, dies jedoch unter Berücksichtigung der neuen Rollen und Funktionen, die dem mathematisch-mechanischen Denken bereits seit dem 16. Jahrhundert zugewiesen worden sind. Die Natur erweist sich als die Konstante, die einen Einschluss von Physik und Metaphysik, von Bewegung und Kraft, von Antike und Neuzeit ermöglicht. Dass sie längst über die sie doch einengende und zudem im 17. Jahrhundert anachronistisch anmutende quid est-Frage aus der Spätscholastik hinausgewachsen ist – gerade indem sie die mathematische Methodik mit einem mechanistischen Beschreibungstableau zu verbinden weiß – war bereits an anderen Stellen der Studie, etwa in Kapitel iii.1.a, zu beobachten gewesen. Der naturphilosophische Schulterschluss, der zwischen der ›physischen Mathematik‹ und der ›dynamischen Mechanik‹ vollzogen wird, geht nun so weit, dass er gelegentlich gar in einer regelrechten Identifizierung der Natur mit Kraft mündet. Ein solcher Naturbegriff wurde in der Forschung zur Frühen Neuzeit besonders überzeugend von Leinkauf gegenüber den aus den philosophischen Sedimenten des Mittelalters und Renaissance-Humanismus heraus zu verhandelnden Alternativbegriffen vorgebracht: Während sich die natura naturans noch als hervorbringende Natur, mithin als schöpferische Entität ausweist, die natura naturata als eine ausgebreitete und in sich selbst unterschiedene Größe hingegen das Resultat 328 eines solchen Schöpfungsprozesses bezeichnet und die essentia wiederum, als der dritte ›klassisch‹ zu nennende Naturbegriff, die Rolle einer Wesenheit einnimmt, die den Dingen zukomme, konstituieren sich die Naturauffassungen des 17. Jahrhunderts zusehends über ein inneres Prinzip von Bewegung und Ruhe. 329 Dieses Prinzip ist den Einzeldingen sowohl in ihrer Gesamtheit wie auch in ihren reziproken Einflussnahmen eingegeben. Zwar lässt es sich nach Leinkauf – im Gegensatz zu den als ›naturierend‹, ›naturiert‹ oder ›wesenhaft‹ vorgestellten Bestimmungsmerkmalen – weniger leicht auf einen einzelnen Terminus, wie etwa ›Gott‹ oder ›Wesenheit‹, rückführen; dessen ungeachtet sei es aber der Sache nach nicht weit entfernt von dem, was die dynamische Naturphilosophie, die etwa bei Leibniz ebenfalls [wie schon in der humanistischen Philo-
Angezeigt durch das perfektische, auf ein Resultat verweisende Partizip naturata. Beziehungsweise, wie wir in Kapitel III.2.a präziser gesehen haben, zwischen Bewegung und Null-Bewegung. 328
329
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sophie; D. B.] modifizierend auf Aristoteles zurückgreift, mit ihrem Begriff von Kraft (vis) intendiert. 330
Dass es die Zielsetzung einer dynamischen Naturphilosophie sein muss, ein Kraftkonzept als maßgebliches Konstituens zu etablieren, erscheint unmittelbar einleuchtend und fast schon tautologisch, wenn man die Grundbedeutungen des ›Dynamischen‹ und dessen Begriffstraditionen bedenkt, die wir seit der Antike kennengelernt hatten. Dennoch stellt sich die Frage, warum und in welcher Weise ein Naturbegriff nun überhaupt als schiere Kraft zu veranschlagen ist. Denn intuitiv spräche wenig dagegen, diese von Leinkauf separat gefasste, vierte Auffassung von der Natur zunächst als eine Sonderform des in der natura naturans enthaltenen Tätigkeitsprinzips zu verorten. Denn warum sollte nicht die dynamische Naturphilosophie einfach und unmittelbar Gott zum alleinigen Tätigkeitsprinzip erklären und dessen wirkende Kraft als eine Art energetische Fortsetzung in den Einzeldingen beschreiben? Hiermit wäre insbesondere dem Aristotelismus mehr als Genüge getan, wenn wir die Beobachtungen zur aristotelischen Physik in Kapitel ii.2 mit einbeziehen wollen, wo die Natur ja durch Kraft und Bewegung ihre schöpferischen Tätigkeiten erst in Gang zu setzen vermag. Der Mensch verhält sich demzufolge ja gerade dadurch vollkommen ›natürlich‹, dass er seine Fertigkeiten in naturanaloger Weise zur Anwendung bringt, wohingegen der allererste Anstoß zur Bewegung nur in einem göttlichen Prinzip zu suchen ist. Zur Beantwortung der Frage, warum ein neues Prinzip beziehungsweise die Umformung eines alten Prinzips benötigt wird, ist somit der Konnex zwischen Tätigkeitsprinzip und Essenz mit einzubeziehen. Er lässt sich in zwei Dimensionen beschreiben: Die beiden ideengeschichtlichen Grundentwicklungen sind – wie in den Kapiteln iii.1–2 gesehen – einerseits der Aufstieg der Bewegung zum allgegenwärtigen Prinzip des Kosmos sowie die weiterhin dem ›Ding an sich‹ verhaftete Philosophie des Renaissance-Humanismus. Bezieht man dies auf die antike Philosophie, insbesondere auf Aristoteles, so zeigt sich, dass mit der Annahme eines principium operationum, das ja stets von einem inneren Urgrund der Dinge auszugehen hat, die aristotelische Dichotomie zwischen einem esse per se und einem esse per aliud im Sinne einer neuen Auffassung von ›Natürlichkeit‹ umgewertet wird. Denn eine Existenzform per aliud muss dann nicht mehr die ›unnatürlichen‹, sich im Raum vollziehenden Prozesse zwischen den re¯s repräsentieren, sondern ist unter den aus den re¯s selbst her-
330
Leinkauf (2000), 404.
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austretenden Prozesse zu erfassen. 331 Dabei werden andererseits allerdings eine Reihe dem Aristotelismus verhafteter Theoreme unvermindert beibehalten – sei es in Form unverbrüchlicher Ansetzungen eines Fremdbewegers, der von außen auf die Körper einwirken müsse, um diese in ihrer Richtung oder Geschwindigkeit oder in beidem zugleich zu ändern; sei es durch eine Transzendierung der Bewegung als eines außermateriellen Prinzips. Die hinsichtlich der Fortentwicklung des mechanistischen Weltbildes so wichtige Frage nach der Bewegungsursache führt nun zuverlässig auf die Frage der Eigentätigkeit: War die Selbstperzeption der Körper bei Galilei und Kepler noch durch Größen wie Trägheit und Masse bestimmt und die Bewegung ein daraus resultierendes esse per se, im Grunde also eine verkappte essentia, so prägt sich im Laufe des 17. Jahrhunderts eine Neigung aus, die Bewegung aus jener Dichotomie zwischen Fremd- und Selbstbestimmtheit überhaupt auszulagern. Dabei kann bald die Geometrie, bald die Metaphysik die Vorreiterrolle einnehmen, jedenfalls findet sich die Bewegung in einem außer- oder metasubstantiellen Bereich wieder. Sie wird, mehr noch, in diesem Zuschnitt abstrakt verrechenbar. Die Entscheidung für eine quantitas motu¯ s, für die Zuschreibung einer Quantität auf das Prinzip der Bewegung, ist hierfür geradezu bezeichnend. Denn diese Quantität ist im Cartesianismus eine mathematisch-geometrische und gerade nicht von der Art, dass sie sich aus dem Verhältnis konkreter Körper zu deren Materie ergeben würde (wie es auf die Masse zutraf). Somit bleibt der Eindruck bestehen, dass sich die Mechanizität, die der Bewegung zugeschrieben wird, von der Abwendung des Geistes von der Materie gleichsam unbeeindruckt zeigt. Als Antwort auf die Frage, warum die vis keine bloße natura naturans mehr darstellt, kann nun die Bevorzugung mechanischer Tätigkeiten der Dinge gegenüber einer göttlichen Tätigkeit veranschlagt werden. Die verhandelte Naturkraft (vis naturae, vis naturalis) unterscheidet sich in ihrer Affinität zur Operationalisierbarkeit von physikotheologischen Konzepten gerade dadurch, dass sie es selbst ist, die sich eine neue Blickrichtung auf ihre eigene Prozessualität schafft. Dies bedeutet zum einen, dass die von den Dingen natürlicherweise ausgehenden Tätigkeiten nicht mehr vom ständigen Eingreifen einer göttlichen Instanz abhängig sind; vielmehr setzt sich die Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts von den barocken Gottesvorstellungen eines instrumentum Dei (gr.: ὄργανον θεοῦ [órganon theoû]) oder eines opifex (gr.: δηµιουργός [de¯miourgós]) und im Zuge dessen auch von derjenigen eines Welttheaters (theatrum mundi) zusehends ab. Ihr gelingt dies, indem sie die Eigenschaften der Perzeptivität 331 Es sei an dieser Stelle auf die in Kapitel III .1.c.α. behandelten Theoreme zur Neubewertung der Innerlichkeit rückverwiesen.
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und Spontaneität als den Dingen eingegebene Tätigkeitsprinzipien aufwertet. Die Natur tritt vor allen Dingen in ein selbstreflexives Verhältnis im Sinne eines Standpunktes, den sie zur Beobachtung ihrer eigenen Tätigkeiten einnimmt. 332 Eine Bedingung hierfür hatten wir bereits kennengelernt: Sie besteht darin, dass der Mensch selbst zunehmend in den Bereich der Natur eingegliedert wird und als Naturbeobachter zugleich Teil der Natur, mithin Teil seines Beobachtungsbereichs ist. Er durchdringt mit seiner Erkenntnis die Natur und damit, als Teil der Natur, auch sich selbst. Er entdeckt die pneumatischen Gesetze und versteht seinen eigenen Blutkreislauf. Er entwickelt die geometrische Optik und baut auf dieser Grundlage technische Beobachtungshilfsmittel wie das Teleskop. Er stellt Hebelgesetze auf und gelangt durch sie zu einer mechanischen Beschreibung seiner Gliedmaßen. Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst entspricht dem Verhältnis der Natur zu ihren Kräften. Daneben gibt es indes noch eine zweite, für unseren Untersuchungsgang wichtige Bedingung für die Loslösung von jener Vorstellung, dass es vor allem Gott sei, der die Instrumente der Welt gleichsam in der Hand hält. Sie liegt in der Operationalisierbarkeit der Naturprinzipien. Hierauf weist die Bestimmung der natura als eines principium operationum hin; denn operatio meint die mechanische Interaktion zwischen abgrenzbaren Größen aus einem eigenen, das heißt den Dingen selbst zukommenden Impuls heraus. 333 Seit Galilei und Kepler verfügen Körper über genügende Möglichkeiten zur Eigentätigkeit, um ihr eigenes Impulsstreben prinzipiell aufrecht zu erhalten. Daran erweist sich die Individualität der körperlichen Dinge anhand ihrer Fähigkeit zur Selbstbewegung; auch zeigt sich darin eine größere Selbstbezüglichkeit als in den teleologisch motivierten, das heißt auf eine bestimmte zu schaffende Form ausgerichteten natura naturans-Konzeptionen. Anders gewendet: Es sind zwar nicht die Einzeldinge, welche die Welt hervorbringen, sondern nach wie vor Gott selbst, der sie als Schöpfer der Welt (creator mundi) schafft; er lässt die Welt nach dem Schöpfungsakt aber – im Gegensatz zur Auffassung des Stoizismus – ganz durch sich selbst wirken. Sein Zutun beschränkt sich auf das Leisten seines gewohnten Beistandes (Descartes), auf das gelegentliche Hinzufügen von Kraft (Newton) oder auf seinen Anspruch, aus natürlicher Notwendigkeit
Vgl. auch die von Leinkauf als Beispiel für den operativ-prozessualen Naturbegriff angeführte Definition Francis Glissons (∼ 1597–1677) von der Natur als einer Instanz, die sich weniger von quid est-Fragen leiten lasse, als vielmehr sich darin ausdrücke, »wie sie sich zu ihren Tätigkeiten verhält« (Glisson, Tractatus de natura, 191: »quo modo se habeat ad operationes suas.«) Die hochgradige Selbstbezogenheit dieser Denkfigur schlägt sich grammatisch in den Reflexiva se und suas nieder. 333 Dieser Punkt war schon in Kapitel III .1.c an zahlreichen Stellen beobachtet worden. 332
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heraus für die beste aller möglichen Welten gesorgt zu haben (Leibniz). Die Tätigkeiten selbst aber obliegen den Dingen. Ebenso wie der Naturbegriff im Sinn des Tätigkeitsprinzips eine Verbundform von Perzeptivität und Spontaneität darstellt, stützt die methodische Verankerung der Naturphilosophie mit der Mathematik den Verbund von Physik und Metaphysik, und zwar – wie wir in Kapitel iii.1.b.β in Le Bossus Parallèle sehen konnten – in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter Rückbesinnung auf den Aristotelismus. Dies gilt insbesondere für die Bedingungen, nach denen sich ein Ding aus sich selbst heraus verwirklichen kann – eine Prämisse, die letztlich auch den ἀρχή-Begriff noch mit umfasst. 334 Hatten sich bereits in Kapitel iii.1.c im Zusammenhang mit der Behandlung der Renaissance-Philosophie innere Prinzipien der Dinge herausgestellt, die einen Gegenstand im Kontext des Gesamtuniversums verortbar machten, so lässt sich nun, nach den strukturellen Umwälzungen, die vom Cartesianismus ausgingen, eine Emanzipation der intima rerum von der natura naturata – beziehungsweise, mit Descartes gesprochen, von der res extensa – veranschlagen. 335 Denn es ist die intima rerum, der innerste in den Dingen schlummernde Urgrund, der sich gerade nicht als eine ausgedehnte Substanz erweist. Vielmehr steht er für die Tätigkeiten der Dinge ein und bildet damit zugleich den Zielpunkt des Erkenntnisinteresses. Wenn sich also die intima rerum und die res cogitans in eine analoge Distanz zur ausgebreiteten Natur (natura naturata und res extensa) begeben, so lassen sich entsprechend dazu die intima rerum (als Gegenstück zur natura naturata) und die res cogitans (als Gegenstück zur res extensa) miteinander korrelieren; es drückt sich darin diejenige Hinwendung zu den Dingen aus, die mit dem inspicere, dem im 16. und 17. Jahrhundert zur genuinen Erkenntnistätigkeit des Geistes erklärten Begriff, bezeichnet wird. Dies gelingt im Sinne einer intellektualistischen Tätigkeit, insofern der Geist, wenn er intellektualistisch agiert – was ja gerade seinen substantiellen Zweck ausmacht –, er keineswegs auf die Phänomene (simulacra), sondern in die Verfasstheit der Dinge selbst hineinblickt. 336 Ebendiese Innerlichkeit aber verlangt Insofern es zu den aristotelischen Grundüberzeugungen zählt, dass ein Ursprung nur als Ursprung für etwas gedacht werden könne (vgl. prägnant Aristot., phys., 1, 2, 185a4 f.); die doppelte Analogie zur δύναµις und ἐντελέχεια besteht vor allem in dem – hier bereits häufiger diskutierten – Axiom, dass ein Vermögen stets nur als ein Vermögen für etwas gedacht werden könne: Ohne ein energetisches Paradigma, auf das ἀρχή, δύναµις oder ἐντελέχεια substantiell abzielen, macht es kaum Sinn, diese Begriffe überhaupt in ein naturphilosophisches System einzuführen. 335 Die Natur als natura naturata wird stets als in der Welt ausgebreitet und in sich selbst unterschieden aufgefasst. 336 Dass dies für einen jeden Philosophen von grundsätzlich skeptizistischer Haltung zu gelten habe, ja dessen Selbstbild in elementarer Weise betrifft, wird an bekanntester Stelle in den Meditationes vorgeführt, wenn Descartes davon spricht, er werde »nun die Augen schließen, die Ohren 334
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wiederum nach einem Konzept von Dinghaftigkeit, das den Blick des Betrachters von zwei Dingen fernhält: von einem numinosen, weil unveränderlichen und ewigen Wesen – denn ein solches Wesen liefe Gefahr, rein transzendental auslegbar zu sein und somit vor aller Erfahrung zu verharren, mithin selbst niemals operational zu werden – sowie von den Oberflächenphänomenen – denn diese laufen wiederum stets Gefahr, als bloße Akzidenzien auslegbar zu sein und somit dem Bereich der Kontingenz anheim zu fallen. Die Mechanik lenkt also den Blick zu einem Dritten hin. Dieses Dritte ist das operationale Vermögen der Dinge selbst. Das Vermögen der Dinge ist als eigentliche ›Natur‹, als natura rerum zu fassen. Sich an Erkenntnis zu orientieren, heißt, den Geist zu betätigen, um die intima rerum offenzulegen – eine methodische Entscheidung, durch die sich, gestützt durch das berühmte clare et distincte percipere, jegliche menschliche Erkenntnis vollends als ein inspicere in die intima auffassen lässt. Versuchen wir nun, Theorie und Methode im Sinne einer solchen DingPhilosophie endgültig zusammen zu führen: Hierzu sind die beiden Fragen zu beantworten, was in den Dingen liegt, um sie tätig werden zu lassen, und – damit verknüpft – wie wir diese Tätigkeit beschreibbar machen können. Auf beides gibt der Mechanizismus eine Antwort; sie lautet ›Kraft‹. Die Kraft der Erkenntnis legt die Kräfte offen, die in den Dingen herrschen. Die Kraft des Geistes erkennt die Kräfte der Materie. Er erkennt, mehr noch, ihre Relationen, ihre Gewichtungen zueinander. Er verhält sich dabei auch selbst wiederum operational und zugleich aristotelisch; denn er verwirklicht sich in der Vollendung seines Erkenntnisstrebens, ganz so, wie sich das zu erkennende Ding in seinen Tätigkeiten verwirklicht. Das bedeutet nicht weniger als eine elegante Überwindung der alten Streitfragen, die sich zwischen den Positionen des Materialismus und des Intellektualismus aufspannten. 337 Wenn es nämlich die einzige genuine Eigenschaft der natura naturata sei, ausgedehnt zu sein, sind sämtliche verstopfen, alle Sinne ablenken, auch die Bilder körperlicher Dinge entweder allesamt aus meinem Bewusstsein tilgen oder, da dies wohl kaum möglich ist, sie doch wenigstens als eitle und falsche für nichtig erachten – und ich werde versuchen, indem ich einzig zu mir selbst spreche und noch tiefer in mich einblicke, mir mich selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu machen« (Descartes, Meditationes, Med. III, 34: »Claudam nunc oculos, aures obturabo, avocabo omnes sensus, imagines etiam rerum corporalium omnes vel ex cogitatione mea delebo, vel certe, quia hoc fieri vix potest, illas ut inanes et falsas nihili pendam, meque solum alloquendo et penitius inspiciendo meipsum paulatim mihi magis notum et familiarem reddere conabor.«) Die Dramaturgie dieser Szene, die den klassischen Aufbau einer contemplatio aufweist, scheint hier nicht grundlos gewählt. Sie arbeitet der Sublimierung des (penitius) inspicere als der einzigen Möglichkeit zu, vom Zweifel bereinigte Erkenntnisse zu erlangen. 337 In dem Sinne, dass gefragt wurde, ob die Seele auch körperlich sei (wie es der Epikureismus verfocht) oder nur das vom Geist Erkannte wirklich existiere (wie es Parmenides formulierte).
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Naturprozesse, die man ansonsten (losgelöst von der Ausgedehntheit) auf die körperliche Welt reduzieren würde, prinzipiell auch auf geistiger Ebene leistbar. 338 Damit stellt der Mechanizismus einen theoretischen ›Überbau‹ her – der gemäß seinem eigenen reduktionistischen Bestreben gar nicht als ›Überbau‹, vielmehr als eine Form von Grundlegung aufzufassen wäre – und belässt bei alledem die Selbsttätigkeit der Dinge als Selbsttätigkeit den Dingen selbst. Somit wird ersichtlich, dass der Mechanizismus zwar einerseits die ausgedehnte Wirklichkeit benötigt – eine Wirklichkeit, die aristotelisch-scholastisch als natura naturata oder cartesianisch als res extensa fassbar erscheint; ausgebreitet wird diese Quantität innerhalb der beiden (eben nicht mehr quantitativ fassbaren) Extrempunkte. Diese Extrempunkte sind ihre Eigentätigkeit auf der einen und die menschliche Erkenntnistätigkeit auf der anderen Seite. Die Dinge sind quantitativ ausgebreitet, in ihnen selbst schlummert der Urgrund der Eigentätigkeit, und von außen erreicht sie der menschliche Erkenntnisblick. Es sind also Qualitäten, welche die letzten erfassbaren Enden der Quantitäten bilden. Nähern wir uns den Phänomenen aus der Perspektive der Dinge selbst, so benötigen wir eine Qualität, die in ihnen liegt, um ihre Selbsttätigkeit zu verstehen; wollen wir unseren Geist in seiner Erkenntnistätigkeit verstehen, so benötigen wir eine Qualität (etwa einen Willen oder ein Vermögen zur Erkenntnis), die in ihm liegt. 339 Wenn im weiteren Verlauf Newtons und Leibniz' Kraftkonzepte wie vis inertiae, vis insita, vis interna, vis activa oder vis primitiva ins Spiel kommen werden, so ist diese naturphilosophische Konditionierung stets mit zu bedenken. Die Auslagerung von intrinsischen Größen auf ein theoretisch ausgebreitetes, vor dem geistigen Auge betrachtbares Tableau, wie wir sie an den geometrischen Beispielen bei Newton und Leibniz ersehen konnten, stellt eine nachhaltige Erneuerung von Theorie und Methode und zugleich deren Schulterschluss dar. Dasjenige, was Hirn- oder Zirbeldrüse nicht überzeugend zu leisten imstande waren, nämlich als Zwischenorgane eine Lösung zur Vermittlung zwischen den Substanzen zu liefern, bewirkt die nach-cartesianische
Genau genommen auf mittlerer psychischer Ebene: Physikalische Eigenschaften wie Wärme und Kälte im Inneren abzubilden, sie gleichsam in absentia zu erzeugen, ist nicht Aufgabe des intellektualen Vermögens, sondern der Einbildungskraft. 339 Zwar scheint der Wille auf den ersten Blick eine rein graduelle, durch Quantitäten erfassbare Größe zu sein – wenn wir etwa von einem ›starken‹ oder ›schwachen Willen‹ sprechen; er benötigt aber, wie auch die Kraft selbst, ein Paradigma, auf das er sich richtet. Ein Wille ist kein Wille zu etwas Beliebigem, sondern – wie wir schon bei Platon und Aristoteles sahen – stets auf einen Gegenstand, eine Handlung oder ein anderes Seelenvermögen bezogen. Metaphysische Voluntarismen, wie wir sie etwa im 19. Jahrhundert in der Philosophie Schopenhauers sehen können, der von einem ›blinden Willen‹ der Weltnatur ausgeht, spielen in der Frühen Neuzeit eine untergeordnete Rolle. 338
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Mechanik, indem sie die intima rerum behandelt, als wäre diese extensiv – und damit – nach traditioneller Terminologie – Bestandteil der natura naturata. Mögen also auch Tätigkeits- und Erkenntnisprinzip selbst unausgedehnt sein, so sind sie über die Entfaltung ihrer Kräfte mit der quantitativen Wirklichkeit verknüpft. Bevor wir auf diese wichtigste Spielart der Mechanik der Frühen Neuzeit genauer eingehen, ist ein weiteres Mal der Bogen zur Antike zu schlagen: Es war bisher viel von Aristoteles die Rede, wenn es um den philosophischen Aufstieg der Mechanik ging. Dabei hatten wir allerdings – es sei nur an Kapitel iii.1.b und Kapitel iii.2.b erinnert – ganz verschiedene Aristotelismen kennen gelernt: den Aristotelismus, der Natur und Bewegung eng aufeinander bezieht, sie teils gar in eins fasst, und den Pseudo-Aristotelismus, der die Unverträglichkeit der Mechanik mit der Natur betont. Was also hat die mechanistische Naturphilosophie gegen Ende des 17. Jahrhunderts noch genau mit Aristoteles und Pseudo-Aristoteles zu tun? Die Antwort kann lauten: nur noch wenig mit den Problemata mechanica, sehr viel jedoch noch immer mit der Physik. Um die Fortentwicklung im Vergleich zur Rolle, die Aristoteles in der archimedischen Renaissance zugewiesen wurde, zu verdeutlichen, ist es hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, was nach Aristoteles Kräfte und Bewegungen überhaupt als ›natürliche‹ erscheinen lässt. Legt man Physik und Metaphysik synoptisch nebeneinander, so fällt auf, dass Natürlichkeit sehr eng an die Frage nach der Notwendigkeit dinglicher Zustände gekoppelt wird. Ebendieses Kriterium wird dann auch für die Bewegungen veranschlagt: Sie sind für Aristoteles wesensgemäß, indem sie einen Urgrund aufweisen, der unverbrüchlich in der Notwendigkeit (κατ᾽ ἀνάγκην/kat' anánke¯n) verankert liegt. Daher finden sich die in den Dingen vorhandenen Bewegungen, wie etwa Wachstum (αὔξησις/aúxe¯sis) und Vergehen (φθίσις/phthísis), im Gegensatz zu äußeren Einflüssen, die dem Bereich der natura naturata zuzuschreiben wären, auch nicht dem Zufall verpflichtet, sondern werden über den Verbund von ἀρχή (arch´¯e) und αἰτία (aitía) in ihrem eigenen Bereich belassen; sie sind in diesen Zusammenschlüssen in einem elementaren Sinn ›naturgemäß‹ und ›notwendig‹ zugleich zu nennen. Bewegungen fallen dementsprechend unter dieses Naturparadigma, wenn sie notwendig sind; sie tragen dann zur naturgemäßen Formung eines ›Dinges an sich‹ bei. Alle anderen Bewegungen sind demgegenüber kontingente Ereignisse, die sich – und das ist die Schlussfolgerung, die der Mechanizismus aufgrund seiner präzisen Beschreibungsmöglichkeiten körperlicher Antriebe, Einprägungen und Impulse nicht zu teilen bereit ist – auf einer niedrigeren ontischen Ebene befinden. Kaum etwas gilt für Aristoteles als ausgemachter, als die Tatsache, dass »Naturbeschaffenheit doch wohl ein Anfangsgrund und Ursache von Bewegung und Ruhe an dem Ding ist, dem sie zuvorderst an
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und für sich und nicht akzidentell zukommt.« 340 Möchte man die Mechanik nun mit der Dignität eines derart essentiellen Ursachenbegriffs ausstatten, sie also davor schützen, gleichsam völlig in das Reich der Kontingenz abzudriften, so muss der Weg zunächst in den Bereich derjenigen Kräfte führen, die mit einem Ding selbst verhaftet sind. 341 Die Mechanik darf auf diesem Weg gleichwohl nicht den Fehler begehen, ihr ursprüngliches Hoheitsgebiet, ein auf kausalursächlich verknüpften Bewegungsquantitäten beruhendes Weltbild, zu verleugnen. Vielmehr muss sie beides, Essenz und Kraft, auf eine Ebene bringen. Der Zugewinn gegenüber dem klassischen Aristotelismus liegt darin, dass die Mechanik genuin nicht auf eine teleologische Ursachenlehre angewiesen ist, sich aber ihrer bedienen kann, um den Bereich der Metaphysik zu betreten. Das Kriterium, sich naturgemäß zu verhalten, wird durch ein operationales Prinzip demzufolge nicht einfach abgelöst, sondern im 17. Jahrhundert nach wie vor benötigt, um die Selbsttätigkeit der Materie mit einer philosophischen Würde auszustatten. Man gelangt hierdurch von einer Beschreibung der Phänomene zu einer Erklärung der selbigen. Wo jedoch zu der Zeit Del Montes und seiner Anhänger unter Berufung auf die pseudo-aristotelischen Problemata mechanica die Mechanik als künstlich, menschengemacht, bisweilen gar als widernatürlich vorgestellt wurde, sind es hier ausgerechnet wiederum aristotelischen Paradigmen, die eine Rolle zur Begründung der Natürlichkeit mechanischer Vorgänge im Universum spielen. Sie stammen nunmehr allerdings aus der Physik und gründen sich auf den Paradigmen von Vermögen (δύναµις) und Energie (ἐνέργεια). Durch die Bevorzugung der δύναµις als Form lebendiger Kräfte im Gegensatz zu den rein maschinellen Kräften wird zudem, wissenschaftsgeschichtlich besehen, die Trennung von Statik und Dynamik zugunsten der Dynamik überwunden – insofern nämlich die Dynamik die Ursachen von Bewegung und Ruhe als natürliche Zustände der Körper mit einbezieht. Und hierfür eignet sich nichts besser als das klassische naturphilosophische Erfordernis aus dem Aristotelismus, das besagt, dass Bewegung gerade nicht auf Quantitäten, sondern auf Qualitäten zurückzuführen sei. 342 Sie zeigen sich in Aristot., phys., 2, 1, 192b20–22: »ὡς οὔσης τῆς φύσεως ἀρχῆς τινὸς καὶ αἰτίας τοῦ κινεῖσθαι καὶ ἠρεµεῖν ἐν ᾧ ὑπάρχει πρώτως καθ᾽ αὑτὸ καὶ µὴ κατὰ συµβεβηκός.«). 340
341 So befindet sich Leibniz’ Kontingenz-Begriff, der besagt, dass die »Existenz nicht aus dem Wesen [eines Geschöpfes] folgt« (Leibniz, De contingentia, 178: »existentia non sequitur ex ipsarum [creaturae] essentia«), in vollkommener aristotelischer Tradition. 342 Denn der Übergang von der δύναµις zur ἐνέργεια ist – wie in Teil II der Studie in verschiedenen Kontexten gesehen – stets ein Übergang von einem Potential zu etwas Bestimmtem, wobei das Potential das Bestimmte bereits als Zweckursache in sich enthält – im Gegensatz zu einem Potentialbegriff, der auf eine bloße quantitative Verwirklichung an sich beliebiger Phänomene ausgerichtet wäre.
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universellen Zusammenhängen und benötigen dementsprechend ein umfassendes theoretisches Rüstzeug. Leinkauf formuliert diesen Umstand wie folgt: Wenn die mechanistischen und die dynamischen Naturinterpretationen allerdings an ihre argumentativen Grenzen stoßen, wird trotz allem auf nichtempirische oder sogar nicht-materielle Ursachen oder Prinzipien zurückgegriffen, auf axiomatische universelle Eigenschaften der Körper, auf vorausgesetzte Kräfte, auf ein überall präsentes Vermittlungsprinzip oder, in letzter Instanz, wie bei Descartes' zweitem Naturgesetz in den Principia philosophiae, auf Gott. 343
Tatsächlich stehen bei Descartes, wie sich anhand des Bewegungsbegriffs ersehen ließ, keine Kräfte als Ursachen im Hintergrund, sondern ein über die cogitatio intellektualistisch erschließbares Gottesprinzip. Verwundern könnte an Leinkaufs Einlassungen, dass es erst dann zu einer Empirie komme, wenn Mechanik und Dynamik an ihre »argumentativen Grenzen stoßen«; denn intuitiv würde man einen Einschluss der Empirie bereits in einem viel früheren Stadium, in der Betrachtung der körperlichen Natur selbst vermuten. Diese Empirie ist jedoch, wie gesehen, nicht das Erkenntniskriterium des Cartesianismus; sie entspricht weder dem inspicere noch dem clare et distincte percipere; vielmehr sind Erfahrungswelten in der Regel durch die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke vermischt, vermengt und verworren zu nennen. Und auch Leibniz wird sich nicht auf die neuzeitliche Empirie verlassen, um seine Theorie von den Kräften weiterzuentwickeln; vielmehr wendet er sich teils überraschenden antiken Autoritäten zu.
3.a. Leibniz’ Platon, Vergil und Aristoteles
Betrachten wir die Etablierung der dynamischen Naturphilosophie durch Leibniz sowie die Art und Weise, wie er dabei Platon, Aristoteles und sogar Vergil zu neuer Geltung verhilft: Die oben genannten Entwicklungen werden prominent von Leibniz im 18. und 21. Paragraphen des Discours de métaphysique von 1686, der als die erste umfassende systematische Abhandlung der leibnizschen Theoreme zur Metaphysik gelten kann, zusammengeführt. Zunächst sei der Blick auf die Paragraphen 17–18 geworfen; in ihnen wird das Verhältnis zwischen Kraft und Bewegung aufgeschlüsselt. Hierbei geht es um eine Differenzierung zwischen bewegender Kraft und dem daraus resultierenden Bewegungsphänomen. Die Quantität der Bewegung muss dabei nicht der be343
Leinkauf (2000), 406.
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wegenden Kraft entsprechen; wichtig ist allerdings, dass der Erhaltungssatz den Ausgangspunkt des Kraftbegriffs bildet und im Einklang mit der Vernunft begründet wird: »Es ist nun vernunftgemäß, dass die gleiche Kraft immer im Universum erhalten bleibt«. 344 Mögen also Bewegungen zu- und abnehmen, sich beschleunigen und verlangsamen, so bleibt doch die Gesamtkraft immer die gleiche. Es handelt sich mithin um eine axiomatische Eigenschaft des Universums. Die Erläuterung dieses Axioms folgt noch im selbigen Paragraphen. Er gibt dadurch weitere wichtige Aufschlüsse über Leibniz' Kraftbegriff: Wenn man die Erscheinungen betrachtet, sieht man auch gut, dass es keine andauernde mechanische Bewegung gibt, da sonst die Kraft einer Maschine, die immer ein wenig durch die Reibung verringert wird und bald am Ende sein wird, sich wiederherstellen und sich folglich nicht vergrößern würde ohne einen neuen Anstoß von außen her. 345
Die Mechanik beschreibt demnach Bewegungen unterschiedlichen Ausmaßes anhand zeitlich fassbarer Anfangs- und Endzustände. Die Kraft einer Maschine würde aber, so sie durch ihre Bewegungsmechanismen selbst an Kraft verlöre, immer wieder einen Anstoß von außen benötigen – ein Umstand, der bezogen auf das Universum, das ja selbst kein Außen kennt, nicht plausibel erscheint. Kraft ist somit die umfassendere und der Bewegung vorgeordnete Größe. Im Folgenden nimmt Leibniz dann die Abgrenzung von Descartes und dessen Größen einer quantitas motu¯ s (quantité de mouvement) und einer extensio (extendue) vor: § 18. Die Unterscheidung der Kraft und der Bewegungsquantität ist wichtig, um unter anderem zu urteilen, dass man auf metaphysische Überlegungen zurückkommen muss, die von der Ausdehnung losgelöst sind, um die Erscheinungen der Körper zu erklären. [. . . ]
Leibniz, Discours de métaphysique, § XVII: »Or il est bien raisonnable que la même force se conserve tousjours dans l’univers.« Im Manuskript folgt noch die Absage an eine Widerstandskraft, die universell, mithin außerhalb distinkter Körper existieren würde: »en general puisqu’en prenant tout l’univers rien ne lui resiste« (»im allgemeinen, da ihr nichts widersteht, wenn man das Universum im Ganzen sieht.«). 345 Ebd.: »Aussi quand on prend garde aux phenomenes, on voit bien que le mouvement perpetuel mecanique n’a point de lieu, parce qu’ainsi la force d’une machine, qui est tousjours un peu diminuée par la friction et doit finir bientost, se repareroit, et par consequent s’augmenteroit d’elle même sans quelque impulsion nouvelle de dehors«. 344
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§ 21. Wenn die Regeln der Mechanik allein von der Geometrie ohne die Metaphysik abhingen, wären die Phänomene ganz andere. 346
Wo in § 17 der Fokus auf dem allgemeinen Erhalt der Kräfte lag, steht hier die Absage gegenüber quantitativen Größen und Disziplinen: der Bewegungsquantität, der Ausdehnung und der Geometrie. Wir hatten genau diese noch in Descartes' Discours de la méthode als konstitutiv für die auch hier von Leibniz begrifflich angeführten règles mécaniques vorgefunden. Die Kraft bringt somit gegenüber dem cartesischen Weltbild Vorstellungen von Persistenz (im Gegensatz zur Vergänglichkeit) und Qualität (im Gegensatz zur Quantität) in ein mechanistisches System ein. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Spannkraft (ressort). Sie kann als materielles Prinzip gelten, das zu- und abnehmen kann, während die Gesamtkraft unverändert bestehen bleibt. Leibniz spricht selbst in einem Brief an Arnauld vom 30. April 1687 davon, dass »die Spannkräfte der Körper bereit sind, in der nötigen Weise zu spielen« 347 – und zwar »ohne Verletzung der beiden großen Naturgesetze der Erhaltung der Kraft und der Richtung«. 348 In diesem Sinn werden körperliche Phänomene beschreibbar, ohne an der ausgewogenen Konstitution der Welt rütteln zu müssen. Deleuze verallgemeinert treffend diese für die Philosophie Leibniz' konstitutive Denkfigur, der zufolge es offensichtlich [wird], dass der Mechanismus der Materie die Spannkraft ist. Wenn die Welt unendlich ausgehöhlt ist, wenn es Welten in den winzigsten Körpern gibt, dann darum, weil ›überall Spannkraft in der Materie‹ ist, die nicht nur die unendliche Unterteilung der Teile bezeugt, sondern auch die Zunahme in Zuwachs und Nachlassen der Bewegung bei gleichzeitiger Realisierung der Krafterhaltung. 349
Für Leibniz steht somit die Frage im Mittelpunkt, nach welchen Prinzipien sich die Phänomene der Körperwelt in ihren Verhältnissen zueinander ordnen. Die unendliche Aushöhlung der Welt verweist auf ihre eigene Gestalthaftigkeit, Leibniz, Discours de métaphysique, §§ 18–21: »§ 18: La distinction de la force et de la quantité de mouvement est importante, entre autres pour juger qu’il faut recourir à des considerations metaphysiques separées de l’entendue à fin d’ expliquer les phenomenes des corps. [. . . ] § 21: Si les règles mécaniques dependoient de la seule Geometrie sans la Metaphysique, les phenomenes seroient tout autres«. 347 Leibniz, Correspondance avec Arnauld, 30 avril 1687, 182: »les ressorts des corps soient prests à jouer d’eux mêmes, comme il faut«. 348 Ebd.: »sans violer à tout moment les deux grandes loix de la nature, sçavoir celles de la force et de la direction«. 349 Deleuze (2000), 17. Im Gegensatz zu den Einlassungen bei Deleuze ist Bergmann (2002) hierzu nicht überzeugend. 346
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für die es Prinzipien bedarf, die als formende Ursache gelten können. In Paragraph 20 des Discours de métaphysique wird nun die Suche nach einem solchen Prinzip aufgenommen – und zwar über Platons Phaidon, einen Dialog, der »ausdrücklich gegen unsere allzu materialistischen Philosophen gemacht zu sein scheint«. 350 So wenig Platon natürlich die frühneuzeitlichen Materialisten im Sinn haben konnte, so sehr wird ihm hier von Leibniz die Rolle zugewiesen, bereits gegen diese angeschrieben zu haben. Leibniz bezieht sich hierzu auf »Phaidon 96 ff.« 351 und hatte offensichtlich noch die Beifügung einer Übersetzung der entsprechenden Passagen geplant. Diese wurde im Manuskript jedoch nicht mehr verwirklicht, stattdessen steht eine Leerstelle. So verhältnismäßig ungenau auch die Angabe »96 ff.« anmutet, ist dennoch auf Grundlage der Stephanus-Paginierung leicht erschließbar, dass es Leibniz um Stellen wie die folgende geht: Als ich aber einst jemanden aus einem Buch, wie er sagte, des Anaxagoras, lesen hörte, dass die Vernunft das Anordende sei und die Ursache aller Dinge, erfreute ich mich an dieser Ursache; und gewissermaßen schien es mir sehr richtig zu sein, dass die Vernunft die Ursache aller Dinge ist; und ich glaubte, wenn dies sich so verhält, so werde die ordnende Vernunft schon alles ordnen und ein jegliches so hinstellen, wie auch immer es sich am besten befindet. 352
Wir sehen Sokrates, wie er sich in launigem Ton zu einem scheinbaren Anhänger des Anaxagoras, zumindest des bei Anaxagoras diskutierten Vorschlags eines formgebenden Vernunftprinzips, das die Körperwelt zu gestalten vermöge, 353 stilisiert. Die Dualität zwischen Materie und Geist, zwischen Körper Leibniz, Discours de métaphysique, § 20: »semble estre fait exprés contre nos Philosophes trop materiels«. 351 Ebd., § 20, marg. 352 Plat., Phaid., 97b8–c6: »Α ᾿ λλ᾽ ἀκούσας µέν ποτε ἐκ βιβλίου τινός, ὡς ἔφη, Α ᾿ ναξαγόρου ἀναγιγνώσκοντος, καὶ λέγοντος ὡς ἄρα νοῦς ἐστιν ὁ διακοσµῶν τε καὶ πάντων αἴτιος, 350
ταύτῃ δὴ τῇ αἰτίᾳ ἥσθην τε καὶ ἔδοξέ µοι τρόπον τινὰ εὖ ἔχειν τὸ τὸν νοῦν εἶναι πάντων αἴτιον, καὶ ἡγησάµην, εἰ τοῦθ᾽ οὕτως ἔχει, τόν γε νοῦν κοσµοῦντα πάντα κοσµεῖν καὶ ἕκαστον τιθέναι ταύτῃ ὅπῃ ἂν βέλτιστα ἔχῃ«. Aus den überlieferten Fragmenten und Testimonien zu Anaxagoras ist zu erkennen, um welchen Diskussionspunkt es hier geht. Der νοῦς wird dort als Weltgeist mit mechanischen Fähigkeiten vorgestellt. Er verfügt über Kraft und vermag es, die Dinge voneinander zu scheiden und in Bewegung zu versetzen: »Denn sie [sc. die Vernunft] ist das feinste und das reinste aller Dinge und besitzt von allem alle Kenntnis und hat die größte Kraft. Und was auch immer Leben besitzt, die größeren wie die kleineren Wesen, über alle hat die Vernunft Herrschaft. Auch über die gesamte Drehung [sc. der Planeten] hat die Vernunft die Herrschaft angetreten, so dass sie dieser Drehung den Anstoß gab. [. . . ] Und als die Vernunft die Bewegung anstieß, sonderte sie sich von allem ab, was in Bewegung gesetzt wurde. Und alles, was die Vernunft in Bewegung gesetzt hat, wurde voneinander geschieden. Während der Bewegung und Scheidung aber bewirkte die Umdrehung 353
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und Intellekt, bildet hier das klassische Gerüst für die Suche nach dem formgebenden Prinzip der Materie. Das übertriebene Sich-Verlassen auf den νοῦς, das fast schon mit ›Die Vernunft wird es schon richten‹ zu paraphrasieren ist, zeigt aber eine Doppelbödigkeit in der Argumentation an. Die vollkommen tautologische Aussage, der zufolge »die ordnende Vernunft alles ordnen« (νοῦν κοσµοῦντα πάντα κοσµεῖν) werde, 354 kann sinnbildlich für die Irrwege stehen, die der Mensch bei der Suche nach metaphysischen Ursachen für physische Phänomene betritt. Eine weitere Pointe folgt kurz darauf: Von dieser wunderbaren Hoffnung, mein Freund, fiel ich nun schnell ab, als ich beim Lesen [sc. des Anaxagoras] fortschritt und sah, dass der Mann [sc. Anaxagoras] mit der Vernunft überhaupt nichts anfangen kann und auch sonst überhaupt keine Gründe bemüht, die sich auf das Anordnen der Dinge bezögen, und dass er dagegen Luft und Äther und Wasser anführt und vieles weitere Wunderliche. Und mir schien, dass es ihm so ergangen ist wie jemandem, der zuerst sagte, Sokrates tue alles, was er tut, aus Vernunft, dann aber – wenn er daran ginge, die Gründe anzuführen von jeglichem, was ich tue – sagen wollte, dass ich zuallererst hier säße, weil mein Körper aus Knochen und Sehnen besteht, und dass die Knochen dicht sind und durch Gelenke voneinander getrennt, die Sehnen hingegen so eingerichtet sind, dass sie angezogen und gelockert werden können, und die Knochen neben dem Fleisch und der Haut, das sie zusammenhält, umgeben. Da nun die Knochen in ihren Gelenken schweben, so bewirken die Sehnen, wenn ich sie nachlasse und anziehe, dass ich jetzt in der Lage sei, meine Gliedmaßen zu bewegen, und aus diesem Grunde säße ich jetzt hier mit gebogenen Knien. 355 eine noch viel stärkere Scheidung voneinander.« (Anaxag., DK 59 B 12 f.: »ἔστι γὰρ λεπτότατόν τε πάντων χρηµάτων καὶ καθαρώτατον, καὶ γνώµην γε περὶ παντὸς πᾶσαν ἴσχει καὶ ἰσχύει µέγιστον· καὶ ὅσα γε ψυχὴν ἔχει καὶ τὰ µείζω καὶ τὰ ἐλάσσω, πάντων νοῦς κρατεῖ. καὶ τῆς περιχωρήσιος τῆς συµπάσης νοῦς ἐκράτησεν, ὥστε περιχωρῆσαι τὴν ἀρχὴν. [. . . ] καὶ ἐπεὶ ἤρξατο ὁ νοῦς κινεῖν, ἀπὸ τοῦ κινουµένου παντὸς ἀπεκρίνετο, καὶ ὅσον ἐκίνησεν ὁ νοῦς,
πᾶν τοῦτο διεκρίθη· κινουµένων δὲ καὶ διακρινοµένων ἡ περιχώρησις πολλῶι µᾶλλον ἐποίει διακρίνεσθαι.«). 354 Das in Apò koinoû-Stellung zu κοσµοῦντα und κοσµεῖν stehende πάντα befördert hier einen Gedanken, der sich im Grunde selbst erklärt: Wenn die Vernunft alles ordnet (κοσµοῦντα πάντα), so wird durch sie alles geordnet (πάντα κοσµεῖν). 355 Plat., Phaid., 98b7–d7: »Α ᾿ πὸ δὴ θαυµαστῆς ἐλπίδος, ὦ ἑταῖρε, ᾠχόµην φερόµενος, ἐπειδὴ προϊὼν καὶ ἀναγιγνώσκων ὁρῶ ἄνδρα τῷ µὲν νῷ οὐδὲν χρώµενον οὐδέ τινας αἰτίας ἐπαιτιώµενονεἰς τὸ διακοσµεῖν τὰ πράγµατα, ἀέρας δὲ καὶ αἰθέρας καὶ ὕδατα αἰτιώµενον καὶ ἄλλα πολλὰ καὶ ἄτοπα. καί µοι ἔδοξεν ὁµοιότατον πεπονθέναι ὥσπερ ἂν εἴ τις λέγων ὅτι Σωκράτης πάντα ὅσα πράττει νῷ πράττει, κἄπειτα ἐπιχειρήσας λέγειν τὰς αἰτίας ἑκάστων ὧν πράττω, λέγοι πρῶτον µὲν ὅτι διὰ ταῦτα νῦν ἐνθάδε κάθηµαι, ὅτι σύγκειταίµου τὸ σῶµα ἐξ ὀστῶν καὶ νεύρων, καὶ τὰ µὲν ὀστᾶ ἐστιν στερεὰ καὶ διαφυὰς ἔχει χωρὶς ἀπ᾽ ἀλλήλων, τὰ δὲ νεῦρα οἷα ἐπιτείνεσθαι καὶ ἀνίεσθαι, περιαµπέχοντα τὰ ὀστᾶ µετὰ τῶν σαρκῶν καὶ
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Sokrates' Lektüreerlebnis kommt einer Desillusionierung gleich. Mutete ihm zunächst die Möglichkeit einer ordnenden Vernunft, einer Art Weltseele, scheinbar attraktiv an, so endet seine Anaxagoras-Lektüre in einem rein mechanischen, körperlichen und von Kausalursachen geprägten Weltbild. Die Abfolge der hierzu angeführten Verbalausdrücke – Bewirken (ποιεῖ), Nachlassen (κάµπτεσθαι), Anziehen (συντείνοντα), Entspannen (χαλῶντα) und Biegen (συγκαµφθείς) – bildet geradezu ein Inventar dessen, was die Mechanik auszeichnet – gesetzt den Fall, dass man sie ohne Metaphysik denkt. Neben dem Bezug auf die Antike anhand der sich historisch vertiefenden Linie Platon – Sokrates – Anaxagoras begründet Leibniz seine Vorliebe für den Kraftbegriff aus einer zweiten Quelle heraus, namentlich aus der jüngeren Geschichte des Massenbegriffs: Nicht nur erweitert der leibnizsche Massenbegriff, wie wir ihn in Kapitel iii.1.c.β kennengelernt haben, die alte Unterscheidung eines primären und sekundären Materiebegriffs um eine in unterschiedlichen Abstraktheitsgraden beschreibbare Masse; er bildet vielmehr zugleich die Grundlage für das Fortschreiten in Richtung eines Kraftbegriffs. 356 Denn was für die Bewegung gilt, gilt auch für die Masse: Sie reicht für Leibniz nicht aus, um die Naturgesetze zu beschreiben. Werfen wir hierzu einen Blick auf die Einlassungen im Système nouveau de la nature et de la communication des substances (1695), das in Auseinandersetzung mit den naturphilosophischen Vorgängern Descartes, Huygens, Boyle und Gassendi entstanden ist. Leibniz berichtet von seinem Erkenntnisweg, ganz ähnlich wie Descartes im Discours de la méthode, in Reflexion der eigenen philosophischen Biographie: Später aber, nachdem ich versucht hatte, die Prinzipien der Mechanik selbst zu vertiefen um den Grund der Naturgesetze anzugeben, welche die Erfahrung erkennen lässt, sah ich ein, dass die Annahme einer ausgedehnten Masse alleine nicht ausreicht und dass man noch den Begriff der Kraft anwenden muss, der sehr verständlich ist, obwohl er in den Bereich der Metaphysik fällt. 357
Leibniz entschuldigt sich hier fast schon dafür, die Metaphysik überhaupt ins Spiel kommen zu lassen (quoyqu'elle soit du essort de la Métaphysique) – eben δέρµατος ὃ συνέχει αὐτάÿ αἰωρουµένων οὖν τῶν ὀστῶν ἐν ταῖς αὑτῶν συµβολαῖς χαλῶντα καὶ συντείνοντα τὰ νεῦρα κάµπτεσθαί που ποιεῖ οἷόν τ᾽ εἶναι ἐµὲ νῦν τὰ µέλη, καὶ διὰ ταύτην τὴν αἰτίαν συγκαµφθεὶς ἐνθάδε κάθηµαι«. Vgl. hierzu treffend Jammer (1964), 81. Leibniz, Systeme nouveau de la nature et de la communication des substances, 202: »Mais dépuis, ayant taché d’approfondir les principes mêmes de la Mecanique, pour rendre raison des loix de la nature que l’experience faisoit connoistre, je m’apperçûs que la seule consideration d’une masse étendue ne suffisoit pas, et qu’il falloit employer encor la notion de la force, qui est tres intelligible, quoyqu’elle soit du ressort de la Métaphysique«. 356 357
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darum, weil seine Vorgänger, besonders Huygens und Boyle, in ihren Theorien von den Teilchen und Korpuskeln auf diese noch freimütig verzichtet hatten. Die Masse hatten wir demgegenüber in Kapitel iii.1.c.β als einen komplexen Begriff vorgefunden – insbesondere in Leibniz' Briefverkehr mit Thomasius, wo er den Massebegriff anhand verschiedener Grundzustände der Materie ausdifferenzierte und im Zuge dessen bereits dem Atomismus – wenn auch sachlich ungerechtfertigt – krafttheoretische Argumente entgegensetzte. Daraus erschließt sich, dass für Leibniz die Probleme der Mechanik nicht mehr von der körperlichen Welt abhängen, sondern einzig und allein von der Metaphysik. Metaphysik und Kraft gehen im Zuge dessen praktisch ineinander auf. 358 Ziehen wir beides, den Verweis auf den Phaidon und die Überwindung des Konzepts der ausgedehnten Masse, zusammen, so ergibt sich eine Absage an die körperlichen Ursachen zur Bestimmung der Körperwelt. Wo Sokrates von seinen angespannten Sehnen sprach, geht es Leibniz um die Spannkraft der Materie überhaupt. Wo eine auf körperliche Stoffe und Bewegungen reduzierte Erklärungsweise für Sokrates nach eigenem Bekunden eine bittere Enttäuschung, weil Abwendung von der Vernunft bedeutete, belässt Leibniz die Sphäre des Körperlichen in ihrem eigenen Gebiet: dem Gebiet der Bewegungen. Damit ist gewährleistet, dass in der physischen Welt neben Anspannungen eben auch Entspannungen, und damit auch Kraftverluste, herrschen können. Mag das Universum gemäß seiner körperlichen Gegebenheit wie eine Maschine wirken, so ist seine Gesamtkraft nicht von jenen Verlusten betroffen, die bei einer Maschine in actu zwangsläufig entstehen. Vertiefen wir diesen Punkt, indem wir die Kräfte zunächst eng auf die Körperwelt beziehen: Wie in Kapitel iii.1.c.β gesehen, sind die Eigenschaften, welche die Frühe Neuzeit klassischerweise hierzu anführt, Masse, Trägheit und Widerstand. Und so ist es nicht verwunderlich, dass auch Leibniz besonderes Interesse an diesen Größen in seinem Briefverkehr mit dem Mathematiker und Naturphilosophen Guillaume François Antoine (1616–1704), bekannter als Marquis de l'Hospital, in den 1690er Jahren zeigt. In diesem Briefverkehr führt Leibniz mit Kepler eine der wichtigsten Referenzgrößen aus der Astronomie an, um das Trägheitsprinzip zu illustrieren; zugleich überrascht er mit einem intertextuellen Verweis auf Vergil, der auf die Widerstandskraft der Körper bezogen wird: Die natürliche Trägheit der Körper nämlich, die von Kepler, von dem auch diese Bezeichnung herstammt, beobachtet wurde, hat zur Folge, dass die Substanzen 358
Ob Sokrates mit dieser Antwort zufriedener gewesen wäre, ist allerdings nicht überliefert.
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nur insoweit wirken, als sie nicht durch den Widerstand der Körper gehemmt werden: quantum non noxia corpora tardant, um diesen Worten Virgils einen philosophischen Sinn zu geben. 359
Das von Leibniz angeführte Zitat findet sich im Rahmen der Unterweltfahrt im sechsten Buch der Aeneis. Dort findet ein Gespräch zwischen Aeneas und seinem Vater Anchises statt. Das intertextuelle Spiel zwischen Keplers natürlichem Trägheitsbegriff und Vergils ›Körperlehre‹ ist nicht nur im Rahmen des von Leibniz zitierten Halbverses vorzustellen, sondern entfaltet seine Wirkung im weiteren Zusammenhang der Passage – deren Kenntnis Leibniz bei seinen Lesern offenbar voraussetzt: Aeneas wundert sich auf seiner Reise durch den Hades über das Verlangen der Verstorbenen, wieder an die Oberfläche der Erde zurückzukehren, und fragt sich, ob überhaupt eine Möglichkeit dazu existiere oder ob das Streben danach nicht vielmehr sinnlos zu nennen wäre: O pater, anne aliquas ad caelum hinc ire putandum est sublimis animas iterumque ad tarda reverti corpora? quae lucis miseris tam dira cupido? 360
Bereits hier sehen wir die Körper mit ihrer klassischen Eigenschaft der Trägheit ausgestattet (tarda corpora). Zudem schwingt der Gedanke mit, dass es eigentlich gar nicht so verheißungsvoll sein könne, die Seele wieder einem trägen Körper zu überantworten; dass es sich dabei vielmehr um eine Art von unnatürlichem Trieb handle. Diese Frage berührt Punkte der Naturphilosophie wie auch der Psychologie. Anchises holt dementsprechend in seiner Antwort sehr weit aus: 725
Principio caelum ac terras camposque liquentis lucentemque globum lunae Titaniaque astra spiritus intus alit, totamque infusa per artus mens agitat molem et magno se corpore miscet. inde hominum pecudumque genus vitaeque volantum et quae marmoreo fert monstra sub aequore pontus.
359 Leibniz, Briefverkehr mit De l’Hospital, Brief vom 15. Januar 1696, 307: »Car c’est à cause de l’inertie naturelle des corps, que Kepler a observée, (luy ayant même imposé le nom) que les substances agissent seulement, quantum non noxia corpora tardant, pour donner aux paroles de Virgile un sens philosophique.« (Kursivierung in der Übersetzung: D. B.). 360 Verg., Aen., 6, 721–723: »Mein Vater, ist denn anzunehmen, dass manche Seelen von hier zur Oberwelt emporsteigen / und wieder in ihre trägen Körper zurückkehren? / Welche so unheilvolle Begierde nach Licht haben die Elendigen?«. Die Bewegung des Emporsteigens drückt sich hier in der Kombination von ire mit dem prädikativ aufzufassenden Adjektiv sublimis aus.
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igneus est ollis vigor et caelestis origo seminibus, quantum non noxia corpora tardant terrenique hebetant artus moribundaque membra. 361
Die Passage zeigt sich den insbesondere aus der Lehrgedichtstradition bekannten Kosmogenesen verpflichtet, mit Anleihen aus dem Stoizismus, 362 dem Epikureismus 363 und dem platonischen Höhlengleichnis. 364 Mit der Masse (moles) finden wir zudem gleich einen vertrauten Gegenstand der Naturphilosophie, an dem sich Leibniz noch regelrecht abarbeiten wird. Betrachten wir jedoch zunächst Vergil: Die Masse wird in der angeführten Aeneis-Stelle durch zwei Arten eines Geists bestimmt – zunächst als Hauch im Inneren (spiritus intus), bevor mit mens der Geist im Sinne eines oberen Seelenteils zu ihrer Lenkung bemüht wird. Die feurige Kraft (igneus vigor) wird in diesem Zusammenhang zur philosophischen Chiffre einer Potenz, die noch vor jeder Körperwelt anzusetzen ist; sie liegt bereits in den Keimen (semina) vor, die mit Trägheit ausgestatteten Körper treten hingegen erst später hinzu. Die Körper wirken, aus dieser Perspektive besehen, geradezu als Hindernisse, als Verschlechterung der Qualität einer mit dem Urzustand der Welt verhafteten Primärkraft. Wichtig ist allerdings, dass Kraft in beiden Stadien vorliegt, im Stadium der noch rohen Materie wie im Stadium der bewegten Materie. Jedoch ist sie von unterschiedlichem Zuschnitt: Im ersten Stadium ist sie himmlischen Ursprungs; sobald sie ihr mechanisches Stadium betritt, also mit dem Eintritt in die Körperwelt, ist sie mit konkurrierenden Kräften wie der Trägheit konfrontiert. Ihr Ausdruck ist in diesem Stadium nicht mehr der innere Geist, sondern der lenkende Teil
Verg., Aen., 6, 724–732: »Am Anfang nährt den Himmel, die Erde und die Wasserfluren, / die leuchtende Mondkugel und die titanischen Gestirne / ein Hauch im Inneren, und der Geist bringt, wenn er durch die Glieder geströmt ist, / die ganze [sc. Körper-]Masse in Bewegung und mischt sich mit dem mächtigen Körper. / Von dort stammt das Geschlecht der Menschen und der Tiere, die Vogelwelt / und die Ungetüme, die das Meer unter seiner marmornen Oberfläche hervorbringt. / Feurige Kraft und himmlischen Ursprung besitzen sie / in ihren Keimen, sofern sie keine lastenden Körper hemmen / und irdische Gelenke sowie dem Tod geweihte Glieder sie schwächen«. 362 So mutet der hier verhandelte spiritus wie ein ätherischer Weltgeist an und verweist auf die stoische Logos-Lehre; der igneus vigor wiederum lässt die πῦρ- und ἐκπύρωσις-Lehre, also ein Element, das die Materie sowohl beleben als auch zerstören kann, assoziieren. Zum physikalischen Weltbild der klassischen Stoa vgl. Sambursky (1959). 363 Auf die Anleihen aus Lukrez’ De rerum natura, die etwa in der Wortwahl globum lunae (725), per artus (726) oder caelestis origo seminibus (730 f.) zum Ausdruck kommen, weisen Binder / Binder (1998), 230 hin. 364 Neben dem Motiv der angestrebten Aszendenz zum Licht hin ist hierzu auch das folgende Bild zu zählen, dass die Bewohner des Totenreichs »in einem dunklen Kerker« (ebd., 734: »carcere caeco«) eingesperrt seien. 361
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der Seele, der Geist. 365 Leibniz ruft diese Struktur über ein vermeintlich beiläufiges Zitat auf und verleiht dadurch dem implizit verfolgten Gedanken – dass nämlich Kraft sich zur Materie verhalte, wie man sich in der Antike das Verhältnis zwischen Geist und Körper vorgestellt hatte – eine neue Dimension. Die Zuschreibung eines sens philosophique an Vergils Poesie verleiht umgekehrt der leibnizschen Philosophie poetische Tiefe. Ein weiterer Punkt ist an der zitierten Vergil-Stelle bemerkenswert: Die klassische Dichotomie zwischen Geist- und Körperwelt wird nicht nur als Verhältnis von Kraft und Materie ausgelegt, sondern ist darüber hinaus – insofern es ja um die Rückkehr der Toten in die Oberwelt geht – als Gegensatz zwischen lebendigen und toten Kräften lesbar. Diese letztere Dichotomie findet sich in den Schriften Leibniz' an zahlreichen Stellen verhandelt. Sie wird dabei vor allem über den Substanzenbegriff aufgespannt und regelmäßig über antike Intertexte und Formen zur Darstellung gebracht: In Auseinandersetzung mit den Cartesianern sowie in deutlicher Bezugnahme auf seinen eigenen Discours de métaphysique (1686) schreibt Leibniz, wohl kurz nach dem Discours, 366 den Dialog Philarete et Ariste. Mit stilistischer Raffinesse werden hier die aus der Antike bekannten Positionen in Form eines platonischen Dialogs gegenübergestellt. Hiermit verfolgt Leibniz eine Rezeption des platonischen Idealismus, ohne dass die Prinzipien der Methexis oder der Anamnesis bemüht werden müssten. Vielmehr gelingt es ihm, Gedanken der frühneuzeitlichen Naturphilosophie in diesen Rahmen einzubetten. Gegenüber dem Philosophen Theodor, der im gesamten Dialog eine Rolle in absentia spielt, werden die Philosophien Platons und Epikurs behandelt. Die Meinung Epikurs hierzu ist klar und durch Lukrez, insbesondere durch Buch 1 und 3 aus De rerum natura nachhaltig bezeugt: Einzig Körper dürfen als Substanzen gelten, die in der Welt existieren; die Seele selbst ist ebenfalls von körperlicher Substanz, und der Geist nichts anderes als eine Ansammlung besonders feiner, glatter Korpuskeln. Platon vertritt nun die gegensätzliche Ansicht, dass nämlich die Körper selbst keine unabhängigen Substanzen seien, vielmehr von geistigen Konstruktionen abhingen, die in letzter Instanz nur von einer göttlichen Instanz zu stiften seien. 367 Leibniz Über die Tradition, die hierfür in der Antike zugrunde liegt, wurde bereits in Teil II der Studie an einigen Stellen gesprochen; es sei an die Aspekte der Seelenführung in Ovids Metamorphosen oder in Platons Phaidros erinnert. 366 Zur Entstehungszeit vgl. Holz (1996), 322 f. 367 Vgl. die von einem δηµιουργός ausgehenden, zahlreichen Zuschreibungen hinsichtlich Formen (σχήµατα), Verbindungen (κοινωνίαι) und Verwandlungen (µεταλλαγαί) der Körper bei Plat., Tim., 30c2–61c2. Dass hiermit entgegen mancher kursierenden Lehrmeinung (vgl. etwa Beckermann [32008]) keineswegs im Umkehrschluss ausgesagt ist, dass die Seele ebenfalls eine Substanz darstelle, wird zu Recht von Mesch (2016), 60 betont: »Besonders wichtig ist die Unabhängigkeit der Ideen von Körpern, weil diese Unabhängigkeit aus platonischer Sicht ihr vollkommenes, 365
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lässt zu diesem Komplex Philarete die Ansicht Platons referieren und zu dieser Ansicht noch etwas hinzufügen: Einzig die unkörperlichen Substanzen sind unabhängig von jeglicher anderen geschaffenen Substanz. So scheint es, dass in philosophischer Strenge die Körper nicht die Bezeichnung ›Substanz‹ verdienen, was schon die Meinung Platons gewesen zu sein scheint; er bemerkte ja, dass sie [sc. die Körper] transitorische Wesen seien, die niemals über einen Moment hinaus existierten. Dabei aber handelt es sich um einen Punkt, der eine weitläufigere Diskussion erfordert, und ich besitze noch andere wichtige Gründe, die mich dazu bewegen, den Körpern Titel und Namen der Substanz in metaphysischem Sprachgebrauch abzusprechen. Denn, um davon nur ein Wort zu sagen: Er [sc. der Körper] ist nur ein Aggregat, das die Schulphilosophie ein reines Akzidenz nennt, eine Ansammlung wie eine Herde; seine Einheit kommt aus unserer Perzeption. Er ist ein Wesen der Vernunft oder eher der Einbildungskraft, ein Phänomen. 368
Platon wird – nicht zu Unrecht – zum Gewährsmann für den niederen ontischen Status der Körper erklärt, um dann über dessen Position noch hinauszugehen: Es handle sich um ein Aggregat, eine konstruierte Einheit, die einen Zustand bezeichne, der von den äußeren Einflüssen her bestimmt sei. Mit der Perzeption (perception), die nach Philaretes Ansicht überhaupt erst die Einheit eines Körpers herzustellen vermag, wird die frühneuzeitliche Lehre der Begriffsbildung angerissen: Eine Perzeption kann – im Gegensatz zu Apperzeptionen – nicht die wahren Einheiten bestimmen. 369 Was aber bildet nun unwandelbares und bleibendes Sein grundlegend kennzeichnet und seine Erkenntnis ermöglicht. Wenn es Körper gibt, so nur deshalb, weil es Ideen gibt, an denen sie teilhaben. Aber umgekehrt setzt das vollkommene Sein der Ideen nicht etwa voraus, dass es (unabhängig von ihnen ›schon‹) Körper gibt, die (›dann‹) an ihnen teilhaben können, sondern konstituiert deren unvollkommenes Sein durch ihre Teilhabe allererst«. 368 Leibniz, Philarete et Ariste, 342: »Les seules substances incorporelles sont independantes de toute autre substance creée. Ansi il semble que dans la rigueur philosophique les corps ne meritent point le nom de substances, ce qui paroist avoir eté déjà le sentiment de Platon, qui a remarqué qu’ils sont des êtres transitoires, qui ne subsistent jamais au delà d’un moment. Mais c’est un point, qui demande une plus ample discussion, et j’ay encor d’autres raisons importantes qui me portent à refuser aux corps le titre et nom de substances en langage métaphysique. Car pour en dire un mot, le corps n’a point de veritable unité; ce n’est qu’un aggregé, que l’école appelle un pur accident, un assemblage comme un troppeau ; son unité vient de notre perception. C’est un être de raison ou plutôt d’imagination, un phenomene«. 369 Das Spannungsfeld zwischen Apperzeption und Perzeption besteht in der Überführung sinnlicher Gehalte in Bewusstseinszusasmmenhänge; nur letzere werden von Leibniz ›Apperzeptionen‹ (apperceptiones, apperceptions) genannt. Im Alltag mögen wir uns nicht aller Perzeptionen (perceptiones, perceptions) ständig bewusst sein – beispielsweise ob wir eine Kopfbedeckung tragen –, jedoch können wir diesen jederzeit durch unsere Seelenapparatur Aufmerksamkeit zukommen
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die ›wahre‹ Einheit im Universum, wenn es die Körper nicht sind? Auf dieses Problem geht auch Ariste ein. Er erwidert, die Körperwelt weise nach Ansicht der Platoniker und Aristoteliker »Eigenschaften« auf, die »auf mechanische Weise unerklärlich« seien. 370 Die Mechanik selbst erklärt sich somit nicht aus der Körperwelt allein. Philarete führt hierzu einen Autor an, mit dem er diesbezüglich »in Verbindung« stehe. Mit diesem Autor ist natürlich Leibniz selbst gemeint. Die Responsion mutet wie ein Kurzabriss der leibnizschen Philosophie an; sie enthält alle wesentlichen Begriffe und Gedanken, mit denen Leibniz' Konzept der aktiven Kräfte zur Substanzenlehre aufwarten kann. Zudem wird die aktive Kraft hier mit dem Prinzip des Lebens enggeführt: Ich stehe mit dem Autor in Verbindung und habe seine Auffassungen einigermaßen gut verstanden. Diese ursprüngliche aktive Kraft, die man das Leben nennen könnte, ist ihm zufolge gerade das, was in dem, was wir eine Seele nennen, oder in der einfachen Substanz eingeschlossen ist. Es ist eine immaterielle, unteilbare und unzerstörbare Realität. Allseits unterlegt er sie den Körpern, weil er glaubt, dass es kein Masseteilchen gibt, in dem nicht ein organisierter, mit irgendeiner Perzeption oder einer Art von Seele ausgestatteter Körper bestünde. So führt uns diese Erwägung unmittelbar zur Unterscheidung von Seele und Materie. Und wenn man dasjenige ›Körper‹ nennen würde, was ich mit ihm eher körperliche Substanz nenne, die zusammengesetzt ist aus Seele und Masse, so wäre dies nur eine Frage der Bezeichnung. Diese aktive Kraft erweist nun gerade aufs Beste und auf eine sehr einsichtige Weise den Unterschied zwischen Seele und Körper, weil die Prinzipien des Mechanizismus, deren Folge die Bewegungsgesetze sind, nicht aus dem abgeleitet werden können, was rein passiv, geometrisch oder materiell ist, noch allein durch die Axiome der Mathematik bewiesen werden können. 371 lassen und dadurch zu Apperzeptionen machen. Dieser Unterschied wird im Zusammenhang mit den erkenntnistheoretischen Implikationen der Ästhetik in Kapitel IV.2. der Studie noch mit zu berücksichtigen sein. 370 Leibniz, Philarete et Ariste, 346: »qualités inexplicables mecaniquement«. 371 Ebd., 349: »Je suis en commerce avec cet Auteur, et j’ay passablement bien compris ses sentimens. Cette force active primitive, qu’on pourroit appeller la Vie, est justement selon luy ce qui est renfermé dans ce que nous appellons une Ame, ou dans la substance simple. C’est une realité immaterielle, indivisible et indestructible; il en met par tout dans les corps, croyant qu’il n’y a point de partie de la masse, où il n’y ait un corps organisé, doué de quelque perception, ou d’une manière d’ame et de la matiere. Et quand on appelleroit Corps ce que j’aimerois mieux appeller avec luy Substance corporelle, composé de l’ame et de la masse, ce ne seroit qu’une question de nomt Or cette Force Active est justement ce qui montre le mieux et d’une manière bien sensible, la distinction de l’Ame et de la Masse, parce que les principes du mechanisme, dont les loix du mouvement sont les suites, ne sauroient être tirés de ce qui est purement passif, Geometrique, ou materiel, ny prouvés par les seuls axiomes de Mathematique«.
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Die Äußerungen sind nicht zuletzt dadurch bemerkenswert und gar von einigem Unterhaltungswert, dass Philarete davon spricht, er habe die Auffassungen des von ihm namentlich im Dunkeln gelassenen Autors »einigermaßen« (passablement) gut verstanden. Somit steht hier eine von einem Philosophen (Leibniz) ersonnene Kunstfigur (Philarete) nach eigenem Bekunden in Kontakt zu ihrem Schöpfer und meint, dessen Ansichten wenn auch nicht ganz, so doch halbwegs nachvollzogen zu haben. Neben dieser spielerischen Einlassung markiert der inhaltliche Punkt, um den es hier geht, eine der wichtigsten philosophischen Entwicklungen, die wir im bisherigen Untersuchungsgang ausmachen konnten, den Übergang von der Massentheorie zur Krafttheorie, 372 und dies anhand eines platonischen Dialogs und in Auseinandersetzung mit der zuvor referierten platonischen Haltung zur Substanzfähigkeit körperlicher Dinge. Wo bei Vergil eine Grenze zwischen Ober- und Unterwelt anhand der Seelen und der trägen Körper gezogen wurde, gilt also auch hier, dass Seele und Körper nicht von derselben Substanz sind. Durch eine solche Aufrechterhaltung der Grenze zwischen Physik und Metaphysik erklärt Leibniz schließlich auch die Differenz zwischen belebten und unbelebten Körpern. Sie unterscheiden sich gar nicht einmal so sehr stofflich voneinander; vielmehr sind es verschiedene Kräfte, von denen sie geprägt werden: »Anorganisch oder organisch, es ist dieselbe Materie, es sind aber nicht dieselben aktiven Kräfte, die auf sie [sc.: die Materie] wirken«, 373 wie Deleuze es für die Philosophie Leibniz' festhält. Dennoch ist nach wie vor ein gestaltgebendes Prinzip vonnöten, um die Körperwelt in ihrer Tiefenstruktur erklärbar zu machen. Und hierfür ist ja nicht mehr die Materie allein verantwortlich zu machen, sondern natürlicherweise der Mensch, der über seine Fertigkeiten (artes) in die Körperwelt gestalterisch eingreift. Der weitere Weg führt dann von den Spannkräften konzeptuell hin zu den plastischen Kräften (vires plasticae): Leibniz nennt sie ›plastische Kräfte‹, im Unterschied zu den komprimierenden oder elastischen Kräften. Sie organisieren die Massen, obwohl man niemals, wie sehr sie auch aufgrund der Spannkraft die Organismen vorbereiten oder ermöglichen, von Massen zu Organismen übergehen kann, weil die Organe immer diese plastischen Kräfte voraussetzen, die sie präformieren, und die sich von den Masse-Kräften so sehr unterscheiden, dass jedes Organ aus einem präexistenten Organ entsteht. 374 372 Die Existenz von Masse und ihren Teilen (partie de la masse) selbst wird hier vorausgesetzt und nicht angezweifelt; es tritt aber ein von Perzeption und Aktivität bestimmter Kraftbegriff hinzu, der in einem jeden Teil der Masse vorzuherrschen habe. 373 Deleuze (2000), 18. 374 Ebd.
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Deleuze legt diese plastischen Kräfte, gemäß ihrem mechanischen Zuschnitt, nun als machinistische aus – auch im Sinne seiner Hauptthese, Leibniz sei der letzte Vertreter einer Philosophie, die gänzlich barock zu nennen sei – 375 und schließt: »Es gibt nicht nur überall Lebendiges, sondern überall in der Materie Seelen.« 376 Im Unterschied zu okkasionalistischen Strömungen, wie sie durch Malebranche vertreten wurden, existieren hier Leib und Seele nicht selbständig nebeneinander, 377 sondern über- und ineinander. Die Gesetze, nach denen barocke Maschinen funktionieren, sind in dem von Deleuze vorgeschlagenen Faltenprinzip erfasst, dem zufolge die Monade als Falten in der Seele, die Materie hingegen als Gebilde äußerer Faltungen existieren. Die Maschinen sind nach Teileinheiten gliederbar, diese Gliederbarkeit ist geradezu zu ihren Wesenseigenschaften zu zählen; jedoch sind ihre Teileinheiten von irreduziblen Urgründen, von den Kräften geprägt. Mithilfe der plastischen Kräfte kann Leibniz nun die Frage beantworten, wie Geist und Materie miteinander interagieren. Deleuze sieht in solchen Kräften somit eine Strategie zur Vereinigung von Animismus und Organizismus vorliegen: Die plastischen Kräfte der Materie wirken auf die Massen, unterwerfen sie aber realen Einheiten, die sie selbst voraussetzen. Sie stellen die organische Synthese her, setzen aber die Seele als Einheit der Synthese oder als ›immaterielles Lebensprinzip‹ voraus. Erst dadurch verbindet sich ein Animismus mit dem Organizismus, unter dem Gesichtspunkt der reinen Einheit oder der Einigung, unabhängig von jeder kausalen Einwirkung. 378
Die Voraussetzung einer Einheit wird zur Voraussetzung der plastischen Tätigkeit, die Formung eines Gegenstandes verweist in seinem energetischen Vgl. ebd., 19: »Die plastischen Kräfte sind also eher machinistisch als mechanisch und erlauben die Definition von barocken Maschinen«. Ob der hier vertretene Widerspruch zwischen ›machinistisch‹ und ›mechanisch‹ so virulent ist, wie von Deleuze angedacht, ist durchaus diskutabel. Die Tradition machinistischer Erklärungsmuster ist in ihrer Gleichschaltung mit mechanischen bis hin zu so prominenten und provokativen Werken wie La Mettries L’homme machine (1747) nachvollziehbar. 376 Deleuze (2000), 25. 377 Im Okkasionalismus müssen daher Wechselwirkungen zwischen zwei sich eigentlich ausschließenden Substanzen erklärt werden – etwa über die Ansetzung einer assistentia supernaturalis, die dann auch recht unmittelbar einen Gottesbegriff auf den Plan bringt – man betrachte nur die Philosophien Arnold Geulincx’ (1624–1669) und, am prominentesten, Nicolas Malebranches (1638– 1715). Hinzu kommt, dass der Okkasionalismus, wenigstens im Sinne Malebranches, empfänglich ist für die platonische methexis-Theorie. Zur Stellung Malebranches zwischen Descartes und Newton sowie zur Stellung der Philosophie Malebranches zwischen physischen und metaphysischen Kraftkonzepten vgl. Gueroult (1954); zur Wirkgeschichte Malebranches auf das 18. Jahrhundert, die hier keinen Schwerpunkt der Untersuchung sein kann, vgl. ausführlich Hankins (1965); zum Gesichtspunkt des Leib-Seele-Problems im Kontext des Okkasionalismus vgl. Carrier / Mittelstrass (1995), 19–37. 378 Deleuze (2000), 24 f. 375
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Zustand stets auch auf die vorausgehende Seelenkraft zurück – ganz in der Weise, wie wir in Kapitel iii.1.c.β die Bedingungen der Dingtätigkeiten kennengelernt hatten. So sehr also die plastischen Kräfte den Wirkungen der Kausalursächlichkeit ausgesetzt sind, so sehr entziehen sich die vorausgesetzten Prinzipien (eine lebende Instanz, die sich anhand plastischer Kräfte betätigt) einer Festlegung auf reine Wirkursachen. Zur Formung gehört ein Plan, ein Ziel. Und dieses Ziel ist – wie wir bereits in Kapitel ii.5.a bei der Behandlung von Aristoteles sahen – nicht auf seinen kausalen Grund zu beschränken. Gehen wir, an Deleuze anschließend, auf den Punkt der Beseeltheit noch weiter ein: Was ist ihre natürliche Bedingung? Zahlreiche mechanische Größen, mit denen wir uns auseinandergesetzt haben, scheiden hierfür gänzlich aus. Denn wie vielfach gesehen, stellen Masse und Materie zwar außerhalb des Cartesianismus keine bloßen Quantitätsprinzipien dar, aber auch für sich allein genommen sind sie bei Weitem nicht als Lebensprinzip zu bezeichnen. Wenden wir, um dies noch genauer zu illustrieren, den Blick auf Leibniz und dessen Beziehung zur astronomischen Naturphilosophie: Wie in Kapitel iii.1.c gezeigt, besteht ein Erbe der Astronomie, wie sie Galilei und vor allem Kepler vorschwebte, darin, dass weder von der schieren Geometrie noch von der bloßen Materialität auszugehen sei, dass sich astronomische Größen vielmehr in beiden Bereichen bewähren müssten. 379 Auch Leibniz schließt sich diesem Punkt, wie in Philarete et Ariste gesehen, an, um im selben Zuge das Erklärungsdefizit, das die Masse hinsichtlich der aktiven Kräfte aufweist, festzuhalten. 380 Dieses Problem wird von Leibniz im Système nouveau de la nature et de la communication des substances (1695) noch weiter ausgeführt. Die Welt ist für Leibniz, wie wir in Kapitel iii.1.c.β anhand seines Briefverkehrs mit Huygens sehen konnten, ausdrücklich kein System, das aus Teilchen von unendlicher Härte besteht, sondern bildet ein Kontinuum sich selbst erhaltender Energie. Zugleich sahen wir in Philarete et Ariste eine Absage an die Körper als wirkliche Einheiten. Vielmehr wurde gleichsam ein Schritt in die andere Richtung vollzogen, indem der Substanzstatus von Körpern überhaupt angezweifelt wurde. Da nun das Kontinuum per definitionem nicht zusammengesetzt sein kann, scheiden also die Körper als Substanzen aus, nicht jedoch die Punkte. In diesem Sinn sah sich Leibniz bei seiner weiteren Suche nach wirklichen Einheiten
Die Masse war – wie in Kapitel III.1.c.β gesehen – genau hierfür das prominenteste Beispiel. Betrachtet man nämlich die Masse im Fokus der praktischen Mathematik, so genügt sie ganz offenkundig nicht, um die substantiellen Formen (formes substantielles), die in der Welt existieren, zu erklären. Sie schafft noch keine Formen, sondern tritt selbst in einer materiellen Form auf, ist also eher Resultat einer Formung, namentlich ein Produkt der plastischen Kräfte und nicht deren Urheber. 379
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gezwungen, auf einen wirklichen und sozusagen beseelten Punkt zurückzukommen beziehungsweise auf ein substantielles Atom, das irgendetwas Formales oder Aktives einschließen muss, um ein vollständiges Sein zu bilden. Man musste so die heute in Verruf geratenen substantiellen Formen in Erinnerung rufen und gleichsam rehabilitieren, wenn auch auf eine Weise, die sie verständlich machte und den Gebrauch, den man von ihnen machen darf, von dem Missbrauch trennte, den man mit ihnen angestellt hat. So fand ich heraus, dass ihre Natur in der Kraft besteht und dass sich daraus etwas der Empfindung und dem Begehren Analoges ergibt und dass man sie demnach in Entsprechung zu dem Begriff verstehen muss, den wir von den Seelen haben. 381
Leibniz hat also den Weg, den er mit Platon und Vergil begonnen hatte, weiter beschritten; er sucht noch immer nach den Prinzipien der Form und der Aktivität; er verwirft die Körper – denn diese sind zusammengesetzt; er verwirft die materiellen Atome – denn diese sind in einem passiven Verhalten zu den Kräften denken – und gelangt auf seiner weiteren Suche zur einzigen Instanz, die für ihn eine wirkliche Einheit bilden kann – zur Seele. Er tut damit im Grunde nichts anderes als einst Platon und Aristoteles. Der innere Zusammenhang zwischen Physik, Metaphysik und Psychologie ist für sich antik verbürgt, wobei der Schritt darüber hinaus in den frühneuzeitlichen Kräften verankert liegt. Im Weiteren wird die wichtige Rolle bezeugt, die vor allem Aristoteles als Archeget in diesen Fragen zuzurechnen ist: Aristoteles nennt sie [sc. die Seelen] die ersten Entelechien, ich nenne sie auf vielleicht verständlichere Weise ursprüngliche Kräfte, die nicht nur den Akt beziehungsweise das Komplement zur Möglichkeit, sondern noch eine ursprüngliche Aktivität enthalten. 382
Hier wird die Verbindung der aristotelischen Metaphysik mit demjenigen, was unter der Chiffre vis primitiva von Leibniz dann zum Konzept der Monade ausgearbeitet werden wird, mit dem Vokabular des Aristotelismus selbst be-
Leibniz, Système nouveau, 204: »[je fus] contraint de recourir à un point reel et animé pour ainsi dire, ou à un Atome de substance qui doit envelopper quelque chose de forme ou d’actif, pour faire un Estre complet. Il fallut donc rappeller et comme rehabiliter les formes substantielles, si décriées aujourd’huy, mais d’une maniere qui les rendist intelligibles et qui separât l’usage qu’on en doit faire, de l’abus qu’on en a fait. Je trouvay donc que leur nature consiste dans la force, et que de cela s’ensuit quelque chose d’analogique au sentiment et à l’imitation de la notion que nous avons des ames«. 382 Ebd., 204 f.: »Aristote les appelle entelechies premieres, je les appelle peutestre plus intelligiblement forces primitives, qui ne contiennent pas seulement l’acte ou le complement de la possibilité, mais encor une activité originale«. 381
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zeugt. 383 Denn die Monade 384 ist nichts anderes als die Primitivkraft, das heißt: das erste Kraftzentrum des Universums. Sie ist es, die die seelische Grundeinheit markiert. Leibniz spricht ihr in der Monadologie (1714) 385 zuallererst die Qualitäten, die Individualität sowie die Einfachheit zu. 386 Sie ist nichtquantitativ, nicht-kollektiv und nicht-komplex; sie ist daher, mit einem Wort, einheitlich. Im Anschluss daran geht Leibniz auf das principium internum (principe interne) ein, das den Monaden zukomme: »Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die natürlichen Veränderungen der Monaden von einem inneren Prinzip herrühren, dass aber eine äußere Ursache ihr Inneres nicht beeinflussen kann.« 387 Worum es sich bei diesem inneren Prinzip handelt, lässt sich aus Leibniz' Abhandlungen zum Substanzbegriff erschließen. Es ist genau die vis activa, die hierfür einsteht. Zum Verständnis dieses Konzeptes ist allerdings noch etwas weiter auszuholen: So sieht sich Leibniz in De primae philosophiae emendatione et de notione substantiae, einem Traktat, der zeitgleich zum Specimen Dynamicum 1695 im Journal des Sçavants erscheint, 388 dazu angehalten, Erläuterungen und Richtigstellungen gegenüber den Populäreinwänden und (aus seiner Sicht) Missverständnissen zu seinem Kraftbegriff anzuführen. Dies gelingt in Anschluss an Descartes, dessen Festhalten am Substanzbegriff er – wie gesehen, ganz im Gegensatz zu dessen defizitären Kraftbegriff – für grundsätzlich richtig hält. Jedoch lässt sich die Substanz mit Leibniz gerade nicht über das extensioKriterium begründen, sondern muss metaphysisch verankert sein. Auch wenn dieser Traktat in der Leibniz-Forschung nicht ganz so oft in den Fokus der Betrachtung gerückt wird wie etwa der Discours de métaphysique, vermag er
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Die entelechie premiere entspricht der ἐντελέχεια πρώτη, der act dem actus und damit der
ἐνέργεια. 384 Abgeleitet vom griechischen µονάς, ist die Monade ein Schlüsselbegriff der leibnizschen Philosophie. Er umfasst die psychologische Repräsentationskraft des Universums anhand eines konkreten, einzelnen (›monadischen‹) Körpers und ermöglicht überhaupt so etwas wie Perspektiveinnahmen zum Kosmos; zur Monade bei Leibniz und Wolff vgl. Poser (1975) sowie zu den Grundlagen der Monade in der Philosophie Leibniz’ Deleuze (2000), 11–48. 385 Sie kann als Zusammenfassung, Erläuterung und Klarstellung der Metaphysik im von Leibniz intendierten Sinne gegenüber dem neoplatonischen Philosophen Nicolas Francois Rémond (1638– 1725) gelten. Anlass hierzu war der Briefverkehr zwischen beiden, der ein Jahr zuvor, 1713, begann und bis zu Leibniz’ Tod im Jahr 1716 andauerte. 386 Vgl. Leibniz, Monadologie, §§ 1–10. 387 Ebd., § 11: »Il s’en suit de ce qve nous venons de dire, qve les changemens naturels des Monades viennent d’un principe interne, puis qv’une cause externe ne sauroit influer dans son interieur«. 388 Das Specimen Dynamicum selbst erschien hingegen in der Gelehrtenzeitschrift Acta Eruditorum.
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es doch, einen dezidierten Aufschluss über das Verhältnis von Substanz und Kraft in der leibnizschen Metaphysik zu geben: Um hiervon [vom Nutzen des Substanzbegriffs] einen Vorgeschmack zu geben, will ich vorerst sagen, dass der Begriff der Kräfte oder des Nachdrucks (den die Deutschen Krafft, die Franzosen la force nennen), für dessen Erklärung ich insbesondere die Wissenschaft der Dynamik bestimmt habe, am meisten Licht zur Erkenntnis des wahren Begriffs der Substanz beiträgt. Die aktive Kraft nämlich unterscheidet sich von der allgemein bekannten bloßen Möglichkeit, da die aktive Möglichkeit der Scholastiker oder die Fähigkeit nichts anderes ist als die naheliegende Möglichkeit zu handeln, die dennoch einer fremden Anregung und sozusagen eines Stachels bedarf, um ins Wirkliche übertragen zu werden. Jedoch die aktive Kraft enthält ein gewisses Wirkliches beziehungsweise die entelécheia in sich und ist ein Mittleres zwischen dem Vermögen zu handeln und der Handlung selbst und schließt ein Streben ein; und so bringt sie sich durch sich selbst in eine Tätigkeit und bedarf keiner Hilfen, sondern nur einer Entfernung der Hemmung. 389
Wieder wird über die Anführung der Entelechie (entelécheia) Aristoteles bemüht; wieder geht es um die Bezeugung einer Kraftvorstellung, die sich gerade nicht der Akzidenz verschreibt. Und dennoch schließt sich Leibniz nicht einfach dem Aristotelismus affirmativ an, sondern geht über diesen hinaus, indem er Kraft eben nicht als Verwirklichung einer Möglichkeit geschweige als die Möglichkeit selbst, sondern als aktives Prinzip entwirft. Dieses Prinzip bezieht eine Mittelstellung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, indem es ein gewisses Wirkliches enthält (quendam actum continet). 390 Die als solches Prinzip identifizierte vis activa beinhaltet mithin dasjenige, was Aristoteles zum naturphilosophischen Ausgangspunkt eines jeden Vermögens erklärt hatte: das Wirklichkeitsparadigma, das heißt den zu vollendenden Tatbestand. Zudem Leibniz, De primae philosophiae emendatione et de notione substantia, 198: »Cujus rei ut aliquem gustum dem, dicam interim, notionem virium seu virtutis (quam Germani vocant Krafft, Galli la force) cui ego explicandae peculiarem Dynamices scientiam destinavi, plurimum lucis afferre ad veram notionem substantiae intelligendam. Differt enim vis activa a potentia nuda vulgo scholis cognita, quod potentia activa Scholasticorum, seu facultas, nihil aliud est quam propinqua agendi possibilitas, quae tamen aliena excitatione et velut stimulo indiget, ut in actum transferatur. Sed vis activa actum quendam sive ἐντελέχειαν continet, atque inter facultatem agendi actionemque ipsam media est, et conatum involvit; atque ita per se ipsam in operationem fertur; nec auxiliis indiget, sed sola sublatione impedimenti.« Zu den Zusammenhängen von Dynamik und Metaphysik bei Leibniz vgl. die nach wie vor grundlegende Studie von Gueroult (1934), ferner Lee (2007) und Hecht (1992), bei letzterem insbesondere 90–99. 390 Das »gewisse Wirkliche« ist hier mit dem zu verwirklichenden Zielpunkt der aristotelischen δύναµις gleichzusetzen. »Gewiss« ist es, weil es in diesem Rahmen unbestimmt ist. 389
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fungiert sie als ein Mittleres zwischen facultas und actio. Selbsttätigkeit und aristotelische Vermögensverwirklichung werden in ein synchrones Verhältnis gesetzt, 391 wobei das Prinzip der Medialität die Prinzipien des motor und mobile ersetzt. Die vis activa benötigt dementsprechend keinen äußeren Beweger mehr; sie ist keine schiere Möglichkeit, die von einem externen Verursacher angestoßen werden müsste, sondern wirkt vielmehr aus sich selbst heraus. Das Aus-sich-selbst-Wirken verlangt jedoch wiederum nach einem Paradigma der Wirklichkeit, nicht der Möglichkeit – ansonsten wäre es kein Wirken. 392 Die Entelechie wird demnach als die vornehmste Ausprägung des Wirkens interpretiert; sie ist der aktive Fortsatz des δυναµικόν. 393 Diese Entscheidung Leibniz' vermag nach dessen Ausführungen zum Bewegungsbegriff, die wir in Kapitel iii.2.b kennengelernt hatten, nicht vollkommen zu überraschen, waren doch die dort verhandelten Bewegungsbegriffe nicht gänzlich reduzibel auf ihre natürlichen Koordinaten, ihre Ortsveränderungen und ihre Beweger. Noch bemerkenswerter aber ist, dass Leibniz die Entelechie nicht an den Ausgangspunkt setzt (wie es für eine klassische Ursachenlehre angemessen wäre), sondern in ein Vexierspiel der Kräfte, ein Spiel zwischen Vermögen, Handlung und Streben eingliedert. Diese Stellung markiert den neuen, ›dynamischen‹ Zuschnitt der ursprünglich aristotelisch gedachten Zielursächlichkeit. Sie wird – wie wir in Teil iv der Studie noch genauer sehen werden – mit dafür verantwortlich sein, dass der Aristotelismus den Übergang in das 18. Jahrhundert vor allem in seinen neuen Spielarten der Leibniz-Philosophie bewältigt. Der Schritt von einer substantiellen Form zur Identifikation von Kraft und Seele, genauer: mit einem seelischen Punkt, ist nach den bisherigen Betrachtungen also gar kein Schritt, sondern ein regelrechter Weg – und zwar ein solcher, der wieder zurück zu Aristoteles und von dort zu einer Neuauslegung von Potenz und Energie führt. Akt und Aktivität werden im Zuge dessen in Zudem klingt hierdurch eine mesotes-Lehre an. Vgl. treffend zu diesem Sachverhalt Schäfer (2009), 86 f.: »Diese Kraft [die vis activa; D. B.] ist aber nicht als Eigenschaft zu denken, die einem beharrlich Zugrundeliegenden zukommt, welches bei verschiedenen Gelegenheiten über diese Kraft verfügen könnte; dann wäre nämlich die Kraft als abstrakte Möglichkeit missverstanden. Eine bloße Möglichkeit ist jedoch unzureichend, um das wahrhaft und wirklich Seiende als solches zu begreifen; mit abstrakten Möglichkeiten lässt sich [bei Leibniz; D. B.] keine metaphysische Ontologie aufstellen; Mögliches setzt Wirkliches voraus. Die Substanz als ursprüngliche Kraft ist vielmehr in sich selbst schon eine zur Wirklichkeit drängende und selbst auch schon wirkliche Strebekraft«. 393 Vgl. auch Leibniz’ Äußerungen zu diesem Komplex in seinem Briefverkehr mit Honoratus Fabri: »Ferner ist das dynamikón beziehungsweise das Vermögen in einem Körper zweifach: passiv und aktiv. Die passive Kraft bestimmt ausschließlich die Materie beziehungsweise die Masse, die aktive [sc. Kraft] die entlécheia beziehungsweise die Form.« (Leibniz, An Honoratus Fabri, 100: »Porro τὸ δυναµικόν seu potentia in corpore duplex est, Passiva et Activa. Vis passiva proprie constituit Materiam seu Massam, Activa ἐντελέχειαν seu formam.«). 391 392
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ein einziges Paradigma, dasjenige der Monade, eingeschlossen. Für die Kräfte, die in den Bereich der Kausalzusammenhänge gleichsam entlassen werden, legt Leibniz den Ausdruck der abgeleiteten Kraft (vis derivativa) fest. Sie ist nicht essentiell zu nennen, sondern entspricht im Grunde den Kräften, die in den mechanischen Naturgesetzen beschrieben werden können. Da es sich aber um eine abgeleitete Kraft handelt, die den Anlass der Veränderung (mutatio, µεταβολή) als Substrat weiterhin enthält, ist ihr Urgrund nach wie vor als metaphysisch zu erachten. 394 Die gegenüber der abgeleiteten Kraft weitaus essentiellere Kraft ist allerdings die vis primitiva. Beide besetzen somit verschiedene naturphilosophische Bereiche, sind aber in ihren jeweiligen Bereichen unbeschadet ›aktiv‹ zu nennen: Zweifach jedoch ist die Vis activa (die man mit einigen [sc. Philosophen] nicht unzutreffend Virtus nennen könnte): nämlich als [sc. Vis] primitiva, die jeder körperlichen Substanz per se innewohnt (weil ich glaube, dass ein in jeder Hinsicht ruhender Körper der Natur der Dinge zuwiderläuft), oder als [sc. Vis] derivativa, die gleichsam aus der Begrenzung der [sc. Vis] primitiva durch die wechselseitigen Stöße der Körper hervorgeht und auf mannigfache Weise ausgeübt wird. Und freilich entspricht die [sc. Vis] primitiva (die nichts anderes ist als die ἐντελέχεια ἡ πρώτη [sc. erste Entelechie]) der Seele beziehungsweise der substantiellen Form, zumindest aber bezieht sie sich ausschließlich auf generelle Ursachen, die nicht dazu ausreichen können, um die Phänomene zu erklären. [. . . ] Und gewiss begründet die Vis primitiva des Erduldens oder Widerstehens dasjenige selbst, was in der Schulphilosophie, wenn man sie richtig auslegt, die erste Materie genannt wird – woraus freilich hervorgeht, dass ein Körper von einem Körper nicht durchdrungen wird, sondern dem selbigen ein Hindernis schafft und zugleich mit einer gewissen Trägheit, das heißt sozusagen: mit einer 394 Vgl. hierzu die bis heute keineswegs veralteten Einlassungen bei Koch (1908), 40: »So entsteht uns der Begriff der derivativen Kraft als eines ›status praesens, dum tendit ad sequentem seu sequentem praeinvolvit, uti omne praesens gravidum est futuro‹ (G. II, 262). Leibnizens Kraftbegriff ist also die Tendenz zur Veränderung wesentlich, er ist auch in dieser Hinsicht ein Erzeugnis des modernen Denkens, das die Veränderung in die Begriffe aufzunehmen strebt. [. . . ] Die derivative Kraft, die wir also stets im Zusammenhang mit der Bewegung und ihrerseits auf die Fortsetzung der Bewegung gerichtet denken, weil wir anerkennen, dass allein durch die Ortsbewegung sich alle übrigen materiellen Erscheinungen erklären lassen (Specimen dynamicum), die derivative Kraft also des abstrakten physikalischen Körpers ist nach dem oben Gesagten als Funktion der Gescheeindigkeit anzunehmen. Man kann den Begriff der derivativen Kraft als eine Fortbildung des uns von früher her bekannten ›conatus‹ ansehen, in dem Leibniz ja auch den Körper durch die in dem gegenwärtigen Bewegungszustande enthaltene Tendenz auf die Zukunft zu kennzeichnen versucht hatte. Damit soll der wesentliche Unterschied beider nicht fortgedeutet werden. Zwischen conatus und derivativer Kraft liegt die ganze Kluft, die die geometrisch-phoronomische von der dynamischen Betrachtungsweise trennt«.
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widerstandslosen Bewegung ausgestattet ist und es daher nicht erduldet, fortgestoßen zu werden, außer durch die Brechung der Kraft des anstoßenden [sc. Körpers]. Daher zeigt sich die Vis derivativa in der Folge auf mannigfache Weise in der zweiten Materie. 395
Leibniz hat nun also seine neue Antwort auf die Frage nach dem Zustand der prima materia gefunden, und dies in Auseinandersetzung mit der Antike und der frühneuzeitlichen Massentheorie, ohne sich gleichsam auf eine Seite zu verschlagen: Es ist nicht mehr die massa, auch nicht die moles, nicht der platonische νοῦς, auch nicht der vergilische igneus vigor, sondern die vis primitiva. Und diese ist eine krafttheoretisch neu gewendete ἐντελέχεια. Aristoteles ist für diese Denkfigur ebenso konstitutiv wie die dynamische Naturphilosophie. Im Bereich der ersten Materie herrscht die Zielursächlichkeit vor, während in der zweiten Materie die Kausalursächlichkeit hinzutritt, verkörpert durch den Bereich der abgeleiteten Kräfte. Damit die Kraft nun als eine die Mathematik und die Massentheorie übersteigende Größe firmieren kann, wird im Specimen Dynamicum das Prinzip der Quantität – und damit Descartes' größtes Anliegen – ausdrücklich als ungenügend eingestuft. An einer zentralen Stelle wird eine Forderung formuliert, der zufolge die Ordnung der weltlichen Dinge nicht in einer bloßen Beschreibung ihrer Größenrelationen aufgehen könne: Hieraus [sc. aus dem Erklärungsdefizit der ausgedehnten Masse] zog ich nun den Schluss, dass man außer den rein mathematischen Prinzipien und denjenigen, die der Einbildungskraft unterliegen, noch gewisse metaphysische, die allein im Denken erfassbar sind, gelten lassen muss und dass zum Begriff der stofflichen Masse ein gewisses übergeordnetes, gleichsam formales Prinzip hinzuzufügen ist. Denn nicht alle Wahrheiten, die sich auf die Körperwelt beziehen, können allein aus arithmetischen und geometrischen Axiomen – also aus Axiomen des Größer und Kleiner, des Ganzen und des Teiles, der Gestalt und der Lage – zusammengetragen werden, sondern es müssen andere über Ursache Leibniz, Specimen Dynamicum, pars I, 236 f.: »Duplex autem est Vis Activa (quam cum nonullis non male Virtutem appelles), nempe ut primitiva, quae in omni substantia corporea per se inest (cum corpus omnimode quiescens a rerum natura abhorrere arbitrer), aut derivativa, quae primitivae velut limitatione, per corporum inter se conflictus resultans, varie exercetur. Et primitiva quidem (quae nihil aliud est, quam ἐντελέχεια ἡ πρώτη) animae vel formae substantiali respondet, sed vel ideo non nisi ad generales causas pertinet, quae phaenomenis explicandis sufficere non possunt. [. . . ] Et quidem vis primitiva patiendi seu resistendi id ipsum constituit, quod materia prima, si recte interpreteris, in Scholis appellatur, qua scilicet fit, ut corpus a corpore non penetretur, sed eidem obstaculum faciat, et simul ignavia quadam, ut sic dicam, id est ad motum repugnatione sit praeditum, neque adeo nisi fracta nonnihil vi agentis impelli se patiatur. Unde postea vis derivativa patiendi varie in materia secunda sese ostendit.« (Kursivierungen in der Übersetzung: D. B.). 395
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und Wirkung, Tätigkeit und Leiden hinzukommen, um von der Ordnung der Dinge Rechenschaft zu geben. 396
Die Traditionslinien, die hier aufgerufen werden, sind auf dem Hintergrund der Betrachtungen aus Kapitel iii.1.a–c leicht nachvollziehbar: Es sind der Cartesianismus – insofern die Masse sich in der Ausdehnung der Materie ausdrückt –, der Sensualismus – insofern die hier veranschlagten mathematische Prinzipien in den Bereich der Sinnlichkeit, und nicht in den Bereich abstrakter Regeln fallen – und die antike Ontologie in platonisch-aristotelischer Tradition – insofern Tätigkeit und Leiden und die Ordnung der Dinge auf streng formale Prinzipien rückgeführt werden. Es sind also auch hier wieder einmal nicht epikureistische Kontingenz- oder stoizistische λόγος-Theorien, denen die Deutungshoheit zugesprochen würde. Gleichwohl werden sie, wie schon in Philarete et Ariste, auch im Specimen Dynamicum begrifflich aufgerufen, diskutiert und abgehandelt: Gestalt (figura) und Lage (situs) sind die traditionellen Grundeigenschaften von Atomen, während die Ordnung der Dinge (ordo rerum) der stoischen Weltenkonstitution 397 entspricht. Kraft wird also von Leibniz in vielen Facetten vorgeführt und dabei hochgradig inszeniert. Nachdem er im obigen Katalog alles aufgezählt hat, was aus seiner Sicht nicht ausreicht, um die Ordnung der in der Welt befindlichen Dinge zu erklären, fährt er unmittelbar fort, was es denn sei, was ihm eigentlich vorschwebe – und zwar in bemerkenswerter Knappheit: Ob wir dieses Prinzip nun als Form, als Entelechie oder als Kraft bezeichnen, darauf kommt es nicht an – wenn wir uns nur daran erinnern werden, dass es allein durch den Begriff der Kräfte verständlich erklärt wird. 398
Waren in der Renaissance-Philosophie die Masse und im Cartesianismus die Bewegung für die Ingangsetzung der Körper verantwortlich und die Kraft auf ebendiese Größen rückführbar, so ist es nun die Kraft selbst, von der all dies auszugehen hat. Wenn wir sie aber mit Leibniz auch umstandslos mit forma oder ἐντελέχεια belegen könnten, ohne ihr etwas von ihrem Wesen zu nehmen, so heißt das nichts anderes, als dass sie formgebend und zielgerichtet Ebd., pars I, 241: »Hinc igitur, praeter pure mathematica et imaginationi subjecta, collegi quaedam metaphysica solaque mente perceptibilia esse admittenda, et massae materiali principium quoddam superius, et ut sic dicam formale addendum, quandoquidem omnes veritates rerum corporearum ex solis axiomatibus logisticis et geometricis, nempe de magno et parvo, toto et parte, figura et situ, colligi non possint, sed alia de causa et effectu, actioneque et passione accedere debeant, quibus ordinis rerum rationes salventur«. 397 Vgl. prominent Sen., dial., 1, 8, 10. 398 Leibniz, Specimen Dynamicum, pars I , 241 f.: »Id principium Formam, an ἐντελέχειαν, an Vim appellemus, non refert, modo meminerimus per solam virium notionem intelligibiliter explicari«. 396
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und damit prinzipienhaft im ureigensten aristotelischen Sinne gedacht werden kann. Kontingente Kräfte, die man für die Mechanik ebenso umstandslos als relevant erachten könnte, werden hierdurch ausgeschlossen; ebenso wenig schwebt Leibniz eine Verlagerung von Massenschwerpunkten vor, wie es in der Renaissance-Philosophie noch vertreten wurde; vielmehr ist es derjenige Kraftbegriff, der als eine der φύσις aus Notwendigkeit (ἀνάγκη) heraus gemäße δύναµις gelesen werden muss und auf die Ebene der dynamischen Philosophie gehoben und ausformuliert wird. Energie und Entelechie werden aus dem Aristotelismus abgeleitet, um als ›Kraft‹ die neu geschaffene Disziplin der Dynamik zu fundieren. Oder, um Leibniz' eigene Sprechweise aufzugreifen: Es ist egal, ob wir das Prinzip als Kraft bezeichnen, solange wir es nur als Kraft bezeichnen. Der Kraftbegriff leistet somit praktisch alles, was die antike Philosophie forderte und was die cartesische Mechanik noch nicht einlöste: Er spezifiziert die Urgründe der Tätigkeiten auf essentielle Weise; er beschreibt, was in der Welt nach welchen Ursächlichkeiten geschieht, was zur Einheit und Nicht-Einheit der Körper führt, und behält dabei immer noch das Allgemeine im Blick. Es geht um die großen Zusammenhänge zwischen belebten und unbelebten Körpern, zwischen Wirkung und Ursache sowie zwischen Stoff und Form, die in Auseinandersetzung mit der Antike sowie mit der Tradition der Theorien zur Masse zu neuen Konfigurationen gelangen. Darüber hinaus geht es Leibniz auch um das intellektuelle Potential, das er seiner Zeit selbst zuschreibt – eine Denkfigur, die sich in ihrem Rückbezug auf die Antike gewissermaßen im selben Zuge als rückwärts- wie vorwärtsgewandt erweist. Leibniz holt mithin im Specimen Dynamicum philosophiegeschichtlich weit aus und zieht große Vergleichslinien: Und so wie unser Zeitalter die Korpuskeln Demokrits, die Ideen Platons und die Ruhe der Stoiker in der besten Verbindung der Dinge von der Geringschätzung losgesprochen hat, so werden nun die Überlieferungen der Peripatetiker über die Formen beziehungsweise die Entelechien (die zu Recht als Rätsel erscheinen und kaum von ihren Urhebern selbst erfasst worden sind) zu den erkennbaren Begriffen gezählt werden, zumal wir glauben können, dass es nötig ist, die Philosophie, die von so vielen Jahrhunderten rezipiert wurde, so zu erklären, dass sie in sich [sc. weiter-]bestehen kann (wo dies möglich ist), und sie weiter zu beleuchten sowie durch neue Wahrheiten zu vergrößern, als sie zu verwerfen. 399 Ebd., 235: »Et quemadmodum Democriti corpuscula, et Platonis ideas, et Stoicorum in optimo rerum nexu tranquillitatem nostra aetas a contemtu absolvit, ita nunc Peripateticorum tradita de Formis sive Entelechiis (quae merito aenigmatica visa sunt vixque ipsis Autoribus recte percepta) ad notiones intelligibiles revocabuntur, ut adeo receptam a tot seculis Philosophiam explicare 399
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Über die Verweise auf die antiken Schulen werden zugleich die Leistungen der zeitgenössischen Philosophien des 17. Jahrhunderts, namentlich diejenigen Gassendis und Boyles, der Cambridge-Platoniker und des Stoizismus (gemeint ist damit wohl vor allem die Spielart, die Spinoza verfolgt) auf rhetorisch ausgefeilte Weise gewürdigt. 400 Die wichtigste Leistung besteht jedoch in der Rehabilitierung der Peripatetiker – sie können sich im Lichte der Dynamik an der neuen Gültigkeit ihrer Naturphilosophie erfreuen. Somit behauptet Leibniz, ohne irgendeine Bescheidenheit für sich und sein Zeitalter vorzuschützen: Was zuvor ein Rätsel war, ist nun eine klare Begriffswelt. Der Aristotelismus wurde durch die Frühe Neuzeit erhellt, und die Frühe Neuzeit wurde durch den Aristotelismus erhellt.
3.b. Newton und sein klassisch-revolutionärer Kraftbegriff
Gleichzeitig zu Leibniz' Revitalisierung der aristotelischen Naturphilosophie formiert sich mit dem mechanistischen Weltbild Isaac Newtons (1643–1727) eine innereuropäische Konkurrenz, die beispiellose Auswirkungen auf die Weiterentwicklung des Kraftbegriffs hat. Auch bei Newton lässt sich ein Wechsel von der Bewegungstheorie hin zur Theorie von den Kräften erkennen. Dazu lässt sich feststellen, dass er vor allem in früheren biographischen Stadien noch auf die Bewegungsgesetze zurückgreift, die der Cartesianismus vorformuliert hatte. Brackenridge fasst diesen Sachverhalt zusammen: For Descartes the inward and outward tendencies of a celestial body rotating in a celestial vortex depends upon the quantity of matter of the body, in conjunction with its volume and surface. For Huygens the force of gravity acting on a body originated from the centrifugal force of a rotation fluid surrounding the body and was equal to the difference between the centrifugal force of the fluid and that of the body. Newton's early work on uniform circular motion was expressed in terms of Descartes' »outward endeavor«. 401
potius, ita ut constare sibi possit (ubi hoc patitur) atque illustrare porro novisque veritatibus augere, quam abolere necessarium putemus«. 400 So ruft die Junktur Stoicorum in optimo nexu tranquillitatem den Topos der tranquillitas (animae) auf. Es geht hierbei um einen Seelenzustand, der als Ziel des Weisen (sapiens) eine innere Disposition bezeichnet, während der durch Stoicorum und tranquillitatem gerahmte optimus nexus auf das durch den Weltgeist wohlgeordnete Gefüge der Dinge verweist. Somit wird die innere Gemütsruhe auf eine Rechtfertigung der ontischen Verfasstheit der äußeren Welt übertragen. 401 Brackenridge (21995), 20. Zu den Vorarbeiten Newtons, die zu den Kraftkonzepten in den Principia führten, vgl. Herivel (1965).
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Spätestens ab den 1670er Jahren zeigt sich dann auch bei Newton eine deutliche Tendenz hin zur Kräftelehre als Ursachenlehre für Bewegungen. Allerdings setzt er sich nicht nur, wie schon Leibniz, vom Cartesianismus ab, sondern entwickelt eine Philosophie, die sich im Vergleich zu Leibniz von einer gänzlich anderen Axiomatik geprägt zeigt. Newton nämlich geht weder von der Universalität eines ›Großen Ganzen‹ noch von einem Geist / Materie-Dualismus aus, wie wir ihn bei Leibniz bis in dessen Reminiszenzen an Platon und Vergil hinein feststellen konnten. Vielmehr macht er die kleinstmögliche phänomenale Einheit, das Ereignis, zu seinem Ausgangspunkt. Worauf es Newton ankommt, ist vor allem der Kräfteaustausch zwischen den Körpern, wie er sich in kleinsten Bewegungsmomenten manifestiert. Wie Kondylis und Koyré herausgestellt haben, 402 ist in konstellationsgeschichtlicher Hinsicht hierfür bedeutsam, dass Newtons Philosophie unter einem beträchtlichen Einfluss des Cambridge-Platonikers Henry More (1614–1687) stand. More zeigt sich zwar grundsätzlich einverstanden mit der cartesischen Substanzentrennung, gesteht aber auch dem Geist die Eigenschaft der Ausdehnung zu; er kritisiert dementsprechend Descartes' Annahme, dass nur Materie mit Ausdehnung gleichzusetzen sei; 403 und es ist diese Kritik, aus der sich wiederum die Grundposition Newtons herausbildet. 404 More ist bereits ein Verfechter der Idee des absoluten Raums, bevor Newton sich überhaupt dieser Idee zuwendet. Beide, Newton und More, sind sich darin einig, den Raumbegriff so weit wie möglich vom Materiebegriff zu entkoppeln. Hieraus geht eine argumentative Kippfigur hervor, die der Theorie des absoluten Raums zuarbeitet. Verhandelt wird eine Vorstellung vom Raum, die sich von Aristoteles, aber auch von Descartes und Leibniz sehr weit entfernt. Denn je mehr sich Geist und Materie annähern, desto stärker fallen Raum und Materie konzeptionell auseinander: Das [die Gleichsetzung von Gott und Materie; D. B.] will er nicht, und deshalb schickt er sich an, Raum und Materie eben auf dem Umwege der Zusammenführung von Geist und Materie auseinanderzubringen. 405
Newtons Anliegen, dem Raum eine selbständige, von der Materie losgelöste Rolle zuzuweisen, ist nicht weiter reduzibel. Statt eine Wirklichkeit zwischen Mikro- und Makrokosmos, zwischen Monade und Kosmos zu entwerfen, ist es hier ein absolutes Koordinatensystem geometrico more, durch dessen Ansetzung ein Spielraum für die Entfaltung der weltlichen Phänomene bereitet 402 403 404 405
Vgl. die Einlassungen bei Kondylis (22002), 213 f. und Koyré (1965), 89 f. Vgl. hierzu More, Enchiridion metaphysicum, pars I, cap. VII, § 5–8. Vgl. Kondylis (22002), 214. Ebd.
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wird. Diese Denkfigur ist in gleich dreifachem Sinn gegen Descartes gewendet zu verstehen: So findet anstelle der Trennung von Geist und Materie eine Annäherung beider Substanzen statt. Im Gegensatz zu einem korporalen, ortsbezogenen und relationalen Raumbegriff wird der Raum verabsolutiert. 406 Und schließlich gehen die Phänomene selbst nicht in einer reinen geometrischen Beschreibung auf, sondern benötigen Kräfte. Diese Gemengelage mag in ihrer theologischen Dimension an manche Kontroverse aus dem 16. Jahrhundert erinnern. So scheint Newton hier nicht denselben Fehler begehen zu wollen wie etwa Giordano Bruno, in dessen absolutem Raum sich kein Platz für göttliches Walten und Wirken fand. 407 Für Newton ist es vielmehr unzweifelhaft, dass Gott im absoluten Raum wirkt. Kondylis weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass ein Begriff von Gott für die Genese des Raumbegriffs im Weltbild Newtons essentiell zu nennen ist. 408 Rollen wir den Kraftbegriff anhand der philosophiegeschichtlichen Einordnung auf, die Newton selbst vornimmt: Die Aufgabe der Philosophie ist, wie wir im Entwicklungsweg des mechanistischen Weltbildes sehen konnten, in einem elementaren Sinne die Erklärung der Natur auf Grundlage der Geometrie. Dies bedeutet, wie schon bei Leibniz gesehen, freilich nicht, dass sich eine mechanistische Naturphilosophie in der Geometrie erschöpfen müsste. Wichtiger erscheint, dass die geometrische Erschließung nicht in Tradition der artes mechanicae erfolgt. Denn dadurch, dass sich die artes mechanicae dezidiert mit Landvermessung und Handwerkskünsten auseinandersetzen, beziehen sie ihr Substrat ganz aus der phänomenalen Wirklichkeit; und diese Hinwendung kann nicht das Anliegen einer Philosophia naturalis sein, wie die Auctoris praefatio ad lectorem in den Principia mathematica anzeigt: Die Alten aber haben die Mechanik als zweifache begründet: als rationale, die durch Beweisführungen angemessen fortschreitet, sowie als praktische. Auf die praktische beziehen sich alle Handwerkskünste, von denen auch die Bezeichnung ›mechanisch‹ entliehen ist. [. . . ] In diesem Sinn wird die rationale Mechanik eine Wissenschaft von den Bewegungen sein, die aus allen möglichen Kräften hervorgehen, sowie von den Kräften, die für alle möglichen BewegunDie Tendenz hierzu lässt sich bereits in Newtons Frühwerk De gravitatione et aequipondio fluidorum (entstanden um 1670) ablesen. 407 Für Bruno endete dies, unter Anklage der katholischen Kirche, im Jahr 1600 auf dem Scheiterhaufen. Einen dokumentarischen Abriss des sich über sieben Jahre hinziehenden Gerichtsprozesses bieten Ulbrich / Wolfram (1994), 197–208. 408 Vgl. Kondylis (22002), 214: »Zwar hat Newton [. . . ] vom Begriff des absoluten Raumes einen rein mathematisch-physikalischen Gebrauch gemacht, das besagt aber nichts über die Herkunft dieses Begriffs, der in Newtons Werk von Anfang an in engster Verbindung mit theologischen und weltanschaulichen Überlegungen auftaucht«. 406
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gen erforderlich sind, auf angemessene Weise vorgeführt und bewiesen. [. . . ] Jegliche Schwierigkeit der Philosophie scheint nämlich darin zu bestehen, dass man von den Bewegungen der Erscheinungen aus die Kräfte der Natur finden muss und schließlich von diesen Kräften aus die übrigen Erscheinungen beweisen muss. 409
Die Alten (veteres) stehen hier nicht für die Antike selbst ein, sondern haben die Anfänge der Etablierung der Mechanik im Blick, die man in der Philosophie Del Montes und seiner Schüler erkennen kann. In dieser Zeit traten ja – wie in Kapitel iii.1.b gezeigt – erstmals wirkmächtige Stimmen auf den Plan, die der Mechanik den Status einer scientia zuschrieben, und dies unter Rekurrenz auf die wissenschafstheoretischen Erwägungen von Aristoteles taten. Während also die praktische Mechanik auf die Kunstfertigkeit des Menschen in Hinsicht auf die (Über-)Formung und Beherrschung der Natur abzielt, setzt die rationale Mechanik auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Methode und den philosophischen Horizont ihrer Untersuchungsgegenstände. In diesem Sinn ist der Terminus ›mechanisch‹ von der praktischen Mechanik – wie Newton sagt – auch nur ›entliehen‹ (mutuata). Die ›philosophische‹ Mechanik hingegen beschreitet den Weg, den wir durch Francis Bacon vorgezeichnet sahen: Sie beobachtet die Phänomene, leitet aus deren Bewegungen heraus Kräfte ab und geht mithilfe der neu gewonnen Kraftbegriffe zur Erklärung anderer empirischer Gegebenheiten über. In letzter Instanz zielt sie also ganz auf die Erklärung der Kräfte der Natur (vires naturae). Und diese Kräfte sind zwar durch die Bewegungen zu ermitteln, sie gehen deswegen aber längst nicht in ihnen auf. Sie sind vielmehr aus ihnen deduzierbar und, daran anschließend, übertragbar, befinden sich dementsprechend zugleich vor und hinter jeder phänomenalen Wirklichkeit. Der Ausgangspunkt, den Newton für die Kräfte der Natur ansetzt, mutet mit Blick auf die Philosophien Keplers und Galileis geradezu klassisch an und verrät noch nicht viel von den umwälzenden Wirkungen, die von Newtons Kraftbegriff ausgehen werden: Ein ruhender Körper verfügt demgemäß über Widerstandskraft (resistentia, vis resistendi), ein sich bewegender Körper über prinzipiell fortlaufende Anstoßkraft (impulsus). Bewegung und Ruhe Newton, Principia mathematica, Auctoris praefatio ad lectorem, XIII–XIV: »Mechanicam vero duplicem veteres constituerunt: rationalem, quæ per demonstrationes accurate procedit, & practicam. Ad practicam spectant artes omnes manuales, a quibus utique mechanica nomen mutuata est. [. . . ] Quo sensu mechanica rationalis erit scientia motuum, qui ex viribus quibuscunque resultant, & virium quæ ad motus quoscunque requiruntur, accurate proposita ac demonstrata. [. . . ] Omnis enim philosophiæ difficultas in eo versari videtur, ut a phænomenis motuum investigemus vires naturæ, deinde ab his viribus demonstremus phænomena reliqua«. 409
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wiederum verhalten sich anhand derartiger Kräfte relativ zueinander. 410 So weit, so bekannt. Mit Blick auf einen wesentlichen Aspekt der mechanistischen Ding-Philosophie, die Selbstperzeptivität der Körper, sehen wir diese Perzeptivität bei Newton aber nun in beiden Zuständen vorliegen, der Ruhe und der Bewegung. Eine intrinsische Kraft erhält in den Principia mathematica die Bezeichnung vis insita und wird in der Definitio iii folgendermaßen bestimmt: Die innewohnende Kraft der Materie ist eine Widerstandsfähigkeit, durch die ein jeder Körper, so viel sich davon [sc. von der innewohnenden Kraft] in ihm befindet, in seinem Status verharrt, sei es in demjenigen des Ruhens oder in demjenigen des sich gleichförmig-geradlinigen Bewegens. 411
Bereits dem Vokabular nach, das bemüht wird (potentia, resistere, perseverare etc.), erweist sich die Materie hier als alles andere denn als eine aktive Kraft. Nichtsdestoweniger wird ihr immerhin, wie schon von Thomasius' Verteidigung der ἀντιτυπία gegenüber Leibniz her bekannt, eine gewisse Widerstandsfähigkeit (potentia resistendi) zugeschrieben. Sie kommt hier aber – im Gegensatz zu der von Thomasius und Leibniz auf die materia prima bezogenen Position – sowohl dann zur Geltung, wenn der eine Körper auf den anderen von außen trifft, als auch wenn ein Körper in seinem Ruhezustand verharrt. 412 Bewegung und Ruhe werden demnach hier lediglich als verschiedene Zustandsweisen dargestellt, die durch die innewohnende Kraft jeweils aufrechterhalten werden. Somit wird die Erhaltung von Ruhe und Bewegung im Grunde durch dieselbe Art von Kraft erzielt, und dies im selben Status der Materie. Wo es bei Descartes einzig und allein die Bewegung ist, die aufrechterhalten wird, und wo es bei Leibniz die Energie im Universum ist, die erhalten Wir hatten bereits in Kapitel III.2.a diese für das mechanistische Weltbild typische Relativität zwischen Bewegung und Ruhe anhand von Beispielen bei der Behandlung des Bewegungsbegriffs gesehen. 411 Newton, Principia mathematica, Def. III , 2: »Materiæ vis insita est potentia resistendi, qua corpus unumquodque, quantum in se est, perseverat in statu suo, vel quiescendi vel movendi uniformiter in directum«. Newton lehnt sich hier – vor allem in der Phrase »quantum in se est, perseverat in statu suo« – an manche von Descartes her bekannten Äußerungen an. Dies geschieht jedoch mit dem offenkundigen Ziel, dessen Ansichten – etwa diejenige, dass es nur einen Status eines Körpers geben könne, der sich an dessen Ausdehnung bemesse – indirekt zu kritisieren; vgl. die Ausführungen bei Descartes, Principia philosophiae, pars 2nda, XXXVII, 62: »[E]ine jede Sache verharrt immer, so sehr es an ihr ist, in demselben Status.« (»unaquaeque res, quantum in se est, semper in eodem statu perseveret.«). 412 Bei Leibniz und Thomasius ging es hingegen darum, dass durch die antitypia Rückstoß- und Widerstandsfähigkeit gewährleistet werden. Nicht jedoch implizierte dies so sehr ein Beharren im eigenen Zustand, sondern benötigte immer ein Zweites, um seine Leistungsfähigkeit zu erweisen. Bei Newton hingegen besteht die vis insita auch in einem einzelnen Körper – selbst wenn es keinen zweiten in der Wirklichkeit gäbe. 410
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bleibt, so ist es hier – je nach Blickwinkel – Ruhe (also eine traditionelle, nicht nur aus dem Neoplatonismus wohlbekannte Eigenschaft der Materie) oder Bewegung, die dazu neigt, ihren Status beizubehalten (perseverare). Somit entspricht die vis insita, im Sinne ihrer konzeptuellen Anschlussfähigkeit an die Naturphilosophie, bald der inertia, bald dem impulsus – im ersten Fall in ihrem Ruhezustand, im zweiten Fall in ihrem Bewegungszustand. Der Urgrund des Konfliktes zwischen den auf Bewegungsverharrung setzenden Cartesianern und den aristotelischen Impulstheoretikern wird verlagert: Wo jene eine Trägheit im sich bewegenden Körper ausmachten, sich weiter in einer geraden Linie zu bewegen, und die anderen eine ständige Zuführung von Energie veranschlagten, um Bewegung überhaupt aufrecht zu erhalten, setzt Newton für beide Zustände – argumentativ gestützt durch den Umstand, dass er sie zu bloßen Zuständen erklärt – eine gemeinsame, persistente Größe an. Eine solche innewohnende Kraft ist dadurch von einer gewissen Komplexität gezeichnet, dass sie verschiedene naturphilosophische Größen aus der Antike und der Scholastik funktional integriert und nebenbei den alten Unterschied zwischen Statik und Dynamik, immerhin zweier bedeutender Teildisziplinen der Mechanik aus der Renaissance-Philosophie überwindet. Wo Leibniz die Dynamik als Disziplin aufgrund der Insuffizienz phoronomischer Kriterien, die Phänomene zu erklären, entwickelte, findet bei Newton von Beginn an ein Ruhebegriff sein Pendant in einem Bewegungsbegriff. Eine passive Kraft wird zur Kehrseite einer aktiven Kraft. 413 Die Erklärung der Phänomene erfolgt durch die Rückführung auf die Prinzipien des Beharrens und Nicht-Beharrens. Gewährleistet wird die Erklärung der Phänomene also nicht durch die Bewegung selbst, sondern durch deren Ursachen – die Kräfte. Die Janusköpfigkeit von Kräften wird mithin zum Garanten für eine Mechanik, die sich in der Lage zeigt, leicht die Blickwinkel auf die Phänomene zu verändern, ohne dass sie dies überhaupt zum ausdrücklichen Programm erheben müsste. Denn die in der vis insita liegende Doppelfunktion, die Trägheit des Körpers wie auch dessen Antrieb sicherzustellen, findet sich, im Gegensatz zum Begriff der rationalen Mechanik, noch nicht in der Auctoris praefatio ad lectorem ausgeführt. Betrachten wir den genannten Punkt der Veränderung des Blickwinkels auf die Phänomene noch genauer: Die Verhältnismäßigkeit, die Newton für die Wirkweisen der vis insita ansetzt, wird auf den weiteren Bedeutungsebenen der Kraft fortgesetzt. So fasst Newton die Anstoßkraft, die auf die Körper beim Aufprall wirkt – er selbst nennt sie eine eingedrückte Kraft (vis impressa) – Prägnant zusammengefasst hat dieses Phänomen Jammer (1957), 127: »[F]orce manifests itself invariably in a dual aspect; it is action and reaction simultaneously. Much as a business transaction can be regarded both as a purchase and as a sale of the same amount, force can be considered as action as well as reaction of the same magnitude«. 413
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in ihrem Verhältnis zu den korporalen Zuständen (quies und motus) als Umschlagmoment auf: Die eingedrückte Kraft ist eine Bewegung, die auf den Körper ausgeübt wird, um dessen Zustand zu ändern, entweder denjenigen des Ruhens oder denjenigen des sich gleichförmig-geradlinigen Bewegens. 414
Die hier beschriebene Kraft entspricht – im Gegensatz zur vis insita – demjenigen, was in der Mechanik als Bewegung firmiert. Aber darin erschöpft sie sich nicht: Der wohl wichtigste Unterschied zur vis insita besteht nämlich darin, dass sie nicht zu einer Aufrechterhaltung, sondern zu einer Änderung (ad mutandum) des Zustands des Körpers führt. Sie schlummert daher nicht latent im Körper, sondern wird regelrecht gegen ihn ausgeübt (in corpus exercita). Es stellt geradezu ihr Ziel dar, den von ihr affizierten Körper in einen anderen Zustand zu bewegen – und mit Erreichen dieses Ziels endet demgemäß auch ihre eigene Existenz. Ihr diskontinuierliches Auftreten – das sich beispielsweise als Druck, Stoß oder, worauf noch einzugehen sein wird, bisweilen als Zentripetalkraft ausweisen kann – ermöglicht so etwas wie die Identifizierung eigentlich heterogener Ereignisse: Ein Körper wird in andere Zustände versetzt, und damit hat in der Welt eine signifikante Änderung stattgefunden. Diese Änderung beruht jedoch nicht auf einem einfachen Bewegungsbegriff (wie wir ihn bei Hobbes kennengelernt hatten), sondern ist von der Annahme diverser Zustandsübertragungen geprägt. Genau diese Art von Ereignishaftigkeit, der Übergang von Kraft in einen Zustand, der je aus Sicht des einen oder anderen Körpers bald aktiv, bald passiv erscheint, wird es sein, die sich zur Grundlage des newtonschen Weltbildes erheben und einen merklichen Kontrast zur leibnizschen Philosophie einer Weltenharmonie bilden wird. Wo in der Leibniz-Philosophie jede Perspektivität durch das Verhältnis eines Kraftzentrums (monas, vis primitiva) zum Weltganzen (mundus) geprägt ist, ergibt sich bei Newton die Beziehung zwischen affizierenden und affizierten Körpern erst in den Umschlagmomenten der Kraftübertragungen, die zwischen ihnen stattfinden. Salopp gesagt, stehen sich somit tatsächlich das ›Sich-Ergeben‹ (Newton) und das ›Von-vornherein-Feststehen‹ (Leibniz) gegenüber. Im ganzen Theoriegebäude der Principia mathematica sind es die diskontinuierlichen Momente, welche die Ereignisse in der phänomenalen Wirklichkeit hervorbringen. Der äußere Aufbau zur Erklärung des ›Sich-Ergebens‹ folgt dabei ganz der Ausrichtung der mathematischen Vorgehensweise, wie sie die euklidische Tradition fordert: Newton gliedert die Principia nach den Definitiones – welche die ei414 Newton, Principia mathematica, Def. IV , 2: »Vis impressa est actio in corpus exercita, ad mutandum ejus statum vel quiescendi vel movendi uniformiter in directum«.
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gentliche Kräftelehre repräsentieren – und der Bewegungslehre (Axiomata), über denen dann das große Theoriegebäude der Mechanik nach den Bereichen der Körperbewegungen (De motu corporum) und dem Weltsystem (De mundi systemate) zu errichten ist. Sie folgen also nicht von Beginn an dem Wechselverhältnis zwischen Einzelding und Ganzem, wie bei Leibniz, sondern bauen aufeinander auf. Dieser Weg dient nun aber nicht einfach der mathematischen Tradition, sondern verpflichtet sich der Einlösung einer umfassenden Theorie zur Bewegung – wie Coelho ausführt: Da die Bewegungen [bei Newton; D. B.] entweder gleichförmig-geradlinig oder beschleunigt sind, folgt, daß durch die zwei Arten von Kräften [vis insita und vis impressa; D. B.] alle Bewegungen erklärt werden. Auf diese Weise wird die Beziehung Kraft-Bewegung spezifiziert, die die Theorie voraussetzt, wie schon aus der zu Beginn erwähnten Aufgabe der Philosophie hervorgeht. 415
Wenn das Verhältnis zwischen Kraft und Bewegung neu verhandelt wird, so betrifft dies auch die Bewegungen, die auf einen Punkt im Raum aufgrund nicht-eigener Kräfte hinstreben. Eine wichtige Neuerung in der Kräftetheorie der Principia stellt somit die Behandlung der Zentripetalkraft (vis centripeta) dar. Newton beschreibt sie als eine Kraft, »durch welche die Körper gegen irgendeinen Punkt, wie auf ein Zentrum hin, von überall her angezogen werden, getrieben werden oder auf jedwede Weise zustreben.« 416 Es geht Newton nicht zuletzt auch um einen Zusammenschluss linearer und zirkulärer Bewegungen in ein mechanistisches Grundparadigma. 417 Dieses Paradigma kann nicht in einem weiteren Bewegungsbegriff bestehen, sondern erfordert die Komplexität der Kräfte. Kraft vermag daher genau die metaphysische Stelle zu besetzen, die aus der Trennung von Materie und Geist resultierte: Wenn Raum und Bewegung bald in autonomer, bald in weniger autonomer Beziehung zur Materie betrachtet werden, erweist sich auch die Kraft gerade nicht als äußerlicher Phänomenaleindruck, sondern muss zum immateriellen Prinzip erklärt werden. Diese Immaterialität geht bei Leibniz wie bei Newton in der Überwindung des Kriteriums der schieren Ausgedehntheit auf. Erinnern wir uns zurück: Ausgedehntheit war das Kriterium der Cartesianer, Leere und Atome bildeten das Minimalpaar der Atomisten, beide Parteien jedoch konnten Gott entweder als rein geistiges Prinzip erfassen oder seine Existenz schlichtweg anzweifeln. Coelho (2001), 18 f. Newton, Principia mathematica, Def. V, 3: »qua corpora versus punctum aliquod tanquam ad centrum, undique trahuntur, impellantur, vel utcunque tendunt«. 417 Zum Konzept der zirkulären Bewegung bei Newton vgl. Brackenridge (21995), 40–68. 415 416
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Newton integriert demgegenüber die Allgegenwart Gottes in einen konkreten Bereich der von Gott erfüllten Sinnlichkeit: Newton geriet bezeichnenderweise in den Verdacht, mit dem Postulat des unendlichen Raums weit hinter diese große, brennende Erwartung seiner Zeit [an die Erkenntnis einer neuen Einheit des Universums; D. B.] zurückfallen und sich einer metaphysisch unverbindlichen Atomistik im Stil Epikurs anzuschließen. Er mußte sich beeilen, die diesseitige Unendlichkeit mit der Allgegenwart Gottes in Verbindung zu bringen, den leeren Raum als zugleich kräfteerfüllt, als ein »sensorium Dei« vorzustellen. 418
Es bieten sich zwei Kraftkonzepte zur Vermeidung eines Epikureismus aus demjenigen Diskursfeld an, das aus der Verschränkung der intima rerum-Leerstelle und den vis inertiae-Debatten in Kapitel iii.1.c gezeichnet wurde: Leibniz' mit dem monadischen Holismus verhaftete vis primitiva und Newtons mit dem absoluten Raum verhaftetes Begriffspaar vis insita/vis impressa. Bei Leibniz liegt in der vis primitiva zugleich die Repräsentationskraft des Universums vor; sie ist durchweg gewährleistet durch einen strengen Perspektivismus. Bei Newton repräsentiert sich das Universum hingegen in der modalen Koinzidenz von vis impressa und vis insita. Diese Koinzidenz ist es, welche die klassischen Anknüpfungspunkte der newtonschen Mechanik um ein Neuerungsmoment erweitert: Schrieb sich Newton in seiner wissenschaftlichen Methodik in die Philosophie Francis Bacons ein und zeigte er sich manchen Renaissance-Philosophen, insbesondere Kepler, in der Anlage seiner Theorie von den Körpern verpflichtet, so liegt seine philosophiegeschichtliche Bedeutung darin, dass er eine Gegenantwort auf den Monismus und den Atomismus, zugleich aber auch eine Gegenantwort auf Leibniz' Schwierigkeiten, eine materiell-kontingent wirkende Weltmaschine zuzulassen, formuliert. Die einzelnen Elemente hierfür ergeben im Zusammenschluss die antike Chiffre des δηµιουργός. Sie folgt einem Konzept, das vor allem aus Platons Timaios bekannt ist. Boenkes Diktum über die newtonsche Welterhaltung erhellt diesen Umstand: Es mag sein, daß sich bei Newton am Ende eine aus dem Timaios entborgte Vorstellung durchsetzte. In Platons Timaios bildete der Demiurg die unsterbliche Welt und ihre Seele, er erschuf den Kosmos und die unvergänglichen Bestandteile. Die Schaffung des Sterblichen, die Schöpfung des Somatischen, Vergänglichen, übertrug er Göttern, die seine Diener sind. Newton argumentiert streckenweise ähnlich, doch unter den Bedingungen einer ebenso theologisch korrekten wie gemäß seiner Naturtheorie wissenschaftlich notwendigen 418
Wagner (1969), 19.
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Voraussetzung einer transeunten Welterhaltung, scholastisch gesprochen: der creatio continua. Gott schuf die Welt und greift in den Weltlauf ein; er muß den Bewegungs- bzw Energieverlust ausgleichen, er muß die Planetenbahnen bisweilen korrigieren, oder: Gott handelt in der großen Welt, im Universum. 419
Insgesamt betrachtet wirkt Newtons Kraftbegriff wie ein Oxymoron der Ideengeschichte. Die Auswirkungen, die von der newtonschen Mechanik ausgingen, sind vielfältig und nachhaltig: So stellt ein bis heute viel diskutiertes Skandalon der newtonschen Physik die Rolle der vis inertiae dar. Denn sie weist einen augenfälligen Kontrast zu den früheren Trägheitsvorstellungen auf, die noch im Wesentlichen von Kräften entkoppelt waren, sie zumindest nicht aus rein mechanischen Prinzipien heraus begründen konnten oder wollten. Bei Newton hingegen wird die vis inertiae als Gegenpol zur vis impressa gedacht und somit als Gegenkraft zu einer äußerlich aufoktruierten Kraft. Damit wird jeglicher (Neo-)Platonismus, ganz im Gegensatz zu Weltbildern wie demjenigen Keplers, gleichsam ausgehebelt. Zuletzt hat Gaukroger diese Umwälzung präzise benannt: The notion that forces are not required to maintain bodies in an inertial state is an absolutely fundamental development, but Newton's terminology – he uses vis insita and vis inertiae as equivalent terms in the Principia for example – is sometimes a little confusing in the light of the fact that in earlier natural-philosophical practice a vis inertiae is a force, whereas for Newton it is something quite different: it is a force that is exerted to resist changes to an inertial state. 420
Das Beharren (to maintain bodies), von dem die Rede ist, richtet sich gegen nichts anderes als äußerlich waltende Kräfte. Diese können wiederum weiteren äußeren Kräften widerstehen und sind daher – je nach Blickrichtung – im newtonschen Sinn gleichfalls als vis insita klassifizierbar. Wo Keplers inertia noch als Kraft innerhalb des Masse / Trägheits-Gefüges eines Körpers galt, steht hier das Wechselverhältnis zwischen den Körpern und ihrer Umgebung im Fokus: Die vis impressa vererbt durch ihren Anstoßcharakter ihre Eigenschaften regelrecht an die vis insita, und die vis insita weist eine Funktionalität im Sinn einer vis inertiae auf. Dies bedeutet allerdings keine Inkonsistenz innerhalb des naturphilosophischen Systems, sondern ermöglicht vielmehr ein perspektivisches Moment, das den Atomisten, aber auch den Cartesianern völlig fremd war. Es liegt nahe, sowohl die keplerschen als auch die newtonschen Kräfte, die in einem Körper vorhanden sind, als intima rerum im Sinne der in Kapitel iii.1.c.α beschriebenen Implikationen zu behandeln. Wenn die intima rerum 419 420
Boenke (2005), 319. Gaukroger (2010), 66.
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bei Kepler aus moles und inertia zusammengesetzt gedacht wird, so ist sie bei Newton als vis insita eine der Bewegung widerstehende wie auch eine die Bewegung aufrechterhaltende Kraft. Die vis insita, als im Körper verharrende Kraft aufgefasst, und die vis inertiae, als Widerstandskraft gegenüber der vis impressa aufgefasst, unterstreichen den Grundzustand der Materie als passiven, ohne der Materie dabei etwas von ihrer Selbsttätigkeit zu nehmen. Denn natürlich agiert sie nach den Gesetzen der Mechanik, angetrieben vom Prinzip der Kraft. Nicht nur der Begriff der passiven Materie, sondern vor allem auch derjenige der passiven Kraft erfährt hierdurch eine enorme Aufwertung gegenüber der materia iners, wie man sie etwa aus dem (Neo-)Platonismus kennt. Diesen doppelten, sich auf Aktivität und Passivität gleichermaßen beziehenden Wortsinn der vis inertiae im Sinne einer Resistenzkraft (und eben nicht bloßen Resistenz) wird auch Wolff noch vertreten: »Das Prinzip des Bewegungswiderstandes in den Körpern wird Kraft der Trägheit genannt, oder auch passive Kraft.« 421 Kraft ist somit zum einen dadurch bei Newton zum metaphysischen Prinzip geworden, dass er sie über den absoluten Raum in dessen Verhältnis zur Materie begründet. Sie ist aber auch deswegen metaphysisch zu nennen, weil sie nicht über die Materie im Sinne reiner Stofflichkeit begründbar erscheint. Wie sich an Kepler, Newton und Leibniz ablesen lässt, ist die Stofflichkeit vielmehr als substantielle Eigenschaft der Körperwelt recht aussagelos, wenn sie nicht aus bestimmten Blickwinkeln betrachtet wird: aus den Blickwinkeln des Universums, anderer Körper, einer Monade oder eben der Kraft selbst. Ungeachtet dieser naturphilosophischen Übereinstimmung lassen sich zum Verhältnis, das zwischen Kraft, Raum und Materie anzusetzen ist, Uneinigkeiten ausmachen, ganz besonders zwischen den Philosophien Leibniz' und Newtons.
3.c. Leibniz’ Kritik an Newton in seinem Briefverkehr mit Clarke
Nach heutigem Standpunkt mag Newton wie die zentrale Ikone der frühneuzeitlichen Mechanik erscheinen und sein Status als wissenschaftliche Koryphäe beinahe selbst wie ein Naturgesetz vorkommen. 422 Dabei handelt es sich aber, mit Blick auf die zeitgenössische Rezeption um 1700, nicht unbedingt um ein
Wolff, Cosmologia generalis, sect. II, cap. I, § 130: »Principium resistentiæ motus in corporibus dicitur Vis inertiae, sive Vis passiva«. 422 Zur fundamentalen Bedeutung, die Newton und seinem Weltbild bis heute zugesprochen wird, vgl. Feingold (2004); zur Rezeptionsgeschichte von Seiten der naturwissenschaftlichen Gelehrten bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts vgl. Guicciardini (1999) sowie für das 18. Jahrhundert insgesamt Schofield (1978). 421
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ungebrochenes Phänomen. 423 Mit der Neuartigkeit der newtonschen Kräftelehre ging bisweilen auch eine gewisse Voreingenommenheit von Seiten der wissenschaftlichen Welt einher, die sich nicht zuletzt darauf gründete, dass der Cartesianismus für das 17. Jahrhundert als die wichtigste philosophische Strömung des mechanistischen Weltbildes betrachtet wurde. 424 Brackenridge zeigt auf, dass sich dies auch in der Rezeption der Principia mathematica philosophiae naturalis niederschlug, zumindest in den ersten Jahren nach deren Publikation: Professional scholars, however, did not greet the publication of the 1687 Principia with unreserved praise. The dominant figure in seventeenth-century natural philosophy was the French scholar René Descartes, whose mechanical description of planets carried in a swirling vortex of celestial ether provided the model of many other natural philosophers. Two other outstanding figures in European mathematics and natural philosophy at the time of the publication of the first edition of the Principia were the Dutch scholar Christiaan Huygens and the German scholar Wilhelm Gottfried Leibniz. Both felt that Newton's description of the mathematical nature of gravitational force had failed to address the fundamental question of the physical cause of the force. 425
Es zählt zu den bemerkenswerten Ironien der Ideengeschichte, dass ausgerechnet das bis dahin ausgefeilteste mechanistische Weltbild zu Beginn seiner Rezeption dem Vorwurf einer physikalischen Insuffizienz ausgesetzt war. Newtons Theorie war, etwas intrikater ausgedrückt, zu mathematisch im Vergleich zu seinen mechanistischen Vordenkern, sein Kraftbegriff zu metaphysisch, um eine auf den ersten Blick befriedigende Antwort auf die alten Fragen der Naturphilosophie des Humanismus zu geben. Dies sollte sich in den Folgejahrzehnten allerdings erheblich ändern. Newtons Physik erfährt eine ungeahnte Wertschätzung und wird regelrecht zur Signatur eines neuzeitlichen Weltbilds – Zu den Grundeinwänden, die in der ideengeschichtlichen Forschung vorgetragen wurden, vgl. Reichenberger (2016), 16 f.: »Dank der umfangreichen Erforschung, Edition und Auswertung des Newton-Nachlasses seit Mitte des 20. Jahrhunderts und ihrer gegenwärtigen enormen Forcierung durch die Methoden der modernen Digitalisierungstechnik wissen wir, dass Newtons Philosophie als Musterfall des Empirismus und Induktivismus nicht taugt. [. . . ] Ein Ammenmärchen ist auch, dass Newton mit seinen Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, kurz Principia, eine abgeschlossene Theorie der Mechanik vorgelegt hat, an deren bloßer ›mathematischen Verschönerung‹ man im 18. Jahrhundert hätte arbeiten müssen. Mit Newtons Principia, die 1687 erstmals im Verlag der Royal Society in London erschienen, wurde alles andere als ein abrupter Wechsel von der Impetustheorie zur Trägheitsmechanik vollzogen. Vielmehr hatte Newton mit seinen Principia einen Rohbau hinterlassen, dessen Fundament, die Bewegungsgesetze, höchst umstritten war«. 424 Vgl. Kapitel III .1.a–b der Studie. 425 Brackenridge (21995), 9 f. 423
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und zwar unter Zuhilfenahme durchaus klassisch zu nennender Muster und Formen. Im eigentlichen Sinn beginnt Newtons Verklärung mit dem antikisierten Hymnus in stichischen Hexametern von Edmond Halley (1656–1742) zu Beginn der dritten Auflage der Principia mathematica von 1726. Es seien nur die letzten sechs Verse zitiert, die illustrieren, welche Emphase Halley Newton hier zukommen lässt: 45
Talia monstrantem mecum celebrate camaenis, Vos ô caelicolum gaudentes nectare vesci, Newtonum clausi reserantem scrinia veri, Newtonum Musis charum, cui pectore puro Phoebus adest, totoque incessit numine mentem: Nec fas est propius mortali attingere divos. 426
Anlage und Ausgestaltung des Textes – etwa die Iuxta-Stellung Newtons zu den Musen (Newtonum Musis), das ovidisch instruierte Phoebus adest 427 und das variantenreiche Zusammenspiel eines göttlichen Vokabulars (caelicolum, numine, fas, divos) – lassen keinen Zweifel aufkommen: Newton wird zur Lichtgestalt verklärt, zu einer Figur, deren Leistung bei der Erforschung der Natur ihn der göttlichen Sphäre so nahe gebracht hat wie nur irgend möglich – einer Sphäre, die hier aber keineswegs auf das Wissen um Naturgesetze beschränkt wird, sondern mit den Musen und Phoebus (Apollon) antike Vertreter der schönen Künste beherbergt. Dieser Verklärungstopos ist im frühen 18. Jahrhundert, also wenige Jahrzehnte nach der Veröffentlichung der Principia, bezeichnend für die Rezeption, die Newton, zunächst bezogen auf den britischen Raum, zukommt. Wenn er sich auch nicht gänzlich einer solchen Form der Apotheose verschreibt, so kommt Samuel Clarke (1675–1729) doch das Verdienst zu, Newtons Lehre nicht nur weiter zu verbreiten, sondern auch gegen Einwände zu verteidigen, die von Seiten der Kontinentalphilosophie erhoben werden. 428 Insofern Leibniz zu den Widersachern Newtons zu zählen ist, ist für unsere Halley, In Viri praestantissimi Isaaci Newtoni Opus, 44–49: »Feiert mit mir in Gedichten denjenigen, der solches [sc. die Gesetze der Natur] aufzeigt, ihr unter den Himmelsbewohnern, die ihr euch gerne an Nektar labt, [sc. feiert mit mir] N EWTON, der die Schreine der verschlossenen Wahrheit öffnet, N EWTON, den Liebling der Musen, dem Phoebus mit reinem Herzen beisteht, und dessen Geist er mit all seiner göttlichen Kraft erfüllt hat: Keinem Sterblichen ist es nach göttlichem Recht vergönnt, den Göttern noch näherzukommen«. 427 Vgl. die einschlägigen Stellen an Versanfängen in den Metamorphosen und den Remedia amoris, etwa Ov., met., 2, 497 (Arcas adest), 3, 102 (Pallas adest), 3, 527 (Liber adest), 11, 58 (tandem Phoebus adest) und Ov., rem., 705 (Phoebus adest). 428 Zwischen 1691 und 1695 konnte Newton geradezu als der Mentor Clarkes in Cambridge gelten – bevor Newton dann 1696 nach London übersiedelte, um dort Guardian der Royal Mint 426
424
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Untersuchung der Umstand wertvoll, dass in den Briefen an Clarke Leibniz' Kritik an Newton wohl am deutlichsten, jedenfalls auf einem bemerkenswerten rhetorischen Niveau zutage tritt. Einen Aufhänger hierzu bildet eine polemische Einlassung Leibniz': So sei es beklagenswert, dass mittlerweile »selbst die natürliche Religion in England außerordentlich an Kraft« 429 verliere. Diese polemische Behauptung wird bewusst in einer Form getätigt, welche die Kraftverlust-Theorie in die Nähe eines Gottesverlusts rückt. Denn die Annahme, dass in der Welt Kraft verloren ginge, lässt sich nach Leibniz' Auffassung als Zeichen eines unvollkommenen Gottes deuten und setzt die Vertreter solcher Meinungen wenigstens tendenziell dem Vorwurf atheistischen Denkens aus. Die Theorie des Kraftverlusts hängt von der Vorstellung ab, dass die Welt wie ein mechanisches Werk funktioniert, in dem alle Räder ineinandergreifen und miteinander agieren – eine Idee, die bereits dem Cartesianismus nicht fremd war, wenn man etwa den im Discours de la méthode angeführten horologe in den Blick nimmt. Auch Newton verficht die Ansicht, dass das Weltengebäude durch Reibungen seiner einzelnen Bestandteile zusehends an Kraft verliere. Das Uhrwerk-Bild stellt dabei eine gewisse Zuspitzung von Seiten Clarkes dar. 430 Newton selbst bevorzugt es, die Welt gleich einer von Gott stetig gesteuerten, geradezu maschinell vorzustellenden Einrichtung aufzufassen, wie Boenke auf differenzierte Weise ausführt: Ist Gott nicht allein – wie im Rationalismus – der intelligente Urheber und Schöpfer der Welt, sondern regiert und lenkt er sie beständig, dann muß er, erklärte Newton, mit seiner Wirksamkeit und folglich, da Wirksamkeit nicht ohne Substanz bestehen kann, mit seiner Substanz immer und überall allgegenwärtig sein. Die Funktionen Gottes in Newtons Physik sind erstens die Schöpfung oder zweckmäßige Einrichtung der Welt, zweitens die dauernde Wahrnehmung oder Gemeinschaft Gottes mit der Welt durch ein Medium den absoluten Raum, und drittens die Erhaltung des Materie- und Bewegungsquantums. 431
Die Loslösung der Welt von ihrem Schöpfer bei gleichzeitiger Verabsolutierung des Raums kann somit zu den genuinen Anliegen Newtons gezählt werden. Dieser prominenten Überzeugung zufolge muss Gott jedoch die Uhr des Unizu werden; vgl. zur genaueren konstellationsgeschichtlichen Einordnung die bis heute wertvolle Darstellung von Zimmermann (1870). 429 Leibniz, Streitschriften mit Clarke, 120. Zur allgemeinen ideengeschichtlichen Einordnung des Briefwechsels vgl. die Einführung und die Kommentierungen bei Dellian (1990) sowie die Monographie von Vilati (1997). 430 Gleichwohl hat es bis heute in den populären Ansichten zur newtonschen Philosophie seinen Platz erhalten. Zur Genese dieser Idee in der Naturphilosophie der Frühen Neuzeit vgl. die konzisen Ausführungen bei Weigl (1990), 114–132. 431 Boenke (2005), 305.
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versums – das er ja immerhin selbst geschaffen hat – gelegentlich neu aufziehen, was nach einem ebenso prominenten Diktum Leibniz' nur Ausweis des »schlechteste[n] Meister[s]« 432 sein könne; Gott unterstehe nämlich in seiner Umsicht keinem Zwang, sein Werk verbessern oder immer wieder mit neuen Kräften ausstatten zu müssen; Leibniz hält vielmehr entgegen: Wenn im Universum durch die natürlichen Gesetze, die Gott gegeben hat, die tätige Kraft abnähme, so dass, um sie zu ersetzen, ein neuer Anstoß nötig wäre, wie bei einem Handwerker, der der Unvollkommenheit seiner Maschine abhilft, so wäre dies eine Unordnung nicht nur mit Bezug auf uns, sondern auch mit Bezug auf Gott selbst. 433
Leibniz setzt demnach eine enge Verbindung zwischen der Vollkommenheit Gottes und der Vollkommenheit der von ihm geschaffenen Maschine an. Clarke muss, als ein Verfechter der newtonschen Mechanik, hierauf entgegnen, dass die Tatsache, dass sich ein Kraftverlust in den Tätigkeiten einer solchen Maschine ausmachen lasse, doch wohl keinen Makel darstelle; vielmehr sei es die bloße natürliche Folge davon, dass wir es mit abhängigen Dingen zu tun haben: ein Umstand, der keiner Verbesserung bedarf. Bei einem menschlichen Handwerker, der eine Maschine verfertigt, liegt der Fall ganz anders, da die Kräfte, vermöge deren die Maschine ihre Bewegungen fortsetzt, von dem Erbauer vollständig unabhängig sind. 434
Der hier von Clarke vorgebrachte Vergleich zu einem menschlichen Handwerker mutet durchaus barock an. Die Bildebene des Erbauens ruft wiederum Konzepte wie den opifex auf den Plan. Denn das Problem zwischen Welt und Energie verweist auf das nicht so leicht erklärbare Verhältnis zwischen Hersteller und Werk. Es kreist hier um die Frage nach den inneren und äußeren Dependenzen der materiellen Welt, das heißt um die Frage nach deren Kräften: Wer sich vorstellt, die tätigen Kräfte nähmen von selbst in der Welt ab, der kennt die Grundgesetze der Natur und die Schönheit der Werke Gottes noch nicht recht. Wie will man beweisen, dass dieser Mangel aus der Abhängigkeit der Dinge folgt? 435
Die Natur hat keinen Mangel aufgrund ihre Abhängigkeit von Gott. Clarkes Responsion neigt scheinbar eher der aus dem Platonismus bekannten Auffassung einer materia iners als der newtonschen Idee einer vis insita zu: »Es liegt 432 433 434 435
Leibniz, Streitschriften mit Clarke, 120 f. Ebd., 138. Ebd., 144. Ebd., 151.
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hier nicht, wie der Verfasser meint, ein Mangel vor, sondern es ist dies die wahre und eigene Natur der trägen Materie.« 436 Die Materie wird als Substrat bestimmt, das ohne einwirkende Kräfte selbst völlig passiv da läge und der ihm eingegebenen Kräfte mit der Zeit verlustig ginge. Im Weiteren führt dieser Konflikt zwischen Kraftverlust und deren Aufrechterhaltung nun ausgerechnet zur Auslegung einer der bekanntesten poetologisch-stilkritischen Einlassungen zu Beginn der horazischen Ars poetica: In Wahrheit wäre es: Humano capiti cervicem pictor equinam / jungere si velit. Ebenso verhält es sich mit der Fortdauer der Welt. Wie man sich ihrem Anfang etwas hinzugefügt, so könnte man sich ebenso gegen Ende etwas weggenommen denken, doch wäre auch dies widervernünftig. 437
Hier wird bereits eine der vielen Rollen diskutiert, die Horaz im 18. Jahrhundert einnehmen kann, zudem eine mit Blick auf die Vorgeschichte seiner Rezeption zumindest ungewöhnliche angeführt: Er gilt als Gewährsmann für einen Naturbegriff, in dem keine Kräfte verloren gehen, sondern in dem die Teile harmonisch aufgebaut und aufeinander abgestimmt sind; Anfang und Ende sollen dabei eine Einheit bilden und gerade nicht als heterogene Elemente für sich stehen. Daran lässt sich ablesen: Ebenso wie im Plan des Malers und Dichters die harmonische Abgestimmtheit des zu erzielenden Werks bereits angelegt sein muss, ist die Welt nach Leibniz' Auffassung von einer vorgefassten, ›prästabilierten‹ Harmonie durchdrungen. Der Plan eines Künstlers bildet ein Ganzes, wie auch Gott die Welt als Ganzes geschaffen hat, in dem sich nichts in etwas anderes (ein weiteres Nichts?) verflüchtigen kann. Eine solche Harmonie widersetzt sich jedoch Vorstellungen eines Uhrwerks, das durch das Wirken seiner Teile Kräfte verlieren, ja seine Gesamtkraft theoretisch gänzlich einbüßen könnte. So wenig an der zitierten Horaz-Stelle von Kräften die Rede ist, so sehr wird die Verbindung, die zwischen der Erhaltung der Welt und deren harmonischer Ordnung zu herrschen habe, doch nahelegt. Der Schluss des Gedankens bei Horaz ist wohlbekannt; es ist ein ganz und gar ästhetischer: Die Disharmonie wird als hässlich empfunden und ruft das Gelächter (risus) der Freunde zum Zwecke der geschmacklichen Distanzierung hervor. 438 Im Folgenden schlägt Leibniz nun einen Bogen zur Naturphilosophie, namentlich zum Verhältnis von Raum und Materie:
Ebd., 163. Ebd., 191. Das Zitat entspricht Hor., ars, 1: »Wenn ein Maler einem menschlichen Kopf den Hals eines Pferdes / anfügen wollte«. 438 Vgl. ebd., 5: »Könntet ihr, Freunde, da das Lachen zurückhalten?« (»risum teneatis, amici?«). 436 437
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Ich sage keineswegs, Raum und Materie seien dasselbe, sondern behaupte nur, dass es ohne Materie auch keinen Raum gibt, und dass der Raum an sich selbst keine absolute Realität ist. Raum und Materie unterscheiden sich voneinander wie Zeit und Bewegung: beide sind, wenngleich verschieden, so doch untrennbar. 439
Unter Bezugnahme auf Newton führt Clarke nun im Folgenden Raum und Zeit als die Attribute sowie die Sensorien, 440 über die Gott die Welt wahrnimmt, aus. Aber auch hierauf hat Leibniz eine Antwort: Sahen wir in Kapitel iii.2.b noch die theoria motus abstracti als ganz und gar mit der Geometrie verhaftet, die theoria motus concreti indes die Lehre von den mechanischen Kräften, die zur Körperbewegung führen, so wird sich die Theorie von den Kräften nunmehr auf deren Elastizität konzentrieren, die keiner Taktilität bedarf. Hierzu wird der Erhaltungssatz, besonders in seiner Entsprechung zur menschlichen Seele, in Leibniz' fünftem Schreiben reformuliert: Dennoch sage ich durchaus nicht, es sei übernatürlich, einem Körper eine neue Kraft zuzuführen, ich erkenne vielmehr an, daß ein Körper häufig auf einen anderen Kraft überträgt, wobei er selbst ebenso viel von der seinen verliert. Als übernatürlich bezeichne ich nur, dass das ganze Universum der Körper einen Zuwachs an Kraft gewinnt, dass demnach ein Körper an Kraft zunimmt, ohne dass andere ebenso viel verlieren. 441
Es existieren diesen Äußerungen zufolge im Universum Kräfte, die zwischen den Körpern verloren gehen, jedoch auch eine Gesamtkraft, die immer gleich bleibe. Es geht um einen Harmoniegedanken, der auf Kraft basiert. Geschlossen wird dies von Leibniz mit einer Absage an die cartesische Theorie der Bewegungsquantität: Betrachtet man nur die Gesamtmassen und ihre Gesamtbewegung, so geht hier freilich Kraft verloren; sie wird jedoch auf die Teile übertragen, indem diese innerlich durch die Kraft des Zusammentreffens oder des Stoßes erregt werden. Ein Verlust tritt also nur scheinbar ein: die Kräfte sind nicht zunichte geworden, sondern nur in den winzig kleinen Teilen zerstreut: sie sind damit nicht verloren, sondern es ist nur dasselbe, wie bei der Umwechslung von großem Gelde in kleines geschehen. Ich gebe allerdings zu, dass die Quantität der Bewegung Leibniz, Streitschriften mit Clarke, 192. Die Streitfrage, ob es sich bei diesem Sensorium um ein Organ oder um die bloße Stelle der Wahrnehmung handelt, wird von Leibniz und Clarke im Gestus einer barocken Gelehrtenmanier diskutiert, etwa unter Heranziehung lexikalischer Autoritäten. Man kann daher auch von einer gewissen Pedanterie, einer Verbissenheit in Detailfragen sprechen, die hier zum Ausdruck kommt. 441 Ebd., 202. 439
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nicht dieselbe bleibt, und billige in Bezug auf diesen Punkt das Beispiel auf Seite 341 der newtonschen Optik, die man hier zitiert; ich habe jedoch an anderer Stelle gezeigt, dass zwischen der Quantität der Bewegung und der Quantität der Kraft ein Unterschied besteht. 442
Nach allen Disputen sind sich Clarke und Leibniz dann anscheinend doch zumindest in ihrer Ablehnung der Bewegungsquantität vollkommen einig – wenigstens, wenn diese Quantität, wie im cartesischen Sinne, zu einer Unterminierung oder Unterkomplexität des Kraftbegriffs führt. Diese Einigkeit führt auf eingängige Weise die Rolle vor, die der Kraft als dem neuen Leitparadigma der Weltbetrachtung zukommt: Der Weltenaufbau ist nicht harmonisch, weil er platonischen Ideen als Ideen entspräche, sondern weil er von gleichbleibender Kraft durchwaltet wird. Dieses Verhältnis von Harmonie und Energieerhaltung soll im Folgenden noch etwas vertieft werden und sein psychologischer Wert erläutert werden.
3.d. Zur psychologischen Funktion des Erhaltungssatzes
Dass etwas in der Welt aufrechterhalten wird, was sich aus der selbigen nicht verflüchtigen kann, ist als Gedanke so alt wie die Naturphilosophie selbst. So findet sich bereits bei Lukrez eine Art Erhaltungssatz ausgedrückt. Er beruht auf der Annahme, dass Nichts aus Nichts entstehen könne und Nichts zu Nichts vergehen könne: 215
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Huc accedit uti quidque in sua corpora rursus dissoluat natura neque ad nilum interimat res. nam si quid mortale 〈e〉 cunctis partibus esset, ex oculis res quaeque repente erepta periret. nulla vi foret usus enim quae partibus eius discidium parere et nexus exsolvere posset. quod nunc, aeterno quia constant semine quaeque, donec vis obiit quae res disverberet ictu aut intus penetret per inania dissoluatque, nullius exitium patitur natura videre. 443
Ebd., 203 f. Lucr., 1, 215–224: »Hinzu kommt, dass die Natur jedes Ding wieder in seine Urkörper auflöst / und keine Sache zu Nichts vergehen lässt. / Denn wenn etwas mit all seinen Teilen vergänglich wäre, / dann könnte eine jede Sache sich unserem Blick entziehen und würde sogleich zugrunde gehen. / Es würde dann nämlich keiner Kraft bedürfen, um die Teile voneinander zu trennen / und das Gefüge ihrer Verbindungen zu lösen. / Da aber alle Dinge aus unvergänglicher Keimzelle 442 443
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Kein Ding vergeht demgemäß einfach. Es handelt sich bei ›Zerstörungen‹ um Rückführungen in die Urkörper, die selbst die Keimzellen der wahrnehmbaren Dinge bildeten. Für jedes Entstehen gibt es das passende Gegenstück; beides, Entstehen und Vergehen, vollzieht sich im Spiel der Atome praktisch simultan: Haud igitur penitus pereunt quaequmque videntur, quando alid ex alio reficit natura nec ullam rem gigni patitur nisi morte adiuta aliena. 444
Wenn es um die Erklärung des Werdens und Absterbens geht, schwebt Lukrez demnach eine Bewegung aus dem Bereich des Sichtbaren in den Bereich des Unsichtbaren vor. Die Natur ist auch in ihren Prozessen des scheinbaren Vergrößerns und Verkleinerns immer um Ausgleich bemüht. Es geht bei diesem Ausgleich, ganz im Sinne des Atomismus, jedoch nicht um qualitative Veränderungen, sondern um immer wieder neue Kombinationen von Teilchen. Der von Lukrez hierzu bemühte Ausdruck für die Wechselwirkungen, die zwischen den Atomen und ihren Verbindungen herrschen, das Wiederherstellen (reficit), mutet indes fast überraschend vitalistisch an. Aber auch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der ›Erhaltungssatz‹ bei Lukrez grundsätzlich physikalischer Natur ist. Er bemüht sich, in dem, was er beschreibt, möglichst ohne metaphysische Annahmen auszukommen, und offenbart die Tendenz, bei aller Kleinteiligkeit der in der Welt beobachtbaren Phänomene stets auch ein Ganzes mit im Blick zu haben und das Spiel der Atome nicht für sich, sondern als ein Universum zu begründen. Da die Seelen bei Lukrez selbst körperlicher Natur sind, 445 ist hiermit auch deren Kräfteverhältnis zueinander adäquat beschrieben. Im Zuge der Mathematisierung des Weltbildes sind es für die Frühe Neuzeit nunmehr vor allem quantitative Größen, die mit der Erhaltung eines Grundzustandes verbunden werden. Dies betrifft denn auch die Mechanik: Für Descartes war es, wie in Kapitel iii.2.a gesehen, die Bewegungsquantität (quantitas motus), die sich im Universum insgesamt erhalten müsse. Dass im Universum etwas erhalten wird, darin stimmt Leibniz wiederum Descartes zu, nicht jedoch ist es für ihn die Bewegung oder deren Quantität, die erhalten werde; für Leibniz stellt vielmehr die lebendige Kraft (vis viva) und deren Gesamterhalt eine heraus gebildet sind, / lässt uns die Natur völlige Zerstörung erst dann erleben, wenn etwas von einer äußeren Kraft getroffen wird, die es entweder mit einem Schlag in Teilchen zersprengt / oder aber durch leere Stellen einen Weg hinein findet / und das Ding von innen her auflöst«. 444 Lucr., 1, 262–264: »Daher geht nicht ein einziges sichtbares Ding zugrunde, / denn die Natur erneuert das eine durch das andere und nicht / lässt sie es zu, dass irgendeine Sache entsteht, wenn nicht eine andere dafür stirbt«. 445 Vgl. das konzise Kapitel zur epikureischen Psychologie, mit besonderem Fokus auf die Affekten- und Emotionslehre, bei Konstan (2008), 27–78.
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Signatur des Universums dar. Besagte der klassische Impulssatz, wie ihn Descartes formulierte, dass die Bewegungsquantität in der Körpergröße – welche bei Descartes aufgrund der Gleichsetzung von Ausdehnung und Körperlichkeit sich nicht grundsätzlich von der Masse unterscheidet – multipliziert mit der Geschwindigkeit besteht (f = m*v), so ersetzt Leibniz demgegenüber – wie er in der Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii (1686) darlegt – die Bewegungsquantität mit der Kräftewirkung, und die mathematische Formel hierzu lautet bei Leibniz Masse multipliziert mit dem Quadrat der Geschwindigkeit (f = m*v2). 446 Die zu beschreibende Kraft entspricht nicht schlichtweg einer linearen Folgewirkung der Kräfte aus materiellen Massen heraus; sie ist vielmehr von einer Multiplikationsformel geprägt; und wenn im Universum Erhaltung vorherrscht, so liegt diese nicht in der Konservierung der Bewegung, sondern in der Konservierung der Kräfte. Die Erhaltung der Energie entspricht der prästabilierten Harmonie, die im Universum herrsche. Das den Cartesianismus so kennzeichnende Problem der Substanzentrennung wird anhand der Ersetzung der Bewegungsquantität durch die Kräftewirkungen überwunden. In der Monadologie (1718), die eine späte Zusammenfassung der leibnizschen Position in 90 Paragraphen darstellt, zeigt sich das noch deutlicher. Dort wird beschrieben, wie die Individualität der Monaden durch Zustände bestimmt ist, die energetische Zustände in der Welt bezeichnen. Und dies meint zuvorderst ein graduelles Verhältnis, welches zwischen Körper und Seele vorherrscht: So wechselt die Seele den Körper nur allmählich und gradweise, so dass sie niemals mit einem Schlag aller ihrer Organe beraubt ist; und es gibt oft eine Metamorphose bei den Tieren. Aber niemals eine Metempsychose oder Wanderung der Seelen: Ebenso wenig gibt es völlig separierte Seelen wie Genien ohne Körper. Gott allein ist von ihnen gänzlich frei. 447
Diesen Entwicklungsschritt illustriert Szabó (31987), 70: »Durch eine Mißdeutung des statischen Prinzips der virtuellen Geschwindigkeit kam Descartes auf den vagen, aber richtigen Gedanken, daß die Wirkung der Schwerkraft durch das Produkt aus Gewicht und Hubhöhe veranschlagt werden könne. Diese Idee von Descartes griff nun Leibniz auf und verband sie mit dem Galileischen Fallgesetz: Wenn es dasselbe ist, das einfache Gewicht zur vierfachen Höhe oder das vierfache Gewicht zur einfachen Höhe zu heben, so ist es auch dasselbe, das einfache Gewicht mit der doppelten und das vierfache Gewicht mit der einfachen Geschwindigkeit hochsteigen zu lassen. Somit verhalten sich die Kräftewirkungen wie die Quadrate der Geschwindigkeiten«. 447 Leibniz, Monadologie, § 72: »Ainsi l’ame ne change de corps qve peu à peu, et par degrés, de sorte qv’elle n’est jamais depouillée tout d’un coup de tous ses organes; et il y a souuent metamorphose dans les animaux. Mais jamais Metempsychose ny transmigration des Ames: il n’y a pas non plus des Ames tout à fait separées, ny de Genies sans corps: Dieu seul en est detaché entierement«. 446
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In den folgenden Paragraphen ist es die Kraft der prästabilierten Harmonie (vertu de l'harmonie préetablie), die zu einer universellen, das heißt: Substanzen übergreifenden Erfassung der Dinge untereinander führt: Diese Prinzipien [sc. des graduellen Übergangs zwischen Körper- und Seelenwelt] haben es mir erlaubt, die Vereinigung, oder vielmehr die Übereinstimmung von Seele und organischem Körper auf natürliche Weise zu erklären. Die Seele folgt ihren eigenen Gesetzen, und der Körper den seinigen, und sie stimmen überein in der Kraft der prästabilierten Harmonie zwischen allen Substanzen, da sie alle Vorstellungen des einen, selbigen Universums sind. 448
Die Harmonie im Universum ist durch Gott determiniert. Die Gesetze der geistigen Welt und die der körperlichen Welt mögen zwar geschieden sein, jedoch sind es in beiden Bereichen Kräfte, die walten. Die Monade ermöglicht einen stabilen Begriff von einem Subjekt, das sich in der Welt befindet und diese aus einer bestimmten Perspektive und mit einem bestimmten Kognitionsvermögen erfasst. Die Zuordnung waltender Kräfte wird mithin zu einer Frage der Perspektive. Gerade hierdurch befinden sich die leibnizschen Kräfte in scharfem Kontrast zu materialistischen Philosophien. 449 Durch die gleichzeitige BeibeEbd., § 78: »Ces principes m’ont donné moyen, d’expliqver naturellement l’union ou bien la conformité de l’Ame et du corps organiqve. L’ame suit ses propres loix et le corps aussi les siennes; et ils se recontrent en vertu de l’harmonie préetablie entre toutes les substances, puisqv’elles sont toutes des representations d’un meme Univers«. 449 Denn ebendies stellt eines der offenkundigsten Defizite des Materialismus dar, sofern man ihn – wie es noch Gassendi in lukrezischer Tradition vorschwebte – atomistisch auslegt: Durch Atomprall lässt sich schwerlich erklären, dass eine Sache von verschiedenen Seiten betrachtet werden kann. Hinzu kommt, dass der klassische Atomismus nicht einmal über einen rudimentären Richtungsbegriff verfügt, der Grundvoraussetzung wäre für eine Kosmologie, die Perspektivität und Relativität (respectus diversus) mit einschließt. Die Atome fallen nur in eine einzige Richtung, nämlich nach unten. Selbst aufsteigende Bewegungen sind nur scheinbar nach oben gerichtet, in Wahrheit werden sie nach Auffassung des Atomismus stets nach unten gezogen (cuncta deorsum ferantur); vgl. prominent am Beispiel des Feuers Lucr., 2, 201–215. Wo es aber nur eine einzige Richtung gibt, ist überhaupt die Ansetzung eines solchen Begriffs hinfällig – ebenso wie die Ansetzung der Kategorie ›Farbe‹ hinfällig wäre, wenn es im Universum nur eine einzige Farbe gäbe. Diese Beschränktheit des Atomismus hinsichtlich der Akzeptanz von Perspektivität scheint dementsprechend ein gewichtiger systematischer Grund dafür zu sein, dass die großen materialistischen Schulen der Antike, der Epikureismus und der Stoizismus, – so sehr sie die Barockphilosophie in vielen Momenten und ganz besonders Gassendi auch beeinflusst haben – nicht mehr als die vorwiegenden Antworten auf das Geist / Materie-Problem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Frage kommen. Aus historischer Sicht besonders aufschlussreich ist hierfür der Briefwechsel zwischen Leibniz und Huygens in den Jahren 1691–1693: Während Huygens sich in seinen Briefen auf gewohnte Weise als ein vehementer Verfechter der Korpuskulartheorie im Sinne Robert Boyles inszeniert, beharrt Leibniz auf der Eigenschaft der Elastizität, die stofflichen Partikeln zukommen müsse. Demnach könne auch zwischen den kleinsten Körpern kein Prall oder Rückprall stattfinden. Selbst das huygenssche Konzept eines ›elastischen Stoßes‹, der zwischen Körpern stattfinden solle, 448
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haltung zweier unterschiedlicher Sphären, der geistigen und der körperlichen, löst der Erhaltungssatz das Problem der Zweisubstanzenlehre. Dieses bestand ja darin, dass kein Austausch zwischen der körperlichen und der geistigen Sphäre möglich wäre oder zu dessen Erklärung organologische Verbindungen wie die Zirbeldrüse angenommen werden mussten. Leibniz bringt hierfür einen harmonischen Ausgleich der Kräfte ins Spiel und macht im Zuge dessen einen Seitenhieb auf Descartes: Descartes hat erkannt, dass die Seelen den Körpern keine Kraft mitteilen können, weil die Quantität der Kraft in der Materie immer gleich ist. Dennoch hat er geglaubt, dass die Seele die Richtung der Körper ändern könne. Der Grund hierfür ist, dass man zu seiner Zeit noch nicht das Naturgesetz kannte, wonach sich auch die Gesamtrichtung der Materie erhält. Wenn er dies bemerkt hätte, wäre er auf mein System der prästabilierten Harmonie gekommen. 450
Die polemische Einlassung fordert die Gleichheit des Quantums an materiellen Kräften. Bei Leibniz ist derartiges indes nicht nötig, da es nicht einfach ›nur‹ um ein Quantum gegeben, sondern um die Erhaltung von Energie geht. Da ja die Materie Descartes zufolge in schierer Extension besteht, erlaubt er auch nicht mehr als die Reduktion auf Quantität. Leibniz hingegen sieht die Erhaltung nicht nur in Hinsicht auf die in der Materie waltenden Kräfte im Sinne einer holistischen Gesamtheit, sondern schließt auch die Richtungen mit ein, die der Materie in ihren Bewegungszuständen eingegeben sind. Anhand der Engführung von Seele mit Lebendigkeit und anhand von Körper mit Materie erweist sich hierin die eingangs erwähnte Schritt von der kinematischen hin zur dynamischen Natur. Der schwierig zu erklärende Übergang zwischen körperlicher und seelischer Welt lässt sich durch die Differenzierung der Kräfte überwinden. Wo von Kepler über die anima motrix der Schulterschluss zwischen neoplatonischen und mechanischen Weltbildern gesucht wurde, verfolgt die Leibnizberuht auf der für Leibniz inakzeptablen Annahme einer unendlichen Härte, die den Korpuskeln dann zukommen müsste; besonders bemerkenswert ist hier Huygens rhetorischer Versuch eines Schulterschlusses im Brief an Leibniz vom 11. Juli 1692. Dort spricht er gleich zu Beginn davon, dass seine Hinwendung zur Annahme unzerbrechlicher Elementarteilchen vorgeblich auf nichts anderem beruhe als auf seiner Abneigung gegenüber dem cartesischen extensio-Argument – einer Abneigung, bezüglich derer er sich doch mit Leibniz wiederum in trauter Einigkeit wisse (vgl. Huygens an Leibniz, 11. Juli 1962, 37). Es bleibt dann jedoch tatsächlich bei dieser einzigen, zudem ex negativo entwickelten Übereinstimmung zwischen den beiden. 450 Leibniz, Monadologie, § 80: »Des-Cartes a reconnu qve les Ames peuuent point donner de la force aux corps, par ce qv’il y a tousjours la meme qvantité de force dans la matiere. Cependant il a crû qve l’Ame pouuoit changer la direction des corps. Mais c’est par ce qv’on n’a point sû de son temps la loy de la nature qvi porte encor la conservation de la meme direction totale dans la matiere. S’il l’avoit remarqvée, il seroit tombé dans mon systeme de l’harmonie preétablie«.
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Philosophie eine Psychologie, die sich nicht kosmologischer Analoga im Sinne des Neoplatonismus bedient, sondern Kräfte, Impulse und deren Erhaltung zum Zwecke einer harmonischen Austarierung zwischen den Substanzen formuliert. Die Psychologie wird somit selbst zu einer Lehre von innewohnenden Kräften und Potentialen. Nicht umsonst sind es, mit Leibniz gesprochen, Vorstellungen (repraesentationes, representations) des einen, ganzen Universums, die in den Monaden vorherrschen. Und diese Repräsentation ist Ausweis der Lebendigkeit, die diesen Kräften zukommt. Anders gewendet: Die Seelen verfügen über unterschiedliche Kräfte, die sich zur Kraft des Universums wiederum perspektivisch verhalten. Auch Wolff wird sich in seiner Philosophie der skizzierten leibnizschen Position anschließen: »Im ganzen Universum wird stets dieselbe Menge an lebendigen Kräften erhalten«, 451 wie es in der Cosmologia generalis heißt. Dem Erhaltungssatz gemäß hat das eine Universum auch genau eine Kraft, die im Ganzen beständig bleibt. Ganzheit (totum) und Menge (quantitas) fallen über den Kraftbegriff demnach in eins. Lässt sich dieses Gleichmaß an Kraft aber nun auch umstandslos auf das Maß an Kräften in der menschlichen Seele übertragen? Genau diese Frage wird Wolff veranlassen, seine empirische Psychologie in den 1730er Jahren auch als Psychometrie (Psych[e]ometria) zu diskutieren. Sie wird als streng wissenschaftliche, mathematisierte Methodik aufgefasst. Dabei geht es Wolff zunächst um einen Brückenschlag zwischen mathematischen und kontingenten Wahrheiten, der zu einem Einschluss von geistiger und materieller Welt befähige, wie es die Einlassungen in der Psychologia empirica demonstrieren: Diese Theoreme [sc. über Vollkommenheit und Unvollkommenheit] betreffen die Psycheometrie, welche die mathematische Erkenntnis des menschlichen Geistes liefert und bis jetzt zu den Desideraten zählt. In ihr muss aber gelehrt werden, wie wir die Größe der Vollkommenheit und Unvollkommenheit und eine Zuverlässigkeit des Urteils bemessen müssen, und daraus ist das Maß der Vollkommenheit und Unvollkommenheit, und ebenso dasjenige der Zuverlässigkeit der Urteile, festzulegen. Denn die Theoreme stehen niemandem zur Verfügung, solange nicht beide Maßgaben gefunden sind. Dies wird von mir zu keinem anderen Zweck angebracht, als dass erkannt wird, dass auch die mathematische Erkenntnis des menschlichen Geistes gegeben ist und dass daher eine Psycheometrie möglich ist, und dass es offenkundig wird, dass die Seele auch in denjenigen Dingen, in denen sie auf die Größe schaut, mathematischen Gesetzen folgt, wobei die mathematischen, das heißt: arithmetischen 451 Wolff, Cosmologia generalis, sect. II , cap. IV , § 487: »In toto universo semper conservatur eadem virium vivarum quantitas«.
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und geometrischen Wahrheiten mit den kontingenten [sc. Wahrheiten] nicht weniger im menschlichen Geist als in der materiellen Welt vermischt sind. 452
Die Analogisierung der materiellen mit der geistigen Welt wird von Wolff als mathematisch fundierter Weg zur Psychologie verstanden. 453 Sie besteht darin, dass die Kraft der Seele ebenso wie Kräfte der materiellen Welt zu messen seien – und dies aufgrund der Affinität der menschlichen Seele zur Mathematik. Diese Messkunst wird von Wolff noch nicht als gegeben behauptet, aber wenigstens in Aussicht gestellt. Die Kräfte der Seele mathematisch präzise zu vermessen, wirft überhaupt Schwierigkeiten auf. Denn eine Vorstellung legt tatsächlich keinen körperlichen ›Raum‹ zurück; 454 sie ist dessen ungeachtet als lebendige Kraft in uns mittels eines inneren Sinns fühlbar. Wolff drückt das in der Psychologia rationalis anhand eines Naturbilds aus: Wir wollen nun die Augen auf einen Fluss richten, der fortwährend fließt, und auf einen Baum, der in Ufernähe steht. Wegen der Wasserbewegung erscheinen – bei einem gegebenen durchgängigen Raum – immer wieder andere Teile des fließenden Wassers demselben Baum und coexistieren gleichsam mit ihm. Und je schneller die Bewegung ist, desto mehr verschiedene Teile des Wassers coexistieren mit dem Baum zur selben Zeit in diesem Teil des Wasserbeckens. Man hat daher eine gewisse Folge verschiedener Teile des Wassers, die ununterbrochen aufeinander folgen, während in der Zwischenzeit der Baum an derselben Stelle unbeweglich steht, und zwar zusammen mit einem [sc. Teil des Wassers], welcher auch immer von ihnen [sc. den Teilen] an derselben Stelle existiert. Auf gleiche Weise befindet sich in der Seele eine gewisse ununter452 Wolff, Psychologia empirica, pars II , sect. I , cap. I , § 522: »Theoremata hæc ad Psycheometriam pertinent, quæ mentis humanæ cognitionem mathematicam tradit & adhuc in desideratis est. In ea autem doceri debet, quomodo magnitudinem perfectionis ac imperfectionis nec non certitudinem judicii metiri debeamus, adeoque mensura perfectionis ac imperfectionis, itemque certitudinis judiciorum constituenda: neque enim theoremata ante ullius usus sunt, quam utraque mensura fuerit inventa. Hæc non alio fine a me adducuntur, quam ut intelligatur, dari etiam mentis humanæ cognitionem mathematicam, atque hinc Psycheometriam esse possibilem, atque appareat animam quoque in iis, quæ ad quantitatem spectant, leges mathematicas sequi, veritatibus mathematicis, hoc est, arithmeticis & geometricis cum contingentibus non minus in mente humana, quam in mundo materiali permixtis«. 453 Wir werden diesen Weg in Kapitel IV .3 der Studie noch genauer verfolgen, wenn es darum geht, die psychologischen Grundlagen ästhetischer Erkenntniswerte als mechanisier- und mathematisierbare zu beschreiben. 454 Vgl. Achermann (2013), 264: »Die Herausforderung an die Psychometrie ist vor diesem Hintergrund [der grundsätzlichen Substanzentrennung zwischen Körper und Geist; D. B.] eine doppelte: Einerseits gilt es zu zeigen, dass sowohl die Körper- als auch die Geisteswelt Kraftgesetzen unterliegt, andererseits dürfen die Größen, die der physikalischen Kräfteberechnung zukommen, nicht mit denjenigen der Körperwelt identisch sein, kennt die Seele doch weder räumliche noch zeitliche Ausdehnung«.
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brochene Folge von Perzeptionen, von denen die eine [sc. Perzeption] auf die andere folgt, während in der Zwischenzeit die eine [sc. Perzeption] gewissermaßen unbeweglich verharrt und mit den übrigen einzelnen, unterschiedlichen Zeitabschnitten in der Seele coexistiert. 455
Im von Wolff aufgeworfenen Sinn ist es bemerkenswert, dass die Entfaltung des Raums in der Zeit auf die äußere Welt wie auch auf die seelische Welt applizierbar erscheint, dass es »[e]inerseits [. . . ] zu zeigen [gilt], dass sowohl die Körper- als auch die Geisteswelt Kraftgesetzen unterliegt, andererseits dürfen die Größen, die der physikalischen Kräfteberechnung zukommen, nicht mit denjenigen der Körperwelt identisch sein; kennt die Seele doch weder räumliche noch zeitliche Ausdehnung.« 456 Somit verweist der Kraftbegriff auch in diesen erkenntnistheoretischen Zusammenhängen auf den energetischen Gehalt, welcher der geistigen Bewegung zukommt. 457
Fortsetzung: Kraft und Energie
An diesem Punkt ist nochmals auf Leibniz zurückzukommen: Wie gesehen, nimmt dieser eine Haltung gegenüber Newton sowie Descartes ein, die von drei Hauptaspekten in den Fragen zur mechanischen Natur geprägt ist. Dabei handelt es sich um die Ablehnung eines sprunghaften Kraftkonzeptes zugunsten einer ganzheitlichen Energieerhaltung – wobei das Prinzip der Elastizität hierfür leitend ist –, die Verteidigung der Finalursächlichkeit gegenüber einem strengen Kausalitätsgebot – ohne dass letzteres Schaden daran nähme (es wird lediglich eng auf die körperliche Welt bezogen) –, und schließlich – worauf alles gleichsam hinzusteuern scheint – die Entwicklung des Konzeptes der lebendigen Kräfte. Aus der Engführung der plastischen Kräfte mit den lebendigen und urtümlichen Kräften ergibt sich als wichtiger Vorteil eine weitaus günstigere Position gegenüber einem als seelenlos empfundenen AtoWolff, Psychologia rationalis, sect. I, cap. I, § 30: »Convertamus jam oculos in flumen, quod continuo decurrit, & in arborem prope ripam positam. Propter motum aquarum eidem arbori dato quodam spatio temporis continuo aliæ aliæque aquæ currentis partes respondent & veluti coëxistunt. Et quo motus rapidior est, eo plures partes diversæ aquæ eodem tempore arbori in ista parte alvei coëxistunt. Habemus adeo seriem quandam partium diversarum aquæ sibi continuo succendentium, dum interea arbor in eodem loco immota perstat & cum una quælibet earum in eodem loco existit. Similiter in anima est quædam continua perceptionum series, quarum una alteri succedit, dum interea una quasi immota perstat, & cum ceteris singulis diversis temporis articulis in anima coëxistit«. 456 Achermann (2013), 264. 457 Vgl. hierzu auch Feuerhahn (2004). 455
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mismus. 458 Zwar hätte sich die frühneuzeitliche Mechanik durchaus auch auf ihre mittelalterlicher Traditionen, auf die artes mechanicae, berufen können und darin ihre seit dem Mittelalter angelegte, eigene Nische im Kanon der artes weiter ausbauen können. Ebendieser Weg wird jedoch gerade nicht eingeschlagen. Hinsichtlich der Entwicklung der neuen Naturen ist vielmehr auffällig, dass trotz aller polemischen Debatten, die aus den bereits programmatischen Unterschieden zwischen Materialismus, Mechanizismus und Monismus hervorgehen, eine weitgehende Stabilisierung des Naturbegriffs durch die bereits im antiken Essentialismus verbürgten Vorstellungen von Energie (ἐνέργεια), Fertigkeit (τέχνη) und Kraft (δύναµις) gewährleistet werden. Und diese Punkte werden im 17. Jahrhundert in neuer Weise aufgegriffen, um an ihnen die menschlichen Möglichkeiten in einem mechanistisch eingehegten Kosmos zu erklären. Mechanische Kräfte und sich selbst erhaltende Energie treten somit im späten 17. Jahrhundert in eine Konkurrenz zueinander, die über die Physik selbst hinausweist: Wenn die Kräfte Newtons anstoßen, die Energie Leibniz' indes elastisch und nicht verbrauchbar ist, so folgt aus diesem als Alternativfrage ausgewiesenen Problem die dringliche Frage, wie sich kosmologische und psychologische Zustände noch weiterhin unter Heranziehung eines konsistenten Kraftbegriffs beschreiben ließen. Handelt es sich bei der Beziehung zwischen Mensch und Kosmos um ein spontan-sprunghaftes Verhältnis oder um ein energetisches Ausgleichsverhältnis? Derartige Fragestellungen werden den zweiten Hauptpunkt der hier folgenden Betrachtung bilden. Auch sie rekurrieren in ihrer philosophischen Textur auf das durch Descartes aufgeworfene Leib-Seele-Problem. 459 Rein auf die naturphilosophische Ebene bezogen lassen sich zwei Antipoden ausmachen, die sich in den einander gegenüber gestellten Begriffen ›Kraft‹ und ›Energie‹ sowie ›Prästabilität‹ und ›Kontingenz‹ ausdrücken: Während die prästabilierte Harmonie eines Leibniz im Wesentlichen von Vorstellungen einer energetischen Kontinuität getragen wird, entwickelt Newton im Gegensatz hierzu eine krafttheoretische Physik, die von der Annahme diskontinuierlich Die Natur der Seele ist im Atomismus ebenfalls quantitativ, weil körperlich. Genau dies will Leibniz gerade vermeiden, indem er die Individualität der Monade als Punkt – und eben nicht als Körper – beschreibt. 459 Grundlegend ist hier die Frage, wie der Geist den Körper zu Bewegungen anstoßen könne, wenn es sich dabei doch um zwei verschiedene Substanzen handle. Das gleiche Problem stellt sich auch in umgekehrter Richtung: Wie können körperliche Eindrücke Bewegungen in der Gedankenwelt evozieren? Descartes’ Antwort, die darin bestand, eine Brückenfunktion der Hirndrüse anzunehmen (vgl. Descartes, Traité de l’homme, 174 f. sowie Descartes, Les passions de l’âme, part. 1, art. 31), wurde bekanntlich schon von den Zeitgenossen höchst kontrovers aufgenommen; vgl. Larink (2011), 244 f.; zur allgemeinen Bedeutung der passions in den französischen ÄsthetikDiskursen des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. Kirchner (1991). 458
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auftretender Kontingenzen geprägt ist. Ihre Einigkeit in der Ablehnung des cartesischen Bewegungsquantums macht sie indes bei allen Differenzen zu gern bemühten Referenzgrößen der Forschung zur Frühaufklärung. So ist Kondylis darin zuzustimmen, dass [d]ie Unterschiede zwischen der Kraftlehre Leibnizens und der newtonschen die gemeinsame Wirkung der beiden nicht [hinderten]. Denn die Aufmerksamkeit der Rezipienten richtete sich nicht auf die Unterschiede und ihren nunmehr weitgehend verblaßten theologisch-metaphysischen Hintergrund, sondern auf die gemeinsame Ablehnung des cartesianischen Dualismus und der cartesianischen Indifferenz der Materie gegenüber der Bewegung – eine Gemeinsamkeit, die sich in rein geistesgeschichtlicher Perspektive vielleicht durch das beiderseitige, wenn auch unterschiedlich motivierte und ausgedrückte Bemühen um eine Vereinigung mechanizistischer Positionen mit Momenten der Naturphilosophie der Renaissance erklären lässt. 460
An dieser Stelle ist die für unser Thema entscheidende Linie zu ziehen: Galilei konstruierte aus den beiden Größen Gewicht und Geschwindigkeit eine erste Vorstellung von Kraft, nicht jedoch leitete er umgekehrt Gewicht und Bewegung von einem Kraftbegriff ab. Er ersetzte das klassische stoffliche Trägheitsprinzip durch das Zusammenspiel physikalischer Größen und etablierte dadurch ein mechanistisches Weltbild. Zugleich vollbrachte er das Kunststück, am antiken Weltbild festzuhalten und den Kosmos als wohlgeordnete, hierarchische, vollkommene Struktur aufzufassen. Auch Kepler ging es – wie wir in Kapitel iii.1.c.β sehen konnten – um eine möglichst physikalische Begründung mechanischer Prozesse. Er sprach jedoch dabei noch zurückhaltend von einer gewissen Kraft (vis quaedam). Seine im neoplatonischen Kontext ansetzende Philosophie rekurrierte auf das Konzept einer bewegenden Seele (anima motrix). Nach den Umformatierungen von Kraft und Bewegung und der Etablierung einer dynamischen Naturphilosophie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lassen sich nunmehr Kräfte in bis dahin ungekannter Diversität ausmachen: So überwinden die Beschreibungsmöglichkeiten der intrinsischen Welt (moles, inertia, intima rerum) in Form äußerlich feststellbarer Momente (motor, impetus, impulsus) den hergebrachten Widerspruch von Aktivität und Passivität. Die wissenschaftliche Hinwendung zur Dynamik gelangt demnach gerade dadurch zu philosophischer Tiefe, dass man zum einen die intrinsischen Größen gleichsam wieder zurück ins Boot holt, sie zu intensiven Kräften macht, und zum anderen die äußerlich wahrnehmbaren Wirkungen als Kräfte Kondylis (22002), 268. Kondylis stützt sich in diesem Zusammenhang unter anderem auf die Arbeiten von Brunschvicg (31949), Westfall (1971) und Friedmann (1962). 460
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im Bereich des Mensurablen beschreibbar macht. Das typisch mechanistische Bestreben, jene intensiven Kräfte als extensive beschreibbar zu machen, kommt also nicht ohne einen gewaltigen Perspektivismus aus. Hier wird bereits der ideengeschichtliche Nexus zu Leibniz betont, auf den auch in späteren Kapiteln noch zurückzukommen sein wird. Fassen wir diese Gemengelage zusammen, indem wir sie als Ausgangslage für die Ästhetik skizzieren: Die Ästhetik hat den Vorteil, sich aus zwei in sich kohärenten und untereinander divergenten Systemen speisen zu können: aus dem rationalen, kraftbedingten, spontanen, sprunghaften System 461 Newtons und dem kosmologisch-holistischen, auf energetisch erhaltende Kräfte setzenden System Leibniz'. Wo Newton die immateriellen Naturkräfte mit der passiven Materie theoretisch verbindet, entwickelt Leibniz mit der Monade ein individuelles, seelisches und subjektives Prinzip, das sich zudem als Spiegel des Universums erweist. Somit ergibt sich die kontroverse Haltung zu Newton aus leibnizscher Sicht nicht nur anhand der drei Hauptaspekte, namentlich der Ablehnung eines sprunghaften Kraftkonzeptes zugunsten einer ganzheitlichen Energieerhaltung, der Verteidigung der Finalursächlichkeit gegenüber einem rational-mechanistischen Kausalitätsgebot und der Entwicklung eines höchst vitalen Masse- und Materiebegriffs, sondern auch anhand der Neubewertung des dunklen, irreduziblen Urgrundes seelischer Kräfte. Für die weitere Entwicklung der Ästhetik wird diese Verlagerung des Kraftpotentials in einen neuen Urgrund entscheidend sein. Was die natura naturata in ihrer gegenüber dem Mittelalter modernisierten, ›neuzeitlichen‹ Form meint, lässt sich wiederum am deutlichsten an Newton abzulesen. Er verbindet die mechanischen Gesetze in einem als absolut angesetzten räumlichen Rahmen. Das Prinzip der Kraft bringt bei ihm Demgegenüber setzt Leibniz vollends auf die Harmonie, die als prästabilierendes Moment nicht nur den Kosmos als solchen erhält, sondern auch auf die aktualen, im Universum waltenden Kräfte wirkt. ›Harmonie‹ bildet nun bekanntermaßen zugleich als Einheit in der Mannigfaltigkeit eines der antiken Schönheitsideale; es handelt sich mithin nunmehr um eine Vorstellung, die nicht mehr vom Platonismus allein in Anspruch genommen werden muss. Monade psychologischen Zuschnitts. Keine andere Wissenschaft weiß die Debatten zwischen Geist und Körper, zwischen Kraft und Materie und schließlich zwischen Mensch Die genuine Implementierung einer Katastrophentheorie in organische Morphogenesen, die in der Barock-Philosophie noch ein höchst selbständiges Gegensatzpaar bildeten, ist dann im 20. Jahrhundert, besonders intensiv seit den 1960er Jahren, entwickelt und vielleicht am prominentesten vom französischen Mathematiker und Philosophen René Thom vertreten worden; vgl. dessen Standardwerke Stabilité structurelle et morphogénèse (Thom [1972]) und Morphogénèse et imaginaire (Thom [1978]). 461
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und Kosmos im Anschluss an die Mechanik so fortzuentwickeln wie die Psychologie. Und dies ist in der Frühen Neuzeit nur möglich mit einem neuen Verständnis, das sämtlichen Seelenbereichen und -funktionen zukommt. Der Konnex zwischen Natur, Weltseele, Erkenntnis- und Einbildungskraft wird von Leinkauf prägnant zusammengefasst, indem er mit dem aktiven Zustand der Seele zusammengeführt wird: Alle diese Verständnisweisen von ›Natur‹, vom rein mechanistischen bis hin zum hochspirituellen Ansatz, sind synchron zu sehende Alternativen, die die Entwicklung des frühneuzeitlichen Denkens hin zur Moderne in – je nach Region und kultureller Eigenart – verschiedener Intensität geprägt haben. In dieser übergreifenden Entwicklung läßt sich vielleicht als zentrale Signatur festhalten, daß das im Begriff ›Natur‹ Gedachte, also die Eigenschaften und Wirkweisen von Natur, funktional vieles von dem übernimmt, was zuvor, seit Platons Timaios, mit der tätigen, intelligenten Kraft verbunden worden war, die man als ›Weltseele‹ bezeichnet hatte. Die Natur übernimmt – wenn man so sagen darf – aber nur die unmittelbaren, d. h. vor-bewußten oder vor-reflexiven Selbstvollzüge der Welt- oder Allseele, also die psychischen Aktivitäten, die in den für die Diskussion der frühen Neuzeit so wichtigen Bereichen wie Vorstellungs- und Einbildungskraft und Ingenium liegen. 462
Für unseren weiteren Untersuchungsgang ist Folgendes festzuhalten: Wenn mit dem Aufstieg der Mechanik auch die Körperwelt an Bedeutung gewinnt, so gewinnen auch die seelischen Aktivitäten, die sich auf die körperliche Welt richten, an Bedeutung. Wenn die Seele sich auf diese Weise auf ganzheitlichere und zugleich differenziertere Weise erfasst, so nimmt sie auch ein anderes Verhältnis zu sich selbst ein. Die Standpunkteinnahme der Seele zu sich selbst ist nicht das Resultat stetig fortlaufender Vergeistigungen. 463 Vielmehr ist der philosophische Aufstieg der körperlichen Welt, am deutlichsten manifestiert im Paradigma der Masse, zugleich Anstoß für eine neue Methode der Seele, auf den Kosmos und sich selbst zu blicken. Die Sinnlichkeit wird durch rationale Begriffe erfassbar, wie auch umgekehrt der Erkenntnisbegriff durch die Gesetze der Mechanik auf sinnliche Bereiche übertragen wird. Das bedeutet indes nicht, dass beide Bereiche miteinander vermischt würden. Geist und Sinne existieren nebeneinander und verhalten sich zueinander. Die intensive Beschäftigung mit der Körperwelt zeigt dem Geist seinen Platz sowohl im Gefüge der Seele als auch im Gefüge des Kosmos; die Eigentätigkeit der Materie wiederum zeigt 462 463
eröffne.
Leinkauf (2005), 18. Etwa in dem Sinne, dass der ›Geist auf den Geist‹ blicke und sich dadurch eine Metaposition
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die Kraft der Sinne an und lässt den Menschen auch die Sensualität mit Begriffen belegen, die traditionellerweise für den Geist vorgesehen waren. Die Analogisierung der sinnlichen und geistigen Seelenbereiche ist mithin ein vollkommenes Verdienst der Mechanik. Es gilt daher, mit Vorurteilen aufzuräumen, die über das mechanistische Weltbild existieren: Die Geschichte der Mechanik ist keine Fortführung des Atomismus mit anderen Mitteln, keine bloße Theorie sich stetig bewegender Teilchen, sondern ganz im Gegenteil in vielen Bereichen eine kritische Spiegelung des aristotelischen und des platonischen Weltbildes. Sie erweist sich auch nicht als unentwegter, einseitiger Verfechter des Materialismus, sondern als eine mathematisch-geometrische Wissenschaft mit dem Anspruch, ein eigenes, einheitliches System an Gesetzen aus der und über die Natur hervorzubringen. In manchen Fällen (Gassendi, Hobbes, Spinoza) zieht sie den monistischen Schluss, dass der Geist der Materie anzuschließen sei und die mechanischen Wirkungen, den Druck- und Stoßgesetzen getreu, auf die geistige Sphäre zu übertragen seien. Viel häufiger (Galilei, Kepler, Baliani, Leibniz, Newton) allerdings zeigt sie sich aufgeschlossen gegenüber einer philosophischen Einbettung der Natur in aus der Antike tradierte Begriffe und Systeme, am weitestgehenden gegenüber den Auffassungen von φύσις und δύναµις aus dem Aristotelismus. Und genau diejenige Philosophie, die sich scheinbar unversöhnlich zwischen die Renaissance- und die Aufklärungsphilosophie stellt, der Cartesianismus, zeigt die Trennung der Substanzen an – was er aber bezeichnenderweise unterlässt, ist die Vereinnahmung des Geistes durch die Materie. Auch die Leibniz-Philosophie belässt den Geist in seiner intellektualistischen Sonderstellung, ohne die Existenz mechanischer Gesetze, die im Kosmos walten, damit abzuschwächen; zudem zeigt sie sich den peripatetischen Auffassungen über Vermögen und Entelechie verpflichtet. Allerdings verharrt das mechanistische Weltbild nicht in der Adaptation hergebrachter Philosophien und Wissenschaften – so sehr sie sich auch auf Mathematiker wie Pappos, Diophantos und Archimedes teils gar in Form von Apotheosen bezieht –, sondern entwickelt diese, in einem gegenseitig befruchtenden Spiel mit der Mathematik, im Laufe von nicht einmal 150 Jahren zu einem vollständig ›neuzeitlich‹ zu nennenden Weltbild fort. Die Transformation der antiken Kosmologien und Philosophien ist nicht ohne die Transformation der Kraft- und Bewegungsbegriffe denkbar. Will man diese Fortentwicklung auf ihren kleinsten Nenner bringen, so kennt sie drei Hauptanliegen: die Verlagerung von Bewegungsgesetzen in die Diesseitigkeit bis hin zu deren völligen Kongruenz mit der Körperwelt, die Hinwendung zu inneren Tätigkeitsprinzipien, die in geometrischer Form als extensive beschreibbar gemacht werden, sowie den paradigmatischen Übergang von der Bewegungs- zur Kräftelehre. Alle drei Tendenzen sind Konstituenten desjeni-
Fortsetzung: Kraft und Energie
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gen, was im 18. Jahrhundert in Form einer neuen Wissenschaft, der Ästhetik, das Verständnis des Menschen über den Kosmos, die Kunst und sich selbst beherrschen wird. Die Rolle der Extensivität wird dabei die Klarheit (claritas) übernehmen, diejenige der Intensität der sinnliche Urgrund der Seele (fundus animae). Der Ästhetik wird insgesamt, als bis dahin jüngstem Mitglied im Kreis der artes, bis in die Goethezeit hinein ein beispielloser Erfolg beschieden sein.
IV. Die Entwicklung der Ästhetik: Seelenkräfte und ihre Kontexte
1. Baumgarten und Aristoteles
In der Forschung vielfach zitiert, weil er für die Ausprägung der Ästhetik eine so offenkundig konstitutive Funktion einnimmt, ist der Gedanke Alexander Gottlieb Baumgartens (1714–1762), dass die niederen Seelenvermögen ein Analogon zur Vernunft (analogon rationis) bildeten und daher ebenso wie das eigentlich höherrangige Kognitionsvermögen in der Lage seien, Erkenntnisse zu generieren. Er findet sich gleich zu Beginn in den Prolegomena der Aesthetica (1750/58) 1 und lautet im Kontext der ersten beiden Paragraphen: § 1 Aesthetica (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis) est scientia cognitionis sensitivae. § 2 Naturalis facultatum cognoscitivarum inferiorum gradus solo usu citra disciplinalem culturam auctus Aesthetica Naturalis dici potest, et dinstingui, sicuti logica naturalis solet, in connatam, ingenium pulcrum connatum, et acquisitam, et haec denuo in docentem et utentem. 2
Schon aus diesen eingangs gesetzten Bestimmungen spricht ein gewisses Selbstbewusstsein heraus, das kaum Zweifel daran lässt, dass die Ästhetik – nach den bereits wegweisenden Grundlegungen in Baumgartens Dissertation Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) und der Metaphysica (1739) – mittlerweile in den freien Künsten angekommen sei. 3 Zudem werden hier epistemologische Größen (theoria, gnoseologia, scientia) in Zur Publikationsgeschichte der beiden Bände der Aesthetica, deren erster Teil von 1750 die Paragraphen 1–613, deren zweiter, unvollendeter Teil von 1758 die Paragraphen 614–904 enthält, vgl. den Abriss bei Mirbach (2007), xix–xxii; zur Editionsgeschichte vgl. ebd., xxii–xxv. 2 Baumgarten, Aesthetica, Prolegomena, § 1 f.: »§ 1 Die Ä STHETIK (Theorie der freien Künste, untere Erkenntnislehre, Kunst des schönen Denkens, Kunst eines Analogons zur Vernunft) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis. § 2 Der natürliche, nur durch den Gebrauch außerhalb gekünstelter Lehre beförderte Grad der unteren Erkenntnisvermögen kann als N ATÜRLICHE Ä STHETIK bezeichnet werden und – ebenso wie man es bei der natürlichen Logik pflegt – unterschieden werden in eine angeborene [sc. Ästhetik], nämlich ein angeborenes schönes Vermögen, und eine erworbene [sc. Ästhetik], und letztere wiederum in ein lehrendes und ein praktizierendes [sc. Vermögen]«. 3 In den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus ist, wie schon der Titel anzeigt, das Hauptanliegen ein poetologisches und nicht so sehr ein ästhetisches; dessen ungeachtet schließen die Meditationes im vorletzten Paragraphen – und somit an einer durchaus 1
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Die Entwicklung der Ästhetik: Seelenkräfte und ihre Kontexte
einem Zuge mit sinnlich-ästhetischen (cognitio sensitiva, pulcre cogitare) aufgeführt, wodurch ein Begriffsfeld eröffnet wird, in dem sich die Programmatik der ars aesthetica als einer Kunst sinnlicher Erkenntnis aufspannen lässt. Die Ästhetik im hier verfolgten Sinne meint keine artifizielle Abkehr von einem grundständig gedachten Naturbegriff – denn dies wäre Aufgabe der im zweiten Paragraphen dezidiert abgelehnten disciplinalis cultura –, auch keine Suche nach Schönheit und Idealität in schier abstrakten Geistesregionen, sondern schreibt sich in ihren Attribuierungen, namentlich als eine Aesthetica naturalis, in bestimmte Traditionen der Naturphilosophie ein; und zwar in solche, die sich – wie durch die Anführung der entsprechenden Begriffe facultas, cognitio, ingenium etc. deutlich wird – in vollem Reflexionsbewusstsein von der Lehre menschlicher Seelenvermögen befinden. Wie in den Betrachtungen zur antiken Poetik und Rhetorik an zahlreichen Stellen ersichtlich wurde, sind diese Traditionen zu großen Teilen durch die ars poetica und die ars dicendi vorgeprägt und übten bereits in den poetologischen und rhetorischen Einlassungen der antiken Autoren bestimmte Funktionen zur Einbettung des menschlichen Kunstvermögens in naturphilosophische Zusammenhänge aus. Bezieht man diese Tradition mit ein – wozu bereits Baumgartens intensiver ars-Gebrauch im ersten Paragraphen geradezu einlädt – und trägt man zudem der Tatsache Rechnung, dass Baumgarten an ca. 1200 Stellen in der Aesthetica antike – beachtenswerten Stelle – mit dem Ausdruck der aesthetica – und dies im Sinne einer eigenständigen Wissenschaft (episte´¯ me¯ ), insofern »also die noe¯ tá – dasjenige, was durch das höhere Vermögen erkannt werden muss – Gegenstand der Logik sind, die aisthe¯ tá hingegen Gegenstand der episte´¯ me¯ aisthe¯ tike´¯ beziehungsweise der Ästhetik.« (Baumgarten, Meditationes, § CXVI: »Sunt ergo νοητὰ cognoscenda facultate superiore objectum Logices, αἰσθητὰ ἐπιστήµης αἰσθητικῆς sive A ESTHETICA.«); vier Jahre darauf wird in der Metaphysica – die sich bereits zur Zeit ihrer Publikation einer solchen Beliebtheit erfreute, dass sie 1743 und 1750 weitere Auflagen erfuhr – die Ästhetik im spürbaren Vorausgriff auf die Aesthetica als eine »Wissenschaft des sinnlichen Erkennens« (Baumgarten, Metaphysica, § 533: »scientia sensitive cognoscendi«) definiert. Dem in der Zwischenzeit aufgekommenen Vorwurf von gelehrter Seite, dass der Ästhetik eigentlich kein wissenschaftlicher Status zukommen könne, da sie doch gänzlich und allein dem Bereich der Kunst angehörig sei, wird von Baumgarten dann in der Aesthetica entgegnet, Wissenschaft und Kunst seien »a) keine gegensätzlichen Haltungen. Wie viele Künste, die einst nur dies waren, sind bereits zugleich Wissenschaften? b) Dass unsere Kunst wissenschaftlich erwiesen werden kann, wird die Erfahrung darlegen und ist a priori offensichtlich, weil die Psychologie etc. sichere Grundsätze hierfür zur Verfügung stellt; dass ebendiese [sc. die Ästhetik] es verdient, zu einer Wissenschaft erhoben zu werden, lehren die Nutzanwendungen, die unter anderem in §§ 3, 4 angeführt worden sind.« (Baumgarten, Aesthetica, prol., § 10: »a) Hi non sunt oppositi habitus. Quot olim artes tantum iam sunt simul scientiae? b) nostram artem demonstrari posse, probabit experientia, patet a priori, quia psychologia e.c. suppeditant certa principia, mereri eandem, ut elevetur in scientiam, docent usus, in aliis, §§ 3, 4 commemorati.«) Die Nutzanwendungen (usus), auf die Baumgarten anspielt, werden in § 4 aufgeführt als »1) philologische, 2) hermeneutische, 3) exegetische, 4) rhetorische, 5) homiletische, 6) poetische, 7) musische etc.« (ebd., § 4, 12: »1) philologicus, 2) hermeneuticus, 3) exegeticus, 4) rhetoricus, 5) homileticus, 6) poeticus, 7) musicus e.c.«).
Baumgarten und Aristoteles
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und zwar praktisch ausschließlich antike – Autoritäten zitiert, 4 so geht es hier zweifelsfrei ebenfalls um Erkenntnisinteressen, die darauf zugeschnitten sind, dass sie nur in engem Zusammenhang mit den seelischen Vermögensweisen sowie deren Funktionalitäten gemäß ihrer Natur zu denken seien – also um ein Programm, das sich der sinnlichen Erkenntnis zuwendet, ohne dabei die Natur aus dem Bereich der menschlichen Fähigkeiten (facultates) zu entlassen. Das von Baumgarten avisierte Ziel einer gnoseologia inferior ist mit den im zweiten Paragraphen erwähnten facultates inferiores nicht lose verbunden, sondern in einem inneren Begründungszusammenhang zu sehen. Es ist somit zu klären, welches Prinzip Baumgarten dem Wirken niederer und höherer Seelenkräfte zugrunde legt. Die Naturphilosophie stellt nach unseren Beobachtungen in Kapitel iii.3 hierzu zwei grundlegend verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung: den newtonschen Weg, der in einem plötzlichen Übertreten von einem Zustand in den nächsten besteht, sowie den leibnizschen Weg, der in einem Übergang zwischen verschiedenen Energiestadien besteht. Baumgartens Wahl ist eindeutig. Sie wird in der Aesthetica in einer scholastisch anmutenden Diktion vorgetragen und mit einer eingängigen Bildlichkeit verknüpft: § 7 Man mag einwenden: 5) Die Verworrenheit ist die Mutter des Irrtums. Ich antworte: a) Aber sie ist eine unerlässliche Bedingung für die Auffindung der Wahrheit, da die Natur keinen Sprung aus der Dunkelheit in die Klarheit [sc. des Denkens] macht. Aus der Nacht [sc. gelangt sie] über die Morgenröte zum Mittag. 5
Im Bild des Sonnenaufgangs zeigt sich Baumgartens Bevorzugung des Kontinuums gegenüber der Diskontinuität. In der Übernahme eines Diktums aus der leibnizschen Metaphysik (natura non facit saltum) stellt Baumgarten Erkenntnis als einen Übergang dar, der auf die seit Parmenides bekannte Lichtmetaphorik der Erkenntnis und das cartesische clare et distincte percipere anspielt (in distinctionem). Baumgarten führt die kognitive Ebene der als sinnlich definierten nicht-deutlichen Vorstellungen parallel zum gnoseologischen Kriterium deutlicher Vorstellungen ein. Etwas zu denken, das sich der begrifflichen Klarheit entzieht, heißt daher, es verworren zu denken. Diesen Umkehrschluss sieht auch Stöckmann als elementar an und führt hierzu aus: 4 Diese entstammen, mit wenigen Ausnahmen, vollständig der römischen Antike. Biblische Zitate machen demgegenüber gerade einmal eine Handvoll aus. 5 Baumgarten, Aesthetica, prol., § 7: »Obi. 5) Confusio mater erroris. Rsp. a) sed conditio, sine qua non, inveniendae veritatis, ubi natura non facit saltum ex obscuritate in distinctionem. Ex nocte per auroram meridies«.
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Baumgarten erreicht die anthropologische und ästhetische Rehabilitation der Sinnlichkeit, indem er die Konstitution des Schönen der Erkenntnis an die angeborene Primärausstattung zurückbindet: ästhetisches Erkennen setzt eine natürliche Veranlagung voraus, den »angeborenen schönen und feinen Geist«. An dieser sinnlich bestimmten Vermögensbasis hat alle Ausbildung ästhetischer Kompetenzen anzusetzen; in den »lebendigen Kräften« des felix aestheticus selbst, und das heißt im weitesten Sinn: in dessen Sinnennatur, liegen die Voraussetzungen für das Gelingen ästhetischer Erkenntnis. 6
Der felix aestheticus meint im Kontext der baumgartenschen Ästhetik den schön denkenden Menschen. Angedacht ist damit auch ein zur Entfaltung, zu seiner Bestimmung gebrachtes Vermögen. Baumgarten setzt die Einbildungskraft in eine innere Beziehung zum fundus animae, um ihr sinnliches Substrat zu erhalten, jedoch zugleich auch in eine Beziehung zur klaren Erkenntnis, um zugleich ihren ästhetischen Eigenwert zu sichern. Aufgrund der besonderen ideengeschichtlichen Stellung, die Baumgartens Ästhetik und ihrem so wirkmächtigen Diktum eines analogon rationis zukommt, wird nun nicht selten angenommen, Baumgarten sei auch als Archeget für den Gedanken verantwortlich zu machen, dass die niederen Seelenvermögen überhaupt eine Form von Erkenntnis zeitigen könnten. 7 Hierbei droht indes leicht aus dem Blick zu geraten, dass der Konnex zwischen Vorstellungsund Erkenntnisvermögen eine Vorgeschichte aufweist, die bis auf die antike Seelenlehre zurückgeht: Wird die Einbildungskraft (imaginatio, φαντασία) von Platon in ihrem erkenntnistheoretischen Wert noch als hochgradig insuffizient, wenn nicht gar als die Erkenntnis verwirrend oder verhindernd eingestuft, 8 so
Stöckmann (2009), 98. Die von Stöckmann angeführten Zitate stammen aus den Abschnitten zur Schönheit der Erkenntnis und zur Natürlichen Ästhetik in der Aesthetica; sie lauten im Original »I NGENIUM V ENUSTUM E T E LEGANS C ONNATUM« (§ 29) und »viribus vivis« (§ 27). 7 So zuletzt Stöckmann (2009), 3 f. und Schüller (2013), 18 f. 8 Vgl. die wohl im losen Anschluss an den Theaitetos entstandenen Einlassungen in Platons Sophistes, insbesondere Plat., Soph., 264a1–b3. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Phantasie bei Platon – im Gegensatz zur Auffassung Aristoteles’ – als eine Art hybride Figur zwischen δόξα (dóxa) und αἴσθησις (aísthe¯ sis) mäandert und zudem – was ihrer erkenntnistheoretischen Wertschätzung erst recht nicht zugutekommt – gar gelegentlich mit der Seherkunst eng geführt wird (vgl. Plat., Tim., 70d5–72b5) – einem menschlichen Vermögen, das nach Platon, wie bereits in Kapitel II.4.a ersichtlich wurde, im Grunde nichts anderes als die Fähigkeit der Gaukler (ἀγρύται) und Wahrsager (µάντεις) zur Wahrheitsverdrehung darstellt – verbunden mit der Anmaßung, sich dabei auf eine göttliche Kraft berufen zu können. In diesem Zusammenhang lässt sich von einer inferioren Stellung der Einbildungskraft sprechen, insofern sie sich zwischen zwei Gegensatzpaaren bewegt und sich in beiden Fällen der niedrigeren Instanz zuwendet, namentlich der – gegenüber dem νοῦς (noûs) niedrigeren – αἴσθησις (aísthe¯ sis) und der – gegenüber der ἀλήθεια (ale´¯ theia) niedrigeren – δόξα (dóxa); vgl. zu diesen negativen Bewertungsaspekten auch Welt (2003), 69 f. 6
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ist sie bei Aristoteles demgegenüber bereits als Teilbereich eines umfassenderen Kognitionsorgans zu denken. Diese Haltung wird aus Passagen wie der folgenden aus De anima ersichtlich: περὶ δὲ τοῦ νοεῖν, ἐπεὶ ἕτερον τοῦ αἰσθάνεσθαι, τούτου δὲ τὸ µὲν φαντασία δοκεῖ εἶναι τὸ δὲ ὑπόληψις, περὶ φαντασίας διορίσαντας οὕτω περὶ θατέρου λεκτέον. εἰ δή ἐστιν ἡ φαντασία καθ᾽ ἣν λέγοµεν φάντασµά τι ἡµῖν γίγνεσθαι καὶ µὴ εἴ τι κατὰ µεταφορὰν λέγοµεν, µία τίς ἐστι τούτων δύναµις ἢ ἕξις, καθ᾽ ἣν κρίνοµεν καὶ ἀληθεύοµεν ἢ ψευδόµεθα. τοιαῦται δ᾽ εἰσὶν αἴσθησις, δόξα, ἐπιστήµη, νοῦς. 9
Die Fähigkeit, Vorstellungen (φαντάσµατα) zu erzeugen, stellt im hier angedachten Sinn ein durchaus taugliches Mittel dar, um dem Menschen zur Generierung von Erkenntnissen zu verhelfen; Vorstellungen bilden somit einen nicht zu vernachlässigenden Anhaltspunkt für unser Urteilsvermögen (καθ᾽ ἣν κρίνοµεν); mithin kann die Einbildungskraft als ein seelisches Organ gelten, das zur Erkenntnis Dienliches beizutragen hat und daher durchaus in eine gewisse Verbindung mit dem Kognitionsvermögen zu setzen ist. Das von Aristoteles hierzu herangezogene Gegensatzpaar, Wahres (ἀληθεύοµεν) oder Falsches (ψευδόµεθα) auszusprechen, kann nach (nicht nur) antiker Überzeugung geradezu als ein Synonym für das menschliche Urteilen angesehen werden. Nach einer am prominentesten durch den Platonismus verbreiteten Auffassung könnte ein solches Urteilen – gerade indem es danach strebt, den Irrtum zu vermeiden – jedoch nur durch die oberen Geistesregionen, diejenigen, die sich an Vernunft und Sittlichkeit orientieren, vollzogen werden. So hat sich die hervorgehobene Stellung der Denkkraft (νόησις), mit Blick auf Kapitel ii.3.b dieser Studie, im Kontext der Behandlung der Dichtkunst in der Politeia als derart unverbrüchlich erwiesen, dass hieraus nur eine Kritik an der zur Nachahmung bestimmten Kunst (τέχνη µιµησοµένη) resultieren konnte. Die mit den dichterischen Werken verhafteten Vorstellungsbilder sind bei Platon ja schon dadurch denkbar weit von der Wahrheit entfernt, dass sie selbst bestenfalls als Abbilder von Abbildern gelten können – von der moralischen Fragwürdigkeit ihrer Inhalte ganz zu schweigen. 10 Indem die Phantasie von Aristot., an., 3, 3, 427b27–428a4: »Bezüglich des verstandesmäßigen Erfassens: Da es etwas anderes als das Wahrnehmen, nämlich teils ein Vorstellungsvermögen von diesem [sc. Wahrnehmen], teils eine Annahme über dieses [sc. Wahrnehmen] zu sein scheint, so ist zunächst über die Bestimmung des Vorstellungsvermögens und sodann über das andere zu sprechen. Wenn das Vorstellungsvermögen dasjenige ist – wie wir sagen –, wodurch für uns ein gewisses Vorstellungsbild entsteht, und wenn wir nicht metaphorisch sprechen, so ist es unter diesen ein [sc. seelisches] Vermögen oder eine [sc. seelische] Einstellung, gemäß der wir urteilen und Wahres oder Falsches aussprechen. Solche sind Wahrnehmung, Meinung, Wissenschaft und Verstand«. 10 Vgl. Platons Äußerungen im zehnten Buch der Politeia, insbesondere Plat., Pol., 10, 599c– 600e und ebd., 605a–607a. Derartige moralische und pädagogische Fragen sollen für uns, zumal 9
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Aristoteles nun allerdings in einer Zwischenstellung zwischen Denkvermögen und Wahrnehmung taxiert wird, 11 anhand derer sie als ein Vermögen (δύναµις) oder eine bestimmte Einstellung (ἕξις) des Erkenntnisapparates zu behandeln sei, stellt sie zum einen – wie auch die übrigen psychischen Vermögen wie etwa das Gedächtnis (µνήµη), der Verstand (νοῦς), die Triebkraft (θυµός) etc. – eine menschliche Grundanlage dar, die ausbaufähig und formbar erscheint; zum anderen kann sie – und darin noch über ihre Hauptaufgabe, jene Vorstellungsbilder hervorzubringen, hinausgehend – in epistemologischen Fragen wenigstens assistieren. Das Urteilen über und anhand von Vorstellungsbildern entspricht daher zumindest mittelbar bereits einer gewissen Verstandestätigkeit; hieraus folgt, dass der Einbildungskraft – und dies kann dann durchaus als eines der zentralen Charakteristika der aristotelischen Seelenlehre gelten – eine vorwiegend mediale Funktion 12 in ihrem Verhältnis zu den anderen Seelenvermögen zukommt – wenn man so möchte: als eine hilfreiche Begleiterin des Menschen auf dessen Weg zur Erkenntnis. Ihre Rolle im Gefüge der Kognitionsinstanzen ist daher nicht so aussichtslos, wie man es mit Blick auf den Platonismus allein vielleicht vermuten würde.
2. Begriffe und Vorstellungen
Diesen Optimismus gegenüber der Einbildungskraft teilt die Frühe Neuzeit spätestens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts – wenn auch in Form eines recht komplexen ideengeschichtlichen Fortgangs: Die Einbildungskraft erfährt in philosophischer Hinsicht ganz unterschiedliche Prägungen und wird regelmäßig über ihr Verhältnis zum Empfindungs- und Verstandesvermögen bestimmt. Einerseits lässt sich, wie bei Hobbes, die Auffassung finden, dass sie lediglich eine ermattete, in sich zerfallende Empfindung ohne eigene Tä-
sie bei Platon zuvorderst aus den Gegenständen der Dichtkunst heraus abgeleitet werden, hier nicht das Hauptaugenmerk bilden. 11 Noch oberhalb von ihr befindet sich das Urteilsvermögen, denn wir urteilen im von Aristoteles angedachten Sinn lediglich gemäß (καθ᾽ ἣν) den Vorstellungsbildern, so dass diese nicht mit dem Urteilen selbst in eins fallen können, jedoch durchaus – sofern wir nun nicht gerade völlig regellos und willkürlich ›drauflos‹ phantasieren – dem erweiterten Bereich der Verstandestätigkeiten zuordenbar sind. Zudem ist hiervon die sinnliche Wahrnehmung zu scheiden, gegenüber der das verstandesmäßige Verfassen ein anderes (ἕτερον) ist. Sie lässt sich, der aristotelischen Seelenlehre zufolge, noch unterhalb der Einbildungskraft ansetzen. Eine graphische Darstellung dieser zur Erkenntnis hinaufführenden Stufenleiter seelischer Vermögen findet sich bei Seidl (1995), XXVI. 12 Auf diesen sich von Platon deutlich absetzenden Funktionsaspekt der Einbildungskraft weist zudem Schmitt (22011), 56 hin.
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tigkeit sei 13 oder, wie bei Spinoza, dass sie einzig den Spuren des Verstandes (intellectu¯ s vestigia) nachgehe. 14 Diese Positionen werden jedoch für die psychologische Ästhetik nicht die Hauptrolle spielen. Weder das Ermatten noch das Nachspüren werden als Charakteristikum dieses Seelenvermögens große Erfolge erzielen. Vielmehr werden sich diejenigen Positionen durchsetzen, die ihr eine eigene Gestaltkraft beimessen. Der Erfolg der Einbildungskraft (imaginatio) wird dabei nicht durch eine einfache Aufwertung ihrer für den Menschen nützlichen Funktionsweisen erzielt, 15 sondern ganz im Gegenteil zunächst durch eine Diversifizierung ausgerechnet des Erkenntnisvermögens (cognitio) hervorgerufen. Denn bevor die imaginatio zu einer sicheren Größe auch in erkenntnistheoretischen Fragen wird, muss sich die cognitio dem Prinzip der Skalierbarkeit öffnen – um dann, wie noch zu sehen sein wird, jene Eigenschaften, die ihr im Zuge ihrer neuen taxonomischen Aufbereitung zugewiesen werden, wieder mit den sinnlichen und den imaginierenden SeelenDieser Gedanke geht, wie wir bereits in Kapitel III.2.a sahen, dezidiert aus Hobbes’ monistischer Bewegungstheorie hervor; vgl. zudem nachdrücklich Hobbes, Leviathan, 1, 2, 14: »When a body is once in motion, it moveth (unless something else hinder it) eternally; and whatsoever hindreth it, cannot in an instant, but in time, and by degrees, quite extinguish it: and as we see in the water, though the wind cease, the waves give not over rolling for a long time after; so also it happeneth in that motion which is made in the internal parts of a man, then, when he sees, dreams, etc. For after the object is removed, or the eye shut, we still retain an image of the thing seen, though more obscure than when we see it. And this is it the Latins call imagination, from the image made in seeing, and apply the same, though improperly, to all the other senses. But the Greeks call it fancy, which signifies appearance, and is as proper to one sense as to another. Imagination, therefore, is nothing but decaying sense; and is found in men and many other living creatures, as well sleeping as waking«. Die Ausdrücke ›imagination‹ und ›fancy‹ rekurrieren auf die lateinische imaginatio und das griechische φάντασµα (phantasma). 14 Vgl. am prägnantesten hierzu Spinoza, Epistola XXX , 216 f.: »Videmus etiam imaginationem tantummodo ab animae constitutione determinari; quandoquidem, ut experimur, intellectus vestigia in omnibus sequitur, et suas imagines ac verba ex ordine, sicuti suas demonstrationes intellectus, concatenat et invicem connectit; adeo ut fere nihil possimus intelligere, de quo imaginatio non aliquam e vestigio formet imaginem.« (»Wir sehen auch, dass die Einbildungskraft allein durch den [sc. jeweiligen] Seelenzustand bestimmt wird, da sie – wie wir bemerken – in allen Dingen den Spuren des Verstandes folgt und ihre Bilder und Worte in derselben Ordnung verbindet und verknüpft wie der Verstand seine Beweise. Wir können deshalb beinahe nichts [sc. im Verstande] erkennen, aus dessen Spuren die Einbildungskraft nicht irgendein Bild hervorbringen könnte.«). 15 Hierzu zählt etwa, uns über sinnliche Phantasien in freud- oder schmerzvolle Zustände zu versetzen, das Erinnerungs- vermögen mit aktualisierbaren Bildern zu speisen, einen Platzhalter für Dinge in absentia bereitzustellen, zudem allerdings auch die Abwägung von Situationen und somit ein moralphilosophisch durchaus ernstzunehmender Punkt, wie er er sich in der englischen moral sense-Philosophie etwa bei Shaftesbury und Addison widerspiegelt. All diese Aspekte werden dann in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der deutschen, französischen und englischen Philosophie eine gewichtige und sich wechselseitig beeinflussende Rolle spielen; vgl. zunächst überblicksweise Dürbeck (1998), 17–33 sowie speziell für den Aspekt der Platzhalterfunktion Koschorke (22003), 263–322. 13
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vermögen 16 rückzukoppeln. Das Interesse der Kognitionstheorie rückt somit auf die Fragen, unter Benutzung welcher seelischen Organe der Mensch in der Lage ist, Erkenntnisse zu generieren, mit welchen Mitteln er seine eigene Erkenntnisfähigkeit zu diesem Zwecke noch verbessern kann, und schließlich, welche Art von Erkenntnis er überhaupt generieren möchte. Der erste Teilaspekt knüpft dabei an die Frage nach dem Leistungsvermögen der einzelnen Seelenteile und ihrem Verhältnis zueinander an, wie es auch Aristoteles in De anima beschäftigte, der zweite an das mathematisch-mechanische Weltbild mit seinem Glauben an eine fortschreitende Präzision, die unserer Welterfassung unter Zuhilfenahme technischer Instrumente zuteilwerden müsse, sowie der damit einhergehenden Neubewertung sinnlicher Zugangsweisen; der dritte Aspekt wiederum hängt, wie noch genauer zu zeigen sein wird, mit der Aufwertung der Verworrenheit als einer nicht nur sinnlichen, sondern auch begrifflichen Eigenschaft zusammen, wie sie sich etwa prominent bei Leibniz vollzieht. Auch der Einbildungskraft wird in diesem Zusammenhang ein Spektrum zugeschrieben, das sie von den niederen (in ihrem sinnlichen Zuschnitt) bis zu den höheren Seelenvermögen (in ihrem kognitiven Zuschnitt) reichen lässt – und damit wichtige Funktionen abdeckt, die auch für Aristoteles eine Rolle spielten. 17 Für die Frühe Neuzeit erscheint es insgesamt von großem Interesse, dass der Mensch in der Lage ist, seinen Blick nach innen wie nach außen hin zu 16 Die Engführung des sinnlichen und des imaginierenden Vermögens ist hier offenbar mit einer bestimmten Intention gesetzt; denn im Kontext der Seelenlehre werden Sinnlichkeit und Einbildungskraft in einer durchaus engen Verbindung zueinander gesehen, insofern der sensus im 17. und 18. Jahrhundert innere und äußere Sinne einschließt und somit auch die Wahrnehmung der Bilder umfasst, die durch die Einbildungskraft in Form ihrer sinnlichen Bewegungen entstehen. Diese Denkfigur lässt sich ebenfalls bis zu Aristoteles zurückverfolgen, der die Einbildungskraft als eine »Bewegung, die durch die energetische Wahrnehmung entstanden ist«, begreift (Aristot., an., 3, 3, 429a1 f.: »κίνησις ὑπὸ τῆς αἰσθήσεως τῆς κατ᾽ ἐνέργειαν γιγνοµένη«). Die Attribuierung der Wahrnehmung als eine solche, die κατ᾽ ἐνέργειαν bestehe, weist diese als eine im Wirklichkeitsvollzug befindliche aus; die Phantasie bedient sich also eines energetischen Substrats, das aus einem anderen Vermögen geschöpft wird. Diese enge Verbindung bedeutet demnach keine Identifizierung von Sensualität und Imagination, wie es etwa Welt (2003), 72 verstanden wissen will. Vielmehr scheint hier das kinetische Ingangsetzen als natürlicher Urgrund eines innerseelischen Prozesses angezeigt – was noch nicht bedeutet, dass das Organ, das seine Tätigkeit aufgrund einer zuvor in einem anderen Seelenorgan entstandenen Bewegung aufnimmt, mit jenem ingangsetzenden Organ in eins fiele; eher deutet die zitierte Stelle darauf hin, dass die Quelle, aus der die Imaginationskraft schöpft, in der Sinnlichkeit liegt. 17 Hierauf weist auch Dürbeck (1998), 37 als ein Ergebnis ihrer Darstellung der Deutschen Metaphysik Christian Wolffs hin: »Das Vorstellungsvermögen umfaßt demnach alle Bereiche der Seele, vom Denken bis zum Empfinden und Begehren«. Das Begehren wäre allerdings innerhalb dieses Spektrums, insofern es nach aristotelischer Auffassung dem θυµός (thymós) zuzuordnen ist, strenggenommen auszuklammern.
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intensivieren, und dass in dieser Hinsicht, nämlich aus Sicht eines sich verfeinernden und verstetigenden Blickes, äußere und innere Sinnesfunktionen zunächst nicht prinzipiell verschieden sein müssen. Die Beobachtung der eigenen seelischen Tätigkeiten statt der völligen Ausrichtung der Seele auf Gott befindet sich, wie in Kapitel iii.1.a gesehen, im 17. Jahrhundert nicht mehr auf so gefährlichem theologischen Terrain wie im 16. Jahrhundert. Da der Mensch im Zuge dessen zudem selbst zum Beobachter und Teil der Natur wird, schließt das naturgemäße Beobachten auch ihn selbst mit ein. Auf eine praktische Formel gebracht, heißt dies zum einen, dass wir, je genauer und schärfer das Mikro- oder Teleskop ist, 18 mit dem wir arbeiten, auch einen umso eindringlicheren Blick und damit genauere Vorstellungen über das Innere der Natur erhalten, und dass zum anderen der Blick in uns selbst hinein ebenso ein immer tieferes Verständnis von der Verfasstheit des Subjekts zeitigen kann. Und dieses Verständnis ist kein völlig subjektives, sondern kann – wenn wir an die durch Bacon propagierte Methodik zurückdenken – zugleich ein allgemeines Verständnis vom Menschen erschließen. Dass neben der inspektiven Zugangsweise auch die Erkenntnis selbst, die ja in der Regel zunächst als ein Resultat jenes methodischen Zugriffs zu denken ist, mit Intensitätsgraden belegt wird, ist daraus indes noch nicht abzuleiten. Vielmehr wird der Verstand in seiner klassischen, auf antiken Vorlagen 19 beruhenden Abgrenzung von den niederen Seelenvermögen ja dazu benötigt, dasjenige überhaupt erst begrifflich zu erfassen (percipere), was zuvor durch den Apparat der Sinnlichkeit (sensus, sensio) gegangen ist. Hierdurch kommt dem Verstand dann die Funktion zu, sensuale Eindrücke gleichsam zu bändigen. Und dies kann er vor allem dadurch bewerkstelligen, dass er sie nach bestimmten Kategorien ordnet und bewertet. Derartige Kategorien zeichnen sich jedoch nun einmal dadurch aus, dass sie selbst nicht unbedingt im Bereich der Sinnlichkeit verharren müssen: Will man einen Sinneseindruck in seiner Intensität bewerten (etwa: ›Dieses ist wärmer als jenes‹), so benötigt man eine dritte, von beiden Gegenständen unterschiedene Größe (›Wärme‹), mit der sich dann auch in abstrakten Zusammenhängen operieren lässt (›Die Wärme verhält sich zur Kälte wie die Länge zur Kürze‹). Daher darf zunächst an der Überzeugung festgehalten werden, dass aus dem intensiven, nach Erkenntnis strebenden Blick des Menschen, sei er nun nach innen oder nach außen gerichtet, noch nicht folgt, dass der Maßstab der Dass sich die optischen Blickwinkel dieser beiden Instrumente fundamental unterscheiden, ist für unsere Vorstellung eines profunden Blickes in die Welt hinein scheinbar gar nicht so ausschlaggebend. Bis heute geläufig ist etwa die Wendung, mit einem Teleskop könne man in die ›Tiefe des Weltraums‹ blicken. 19 Diese hatten wir in Platons Phaidros verkörpert durch den νοῦς (noûs) oder in Ovids Metamorphosen in Form des moderamen ingenii kennengelernt. 18
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Intensität auf das Moment der Erkenntnis selbst umstandslos zu übertragen wäre. Vielmehr spielen für den Übergang von der bloßen Wahrnehmung hin zur Kognition derartige Größen eine Rolle, die auf eine wechselseitige Unterscheid- und Abgrenzbarkeit angewiesen sind. In diesem Zusammenhang ist es alles andere als unerheblich, dass Aristoteles den Erkenntniswert der Einbildungskraft genau daran bemisst, Wahres oder Falsches auszusprechen (ἀληθεύοµεν ἢ ψευδόµεθα). Derartige Aussageformen sind nämlich binären und disjunktiven Zuschnitts; sie implizieren, dass man sich in den Ansichten über Sachverhalte entweder täuschen kann oder nicht – und nichts darüber hinaus. Auch in der Mitte des 17. Jahrhunderts lässt sich diese Haltung als eine grundlegende Überzeugung der Erkenntnistheorie ausmachen. So bewegt sich Descartes gänzlich innerhalb der Paradigmen wahrer und falscher Aussagen, wenn es bei ihm gleich in der ersten Meditatio de prima philosophia darum geht, nach einer sicheren Methodik des Erkenntnisgewinns zu suchen: Ich werde mich selbst betrachten, als ob ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch und kein Blut hätte, überhaupt keinen Sinn, sondern als ob ich nur fälschlicherweise glaubte, all dies zu besitzen; und ich werde mit entschlossenem Geiste beharrlich an diesem Gedanken festhalten und – wenn es auch nicht in meinem Vermögen liegen mag, irgendetwas Wahres zu erkennen, so doch gewiss sofern es mich etwas angeht – davor in Acht nehmen, nichts Falschem zuzustimmen, noch dass mir dieser Betrüger, so mächtig, so schlau er auch sein mag, mir irgendetwas vormachen kann. 20
Die von Descartes vorgetragene Grundhaltung, keiner Sache zustimmen zu wollen, an deren Wahrheit auch nur der geringste Zweifel bestehen könnte, beruht hier auf einem der bis heute bekanntesten Gedankenmodelle in den Meditationes, der Hypothese von einem täuschenden Dämon. 21 Ein solcher Descartes, Meditationes, Med. I, 22 f.: »Considerabo me ipsum tamquam manus non habentem, non oculos, non carnem, non sanguinem, non aliquem sensum, sed haec omnia me habere falso opinantem: manebo obstinate in hac meditatione defixus, atque ita, siquidem non in potestate mea sit aliquid veri cognoscere, at certe hoc, quod in me est, ne falsis assentiar nec mihi quidquam iste deceptor, quantumvis potens quantumvis callidus, possit imponere, obfirmata mente cavebo«. 21 Im Lateinischen von Descartes pejorativ als »dieser Betrüger« (iste deceptor) tituliert, worin bereits das Attribut der Unvollkommenheit anklingt – eine Eigenschaft, die sich mit einer überzeugenden Vorstellung von Gott jedoch nur schwerlich vereinbaren lässt. Insbesondere in der dritten Meditatio wird die Perfektibilität noch als Argument herangezogen werden, um Gott als eine höchst vollkommene und unendliche Wesenheit (ens summe perfectum et infinitum) zu bestimmen. Auch die Wahl des Adjektivs »schlau« (callidus), in dem eine gewisse Verschlagenheit mitschwingt, verweist im Gegensatz zum vollkommenen, wahren Gott nicht auf eine Art besonderer Klugheit (prudentia) oder gar Weisheit (sapientia), sondern auf ein zwar machtvolles Wesen, das jedoch bar 20
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wäre nämlich sehr leicht in der Lage, den Menschen nicht nur, wie in der angeführten Passage, über die eigene Körperlichkeit und das Sinnesvermögen, sondern selbst über so vermeintlich Unhintergehbares und außerhalb der eigenen Subjektivität Liegendes wie die Naturgesetze, ja sogar die Gesetze der Mathematik zu täuschen. 22 Dieses hypothetische Konstrukt kann zu den radikalsten Momenten des in den Meditationes aufgeworfenen Zweifels an sich selbst und der Welt gezählt werden, insofern das menschliche Urteilsvermögen, das ja – wie bereits im Discours de la méthode beobachtet – eigentlich intuitiv davon ausgehen möchte, dass in der Natur Regeln vorherrschen, die von Gott im guten und für den Menschen prinzipiell einsichtigen Sinne eingerichtet wurden, hierdurch auf die größtmögliche Probe gestellt wird. Dessen ungeachtet ist es ein klassisch zu nennender Erkenntnisbegriff, der hier zur Anwendung kommt: Mag auch das Urteilen bisweilen einer Täuschung unterliegen – denn diese Möglichkeit zählt nun einmal auch zum Wesen des Urteilens – und mag diese Täuschung aus dem eigenen oder einem fremden Unvermögen oder – eben im schlimmsten angenommenen Falle – von einem Täuschergott herrühren, so bemisst sich das urteilende Verfahren in seinem Bezug auf die Sachverhalte, mit denen es sich auseinandersetzt, selbst konsequent an dem kleinstmöglichen Unterscheidungsmoment nach Wahrem (verum) und Falschem (falsum); hierin folgt es dem Prinzip der Abgrenzung, das sich in der seit der Antike etablierten Synonymie von ›Urteilen‹ und ›Unterscheiden‹ (κρίνειν) widerspiegelt; das lateinische distinctum lässt sich in diesem Sinn ganz in der Tradition des griechischen κρινόµενον verorten. 23 Ebendiese Entscheidung, nur zwei guter Absichten ist. Der Täuschergott bleibt also in den Meditationes im Status der reinen Hypothese, die später dann zwar widerlegt wird, jedoch in einem bestimmten Stadium des Zweifelns, nämlich bei dessen Radikalisierung, funktional durchaus wichtig erscheint. 22 Vgl. ebd., Med. I , 21: »Imo etiam quemadmodum iudico interdum alios errare circa ea, quae se perfectissime scire abritrantur, ita ego ut fallar, quoties duo et tria simul addo vel numero quadrati latera, vel si quid aliud facilius fingi potest?« (»Ja sogar auch, wie ich urteile, dass andere sich bisweilen darin irren, was sie auf vollkommene Weise zu wissen meinen, so könnte auch ich mich täuschen, sooft ich 2 und 3 addiere oder die Seiten eines Quadrats zähle, oder was man sich noch anderes Leichteres vorstellen kann?«). 23 Auf diesem strengen Unterscheidungsprinzip fußen zudem – und auch dies seit der Antike – die Gattungslehren. Denn um von einer Gattung über Untergattungen (,Arten’) bis hin zum einzelnen Exemplar zu gelangen, sind Disjunktionen im Sinne von Zugehörigkeiten auf verschiedenen Bezugsebenen vonnöten. Stets herrscht dabei die Überzeugung vor, dass es sich dabei um die Erkenntnis der Natur handelt, die sich dann in den jeweiligen Taxonomien, Topiken und generischen Baum- beziehungsweise Pyramidenstrukturen ausdrücken lasse. So findet etwa die diesbezügliche aristotelische Tradition ihren Ausgangspunkt im Unterscheidungsmoment zwischen belebten und unbelebten Körpern und leitet daraus die erste Gattung ›Lebewesen‹ ab – vgl. etwa Aristot., an., 2, 412a6–13 –, von denen sich dann wiederum ›Mensch‹ und ›Tier‹ als die ersten Arten – und dies nach dem distinkten Kriterium der Vernunftbegabtheit – herleiten lassen; vgl. etwa Aristot., pol., 1, 1253a9 f.
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Wahrheitswerte, mithin nur zwei Urteilsmöglichkeiten zuzulassen, ist zugleich als integraler Bestandteil des cartesischen Skeptizismus zu werten: Um dem Wahrheitssucher, der grundsätzlich erst einmal alles anzweifelt, was überhaupt zum Zweifel fähig erscheint, Genüge zu tun, wird der Zugriff auf die Welt auf einen einzigen aussagenlogischen Gegensatz reduziert. Es gibt in einem solchen Rahmen keine Zwischenstufen zwischen der wahren Aussage und der falschen, keine Halbeinsichten, die einen gewissen Grad an Wahrheit hätten, und auch keine Wahrscheinlichkeiten, die uns ein wenigstens einigermaßen stabiles Bild von der Welt vermitteln könnten. Nur die klare und deutliche – und das heißt: unterschiedene – Einsicht (inspectio distincta) in die Dinge zählt, alles andere gehört dem Bereich des Zweifels an und wird im selben Atemzug verworfen. Bei Descartes werden die Sinne, die sich einem derartigen Zugriff ja bereits aufgrund ihrer graduell in Erscheinung tretenden Qualitäten (,hellrot', ›rot‹, ›dunkelrot‹; ›laut‹, ›mittellaut‹, ›leise‹ etc.) genuin entziehen, dementsprechend als denkbar schlechte Kandidaten für die sichere Erkenntnis eingestuft. Sie sind lediglich in der Lage, uns ein höchst wechselvolles Bild von der Realität zu vermitteln. Ihre permanenten Schwankungen sind, mehr noch, Indizien dafür, uns bei der Suche nach gesicherter Erkenntnis in die Irre zu führen. 24 Somit muss sich die Erkenntnis streng auf die mit der res cogitans verhafteten oberen Seelenvermögen beziehen; insofern handelt es sich um einen Vorgang, der nur unter Anleitung des geistigen Erfassungsvermögens, der perceptio, überhaupt erst zum Erfolg führen kann. Ein solches Vermögen ist indes nicht nur perzeptiv, sondern auch inspektiv zu nennen – und dies gleich in zweierlei Hinsicht, denn wir blicken, wenn wir ›cartesisch‹ blicken, mit der gleichen Strenge in uns selbst hinein und unterziehen unsere scheinbar so sicheren Ansichten einer Prüfung, wie wir es mit der äußeren Welt praktizieren. Es kann daher nicht sonderlich verwundern, dass sich dieses Vermögen im Sinne Descartes' nicht nur vom sinnlichen Erfassungsvermögen, sondern auch von der EinbilVgl. beispielsweise Descartes, Meditationes, Med. I, 18: »Nempe quidquid hactenus ut maxime verum admisi, vel a sensibus vel per sensus accepi, hos autem interdum fallere deprehendi, ac prudentiae est numquam illis plane confidere, qui nos vel semel deceperunt.« (»Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr gehalten habe, empfing ich entweder von den Sinnen oder durch die Sinne; nun aber bin ich dahintergekommen, dass diese manchmal täuschen; und es ist Sache der Klugheit, niemals jenen gänzlich zu vertrauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben«; Hervorhebungen in der Übersetzung: D. B.) Die hier recht rigoros vorgeführte Haltung mutet syllogistisch erstaunlich unplausibel an, insofern es ja kaum als ausgemacht gelten kann, dass aus der Tatsache, dass uns ein vermeintlich sicheres Erkenntnisorgan einmal täuscht, folgt, dass dieses Organ uns immer täuschen würde. Aber selbst diese Rigorosität füllt eine erkenntnistheoretisch wichtige Funktion aus, insofern auch sie konsequent dem programmatischen Ausschlussverfahren Descartes’ zuarbeitet, nach dem er nichts als Erkenntnisquelle zulassen will, an dessen Zuverlässigkeit auch nur der geringste Zweifel bestehen könnten. 24
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dungskraft – die ja an überhaupt keine strengen Erkenntniskriterien gebunden ist, sondern Bilder generiert, die sich der Sinneswelt verwandt zeigen – ganz erheblich abgrenzen muss: Es bleibt mir also nur noch übrig einzugestehen, dass ich keinesfalls imaginiere, was dieses Wachs ist, sondern es einzig mit dem Verstand begreife; und dies sage ich von dem Einzelstück, denn von dem Wachs überhaupt ist es sogar noch klarer. Was aber ist dieses Wachs, das sich nur denkend begreifen lässt? Doch wohl dasselbe, das ich sehe, das ich ertaste, das ich imaginiere, kurz: dasselbe, das ich von Anfang an meinte, das es ist; jedoch – was beachtet werden muss – seine Erfassung ist nicht Sehen, nicht Berührung, nicht das Vorstellungsbild und war es auch nie, obschon es zuvor so schien, sondern eine Einsicht einzig des Verstandes, die entweder, wie sie früher war, unvollkommen und verworren sein kann oder, wie sie nun ist, klar und deutlich – je nach dem, ob ich weniger oder mehr auf jene Dinge mein Augenmerk richte, aus denen es besteht. 25
Eine Größe, die hier zur Unterscheidung des verstandesgemäßen Erfassens von den übrigen Seelentätigkeiten dient, ist die ›Verworrenheit‹ (confusio). Sie existiert entsprechend Descartes' Einlassungen durchaus noch im Bereich der sinnlichen Erfahrung, nicht mehr jedoch beim Übergang in das Stadium der wahren Erkenntnis. 26 Nur durch rationale Erwägung erkennen wir daher, was ein Gegenstand ist und machen ihn dadurch zu einem distinkten. Zudem wird hier das Augenmerk, das heißt die Anspannung (attentio) des Geistes auf eine bestimmte Sache hin, mit den Bestandteilen (ex quibus constat) der Sache selbst in Verbindung gesetzt, mithin als ein analytischer Schritt aufgefasst, aus dem dann erst das Erkennen zu folgen habe. Dieses darf dann schließlich unter der Bezeichnung einer »Einsicht einzig des Verstandes« (inspectio solius mentis) firmieren. Es handelt sich somit um eine Tätigkeit, die den Zweck verfolgt, das Stadium der Verworrenheit zu überwinden, um dasjenige der Klarheit zu erlangen. Im Spannungsfeld von attentio und inspectio lassen sich in die-
Ebd., Med. II, 31: »Superest igitur, ut concedam me nequidem imaginari, quid sit haec cera, sed sola mente percipere; dico hanc in particulari, de cera enim in communi clarius est. quaenam vero est haec cera, quae non nisi mente percipitur? Nempe eadem quam video, quam tango, quam imaginor, eadem denique quam ab initio esse arbitrabar; atqui, quod notandum est, eius perceptio non visio, non tactio, non imaginatio est, nec umquam fuit, quamvis prius ita videretur, sed solius mentis inspectio, quae cel est imperfecta esse potest et confusa, ut prius erat, vel clara et distincta, ut nunc est, prout minus vel magis ad illa, ex quibus constat, attendo.« (Hervorhebungen in der Übersetzung: D. B.). 26 Dass dies sich auch in der sechsten Meditatio, in der ein Verständnis der materiellen Welt aus den Kategorien der Körperlichkeit heraus diskutiert wird, nicht ändert, zeigt Baumann (2009), 275 f. 25
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sem Sinn zwei unterschiedliche prozedurale Schritte erkennen, 27 die auf zwei ebenso unterschiedlichen ontologischen Ebenen beruhen: Wo die attentio mit der auf die Sache gerichteten Auseinandersetzung verhaftet bleibt, meint die inspectio ein Einsichtsvermögen, das in der Lage ist, jenen distinkten Begriff zu erzeugen, der sich dem Zweifel zu entziehen vermag; das Resultat stellt in diesem Fall die erfolgreiche perceptio dar. Auf Descartes' Beispiel des Wachses bezogen heißt dies, dass die sinnliche Erfassung des flüssigen Wachses noch einer gewissen Unklarheit unterliegt, die nicht zum eigentlichen Begreifen (percipere) taugt, da der sinnliche Eindruck – beim flüssigen Wachs ist wohl vor allem an Gestalt, Härte und Temperatur gedacht – sich permanent ändert, und die Bildung eines Begriffs von Wachs erst dann erfolgen kann, wenn er einem inspektiven, geistig unterscheidenden Verfahren unterliegt. Wir können somit Tätigkeiten des Geistes voneinander sondern, die im einen Fall von Intensität und Verworrenheit zeugen (attendere, intendere), im anderen Fall die Erkenntnis im für Descartes zufriedenstellenden Sinne bewerkstelligen (inspicere). Bildet die oben benannte Art von Skeptizismus den Ausgangspunkt der cartesischen Prima philosophia und verbinden sich zum Zwecke des Überwindens jenes so umfassenden Grundzweifels das Anspannen (attendere), das Einblicken (inspicere) und das begriffliche Erfassen (percipere) auf unterschiedliche Weise mit den ontischen Gegenständen, so wird ein solches epistemologisches Verfahren nicht von jedem Philosophen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in derselben Weise geteilt. Was vielmehr im Zuge der Rehabilitierung der Sinnlichkeit – die, wie wir in den Kapiteln iii.1.a–b sehen konnten, mit Descartes so unfreiwillig wie entscheidend angestoßen wird – in ungleich stärkerem Maße auf den Plan tritt, ist die leibnizsche und wolffsche Überzeugung, dass der Mensch Dinge und Sachverhalte vor allem aufgrund der Merkmale (notae), die ihnen zukommen, erkennt (cognoscere) beziehungsweise – sollte er bereits erste Bekanntschaft mit diesen gemacht haben – wiedererkennt (recensere, agnoscere). Ein solches (Wieder-)Erkennen wird nunmehr, indem die Begrifflichkeit des Gegenstandes schon als Teilaspekt der Erkenntnis mit impliziert wird und dieser Begriff (notio) Merkmale des Gegenstandes als seine notwendigen Bestandteile enthält, zu einem umfassenderen Erkenntnisbegriff ausgearbeitet, als dies noch bei Descartes möglich war. Die notae werden nunmehr gewissermaßen auf die Entwicklung der notiones hin ausgerichtet. Wir fassen dieser methodischen Einstellung zufolge die Merkmale eines Gegenstandes nicht bloß als Eindrücke auf – seien diese nun sinnlich oder abstrakt –, sondern 27
(nunc).
Die Prozeduralität wird hier abgebildet anhand der Antithese von »früher« (prius) und »nun«
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sehen in ihnen bereits das Potential der Begriffsgewinnung angelegt. Da jedoch die Grundlage unserer Begriffe, nämlich die gegenständlichen Merkmale, nicht ›wahr‹ oder ›falsch‹ in einem erkenntnistheoretischen Sinn, sondern eher als dem Gegenstand ›zugehörig‹ oder ›nicht-zugehörig‹ zu nennen sind und da sie zudem bisweilen aus sich selbst heraus einer gewissen Unklarheit beziehungsweise Verworrenheit unterliegen, greifen die von Descartes getätigten Unterscheidungsmuster zu kurz oder lassen sich gar nicht erst auf den Bereich der Erkenntnisgewinnung ohne Substanzverlust übertragen. 28 Werden die Merkmale nicht nur als Eigenschaften von sinnlichen Gegenständen aufgefasst, sondern auch zum Substrat von Begriffen erklärt, so müssen sie auf ihrem Weg in die oberen Seelenregionen – der, wie gesehen, sogar mit aristotelischer Beglaubigung über die Sinne und die Einbildungskraft führen darf – ihre Substanz – und dies meint eben auch: ihre Sinnlichkeit – möglichst aufrecht erhalten: Nach dem einfachsten zu denkenden Strukturschema würde dann eine klare Wahrnehmung (sensio clara) zu einer klaren Vorstellung (imago clara) führen, die wiederum einen klaren Begriff (notio clara) zeitigen würde; eine verworrene Wahrnehmung (sensio confusa) riefe eine verworrene Vorstellung (imago confusa) hervor, aus der ein verworrener Begriff (notio clara) hervorginge; eine dunkle Wahrnehmung (sensio obscura) würde zu einer dunklen Vorstellung (imago obscura) führen, aus der wiederum nur ein dunkler Begriff (notio obscura) abgeleitet werden könnte. Der letztgenannte Vorgang ist indes nach Überzeugung des cartesischen Rationalismus – sowie des Platonismus, wenn auch aus anderen Gründen – geradezu absurd zu nennen und bereits auf erster Stufe beendet. Keine Erkenntnis beginnt in der völligen Dunkelheit; es muss immer ein erster Anhaltspunkt gegeben sein, von dem aus sich weitere Tatsachen erhellen – sei es das Licht der Ideen (Platon), sei es das Licht der Vernunft (Descartes). Es darf indes zu den erstaunlichsten philosophiegeschichtlichen Entwicklungen gezählt werden, dass im späten 17. Jahrhundert genau diese Erweiterung des Spektrums an sinnlich-kognitiven Begrifflichkeiten stattfindet: Befördert vor allem durch die Leibniz-Philosophie, wird die Erkenntnis sowohl als klare (cognitio clara) wie auch als verworrene (cognitio confusa) und gar als dunkle (cognitio obscura) diskutiert. Mag sich hier auch die Frage aufdrängen,
Denn in diesem Fall müssten entweder alle Eigenschaften als klare und deutliche vorliegen – was bereits den meisten empirischen Tatsachen widerspräche –, oder die Eigenschaften würden durch den Verstandesgebrauch von einer Substanz in die andere überführt – was im Grunde einer Transsubstantiation gleichkäme und dem res cogitans/res extensa-Dualismus erhebliche Schwierigkeiten in Hinsicht auf dessen Ziel, die Substanzen ja gerade voneinander trennen zu wollen, bereiten würde. 28
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wofür sich die Dunkelheit substantiell überhaupt verbürgen könnte, 29 so wird die novatorische Antwort darauf lauten: Es finden Prozesse in uns statt, von denen wir nichts wissen beziehungsweise die unserem Verstand nicht bewusst sind. Denn die sinnlichen Berührungspunkte mit der äußeren Welt sind in ihrer schieren Vielzahl von der menschlichen Seele nicht verarbeitbar; somit findet seitens des Subjekts immer eine gewisse Selektion statt. Und so darf denn die ideengeschichtliche Antwort auf die Frage, warum wir überhaupt einen Einbezug der dunklen Begriffe und Vorstellungen benötigen, in der Unterscheidung zwischen denjenigen Vorgängen liegen, die unser Bewusstsein nicht erreichen – den Perzeptionen (perceptiones) –, und denjenigen, die von uns sinnvoll verarbeitet werden – den Apperzeptionen (apperceptiones). 30 Ebendies konnte für die Neujustierung des Aufbaus der Seelenvermögen nicht ohne Folgen bleiben. Blicken wir daher an dieser Stelle noch genauer auf das Verhältnis von Begriffen, Merkmalen und Erkenntnissen: Wie bereits angeführt, lässt sich im weiteren Fortgang der Philosophie des 17. Jahrhunderts das Phänomen erkennen, dass es nicht mehr als ausgemacht gelten kann, lediglich ›wahr‹ und ›falsch‹ als die erkenntnistheoretischen Leitgrößen anzusetzen. Vielmehr tritt ein Desiderat zutage, die Erkenntnis selbst in sich noch einmal zu differenzieren und dabei nach Eigenschaften auszubuchstabieren, die zuvor überhaupt nicht einmal dafür in Frage gekommen wären, den Bereich des unsicheren Urteilens auch nur zu verlassen. So spannt Leibniz vier Jahrzehnte nach Descartes' Meditationes das Feld der Erkenntnis in der kleinen, aber nicht unbedeutenden Abhandlung Meditationes de cognitione, veritate et ideis (1684) über ein entsprechend umfangreicheres Tableau auf. Die menschliche Erkenntnis wird hier nicht mehr nach binären, sondern nach graduell unterscheidbaren Eigen-
Im Christentum und im (Neo-)Platonismus wären Kandidaten hierfür etwa das Nichts, das Böse, die nackte, ungeformte Materie oder die Unwissenheit schlechthin – allesamt sehr ungünstige Größen zur Legitimierung von Erkenntnis. 30 Zu diesem Begriffspaar, das in der heutigen Erkenntnistheorie und Psychologie keine ernsthafte Rolle mehr spielt, dem jedoch im 17. und 18. Jahrhundert ein großer Erfolg beschieden war, vgl. Grau (1916), Wunderlich (2005), 7–128, Jahnke (1989), Cramer (1994) und Flasch (22009), 293– 312. Für uns kann an dieser Stelle der Grundgedanke genügen, dass nicht alle sinnlichen Wahrnehmungen unterschiedslos verarbeitet werden, sondern durch unseren Aufmerksamkeitsapparat gesondert werden: So sind wir uns keineswegs ständig der Kleidung bewusst, die wir am Körper tragen, könnten jedoch jederzeit unsere geistige Aufmerksamkeit darauf richten. Anders gewendet: Nicht jede Perzeption wird vom Geist auch als Apperzeption verarbeitet, dennoch ist damit nicht ihre Existenz suspendiert; dies wird Leibniz noch zu einer dezidierten Kritik an den Cartesianern veranlassen: »Diesbezüglich haben die Cartesianer einen heftigen Fehler begangen, indem sie die Perzeptionen, deren man sich nicht bewusst ist, für nichts geachtet haben.« (Leibniz, Monadologie, § 14: »Et c’est en qvoy les Cartesiens ont fort manqvé, ayant compté pour rien les perceptions, dont on ne s’apperçoit pas.«). 29
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schaften vorgeführt und erst in eben dieser Form von Unterschiedenheit in eine taxonomische Struktur gebracht: Daher ist die Erkenntnis entweder dunkel oder klar, und die klare wiederum entweder verworren oder deutlich, und die deutliche entweder inadäquat oder adäquat, gleichfalls entweder symbolisch oder intuitiv; wenn aber die Erkenntnis zugleich adäquat und intuitiv ist, so ist sie am vollkommensten. 31
Vergleicht man diese Einlassungen mit den griechisch- und lateinischsprachigen Begriffslinien der Erkenntnisphilosophie, 32 so dürfte die gleich zu Beginn von Leibniz angeführte dunkle Erkenntnis (cognitio obscura) eigentlich gar keine Rolle spielen – und dies gälte selbst für den Fall, wenn man hier einen metaphorischen Gebrauch unterstellte; denn die Bildsprache der Erkenntnis ist – wie wir an zahlreichen Stellen in den Kapiteln ii.1–iii.2 sehen konnten – vom Intellektualismus Parmenides' über den Dualismus Platons bis zum Neoplatonismus Keplers und dem Rationalismus Descartes' zuverlässig als das Gegenteil der Dunkelheit, als Licht und Feuer (φῶς, πῦρ; lux, lumen, ignis), zu denken; insofern wäre es gar nicht einmal abwegig, so etwas wie ›dunkle Erkenntnis‹ schlechthin als ein Oxymoron aufzufassen. 33 Abgesehen von ihrer scheinbaren Selbstwidersprüchlichkeit weist sie hier aber durchaus einen hohen funktionalen Wert auf, insofern von ihr die klare Erkenntnis (cognitio clara) abgehoben werden kann. Mit dieser Art von Erkenntnis hätte Descartes wiederum keinerlei Schwierigkeiten; allerdings fiele die weitere Ausdifferenzierung bei ihm dann wieder teilweise dem Bereich des Zweifels anheim, wohingegen sie bei Leibniz immer noch vollständig unter dem Paradigma der cognitio firmiert: Die klare Erkenntnis kann hier nämlich selbst wiederum als verworren (confusa) oder als unterschieden (distincta) vorgestellt werden. Wo das clare et distincte percipere von Descartes noch komplementär konstruiert wurde – denn Klarheit und Unterschiedenheit sind für ihn mit Blick auf das Erlangen sicherer Erkenntnis zwei Seiten derselben Medaille und zudem in ausdrücklicher Opposition zur Verworrenheit und Dunkelheit befindlich –, 34 Leibniz, Meditationes de cognitione, veritate et ideis, 32: »Est ergo cognitio vel obscura vel clara, et clara rursus vel confusa vel distincta, et distincta vel inadaequata vel adaequata, item vel symbolica vel intuitiva: et quidem si simul adaequata et intuitiva sit, perfectissima est«. 32 Für einen Überblick, der hier nicht unser Sujet sein kann, vgl. Hönigswald (1966) und Kutschera (1981). 33 Zu den hermetischen und mystizistischen Traditionen, die einer solchen Form der Erkenntnis durchaus einen eigenen Wert zuweisen und im 17. Jahrhundert häufige literarische Ausprägungen hervorbringen, hier jedoch nicht unser Hauptanliegen sind, vgl. Alt / Wels (2010), Faivre / Zimmermann (1979) und Hannak (2013). 34 Vgl. nachdrücklich hierzu Descartes, Meditationes, Med. IV , 62: »Nec hodie tantum didici, quid mihi sit cavendum, ut numquam fallar, sed simul etiam, quid agendum, ut assequar veritatem; 31
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wird hier eine Spannweite vertreten, die zwar in semantischer Hinsicht auf den ersten Blick ebenso disjunktiv wie das Begriffspaar von verum und falsum erscheint – nämlich im Sinne der benannten Unverträglichkeit von Distinktion und Verworrenheit im Rahmen des cartesischen Rationalismus –, in ihrer sinnlichen Verhaftung jedoch auf die Schaffung von Intensitäten ausgerichtet ist: Das distinkte Urteilen steht nicht mehr auf derselben Ebene wie die klare Erkenntnis, sondern auf einer Ebene mit der verworrenen Erkenntnis (clara rursus vel confusa vel distincta). 35 Die Verworrenheit löst sich, wie wir noch genauer sehen werden, nicht erst mithilfe der reinen Verstandestätigkeit auf, sondern bereits unter dem zunehmenden Einfluss eines (Wieder-)Erkennens von Merkmalen. Um diese Taxonomie – die bei Leibniz recht unvermittelt gleich zu Beginn der Meditationes vorgestellt wird – von ihren begrifflichen Voraussetzungen her aufzuschlüsseln, erscheint es vor allem erläuterungswürdig, was denn einen dunklen Begriff, den man sich von einer Sache macht, als dunklen überhaupt auszeichnet: Dunkel ist ein Begriff, der zum Wiedererkennen der vorgestellten Sache nicht ausreicht, wie wenn ich mich zum Beispiel irgendeiner Blume oder eines Tieres, die ich einst gesehen habe, erinnere, jedoch nicht in genügendem Maße, um das Vergessene wiedererkennen und von einem anderen Benachbarten unterscheiden zu können; oder wenn ich einen in der Schule nicht hinreichend erklären Ausdruck erwäge wie etwa die Entelechie des Aristoteles oder die Ursache, insofern sie etwas der Materie, der Form, dem Bewirkenden und dem Zweck Gemeinsames ist, und anderes dieser Art, von dem wir keine sichere Definition haben; daher wird auch der Aussagesatz dunkel, in den ein solcher Begriff eingeht. 36 assequar enim illam profecto, si tantum ad omnia, quae perfecte intelligo, satis attendam atque illa a reliquis, quae confusius et obscurius apprehendo, secernam.« (»Und nicht nur habe ich heute gelernt, wovor ich mich hüten muss, um mich niemals zu irren, sondern zugleich auch, was ich zu tun habe, um zur Wahrheit zu gelangen; denn ich werde sie tatsächlich dann erreichen, wenn ich nur auf all das genügend achte, was ich vollkommen erkenne, und es von dem übrigen scheide, was ich allzu verworren und dunkel begreife.«). 35 Die Wahl des vel gegenüber dem üblicherweise in disjunktiver Funktion gebrauchten aut erscheint in diesem Zusammenhang durchaus bedeutungstragend. Während aut in der Regel als »wesentlich verschiedene Begriffe trennend[e]« (Georges [81998], s. v. »aut«, 746) Konjunktion auftritt, erfüllt vel die Funktion »zur Trennung mehrartiger Dinge« (ebd., s. v. »vel«, 3385). Die verworrenen und distinkten Erkenntnisse stellen in diesem Sinn Unterarten der klaren Erkenntnis dar und sind gerade über ihre Kopplung an das Kriterium der Klarheit in dieser bestimmten Hinsicht wesensgleich zu nennen. 36 Leibniz, Meditationes de cognitione, veritate et ideis, 32: »Obscura est notio, quae non sufficit ad rem repraesentatam agnoscendam, veluti si utcunque meminerim alicujus floris aut animalis olim visi, non tamen quantum satis est, ut oblatum recognoscere et ab aliquo vicino discernere possim; vel si considerem aliquem terminum in scholis parum explicatum, ut Entelechiam Aristotelis, aut
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Zunächst fällt auf, dass es hier um das Wiederkennen (agnoscere), mithin um eine erneuerte Verbindung zu einer ehemals vorgestellten Sache (res repraesentata) geht. Aussagen setzen sich hier aus Begriffen zusammen, die unterschiedlich klar, und im negativsten Falle gar dunkel sein können. Ein dunkler Begriff wird dennoch als durchaus existent begriffen – und zwar mutmaßlich als ein sinnlicher, da wir ihn zwar einmal gesehen haben (floris olim visi), ihn aber nicht wiedererkennen können, da wir zu viele seiner Merkmale vergessen (oblatum) haben. Das zum letzten Erkenntnisschritt nötige Unterscheiden (discernere) gelingt daher nicht. Dass wir ihn nicht wiedererkennen können, stellt also ein Defizit unseres Gedächtnisses beziehungsweise unseres Erkenntnisvermögens dar; das heißt jedoch noch nicht, dass sein grundsätzlicher Status als sinnlicher Eindruck davon betroffen wäre. Er existiert als dunkler Begriff weiter in uns fort, und zwar unbemerkt von den mittleren und oberen Seelenvermögen. Diese Denkfigur wirkt in ihrer Hinwendung zu den Bestandteilen eines Begriffs genau genommen hochgradig analytisch. Denn dass Aussagen ihren Wahrheitswert ändern, wenn sich die Begriffe in ihnen ändern, vermag einer logischen Grundüberzeugung zu genügen, die sich selbst noch in Axiomen des (Neo-)Platonismus niederschlägt – unabhängig vom zeitgeschichtlichen Zusammenhang, in dem sie formuliert werden. 37 Kurz gefasst, aus der Definition 38 folgt erst der Begriff, und aus den Begriffen heraus konstituiert sich dann die Aussage. Die auf die Erkenntnis funktional zu beziehende Teil-GanzeRelation herrscht hier indes nicht nur zwischen Aussage und Begriff, sondern causam prout communis est materiae, formae, efficienti et fini, aliaque ejusmodi, de quibus nullam certam definitionem habemus: unde propositio quoque obscura fit, quam notio talis ingreditur«. 37 Das enge Verhältnis, das zwischen Aussagesätzen und den darin enthaltenen Begriffen besteht, wird bis in die analytische Sprachphilosophie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hinein – und letztlich auch darüber hinaus – eine wichtige Rolle spielen; vgl. an prominenter Stelle Frege, Über Sinn und Bedeutung, 32 f.: »Der Satz ›Odysseus wurde tief schlafend in Ithaka ans Land gesetzt‹ hat offenbar einen Sinn. Da es aber zweifelhaft ist, ob der darin vorkommende Name ›Odysseus‹ eine Bedeutung habe, so ist es damit auch zweifelhaft, ob der ganze Satz eine habe. Aber sicher ist doch, daß jemand, der im Ernste den Satz für wahr oder für falsch hält, auch dem Namen ›Odysseus‹ eine Bedeutung zuerkennt, nicht nur einen Sinn«. Wo bei Leibniz Begriffe und Sätze dunkel sein können und sich die Dunkelheit der Begriffe auf die Dunkelheit des Satzes auswirkt, stellen bei Frege Sinn und Bedeutung diejenigen Größen dar, die beiden Ebenen – derjenigen der Begriffe wie derjenigen der Sätze – zugewiesen werden. Dass es sich dabei durchaus um äquivoke Zuschreibungen handelt, zeigt sich bei Frege dann daran, dass die Bedeutung eines Begriffs dessen Referenzobjekt, diejenige eines Satzes jedoch dessen Wahrheitswert darstellt. Bei Leibniz ist demgegenüber die Dunkelheit als Eigenschaft zu verstehen, die problemlos auf ganz unterschiedliche Größen, namentlich auf Sätze, Begriffe und Dinge projizierbar erscheint. 38 Im wörtlichen Sinne als das Abgrenzen (definire) eines Begriffs gegenüber anderen; bei Leibniz etwa qua Unterscheidung von seinem Benachbarten (vicinum).
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auch zwischen Begriff und Merkmalen. Sie kommt auch in der Bestimmung der verworrenen Erkenntnis (cognitio confusa) zum Tragen: Verworren [ist die Erkenntnis], wenn ich freilich nicht genügend Merkmale gesondert aufzählen kann, die dazu ausreichen würden, eine Sache von anderen zu unterscheiden, mag auch jene Sache tatsächlich derartige Merkmale besitzen, in welche ihr Begriff aufgelöst werden kann: So erkennen wir zwar Farben, Gerüche, Geschmäcker, und andere den Sinnen eigentümliche Gegenstände hinreichend klar und unterscheiden sie voneinander, aber aufgrund eines einfachen Zeugnisses der Sinne, nicht jedoch aufgrund nennbarer Merkmale. [. . . ] Gleichermaßen sehen wir, dass Maler und andere Künstler angemessen erkennen, was auf richtige und was auf fehlerhafte Weise gemacht ist, dass sie jedoch häufig nicht den Grund ihres Urteils angeben können und dem Fragenden sagen, dass sie in der Sache, die ihnen missfällt, irgendetwas vermissten. 39
Legt man die beiden zuletzt angeführten Definitionspassagen nebeneinander, so zeigt sich das Verhältnis von Teil und Ganzem als einendes Moment: Der Begriff, als Teil eines Aussagesatzes, kann, sofern er selbst dunkel ist, den Satz an sich verdunkeln (propositio quoque obscura), und er selbst kann diese Dunkelheit vermeiden beziehungsweise vice versa an Klarheit gewinnen, wenn wir Merkmale in ausreichender Zahl (quantum satis est) aufzählen können, um die Sache, die er erfassen soll, zu identifizieren – und diese Merkmale sind wiederum gesondert (separatim), also als selbständige Teileinheiten, aufzuzählen. Die Teile einer Aussage sind dementsprechend Begriffe, deren Teilaspekte wiederum als Merkmale aufzufassen sind. Deren Aufzählung wird hier als das probateste Mittel vorgeführt, das zur Erhellung eines Gegenstandes beitragen könne. Dieses Verfahren ist – insofern es um ein Sich-Entfernen vom einfachen Sinneszeugnis (simplex sensuum testimonium) geht – als ein schrittweise komplexer werdendes sowie – insofern es um die Tätigkeit des summierenden Aufzählens (enumerare) geht – als ein arithmetisches vorzustellen. Daher ist es nicht nur der Begriff selbst, sondern auch das Erkenntnisinstrument zum Erfassen eines Begriffs, das nach einem Prinzip der praktischen Mathematik funktioniert; mithin zeigt sich die Mathematik nicht mehr, wie es ihrer antiken Rolle zukam, auf die Grundierung der reinen, zuverlässigen und abLeibniz, Meditationes de cognitione, veritate et ideis, 32 f.: »Confusa, cum scilicet non possum notas ad rem ab aliis discernendam sufficientes separatim enumerare, licet res illa tales notas atque requisita revera habeat, in quae notio ejus resolvi possit: ita colores, odores, sapores, aliaque peculiaria sensuum objecta satis clare quidem agnoscimus et a se invicem discernimus, sed simplici sensuum testimonio, non vero notis enuntiabilibus. [. . . ] Similiter videmus pictores aliosque artifices probe cognoscere, quid recte, quid vitiose factum sit, at judicii sui rationem reddere saepe non posse, et quaerenti dicere, se in re quae displicet desiderare nescio quid«. 39
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strakten Erkenntnis beschränkt, sondern vermag, anhand ihres methodischen Vorgehens, nunmehr auch die Grade der Erkenntnis zu stiften – selbst dann, wenn diese sich auf einen sinnlichen Urgrund bezieht. Je nach dem, wann die Aufzählung der Merkmale endet, erscheint uns ein Begriff bald dunkler, bald klarer. Und eben hierin liegt ein bemerkenswertes Moment begründet: Es muss gar nicht unbedingt nur darum gehen, die Anzahl distinkter Merkmale auf ein möglichst hohes Maß zu treiben – in dem Sinne, dass es grundsätzlich zum Ziel gesetzt werden müsste, bei der Begriffsbildung dem notwendigen Quantum (quantum satis est) an Merkmalen zu entsprechen, um dann eine möglichst klare Erkenntnis von dem in den Blick genommenen Gegenstand zu erhalten; vielmehr scheint hier angezeigt, dass es eine Art von Graubereich gibt, dem ebenso philosophische Aufmerksamkeit zuzubilligen ist wie dem Bereich klarer Erkenntnisse. War die Verworrenheit von Leibniz zu Beginn seiner Meditationes noch in systematisch strenger Manier den klaren Erkenntnissen subsumiert, so behauptet die verworrene Erkenntnis hier im Bereich der klaren Erkenntnisse eine gewisse Eigenständigkeit für sich. Es geht bei ihr um die Auseinandersetzung mit Gegenständen in verworrener Form, bevor sich ebendiese Verworrenheit ins Distinkte gewissermaßen verabschiedet und damit auflöst. Anders herum gewendet heißt dies: Es dürfen nicht zu viele Eigenschaften den Begriff erhellen, da sie ansonsten Gefahr liefen, sich allzu sehr von den Sinnen zu entfernen und damit ihr Substrat zu verlieren – mit Descartes gesprochen: die Substanz zu wechseln – und rein geistig zu werden. Dass hierzu ausgerechnet »Maler und andere Künstler« (pictores aliosque artifices) – worunter natürlich auch die Dichter zu fassen sind – von Leibniz als vorzügliche Personengruppen dafür angeführt werden, über die den Sinnen eigentümlichen Gegenstände zu urteilen, sie »angemessen zu erkennen« (probe cognoscere), lässt sich, so man das oben benannte neue Interesse an jenen Graubereichen der Erkenntnis mit einbezieht, dahingehend auslegen, dass es gerade im Aufgabenbereich der Künstler liegt, sich für die Verworrenheit, die dem zu betrachtenden Gegenstand zukommt, zu verbürgen, ja diese regelrecht aufrecht zu erhalten. Die Pointe liegt dann darin, dass eben diejenigen, die ihrer Profession nach eigentlich Experten für die Explanation jener Gegenstände sein müssten – denn sie sind nun einmal diejenigen, deren Aufgabe darin besteht, künstlerisch wertvolle Fabrikate hervorzubringen –, einen Grund (ratio) hierfür nicht nennen können – wenigstens keinen, der sich allein der Vernunft verschreiben würde. Dieses vermeintliche Defizit ist bei Leibniz dezidiert auf den Umstand zurückzuführen, dass sie etwas sehnlichst vermissen (desiderare), dass also ein gewisser Mangel an weiteren Merkmalen herrscht, durch deren Benennung der Gegenstand in dem Maße erhellt werden könnte, um ihn schließlich in Klarheit und Unterschiedenheit zu erfassen. Die Junktur
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desiderare nescio quid – die in ihrer Beiläufigkeit nur auf den ersten Blick unscheinbar wirkt – 40 behauptet ihren Stellenwert gleichwohl aus einem dann doch nachvollziehbaren, weil den unterschiedlichen Funktionsbereichen der artes liberales entsprechenden Grund: Im Falle einer suffizienten Merkmalserfassung liefen die Künstler Gefahr, sich allzu sehr dem percipere im cartesischen Sinn zu verschreiben und damit gleichsam zu Philosophen zu werden. Und nichts könnte hier vermeidenswerter sein. Im von Leibniz angedachten Sinne bleiben die Urteile über Kunstprodukte vielmehr in einer mittleren Stellung zwischen den vollkommen dunklen und den vollkommen klaren Begriffen. Es erscheint auf den ersten Blick attraktiv, diesen Umstand mit Aussagen wie derjenigen, die wir bereits in Platons Apologie und dem Ion vorfinden konnten, in Analogie zu bringen. Dort gaben ja die Dichter auf die Frage, wie ihre Werke zustande kämen, zu erkennen, dass sie unfähig sind, das Spezifikum ihrer Fähigkeit, und erst recht dasjenige ihrer Gegenstände, zu benennen. 41 Die Schwierigkeit, ein Kunstwerk auf einen konsistenten Urgrund zurückzuführen, kann indes in dem von Leibniz eröffneten erkenntnistheoretischen Kontext gerade keinen Enthusiasmos meinen (der bei Platon sowohl im Ion als auch in der Apologie wörtlich angedacht ist), 42 sondern bezieht sich zuvorderst auf die Ästhetik, die dem jeweiligen Artefakt zukommt. Denn ziehen wir in Betracht, worauf sich bei Leibniz jene Unnennbarkeit richtet, so eröffnet sich die Ebene Der von Leibniz bemühte Ausdruck des nescio quid ist dabei durchaus in Anspielung auf das je ne sais quoi-Paradigma aus den französischen Sensualismus-Diskursen zu verstehen; vgl. hierzu als die momentan wohl beste historische Darstellung Scholar (2005) sowie zur begriffsgeschichtlichen Einordnung Köhler (1954). Es wäre allerdings vorschnell und regelrecht verfehlt, hierunter die Übernahme eines sensualistischen Standpunktes zu verstehen; denn die sensualistische Antwort auf die Frage nach den Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung, die darin bestehen würde, das Erkenntnisorgan selbst in die Sinne zu verlegen, ist nach Leibniz entschieden abzulehnen, insofern es hierbei lediglich um ein einfaches Zeugnis der Sinne (testimonium sensuum) geht, das nur auf der Ebene der unmittelbaren Eindrücke Wirkungen zeitigt. Wichtiger als eine solche mögliche Reduzibilität ästhetischer Eindrücke hin zur planen Sinnesebene ist vielmehr, wie in den Meditationes de cognitione, veritate et ideis zu sehen ist, die Spannweite zwischen der dunklen und der klaren Erkenntnis – woraus sich dann die Frage ergibt, mit welchen neuen Formen von Erkenntnis ebendiese Spannweite auszufüllen wäre. In einer solchen, gemäßigt mittleren Position kann somit eine Überwindung eines rein sensualistischen und eines rein rationalistischen Standpunktes liegen, die eine höhere Attraktivität ausstrahlt als die Befürworter einseitig orientierter Erkenntnistheorien für sich reklamieren könnten. 41 Vgl. die einschlägigen Stellen bei Plat., apolog., 22a8–22c8 sowie Plat., Ion, 533c6. 42 Vgl. den auf die Dichter bezogenen Partizipialgebrauch des Verbs ἐνθουσιάζειν ebd., 533e3–5.: »οὕτω δὲ καὶ ἡ Μοῦσα ἐνθέους µὲν ποιεῖ, διὰ δὲ τῶν ἐνθέων τούτων ἄλλων ἐνθουσιαζόντων ὁρµαθὸς ἐξαρτᾶται.« (»So macht die Muse sie [sc. die Dichter] teils unmittelbar zu göttlich Ergriffenen, teils heftet sie, indem sich an diesen göttlich Ergriffenen andere begeistern, eine Kette an.«) sowie bei Plat., apolog., 22c1 f.: »φύσει τινὶ καὶ ἐνθουσιάζοντες ὥσπερ οἱ θεοµάντεις καὶ οἱ χρησµῳδοί« (»aufgrund einer gewissen Naturanlage und in göttlicher Begeisterung wie die Seher und die Orakelsänger.«). 40
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der einfachen ästhetischen Eigenschaften wie eben Farben, Gerüche, Geschmäcker etc. (colores, odores, sapores, aliaque). Diese Ebene befindet sich, so man sie auf der Folie der cartesischen Bewertung von Sinnlichkeit betrachtet, im Bereich des rational nicht tiefergehend Begründbaren – wohingegen Leibniz sie zu sinnlich-unterschiedenen macht und damit eine Distinktion auf einer unteren Ebene markiert: Die Merkmale können weiterhin abstrakt nennbar bleiben, die klare Erkenntnis entweder einen deutlichen oder einen verworrenen Weg einschlagen; der verworrene Weg besteht dessen ungeachtet darin, dass wir, ausgehend von dem rein sinnlichen Zeugnis, zu einem rationalen Erfassen übergehen wollen, dabei jedoch bemerken, wie unser Vermögen daran scheitert, einen klaren und distinkten Begriff von dem ästhetischen Gegenstand als ästhetischem zu erzeugen. Die Ästhetik entfaltet mithin eine Kraft, die den Verstand immer wieder zum Sinnlichen hinzieht und vor allem auf dessen Funktionsweise im Bereich der Merkmalserkennung pocht. Derartige theoretische Neujustierungen sind nun im weiteren geschichtlichen Kontext der Frühen Neuzeit nicht mit einem völligen Traditionsbruch zu verwechseln – denn Verworrenheit markierte ja auch bei Descartes den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung und hatte somit dann doch wenigstens eine entscheidende Eigenschaft inne, nämlich diejenige, ›ästhetisch‹ zu sein –, sondern als eine bedeutsame Engführung zweier philosophischer Bereiche, die einen einigermaßen überraschenden Schulterschluss bilden – des sinnlich-ästhetischen und des erkenntnistheoretischen. Denn eigentlich waren diese Bereiche durch die Psychologie der Antike, der Scholastik und der Renaissance streng voneinander geschieden, die Sphäre der aísthe¯sis von derjenigen der diánoia und des noûs weit entfernt und bei Descartes erst recht aufgrund der Substanzenlehre in wechselseitiger Trennung befindlich. Was hier aber nun beiden Sphären, der ästhetischen und der kognitiven zukommt, ist das Kriterium der Auflösbarkeit eines Begriffs und eines sinnlichen Gegenstandes in seine Merkmale. Wo Auflösbarkeit herrscht, ist indes wiederum auch Zusammensetzung möglich: Durch das Verfahren der arithmetischen Summierung ist in beiden Fällen die Erkenntnis nicht mehr in disjunktiven, sondern in graduellen Dimensionen zu denken. Gerade deswegen kann die Verworrenheit hier im Vergleich zur Pejorisierung, die Descartes ihr zugedacht hatte, eine neue Stellung behaupten. Der Grad an Verworrenheit entspricht dabei dem Grade nennbarer Merkmale. Somit können wir bei Leibniz spätestens in den 1680er Jahren die Tendenz beobachten, dass die verworrene Erkenntnis ein sinnliches Substrat enthält, das bislang aus einer streng rationalistischen Position heraus, am prominentesten über Descartes, zu begründen – und abzulehnen – war. Den verworrenen Erkenntnissen kommt jedoch für das ästhetische Urteilen, so Leibniz' ideengeschichtlich nachhaltige Absetzung von Descartes, eine beson-
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dere Bedeutung in Hinsicht auf die Erzeugung und Bewertung künstlerischer Artefakte zu. So irreduzibel also der furor poeticus in den poetologischen Einlassungen der Antike erscheint, so reduzibel werden die Kunstgegenstände über die Ansetzung verworrener Erkenntnisse in der Philosophie Leibniz' gemacht. Was als Grundkonstante zwischen Früher Neuzeit und Antike indes bestehen bleibt, ist das Moment der Unsagbarkeit – die Schwierigkeit, überhaupt benennen zu können, was als notwendiger Grund für die Existenz künstlerischer Werke einstehen könnte. Kurz, die Ästhetik kann bei Leibniz, ganz anders als bei Descartes und zumal bei Platon, sowohl in der Erkenntnistheorie wie auch der Kunsttheorie eine gewichtige Rolle spielen – und mag diese Rolle auch in beiden Disziplinen zunächst vorwiegend darin bestehen, den Bereich des Verworrenen als eine eigene Art sinnlicher Erkenntnis zu nobilitieren.
3. Die mathematische Grundlegung der Psychologie
Führt man sich an dieser Stelle den Weg vor Augen, den die Mathematik von ihrer antiken Ausrichtung als einer vorwiegend abstrakt gefassten Disziplin hin zu ihrer frühneuzeitlichen Bestimmung als mathesis universa (beziehungsweise mathesis universalis) 43 zurückgelegt hat – nämlich hin zu einer auch mit den niederen Naturbereichen, namentlich der physischen und sinnlichen Welt befassten Wissenschaft –, so lässt sich die oben beschriebene Aufwertung der inferioren Seelenvermögen durchaus in einem noch allgemeiner gefassten Horizont nachvollziehen. Es steht dann nämlich eine Auffassung der Psychologie zur Diskussion, welche die Mathematik nicht einzig im Bereich der oberen Seelenvermögen platziert, sondern aus ihr entscheidende Impulse im umfassenden Sinne bezieht – Impulse, die sich auch und gerade hinsichtlich der mittleren und unteren Seelenvermögen als nützlich erweisen. Dass die Mathematik insbesondere durch ihre Öffnung gegenüber der physischen Wirklichkeit ihren wissenschaftlichen Spielraum nachhaltig steigern konnte und im Zuge dessen den Status als dezidiert moderne Form der Welterschließung ab der Renaissance behaupten konnte, hat sich nach den Ausführungen in den Kapiteln iii.1–3 als eine ideengeschichtliche Konstante erwiesen. Begann sie ihrer antiken Bestimmung nach im Bereich der hohen Abstraktion, jedenfalls Die Bezeichnungen werden gelegentlich identisch gefasst, gelegentlich auch dahingehend gebraucht, um die Öffnung der Mathematik hin zu prinzipiell sämtlichen Gegenstandsbereichen von Ordnung und Maß (unversalis) gegenüber ihrer die freien Künste umfassenden Spielart (universa) zum Ausdruck zu bringen; vgl. zu diesem Verhältnis Sasaki (2003), insbesondere 359–404, sowie für einen ausführlichen Abriss der ideengeschichtlichen Entwicklung der mathesis universalis Scholz (1961). 43
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in einer Position jenseits der physikalischen Wirklichkeit, so wurde sie durch das frühneuzeitliche Zusammenspiel von Theorie und Methode in Hinsicht auf die naturwissenschaftliche Erfassung der Welt gleichsam ins Diesseits befördert und zu einer sämtliche Bereiche der Welt umfassenden Erkenntnisdisziplin ausgearbeitet. Über diese fraglos wichtigen Funktionen hinaus konnte auf Grundlage der Mathematik indes auch so etwas wie eine frühneuzeitliche Psychologie mitbegründet werden. Sie zeigt sich einerseits von den vertrauten Beschreibungsmodellen der Antike – insbesondere von der platonischen und aristotelischen Seelenlehre – konzeptionell vorgeprägt, darüber hinaus zeichnet sich ihre Konstitutionsphase aber auch durch die Indienstnahme von Begründungsfiguren aus, die einen Einschluss der sinnlichen Welt in den Bereich der oberen Seelenvermögen anstreben. So profitiert die Psychologie als Wissenschaft, für die Sinne, Vorstellungen, Erinnerungen, Begriffe und Erkenntnisse prinzipiell in gleichem Maße von Interesse sein müssen, 44 nicht zuletzt auch vom transdisziplinären Einfluss, den die Mathematik bereits seit dem 16. Jahrhundert entfalten konnte. 45 Es geht in der Mathematik nicht mehr darum, sich auf reine Abstraktionsleistungen zu beschränken und daraus eine eigene Formelsprache zu bilden; vielmehr bezieht sie Fragestellungen mit ein, welche die Ästhetik eines Gegenstandes und das Vermögen betreffen, sich den selbigen vorstellen zu können. Wenn aber eine Vorstellung zur Erstellung eines Begriffs taugt, so taugt sie auch generell als Mittel der Erkenntnis. Die strukturellen Analogien zwischen den epistemologischen Zentralgrößen Vorstellung und Begriff werden durch die Tendenz, die mathematische und die sinnliche Welt in Einklang zu bringen, in dem Maße vorangetrieben, wie sich Geist und sinnliche Welt gleichsam miteinander versöhnen. 46 Diese Versöhnung wird bemerkensDenn all diese Größen mögen zwar unterschiedliche Einheiten und Funktionalitäten ausprägen, sind aber als Teile der Seele unverbrüchlich in deren umfassende Erklärung mit einzubeziehen. Und ein solch umfassender Erklärungsanspruch ist seit Aristoteles’ De anima zum unverbrüchlichen Programm einer philosophisch fundierten Seelenkunde zu zählen. 45 Um die durchschlagende Wirkung nachzuvollziehen, die von der mathematischen Grundlegung einer Psychologie um 1700 ausgeht, genügt es nicht, darauf zu verweisen, dass mit Leibniz und Newton die beiden prominentesten Mathematiker ihrer Zeit sich zugleich auch als Naturphilosophen verstanden, sich zudem – gerade im Falle Leibniz’ – für den Platz der menschlichen Seele im Kosmos interessierten und sich durch ein entsprechend transdisziplinäres Denken auszeichneten. Ein signum für eine solche – gelegentlich auch zur Verkürzung neigende – ideengeschichtliche Sichtweise ist der immer wieder herangezogene Entwicklungsschritt der Mathematik hin zur Infinitesimalrechnung, verbunden mit der Streitfrage, auf die sich gerade die frühere Forschung regelrecht gestürzt hat, wer von beiden – Newton oder Leibniz – denn nun der eigentliche ›Erfinder‹ dieses mathematischen Verfahrens gewesen sei; vgl. zu diesem Prioritätsstreit, der hier nicht ausführlicher Gegenstand sein kann, Toeplitz (1949), Fleckenstein (1956) und Meli (1993). 46 Es sei hier nur an die in Kapitel III .1.a vorgestellte Erkenntnismethodik im Sinne Francis Bacons erinnert. 44
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werterweise nicht so sehr unter der Ägide des Sensualismus vollzogen, sondern unter derjenigen der Mathematik – was nicht bedeutet, dass der Aufstieg der Sinnlichkeit, der sich im 18. Jahrhundert dann verstetigt beobachten lässt, damit in Frage gestellt würde; allerdings gilt es hierbei mit zu beachten, dass dieser Aufstieg nicht in einer schieren Betonung der Vorzüge unserer Sinnesorgane besteht, sondern sich über das Prinzip einer rationalistischen Rahmung organisiert zeigt. 47 Somit entwickelt sich die neue Wertigkeit der unteren Seelenvermögen nicht aus einer einfachen, engen Beziehung zur Sensualität heraus, sondern nimmt insbesondere dadurch Gestalt an, dass die unteren Seelenvermögen um 1700 neue Betrachtungsweisen durch die Mathematik erfahren. Die Mathematik beschränkt sich nicht darauf, Begriffe anhand von Begriffen zu generieren, sondern Begriffe anhand von Vorstellungen – und dies vice versa. Diejenige Teildisziplin, in der sich dies besonders deutlich vorführen lässt, ist die Geometrie. Um den Problemzusammenhang zu illustrieren, hier zunächst ein rein systematisches Beispiel: 48 Ein Quadrat führt uns den Begriff der Gleichheit vor Augen (in Bezug auf die Seitenlängen), zugleich indes auch den Begriff von Imperfektion, insofern die Diagonale des Quadrates eine irrationale Zahl ausprägt. Ähnliches gilt für den Kreis: Er vermittelt uns einen Begriff von Vollkommenheit, die arithmetische Berechnungsgröße für seinen Umfang ist indes mit Pi ebenfalls eine irrationale, nicht enden wollende Zahl. Geometrie und Arithmetik erinnern uns somit selbst in der Betrachtung vollkommener Figuren an das Wechselspiel aus Harmonie und Disharmonie, das der Welt eingegeben ist. Wir begreifen die Welt somit anhand von klaren und verworrenen Begriffen sowie anhand von klaren und verworrenen Vorstellungen. Es ist daher – wie bereits bei Leibniz in Kapitel iv.2 gesehen – zum einen das Wechselspiel aus Sinnes- und VerAuch Gaukroger sieht im Aufstieg der Sinne keine schiere Überbetonung ihrer organologischen Funktionen; vielmehr konstatiert er mehrere bedeutungsstiftende Bezugsebenen, dass sich nämlich neben einem realm of rationalism – den bereits Kondylis (22002) in Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus umfänglich erläuterte, einem grundlegenden Werk, das Gaukroger merkwürdigerweise in seine Untersuchung zumindest nicht explizit mit einbezieht – ab dem späten 17. Jahrhundert auch ein realm of sensibility etablieren konnte. Er besteht vor allem in der Verquickung empiristischer, physiologischer und moralistischer Bezugsgrößen; vgl. Gaukroger (2010), 387–420. Uns soll es demgegenüber um Linien gehen, die sich – wie noch im weiteren Verlauf der Studie zu sehen – in den Auffassungen von der Seele als einem ganzheitlichen und zugleich in sich differenzierten Gebilde niederschlagen und durchaus noch bis zu Johann Gottfried Herder (1744–1803) auszumachen sind, also noch in einer Zeit nach der von Gaukroger veranschlagten Periode der scheinbar planen Ersetzung der Mechanik durch die Sinnlichkeit (1680– 1760). 48 Die Gedanken des folgenden Absatzes knüpfen an eine von Prof. Eric Achermann gehaltene Vorlesungsreihe zu Literatur und Naturwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Wintersemester 2010/11) an. 47
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standesvermögen, aus dem heraus die unterschiedlichen Grade an Deutlichkeit entstehen. Deutlichkeit generiert sich jedoch nicht allein aus der ontologischen Unterschiedenheit, die den Gegenständen selbst zukommen. Vielmehr müssen die Eigenschaften der Gegenstände ja zunächst in unser Bewusstsein treten und als dem Gegenstand zugehörige erkannt werden. Wenn die Eigenschaften eines konkreten Gegenstandes dann wiederum aus unserem Bewusstsein herausfallen, wir sie also vergessen, so müssen wir darauf vertrauen, dass wir einen entsprechenden Begriff gebildet haben und diesen in der Folge adäquat auf andere Gegenstände derselben Klasse anwenden: Jedes Quadrat hat vier gleichlange Seiten; die gegenüberliegenden Seiten einer Raute sind parallel, darüber hinaus müssen sie gleich lang sein; jeder Punkt auf einem Kreis steht in gleicher Entfernung zu dessen Mittelpunkt etc. Kurz, wir erfassen die Merkmale von Figuren sinnlich und memorieren sie begrifflich. Die Kriterien zur Bestimmung einer Figur, die noch zum Ontologem einer stufenweise unterschiedenen Evidenz hinzutreten, liefern daher auch die mittleren Seelenvermögen – diejenigen, welche sich mit Einbildungen und Erinnerungen befassen. Die sinnlich erfassten und begrifflich gespeicherten Figuren lassen sich dann je nach Kraft der Einbildung als Bilder im Geiste reproduzieren. Dass dies indes nicht bedeutet, dass sich die Kraft der Begriffsbildung in der Einbildungskraft erschöpfe, sondern dass sie vielmehr über sie hinauszugehen vermag, liegt dabei recht klar zutage: Ein Sechseck mag noch recht leicht zu imaginieren sein, vielleicht sogar ein Zwölfeck; bei einem Hunderteck versagt jedoch in der Regel unser Vermögen, ein inneres Bild zu erzeugen. Dessen ungeachtet können wir mathematische Operationen an einem Hunderteck jederzeit erfolgreich durchführen – auch ohne es vor unser inneres Auge zu stellen, indem wir eine imago erzeugen, und ohne eine figura zu erzeugen, indem wir es zeichnen würden. Die Schlussfolgerung des Rationalismus wäre nun, die Leistungsfähigkeit der Begriffsbildung über diejenige der Einbildungskraft hochzuhalten. Für einen universalistisch denkenden Mathematiker um 1700 sind es hingegen eher die unterschiedlichen Funktionalitäten der Seelenvermögen und deren Wechselspiele, die in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Diesen Zusammenhang gilt es zu berücksichtigen, will man den immensen Erfolg verstehen, den die psychologische Ästhetik zu Beginn des 18. Jahrhunderts erfährt. Zwar ist ihr Weg in seinen konzeptuellen Ausprägungen umstandslos ein sinnlicher zu nennen, insofern die ästhetische Ebene die Begründung für Vorstellungen und letztlich auch für die Verstandestätigkeit der Bildung von Apperzeptionen bildet; diese Begründung kommt jedoch nicht ohne die Tendenz zur Verallgemeinerung der mathematischen Methodik aus. Hiermit ist gemeint, dass die Sinnlichkeit in ihrer Dignität aufsteigt – nicht jedoch zum Zweck, die Verstandesvermögen schlichtweg abzulösen, sondern
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um neue Erkenntnismöglichkeiten bereitzustellen, die mit den mathematisch operierenden Seelenvermögen interagieren – dies dann bisweilen so weit, bis sich die Sinnlichkeit eben nicht anstelle der ratio positioniert, sondern bezeichnenderweise jenes analogon rationis ausprägt, das die Ästhetik als eigenständige Disziplin zu profilieren weiß. Der Weg der Sinnlichkeit führt somit bis in alle Regionen der menschlichen Seele; er bewegt sich jedoch – wie es bereits der Titel von Kondylis' Studie zum Ausdruck bringt – im »Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus«. 49 Die Bereitstellung neuer Erkenntnismöglichkeiten impliziert demnach zwar, dass äußere wie innere Sinne eine immense Aufwertung erfahren, allerdings in Form »ein[es] rationale[n] und nicht ein[es] sinnliche[n] Akt[s]« 50 – es geht in diesem Zusammenhang auch bei der Verbindung von mathematischer und physikalischer Welterschließung um die »Folge und zugleich Stütze der weltanschaulich-ontologischen Rehabilitation von Natur und Sinnlichkeit überhaupt«. 51 Wir haben es hierbei also keineswegs mit einem Sensualismus zu tun, der die Sinnesorgane in ihrer Funktion als Erkenntnisquelle aufwertet, um sie dann gegen die Vernunft stärker in Stellung zu bringen; 52 im Gegenteil, setzt die Aufwertung der inferioren Seelenvermögen doch stets die Erkenntnismethodik des Rationalismus voraus und versucht im Bewusstsein dieser Methodik, untere und obere Seelenkräfte in einen Einklang zu bringen und daraus ein umfassendes philosophisches Programm zu entwickeln. Es lässt sich daraus eine dezidierte Einbettung der Sinnlichkeit in bestehende philosophische Systeme ersehen – worauf mit Kondylis zu insistieren ist. Vollends nachvollziehbar wird das Zusammenspiel zwischen sinnlicher (›ästhetischer‹) und vernünftiger (›rationaler‹) Erkenntnisebene am Umgang der Mathematik mit Gegenständen (re¯s) sowie den sich daraus ergebenden Anknüpfungspunkten für die Ästhetik: Die Ästhetik geht, wenn sie sich auf die Mathematik und dabei insbesondere auf die Geometrie bezieht, einerseits von der Wahrnehmbarkeit eines Gegenstandes in Form der Repräsentation seiner Merkmale aus. Einen Gegenstand wiederzuerkennen und ihn im ihm gemäßen Sinne zu reproduzieren (sei es innerlich ›im Geiste‹, sei es äußerlich ›in Wirklichkeit‹), stellt dann keine idealistische Tätigkeit dar – denn dies würde bedeuten, die Idee zu erkennen, die ›hinter‹ der materiellen Repräsentation eines Gegenstandes liegt –, sondern eine arithmetische Aufzählung jener Merkmale, Kondylis (22002), Titel. Ebd., 52. 51 Ebd., 98. 52 Diese Traditionslinie findet sich in Frankreich deutlich lebendiger vertreten, wenn man nur an so kontrovers diskutierte Philosophen wie Jean-Baptiste Dubos (1670–1742), Pierre Carlet de Marivaux (1688–1763), Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), Denis Diderot (1713–1784), Claude Adrien Helvétius (1715–1771) oder Paul Henri Thiry d’Holbach (1723–1789) denkt. 49 50
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die folgerichtig zum Wiedererkennen des selbigen genügen. Dementsprechend lässt sich auch das Vorstellungsvermögen (imaginatio) leicht mit der Aufgabe betrauen, einen mentalen Gegenstand zu erstellen, der einer gewissen Menge an wieder erkennbaren Merkmalen genügt. Die Vorstellung wiederum wird dabei in ihrer Funktion als psychologische Größe (repraesentatio) erheblich sublimiert, indem sie zu einem mathematisch abbildbaren Objekt gemacht wird. Dem Gedächtnis wiederum kommt die Aufgabe zu, diese Merkmale abzuspeichern, so dass die ehemals vorgestellte Sache – selbst wenn sie an sich vergessen sein sollte – anhand der objektivierten Merkmale wieder neu vor das innere Auge geführt werden kann. Und dies entspricht ziemlich genau einer geometrischen Methodik: So können wir ein Dreieck zeichnen, seine arithmetischen Daten (Seitenlängen und Winkelangaben) memorieren, es wieder auslöschen und auf Grundlage der erfassten Daten (Merkmale) dasselbe Dreieck neu produzieren. Entwickeln wir den sich für die Ästhetik daraus ergebenden Problemzusammenhang zunächst wiederum anhand eines konkreten, phänomenal-orientierten Beispiels: Das in der Sinnenwelt erfasste Dreieck (Dreieck1) enthält demnach bestimmte Merkmale (etwa Länge der Hypotenuse: 50 cm; Winkel α: 50°, Winkel β: 60°, Winkel γ: 70°), die es zu memorieren gilt. Diese Merkmale wiederum sind nun nicht mehr an das konkrete Dreieck, sondern an Begriffe (Hypotenuse und Winkel) gekoppelt. Die geometrische Anweisung, dasselbe Dreieck im Anschluss daran selbst zu zeichnen, meint daher das Produzieren einer anschaulichen Figur (Dreieck2), die auf Begriffen und Merkmalen beruht. Die Tätigkeiten des Erfassens und (Re-)Produzierens werden über diese Größen überhaupt erst vergleichbar gemacht – es ließe sich auch sagen: auf eine Ebene gebracht. Die mathematischen Operationen betreffen daher nicht mehr die abstrakte Erkenntnismethodik allein – die uns, wie oben beschrieben, zwar Auskünfte über ein Hunderteck geben kann, ein solches deswegen aber noch längst nicht zur mentalen oder figuralen Anschauung gebracht hat –, sondern ziehen unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf die für die psychologische Ästhetik so wichtigen Ebenen der Merkmale und Begriffe. Anders gewendet: Wenn die Ästhetik eine Kunstfertigkeit (ars) im Bereich der Sinnlichkeit sein will, so ist diese Sinnlichkeit selbstverständlich auf dasjenige zu beziehen, was wir an einem Ding wahrnehmen. ›Wahrnehmen‹ kann dann jedoch nicht mehr auf den reinen äußeren Eindruck beschränkt bleiben, den ein Gegenstand auf uns macht, 53 sondern muss auch diejenigen Seelenteile durchdringen, die wir zur Produktion eigener Gegenstände, mithin eigener ›Kunstgegenstände‹, benötigen. Sie beschreiten den Weg von den Sinnen durch das Vorstellungsvermögen 53 Denn dies liefe Gefahr, entweder eine sensualistische Haltung oder eine monistische Impressionstheorie, wie wir sie von Hobbes vertreten fanden, zu affirmieren.
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bis in die Sphäre eines begrifflichen Apparats, ohne dabei ihre Merkmale unterwegs aufzugeben. Im Gegenteil, die Merkmale verbürgen sich geradezu für den Zusammenhalt sinnlich-fühlender, sinnlich-produktiver und abstrahierender Seelenvermögen, wenn sie denn – wie bereits bei Leibniz gesehen – einen gewissen Vektor zur Begriffsbildung hin aufweisen. Zugleich bedeutet dies aber auch für die Begriffsbildung selbst, dass sie nicht mehr in abstrakten Geistesregionen stattfindet, sondern gleichfalls aus dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung heraus entwickelt werden kann. Es kristallisieren sich dann zwei Teilaspekte heraus, die die Mathematik so wichtig für die psychologische Ästhetik machen: Zum einen erfährt die Behandlung von Merkmalen eine höhere Würde, als es bei einer Betrachtung der Fall wäre, die sich rein im Bereich des sinnlichen Eindrucks abspielte; zum anderen werden Bildung und Entstehung – bezogen auf Begriffe wie auf Vorstellungen – nicht mehr als streng geschiedene Prozesse auffassbar, indem sie die vollen Funktionsfähigkeiten aller Seelenvermögen ausschöpfen. Auf diese beiden Aspekte, die Rolle der Merkmalsästhetik sowie die enge Beziehung produktiver und genetischer Faktoren bei der mathematischen Begriffslehre, wird im Folgenden genauer einzugehen sein. Als wichtigster Bezugspunkt für das frühe 18. Jahrhundert wird dabei die Philosophie Christian Wolffs (1679–1754) angesetzt, insofern sie – wie die folgenden Kapitel zeigen werden – in gewisser Weise eine Brücke zwischen der leibnizschen Merkmalsästhetik und der Ästhetik Baumgartens bildet.
3.a. Der merkmalsästhetische Aspekt in der psychologischen Begriffslehre
Zunächst wird es um die Merkmale gehen: Wolff stellt seinem mathematischen Hauptwerk Elementa Matheseos universae (1713–1715) eine methodische Grundlegung (De methodo mathematica commentatio brevis) voran, die sich auf ähnliche Weise mit Begriffsmerkmalen auseinandersetzt, wie wir sie in Kapitel iv.2 bei Leibniz nachgezeichnet hatten – dort in einem ontologischen, hier in einem mathematischen Kontext. Ein zentraler Punkt besteht darin, Vorstellungen und Erkenntnisse mit gleichrangigen Attributen auszustatten oder ihnen wenigstens gleichwertig anmutende Kriterien zu ihrer eigenen Wesensbestimmung zu unterlegen. Nimmt man etwa Wolffs Auffassungen über das Verhältnis, das generell zwischen Mathematik und Welterschließung herrsche, in den Blick, so zeigt sich nicht nur eine große Anschlussfähigkeit zu cartesischen und leibnizschen Denktraditionen, sondern – auf allgemeiner Ebene – eine Fortführung der Erkenntnistheorie in Form einer Verschränkung rationalistischer und intellektualistischer Theoreme. Wie Descartes und Leibniz hält Wolff die mathematisch-geometrische Methodik in ihrem hohen Rang und
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bringt sie regelmäßig, am prominentesten in den Elementa, zu einer umfassenden Darstellung. Die Mathematik behält dabei ihren Vorrang als Grundlagendisziplin bei und wird anhand der aus der Leibniz-Philosophie bekannten Größen (nota, notio) in einem so umfänglichen Sinn methodisch geltend gemacht, dass sie hier mittlerweile als fest verankert im Gefüge nicht nur der Erkenntnistradition, sondern der frühneuzeitlichen Psychologie schlechthin gelten kann. Eine solche Kontinuität, die darauf fußt, dass Verstand und Sinne, eben manifestiert in notio und nota, wechselseitig voneinander profitieren können, lässt sich nicht nur zwischen Leibniz und Wolff, sondern auch zwischen Wolff und Baumgarten ausmachen. 54 Hierfür signifikant bleibt die Erfassung der Seelenvermögen nach geistigen und sinnlichen Bezugsgrößen und deren begriffliche Durchdringung. Auf den verschiedenen Beschreibungsebenen, die sich nach Definitionen (definitiones), Axiomen (axiomata), Postulaten (postulata), Theoremen (theoremata) und Problemen (problemata) gliedern, 55 werden äquivoke Eigenschaften herangezogen, um Begriffe und Dinge bezogen auf ihren Wiedererkenntniswert zu bestimmen. Das Wiedererkennen selbst ist wiederum auf die sinnlichen Bereiche von Erfahrung (experientia) und Beobachtung (observatio) zu beziehen. Zur Debatte steht somit nicht die Ablösung der Begriffe durch die Sinne, sondern die Analogisierung beider. Bevor man sich nun den ästhetischen Vorstellungen als solchen zuwenden kann, muss dem mathematischen Verfahrensweg zufolge zunächst die Genese von Begriffen im menschlichen Geist geklärt werden. Hierzu bedarf es eiVgl. nur die explizit angeführten – und süffisant zurückgewiesenen – möglichen Einwände gegen die Etablierung einer Philosophie der Sinnlichkeit, die sich analog zu den Regeln der Vernunft verhalte, bei Baumgarten, Aesthetica, prol., § 9: »Obi. 7) Per cultum analogi rationis, verendum est, ne quid detrimenti capiat rationis et soliditatis territorium. Rsp. a) hoc argumentum est in plus probantibus, quia idem periculum est, quotiescunque perfectio composita quaeritur, ad cautionem incitans, non neglectum verae perfectionis suadens. b) Incultum et corruptius analogon rationis non minus officit rationi severiorique soliditati.« (»Man mag einwenden: 7) Es muss befürchtet werden, dass durch die Pflege des analogon rationis das Land der Vernunft und der Gründlichkeit Schaden leidet. Ich antworte a) Dieses Argument gehört zu denjenigen, die mehr Beweisgründe haben, weil die Gefahr dieselbe ist, die, wann immer eine Vollkommenheit angestrebt wird, zur Behutsamkeit antreibt und dazu rät, die wahre Vollkommenheit nicht zu vernachlässigen. b) Ein nicht gepflegtes und recht verderbtes analogon rationis ist der Vernunft und der strengeren Gründlichkeit nicht weniger schädlich.«). 55 Diesen Aufbau hatten wir bereits in so bedeutenden Werken wie Newtons Principia mathematica kennen gelernt. Er ist, in Tradition der euklidischen Geometrie, als verbindlicher methodischer Gang einzustufen und wird bisweilen auch aus didaktischen Gründen bevorzugt. Dies lässt sich anhand von Lehrwerken wie Johann Bernhard Wiedburgs weitverbreiteter Einleitung zu den mathematischen Wissenschaften (1725) erkennen, in deren Vorrede es heißt, der Verfasser habe »die mathematische Lehr=Art beybehalten, und in allen Theilen die Definitiones prämittieret, aus diesen die Axiomata und Postolata [sic], hieraus ferner die Theuremata [sic] gezogen, und aus diesen allen die Problemata erkläret.« (Wiedeburg, Einleitung zu den mathematischen Wissenschaften, 27 f.). 54
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nes methodischen Aufbaus, der Definitionen, Axiome und Postulate logisch miteinander zu verknüpfen weiß. Vor den Begriffen wiederum sind – einer disziplinären Grundüberzeugung nach, noch die Definitionen anzusetzen, wie Wolff selbst in der Commentatio brevis über die mathematische Verfahrensweise anführt: Die Mathematiker gehen indes von den Definitionen aus; von dort schreiten sie fort zu den Axiomen und den Postulaten, in der vermischten Mathematik zu den Erfahrungen oder den Beobachtungen; über diesen bauen sie dann schließlich die Theoreme und Probleme auf. 56
Der Dreischritt, auf den Wolff hier zurückgreift, ist für die mathesis universa nichts Ungewöhnliches; auch Newton lehnte sich an diesen bereits in seinen Principia mathematica an – dort gegliedert nach der Kräftelehre (Definitiones) und der Bewegungslehre (Axiomata), anhand derer dann das große Theoriegebäude der Mechanik nach den Bereichen der Körperbewegungen (De motu corporum) und dem Weltsystem (De mundi systemate) zu errichten war. Das Vorbild hierzu findet sich bei Euklid. 57 Das bei Wolff angezeigte Verfahren der Mathematiker ist indes, was in diesem Paragraphen noch nicht ausführlich expliziert wird, auf die Entwicklung fundierter Begriffe (notiones) hin ausgerichtet. Und dies meint explizit nun auch einen Einschluss sinnlich erfassbarer Merkmale. Der von Wolff mit angeführte Begriff der mathesis mixta betont bereits terminologisch diejenige Art der Mathematik, die sich dezidiert auch mit materiellen Dingen beschäftigt. Wo nämlich die mathesis pura eine arithmetische Reihe ›eins, zwei, drei . . . ‹ betrachtet, bezieht sich die mathesis mixta auf die Körper in der uns umgebenden Wirklichkeit. Sie ist, wie Wolff selbst betont, gerichtet auf die experientiae und die observationes, mithin erfahr- und beobachtbar. Was sie zählt, ist demnach ›ein Stein, zwei Steine, drei Steine . . . ‹. 58 Was den Begriffen dann im Zuge ihrer Vermischung mit der Körperwelt zukommt, ist das Moment ihrer graduellen Unterschiedenheit respektive Unreinheit, von denen ja unsere täglichen Erfahrungen und Beobachtungen in erheblichem Maße durchdrungen sind. Daher ist zur Fundierung der mathematischen Methode, wie sie Wolff vorschwebt, auch die genaue Unterscheidung Wolff, Elementa matheseos universae, De methodo mathematica brevis commentatio, § 2: »Ordiuntur autem Mathematici a definitionibus; inde ad axiomata & postulata, in Mathesi mixta ad experientias, seu observationes, progrediuntur; his tandem theoremata & problemata superstruunt«. 57 Vgl. Euklids Elementa (3. Jahrhundert v. Chr.). 58 Zur begriffsgeschichtlichen Bedeutung der mathesis mixta, die sich vor allem didaktischen Zwecken verpflichtet zeigte und bis zu Johann Georg Büschs Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften (1795) weitestgehend deckungsgleich zur angewandten Mathematik (mathesis applicata) verwendet wurde, vgl. Lind (1992), 22–30. 56
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zwischen dunklen (obscurus), klaren (clarus), distinkten (distinctus) und vermischten (mixtus) Begriffen zu zählen. Wir sehen die Leibniz-Tradition hier in ungebrochener Gültigkeit fortbestehen. Bei Wolff finden wir nun derartige Unterscheidungsmomente – entsprechend dem im obigen Passus genannten Prozedere – aus dem Fundament der Definitionen selbst abgeleitet, die ihrerseits dann einen Übergang von den Axiomen und Postulaten zu den eigentlichen Begriffen im menschlichen Geist ausprägen. Diese Verhältnisse, die zwischen Definitionen, Begriffen und Dingen herrschen, finden sich in den anschließenden Paragraphen näher ausgeführt: §. 3. Definitionen sind indes die ersten Begriffe von Dingen, mit deren Hilfe sie untereinander abgegrenzt werden und von denen aus die übrigen Dinge, die man über sie selbst erfasst, abgeleitet werden. §. 4. Durch einen bestimmten Begriff erkenne ich eine Vorstellung einer bestimmten Sache im Geiste. §. 5. Als erster hat die Unterschiedlichkeit der Begriffe auf deutliche Weise der höchst scharfsichtige Leibniz (a) angegeben, was bis dahin hinsichtlich seiner Bedeutsamkeit nur wenige erkannten. §. 6. Freilich ist ein klarer Begriff derjenige, der dazu ausreicht, um eine vergessene Sache wiederzuerkennen, beispielsweise dass eine vorliegende Figur drei Ecken an der Zahl hat. §. 7. Dunkel ist derjenige Begriff, der nicht ausreicht, um eine vergessene Sache wiederzuerkennen; ein solcher ist beispielsweise der [sc. Begriff] einer Pflanze, bei deren Anblick man zweifelt, ob es diese ist und nicht diejenige, die man zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort gesehen hatte und der man gewöhnlich mal diesen, mal jenen Namen zuteilt. §. 8. Für klar wird ein distinkter Begriff gehalten, wenn man die Merkmale wiedererkennen kann, aus denen man die vergessene Sache wiedererkennt, beispielsweise dass ein Kreis eine Figur ist, die durch eine gerade Linie, die zu sich selbst zurückkehrt, bestimmt ist, deren einzelne Punkte vom selben Mittelpunkt gleichermaßen entfernt sind. §. 9. Ein verworrener Begriff ist klar, wenn man die Merkmale, aus denen man die vergessene Sache wiedererkennt, überhaupt nicht wiedergeben kann, wie es beispielsweise bei solchen der Fall ist, bei denen der Begriff der Farbe Rot vorliegt. 59 Wolff, Elementa matheseos universae, De methodo mathematica brevis commentatio, §§ 3– 9: »§. 3. Sunt autem Definitiones primæ rerum notiones, quarum ope inter se distinguuntur & unde, quæ de ipsis concipiuntur, reliqua deducuntur. §. 4. Per Notionem quamlibet rei cujuslibet in mente repræsentationem intelligo. §. 5. Notionum differentiam primus distincte tradidit sagacis59
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Über die Anführung Leibniz' als eines höchst scharfsichtigen Geistes (sagacissimus) ist der – zudem durch Druck in Kapitälchen hervorgehobene – Gewährsmann ausdrücklich benannt, auf den sich Wolff in seiner Katalogisierung der begrifflichen Eigenschaften beruft. Die in § 5 gesetzte Fußnote (a) verweist zudem auf die von Leibniz mit initiierte Gelehrtenzeitschrift Acta eruditorum, 60 namentlich auf Seite 537 der Ausgabe von 1684. 61 Dies entspricht genau dem Beginn von Leibniz' Aufsatz Meditationes de cognitione, veritate et ideis in der benannten Ausgabe. 62 Wolff hält sich dementsprechend auch an diejenigen Größen, die bereits Leibniz in den erkenntnistheoretischen Einlassungen seiner Meditationes verfolgt hatte. Besonders wichtig erscheint, dass wir auch hier Erkenntnis und Vorstellung eng aneinander gebunden sehen, indem beispielsweise – wie es in § 4 heißt – eine Vorstellung (repraesentatio) nicht etwa empfunden, sondern erkannt wird (intellegi) – mithin nicht etwa einer inneren bildlichen Betrachtung entspricht, wie wir es in Form einer Phantasieschau vermuten würden, die sich mit den Vorstellungen im Sinne ihrer Gestalthaftigkeit, den imagines, auseinandersetzt. Der intellectus ist also nicht mehr ausschließlich damit beschäftigt, sein Augenmerk auf abstrakte Geistesregionen und Gesetze zu richten, sondern setzt sich mit den Vorstellungen auseinander, die in der menschlichen Seele entstehen. Der methodische Gang entspricht somit streng demjenigen, den wir im vorherigen Kapitel bei Leibniz zwischen Definition, Begriff und Aussage sehen konnten. Zudem scheint hier nicht nur die Dunkelheit, sondern auch die Verworrenheit in topischer Nähe zum nescio quid zu stehen, insofern überhaupt kein Wiedererkennen (recensere) ohne Zutun des Geistes stattfinden kann. simus L EIBNITIUS: quæ, quanti sit ponderis, pauci hactenus agnoverunt. §. 6. Est scilicet Notio clara, quæ ad rem oblatam recognoscendam sufficit, e. gr. quod figura data in numero triangulorum habeatur. §. 7. Obscura est notio, quæ ad rem oblatam recognoscendam non sufficit. Talis est e. gr. plantæ, ad cujus conspectum dubitas, utrum ea sit nec ne, quam alio tempore alibi videras & cui hoc vel illud nomen tribui suevit. §. 8. Clara notio distincta habetur, si notas recensere valeas, ex quibus rem oblatam recognoscis, e. gr. quod circulus sit figura linea curva in se redeunte terminata, cujus singula puncta ab eodem puncto intermedio æqualiter distant. §. 9. Confusa est notio clara, si notas, ex quibus rem oblatam recognoscis, recensere minime valeas, utut in tales sit resolubilis: qualis est e. gr. notio coloris rubri«. 60 Deren erste Ausgabe erschien im Jahr 1682. Die Herausgeberschaft oblag indes nicht Leibniz selbst, sondern dem seinerzeit höchst prominenten Leipziger Philosophieprofessor Otto Mencke (1644–1707). Zum Stellenwert dieser Zeitschrift im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert vgl. kompakt Döring (2004) und ausführlich Laeven (1990). 61 Vgl. Wolff, Elementa matheseos universae, De methodo mathematica brevis commentatio, §§ 3–9, marg.: »In Actis Eruditorum, An. 1684, p. 537«. 62 Dies ist kein lapidarer Begleitumstand, insofern es sich dabei zum einen um die Erstpublikation handelt und zum anderen gerade die in den Acta eruditorum veröffentlichten Traktate generell mit dem größten Interesse von Seiten des Gelehrtenpublikums rechnen konnten.
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Insgesamt gelingt Wolff hierdurch eine Engführung von notio und repraesentatio, die von ihm auch 15 Jahre später in den Cogitationes rationales de viribus intellectus humani (1730) nicht fallen gelassen wird; im Gegenteil, konstatiert er doch auch dort ausdrücklich: »Einen Begriff nenne ich die Vorstellung einer Sache im Geist.« 63 Ein feiner Unterschied lässt sich in diesen beiden Kontexten allerdings darin ausmachen, dass in den Elementa der Begriff zur Erfassung einer Vorstellung im Geiste notwendig ist, also eigentlich als ein Erfassungsinstrument dient, wohingegen er in den Cogitationes rationales mit der Vorstellung geradezu identifiziert wird. In beiden Fällen aber gilt, dass eine Interaktion stattfindet zwischen dem intelligiblen Vermögen und dem Vermögen, das sich der Betrachtung der imagines verschreibt. 64 Der Verstand arbeitet mit dem Begriff einer Sache, um einer Vorstellung eine Gestalt zu verleihen, die über ihre reine sinnliche Anschauung hinausgeht. Ebendiese Interaktion erscheint nun nicht unerheblich für den neuen Konsens, der sich zwischen Mathematik und Ästhetik um 1700 bemerken lässt. Dem zugrunde liegen gewisse Abstufungen, die bezeichnenderweise nicht vom cartesischen Erkenntniskriterium der claritas, sondern genau aus der entgegengesetzten Richtung, von der obscuritas her, gedacht werden. Bezogen auf diese Dunkelheit sind sie als graduelle Intensitäten (gradu¯ s obscuritatis) beschreibbar: Es gibt aber verschiedene Grade dieser [sc. begrifflichen] Dunkelheit. Denn wenn wir einer gegenwärtigen Sache ansichtig werden, erinnern wir uns daran, dass wir in derselben [sc. Sache] viele naheliegende Dinge beobachten, die wir an anderer Stelle auf gleiche Weise sahen. 65
Dass Erkenntnis einen hohen Grad an Klarheit besitzen muss, ist nicht neu; neu ist allerdings, dass auch die Dunkelheit Grade aufweist, die in Beziehung zu den Gegenständen und deren Merkmalen zu setzen ist. Die hier angesprochenen Grade werden nun im Folgenden unter Anspielung auf ein grundlegendes ParaWolff, Cogitationes rationales, cap. I, De notionibus rerum, § 4: »Notionem appello repræsentationem rei in mente«. Der enge Zusammenschluss von Geist und Sinnlichkeit wird auch in diesem Kontext weiter ausgeführt; vgl. ebd.: »E. gr. Notio mihi est Solis, quando mihi eandem in mente mea vel sub imagine quadam repræsento[.]« (»Beispielsweise habe ich einen Begriff von der Sonne, wenn ich mir die selbige in meinem Geist oder anhand eines gewissen Bildes vorstelle[.]«) Bei den Cogitationes rationales handelt es sich um die einzige hier behandelte Schrift Wolffs, deren deutsche Fassung (Vernünftige Gedanken über die Kräfte des menschlichen Verstandes,) vor der lateinischen, nämlich 1713 (gegenüber 1730) veröffentlicht wurde. Insofern das Nachverfolgen der Begriffswahl – etwa wie hier der Gebrauch von repraesentatio –, aufschlussreich für die philosophischen Bezüge ist, wird auch in diesem Fall die lateinischsprachige Version herangezogen. 64 Dass daher die Geometrie, wie schon bei Galilei, Kepler, Descartes, Leibniz und Newton, geradezu in einen göttlichen Status gehoben wird, kann an dieser Stelle nicht mehr allzu überraschen. 65 Ebd., § 10: »Dantur autem obscuritatis hujus diversi gradus. Etenim subinde rem præsentem contuentes reminiscimur, nos multa in eadem obvia in re alibi visa itidem observasse«. 63
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digma Leibniz', dasjenige des zureichenden Grundes (sufficiens causa), nochmals ausgeführt. Begriffe sind von graduell unterschiedlicher Klarheit beziehungsweise Dunkelheit. Die Ansehung einer Sache (contueri) dient in erster Linie dazu, sie zu erhellen – der Ausgangszustand ist jedoch noch nicht vom Lichte der Erkenntnis betroffen, sondern ist selbst ein dunkler. Die Klarheit tritt also erst im Nachhinein hinzu. Dies vermag nicht zu überraschen, wenn man bedenkt, dass die Perzeptionen stets gegeben sind, die Apperzeptionen jedoch nur durch die Verstandestätigkeit, namentlich durch das Erhellen eines Gegenstandes vollzogen werden. Perzeptionen existieren demnach ohnehin stets in uns, wir werden von ihnen geradezu gespeist; Apperzeptionen sind allerdings mit dem Beobachten und Identifizieren von Merkmalen verbunden und somit eine unwillkürlich auftretende Tätigkeit des Geistes. Gegenstände erhalten ihre Abgeschlossenheit nun durch die Suffizienz beziehungsweise: ihre Unabgeschlossenheit durch die Insuffizienz ihrer Merkmale. Durch den Aspekt des Zureichenden (sufficiens) wird also in leibnizscher Manier die distinkte Erkenntnis ebenso bestimmt wie die Vollständigkeit eines Begriffs (notio completa): Vollständig ist ein Begriff, wenn die Merkmale, die erschöpfend beschrieben werden, ausreichen, um eine Sache zuverlässig zu erkennen und sie von allen anderen zu unterscheiden. Demgegenüber ist er [sc. der Begriff] unvollständig, wenn wir nicht alle Merkmale, aber wenigstens einige wiedererkennen können, durch die sich eine Sache von anderen unterscheidet. 66
Der skizzierte Leitgedanke reicht von Leibniz' Meditationes über Wolffs Elementa bis zu dessen Cogitationes rationales: Beschreiben, Erkennen und Unterscheiden gelingen anhand von Merkmalen; da es – in Tradition zu Leibniz – auch hier, in den Cogitationes rationales, um die Anzahl der Merkmale – und um eben deren Vollständigkeit beziehungsweise Unvollständigkeit – geht, wird die binär-disjunktive Auffassung von Erkenntnis endgültig zugunsten eines summativen Kriteriums verdrängt. Die Entwicklung vom binären zum graduellen Denken in der Kognitionstheorie entspricht demnach der mathematischen Verfahrensweise und ist auf die arithmetische Behandlung von Merkmalen zu beziehen. Es ist die gleiche Grundlage, die zur Schaffung konsistenter Begriffe, namentlich zur Dichotomie zwischen klaren (clarus) und dunklen (obscurus) Begriffen führt, und innerhalb der Kategorie der klaren Begriffe nochmals zu derjenigen, die zwischen distinkten (distinctus) und verworrenen (confusus) herrscht. Selbiges Prinzip wird umstandslos auch im Bereich Ebd., § 15: »Completa est notio, si notæ, quæ enarrantur, sufficiunt ad rem constanter agnoscendam & ab omnibus aliis distinguendam: ex adverso incompleta est, si notas non omnes, sed saltem aliquas recensere valemus, per quas res ab aliis distinguitur«. 66
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der Vorstellungen angesetzt, insofern Wolff eine scheinbar selbstverständliche Übertragung derjenigen Attribuierungen, die der notio und der cognitio zugeschrieben werden, auf die repraesentatio vornimmt. Diese erhält hierdurch einen stärkeren Objektcharakter, ohne dass dabei ihre ästhetischen Eingebungen verdrängt würden. Das letzte Werk in Wolffs Œuvre, in dem das prägnant zum Ausdruck kommt, die Cogitationes rationales, werden nur fünf Jahre, bevor Baumgarten seine Abhandlung Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus schreiben wird, publiziert. Es ist die oben genannte Leitlinie, in die sich Baumgarten dort offenkundig einschreibt: In den dunklen Vorstellungen sind nicht so viele Vorstellungen an Merkmalen enthalten, wie man benötigt, um sie wiederzuerkennen und sie von anderen zu unterscheiden; sie sind aber in klaren Vorstellungen (entsprechend den Definitionen) enthalten, also bewirken sie Verschiedentliches mehr zur Vermittlung sinnlicher Vorstellungen, wenn sie klar sein sollten, als wenn sie dunkel sein sollten. 67
Den Merkmalen kommt hier dieselbe Funktion zu, die wir bei Leibniz und Wolff beobachten konnten. Sie spannen das Feld zwischen Dunkelheit und Klarheit auf und werden dabei an das Kriterium ihrer Quantität (tot . . . quot) gekoppelt. Der Einfluss der Philosophie Leibniz' ist unverkennbar: Das Prinzip des zureichenden Grundes, das hier im sufficiunt anklingt, ist ebenso dazu zu zählen wie die Tätigkeiten des Wiedererkennens (recognoscere) und des Unterscheidens (distinguere), nach denen sich unsere Erkenntnis konstituiert. Bei alledem geht es Baumgarten um die Vermittlung (communicatio), die den sinnlichen Vorstellungen zukomme. Hierin ist ein neu begründeter Zusammenhang zwischen den einzelnen Seelenregionen zu vermuten; diesen genauer zu betrachten, wird an späterer Stelle noch Aufgabe eines eigenen Kapitels sein.
3.b. Der realdefinitorische Aspekt in der psychologischen Begriffslehre
Neben der Behandlung der Merkmale ist noch ein zweiter Aspekt zu berücksichtigen, der die mathematische Grundierung von Begriffen betrifft. Hierbei geht es um die realdefinitorische Bildung von Begriffen. Während sich die Nominaldefinition dadurch auszeichnet, dass bei ihr ein Begriff durch Heranziehen von Merkmalen definiert wird, die wiederum als begriffliche zu fassen Baumgarten, Meditationes, § XIII: »In repraesentationibus obscuris non tot continentur notarum repraesentationes, quot ad recognoscendum & distinguendum ab aliis repraesentatum sufficiunt, continentur vero in repraesentationibus claris (per deff.), ergo plura varia facient ad communicandas repraesentationes sensitivas, eae si fuerint clarae, quam si fuerint obscurae«. 67
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sind – ganz so, wie wir es im vorherigen Kapitel an geometrischen Beispielen sehen konnten –, geht eine Realdefinition davon aus, dass aufgrund von Erfahrungen, die wir machen, auch die entsprechenden Begriffe in uns entstehen. Wir erklären dann einen Begriff nicht anhand eines umfassenderen oder verwandten Begriffs (etwa: ›Ein Wal ist ein Säugetier‹ oder ›Eine Gerade ist eine unendliche Linie‹), sondern entwickeln ihn aus Prozessen heraus, die wir der Wirklichkeit selbst entnehmen können. Es zeigt sich darin eine gewisse Janusköpfigkeit bei der Begriffslehre. Die Nominaldefinition findet demzufolge vollständig im Geiste statt, während die Realdefinitionen auch die ›niederen‹ Wirklichkeitsbereichen mit einschließt, aus ihr sogar die entscheidenden Impulse erhält, indem sie real-analoge Vorgänge durchführt: Wenn wir in der realen Welt eine Grenze markieren, so zeichnen wir einen Strich von einem bestimmten Punkt zu einem anderen bestimmten Punkt. Diesen Vorgang können wir jedoch auch in absentia durch unser Vorstellungsvermögen beliebig oft wiederholen und erhalten hierdurch das Konzept einer Linie – nicht ›nur‹ in der schieren Wirklichkeit, sondern regelrecht vor unserem geistigen Auge. Durch den im vorherigen Kapitel beschriebenen Schulterschluss zwischen der mathematischen Methodik und der Behandlung der Vorstellungen kann auch die Ästhetik, als diejenige Wissenschaft, deren Hauptanliegen im Gegensatz zur Logik ja vor allem in der Beschäftigung mit den Sinnen und Vorstellungen besteht, mit der mathematischen Methodik, die sich mit der Entwicklung differenzierter, aufeinander aufbauender Begriffe befasst, auf eine gemeinsame Ebene gebracht werden. Insofern die Ästhetik aber stets auf einer sinnlichen Grundlage beruht, von der aus sie dann ein analogon zur vernünftigen Erkenntnis entwirft, ist ein Miteinbeziehen der realdefinitorischen Bezüge bereits aus dem Grunde geboten, dass wir hierdurch einen Weg von den Sinnen zur Erkenntnis einschlagen können, ohne die sinnliche Wahrnehmung dabei aufzugeben – und dies auf mathematisch legitimierter Basis. Eine praktische Naturphilosophie, die theoretisch in beide Richtungen – in die mathematische wie in die ästhetische – weist, kann sich demnach nicht in statischen Definitions- und Begriffsgebäuden erschöpfen, 68 sondern muss sich – wie wir in Kapitel iii.2 an prominenten Beispielen aus dem Bereich In dem Sinne, dass nur Verhältnisse zwischen Ideen vorherrschen, an denen etwa die Figuren der Geometrie unterschiedlichen Anteil haben. So können beispielsweise nach platonischer méthe¯ xis-Lehre Kreis und Kugel an der Idee der Vollkommenheit teilhaben und unterscheiden sich dabei in der Dimensionalität ihrer Repräsentationen – die nämlich in zwei (Kreis) oder drei Dimensionen (Kugel) auftreten kann. War es für Platon hierbei unzweifelhaft, dass die Kugel die Urform darstellt und selbst als Existenzprinzip für Größen wie den Eros (vgl. Plat., symp., 189d7– 193d5) heranzuziehen ist, so haben wir in Kapitel III.1.c feststellen können, dass für frühneuzeitliche Astronomen wie Galilei bereits die Annahme von Kreisen – namentlich aber in Form einer Bewegungstheorie – genügt, um einen Vollkommenheitsgedanken auszudrücken. 68
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der Naturphilosophie sehen konnten – vor allem dem Nachvollzug der Welt in Bewegung widmen. Auch hierfür liefert die mathesis universa nunmehr eine Grundierung: Es ist die Begriffsentstehung, welche die Existenz von Begriffen vorwiegend anhand eines Registers zu begründen weiß, das gerade nicht bei einem unveränderlichen Ideenhimmel, auch nicht bei den schieren Inhalten einer Formelsprache ansetzt, sondern als im menschlichen Geiste entstehbar und entstanden gedacht wird. Man kann diesen Zusammenhang leicht anhand der Differenzierung illustrieren, die Wolff hinsichtlich der beiden grundlegenden Definitionsarten (definitio nominalis vs. definitio realis) vornimmt. Eine solche Trennung wird von Wolff in den Elementa bezeichnenderweise anhand geometrischer Beispiele vorgeführt, also anhand derjenigen Teildisziplin, die so häufig von dem engen Wechselverhältnis zwischen praktischer Naturphilosophie und Mathematik Zeugnis ablegt. Hieran zeigt sich die doppelte empirische Kehrseite, die der Mathematik in ihrem universellen Sinne zukommt: §. 17. Eine Nominaldefinition ist die Aufzählung derjenigen Merkmale, die ausreichen, um eine vergessene Sache von anderen zu unterscheiden. Eine solche ist die eines Quadrates, wenn von ihm gesagt werden kann, dass es eine vierseitige, gleichseitige, rechtwinklige Figur sei. §. 18. Eine Realdefinition ist der distinkte Begriff von einer Sache hinsichtlich ihrer Entstehung, das heißt, indem er die Art und Weise, auf die sie entstehen kann, herausstellt. Eine solche ist in der Geometrie diejenige eines Kreises, wenn er dadurch erfasst wird, dass er durch die Bewegung einer geraden Linie um einen Fixpunkt herum gezeichnet wird. 69
Entweder machen wir also Bekanntschaft mit den Merkmalen einer Sache oder wir nehmen den Entstehungsprozess der selbigen wahr. Signifikant ist, dass die Realdefinitionen bezüglich ihrer begrifflichen Erfassung deutlich dynamischer zugeschnitten sind als die Nominaldefinitionen. Sie machen die Form eines Gegenstandes durch Bewegungsprozesse fassbar; in diesem Fall ist nicht mehr das arithmetische Mittel des Aufzählens (enumeratio) gefragt, sondern die über das Prinzip der Bewegung (per motum) fassbare Entstehungsart. Dies bedeutet indes nicht, dass das Benennen gegenständlicher Merkmale nicht ein probates Mittel darstellen könnte, um Gegenstände begrifflich identifizierbar zu machen; nur erschöpfen sich die menschlichen Möglichkeiten, Definitionen vorzunehmen, keineswegs darin. Vielmehr tritt die produktive Entstehung 69 Wolff, Elementa matheseos universae, De methodo mathematica brevis commentatio, §§ 17 f.: »§. 17. Definitio nominalis est enumeratio ad rem oblatam ab aliis distinguendum sufficientium. Talis est quadrati, si figura quadrilatera, æquilatera, rectangula esse dicatur. §. 18. Definitio realis est notio distincta rei genesin, hoc est, modum quo fieri potest, exponens. Talis in Geometria est Circuli, si per motum lineæ rectæ circa punctum fixum describi concipitur«.
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gleichberechtigt an die Seite des nominaldefinitorischen Verfahrens. Denn mit Blick auf die Wortwahl notio distincta lässt Wolff keinen Zweifel daran, dass diese Art der Definition denselben Erkenntniswert innehat wie die Nominaldefinitionen. 70 Was beide jedoch voneinander scheidet, ist der Aspekt des Hervorbringens (producere). In der realdefinitorischen Variante scheint das Hervorbringen eines Begriffs viel enger mit dem Entstehen (genesis) des selbigen zusammenzuhängen, als es bei der Merkmalsaufzählung der Fall war. Mehr noch, die Sache selbst wird im Zuge dessen geradezu gleichwertig zwischen ihrem Begriff und ihrer Entstehung positioniert. 71 Dass ein Begriff im Zuge seiner Entstehung bereits als Begriff fassbar wird, er also nicht aufgrund eines der Welt vorgelagerten metaphysischen Vorbaus bereits existiert und dann als bereits definitive Größe rezipiert (›erkannt‹, ›verglichen‹, ›eingeordnet‹ etc.) wird, lässt auf ein gewisses Tätigkeitsprinzip der menschlichen Seele schließen. Dieses Prinzip scheint sich gerade nicht einer intellektuellen Aufnahmefähigkeit zu erschöpfen, sondern rezeptive und produktive Facetten zu umgreifen. Fassen wir daher diesen Umstand noch etwas genauer ins Auge: Nach Wolff wird der methodische Zuschnitt des Hervorbringens von Begriffen daran entschieden, ob sich die realdefinitorische Begriffsbildung priorisch oder posteriorisch zur Erfahrung verhält. Es geht dabei um erfinderische Aspekte wie auch um die Erschließung physikalischer Zusammenhänge: §. 25. Realdefinitionen werden entweder a priori erfunden oder a posteriori deutlich. Realdefinitionen a priori wird man erfinden, wenn man aus der Zusammensetzung mehrerer möglicher Dinge, die einem deutlich sind, ein neues Mögliches hervorbringt; beispielsweise aus der Zusammensetzung einfacher Maschinen eine gewisse zusammengesetzte Maschine, von der man zuvor keinen Begriff hatte. Auch in dieser Methode wird freilich häufig etwas dem Zufall anheim gegeben. Zum Beispiel gibt es die Zusammensetzung durch die zufällige Verbindung einer teleskopischen Konvexlinse mit einer aufgedeckten Konkavlinse, wie Borelli erläutert. §. 26. Das selbige erweist sich als schwieriger, wenn aus einer gegebenen Nominaldefinition eine Realdefinition gefunden werden soll. In diesem Fall werden wir nämlich dazu angehalten, deutliche Begriffe von denjenigen Dingen zu entwickeln, die in dieser [sc. Nominaldefinition] enthalten sind; damit klar wird, Dinge welcher Beschaffenheit zur Formierung einer Sache erfordert werden, müssen wir die Erkenntnisse, die wir zuvor bereits erzielt haben, später im Geiste wieder hervorholen, um zu sehen, ob sie Im Sinne einer engen Verknüpfung der distinkten Begriffe mit der distinkten Erkenntnis, wie wir sie im Cartesianismus prototypisch vorfinden konnten. 71 Angezeigt durch die apò koinoû-Stellung »notio distincta rei genesin« (ebd.), wo rei als Genitivattribut sowohl auf notio distincta wie auch auf genesin beziehbar ist. 70
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in der Form uns überkommen, durch die man die Formierung einer Sache erfassen kann. Wird zum Beispiel in der Astronomie eine Nominaldefinition der Mondeklipse gegeben, dass sie [sc. die Mondeklipse] natürlich der Rückgang des Lichts des Vollmonds sei, so ist die Realdefinition derselben zu finden. Wir müssen also das Mondlicht und das Halbmondlicht bedenken. Sobald es eintritt, dass dieses [sc. Licht] von der Sonne gemäß gerader Linien auf den Mondkörper trifft und zur Zeit der Halbmondeklipse der Mond der Sonne diametral entgegensteht und die Erde sich daher in einer Zwischenstellung zwischen diesen zwei Körpern befindet und auf den Ort, welcher der Sonne gegenübersteht, einen Schatten wirft, so ist es nicht schwer einsehbar, dass die Mondeklipse entsteht, wenn dieser Schatten der Erde ihn trifft. 72
Es sind keine Fortsetzungen der Gegenstände im Geiste im Sinne ihres vorherigen Wirklichkeitsstatus; in den Mittelpunkt gerückt wird vielmehr das Hervorbringen des Möglichen (possibile producere). Wir verlassen mit Wolff an dieser Stelle den ontologischen Dualismus und begeben uns in den Begründungshorizont möglicher Welten. Die Fokussierung auf eine modallogische Begründungsebene gegenüber der cartesischen Aussagenlogik ist auch hier unzweifelhaft: Mit dem Möglichen (possibile) verbürgt sich für die Entstehung von Begriffen eine Größe, die wir in Kapitel ii.2 und ii.5.a in Form des δυνατόν (dynatón) als ein wesentliches Konstituens der aristotelischen Poetik kennengelernt hatten. Wurde es dort noch im Kontext der Verknüpfungen der Gegebenheiten σύστασις πραγµάτων (sýstasis pragmáto¯ n) entwickelt, so wird es hier rein meEbd., §§ 25 f.: »Definitiones reales vel a priori inveniuntur, vel a posteriori innotescunt. A priori Definitiones reales investigabis, si ex plurium possibilium, quæ tibi innotuerunt, combinatione novum quoddam possibile producis; ex. gr. ex combinatione machinarum simplicium machinam quandam compositam, cujus nullam antea habebas notionem. Et in hac quidem methodo casui persæpe aliquid datur. Exemplo est compositio telescopii per fortuitam combinationem lentis convexæ cum concava detecta, narrante BORELLO. §. 26. Difficilius idem præstatur; si, ex data Definitione nominali, realis invenienda. Hoc enim in casu notiones distinctas eorum evolvere tenemur quæ in ista continentur; ut appareat, qualia ad rei formationem requirantur; postea cognitiones jam ante acquisitas mente recolere debemus, visuri num talia succurrant, per quæ rei formationem concipere licet. Ex. gr. datur in Astronomia Definitio nominalis Eclipsis Lunæ, quod scilicet sit privatio luminis Lunæ plenæ, invenienda est Definitio realis ejusdem. Lumen igitur lunare & plenilunium meditari debemus. Ubi istud a Sole secundum lineas rectas in corpus lunare incidere, & tempore plenilunii ecliptici Lunam Soli diametraliter opponi, adeoque Tellurem duobus hisce corporibus interpositam in locum Soli oppositum projicere umbram succurrit; haud difficulter innotescit, Eclipsin Lunæ oriri, si ea umbra Terræ ingrediatur«. Mit Borelli ist der italienische Mathematiker Giovanni Alfonso Borelli (1608–1679) gemeint, der in Werken wie De vi repercussioni et motionibus naturalibus a gravitate pendentibus (1670) ein streng mechanistisches Weltbild verfolgte, demzufolge selbst Krankheitsbilder auf rein physikalische Ursachen rückzuführen seien. Diese als Iatrophysik bekannt gewordene Auffassung von der Physiologie des Menschen erfreute sich bis weit ins 18. Jahrhundert hinein einer gewissen Popularität; vgl. Eckert (2009), 131–143. 72
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chanistisch, anhand einer zusammengesetzten Maschine (machina composita), erklärt. Denn beim Bilden einer Maschine liegt für uns der Plan – wie beim Dichter und dessen Werk – vor der Realisation vor. Wir fügen dann Einzelteile zusammen, um sie in der intendierten Weise wirken zu lassen. Die Möglichkeiten der Maschine entspringen hier den Möglichkeiten der Ding-Kombinationen. Wo von Aristoteles die Kontiguität der πράγµατα (prágmata) durch die Plausibilität der Handlungsfolge – eben entlang der Kategorien des Möglichen (δυνατόν, possibile) respektive des Glaubwürdigen (πιθανόν, probabile) – begründet wurde, so geht es hier stärker um eine Form praktischer Kombinatorik, die sich mit Möglichkeiten auseinandersetzt. Galt Aristoteles das δυνατόν noch als das vor jeder Verwirklichung liegende Potential und reichte dessen Effektivität bis hin zur Einflussnahme auf die Gemütszustände des Rezipienten, so ist hier die Effektivität vor allem in komplexen Systemzusammenhängen, die für sich und zusammengenommen – eben in einer zusammengesetzten Maschine – wirken, mit angedacht. In Kapitel iv.5.a wird das possibile noch unter dem Aspekt dieser neuen Gültigkeit – die darüber hinaus eine erhebliche poetologische Wirkung zeitigt – genauer betrachtet werden. An dieser Stelle sei aber bereits festgehalten, dass auch in Form des neuen, mathematisierten und mechanisierten Naturbegriffs ein Mögliches entstehen kann. Dieses Mögliche kann hochgradig erfinderisch und investigativ sein – wenn es nämlich aus der priorischen Realdefinition heraus entsteht – oder auch – in Kombination mit der Nominaldefinition – auf merkmalsästhetischen Erkenntnissen beruhen. In der wolffschen Mathematik ist also neben der Behandlung der Arithmetik auch eine gewisse Dynamik angelegt. Dementsprechend zeigt sich eine enge Anbindung der mathematischen Naturphilosophie an die Seite einer dynamischen Philosophie: Wenn nämlich der Kreis in der Geometrie nicht als ewige, fest im Ideenreich existierende Figur gedacht wird, sondern in seiner Entstehung als Bewegung um einen Fixpunkt herum, so verhält sich dies ganz im Sinne der Rolle, welche die Mathematik seit der Astronomie Galileis und Keplers eingenommen hat – sich nämlich von der Annahme eines der Wirklichkeit vorgeschalteten, abstrakten Überbaus abzuwenden und dafür die Prozesse der physischen Welt selbst zu fokussieren beziehungsweise diese zu ihrem Ausgangspunkt zu erklären. Hierdurch lässt sich dem zu Definierenden ein höherer Wirklichkeitsgrad beimessen, namentlich ein Grad an sinnlicher Wahrnehmung. Das Resultat hieraus wird dann bei Wolff in einer sinnlichen Idee (idea sensualis) bestehen – einem Konzept, das im Platonismus eine undenkbare, weil in sich paradoxe Vorstellung, im Cartesianismus eine zumindest fragwürdige Vermischung zweier Substanzen darstellen würde; bei Wolff kann eine solche sinnliche Idee indes nicht zuletzt aufgrund der Janusköpfigkeit der mathematischen Begründung von Begriffen zu einer Leitgröße der Seelenvermögen werden.
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Am konkreten Beispiel besehen heißt dies, dass sich die Form eines Kreises nominal priorisch zu unserem Bewusstsein verhält, real jedoch von unserer Fähigkeit abhängt, ihn uns bildlich vorzustellen, ihn über das Prinzip der Bewegung regelrecht zu erzeugen. Und dieses Erzeugen ist dasjenige, was an den mittleren Seelenvermögen zuvorderst interessiert. Sie sind in Tätigkeit vorzustellen, und zwar in einer Tätigkeit, die sich in der Lage zeigt, mathematisch valide Begriffe hervorzubringen. Mit Blick auf Wolffs einflussreichstes Werk zur Psychologie, die Psychologia empirica (1732), ist es eben diese Funktion, die Wolff auch für die Einbildungskraft vorschwebt. Substantiellen Vorrang hat hierbei nun nicht mehr die geometrische, sondern die rein sinnliche Welt. Die sinnliche Idee gilt hierbei als Resultat einer sinnlichen Kraft, die bis zur immanenten Besitznahme des entsprechenden seelischen Organs führen kann: Sinnliche Ideen nenne ich [sc. solche], die durch die Kraft des Sinneseindrucks in der Seele existieren oder die der Seele wirklich innewohnen, weil bereits dieser Umschlag im Sinnesorgan auftritt. Auch kann gesagt werden, dass es diejenigen [sc. Ideen] sind, die vom Sinn in der Seele hervorgebracht werden. 73
Sinnliche Ideen sind somit keine plane Fortsetzung eines einfachen, äußeren Eindrucks, sondern werden von den Sinnen produktiv hervorgebracht (producuntur). Es handelt sich somit eben auch um Größen, die durch einen organischen Umschlag (mutatio) bewirkt werden. Es stellt sich dann die Frage, wie jenes Hervorbringen auf Grundlage der Kraft des Sinneseindrucks (vis sensationis) genauer vorzustellen ist. Wolff gibt hierauf die Antwort, indem er mit der Kraft der Einbildung (vis imaginationis) eine weitere Größe anführt, die sich dazu in der Lage zeigt, an räumlich-zeitlich verschiedenen Stellen erfasste Dinge miteinander zu kombinieren: Wenn durch die Kraft der Einbildung ein Vorstellungsbild an irgendeiner Stelle hervorgebracht wird, so geht daraus ferner ein Vorstellungsbild der Bewegungen von uns hervor oder von anderen [sc. Bewegungen], die an dieser Stelle vollzogen wurden, und aus diesen [sc. geht] ferner ein Vorstellungsbild anderer Dinge [sc. hervor], die einst nach ihnen selbst erfasst wurden. Wenn nämlich durch die Kraft der Einbildung ein Vorstellungsbild anderer Dinge hervorgebracht wird, so wird mit dem selbigen zugleich ein Vorstellungsbild mit diesem Ort der zugleich erfassten [sc. Dinge] hervorgebracht (§. 104). 74 73 Wolff, Psychologia empirica, pars I , sect. II , cap. III , § 95: »Ideas sensuales appello, quæ vi sensationis in anima existunt, seu quæ in anima actu insunt, quod jam ista in organo sensorio mutatio accidit. Dici etiam potest, quod sint eæ, quæ a sensu in anima producuntur«. 74 Ebd., § 111: »Si vi imaginationis producitur phantasma alicujus loci, ex eo porro enascitur phantasma actionum a nobis, vel aliis in isto loco perpetratarum, & ex his porro phantasma aliarum
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Es geht also darum, Vorstellungen hervorzubringen, die sich vollziehen (perpetrare) und die zu erfassen sind (percipere). Die Einbildungskraft wird als eine Kraft vorgestellt, die ständig in Bewegung ist, wie sich auch im Folgenden zeigt: Es ist die Rede von Eindrücken, in den Geist kommen (in mentem venire) vom Fortgang (successio) der Einbildung – oder dass diese auch zurücklaufen könne (recurrere) – und das Erreichen eines energetischen Zustandes (perpetrare) weiter ausgeführt. 75 Es ist somit über die Merkmalsästhetik hinaus auch die Beweglichkeit der Einbildungskraft, die über die Mathematik in das Gefüge der Seelenvermögen tritt; die Objektivierung von Figuren und Begriffen durch einen mentalen Erzeugungsprozess verhält sich dann analog zur Objektivierung von Vorstellungsbildern, die ebenfalls mental zu erzeugen sind. Priorische Realdefinitionen besitzen indes eine höhere Würde als solche, die einzig mit der gegenwärtigen Aufmerksamkeit verankert sind, die wir einer Sache respektive einem Ereignis widmen. Die Abgrenzung zur posteriorischen Realdefinition erfolgt in den Elementa matheseos in §§ 27 f.: §. 27. Realdefinitionen werden a posteriori deutlich, wenn wir der Bildung einer Sache als Gegenwärtige [sc. Anwesende] Aufmerksamkeit schenken. Beispielsweise, wenn jemand sieht, wie auf einem Feld ein Kreis gezeichnet wird, indem ein Seil um einen befestigten Stock im Kreis umher geführt wird, erfasst er [sc. der Beobachter] die Entstehung des Kreises durch die Bewegung einer geraden Linie um einen Fixpunkt. §. 28. Zu den Realdefinitionen gehört auch, dass das Zusammengesetzte seinen Ort in den Organen innehat, während es gänzlich in seine Einzelteile aufgelöst wird. Mit dieser Methode gelangt man beispielsweise zur Struktur einer bereits existierenden Maschine. 76
Halten wir also fest: Priorische Realdefinitionen werden produktiv, indem sie aus vorhandenen Möglichkeiten schöpfen und ein neues Mögliches erschaffen; posteriorische Realdefinitionen sind rezeptiv, insofern sie ein vorliegendes Reales benötigen. Der Platz ihrer analytischen Zerlegung befindet sich in beiden Fällen in den seelischen Organen. Es handelt sich um die gleiche Übertragung rerum olim post ipsas perceptarum. Etenim si vi imaginationis producitur phantasma aliarum rerum, cum eodem simul producitur phantasma aliarum rerum cum loco isto simul perceptarum (§. 104)«. Der Verweis auf § 104 spielt auf den dort verhandelten Aspekt der Erfassung eines Vorstellungsbildes in praesentia an. 75 Vgl. ebd. 76 Wolff, Elementa matheseos, De methodo mathematica brevis commentatio, §§ 27 f.: »§. 27. A posteriori Definitiones reales innotescunt, si rei formationi præsentes attendimus. Ex. gr. si quis videat in campo circulum describi, fune circa clavum fixum in gyrum acto; is genesin circuli concipit per motum lineæ rectæ circa punctum fixum. §. 28. Ad Definitiones reales quoque pervenitur, dum compositum totum in suas partes simplices resolvitur, quod in organicis potissimum locum habet. Hac ratione ex. gr. structuram machinæ jam extantis assequimur«.
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von Merkmalen und Begriffen wie bei Leibniz, hinzu kommt jedoch die realdefinitorische Dynamik der Einbildungskraft, die auf Bewegung und Empirie beruht Auch die von Wolff in § 25 angeführte Maschine, die ja als eine aus Teilen zusammengesetzte vorgestellt wird, beruft sich zuvorderst auf die Verfahren der Analytik und Kombinatorik. Es geht um das Zerlegen in einzelne Teile und das qua Kombinatorik (= Erzeugen des Möglichen) neu verfügte Zusammensetzen von Teilen. Und genau das ist die Hauptsache der Einbildungskraft. Sie verfährt nach diesem Muster, und die Gegenstände, die sie zusammensetzt, sind die Perzeptionen – wie ein Blick auf das Kapitel über die Fähigkeit des Fingierens (De facultate fingendi) in Wolffs Psychologia empirica zeigt. Sie decken nach Wolffs Auffassung den Hauptbereich der Einbildungskraft, und zwar bezogen auf deren Tätigkeiten, ab: §. 144. Die Fähigkeit, durch die Teilung und Zusammenfügung von Vorstellungen eine Vorstellung einer Sache hervorzubringen, die nie mit dem Sinn aufgenommen wurde, wird die Fähigkeit des Fingierens genannt. [. . . ] §. 145. Die Seele hat die Fähigkeit des Fingierens. Sie kann nämlich Vorstellungen teilen (§. 140) und zusammenstellen (§. 143), und in dem Maße hat sie die Fähigkeit, diese zu teilen oder zusammenzustellen (§. 29). Wenn daher bei der Teilung der Vorstellungen die teilweisen Perzeptionen von den zusammengesetzten getrennt werden (§. 139) und beim Zusammensetzen die teilweisen Perzeptionen, die sich auf verschiedene Grundlagen beziehen, so zusammengestellt werden, dass sie eine einzige zusammengesetzte [sc. Perzeption] ergeben (§. 142), so geht daraus eine Vorstellung einer Sache hervor, die zuvor noch nicht durch den Sinn erfasst wurde. 77
Es sind die Tätigkeiten des Teilens (dividere) und Zusammenfügens (componere), welche die Fähigkeit (facultas) der Einbildungskraft ausmachen. 78 Die Wolff, Psychologia empirica, pars I, sect. II, cap. IV, §§ 144 f.: »§. 144. Facultas phantasmatum divisione ac compositione producendi phantasma rei sensu nunquam perceptæ dicitur Facultas findendi. [. . . ] §. 145. Anima habet facultatem fingendi. Potest enim phantasmata dividere (§. 140) atque componere (§. 143), adeoque habet facultatem ea dividendi atque componendi (§. 29). Quare cum in divisione phantasmatum perceptiones partiales a compositis separentur (§. 139) & in compositione perceptiones partiales ad diversa subjecta pertinentes ita combinentur, ut unam compositam constituant (§. 142); phantasma sic prodit rei sensu antea nondum perceptæ«. 78 Der Anschluss dieser Denkfigur an die Philosophie Lockes ist offensichtlich und wurde auch von Seiten der Forschung häufig vertreten (vgl. etwa Specht [22007], 171). Gleichwohl sind auch die Unterschiede zu beachten: Insofern Locke eine auf sensation und reflection beruhende Unterscheidung zwischen simple ideas und complex ideas trifft, nimmt sich die Tätigkeit der Seele dort vor allem als composition, als Weg von den simple ideas zu den complex ideas, aus. Der Aspekt des Teilens füllt demgegenüber eine merklich untergeordnete Rolle aus. Wo bei Wolff Intensivierung 77
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Eigenständigkeit der Einbildungskraft wird mehr noch gerade hierdurch affirmiert. Es geht um die Teilung von Vorstellungen (divisio phantasmatum), die dann nach den Gesetzen des Möglichen neu zusammengesetzt werden können. Worauf sie dabei zurückgreifen, wird von Wolff ebenfalls klar benannt, wenn wir auf den oben angespielten Paragraphen 139 blicken, demzufolge die »Teilung von Vorstellungsbildern eine Trennung einzelner Perzeptionen von einer zusammengesetzten [sc. Perzeption]« 79 darstellt. Die Perzeptionen bilden das Substrat des oben benannten Vorgangs. Aufschlussreich für den operationalen Zusammenhang zwischen Einbildungskraft und Sinnesapparat ist der folgende Paragraph, wo es hinsichtlich der Perzeptionen heißt: Da wir ja einen Teil einer zusammengesetzten Entität getrennt von einem andern [sc. Teil] und ein Subjekt von seiner Gegebenheit getrennt vorstellen können (§. 135), so ist die Perzeption eines Teils indes in der Perzeption der zusammengesetzten Entität und die Perzeption der Gegebenheit in der Perzeption des Subjekts enthalten, und daher ist jene Perzeption der zusammengesetzten Entität und des Subjekts aber nicht weniger zusammengesetzt, als diese [sc. Perzeption] als einzelne vorliegt (§. 40); wir können einzelne Perzeptionen von einer zusammengesetzten trennen und folgerichtig Vorstellungsbilder teilen. 80
Es ist diesen Einlassungen zufolge unzweifelhaft, dass das Material, an dem sich die Teilungsfähigkeit der Seele gleichsam abarbeitet, in den Perzeptionen liegt, dass sich zudem die Vorstellungsbilder analog zu diesen verhalten, und zwar hinsichtlich ihrer Separierbarkeit. Wo der Neoplatonismus die Ur-Materie nur mit formgebenden Prinzipien zur Gestalt gebracht sah, ist es hier die Perzeption, die mithilfe der Fähigkeit des Fingierens, des Teilens und Kombinierens, zur Gestalt gebracht wird. Sahen wir die mathematisch-praktische Geometrie noch den Formen verhaftet, die zugleich ihren stofflichen und abstrakten Gegenstand darstellen, und sahen wir diese Formen immer wieder zu Teileinheiten separiert und von Neuem hervorgebracht, so konnten hierdurch die durch Analytik und Extensivierung durch Kombinatorik gewährleistet werden, führt der Weg bei Locke geradlinig von der Einfachheit hin zur Komplexität; vgl. Locke, An Essay concerning Human Understanding, 148–168. Extensive Momente sind dort auf den Bereich der reflection, intensive auf den Bereich der sensation bezogen zu denken, während bei Wolff beide seelische Tätigkeiten als mathematische Operationen auf derselben Grundlagendisziplin beruhen. 79 Wolff, Psychologia empirica, pars 1 , sect. II , cap. IV , § 139: »Divisio phantasmatum est separatio perceptionum partialium a composita«. 80 Ebd., § 140: »Quoniam partem entis compositi unam absque altera, subjectamque absque modo imaginari possumus (§. 138), perceptio vero partis in perceptione entis compositi, perceptio modi in perceptione subjecti continetur, adeoque non minus illa, quam hæc partialis est, perceptio autem entis compositi & subjecti composita (§. 40); perceptiones partiales a composita separare, consequenter phantasmata dividere valemus (§. 139)«.
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Perzeptionen in Apperzeptionen auf der bloßen Verstandesebene umgewandelt werden. Und kam der Einbildungskraft demgegenüber eine ungeklärte Rolle in Bezug auf die Übertragung der Perzeptionen in die Vorstellungswelt zu, so ist nun das Tätigkeitsprinzip benannt, nach dem dies funktioniert.
4. Psychomechanik bei Kepler, Leibniz und Wolff
Nach den bisherigen Ausführungen wird eine Theorie formulierbar, die im Paradigma der Psychomechanik zu erfassen ist. So sehr die Mathematik durch die Errungenschaften der Geometrie und Arithmetik ihren Vorrang in der Erklärung sinnlicher Begriffe behauptet, so sehr beruht auch die psychologische Ästhetik auf Vorannahmen, die aus einer mathematisch beschreibbaren Psychologie ableitbar sind. Mathematische Verfahren verweisen, wie an der facultas fingendi im vorherigen Kapitel gezeigt, auf bestimmte Tätigkeiten, derer sich die Seele in einem mechanistisch instruierten Sinne bedient. Diese Überlegungen bilden den Ausgangspunkt für den folgenden Untersuchungsteil – auch im Sinne einer Ergänzung zu bisherigen ideengeschichtlichen Beiträgen. 81 Es geht im Kern um eine Spielart der Seelenlehre, die sich vor allem aus den mathematisierten und mechanisierten Weltbildern im 17. Jahrhundert heraus entwickelt. Was dieses Bild von der menschlichen Seele demgegenüber nicht meint, sind vitalistische, 82 mystizistische, 83 pantheistische 84 oder dezidiert christliche Traditionslinien. 85 Vielmehr steht das aus der Physik tradierte Prinzip im Vordergrund, dem zufolge ein sich bewegender Gegenstand aufgrund der ihm inhärierenden Eigenschaften das Prinzip der Bewegung aus sich selbst heraus verwirklicht, wobei zunächst offen gelassen werden kann, ob er lebendiger oder nichtlebendiger Natur ist. Demnach ist die Beschreibung der 81 So entwirft Dürbeck im ersten Teil ihrer Studie Einbildungskraft und Aufklärung ein in sich differenziertes Bild von der Ästhetik um 1700 und unterscheidet dabei zwischen vier verschiedenen Konzepten von Einbildungskraft – namentlich sind dies die rein moralistische, die psychologische, die ästhetisch-moralistische und die wissenschaftlich-analytische Form (vgl. Dürbeck [1998], 13– 112). Sie fasst dabei allerdings gerade diejenige Tradition nicht so detailliert ins Auge, die sich aus der Mathematisierung und Mechanisierung des Weltbildes heraus entwickelte. Auch in den luziden Ausführungen zur Philosophie Christian Wolffs (ebd., 34–47) liegt Dürbecks Fokus vor allem auf den logico-ontologischen Implikationen, die der wolffschen Auffassung über die Einbildungskraft – sowohl in deren produktiven als auch reproduktiven Dimensionen – eingegeben sind. 82 Vgl. als umfassendste Darstellung zur Abgrenzung des Mechanizismus vom Vitalismus noch immer Bütschli (1901). 83 Vgl. hierzu Bernhart (1922), Leuba (1927) sowie die – sich gleichwohl einem recht eigenwilligen Stil verschreibende – Abhandlung von Joel (1906). 84 Vgl. hierzu Schlette (1993), Chardin (1995) und systematisch Rosenberg (2004). 85 Vgl. Hasenfratz (1986), Söling (1995) sowie den Sammelband von Breuning (1986).
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menschlichen Seele als eines mechanistisch instruierten Apparats keine metaphorische Entscheidung. Vielmehr wird die gegenständliche Bewegung per se zunehmend in Form von Tätigkeiten (operationes) gefasst. Die Vorstellungen von Gegenständlichkeit sind gerade aufgrund der Bevorzugung des Tätigkeitsprinzips, im Gegensatz zu rein materialistisch argumentierenden Philosophien, durch die Mechanik zugleich ausgedehnt und vertieft worden. Die Psychomechanik lässt sich, daran anschließend, als eine philosophische Haltung zu den Seelenfunktionen begreifen, die nicht allein über ständige Selbstverwirklichungen innewohnender Potentiale, sondern in erster Linie über operationale Prinzipien miteinander interagieren – über Aktivitäten, die mit der äußeren Welt sowohl anhand willkürlicher als auch willentlicher Akte in Verbindung stehen. Wichtig erscheint dabei vor allem folgende Grundannahme: Die Entwicklung um 1700 hin zu einem mechanistischen Verständnis der seelischen Tätigkeiten fußt, wie überhaupt die Psychologie in ihrem ideengeschichtlichen Werdegang zu dieser Zeit, mit scheinbarer Selbstverständlichkeit weiterhin auf der Lehre von den menschlichen Vermögen; und diese Lehre zeigt sich nach wie vor fest verankert in einem unhintergehbaren Naturargument, das wir bereits in Teil ii der Studie in der antiken Poetik und Rhetorik kennengelernt hatten: Der Mensch verfügt qua Natur über Anlagen, die in unterschiedlichem Grade entwickelt werden können. Zudem können sie auf verschiedene Richtungen beziehungsweise Ziele hin entwickelt werden. Die Frühe Neuzeit hat, wie wir in den Kapiteln iii.1.a–c sehen konnten, diese Ansicht aufgegriffen und um eine entscheidende Pointe ergänzt: Der Mensch kann seine eigenen Anlagen dahingehend entwickeln, auf die Natur selbst zu blicken und wird im Zuge dessen selbst zum Teil der Natur und zugleich ihr Beobachter. Wenn also die Frage nach der Psychomechanik aufgeworfen wird, so ist es dieses von der Antike und von der Frühen Neuzeit inspirierte Naturkonzept, das als Folie zu dienen hat. Zur Pointe dieses Naturkonzeptes gehört dann auch, dass die sinnliche Hinwendung, als Resultat eines scheinbar willkürlich operierenden Seelenorgans, ebenso wie diejenige Hinwendung, die auf willentlichen Entscheidungen fußt, in den Vermögen selbst angelegt sind; sie gehen zudem bestimmte operationale Verbindungen zueinander ein. Die Sinne sind, so gesehen, praktisch stets operational. Sie liefern Eindrücke, unabhängig davon, ob wir sie mit unserem Willen lenken. 86 Das Entscheidungsvermögen wiederum ist anders aufgestellt. Es kann nicht ohne andere Vermögen existieren, über die es entscheiden kann. Das Diesen willkürlichen Fortsatz der Korpuskeln hatten wir in Kapitel III.2.a als Teil der Bewegungstheorie bei Descartes kennengelernt, namentlich als Intensivierung der Sinneseindrücke, die zu seelischen Rezeptionsvorgängen wie der Wahrnehmung von Lautstärke führen. 86
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Gedächtnis wiederum operiert mit Inhalten, die sowohl dem Sinnesvermögen wie auch dem Verstand entspringen können. Der Geist hingegen behält es sich vor, über sämtliche andere Vermögen zu räsonieren, sie zu bewerten und – in seiner vorzüglichen Ausprägung – zu lenken. Mit Blick auf die Rezeption der antiken Philosophie sind daher zwei Dinge zu beachten: Einerseits erscheint über die Tradition des (Neo-)Platonismus und des Aristotelismus die Stellung des Geistes vor den sinnlich verfahrenden Rezeptionsvermögen, aber eben auch vor den mittleren Vermögen wie der Einbildungskraft oder dem Gedächtnis, unverbrüchlich verankert – selbst wenn letztere sich längst nicht nach Willkür, sondern nach bestimmten Ordnungen strukturiert zeigen. Auch der frühneuzeitliche Rationalismus lässt vom Primat des Geistes als ersten Erkenntnisorgans und oberster, ordnender Instanz der menschlichen Seele nicht ab. Dies geschieht jedoch, wie bei Descartes gesehen, bereits mit sehr unplatonisch anmutenden Begründungsmitteln, zudem zum Preis der substantiellen Entkoppelung und der daraus unfreiwillig folgenden Autonomisierung der Materie vom Geist. Andererseits muss aber auch einem neuen Umstand entsprochen werden. Wenn nämlich, wie es seit Galilei zur communis opinio wurde, der Kosmos zu einem mechanischen Gefüge wird, die menschliche Seele indessen ein Analogon zu diesem darstellen soll, so drängt sich die Frage auf, was am Menschen, abgesehen von hydraulischen und pneumatischen Kräften, wie sie sich im Blutkreislauf, im Herzschlag, in den Atmungsorganen etc. wiederfinden, überhaupt alles operationalisierbar zu machen ist. Liest man nämlich die Tätigkeiten der Seele aus einer mathematisch-mechanistischen Provenienz heraus 87 und berücksichtigt gleichzeitig diejenige Wertigkeit, die ihnen die antike Seelenlehre zukommen lässt, so muss auch eine Öffnung hin zur Neuauslegung des platonischen Kosmos mit mechanischen Mitteln sowie eine Öffnung der aristotelischen motor/mobile-Vorstellung zur reinen Dingtätigkeit hin erwogen werden. Denn die Prämissen des Platonismus und des Aristotelismus sind für diese Fragen nach wie vor als konstitutiv anzusehen: Der eine verbürgt sich für das analoge Verhältnis der Seele zum Kosmos, der andere für die Seele als Ursprung und Zweck der Bewegung – und damit als Vitalität stiftendes Prinzip. 88 87 Dies liegt nahe, da diese diskursive Verschränkung, wie in den vorherigen Kapiteln gesehen, eine bestimmende Tendenz des 17. Jahrhunderts darstellt. 88 Für Aristoteles hängt die Existenz einer Seele vom Bewegungsprinzip ab, und zwar – wie wir bereits in Kapitel II.2, vor allem bezogen auf die ποίησις und die τέχνη ποιητική, sahen – in engem Zusammenhang mit der Lehre von den Ursachen und Anfangsgründen; vgl. in unserem jetzigen Argumentationszusammenhang, in Bezug auf die Substanz der Seele, prägnant Aristot., an., 2, 4, 415b8–10: »ἔστι δὲ ἡ ψυχὴ τοῦ ζῶντος σώµατος αἰτία καὶ ἀρχή. ταῦτα δὲ πολλαχῶς λέγεται. ὁµοίως δ᾽ ἡ ψυχὴ κατὰ τοὺς διωρισµένους τρόπους τρεῖς αἰτία· καὶ γὰρ ὅθεν ἡ κίνησις, αὕτη,
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Hinsichtlich der Behandlung der menschlichen Seele tut sich in der Wissenschaftsgeschichte eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Naturphilosophie und der Psychologie auf. Wie in Kapitel iii.1.c.β gesehen, nahm die Masse im 16. und 17. Jahrhundert eine Stellung zwischen Geometrie und Physik ein. Sie sollte nicht nur geometrische, sondern auch körperliche, nicht nur mathematische, sondern auch materielle Erklärungen für die in der Welt wahrnehmbaren Phänomene liefern. Die Schlussfolgerung bestand jedoch gerade nicht in der völligen Hinwendung zu einer einzigen dieser Bezugsebenen; vielmehr wurde das Spannungsfeld zwischen den Möglichkeiten der den jeweiligen Disziplinen zukommenden Beschreibungsarten aufrechterhalten und selbst unter Inkaufnahme philosophischer Konglomerate noch zu Analogien verquickt. Sie gingen über die hergebrachten Dichotomien hinaus und gaben neue Antworten auf das Körper / Geist-Problem. 89 Als die erfolgreichste Analogie kann seit Kepler diejenige zwischen den niederen und höheren Seelenvermögen gelten. Die Beschreibung der Seele erschöpft sich demnach weder in einer rein geistigen noch in einer rein sinnlichen Dimension, sondern zielt darauf ab, beide in Form genuiner (rezipierender und hervorbringender) Tätigkeiten sowie in Auseinandersetzung mit der sinnlichen Welt (auf perzipierende und apperzipierende Weise) vorzustellen. Anders gesprochen, werden die sinnlichen Momente der Rezeption und Perzeption in dem Augenblick, in dem der Verstand sich einschaltet, in eine neue ontologische Ebene überführt. Die Seele gerät in einen produktiven und apperzeptiven Zustand, ohne ihre rezeptiven und perzeptiven Vorstufen dabei aufzugeben. Im Gegenteil, sie scheint dabei die einzige Möglichkeit wahrzunehmen, sich selbst zu erfassen. Auf solche Weise ließ sich im 17. Jahrhundert die Verschränkung der Vorstellungs- mit der Begriffswelt selbst bis hin zur Mathematik ausweiten. Formulierte die Mathematik in der Folge einen gewissen Hegemonialanspruch zur Klärung der Fragen an das Verhältnis, das zwischen den imaginationes, den notiones und dem mundus schlechthin zu herrschen habe, so beharrte der Kosmos auf seinem Urgrund der Notwendigkeit – und zwar in gegenüber der antiken Philosophie abgemilderter Weise. Der Kosmos besteht in der Frühen Neuzeit zwar auch, aber nicht nur aus kontingent waltender Materie; ebenso wenig ist er indes reiner Geist. Mithin kann aus Sicht der Vertreter einer neuen Kosmos / Seele-Analogie die Frage καὶ οὗ ἕνεκα, καὶ ὡς ἡ οὐσία τῶν ἐµψύχων σωµάτων ἡ ψυχὴ αἰτία.« (»Die Seele ist nämlich Ursache und Anfangsgrund des lebenden Körpers. Und dies wird auf vielfache Weise ausgesagt. Die Seele ist entsprechend den drei unterschiedenen Arten [sc. der Anfangsgründe] gleichermaßen Ursache: Sie ist nämlich sowohl dasjenige, woher die Bewegung kommt, als auch, weswegen diese [sc. die Bewegung] entsteht, und auch als Substanz der beseelten Körper ist die Seele Ursache.«). 89 Es sei an den christlich instruierten Epikureismus bei Gassendi, an den platonischen Aristotelismus bei Galilei oder an den intellektualistischen Mechanizismus bei Descartes erinnert.
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als überwunden gelten, ob alles in der menschlichen Seele Materie sei oder ob alles in ihr Geist sei; wir sehen vielmehr beide Dimensionen unbeschadet nebeneinander und in einem Wechselspiel befindlich. Die Sinne (sensu¯ s), als dasjenige Organ verstanden, das sich in der größtmöglichen Nähe zur Materie bewegt, übernehmen Aufgaben, die über rezeptive Funktionen hinausgehen, der geistige Apparat (intellectus) wendet sich zunehmend den scheinbar niederen Naturbereichen zu, das Vorstellungsvermögen (imaginatio) wird von den Sinnen gespeist, setzt aber zugleich Impulse für die oberen Seelenregionen frei. Die Seele profitiert durch die Ausweitung der Sensualität in die höheren Regionen und die gleichzeitige Rückkopplung erkenntnistheoretischer Paradigmen an die Sinne, weil die damit verbundenen Paradigmen nicht nur als einflussreicher als noch im Platonismus gedacht werden, sondern auch als umfassender. Sie verfügt als komplexer Apparat über Quantitäten, Qualitäten und Grade; ihre quantitativen Momente werden in diesem Zusammenhang nicht allein als Kriterium der naturwissenschaftlichen Beschäftigung verwendet, sondern bedingen die Möglichkeiten des perpetrare und penetrare. Die durch die Sinne bezeugte Nähe der Seele zur körperlichen Welt bezeugt zugleich die Durchdringung der Seele selbst. Daher ist die Fortentwicklung mechanistischer Begriffssysteme anhand der Bestrebungen nachzuzeichnen, die die menschliche Seele in einem weithin kosmologischen Rahmen als eine in sich operationale Entität sehen wollen. Die grundsätzliche Annahme, die sich hierzu aufstellen lässt, kann schlicht lauten: Eine sich auf Operationalisierbarkeit gründende Psychologie findet ihre Anfangsgründe in der Weltsicht der Astronomie. Denn diese hatten wir bei Galilei und Kepler als Disziplin kennengelernt, die einen universellen Erklärungsanspruch in Form der allgemeinen Harmonie (harmonia generalis) vertrat und sich dabei streng auf physikalische Beobachtungen (observationes) stützte. An den Stellen, an denen bei Galilei der Kosmos platonisch-kugelförmig gedacht wurde und die mechanischen Bewegungen der Kreisbahn entsprachen und wo bei Kepler die neoplatonische Trägheit zu einem mechanistischen Prinzip, und zwar zu einer selbst-retardierenden Tätigkeit innerhalb eines massierten Körpers fortentwickelt wurde, trat zugleich der Synkretismus aus dem älteren und dem neueren Naturbegriff zu Tage. In der Zusammenführung der Sphärenastronomie mit der physikalischen Körperwelt wurde dementsprechend beides bedient: die antike Kosmologie und das mechanistische Weltbild. Hieraus ergeben sich einige Schlussfolgerungen für das neue Verständnis von Psychologie, die im Folgenden zunächst am Beispiel Keplers nachvollzogen werden sollen. Kepler wird in diesem Sinn als der erste Vertreter der frühneuzeitlichen Psychomechanik aufgefasst. In der Darstellung seiner Lehre soll sich, insofern der (Neo-)Platonismus den wichtigsten antiken Einfluss auf Keplers Philosophie
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darstellt, zuerst an dasjenige gehalten werden, was in Kapitel ii.3.b bei Platon als Ausgangspunkt der seelischen Neigung zur Verwirklichung des Guten festzustellen war – die Kraft der Sonne (δύναµις ἡλίου). 90
4.a. Keplers Fortentwicklung der platonischen δύναµις ἡλίου
Kepler astronomisches Pendant zur platonischen δύναµις ἡλίου ist die species immateriata. Sie stellt bei Kepler die häufigste Bezeichnung für die von der Sonne ausgehende Kraft dar, von der aus dann auch die Bewegungen der Himmelskörper als weitere Kräfte fassbar werden. 91 Zudem kann sie nicht Denn dort spielte dieses Konzept eine vorrangige Rolle bei der Entfaltung des Guten im ideellen Sinne (ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα). Ein solches Konzept geht bei Platon selbstredend nicht von der Welt der Phänomene aus, sondern kann seinen Ursprung nur in der Welt der Ideen haben. Das platonische Sonnengleichnis eignet sich dennoch überraschend gut, um die Brücke zwischen antikem Idealismus und neuzeitlichem Naturbegriff zu schlagen: Wie die Sonne bei Platon mit ihrer eigenen Existenz zugleich die Bedingungen ihrer Erkenntnis schafft (als Ursprung des Lichts, mit dessen Hilfe wir sie selbst überhaupt sehen können), so fasst der neuzeitliche Mensch die Natur als zweigliedrig auf (als durch die Natur Geschaffenes und in der Folge als Beobachter der selbigen). Die Natur ist mithin Gegenstand der Betrachtungen und Stifterin der Betrachtungsmöglichkeiten. Die vornehmliche Rückführung der Kraft auf eine seelische Tätigkeit und der umgekehrte Fall, woraus dann analoge Eigenschaften beider Bereiche resultieren, stellt keinesfalls eine Idiosynkrasie in der Philosophie Keplers dar, sondern scheint einerseits einem auf die Antike rückführbaren Desiderat zu entsprechen sowie andererseits einen gewissen Zeitgeist aufzugreifen – vgl. prominent Gilbert, De Magnete magneticisque corporibus et de Magno Magnete tellure, lib. V, cap. XII: »Vis magnetica animata est, aut animatam imitatur, quae humanam animam dum organico corpori alligatur, in multis superat.« (»Die magnetische Kraft ist beseelt oder sie ahmt eine beseelte [sc. Kraft] nach, welche die menschliche Seele in vielem überragt, solange sie einem organischen Körper angebunden ist.«) Eine solche Gedankenfigur, die wir im ersten Standardwerk zum Magnetismus vorfinden, befindet sich indes bis in den Begriffsgebrauch hinein noch ganz in Einklang mit derjenigen Auffassung von Mechanik, die bei Del Monte und dessen Schülern festzustellen war – der zufolge es ja vor allem ihre Aufgabe sei, die Gesetze der Natur nachzuahmen (imitari) oder gar zu übertreffen (superare). 91 Vgl. die hohe Rekurrenz dieses Begriffs in der ersten und zweiten Auflage des Mysterium cosmographicum (1596, 1621), im Traktat De fundamentis astrologiae certioribus (1601) und in den Harmonices mundi Libri (1614). Die species immateriata ist nicht als ›Schein‹ im Sinne einer bloßen phänomenalen Repräsentation eines Körpers aufzufassen, sondern als Emanation einer göttlichen Kraft, die von einer Entität ausgeht; vgl. Duncan (1981), 15: »Kepler sometimes uses species in its ordinary senses to mean ›appeareance‹ or ›kind‹. However, in the particular phrase species immateriata, which he uses for instance in note 4 to chapter 16 [Mysterium cosmographicum; D. B.] and in note 3 to chapter 20 [Mysterium cosmographicum; D. B.], in the second edition, he clearly means something akin to the Neoplatonic sense of an emanation flowing from God«. Wie die Sonne als essentielle Kraft im platonischen Sonnengleichnis wirkt, so wirkt hier die astronomische Sonne auf ihre Planeten. Das so aufgefasste Verhältnis eines Muttersterns zu seinen Trabanten ist nicht zuletzt als eine erste Hinwendung zu einer Krafttheorie in Keplers Philosophie – gegenüber dem bis dahin vorherrschenden Primat der Bewegung – einzustufen; vgl. hierzu Dijksterhuis (1956), 354: »In diesem Punkte [mit Abschluss der Beobachtung der Marsbahn in ihrem Verhältnis zur 90
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nur für die Gültigkeit mathematischer Prinzipien im Sinne ihrer materiellen Verwirklichung einstehen, 92 sondern ist darüber hinaus als attraktiv für die Entwicklung der Psychologie im Sinne einer Lehre von Vermögen und Fähigkeiten einzustufen. Dies gilt auch unter der Prämisse, dass diese Lehre sich terminologisch nicht immer eindeutig verhält. Denn eine facultas ist nicht auf ein einziges Pendant im Deutschen reduzierbar: Bald kann sie, um im Kontext der keplerschen Philosophie nur die wichtigsten Bedeutungen zu nennen, für eine Fähigkeit, bald für ein Vermögen einstehen. Diese Ambiguität ist bereits in der antiken Lexik bezeugt, 93 braucht aber keine Schwierigkeiten zu bereiten, wenn man die stipulative Entscheidung trifft, ›Fähigkeit‹ spezifischer und ›Vermögen‹ allgemeiner zu fassen. Die Fähigkeiten werden mehr von dem anschaulich gemachten Resultat her, 94 die Vermögen von den innewohnenden Kräften 95 her gedacht. Was gleichwohl aus mechanistischer Sicht sowohl für Vermögen als auch für Fähigkeiten feststeht, ist die Grundüberzeugung, dass sie vorwiegend über ihre Tätigkeiten in Erscheinung treten – und dies macht es wiederum erforderlich, dass sie auf theoretischer Ebene ebenso über das begriffliche Tableau der Mathematik und Mechanik sichtbar zu machen sind. Das Vermögen wird in solchen Fällen praktisch wie eine Tätigkeit behandelt. Betrachten wir nun als erste Tätigkeit diejenige der genannten species immateriata, so scheint sie sich zuallererst auf die Materie selbst zu richten. 96 Bei Sonne; D. B.] setzt die dynamische Betrachtungsweise wieder ein. Kepler versucht, eine physikalische Ursache für die bisher unerklärliche Tatsache zu finden, daß der Planet, nachdem die von der Sonne ausstrahlende und mit dieser sich drehende species ihn erfaßt hat, nicht einfach mit konstanter Geschwindigkeit einen Kreis um die Sonne durchläuft. Er findet eine solche in einem eigenen inneren bewegenden Vermögen des Planeten, wodurch dieser einen Epizykel um einen ungleichförmig um die Sonne rotierenden Punkt beschreibt«. 92 Vgl. zu diesem Funktionsaspekt die konzisen Einlassungen bei Hübner (1975), 235 f. 93 Georges (81998), s. v. »facultas«, 2671 führt beide Bedeutungen an: »das inwohnende Vermögen [. . . ], Befähigung«. 94 Vgl. Keplers geometrisch instruierte Einlassung, die vom Geist ausgehende Fähigkeit des vernünftigen Überlegens (facultas ratiocinativa) sei nichts anderes »als ein Kreis« (Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV, cap. V, 140: »nisi circulus«). 95 Vgl. etwa die facultas formatrix, die als eine von innen heraus wirkende Gestaltkraft Entitäten Form und Struktur verleiht. Die antiken Bezugsgrößen hierfür hatten wir vor allem in der Vermögenslehre der Rhetorik und Poetik kennengelernt. Dort waren es Natur und Naturanlage (natura, ingenium), die als formgebendes Vermögen in Erscheinung traten. 96 Das Präfix in bedeutet hier offenbar keine Negation – das wäre, mit Blick auf die ohnehin immaterielle Natur einer göttlichen Kraft, ein schierer Pleonasmus – als vielmehr die Richtung, die zu veranschlagen ist: ein in die Materie hinein beziehungsweise auf die Materie hin entwickelter Impuls zur Bewegung. Vgl. hierzu die ausführliche und mit guten Querverweisen versehene Begriffsdiskussion bei Rabin (2005), 50: »It should be noted that immateriatus does not necessarily mean ›immaterial‹. In a verb the prefix ›in‹ does not necessarily mean ›not‹; it can also mean ›into‹. And there is a precedent with this participle that uses the latter sense, although it is highly unlikely that Kepler knew it. Thierry of Chartres, comparing the study of theology, or divine subjects, to
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einer solchen Betrachtung bleibt es allerdings nicht; vielmehr schlägt sich auch ihre noetische und sinnliche Kraft im Sinne einer bewegenden Seele (anima motrix) nieder. Die Linie führt uns somit von der species immateriata hin zur anima motrix, dann jedoch wieder – wie Kepler es in der zweiten Ausgabe des Mysterium cosmographicum von 1621 festhält – zur species immateriata, 97 mithin zum antiken Platonismus zurück. Besehen wir jedoch zunächst die neue Verbindung, die zwischen Kosmos und Mensch herrscht. Als epochemachendes Beispiel hierfür können Keplers Harmonices mundi Libri (1619) gelten. Keplers Grundidee besteht darin, dass die belebte wie die unbelebte Welt von Bewegungen in geometrischer Anschaulichkeit durchdrungen ist. 98 Sie lässt sich demgemäß als Kreis (circulus) fassen, als dessen Zentrum der Geist (mens) selbst zu gelten hat: [S]o ist der Geist die Grundlage, die Quelle und der Ursprung der vernünftigen Überlegungen. Die Fähigkeit der Seele besteht wiederum im Verstand wie auch im [sc. gedanklichen] Durchlaufen, schließlich auch in der sinnlichen [sc. Fähigkeit]; sie bilden ein gewisses Zentrum; die Fähigkeiten der bewegenden Seele the study of nature, wrote about theology: ›It lacks matter, because, obviously, it was never made into matter [immateriatur] and never changed through motion‹. It would be absurd to translate inmateriatur as ›immaterial‹. Kepler completed most of the manuscript of the New Astronomy in 1605, though it was not published until 1609. He did not change the phrase in the New Astronomy, but already by 1606 he seemed to modify his ideas about the nature of the species in a way that made immateriatus closer to the way in which Thierry meant it. In a letter to Samuel Hafenreffer he compared it to ›emanations from a magnet‹, which are ›attenuated over a longer distance‹. This contradicts outright his previous assertion in the New Astronomy that ›nothing of this power is lost in travelling from its source, nothing is scattered between the source and the movable body‹. If the species loses its power over distance, it is hard to classify it as immaterial«. 97 Vgl. hierzu Krafft (1991), 211: »However, in regard to the central anima motrix of the Sun he [Kepler, D. B.] remarks in the second edition of the Mysterium (1621) that here anima is to be replaced by species immateriata of the Sun, providing thereby in brief the essential content of his celestial physics (physica coelestis), which will be repeated in the Astronomia Nova and in the Epitome astronomiae Copernicanae (Liber IV)«. 98 Im Kosmos muss sich laut Kepler eine Seele befinden, die sich in den Einzelseelen der belebten und unbelebten Körper niederschlägt; ihre Rezeptionsfähigkeit und Denktätigkeit erlangt sie durch Teilhabe an der geometrischen Strukturierung der Welt, wobei die Seele in geometrischer Hinsicht selbst Punkte und Kreise ausprägt. Schwaetzer widmet sich dieser Gedankenfigur in seiner Studie über den Zusammenhang zwischen Keplers Seelenlehre und Wissenschaftsverständnis, dessen Grundlage »die metaphysische Erzeugung von Kreis und Sphäre [ist], die in Überwindung der quantitativen Statik durch die Vermittlung der Schöpfungsquantität Krumm und Gerade in der Bewegung denkender Anschauung Evidenz gewährleistet. Das Konzept der metaphysischen Erzeugung fußt auf Keplers Überlegungen in der Seelenlehre. Kepler bestimmt die Form der Seele als Kreis und Punkt. Die Idee entnimmt er der Formierung der Seele im Moment der Geburt durch die spezifischen winkeldifferenzierten Lichtstrahlen der Planeten. [. . . ] Das methodische Bindeglied ist also die metaphysische Erzeugung, die ein Bewußtseinsprinzip der Selbstsetzung darstellt.« (Schwaetzer [1997], 12 f.).
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jedoch [sc. bilden] einen Kreis. Weil wiederum, so wie ein äußerer Kreis um ein Zentrum herum gelegt wird, auch die Tätigkeit nach außen hin [sc. gerichtet] ist, wird die Erkenntnis und das Nachdenken im Inneren vollendet, und wie ein Kreis sich zum Punkt verhält, so verhält sich auf gewisse Weise eine äußere Bewegung zur inneren Betrachtung und die seelische Bewegung zur sinnlichen Wahrnehmung. 99
Die seelischen Funktionen gehen Beziehungen zueinander ein, die einerseits platonisch instruiert sind – wenn etwa Geist (mens) und vernünftige Überlegungen (ratiocinationes) zu den wichtigsten Bestandteilen der Seele erklärt werden –, andererseits aber durch die neue Dignität der Innerlichkeit erst zur Vollkommenheit gelangen (perficitur intus). Die Tätigkeit ist demzufolge keine bloß äußerlich befindliche, sondern vielmehr nach außen gerichtet. (operatio ad extrà). Kepler illustriert dieses Modell anhand beigefügter Skizzen. Die geometrische Setzung der Seele als Kreispunkt wird hier ebenso zur Darstellung gebracht wie die Auseinandersetzung des Geistes mit dem umgebenden Kosmos, namentlich anhand pentagraphisch angeordneter Linien. Wie die weiteren Skizzen zeigen, wird die Betätigung des Geistes in der Folge in immer größeren Zusammenhängen gedacht. Dabei nimmt die Figur des Polyeders eine zunehmende Rolle ein:
Abb. 5: Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. iv, cap. v, 140 [Figura xi]
Abb. 6: Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. iv, cap. v, 140 [Figura xii]
Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV, cap. V, 140: »[S]ic Mens ratiocinationum basis, fons, & origo est. Rursum omnis hæc Animæ facultas tàm Intellectus, quàm Discursus, denique etiam Sensitiva, sunt Centrum quoddam; at facultates Animæ motrices, Circulus: quia rursum ut circulus externus circumponitur centro, sic operatio ad extrà est, cognitio meditatioque perficitur intus, & ut circulus ad punctum, sic quodammodò se habet Actio externa, ad Contemplationem internam, motus animalis ad sensionem«. 99
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Es lässt sich hieran zum einen erkennen, dass die kosmische Gesamtgestalt nach wie vor als Kugel vorzustellen ist, 100 zum anderen aber auch, dass die Annäherung an die Erkenntnis des Kosmos schrittweise, auf exzentrischen Bahnen erfolgt. Die Polyeder werden in ihrer Assimilation an den Gesamtkosmos geometrisch immer weiter verfeinert, der Kreis ist der Zielzustand der Erkenntnis. Bei alledem behält die menschliche Seele ihre zentrierende Stellung bei. Es handelt sich also auch auf den exzentrischsten Bahnen noch um ein Wechselspiel zwischen interner und externer Welt. Die ursprünglich im Inneren veranschlagte Tätigkeit des Geistes wird auf einem geometrischen Tableau ausgebreitet und dadurch extensiviert. War die harmonische Architektur des Kosmos, die sich in dessen wohlgeordneter Struktur niederschlägt – anhand einer Vorstellung von Proportionalität, die dem Universum eingegeben ist – bereits eine grundsätzliche Entscheidung der Renaissance-Philosophie und setzte sich diese Auffassung nicht zuletzt in zahlreichen Betrachtungen zur Kunst durch, 101 so geht Kepler in den Harmonices mundi Libri über das plane Festsetzen einer Weltharmonik hinaus, indem er auch die psychologischen Vermögen behandelt, die in der Lage sind, derartige Proportionen überhaupt zu erfassen. Dieses Vorgehen befindet sich im Einklang mit der frühneuzeitlichen Denkfigur, der zufolge es nicht mehr ausreiche, die Welt als eine vom Menschen unabhängige, ja entgrenzte zu beschreiben, sondern den Menschen als dezidierten Teil der Natur zu betrachten und dementsprechend in die naturphilosophischen Beschreibungen und Erklärungen mit einzubeziehen. Es kreist daher nicht mehr alles allein um die Frage, welche Eigenschaften Gott zukommen müssen, um genau diesen Weltenbau, wie er sich uns in den vorliegenden Gegebenheiten darbietet, zu schaffen; vielmehr steht zur Rede, wie es dem Menschen gelingen kann, die Natur kognitiv zu erfassen und sich gleichzeitig selbst als einen Teil von ihr zu begreifen. Zum einen wird also die Ausbreitung des Universums zu einer Größe erklärt, die sich in proportional gegliederten Quantitäten ausdrückt, zum anderen wird die menschliche Psyche als Apparat verstanden, der sich in intensivierender Weise, unter Aufbietung seiner Kräfte, ebendiese mathematischen Proportionen in sich aufnehmen kann. Die Seele bemächtigt sich also der Natur, um dann wiederum deren natürliche Kehrseite zu bilden. Wir haben es demzufolge mit einer zweifachen Neubewertung von Tätigkeiten und Strukturen der seelischen Fähigkeiten zu tun: 100 Im Gegensatz zu ihren elliptischen Teilsystemen, wie sie sich in den Planeten-Umlaufbahnen ausdrücken. 101 Hierzu gehören etwa Da Vincis Trattaro della pittura (postum 1651), außerdem die Kunstauffassungen Filaretes, Paciolis, di Giorgios und Palladios (I Quattro libri dell’ archittetura); vgl. zu diesem Komplex Chojecka (1972).
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Es gibt aber eine zweifache Fähigkeit hinsichtlich der harmonischen Proportionen, die eine durch das [sc. gedankliche] Durchlaufen, als mentale, oder gleichsam [sc. als mentale], die andere als tätige [sc. Fähigkeit]; und die mentale [sc. Fähigkeit] ist wiederum zweifach, entweder [sc. ist sie] nämlich darauf aus, die Proportionen selbst aus den abstrakten Quantitäten heraus ausfindig zu machen oder [sc. sie ist] darauf aus, die Aufmerksamkeit auf ausgewählte Proportionen in den sinnlichen Dingen zu richten. Die Fähigkeit also, die den Grund der Proportionen aufspürt, ist die selbige, die auch die übrigen Wissenschaften und Künste umfasst, nämlich der obere Teil des menschlichen Geistes. Denn hinsichtlich Gott weiß dieser [sc. Geist] nichts, wie wenn er etwas mit mühevollem Durchlaufen aufspürt, sondern er weiß es von Ewigkeit her. 102
Die von der Seele ausgehende Tendenz, harmonische Proportionen zu erfassen, 103 richtet sich substantiell durchaus auf die sinnlichen Dinge (res sensibiles). Schon in den Ausführungen zur anima motrix war der Einschluss der sinnlichen Fähigkeit (facultas [. . . ] denique etiam sensitiva) in die Tätigkeiten des Geistes auffällig. Sie tut dies im hier aufgeworfenen Kontext bereits deswegen, weil es um quantitative Ausbreitungen geht – und ruft dadurch doch wieder verbindliche platonische Prämissen auf: Denn die Fähigkeit, den harmonischen Proportionen auf den Grund zu gehen (rationem indagare) ist nach Kepler nur im oberen Teil der Seele, in den facultates superiores, vorzufinden. Der operative Prozess zur Annäherung an die quantitativ ausgebreiteten Proportionen ist demnach zwar als Fähigkeit im Menschen verankert und zum Erfassen der Proportionen in sinnlicher Hinsicht notwendig; das niedere Seelenvermögen soll – wie Kepler an anderer Stelle sagt – die »Sinne [. . . ] informieren.« 104 Ebendiese Aufgabe wird indes klar vom gedanklichen Durchlaufen (discursus) geschieden, das dem Menschen zu einem tieferen Verständnis der Weltharmo-
Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV, cap. II, 121: »Duplex autem facultas circa harmonicas proportiones existit, altera per discursum, mentalis, vel quasi, altera operativa: & mentalis quidem rursum duplex, aut enim inventiva proportionum ipsarum ex abstractis quantitatibus, aut agnitiva seu animadversa electarum proportionum in rebus sensilibus. Facultas igitur quæ indagat rationes harmonicas, est eadem, quæ & reliquas scientias artesque complectitur, Animi scilicet humani pars superior. De Deo enim hîc nihil, ut qui non discursu & studio quippiam indagat, sed scit ab æterno«. 103 Das Erfassen ist hier in beiden Dimensionen, der Hinwendung des Intellekts und der Aufmerksamkeit, gedacht, wie sich an den Attribuierungen des entsprechenden Seelenteils mit agnitiva (zu agnoscere) und animadversa (zu animadvertere) ersehen lässt, und dies bereits aus der antiken Lexik heraus; vgl. Georges (81998), s. v. »agnosco«, 201: »etw[as] nach seinem wahren Wesen oder nach seinen Merkmalen als das, was es ist, erkennen« und ebd., s. v. »animadverto«, 337: »den Geist-, Sinn-, seine Aufmerksamkeit auf etwas richten, aufmerken«. 104 Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV , cap. III , 226: »sensus [. . . ] informans«. 102
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nie verhelfen könnte. 105 Dementsprechend ist auch von abstrakten Quantitäten die Rede (quantitates abstractae), aus denen die Proportionen erst in konkreter Form heraus zu entwickeln seien. Es ist klar, dass hiermit nur die Geometrie gemeint sein kann und als die sie umfassende ars beziehungsweise scientia die Mathematik zu gelten habe. Diejenige Seelenkraft, die sich mit der Tiefe der harmonischen Proportionen auseinandersetzt, jenes gedankliche Durchlaufen, ist dieselbe, die sich mit Wissenschaften und Künsten (scientias artesque) beschäftigt. Dadurch wird sie geradezu zu deren Konstituens. Die grundsätzliche Geschiedenheit der beiden Sphären von sinnlicher Aufmerksamkeit und rationaler Ergründung wird mit einem Gemeinplatz aus der platonischen Ideenund Gotteslehre bekräftigt, nämlich damit, dass auch die Frage nach dem Höchsten, nach Gott (Deus), natürlich nur in der Kategorie der Ewigkeit (aeternum) zu denken sei – einer gänzlich unsinnlichen Größe. 106 Und doch zeigt sich hier eine bemerkenswerte Fortentwicklung der Vermögenslehre, die über das affirmative Behandeln eines (Neo-)Platonismus hinausgeht: Kepler erklärt die Ewigkeit nicht zur unverbrüchlichen Eigenschaft der Ideen, sondern zum Urgrund eines Seelenvermögens, das sich in seinen Tätigkeiten verstetigt. Eine solche Psychomechanik spielt sich mithin im Dialogfeld zwischen antiker und frühneuzeitlicher Philosophie ab. Und Kepler geht dabei noch weiter: Um eine möglichst genaue Übereinstimmung, eine operationale Analogie zwischen den seelischen Fähigkeiten und der äußeren Welt herzustellen, erscheint es ihm erforderlich, den menschlichen Willen (voluntas) und die Natur (natura) für sich begrifflich zu sondern, aber beide im selben Zuge unverbrüchlich im Menschen als Kraftursachen für bestimmte Fähigkeiten zu verankern. Ein solcher Naturbegriff entfernt sich insofern von der allzu strengen platonischen Vorstellung einer Essenz, als er den Schulterschluss mit der Kraft- und Willenslehre eingeht. Ausgeführt wird dies – ebenfalls im zweiten Kapitel des vierten Buchs der Harmonices mundi Die seelische Tätigkeit des discurrere ist als eine geistig-klare Methodik vorzustellen, wie sie laut Kepler »die Philosophen pflegen«. (Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV, cap. II, 121: »ut Philosophi solent«) Ein solcher Wortgebrauch wird von Kepler bisweilen auch in HendiadyoinForm, etwa als discurrere et universaliter comprehendere vorgebracht und ist durch die RenaissancePhilosophie, insbesondere durch Vertreter des Aristotelismus, erheblich vorgeprägt; vgl. Pomponazzi, Tractatus de immortalitate animae, cap. IX, 90: »Quapropter potest intellectus reflectere supra seipsum, discurrere et universaliter comprehendere, quod virtutes organicae et extensae minime facere queunt[.]« (»Deswegen kann der Intellekt über sich selbst reflektieren, [sc. Dinge] durchlaufen und auf allgemeine Weise erfassen, was die organischen und ausgedehnten Kräfte nicht imstande sind zu vollführen.«). 106 Die christliche Theologie ist hierin ebenfalls mit einbegriffen, nimmt jedoch – gerade mit Blick auf den weiteren Kontext der Harmonices mundi Libri – gegenüber den (neo-)platonischen Referenzen eine untergeordnete Rolle ein. 105
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Libri – im Zusammenhang mit den energetischen Fähigkeiten, die der Seele innewohnen: Nun nämlich komme ich zu den energetischen Fähigkeiten, die sich mit den harmonischen Proportionen beschäftigen. Auch diese [sc. Fähigkeit] ist eine zweifältige: Denn entweder ist sie in sich selbst tätig oder in den Dingen außerhalb ihrer selbst, indem sie sich aus eigener Tätigkeit den Proportionen angleicht oder indem sie diese [sc. Proportionen] in jene [sc. genannte Fähigkeit] überführt. Und jene ist freilich einer passiven [sc. Fähigkeit] ähnlich; diese wird [sc. aber] unstrittig im Tätigsein ausgeübt. Jene ist wiederum ein Sprössling der unteren, diese einer der oberen Seelenvermögen. Jene unterliegt den Kräften der Natur, diese dem Willen des Menschen. 107
Dass der originale Drucktext die Substantive »Facultates«, »Animê« und »Naturê« sowie das Adjektiv »Harmonicas« im Gegensatz zu den anderen hier auftretenden Nomina groß schreibt, ist keine bloße Zufälligkeit, sondern bildet bereits eine Grundaussage ab, um die es Kepler geht: Die seelischen Vermögen des Menschen sind mit scheinbarer Selbstverständlichkeit nur im engen Zusammenhang mit der Natur und der Weltharmonie zu denken; sie verbinden sich zu einer Welt (mundus) und Seele (anima) umspannenden Aussage. Die Analogiebildung trennt somit die natürlichen Kräfte von den seelischen, um sie dann wieder zu nobilitieren. Die Fähigkeiten, die der Seele hier zukommen, werden nach bestimmten binären Begriffspaaren aufgespannt, die ganz dazu geeignet sind, sich in die Topologien neoplatonischer Provenienz einzuschreiben. Sie treten in intrinsischen (in se ipsâ) und extrinsischen (in rebus extra se) Operationen hervor und werden im Zuge dessen orthogonal geordnet nach niedrigeren (inferiores animê facultates) und höheren Fähigkeiten (superiores animê facultates). Auf der vertikalen Ebene sehen wir also die platonisch-aristotelische Psychologie in voller Gültigkeit, während wir auf der horizontalen Ebene ein Nebeneinander von Naturkräften (naturê vires) und willentlicher Freiheit (voluntas) erkennen können – einer Freiheit, die in Abgrenzung zur Junktur passivae (sc. facultati) similis durch ihre aktive Selbsttätigkeit bestimmt Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV, cap. II, 123: »Nunc enim ad energeticas Facultates venio, quæ circa proportiones Harmonicas occupantur. Est haec quoque duplex: nam aut in se ipsâ est operosa, aut in rebus extra se, utrinque assimilans opa sua proportionibus, aut inducens has in illam. Et illa quidem passivæ similis est, ista citra controversiam in agendo exercetur, illa inferiorum Animê facultatum rursum est soboles, ista superiorum: illa Naturê viribus subest, hêc voluntati hominis.« Das ohne Heranziehung des Kontextes unverständliche haec est duplex ist hier auf die seelische Fähigkeit (facultas) zu beziehen, insofern die Diskussion der facultates animae den Hauptgegenstand der bereits angeführten, vorangehenden Passage ausmachte, die mit »Duplex autem facultas circa harmonicas proportiones existit« analog eingeleitet wurde. 107
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ist und sich dementsprechend in der Lage zeigt, die harmonischen Proportionen in die Seele von selbst zu überführen (inducens). Legen wir die bisher diskutierten Textstellen Keplers synoptisch nebeneinander, zeigt sich eine Geschlossenheit, in der das Mannigfaltige, Natur- und Menschenkräfte, zur Einheit, nämlich zu einer kosmologischen Psychologie, gebracht wird. Die Harmonik, die Kepler vorschwebt, wird in einem den Kosmos und den Menschen selbst durchdringenden Sinn gedacht. Sie geht nicht in den platonischen Ideen auf, auch nicht in der Geometrie allein, sondern manifestiert sich in Kräften, Fähigkeiten und Tätigkeiten. Die Seele wird sowohl in ihren mathematischen als auch in ihren tätigen Dimensionen gedacht, und dies simultan. Sie ist in sich den göttlichen Proportionen angeglichen und kann sie in sich überführen; nach Kepler stellt letzteres, mehr noch, genau ihre genuine und willentliche Tätigkeit dar – wohingegen das Angleichen eher rezeptiv denn produktiv erscheint. Es ist somit der Überführungsprozess, der als Bewegungsform mit metaphysischem Anspruch gelten kann – als eine mechanistischmetaphysisch gefasste Form, wie wir sie in Kapitel iii.2.b bereits an einem wichtigen Rezeptionspunkt zwischen Aristoteles und Leibniz kennengelernt hatten, dort jedoch in Form der Verwirklichung von Potentialen und nicht in deren Betätigung. Mögen auch die keplerschen Bestimmungsweisen grosso modo wie eine neuzeitliche Form platonischer Kosmologie unter den Vorzeichen des mathematisch-mechanistischen Weltbildes anmuten, namentlich indem Seele, Kosmos und Kraft zu neuen begrifflichen Einheiten, der anima motrix beziehungsweise der species immateriata, gebracht werden, so wird an dieser Stelle die antike Philosophie explizit auch noch in einer weiteren Hinsicht fruchtbar gemacht: Nach Proklos – der für Kepler fraglos die entscheidende spätantike Referenzgröße in den Harmonices mundi Libri, aber auch darüber hinaus darstellt – 108 sind mathematische Paradigmen im Geiste in intellektualer (νοερῶς, intellectualiter), in der Seele selbst, die hier in einem umfassenderen Sinne aufgefasst wird als der bloße νοῦς/intellectus, indes in lebendiger (ζωικῶς, vitaliter) Weise ausgeprägt. 109 Es handelt sich dabei um eine innewohnende Kraft, deren Urgrund im menschlichen Willen (voluntas hominis) zu verorten ist. Passivität und Tätigsein stehen daher gar nicht mehr Insbesondere dessen Euklid-Kommentar; vgl. ebd., 105, marg. Die intensive Rekurrenz auf Proklos gründet sich neben dessen herausragender Rolle eines neoplatonischen Vermittlers zwischen Mathematik und Physik auch auf der Kritik, die Kepler gegenüber dem ptolemäischen Weltbild hegt und mit Proklos teilt. Spätantike und Frühe Neuzeit gleichen sich daher an diesem Punkt in ihrer Distanzierung zu Ptolemäus – Proklos durch seine eigenen mathematisch-geometrischen Überzeugungen, Kepler durch die Bevorzugung des kopernikanischen Weltbildes. 109 Vgl. ebd., 105, marg. 108
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so sehr im Widerspruch zueinander, sondern werden über die Fähigkeit der Seele (facultas animê), die zugleich rezeptiv (occupantur) und selbsttätig (inducens) gefasst wird, in eine regelrechte Synchronizität geführt. Eine derartige Konfiguration intellektual-repräsentativer und vital-tätiger Kräfte weist sich hier nun als die entscheidende Analogie zum Prinzip der bewegenden Seele (anima motrix) aus. Ebendiese fungiert ja im Rahmen der keplerschen Planetenlehre als eine Kraft, die von der Sonne ausgeht und die Planetenbahnen beeinflusst; 110 sie wird in den Harmonices mundi Libri noch recht zurückhaltend und geradezu indifferent als eine »gewisse Kraft« 111 bezeichnet. Und selbst wenn hier wenig Spezifisches vorzufinden ist, so ist Kepler doch gerade durch die Veranschlagung einer bewegenden Kraft, deren Analogon in der mit einem Willen (voluntas) versehenen menschlichen Vitalkraft liegt, als ein Naturphilosoph einzustufen, der den neoplatonischen Form / Materie-Antagonismus in die Richtung einer neuzeitlichen Psychologie zu modifizieren versucht. 112 Denn das Festhalten an der Harmonielehre findet spätestens durch Kepler, zumal durch die Rekurrenz auf die spätantiken Archivkontexte mit besonderem autoritären Gewicht versehen, nicht nur wieder prominenten Eingang in die Kosmologie, sondern wird – wie an der De Deo enim hîc nihil-Phrase gesehen – geradezu als ein zentrierendes Begründungsmoment des Anteils der menschlichen Seele am Göttlichen erachtet; und diese Anteilnahme erscheint weder bloß aktivisch noch bloß passivisch, sondern mehrgliedrig; sie ist produktiv und zur selben Zeit Erkenntnis vermittelnd; in dieser operativen Janusköpfigkeit erscheint sie selbst-perzeptiv und repräsentativ. Sie öffnet gleichsam die Tür für Konzepte wie die vis repraesentativa beziehungsweise vis characteristica, die in der Leibniz-WolffPhilosophie als die in der Mitte der Seele zu verortende Kraft auszumachen sind. Da nun die eine Seite der anima motrix eine intellektualistische Hinwendung zum abstrakten Proportionsdenken erfüllt, 113 muss die Geometrie dementsprechend eine unverändert große Rolle spielen – es ist also auch dann primär von Geometrie die Rede, wenn es darum geht, die proportionale ArEin solches Prinzip lässt sich in einer gewissen Tradition zu Scaliger und der scholastischen impetus-Lehre verorten. Darauf, dass es sich hierbei auch um eine unausgesprochene Kritik an denjenigen Auffassungen über Transzendenz handelt, die der Aristotelismus auf den Kosmos überträgt, weist Bialas (2004), 88 f. hin. 111 Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV , cap. II , 122: »quædam vis«. 112 Vgl. hierzu die Einlassungen von Jammer (1957), 87–91. Zur grundsätzlichen Genese der anima motrix aus der impetus-Theorie heraus und ihrer Emanzipation von dieser vgl. Bialas (2004) 90–92. 113 Denn sie bildet den geometrischen Mittelpunkt unserer Galaxie, unabhängig davon, ob es sich bei den Bahnen der sie umlaufenden Planeten nun um Kreise oder um Ellipsen handelt. 110
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chitektonik des Universums zu erfassen. Auf der anderen Seite wird die Seele als eine aktuale Bewegungskraft (motrix) eingestuft und ist als solche mit der Wirklichkeit verbunden. Nimmt man diese Aspekte zusammen, wird die Seele verständlich als ein tätiges Prinzip (anima operosa) in ihren inneren und äußeren Betätigungen, in ihrer intellektualen Abstraktionskraft und schließlich in ihrer Assimilationsfähigkeit an den göttlich proportionierten Kosmos; denn Assimilieren impliziert beides: ein vorgeprägtes Muster und die Tendenz, sich diesem Muster anzupassen. Auffällig ist dabei, dass Kepler sich dann ab den 1620er Jahren zusehends dazu angehalten sieht, die Seele (anima) mit dem Begriff der Kraft (vis) schlechthin gleichzusetzen. 114 Mag auch dieser Begriff bei Kepler noch nicht sonderlich fundiert aufscheinen, sondern eher im Vagen (quædam vis) gehalten werden, so ist doch sein Erklärungsziel eindeutig: Die menschliche Seele soll vermehrt durch einen Kraftbegriff erklärbar gemacht werden, eine dynamische Betrachtung an die Seite einer rein kinematischen Betrachtung treten. 115 Es wird somit ein Erneuerungsanspruch verfolgt, ohne diesen bereits mit einem spezifischen Inhalt ausfüllen zu können. Die philosophische Sprache, in der das geschieht, erscheint in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch nicht hinreichend modifiziert, um eine befriedigende Antwort auf die Erfordernisse einer dynamischen Naturphilosophie bereit zu stellen. 116 Was in den Harmonices mundi Libri jedoch sehr gut funktioniert, Am ausdrücklichsten wohl in der zweiten Auflage des Mysterium Cosmographicum von 1621, wo Kepler, über seine Astronomia Nova reflektierend, anmerkt: »Wenn man anstatt des Wortes ›Seele‹ das Wort ›Kraft‹ setzt, hat man genau das Prinzip, worauf die Himmelsphysik in den Marskommentaren errichtet ist und in den vier Büchern der Epitome Astronomica ausgearbeitet worden ist.« (Kepler, Mysterium cosmographicum, 176: »Si pro voce anima vocem vim substituas, habes ipsissimum principium, ex quo Physica Coelestis in Comment. Martis est constituta et lib. IV Epitomes Astr. exculta.«) Auf die Tragweite dieser terminologischen Entscheidung weist Brush (2011), 164 hin: »Während Kepler 1596 [in der ersten Auflage des Mysterium Cosmographicum; D. B.] von einer bewegenden Seele im Mittelpunkt der Planetenbahnen, also in der Sonne, sprach, ersetzte er 1621 das Wort ›Seele‹ (anima) durch das Wort ›Kraft‹ (vis). Dieser Wechsel der Terminologie von ›anima‹ zu ›vis‹ signalisierte ein neues Stadium der Entwicklung der Naturwissenschaft. Zwar kann das lateinische ›vis‹ im übertragenen Sinne eine geistige oder moralische Kraft bezeichnen, aber die Grundbedeutung des Wortes weist auf Körperkräfte oder Streitkräfte hin. Darum eignete es sich in besonderer Weise für den neuen, mechanischen Kraftbegriff der Naturwissenschaft«. 115 Dieses Programm befindet sich in Einklang mit dem naturwissenschaftlichen Beschreibungsanspruch, den Kepler in der Astronomia Nova (1609) verfolgt, insofern er es nicht bei den reinen Bewegungsgesetzen belassen möchte, sondern nach einem Prinzip sucht, das noch ›hinter‹ den Bewegungen stehe; vgl. die treffenden Ausführungen hierzu bei Dijksterhuis (1956), 344: »Dieser Titel [Astronomia Nova; D. B.] bedeutet ein Programm: Kepler wird sich nicht mit der kinematischen Beschreibung der Himmelsereignisse zufrieden geben, sondern er wird versuchen, auch die Ursachen zu erforschen, wodurch sie zustande kommen; der Kinematik wird er eine Dynamik des Himmels hinzufügen«. 116 Eine derartige Ersetzung, als bloße Ersetzung, kann zunächst noch keinen signifikanten Erkenntnisfortschritt bedeuten, wie Dijksterhuis (1956), 347 betont: »Kepler ersetzt also Seele durch 114
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ist die Aufschlüsselung der Seelenvermögen nach den Mustern der antiken Kosmologie analog zur frühneuzeitlichen Erkenntnislehre. Eine prinzipielle Gleichrangigkeit der oberen und niederen Seelenteile lässt sich dabei in Äußerungen wie den folgenden erkennen: Ferner sind die Mittel, von denen diese niederen Fähigkeiten der Seele Gebrauch machen, um die Harmonien der äußeren Dinge zu erfassen, dieselben, mit denen sie auch die Objekte selbst innerlich erfassen. Wenn sie sinnlich sind, werden sie auch mit den Sinnen erfasst, nämlich mit den Fähigkeiten der Seele, welche die Sinne informieren, die auch selbst nicht weniger als der höhere [sc. Sinn] mit dem Vergleich bestimmter Dinge beschäftigt sind, dies aber durch Eingebung, nicht durch das [sc. gedankliche] Durchlaufen. 117
Das Gegenüberstellen von innerer und äußerer Objektwelt, von höheren und niederen Fähigkeiten sowie von rationaler und sinnlicher Erkenntnisebene ist in seiner rhetorischen Prägnanz bemerkenswert. Es führt in der Summe allerdings dann doch zu einem distinkten Merkmal, das zwischen den seelischen Aktivitäten anzusetzen sei: zu einer intuitiven Eingebung (instinctus) gegenüber einem rationalen Reflektieren (discursus) – eine ganz ähnliche Trennung, wie wir sie zwischen der facultas sensitiva und der facultas ratiocinativa vorfinden konnten. Somit wird zugestanden, dass die Aufnahme äußerer Objekte durch die inneren Sinne mit dem Erfassen äußerer Harmonien durch die äußeren Sinne prozedural in eins fällt (media [. . . ] sunt eadem). Das Vergleichen (comparatio), ein genuines Argument und eine Urtätigkeit der platonischen Kraft. Ändert sich dadurch nun wirklich viel? In gewissem Sinne natürlich nicht. Seele ist ein unbekanntes Agens, dessen Existenz angenommen wird, um ein gewisses Verhalten lebender Körper zu erklären. Kraft ist ein unbekanntes Agens, dessen Existenz angenommen wird, um ein gewisses Verhalten lebloser Körper zu erklären. Fest steht in beiden Fällen nur das Verhalten. Man erhält keine tiefere oder richtigere Einsicht, indem man seiner unbekannten Ursache diesen oder jenen Namen gibt«. Bei allen berechtigten Einwänden kann diese Einlassung nicht ganz unwidersprochen bleiben. Die Seele ist im 17. Jahrhundert alles andere als ein »unbekanntes Agens«, wie Dijksterhuis meint, sondern eine durch die antike Philosophie hochgradig determinierte und mit spezifischen Funktionen versehene Größe. Mithin ist die Kraft, die von ihr ausgeht, keine unbestimmte, sondern auf die Vitalität des von ihr affizierten Körpers und auf dessen potentielle und aktuale Zustände hin ausgerichtet, auf aktive und rezipierende Kräfte. Es ist daher der bereits zitierten Meinung von Brush zuzustimmen, dem zufolge die Etablierung einer vis gerade auf dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Entwicklungswege des 16. und 17. Jahrhunderts eine wichtige Funktion zur Einbettung der menschlichen Seele in bestehende kosmologische Systeme leistet. 117 Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV , cap. II , 122: »Porrò media, quibus utuntur istæ facultates Animæ inferiores ad percipiendas harmonias externorum, sunt eadem quibus & externa ipsa objecta introrsum recipiunt. Si sensilia sunt, sensibus etiam percipiuntur, facultatibus sc. Animæ, sensus informantibus, quæ & ipsa non minus quàm superior, in comparatione versantur rerum certarum, sed id instinctu, non discursu«.
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Ideenlehre, 118 wird den sich unterhalb der ratio befindlichen inneren Seelenteilen überantwortet – unter der Prämisse, dass jener Vergleich von Objekten im niederen Seelenbereich eben ›nur‹ durch Eingebung stattfinden könne. Der Platonismus ist also in der Innenwelt angekommen, aber er bleibt dadurch ein Platonismus, dass er das sinnlich-willkürlich operierende Moment gegenüber dem verstandesgemäßen Agieren noch in die Schranken weist. Die mathematischen Proportionen sind zugleich Grundlage und Ausdruck ebendieses Prozesses: Sie stellen das Objekt des Erkennens dar und entfalten eine Repräsentationskraft der seelischen Tätigkeiten, namentlich im Prozess des formare. Im Akt des bildenden Ausdrückens treffen sich daher Repräsentation und Produktion, Assimilations- und Übertragungskraft. Daraus lässt sich ableiten, dass es um unterschiedliche Aspekte geht, die einen Eindruck der Welt in der menschlichen Seele hinterlassen, mithin die Seele zu unterschiedlichen Tätigkeiten anregen. Hierin liegt zugleich die Analogie zwischen der Selbstdurchdringung der menschlichen Seele und ihrer nach außen gerichteten Welterkenntnis, wie Schwaetzer richtig beschreibt: In der wissenschaftlichen Aspekterkenntnis sind die beiden bewußten Fähigkeiten [die Fähigkeit des Assimilierens und die Fähigkeit des selbsttätigen Übertragens; D. B.] gleichsam in ständiger Bereitschaft, die instinktiven Vermögen wahrzunehmen, um dann die entsprechenden Konstellationen zu vergleichen. [. . . ] An diesem Vorgang läßt sich wieder der Umschlag von der Innenerkenntnis zur Außenerkenntnis ablesen. Während die reine Innenerkenntnis im Bereich der bewußten Fähigkeiten verblieb und diese auf ihren Ursprung zurückführte, muß nun jeder weitere Schritt nach innen, der sich mit den unbewußten Fähigkeiten befaßt, zugleich nach außen führen, um anhand des Verhältnisses von Innen und Außen durch die jeweiligen Resultate oder »Werke« sowohl eine Selbsterkenntnis als auch eine Welterkenntnis vollziehen zu können. Die instinktiven Fähigkeiten sind nicht anders aufzudecken, als indem man sich nach außen wendet. 119
Die Mittel der niederen und höheren Fähigkeiten, derer man sich bedient, um die innere und äußere Objektwelt zu erfassen, können – wie von Kepler 118 Vgl. Plat., Phaid., 74a2–76a8, zur festen Verankerung der Idee der Gleichheit in der platonischen anámne¯ sis-Lehre ganz besonders 75c7–d6: »Οὐκοῦν εἰ µὲν λαβόντες αὐτὴν πρὸ γενέσθαι ἔχοντες ἐγενόµεθα, ἠπιστάµεθα καὶ πρὶν γενέσθαι καὶ εὐθὺς γενόµενοι οὐ µόνον τὸ ἴσον καὶ τὸ µεῖζον καὶ τὸ ἔλαττον ἀλλὰ καὶ σύµπαντα τὰ τοιαῦτα; [. . . ] ῎Εστι ταῦτα.« (»Wenn wir sie [sc. die Erkenntnis des Gleichen] also vor unserer Geburt empfangen haben und in ihrem Besitz geboren worden sind, so erkannten wir nicht nur das Gleiche und das Größere und das Kleinere, sondern derartiges insgesamt? [. . . ] So ist es.«). 119 Schwaetzer (1997), 139 f.
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vertreten – durchaus konsistent als identische behauptet werden; ein Vorbehalt gegenüber der erkenntnistheoretischen Valenz, die ersteren zugesprochen werden sollte, bleibt dessen ungeachtet bestehen. Nachhaltigen Aufschluss über die Verfasstheit der Welt liefern uns die oberen Vermögen allein. Die Erkenntnis der Erkenntnisvermögen (zu denen nunmehr eben auch die facultates inferiores zählen) bedeutet in Analogie zum platonischen Sonnengleichnis eine Standpunkteinnahme der Seele zu sich selbst; bei Kepler wird dies nun in mechanistischer Manier, als Anwendung einer inneren Fähigkeit auf die extensiv ausgebreitete, extrinsisch vorgelagerte Welt vorgeführt. Die frühneuzeitliche Natur mit ihren mathematisch-quantitativen Merkmalen erweist sich als analog zu einer Seele, die sich proportional assimilieren kann. Diese Proportionen sind ebenfalls mathematisch beschreibbar. Halten wir an dieser Stelle aber auch einige wichtige Aspekte fest, die – etwa im Unterschied zur wolffschen Mathematik – noch überhaupt nicht ausgeprägt sind: Die Mathematik ist noch nicht mit den Naturdingen völlig ›vermischt‹ beziehungsweise ›universell‹ zu nennen, sondern bleibt auf ihrer erkenntnistheoretischen Seite den oberen Seelenregionen verhaftet. Die Auflösung der Vorstellung einer zweigeteilten Seele in ein mentales und ein sinnliches Vermögen zugunsten einer Merkmalsästhetik hat noch nicht stattgefunden; dementsprechend mutet die Neigung des Menschen zur höheren Sphäre intellektualer Inhalte noch sehr verbindlich, ja unter dem Blickwinkel der von Kepler herangezogenen antiken Referenzgrößen (Platon, Proklos) geradezu als das älteste bezeugte Modell an; weder steht eine mit Graden (gradu¯ s) argumentierende Modallogik à la Leibniz zur Debatte, noch ist die obscuritas bereits als relevante Größe in die Seelenlehre eingeführt worden. 120 Stattdessen scheint zuverlässig das platonische Erkenntnislicht. Allerdings scheint es nunmehr auch in Seelenbereichen, die nur noch mittelbar etwas mit der ratio zu tun haben. Der Ausgangspunkt der genannten Tätigkeiten ist – wie in der komplexen Beschreibung des seelischen Apparats gesehen – also nicht mehr ›nur‹ bei Gott, sondern beim Menschen in dessen Auseinandersetzung mit dem Kosmos selbst zu suchen. Mag auch die Welt von kontingenten Zuständen ihrer Körper durchdrungen sein, so bleibt die Unterbrechung der Kontingenz qua eigenständiger Geistestätigkeit für Kepler unverbrüchlich im menschlichen Willen verankert. Der Wille scheidet, wie die Harmonices mundi Libri gezeigt haben, den Menschen vom Tier und ist eben nicht als rohe Naturkraft zu verstehen. Wie der Körperwelt Eigentätigkeiten zugestanden wird, so wird der Dies bildet zu dieser Zeit noch geradezu das Gegenprogramm zur auf Klarheit abzielenden Mechanik, wenn man an den Mystizismus und dessen Festhalten an einer im Verborgenen stattfindenden, ›okkulten‹ Erkenntnislehre denkt. 120
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menschlichen Seele Selbsttätigkeit zugestanden. Was sich bei diesen doppelten Zuschreibungen an die Geistes- und die Körperwelt scheinbar nicht verhindern lässt, ist die Entfremdung von einem ehemals peripatetisch gedachten Vermögensbegriff: Zum einen steht der Voluntarismus dem Akzidentellen durch seine Eingriffsmöglichkeiten in die Kontingenz regelrecht im Wege; zum anderen ist sein Bewegungsgrund ein willkürlicher. Kepler verlagert gewissermaßen die menschliche Seele von der Ebene des reinen Vermögens (δύναµις) auf die Ebene der Energie (ἐνέργεια). 121 Denn Tätigkeiten, die sich auf die Erfassung des Kosmos richten und in dieser Erfassung zugleich die Tätigkeit der Seele selbst widerspiegeln, sind energetisch zu denken und erschöpfen sich nicht in Potentialen. Daraus ergibt sich auch eine neue Architektur der menschlichen Psyche: Der Wille ist kein mittlerer, gleichsam von der Vernunft zu bändiger Seelenbereich mehr, wie er in Platons Politeia 122 oder im Wagengleichnis des Phaidros 123 wirkmächtig vorgeführt wurde. Er ist viel umfassender, da er sich in gleichem Maße ausdehnt, wie die Seele umfassende Aufgaben übernimmt. Erwägen wir das neue Problem, das sich auftut, wenn man den Willen zum Urgrund der Aktivität nimmt. Die Verwirklichung des freien Willens in der Körperwelt (›Ich beschließe, mit meiner Hand einen Stein anzustoßen‹) ist umstandslos als eine materielle, als eine quantitative (›Die Hand legt einen Weg zurück, um den Stein zum Anstoß zu bringen‹) sowie als eine mechanische aufzufassen (›Der Stein wird von mir bewegt und bringt in der Folge wiederum andere Steine ins Rollen gemäß der Masse und Trägheit dieses Steins sowie der Masse und Trägheit der anderen Steine‹). Die Reaktionsweisen in der Körperwelt sind in diesem Sinn durch die mechanischen Gesetze präzise und umfassend beschreibbar; denn die mechanische Bewegung inhäriert den Gegenständen in deren kontingenten Weltzusammenhängen. Es kann also beides, eine den Körpern spezifisch zukommende Bewegungsform und die Ausweitung des Tätigkeitsprinzips auf die geistige Welt, unbeschadet nebeneinander bestehen bleiben. Die körperlichen Bewegungen haben andere Ursachen als die geistigen; der freie Wille stellt zwar selbst keine Naturkraft dar, wird aber – wie das SteinBeispiel zeigt – in den Bereich der Naturkräfte entlassen; die Naturkräfte selbst befinden sich ab dem Punkt des Anstoßes also in eigener Tätigkeit, und zwar 121 So sagt Kepler, dass zahlreiche Philosophen in der anima telluris eine δύναµις sehen wollen, er selbst sie jedoch »eher als Energie [denn als Vermögen] bezeichnen wolle.« (Kepler, Harmonices mundi Libri, lib. IV, cap. VII, 163: »[quam alij δύναµιν], ego lubentiùs ἐνέργειαν nominaverim.«). 122 Dort vor allem als muthafter Seelenteil (θυµός) gefasst, der den Wächtern (φυλάκες), der mittleren sozialen Gruppierung des Staates, zukomme; vgl. Plat., Pol., 4, 439e2–441c3. 123 Dort aufgefasst als muthafter Seelenteil (θυµοειδές) an der Seite des begehrenden Teils der Seele (ἐπιθυµητικόν), wobei beide – jedenfalls in einer gut eingerichteten Seele – vom vernünftigen Teil (νοῦς) zu lenken sind; vgl. Plat., Phaidr., 246a3–249d3.
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solange, bis der Wille wieder eingreift (›Ich beschließe, den zweiten angestoßenen Stein mit meiner Hand anzuhalten, um einen Steinschlag zu verhindern‹). Es geht also um zwei Tätigkeiten, die sich dem Anschein nach nur schwerlich mit dem Aristotelismus vereinbaren lassen. Der menschliche Wille vermag es, Entscheidungen zu treffen, die die materielle Wirklichkeit betreffen, er hat sozusagen das Potential, die Körperwelt zu verändern. Er hat aber nicht das Potential, sich über die mechanischen Gesetze zu erheben. Zum aus dem Cartesianismus bekannten Problem des Substanzenübergangs gesellt sich das Problem der Überführung einer (geometrisch repräsentierten) Potentialität 124 in eine (physikalische) Aktualität. Was zur Auflösung dieses Problems benötigt wird, ist nicht mehr die Aktualisierung von Potentialen, sondern ein weiteres Mal das Prinzip der Operationalität. 125 Was zur Beschreibung der Tätigkeit benötigt wird, ist dann nicht mehr das Bewegungsquantum, sondern Kraft. Begriffsgeschichtlich gesprochen, formt Kepler Platons δύναµις ἡλίου zur anima motrix um, überträgt also ihre Potentialität auf die anima und codiert diese in der Folge zur vis um. Die Seele kann sich auf ihre Selbsttätigkeit aus eigener Kraft heraus berufen. Ebenso kann sie sich, freilich nur durch die Unterstützung des Platonismus und Aristotelismus, weiterhin auf ihre kosmologische Einbettung verlassen. An dieser Stelle ist in Erinnerung zu rufen, dass die sich mit Kräften befassende Psychologie ganz erheblich auf zwei grundlegende Entwicklungen der Frühen Neuzeit berufen kann: zum einen auf die Verinnerlichung kosmologischer Kräfte, zum anderen auf die Sublimierung ebendieser Seelenlehre zum Zwecke, die bei Descartes hoch gehaltene und als alleiniger Erkenntnisgrund gefasste ratio in ihrer Rolle als Erkenntnisinstrument zu relativieren, sie zumindest im Sinne der Selbstperzeption mit den Sinnen rückzukoppeln. Wir vertiefen in der weiteren Betrachtung zunächst den ersten Aspekt, denjenigen der Interiorisierung, bevor wir dann mit Leibniz und Wolff weitere Beispiele für die Ausweitung des Tätigkeitsprinzips betrachten werden.
4.b. Die psychologische Bedeutung der intima rerum
Wie in Kapitel iii.1.c.α beschrieben, ist die Verschränkung von Natur- und Selbstbeobachtung des Menschen erheblich von einer zweifachen Auffassung von Innerlichkeit geprägt, dem Inneren der Natur und dem Inneren der Dies betrifft beide Bereiche, den körperlichen wie den geistigen. Der Vorschlag von Schwaetzer (1997), 41, FN 94, den aristotelischen ›Akt‹ mit ›Aktualität‹ zu ersetzen – und analog dazu ›Potenz‹ mit ›Realität‹, geht nicht weit genug, da Aktualität vor allem eine Eigenschaft beschreibt, die als ›aktiv hervorbringende‹ nicht auf den operationalen, von Kepler selbst affirmierten Urgrund der Tätigkeit verzichten kann. 124 125
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menschlichen Seele. Treffend hierzu ist das Diktum Leinkaufs zum Naturbegriff des 17. Jahrhunderts, demzufolge alle qualitativen, Form-bestimmten Unterschiede aus dem Bereich des Seins der äußere Natur in den des inneren Erscheinens dieser Natur in einer wahrnehmenden, empfindenden Seele verlagert werden müssen. 126
Die von Leinkauf benannte Verlagerung der Naturformen vom Natur- in den Seelenbereich zeigt eine ideengeschichtlich bedeutsame Entwicklung für die Rollen an, die den Wahrnehmungen und Empfindungen als Konstituenten der psychologischen Ästhetik zugewiesen werden können. Die Selbsttätigkeit umfasst demnach nämlich nicht nur die Tätigkeiten des Geistes, sondern auch das Empfinden der Seele. Wahrnehmen und Empfinden sind indes Prozesse, die traditionellerweise von der quantitativen Welt ausgehen, der Körperwelt. 127 Es handelt sich mithin um eine Tätigkeit, die ursprünglich an der ausgebreiteten Wirklichkeit geschult wurde und nunmehr, beim Zusammenschluss von Natur und Seele, dazu herangezogen wird, qualitative, die Form betreffende Unterscheidungsmöglichkeiten in den Apparat der Seele selbst mit aufzunehmen. Das an der Objektwelt beobachtete Prinzip der Tätigkeit findet sich nun in der menschlichen Seele wieder. Die daraus hergeleiteten Objekte können selbstverständlich keine körperlichen mehr sein, sondern sind in einem vergeistigten Sinne vorzustellen. Die Chiffren hierfür haben wir bereits im Zusammenhang mit der mathesis universa kennengelernt: Es sind die Merkmale (notae), über die die Aufnahme gelingt, und es sind die Begriffe (notiones), die dann aus ihnen hergeleitet werden. Sie vererben sich ihre Eigenschaften, sobald sie den Raum der Seele betreten haben, wechselseitig. Die Merkmale gewährleisten indes nicht nur die Beschreibung eines Objekts, sondern auch dessen Wiedererkennung. Sie sind dementsprechend auch mit Seelenteilen wie dem Gedächtnis und dem Vorstellungsvermögen befasst. Begriffe wiederum können aus Merkmalen hergeleitet werden und daher auch prinzipiell einen sinnlichen Urgrund enthalten. Sinne, Gedächtnis, Einbildungskraft und Verstand interagieren dadurch in durchdringender Weise. Entscheidend ist allerdings nicht nur diese Durchdringung, sondern auch das neue Verhältnis, das dadurch zwischen Seele und Natur vorliegt: Das Innere der Natur verhält sich unter dem Gesichtspunkt ihres Wiedererscheinens anhand der seelischen Empfindung gleichartig zum Inneren der Seele. Die Merkmale und Begriffe können nun zwar als Trägergrößen dieses Prozesses firmieren; sucht man aber nach einer Instanz, die ebendiese Analogie in Form der von Leinkauf benannten Verlagerung, eben 126 127
Leinkauf (2000), 409. Wir empfinden Wärme an einem Körper und nehmen Distanz zu einem Körper wahr.
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in Form einer Tätigkeit, zu gewährleisten imstande ist, so führt der Weg im 17. Jahrhundert – wie wir bereits an der Ersetzung der anima durch vis bei Kepler gesehen haben – mit einiger Bestimmtheit zu den Kräften hin. Leinkauf stellt in diesem Zusammenhang – ohne dabei indes auf Kepler einzugehen – eine dieses Jahrhundert umfassende Grundüberzeugung heraus, nämlich daß das Lebendige, Aktive und Wirkliche in der körperlichen Natur als ein ›Inneres‹ oder besser als innerer Bereich zu denken sei, in dem Prinzipien oder Kräfte gestalten und gesetzmäßig tätig sind, die eine Synthese aus aristotelischer Ding-interner (der von Leibniz explizit wieder in ihre Würde eingesetzten Entelechie) und platonischer externer Zweckmäßigkeit leisten, und genau hier, in der Annahme von objektiven, den Bereich der Physis durchdringenden und strukturierenden konkreten oder substantiellen Kräften, bewahrt diese Konzeption von Natur einen fruchtbaren Horizont, der freilich, wie alles, was über die durch Sinnlichkeit und Verstand garantierte Kontrolle und Überprüfbarkeit hinausgeht, nicht ohne Probleme gewesen ist und noch ist. 128
Die innere Aktivität der Seele gründet sich gerade nicht auf okkultistischen oder spätscholastischen Naturbegriffen, sondern ist als Teil eines platonischaristotelischen Denkens anzusehen; sie synthetisiert Aristotelismus und Platonismus in Hinsicht auf die menschliche Natur (›Seele‹) und die körperlichausgedehnte Welt (›Kosmos‹); zugleich ist sie jedoch auch zutiefst neuzeitlich-mathematisch zu nennen aufgrund der Präferenz der geometrischen Methode. 129 Die entscheidende Leistung einer solchen Philosophie besteht dann darin, weder die Annahme substantieller Individualität noch eine Fortschreibung der antiken Paradigmen bezüglich der Sonderstellung des Menschen im Universum abzulehnen, 130 sondern in den jeweiligen Kontexten umzuwerten. Die Umwertung gelingt über mechanische Kräfte und Bewegungen – und dies stets entlang eines kosmologischen, gelegentlich eines theologischen und erstaunlich häufig auch bereits eines psychologischen Horizonts. Es ist also die mechanische Natur, die – wie wir bereits in Kapitel iii.1.c ersehen konnten – mit ihrem principium operationum eine philosophisch-physikalische Größe zur Verfügung stellt, welche die Diskurse um innere und äußere Tätigkeiten bis in die Zeit der Newton / Leibniz-Debatten nachhaltig prägen wird und die antiken Paradigmen zu transformieren weiß. Wo Platon vom νοῦς sprach, spricht die Mechanik von der Natur, wo Aristoteles von ἐνέργεια sprach, spricht die Ebd. Die Bedeutung der Geometrie hebt Leinkauf ebenfalls hervor, allerdings an einem früheren Punkt seiner Argumentation; vgl. ebd., 399. 130 Dies wäre vielmehr das Programm radikaler Materialisten wie Helvétius, D’Holbach oder La Mettrie. 128 129
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Mechanik von der Tätigkeit, wo beide (Platon und Aristoteles) von der Wirklichkeit sprachen, spricht die Mechanik von Ausdehnung, und wo die Antike schulenübergreifend eine Seele sah, sehen wir in der Frühen Neuzeit Kräfte am Werk – selbst wenn diese, wie bei Kepler, (noch) nicht klar umrissen sind. Wie kann es dann – nach den signifikanten Umwertungen von ›Geist‹ zu ›Natur‹, von ›Akt‹ zu ›Tätigkeit‹, von ›Wirklichkeit‹ zu ›Ausdehnung‹ und von ›Seele‹ zu ›Kraft‹ – dazu kommen, dass kein äußerer Beweger, nicht einmal mehr Gott oder der ehrwürdige, scholastische impetus mehr benötigt wird, um Bewegungen hervorzurufen und damit auch den Grund einer Ästhetik zu legen, die über das Empfangen von Sinnesdaten hinausgeht? Tatsächlich hatte Kepler ja die voluntas aus dem Bereich der reinen Naturkräfte explizit ausgesondert, und im Zuge dessen ist auch das Erfassen der Wirklichkeit kein Prozess von außen nach innen, von der Objektwelt in die Subjektwelt, sondern ganz im Gegenteil ein Prozess von innen nach außen, von der Subjektwelt ausgehend, die sich dann in einer zweifachen Aspektbeziehung zur Objektwelt befindet. Auch der Prozess der Aspektuierung beruht auf einem komplexen Vermögen, das sich in der intima rerum verorten lässt: In dem Maße, wie die substantielle Kraft der Natur in den Bereich der Innerlichkeit dringt, erfahren das Wahrnehmen und das Empfinden eine Ausweitung und, damit verbunden, eine Aufwertung. Es darf diesbezüglich zum Forschungsstand gezählt werden, dass auch die Etablierung der Ästhetik zuvorderst unter Hinwendung zu einem naturphilosophisch fundierten inneren Urgrund gelingt – wie Menke, unabhängig von Leinkaufs Vorarbeiten, es für das Verhältnis zwischen Leibniz und Descartes konstatiert: »Leibniz' anticartesianische Forderung, die Einbildung sinnlicher Vorstellungen als Bewegung aus einem inneren Prinzip zu denken, ist das Programm der Ästhetik.« 131 Menke greift diesen Gedanken dann wieder auf, um den darin befindlichen Grundkonflikt zu skizzieren: Das ist der Streit, der das Feld der Ästhetik von ihrem Beginn an spaltet: ob das innere Prinzip der Bewegung, in der sinnliche Vorstellungen hervorgebracht werden, als Vermögen kognitiver Praktiken oder als Kraft unbewußten Ausdrucks zu denken ist. 132
Die Paradigmen, die hier angeführt werden, können – wenn wir etwa an die τέχνη aus Kapitel ii.3.b–c und den ἐνθουσιασµός aus Kapitel ii.4.a denken – umstandslos als klassisch im Sinne von Verkörperungen gewichtiger Traditionslinien der artes liberales angesehen werden. Sie bildeten bereits die Grundeinheiten der Vermögenslehre in der antiken Poetik und Rhetorik. Ihre Funk131 132
Menke (2008), 23. Ebd., 24.
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tionalitäten fanden wir als hochgradig motiviert durch die psychologischen Erfordernisse vor – insbesondere anhand solcher Wirkziele wie des persuadere, delectare, movere, incitare, (animos) pellere und flectere. In der Frühen Neuzeit sind es nun vor allem die Zuschreibungen an die Mathematik und Mechanik, die uns über die Funktionsweisen der noch zu etablierenden ars aesthetica Auskunft geben. Denn die von Menke zu Recht angeführten »kognitive[n] Praktiken« sind als Erkenntnismethodik aus der praktischen Mathematik heraus herzuleiten – sie betreffen vor allem die merkmalsästhetischen und realdefinitorischen Begriffsbildungen, die wir in Kapitel iv.3 kennengelernt hatten –, die »Kraft unbewußten Ausdrucks« wiederum ist als die Selbsttätigkeit der Dinge aufzufassen – nur dass eben diese Selbsttätigkeit im Gegensatz zu den okkulten Kräften des scholastischen Mystizismus mittlerweile vorwiegend aus der intima rerum, dem Zusammenschluss von Körper und Geist anhand substantiell durchdringender Kräfte heraus zu bestimmen ist. Auf der einen Seite zeigt sich somit die Körperwelt als empirische Voraussetzung der Selbstdurchdringung der Seele, auf der anderen Seite gestaltet sich die Aufgabe für den Erkenntnisapparat vielschichtiger, als man es mit Blick auf die traditionelle Ordnung, die zwischen dem νοεῖν und dem αἰσθάνεσθαι im Platonismus vorherrschte, vermuten sollte. Das Programm der Ästhetik hat also, ganz im Sinne des αἰσθάνεσθαι, unverbrüchlich darin zu bestehen, ihren Gegenstand an die Sinnlichkeit zu koppeln, sie also in einer entscheidenden Hinsicht in ihrem antiken Bestimmungsfeld zu belassen und sie dennoch in Bereiche zu führen, die der Erkenntnis nicht nur dienlich sind, sondern diese mit konstituieren. Es ist Keplers Harmonievorstellung, seine Überzeugung, im Kosmos seelische Tätigkeiten zugleich sinnlich und intellektual ausbreiten zu können, die für die von Menke genannte Problemstellung, mit der sich die Ästhetik auseinanderzusetzen hat, historisch den Boden bereitet. Menke weist in seiner Studie zu Recht darauf hin, dass eine vollständige Integration der Sensualität in die Erfordernisse einer rational fundierten Ästhetik eigentlich nicht funktionieren könne, da die Sinne – ganz im Gegensatz zum Geist – doch regellos und willkürlich arbeiten. 133 Das von ihm angeführte »innere Prinzip der Bewegung« beziehungsweise die »Kraft unbewußten Ausdrucks« lassen indes keine obskuren Leerstellen in ansonsten konsistenten philosophischen Systemen hervortreten, sondern werden durch die Fokussierung der intima rerum als in sich unterschiedene und dabei produktive Instanzen der Natur fassbar. Kognition bedeutet in der Frühen Neuzeit, wie gesehen, ein Einblicken in die Dinge, das clare et distincte percipere ein inspicere; unbewusste So das Begriffspaar, das Menke passim an denjenigen Stellen anführt (vgl. ebd., 17: »regellos-willkürlich«, ebd., 19: »Willkür und Regellosigkeit«, ebd., 22: »regellos-willkürlich«, ebd., 25: »regellos, willkürlich« etc.), an denen es um die Frage nach den inneren Prinzipien der Sinnlichkeit geht. 133
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Kräfte sind im Menschen wiederum eingeschlossen und können sich den Weg nach außen bahnen. Es geht demnach gerade nicht um solche Kräfte, die durch den Verstand gleichsam zu bändigen wären, sondern – wie bei Kepler gesehen – um etwas viel Fundamentaleres, um die mehrdimensionale Ausrichtung des Menschen in einem von Gott geometrisch perfektioniertem Kosmos. Durch ihren Status der Basalität können unbewusste Kräfte das spätere ästhetische Leitparadigma des Grundes der Seele (fundus animae) ausprägen. Was in der menschlichen Seele praktisch ständig vorhanden ist, ist ein sinnliches Substrat; was in der äußeren Körperwelt vorhanden ist, besteht in einer ausgedehnten, stofflichen Quantität. Beide Sphären durchdringen sich jedoch selbst – die Seele als ein komplexer Apparat, der mit sinnlichen Eindrücken qua Einbildungskraft operiert, die Körperwelt als ein physikalisch ausgebreitetes Quantum, das in seinen unterschiedlichen Teileinheiten operiert, und wofür sich Masse und Trägheit, wie in Kapitel iii.1.c gesehen, als die Leitparadigmen verbürgen. Hinzu tritt – wie in Kapitel iii.2 gesehen – ein vielfach umstrittener, im 17. Jahrhundert jedoch hartnäckig auf dezidiert mechanische Funktionen abzielender Bewegungsbegriff. Meint man es nun ernst mit der Selbstperzeption, so umfasst diese stets beides: einen inneren Kern, von dem die Bewegung auszugehen hat, und einen bestimmten Raum, in dem sich die Bewegung ausbreiten kann. Dieser Raum ist jedoch, da es sich ja um Vermögen handelt, individuell ausbaufähig. Jede Seele ist daher auf ihre jeweils eigene Weise von Bewegungen beziehungsweise Kräften durchdrungen. Damit ist gewiss noch keinem modernen Subjektbegriff das Wort geredet, 134 sehr wohl aber muss die Individualität in den Erwägungen zur Psychomechanik eine Rolle spielen. 135 Wir sahen ja bereits bei der Betrachtung der Körperwelt – insbesondere in Kapitel iii.1.c –, dass sich Masse und Trägheit zur Konstitution einzelner Körper eignen und dabei auf eine Eigenheit mit verweisen, die den Körpern wie den Seelen prinzipiell gleichermaßen zuzukommen vermag: Die Masse geht nicht einfach in der Schwere der Materie auf, sondern zeitigt dauerhaften Einfluss auf die Bewegung eines konkreten Körpers; sie durchdringt ihn und hält seine Eigenbewegung, seinen Impuls, aufrecht. Gleiches gilt für die Perzeptionen der Seele: Ihre Inhalte schlummern nicht ausschließlich unbemerkt im fundus animae, sondern werden durch innere Seelenkräfte ausgebreiHinsichtlich der Entscheidungsbedingungen der Platzeinnahme: Ein Subjekt bestimmt seinen Ort in der Welt – im Gegensatz zu Objekten – freiwillig und selbständig. 135 Wohl eine der griffigsten Formeln hierzu stammt von Cassirer (1993), 248, demzufolge »[d]as Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, [. . . ] stets zugleich individuell und universell [ist]. Denn in dieser Sphäre läßt sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen anschauen, weil es nur in ihrer Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann«. 134
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tet und sichtbar gemacht. Der Raum dieser Ausbreitung und Sichtbarmachung ist nicht mehr nur der Bereich des Abstraktions-, sondern zunehmend derjenige des Vorstellungsvermögens. Dieser Bereich hat den Vorteil, eine sinnliche Fähigkeit (facultas sensitiva) zu bilden, und damit demjenigen zu entsprechen, was Kepler – über Platon hinausgehend – zum zentralen Grundbestand seelischer Fähigkeiten zählen wollte. 136 Das Vermögen, aus dem die kognitiven Praktiken hervortreten, und die spontan hervorbrechende Kraft sollen in diesem Vorstadium der ars aesthetica keine disjunktive Entscheidungsfrage aufwerfen, sondern möglichst ineinander greifen. Die mechanistische Begründung ästhetischer Kräfte kann demnach lauten: Die Intensität der im Menschen waltenden Kräfte wird als operational angenommen und aufgrund ihrer Operationalität auf einem extensiven Feld ausgebreitet. Dieses Feld ist weder die seelische Welt noch die körperliche Welt für sich allein genommen, sondern es sind Kraftfelder, in denen die Perzeptionen zur Wirkung gelangen, und ihre individuellen Grundeinheiten sind Kraftpunkte.
4.c. Leibniz’ Auffassung von der Monade (µονάς)
Die mit Abstand erfolgreichste Größe, die Kraft und Individualität zusammenfasst, ist in Europa um 1700 die leibnizsche Monade. Nehmen wir an dieser Stelle zunächst den Faden auf, den wir in Kapitel iv.2 in der Diskussion der Meditationes de cognitione, veritate et ideis begonnen hatten, so ist vor allem hervorzuheben, dass den dortigen Äußerungen zufolge die Erkenntnis dann am vollkommensten sei, wenn sie adäquat und intuitiv (adaequata et intuitiva) ist. Die Hinzunahme der Intuition zur Adäquatheit lässt grundsätzlich auf ein nicht-kontemplatives Nachdenken über die Welt schließen; sie deutet, in fast schon ironisch anmutendem Kontrast zum titelgebenden Ausdruck ›Meditationes‹, auf eine spontane Eingebung hin, durch welche die Erkenntnis stattfinde. Leibniz' Monade ist in ontologischer Sicht ein geistiges Individuum und in dynamischer Sicht eine immerwährende Kraft, die – wie in Kapitel iii.3.d gesehen – über den Energieerhaltungssatz lückenlos begründet wird. Daher ist sie zwar quantitativ ausgedehnt, aber selbst nicht über das Paradigma der Quantität allein bestimmbar, etwa in der Weise, wie es bei der Definition des Atoms als letzten Unteilbares oder beim cartesischen Bewegungsbegriff als eines Quantums der Fall wäre. Im Gegenteil, Leibniz' Philosophie überwindet ja die Spielarten des Atomismus – selbst wenn sie, wie bei Gassendi, antik 136 Insofern für Platon die Sinne, im Gegensatz zum Geist, reine Perzeptionsapparate und keine tätigen Organe sind.
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und christlich begründet werden – anhand der aktiven Kraft (vis activa), die eben keiner mechanischen Vortätigkeit bedarf, sondern für sich im Inneren der Dinge liegt. Mit ihr ist mithin die unmechanische Ur-Einheit einer mechanisch waltenden Welt benannt. Dies funktioniert in erstaunlicher Analogie zu demjenigen, was bei Newton unter Kraft firmierte – nämlich unter Ansetzung eine unmechanische Größe, die sich zur ausgebreiten Wirklichkeit als ontologisch irreduzibel ausnimmt. Die Monade enthält aber nun, im Gegensatz zu Newtons Krafttheorie, eine aus der Psychologie wohlbekannte Eigenschaft: Begierde (appetitus, appetition). Auch Begierde ist in diesem Zusammenhang operational, also in ihren tätigen Verfahrensweisen, in ihrem Umgang mit sinnlichen Substraten, zu fassen. Zuallererst besteht die Tätigkeit der Begierde nach Leibniz nun darin, von einer Perzeption zur nächsten zu gelangen und Vorstellungen aus diesen heraus zu bilden. 137 In ebendieser Vorstellungsbildung ist jede Monade strebsam und selbsttätig; sie bleibt dabei aber stets dem inneren Seelenzusammenhang, dem Reservoir an Perzeptionen, verpflichtet. Nachdem Leibniz in § 17 der Monadologie erhebliche Zweifel an der letztgültigen Rückführbarkeit der selbsttätigen Bewegung an Maschinen geäußert hat, kommt er in § 18 ein weiteres Mal auf das Prinzip der Selbsttätigkeit zu sprechen: Man könnte alle einfachen Substanzen oder erschaffenen Monaden Entelechien nennen. Denn sie tragen eine gewisse Vollkommenheit (ἔχουσι τὸ ἐντελές)* in sich, eine Selbständigkeit (αὐτάρκεια), die sie zu Quellen ihrer inneren Tätigkeiten und gewissermaßen zu unkörperlichen Automaten macht. 138
Der Gedanke, dass das Ziel einer Tätigkeit mit dem Ziel einer Substanz und zugleich mit der Telos-Lehre des Aristotelismus übereinkommt, wird durch den Asterisk-Verweis auf § 87 der Theodicee 139 noch affirmiert 140 und in der Vgl. Leibniz, Monadologie, § 15 : »L’Action du principe interne qvi fait le changement ou le passage d’une perception à une autre, peut etre appelleé appetition. Il est vray qve l’appetit ne sauroit tousjours parvenir entierement à toute la perception ou il tend, mais il en obtient tousjours qvelqve chose et parvient à des perceptions nouuelles.« (»Die Tätigkeit des inneren Prinzips, das die Veränderung oder den Übergang von einer Perzeption zur anderen bewirkt, kann man Begierde nennen. Allerdings kann die Begierde nicht immer völlig zu der ganzen Perzeption gelangen, der sie zustrebt, aber sie erlangt stets einiges davon und gelangt zu neuen Perzeptionen.«). 138 Ebd., § 18: »On pourroit donner le nom d’Entelechies à toutes les Substances simples ou Monades creées. Car elles ont en elles une certaine perfection (ἔχουσι τὸ ἐντελές)*, il y a une suffisance (αὐτάρκεια) qvi les rend sources de leur actions internes, et pour ainsi dire, des Automates incorporels«. 139 Vgl. ebd., marg.: »* Theod. § 87«. 140 Vgl. Leibniz, Theodicee, § 87: »§ 87. Zu diesem Streite der Glaubenslehrer, über den Ursprung der menschlichen Seelen, ist der philosophische Streit, vom Ursprunge der Formen, gekommen. Aristoteles und die Scholastiker nach ihm haben das eine Forme genennet, was eine Quelle (Principium) der Wirksamkeit ist, und sich in demjenigen befindet der da wirket. Diese innerliche 137
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Monadologie an keiner Stelle mehr aufgegeben. Wir sehen die aristotelische Lehre von der Finalursächlichkeit im ἔχουσι τὸ ἐντελές (»Sie besitzen das Vollkommene«) aufscheinen, 141 während die αὐτάρκεια (»Selbständigkeit«) für die autonome Dingtätigkeit einsteht – bezeichnenderweise ebenfalls in gräzisierter Form, wodurch sie sich auch formal an den Aristotelismus anschließt. Aristoteles kann selbst im Mechanizismus als Gewährsmann des zielgerichteten Tätigkeitsprinzips gedacht werden, sofern er – wie hier – zum Begründer von Automaten wird; und dies eben unter der Voraussetzung, dass die Dinge in der Welt in Form vollkommen selbsttätiger Einheiten ihre vorgesehene Existenzweise erlangen. Mithin sind Körper und Seelen, wie schon bei Kepler, mit vollem Recht tätige Entitäten zu nennen; tätig sind sie jedoch, wie Leibniz im Weiteren betont, nach entschieden andersartigen Ursächlichkeiten: Die Seelen sind tätig gemäß den Gesetzen der Finalursachen durch Bestrebungen, Zwecke und Mittel. Die Körper sind tätig gemäß den Gesetzen der Wirkursachen oder der Bewegungen. Und beide Reiche, dasjenige der Wirkursachen und dasjenige der Finalursachen, befinden sich untereinander in Harmonie. 142
Die hier bemühten Gründe und Zwecke, nach denen Seelen und Körper agieren, lassen sich nach unseren bisherigen Betrachtungen leicht nach den Philosophien der Antike und der Frühen Neuzeit aufschlüsseln: Die Welt der Körper ist zugleich die Welt der kausal verketteten Bewegungen; es ist die cartesische res extensa, die hier Pate steht. Die Finalursachen sind demgegenüber ein Anliegen der Aristoteliker. Sie weisen ihr im Rahmen der Ursachenlehre den ersten Rang zu. Die Tätigkeiten werden demnach nicht nach ihrer geistigen, respektive stofflichen Zugehörigkeit, sondern nach verschiedenen Arten der Ursächlichkeit und deren Schulen aufgespannt – eine Denkweise, die mit dem Aristotelismus gut kongruiert. 143 Der Bereich der Finalgesetze (les loix des causes finales) und Quelle ist entweder für sich bestehend, (substantialis) und wird in einem organischen Körper die Seele genennet; oder sie ist zufällig, und bekömmt den Namen einer Beschaffenheit (qualitatis). Eben dieser Philosoph hat der Seele den allgemeinen Namen der Entelechia, oder des Actus, das ist einer Tätigkeit oder Wirksamkeit gegeben.« (zitiert nach der für das 18. Jahrhundert prominent gewordenen Übersetzung von Johann Christoph Gottsched). 141 Im ἐντελές trifft beides, das Vollkommene und das Zielorientierte, begrifflich zusammen; vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »ἐντελής«, 575: »(τέλος) complete, full, perfect, [. . . ], finished, accomplished«. 142 Leibniz, Monadologie, § 79: »Les ames agissent selon les loix des causes finales par appetitions, fins et moyens. Les corps agissent selon les loix des causes efficientes, ou des mouuemens. Et les deux regnes, celuy des causes efficientes, et celuy des causes Finales sont harmoniqves entre eux«. 143 Insofern wir auch die Finalursächlichkeit als ein die geistige und körperliche Welt umfassendes Prinzip kennengelernt hatten – bezogen auf die Körperwelt namentlich als das Streben eines Körpers zu dem für ihn vorgesehenen und damit ›natürlich‹ zu nennenden Platz. Eine solche
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derjenige der Bewegungsgesetze (les loix des causes efficientes, ou des mouuemens) sind hier also streng geschieden; sie werden jedoch, aller Diversität ihrer substantiellen Eigenschaften zum Trotz, gleichfalls zusammengebracht, und zwar im theoretischen Anschluss an den Energieerhaltungssatz. Das System der prästabilierten Harmonie hängt von der Funktion der Substanzen übergreifenden Energie ab. Dieses System ist zugleich, insofern es die kausalen Bewegungsursachen mit den auf den Erhalt des Kosmos angelegten Finalursachen vereint – namentlich im oben genannten Zusammenschluss der »Reiche« (regnes) –, die Antwort auf die im 18. Jahrhundert auftretenden Probleme, die zwischen dem mechanistischem und dem aristotelischem Weltbild entstehen. Wenn Aristoteles' Finalursachen nur geistig sind, dann sind sie dies doch in neuer, voller Gültigkeit aufgrund der Engführung von Kraft beziehungsweise Energie. Ließ sich bereits in Kapitel iii.3.d der Studie der Erhaltungssatz als das Fundament zur Überwindung des Substanzen-Dualismus, als die neuerliche Versöhnung von Körper und Geist einstufen, so zeigt sich nunmehr die Harmonie als das gültige Argument für die Vereinbarkeit der antiken und frühneuzeitlichen Weltbilder. Der Satz, in der sich die Komplementarität und Austariertheit der beiden »Reiche« auf profundeste Weise treffen, lautet: Dieses System [sc. der prästabilierten Harmonie] bewirkt, dass die Körper tätig sind, als ob es keine Seelen gäbe (was unmöglich ist), und dass die Seelen tätig sind, als ob es keine Körper gäbe; und dass beide tätig sind, als ob das eine das andere beeinflussen würde. 144
Tätigkeit wird also zum Prinzip der Körper- und der Seelenwelt anhand der Emulsion zweier durch Platon, Aristoteles und Descartes einstmals geschiedenen Sphären. Die philosophische Vereinigung gelingt nicht durch ein monistisches Weltbild, nicht durch die Bevorzugung eines einzelnen Prinzips, sondern durch die Ansetzung der Tätigkeit als des inneren Prinzips der Dinge beider Sphären. Die verbindlichste Prämisse hierzu ist demnach die Vereinbarkeit der Substanzen. 145 Denn diese kann nur durch die Voraussetzungen geschaffen Auffassung steht in erheblichem Kontrast zu den ausschließlich in eine Richtung weisenden und auf einem monistischen Bewegungsbegriff beruhenden Prinzip der Kausalursächlichkeit eines Hobbes, wie wir sie in Kapitel III.2.a sehen konnten. Leibniz scheint weder den einen noch den anderen Standpunkt zu bevorzugen, sondern den Gegensatz zwischen zweckorientierter und kausal verketteter Ursächlichkeit wieder anhand der Körper- und Geistessphäre neu aufzuspannen. 144 Leibniz, Monadologie, § 81: »Ce systeme fait qve les corps agissent comme si (par impossible) il n’y avoit point d’Ames; et qve les Ames agissent comme s’il n’y avoit point de corps; et qve tous deux agissent comme si l’un influoit sur l’autre«. 145 Treffend hierzu auch Schüßler (1992), 171: »Die Seele [. . . ] drückt in besonderem Maße den ihr zugehörigen Körper aus. Dieser aber steht aufgrund der Kontinuität und der aktuellen Unterteilung der gesamten Materie ins Unendliche mit allen anderen Dingen des Universums
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werden, die den jeweiligen Philosophien inhärieren; namentlich sind dies die Kippfiguren zwischen Körper und Geist, Tätigkeit und Ruhe sowie – bei Leibniz wie auch schon zuvor bei Kepler wohl am deutlichsten sichtbar – zwischen Harmonie und Disharmonie. Im Sinne des auf eine einzelne Entität konzentrierten Weltzugriffs kommen auch die Empfindungen nicht aus den Körpern allein, sondern werden durch die Monade erst geschaffen. Wo bei Kepler die harmonischen Proportionen aus dem mehrgliedrigen, operationalen Zentrum der Seele über den Zusammenschluss von Rezeption und Produktion zur Geltung kamen, ist es hier die urtümliche Kraft (vis primitiva), die eine integrierende Stellung zwischen Körper- und Geisteswelt einzunehmen vermag und sich im Zuge dessen als die erste universell gestaltende Kraft ausweist. Leibniz benötigt an dieser Stelle offenkundig andere Ursachen als das reine Interagieren maschineller Einzelteile im diversifizierten Kontext eines Gesamtorganismus – es sei hier auch nochmals an die plastischen Kräfte erinnert, die wir als das wesentliche Kriterium zur Abgrenzung von komprimierenden und elastischen Kräften kennengelernt hatten. Auf die doppelte Nähe zu Aristoteles – einerseits zur Entelechie, andererseits zur δύναµις ποιητική – wurde in der jüngeren Forschung wieder häufiger hingewiesen: Diese Kraft [die vis primitiva; D. B.] ist dauernd wirksam, vereinigt die Aristotelische Gesamtheit des abrufbaren und nach Realisierung drängenden Entwicklungspotentials (ἐντελέχεια, entelecheia) mit dem initiierenden Quellpunkt einer δύναµις ποιητική (dynamis poietikê), während die δύναµις παθητική (dynamis patheticê) als Widerstandskraft (vis passiva primitiva) verstanden wird und den Äther beziehungsweise das Pneuma des Aristoteles als ihre Grundlage übernimmt. Damit hat die strebende Kraft der Entelechie eine Begrenzung, die Modifikation der einfachen beziehungsweise ursprünglichen Monadeneinheit zeigt sich als derivative aktive und passive Kraft im organischen Verbund einer Körpersubstanz, die von einer leitenden Entelechie als Seelenanalogon gesteuert und vereinheitlicht wird. 146
Der leibnizschen Entelechie kommt demzufolge die leitende psychologische Funktion in einem von Kräften bestimmten Weltbild zu. Selbst im Bereich der derivativen Kräfte – die ja eigentlich nicht mehr viel mit dem Ursprungsgedanin Beziehung. Er erleidet also durch die Veränderungen aller anderen Dinge eine Beeinflussung. Nun aber entsprechen aufgrund der Pästabilierten Harmonie allen Bewegungen unseres Körpers bestimmte mehr oder weniger verworrene Perzeptionen oder Gedanken der Seele. Unsere Seele hat somit – wie jede andere Substanz – ein gewisses Bewußtsein von allen Bewegungen im Universum: Sie perzipiert sie oder drückt sie aus«. 146 Reinhard (2011), 18.
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ken der vis primitiva zu tun haben – steuert und homogenisiert sie die Körper. Wir können sie erst recht im Stadium der τέχνη ποιητική, also beim planvollen Verwirklichen eines bestimmten Vermögens, in Aktion beobachten. Wie in Kapitel ii.2, ii.3.c und ii.5.a ersichtlich wurde, zählt es ja gerade zum Kernbestand der τέχνη, dass diese sich einer teleologischen Steuerung verpflichtet, ohne sich vom Subjekt zu entfernen, und dabei ihren natürlichen Urgrund, δύναµις und φύσις, durch ihre Fokussierung auf ein Ziel weiterhin affirmiert. Der ontologische Zusammenhang zwischen Subjekt und Tätigkeit ist dergestalt vergleichbar mit dem Zusammenhang zwischen Natur und Kraft. Und dennoch arbeitet Leibniz bei seiner Konzeptualisierung der Monade nicht einer reinen Individuierung, sondern auch und insbesondere der ausgebreiteten Welt zu. Eine Wechselwirkung zwischen quantitativer und geistiger Wirklichkeit wie bei den Cartesianern und Okkasionalisten findet hier nicht statt, weil sie überhaupt nicht erst stattfinden muss; stattdessen ist jede Monade gleichsam ein Spiegel des Universums. 147 Und dieser Vergleich bedarf, um eben die Prägung des Subjektes anhand von Kräften zu verstehen, einer genaueren Einordnung: Die prästabilierte Harmonie bildet nämlich – so bereits die Formulierung in Sommers Studie von 1892 – »das Gegengewicht gegen die Lehre von der völligen individuellen Selbstthätigkeit der Monaden.« 148 Bei Kepler fielen Rezipieren und Darstellen in eins, bei Leibniz sind es Vorstellen und Erkennen, die den engsten Schulterschluss seelischer Vermögen eingehen. Das Argument für letzteren ist jedoch die prästabilierte Harmonie – insofern sie nämlich die subjektive Vorstellung einer Erkenntnis bedeutet. Die den Dingen immanente Ordnung läuft vorherbestimmt und harmonisch ab. Die Monaden aber sind zugleich spontan, insofern sie ihre Empfindung über die selbsttäSo das berühmteste Gleichnis hinsichtlich der Monaden, das von Leibniz überhaupt bemüht wird; vgl. ebd., § 63: »Le Corps appartenant à une Monade qvi en est l’Entelechie ou l’âme, constitue avec l’entéléchie, ce qv’on peut appeller Un Vivant, et avec l’Ame ce qv’on appelle un Animal. Or ce corps d’un vivant ou d’un Animal est tousjours organiqve; car toute Monade estant un miroir de l’univers à sa mode*, et l’univers estant reglé dans un ordre parfait, il faut qv’il y ait aussi un ordre dans le representant, c’est à dire dans les perceptions de l’ame, et par conseqvent dans le corps, suivant le qvel l’univers y est representé.« (»Der Körper, der zu einer Monade gehört, die seine Entelechie oder seine Seele ist, bildet mit der Entelechie das, was man ein Lebendiges nennt, und mit der Seele das, was man ein Lebewesen nennt. Nun ist dieser Körper eines Lebendigen oder eines Lebewesens immer organisch; denn da jede Monade auf ihre Art ein Spiegel des Universums ist* und das Universum in einer vollkommenen Ordnung geregelt ist, muss es auch eine Ordnung in dem Vorstellenden geben, das heißt sozusagen in den Perzeptionen der Seele – und folglich in dem Körper geben, demgemäß das Universum vorgestellt wird.«) Auch in diesem Paragraphen ist die Verquickung mit der Finalursächlichkeit evident; der angeführte Asterisk verweist wiederum auf den in § 403 der Theodicee formulierten, ähnlichen Grundgedanken einer Verbindung, die zwischen der Vollkommenheit des Universums, der Seele und der Monade bestehe. 148 Sommer (1892), 13. 147
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tige Ordnung der Perzeptionen äußern. Daher kann der höchste Grad des ἐνθουσιασµός auch die höchste Selbsttätigkeit der Seele bedeuten. Die monadische Spontaneität ist nicht von kontingenten Ereignissen oder sprunghaften Wechselmomenten – dies bedeutete nämlich einen Newtonianismus –, sondern von dynamischen Energieübergängen und -erhaltungen geprägt. Sie ist erkenntnishaft, da sie konvergente Werte dieser unsrigen Welt spiegelt, die sich divergent zu anderen Wertereihen verhalten. Spiegelung wiederum bedeutet – durch die Koinzidenz von Blicken und Erblickt-Werden – eine Koinzidenz von Aktivität und Passivität. Der Blick auf die Welt wird dadurch zur Übereinkunft hervortretender und empfangender Kräfte. In Leibniz' Monadologie wird der res extensa/res cogitans-Dualismus regelrecht an der aristotelischen Ursachenlehre gespiegelt, um ein neues, drittes Moment hieraus zu entwickeln. Das Resultat besteht in einem Universalismus, der sich bei Leibniz wie folgt liest: Dieser Gottesstaat, diese wahrhaftig universelle Monarchie ist eine moralische Welt in der natürlichen Welt; und er ist das erhabenste und göttlichste unter den Werken Gottes. Und in ihm besteht wahrhaftig der Ruhm Gottes, da es keinen gäbe, wenn seine Größe und seine Güte von den Geistern nicht erkannt und bewundert würden. Auch macht die Beziehung zu diesem göttlichen Staat im eigentlichen Sinn seine Güte aus, während sich seine Weisheit und seine Macht überall zeigen. 149
Der augustinisch instruierte Aufhänger eines Gottesstaates (Cité de Dieu) 150 wird hier als universell und in die natürliche Ordnung eingebettet vorgeführt. Der Primat der Natur erscheint auch in der Ausweitung des Arguments in Richtung einer moralischen Weltdurchdringung nach wie vor in umfassender Gültigkeit auf. Es geht indes, bei aller Verbreitung von Moral und Weisheit, auch um die Verbreitung der Macht (Puissance), eines Vermögens in der Welt. Aus der Tätigkeit der Monade ergibt sich über ihre Fähigkeit, Kräfte perspektivisch zu bündeln, hinaus eine weitere Grundfähigkeit der Seele: das Streben (appetere). Es entspringt ebenfalls dem Erkennen (cognoscere). Die facultas appetendi ist daher nicht der Erkenntnis entgegengesetzt – wie es in der platonischen Willenslehre, denkt man an den noch zu bändigenden θυµός, wirkmächtig vertreten wurde –, sondern ist fortgesetzter Teil des höheLeibniz, Monadologie, § 86: »Cette Cité de Dieu, cette Monarchie Veritablement Universelle, est un Monde Moral dans le Monde Naturel; et ce qv’il y a de plus elevé, et de plus divin dans les ouurages de Dieu: et c’est en luy qve consiste veritablement la Gloire de Dieu, puis qv’il n’y en auroit point, si sa grandeur et sa bonté n’estoient point connues et admirées par les esprits. C’est aussi par rapport à cette cité divine qv’il a proprement de la Bonté, au lieu qve sa sagesse et sa Puissance se monstrent partout«. 150 Vgl. Augustinus’ De civitate Dei (426 n. Chr.). 149
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ren Erkenntnisvermögens. Entscheidender als diese erscheint vielmehr: Wenn Merkmale als sinnlich begriffen werden, so ist auch der Fundus, auf den zurückgegriffen werden kann, zuallererst ein sinnlicher. Es mag mit Descartes vernunftgemäß sein, den Sinnen nicht zu vertrauen; es ist aber mit Leibniz ebenso vernunftgemäß, dem Erkenntnisvermögen mehr zuzubilligen als die bloße Sondierung von Wahrem und Falschem. Die Verworrenheit hält vielmehr derartige distinkte Urteile – die ja in cartesischer Tradition eine Aufgabe einzig des Verstandes wären – aus dem Kognitionsvermögen heraus. Es genügt daher nicht, dieses Vermögen schlichtweg als gegenüber der Phantasie umfassender zu denken; vielmehr ist mit zu berücksichtigen, dass seine Umfänglichkeit mit der Klarheit einhergeht. Das Strebevermögen hat zum einen eine neue Dignität gegenüber der Position Descartes' inne, da es eine Form der klaren Erkenntnis ermöglichen kann; es erhält zum anderen sein sinnliches Substrat, da sie den mittleren Bereich der Seelenarchitektur nicht verlässt. Das Seelenorgan, das genau diese Doppelfunktion zwischen perzeptivem, inneren Sinn und willentlichem Hervorbringen klarer, aber auch verworrener Bilder leistet, ist die Phantasie. Mit am prägnantesten fasst Leibniz dies in seiner an Sophie La Roche verfassten Lettre touchant ce qui est interdependant des Sens et de la Matière (1704) zusammen, wo es heißt: Da also unsere Seele [zum Beispiel] die Zahlen und Figuren, die in den Farben sind, mit den Zahlen und Figuren, die sich durch den Tastsinn finden, vergleicht, so muss es wohl einen inneren Sinn geben, wo sich die Perzeptionen dieser verschiedenen äußeren Sinne vereinigt finden. Das ist es, was man Einbildungskraft nennt, welche zugleich die Begriffe der partikularen Sinne, die klar, aber verworren sind, und die Begriffe des Gemeinsinns, die klar und distinkt sind, versteht. 151
Die Einbildungskraft wird auf einen allgemeinen und zugleich speziellen Posten gehoben. Sie umfasst so vielfältige Funktionen wie nie zuvor, und doch sind ihre Funktionen stets auf Begriffsbildungen bezogen. Ihre vorzüglichste Tätigkeit besteht demnach nicht das Erzeugen innerer Bilder, sondern im Verstehen (comprendre). Der entscheidende Schritt besteht nicht nur darin, die Würde der Verworrenheit mit dem Aspekt ihrer Sinnlichkeit zu kombinieren.
Leibniz, Lettre touchant ce qui est interdependant des Sens et de la Matière, 339: »Comme donc nostre ame compare [par exemple] les nombres et les figures qui sont dans les couleurs, avec les nombres et les figures qui se trouvent par l’attouchement, il faut bien qu’il y ait un sens interne où les perceptions de ces differens sens externes se trouvent reunies. C’est ce, qu’on appelle l’imagination, laquelle comprend à la fois les notions des sens particuliers, qui sont claires mais confuses, et les notions du sens commun, qui sont claires et distinctes«. 151
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Grundlegend für Leibniz ist, dass die Welt der Quantitäten, die Körperwelt, durch die derivativen Kräfte bestimmt wird; 152 diese entspringen letztlich der vis primitiva bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung derselben. 153 Somit ist auch die Quelle des Mechanizismus die vis primitiva; ihre Ausprägung indes ist die vis repraesentativa; denn diese bildet ein Derivat der Sinne. An genau diesem Punkt ist der Übergang zur Philosophie Christian Wolffs herzustellen. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, bezieht sich Wolff auf die leibnizsche Perzeptionslehre, um sein eigenes, von Mathematik und Psychologie geleitetes Programm durchzuführen. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der seelischen Tätigkeit des Zusammenfügens (componere). Und dabei kommt – neben dem geradezu unvermeidlichen Aristoteles – überraschenderweise ein antiker Autor bereits mit ins Spiel, der noch für die deutschsprachigen Poetiken des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle einnehmen wird.
4.d. Wolff und die horazische Tradition des componere
Zunächst der Versuch einer grundsätzlichen Einordnung: Während wir bei Leibniz eine regelrechte Versöhnung der aristotelischen mit der cartesischen Philosophie und der mechanischen mit der transzendentalen Philosophie über das System der prästabilierten Harmonie sahen, geht Wolff in der Entwicklung seiner Psychologie in manchen Teilen von cartesianischen Grundannahmen aus, behält dabei aber eine gewisse Eigenständigkeit bei 154 und verbindet regel-
Vgl. Kapitel III.3 der Studie. Vgl. hierzu auch Hecht (22005), 101: »Hierfür [für die Erklärung der physikalischen Substantialität der Körper; D. B.] bedarf es besonderer Ursachen, die Leibniz als Modifikationen der ursprünglichen Kräfte einführt und derivative Kräfte nennt. Der Begriff der Modifikation will andeuten, daß die Derivation den substantiellen Gehalt der primitiven Kräfte unberührt läßt, ihm jedoch eine Formbestimmung gibt, die eine Größenzuweisung ermöglicht«. 154 Für einen differenzierten Blick auf dieses Rezeptionsverhältnis vgl. Paul (2009), besonders 144: »La relation à Descartes, bien que Wolff retienne de lui certains des principes essentiels dont le cogito, tout en contestant leur originalité, est le plus souvent, qu’elle soit reconnue ou passée sous silence, négative, voire agonale. La principale originalité de Wolff, sa capacité à classer en multiples subdivisions toutes les catégories du savoir, n’en fait nullement un héritier de Descartes. Le philosophe allemand annonce l’esprit des classifications botaniques de Linné, son presque exact contemporain, dont nous savons pourtant qu’il n’avait guère été apprécié des Lumières qui le suspectaient de ne pas séparer religion et science avec suffisamment de rigueur. Les deux systèmes sont habités par la croyance que trouver le mot juste censé s’appliquer parfaitement à un plan de la nature ou de la pensée philosophique permet d’en avoir une exacte connaissance.« (»Das Verhältnis zu Descartes, obwohl Wolff von ihm gewisse Prinzipien (darunter das cogito) übernimmt, wobei er deren Originalität anzweifelt, ist oft, sei es dass es offen zugegeben wird oder unter Verschwiegenheit geschieht, negativ beziehungsweise agonal. Wolffs Hauptoriginalität, 152 153
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mäßig jene cartesianischen Theoreme mit solchen aus der Leibniz-Philosophie. Dabei unterscheidet er die Seelenkräfte nach ihren einzelnen Vermögensweisen und setzt sie teils über Anspielungen, teils über direkte Zitate mit den jeweiligen Traditionslinien zueinander in Verbindung – eine Verfahrensweise, die sich mit besonderer Klarheit in Wolffs Psychologia empirica (1732) niederschlägt. So findet sich hier gleich im ersten Kapitel eine Variation der cartesischen cogitoFormel, auf die dann auch regelrecht insistiert wird: §. 13. Wer sich seiner selbst und der anderen Dinge in Wirklichkeit bewusst ist, der ist es auch in Wirklichkeit, beziehungsweise er existiert. [. . . ] §. 14. Wir existieren. Wir sind uns nämlich unserer selbst und anderer Dinge außerhalb von uns bewusst (§. 11). Wer sich seiner selbst und anderer Dinge außerhalb seiner selbst bewusst ist, der existiert (§. 13). Also existieren wir. 155
Der bereits von Descartes so innig bezeugte Zusammenhang zwischen Seele und Existenz – man denke an die Engführung von Erkenntnistheorie und Ontologie, wie wir sie in Teil iii.1 der Studie im Umfeld des Cartesianismus immer wieder vorfanden – wird hier ein weiteres Mal beschworen, wenn auch nunmehr mit einer nicht unwichtigen Variation: Nicht das Denkvermögen (cogitatio) wird bemüht, sondern das Bewusstsein (conscientia), um die Existenz des Menschen zu bezeugen. Die Erkenntnis der eigenen Existenz hängt nach wie vor von der geistigen Substanz ab. Wo Descartes sagt, wir erkennen uns selbst eher als die Körper, denn wir seien selbst ja die denkende Substanz (res cogitans), greift Wolff dies in Paragraph 22 auf und ersetzt die Selbsterkenntnis mit der Bewusstheit seiner selbst: Wir erkennen die Existenz der Seele, bevor wir diejenige des Körpers erkennen. Denn die Existenz unserer Seele erkennen wir daraus, dass wir uns unserer
seine Fähigkeit, sämtliche Wissenskategorien in multiple Unterteilungen zu klassifizieren, macht aus ihm keinen ›Erben‹ Descartes’. Der deutsche Philosoph ist Vorbote für den Geist der botanischen Klassifikation von Linné, seines fast exakten Zeitgenossen, von dem wir dennoch wissen, dass er von den Aufklärern wenig geschätzt wurde, die ihn verdächtigten, Religion und Wissenschaft nicht mit genügender Strenge zu trennen. Die beiden Systeme sind von dem Glauben daran bestimmt, dass das Auffinden eines genau passenden Wortes, das sich perfekt auf einen Plan der Natur oder des philosophischen Denkens anwenden lässt, es erlaubt, darüber ein exaktes Wissen zu haben.«). 155 Wolff, Psychologia empirica, pars I , sect. I , cap. I , § 13 f.: »§. 13. Qui sui aliarumque rerum actu conscius est, ille etiam actu est sive existit. [. . . ] § 14. Nos existimus. Sumus enim nobis nostri rerumque aliarum extra nos conscii (§. 11). Qui sui rerumque aliarum extra se conscius est, ille existit (§. 13). Nos igitur existimus«.
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selbst und der anderen Dinge außerhalb unserer selbst bewusst sind (§. 20 Psychol. & §. 349 Log.). 156
Ebenso wenn im weiteren Verlauf die Begriffe der Perzeption und der Apperzeption auftreten, finden wir das Bewusstsein als wichtigste Begründungsfigur vor. So werde »vom Geist gesagt, er erfasse [sc. etwas], wann immer er sich irgendein Objekt vorstellt, so dass also eine Perzeption ein Akt des Geistes ist, durch den er sich ein beliebiges Objekt vorstellt.« 157 Demgegenüber werde »dem Geist eine Apperzeption zugesprochen, sofern er sich seiner Perzeption bewusst ist.« 158 Der Weg vom sinnlichen Erfassen hinauf in die oberen Geistesregionen stellt somit den Weg von den Perzeptionen zu den Apperzeptionen dar, endet jedoch nicht – wie noch bei Descartes – im unterscheidenden Denken, sondern im Bewusstsein. Vor dem distinkten Urteilsvermögen wird gleichsam Halt gemacht, und der Haltmacher ist das Bewusstsein. Es waltet bereits in den mittleren Seelenvermögen, besonders in der Vorstellungskraft. Daher kann man hier von einer bewussten Vorstellung sprechen – zudem auch von einer Bewusstseinstheorie im 18. Jahrhundert, die auf Rationalismus und Anti-Cartesianismus fußt. Besonders deutlich tritt das Anliegen eines Zusammenführens von Descartes und Leibniz vor Augen, wenn Wolff konstatiert: Von der Bezeichnung der Apperzeption macht Leibniz Gebrauch. [sc.: Was bei Descartes das Bewusstsein ist, ist bei Leibniz die Apperzeption] Sie fällt indes mit der Bewusstheit in eins, einem Begriff, den Descartes bei einer gegenwärtigen Beschäftigung anwendet. 159
Die Perzeption entspricht demnach der Vorstellung, die Apperzeption der Bewusstheit dieser Vorstellungen. Letztere konstituiert dann das Bewusstsein. 160 Ebd., § 22: »Animæ existentiam ante cognoscimus, quam corporis. Etenim animæ nostræ existentiam ex eo cognoscimus, quod nobis nostri rerumque aliarum extra nos conscii simus (§. 20 Psychol. & §. 349 Log.)«. 157 Ebd., cap. II , § 24: »Mens percipere dicitur, quando sibi objectum aliquod repræsentat: ut adeo Perceptio sit actus mentis, quo objectum quodcunque sibi repræsentat«. 158 Ebd., § 25: »Menti tribuitur Apperceptio, quatenus perceptionis suæ sibi conscia est«. 159 Ebd., § 25: »Apperceptionis nomine utitur Leibnitius; coincidit autem cum conscientia, quem terminum in praesenti negotio Cartesius adhibet«. 160 Somit handelt es sich hierbei um die conscientia und gerade nicht um die bei Descartes so prominent behandelte cogitatio (respektive das cogitare) oder gar um die cognitio (respektive das cognoscere); denn bereits die cartesische Tradition unterscheidet zwischen cogitare und conscius esse. Ausdrücke wie etwa der modus cogitandi heben nicht auf das Bewusstsein ab, sondern prädizieren einen Bezug zum Denkvermögen. Es kann zu den erfreulichen Entwicklungen der Übersetzungsgeschichte gezählt werden, dass der Unterscheidung zwischen Denken und Bewusstsein zunehmend Rechnung getragen wird. Ein für die Descartes-Rezeption zentrales Beispiel findet sich zu Beginn des dritten Buchs der Meditationes de prima philosophia: Während Gäbe (31992), 156
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Was bei Wolff hierauf systematisch folgt, ist die Einführung der allgemeinen Begriffe unterer und mittlerer Seelenvermögen, nämlich diejenigen der Empfindung, Vorstellung und Einbildungskraft. Diese Topologie wird nach einer von der antiken Psychologie geleiteten Reihenfolge ausgeführt, nämlich von den inferioren zu den superioren Seelenvermögen. Die Paragraphen 56–90 wenden sich zunächst den Sinnen zu. Teileindrücke einer Empfindung können nach Leibniz verworren sein, die Gesamtempfindung jedoch kann dabei klar bleiben. So heißt es in den mit De sensu betitelten Paragraphen: »Perzeptionen, welche ihren Grund in den Veränderungen, in den Organen unseres Körpers enthalten, sofern sie als solche auftreten, heißen Empfindungen.« 161 Wolff betont in dieser Sektion also die Verhaftung der Sinne mit der äußeren körperlichen Welt; er ruft damit ein weiteres Mal einen Gemeinplatz aus dem Cartesianismus auf: Das Sinnesorgan wird ein Organ oder ein organischer Teil eines Körpers genannt, in dessen Veränderungen die Gründe der Perzeptionen der materiellen Dinge in der sichtbaren Welt enthalten sind. So ist das Auge ein Sinnesorgan: Aus den Veränderungen nämlich, die ebendiesem von den äußeren Objekten her eingeführt werden, [. . . ] erkennt man, warum man dieses eher sieht als jenes und warum dieses Objekt als ein solches in Erscheinung tritt. 162
Die Objekte der Sinne sind in erster Instanz vom Subjekt selbst strikt ausgelagert; daher bezeichnet Wolff auch im folgenden Paragraphen die Sinnesfähigkeit als »Fähigkeit, äußere Objekte mit den Sinnesorganen zu erfassen, sofern sie ihnen [sc. den Sinnesorganen] eine Veränderung einbringen.« 163 Der Weg führt von den äußeren Objekten über die Perzeptionen bis hin zu den Apperzeptionen, die bei Wolff ebenfalls für den Zustand des Bewusstseins veranschlagt werden. Der Aspekt des Einführens, den wir in ähnlicher Verwendung bereits bei Kepler sahen, wird hier im Rahmen von innerer und äußerer Welt behandelt. Bevor der Gegenstand erkannt wird (intelligitur), wird er in den seelischen Apparat eingeführt (inducuntur). Vorstellungen umfassen 61 die dort von Descartes aufgeworfenen modi cogitandi noch mit »Bewußtseinsbestimmungen« übersetzt, trifft Wohlers (2008), 69 mit »gedankliche[n] Zugriffen« den passenderen Ausdruck. 161 Wolff, Psychologia empirica, pars I , sect. II , cap. II , § 65: »Perceptiones, quarum ratio continetur in mutationibus, in organis corporis nostri qua talibus contingentibus, dicuntur Sensationes«. 162 Ebd., § 66: »Organum sensorium appellatur organum seu pars organica corporis, in cujus mutationibus continentur rationes perceptionum rerum materialium in mundo adspectabili. Ita organum sensorium est oculus: ex mutationibus enim, quæ eidem ab objectis externis inducuntur, [. . . ] intelligitur, cur jam hoc potius videamus objectum, quam aliud, & cur tale hoc appareat objectum«. 163 Ebd., § 67: »facultas percipiendi objecta externa mutationem organis sensoriis qua talibus inducentia.«.
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daher – wie in Kapitel iv.3 gesehen, ganz in Übereinstimmung mit der mathesis universa – Begriffe und Empfindungen. Somit ist auch die Erzeugung der Deutlichkeit der Erkenntnis (repraesentatio distincta) nach wie vor eine Tätigkeit des Verstandes; die Undeutlichkeit wird demgegenüber den Sinnen und der Einbildungskraft überantwortet. Hierdurch kann die Empfindungslehre im Sinne der Erzeugung von Verworrenheit weiterentwickelt werden. Perzeptionen und Apperzeptionen gehen nicht in der cartesischen Klarheit auf, sondern halten sich mithilfe der Einbildungskraft in einem Bereich zwischen distinkten und dunklen Seelenregionen auf. Wolffs strategische Ersetzung des Erkennens durch das Prinzip der Bewusstheit arbeitet demnach dem Ziel zu, einen Aufenthaltsort für die quantitativen Seeleninhalte zu schaffen. Wo das Erkennen immer mit einem Umschlag (von der Unkenntnis zur Kenntnis, vom Unwissen zum Wissen, von der Dunkelheit ins Licht etc.) verbunden ist, mithin mit einem Wechsel der Seelenregion, kann über die Instanz der Bewusstheit ein Raum geschaffen werden, in dem sich indifferente Größen versammeln. Sie sind in erster Linie anschaulich, 164 können des Weiteren für die Erkenntnisgewinnung relevant werden, müssen dies jedoch nicht unbedingt tun. Dieser Raum fungiert somit als Zwischenbereich der sinnlichen und der distinkten Sphäre. Die Forderung nach einer sinnlichen Herleitung nicht nur der Bilder, sondern auch der Begriffe ist außerdem – wie wir in Kapitel iv.3.b sehen konnten – Ausweis des mathematischen Anspruchs an die Realdefinitionen. Die folgenden §§ 91–172 machen in der Behandlung der Seelenvermögen nun den entsprechenden Schritt und befassen sich dezidiert mit der Einbildungskraft. Im Verhältnis zum Bewusstsein ist sie ein ungleich operationaler in Erscheinung tretendes Vermögen, das im Seelengefüge eine mittlere Stellung einnimmt. Eine ihrer ersten Funktionen besteht darin, die äußeren Eindrücke – die ja erfahrungsgemäß nicht in derselben Intensität bestehen bleiben, sondern einem natürlichen Schwindprozess unterliegen – im inneren Sinn in Form von Platzhaltern aufrecht zu erhalten beziehungsweise sie nach dem Verlust wiederherzustellen. Es handelt sich beim Vorstellen (repraesentare) demnach um ein funktionales Zusammenspiel zwischen dem oberen Vermögen des Geistes (mens) und der Aufnahmefähigkeit des unteren Sinnesvermögens (sensus): Der Geist kann Ideen von abwesenden sinnlichen Objekten wiederherstellen, oder was auf gleiche Weise gilt: Wenn die Seele an irgendeiner Stelle etwas mit dem Sinn aufnimmt, kann sie deren Perzeptionen wiederherstellen, natürlich auch
164 Denn ihre Quelle ist, wie Wolff anführt, der mundus adspectabilis und ihre Tätigkeit das Hervortreten in die Sichtbarkeit (apparere).
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wenn die Objekte abwesend sind. Dasselbe wird durch die naheliegende Erfahrung bekräftigt, insofern es keinen Moment gibt, in dem wir neben demjenigen, was wir mit dem Sinn erfasst haben, es uns nicht zugleich in Abwesenheit vorstellen. 165
Das Vorstellen erfüllt gewissermaßen eine Stellvertreterfunktion nach der Aufnahme von Objekten durch die Sinne. Der Einfluss dieser Denkfigur auf das 18. Jahrhundert wurde in der Forschung bereits häufig und luzide dargelegt. 166 Für unser Thema ist an dieser Stelle noch wichtiger, dass wir hier auch bereits einen produktiven Tätigkeitsaspekt vorfinden; denn es geht darum, die sinnlichen Ideen 167 wiederherzustellen (reproducere). Die sinnlichen Eindrücke werden nicht dadurch internalisiert, dass sie durch das körperliche Gewebe dringen, sondern dass sie konkretes Material für die Produktion und Reproduktion von Bildern liefern. Die Erstperzeption liegt stets ganz in den Sinnen, wie Wolff an obiger Stelle durch den sensus-Gebrauch betont. Dies befindet sich im Einklang mit der Lehre Aristoteles' aus De anima, wo ja auch das sinnliche Substrat noch vor der Kognitionsleistung durch die Einbildungskraft angesetzt wurde. Deren Funktion war dort eine zuvorderst mediale, und die Größe, um die sich alles drehte, hieß φάντασµα. Wolff wählt nun das griechische Fremdwort im Lateinischen hierzu – also phantasma, und nicht etwa das naheliegende Pendant imago – 168 und schließt sich dadurch scheinbar ganz der geebneten Traditionslinie an – nur um im Zuge der Darlegung seiner Psychologie dann doch etwas gegenüber dem Aristotelismus anzubringen. Zunächst weist er auf eine begriffliche Nuance hin: Allerdings verwenden die Aristoteliker den Ausdruck phantasma [Kursivierung: D. B.] nicht in genau demselben Sinn [sc., wie er hier verwendet werden soll]; uns jedoch genügt es, dass im selben Sinn die Ideen, die von der EinbildungsEbd., cap. III, § 91: »Objectorum sensibilium absentium ideas mens reproducere valet, seu, quod perinde est, Si qua sensu percepit anima, eorum perceptiones reproducere potest, objectis licet: absentibus. Obvia experientia idem confirmatur, cum nullum sit momentum, quo juxta ea, quæ sensu percipimus, non simul absentia nobis repræsentemus«. 166 Vgl. Koschorke (22003), 263–322. 167 Hier wohl vor allem als Bilder und Formen im Sinne des aristotelischen εἶδος aufzufassen – im Gegensatz zu den platonischen εἴδη, die ja ewig existieren und dementsprechend vom Menschen gar nicht erst genuin hervorzubringen sind. 168 Diese Bedeutung ist bereits im klassischen Latein bezeugt, besonders bei Ovid und Vergil, aber auch in der Prosa, etwa bei Tacitus; vgl. Georges (81998), s. v. »imago«, 60: »die Vorstellung, die man von etwas hat oder sich macht, der lebhafte Gedanke an etwas, ponti tristis imago, Ov.: tantae caedis imago, Ov. – si te nulla movet tantae pietatis imago, Verg.: es tumidus genitoris imagine falsi, Ov.: poenae in imagine tota est, beschäftigt sich ganz mit dem Gedanken an die (zu vollziehende) Strafe, Ov.: tua (an dich), pater Druse, imago, Tac.«. 165
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kraft hervorgebracht worden sind, auf angemessene Weise ausgedrückt werden können. 169
Im Vergleich zu der auf De anima beruhenden Begriffstradition wird hier die Einbildungskraft eigenständiger, nämlich im Sinne ihrer Produktionsfähigkeit gedacht – mit der Folge, dass sie mehr als nur vermittelnde Funktionen in ihrer Stellung im Gefüge der Seelenvermögen ausüben kann. Eine solche Ausweitung fällt Wolff nach eigenen Angaben umso leichter, [d]a ja die Aristoteliker in ihrer Lehre über den menschlichen Geist nicht genügend wechselseitig voneinander getrennt haben, was unterschieden werden musste; daher wird es uns niemand als Fehler auslegen, wenn wir der angemessenen Erkenntnis hinsichtlich der Seele folgen wollen und den Worten feste sowie spezifische Bezeichnungen zuweisen. 170
Der Vorwurf ist klar: Aristoteles war zu wenig differenziert in seiner Einordnung der Einbildungskraft in den Apparat der Seele. Was aber ist es nun, das Wolffs phantasma aus dem Kontext dieser vermeintlich zu ungenauen Psychologie heraustreten lässt? Es ist die Fähigkeit des Fingierens. Wir hatten diese bereits in der Behandlung der Analytik und Kombinatorik als facultas fingendi kennengelernt und dabei deren Grundfunktionen des dividere und componere herausgestellt. Durch diese funktionale Abgrenzung nämlich stellt die Einbildungskraft keine bloße Vermittlungsinstanz auf dem Weg von den Sinnen zur Erkenntnis dar, sondern zeigt sich mit der mathematischen Kombinatorik ausgestattet – einer Kombinatorik, die ihre Selbsttätigkeit in dem selben Maße bezeugt, wie sie sie als erfinderische Instanz legitimiert. Denn die Art des Kombinierens muss nicht mehr unbedingt nach den Regeln des Verstandes oder der Vernunft erfolgen. Sie kann sich prinzipiell anderen Regeln verpflichten. Der Zusammenhang, der zwischen dem Fingierens und der Einbildungskraft herrscht, wird von Wolff an vielerlei Stellen betont, besonders ausführlich jedoch in § 148 ausgeführt. Dort wird im scheinbar willkürlich waltenden Zusammenstellen der Vorstellungsbilder gar die entscheidende Analogie zwischen Einbildungskraft (imaginatio) und Kunstfertigkeit (ars) gesehen, mithin das Prinzip der Komposition erstmals auf die Ebene der Freien Künste ausgeweitet:
Wolff, Psychologia empirica, pars I, sect. II, cap. III, § 93: »Equidem Aristotelici vocabulum phantasmatis non eodem prorsus sensu accipiunt; sed sufficit nobis eodem commode exprimi posse ideas ab imaginatione productas«. 170 Ebd.: »Quoniam Aristotelici in doctrina de mente humana non satis a se invicem separarunt, quæ distingui debebant; ideo nemo nobis vitio vertet, si accuratam de anima cognitionem consecuturi determinatas & fixas vocabulis tribuamus significationes«. 169
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§. 148. Wenn die Einbildungskraft durch eine willkürliche Zusammenstellung ein gewisses Vorstellungsbild hervorbringt, kann die Kunstfertigkeit ein Objekt hervorbringen, das dem selbigen ähnelt. Wann immer nämlich die Einbildungskraft durch eine willkürliche Zusammenstellung ein gewisses Vorstellungsbild hervorbringt, vereinigt sie entsprechend ihrem Willen die teilweisen Perzeptionen, um eine einzige zusammengesetzte zu formen. (§. 142). Wenn daher diese TeilPerzeptionen körperliche Dinge darstellen, die zuvor vom Sinn aufgenommen wurden (§. 91), ist es keineswegs ein Widerspruch, Figuren dem Stoff von der Art zuzuführen, wie sie die selbigen besitzen (§. 88 Ontol.). Da ja außerdem die so figurierten Teile ein Kontinuum im Vorstellungsbild durch Annahme bilden, ist es sehr gut möglich, dass die so figurierten Teile zu sich wechselseitig fortsetzenden werden. Nichts also hindert daran, dass derartige Figuren dem Stoff auf der fortgesetzten Oberfläche zugeführt werden; die Kunst kann folgerichtig ein Objekt hervorbringen, das dem Vorstellungsbild ähnelt (§. 195 Ontol.). Dasselbe wird auch im Nachhinein bestätigt: Durch die Kraft der Einbildung bringen wir ein Vorstellungsbild hervor, in dem einem menschlichen Rumpf ein Hirschkopf zusammen mit Pferdefüßen und Menschenarmen angefügt werden. Da ja der Hirschkopf, der Rumpf eines menschlichen Körpers, Pferdefüße und Menschenarme in der Zahl der Entitäten sind, die existieren, ist es sehr leicht möglich, dass dem Stoff Figuren dieser Art zugeführt werden, wie sie äußerlich in Erscheinung treten. Und weil es kein Widerspruch ist, Figuren jedweder Art zusammen demselben Rumpf oder Stein zuzuführen, so dass sie auf einer äußeren Oberfläche eine Kontinuität darstellen, kann einem Holzstück oder einem Stein gleichermaßen die Figur eines Hirschkopfes, eines Rumpfes eines menschlichen Körpers, menschlicher Arme und von Pferdehufen eingegeben werden, so dass auf der Oberfläche die Teile in Ansehung der Extremitäten solche sind, die sich wechselseitig fortsetzen. Daher kann ein Bildhauer eine Statue erschaffen, die einen Hirschkopf, einen menschlichen Rumpf und Pferdefüße hat. Ebenso kann ein Maler auf einer Tafel eine Entität derselben Art zeichnen, und durch die Schmelzkunst kann dasselbe aus Metall entstehen. 171 Ebd., cap. IV, § 148: »§. 148. Si imaginatio per arbitrariam compositionem phantasma quoddam producit, ars objectum eidem simile producere valet. Quando enim imaginatio per arbitrariam compositionem phantasma quoddam producit, perceptiones partiales ad constituendam unam compositam combinat pro arbitrio (§. 142). Quare cum perceptiones istæ partiales repræsentent res corporeas antea sensu perceptas (§. 91); minime repugnat materiæ istiusmodi induci figuras, quales eædem habent (§. 88 Ontol.). Quoniam præterea partes ita figuratæ continuum exhibent in phantasmate per hypoth. nec impossibile est, ut partes ita figuratæ sibi mutuo fiant continuæ. Nihil igitur obstat, quo minus materiæ figuræ inducantur istiusmodi in superficie continua, consequenter ars objectum phantasmati simile producere valet (§. 195 Ontol.). Idem etiam confirmatur a posteriori. Imaginationis vi producimus phantasma, in quo trunco humano jungitur caput cervinum cum pedibus equinis & brachiis humanis. Quoniam cervinum caput, truncus corporis humani, pedes 171
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Das Feld, das Wolff hier absteckt, reicht von den sinnlich-unbewussten Seelenvermögen über die Kompositionsfähigkeiten der Einbildungskraft bis hin zu den Möglichkeiten, die sich den Künsten respektive den Künstlern durch die Kombinatorik eröffnen. Auf der Oberfläche des Kunstwerks ergeben sich, wie Wolff selber sagt, im Zuge der künstlerischen Verfertigung so etwas wie kontinuierliche Figuren; ihre Substrate entstammen indes der Wirklichkeit; dementsprechend werden sie selbst als extrinsisch gedacht (extus). Somit ist die Zusammenfügung von Gliedmaßen, die für sich genommen natürlicher Provenienz sind, in ihrer Kombination jedoch unnatürlich erscheinen müssen, hier die Aufgabe der Einbildungskraft. Die Kunst wird damit zum Exerzierfeld der Einbildungskraft. Umgekehrt wird die Einbildungskraft zum Tätigkeitsprinzip der Kunst, da sie Dinge beliebiger Provenienz zu kombinieren vermag. Mit dem zuletzt genannten Bildhauer (sculptor), dem Maler (pictor) und der metallischen Schmelzkunst (ars fusoria) werden von Wolff nun ausgerechnet Beispiele aus dem nicht-literarischen Bereich der Künste gewählt, um die Kombinationsmöglichkeiten exemplarisch vorzuführen. Die Passage setzt, mehr noch, eine Hauptvertreterin der neuzeitlichen Industrie, eben die metallische Schmelzkunst, in Anschluss an antike Vorstellungen von Ästhetik: Der zuvor genannte pictor korrespondiert mit dem Sujet, mit dem Horaz' Ars poetica beginnt; dort kann das Zusammenstellen der Bildeinheiten zwar auch nach willkürlichen Kriterien geschehen, driftet aber, wenn der Anspruch an Harmonie und Ordnung aufgegeben wird, leicht ins Geschmacklose ab:
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Humano capiti cervicem pictor equinam iungere si velit et varias inducere plumas undique conlatis membris, ut turpiter atrum desinat in piscem mulier formosa superne, spectatum admissi risum teneatis, amici? 172
equini & brachia humana sunt in numero entium, quæ existunt; non impossibile est ut materiæ istiusmodi figuræ inducantur, quales extus apparent. Et quia non repugnat figuras quaslibet una induci eidem trunco arboris vel lapidi, ut in superficie externa continuitatem exhibeant; ligno vel lapidi incidi potest simul figura capitis cervini, trunci corporis humani, brachiorum humanorum & pedum equinorum, ut in superficie partes circa extrema sibi mutuo sint continuæ. Sculptor itaque effigiare valet statuam, quæ habet caput cervinum, truncum humanum, brachia humana & pedes equinos. Similiter pictor in tabula istiusmodi ens delineare valet, & arte fusoria idem ex metallo fieri potest«. 172 Hor., ars, 1–5: »Wenn ein Maler einem menschlichen Kopf den Hals eines Pferdes anfügen wollte und Gliedmaßen, die von überall her zusammengetragen wurden, mit mannigfaltigem Gefieder ausstatten wollte, so dass eine schöne Frau auf hässliche Weise von oben her in einen schwarzen Fisch übergeht, könntet ihr, meine Freunde, euch beim Anblick das Lachen verkneifen?«.
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Das berühmte Bild zu Beginn der Ars poetica führt die Möglichkeiten der compositio anhand einer chimärenhaften Figur vor. Die Freunde, von denen Horaz spricht, sind nicht einfach Freunde aus alter Bekanntschaft oder Verbundenheit, sondern bilden vielmehr eine ästhetische Gemeinschaft. Denn sie kommen offensichtlich zu demselben Geschmacksurteil, wenn es um die Bewertung des beschriebenen Mischwesens geht. 173 Die Zusammenstellung der Einzelteile eines Kunstwerks verweist auf einen ästhetischen Anspruch, den es allgemein zu behaupten gilt – und zwar bei Horaz ex negativo, insofern angezeigt wird, wie man gerade nicht die Teile zusammenfügen sollte, so man das vernichtende Urteil der ästhetisch offenbar gut instruierten Freunde meiden will. Die Zusammenstellung besteht für Wolff wie für Horaz in Form des iungere (bei Wolff: jungere) und des inducere. Hiermit sind die beiden Arten von Tätigkeiten benannt, an denen der Künstler sich zu schulen hat. Wolff macht, wie in § 148 gesehen von einer ausgesprochen ähnlichen lexikalischen Montur Gebrauch, die wir bei Horaz vorfinden. Er transportiert die Wortfelder aus dem ersten Vers der Ars poetica mit nur leichter Variation. 174 Somit ist es keine Ästhetik von beliebigem, der Willkür der Sinne geöffnetem Zuschnitt, die hier angedacht wird, sondern eine solche nach horazischem Vorbild. Wo bei Horaz allerdings das Vermögen der künstlerischen Tätigkeiten nach außen hin verhandelt wird, in den Bereich der Wirkungen (risus), die es zeitigt, wird dieses bei Wolff nach innen hin verlagert und liegt selbst ganz in der Zuständigkeit der Einbildungskraft. Betrachten wir das Prinzip, nach dem der Künstler alles in Würde zu gestalten hat, um jenem Gelächter zu entgehen. Bei Horaz ist dieses Prinzip die Harmonie, die ›Einheit in der Mannigfaltigkeit‹. Es geht darum, dass der Künstler durchaus von unterschiedlichen Teilen Gebrauch machen darf; sie führen aber nur bei richtiger Komposition zu einem stimmigen Ganzen. Das horazische Kunstverständnis geht daher – was in loser Tradition zum aristotelischen ὅλον zu sehen ist – in den Paradigmen des Werks (opus) und des Ganzen (totum) auf. Hierfür wird in der Ars poetica wiederum ein Beispiel aus der Körperwelt, namentlich des Handwerks, angeführt: Aemilium circa ludum faber imus et unguis exprimet et mollis imitabitur aere capillos, infelix operis summa, quia ponere totum 173 Die gerade in der älteren Forschung so häufig aufgeworfene Frage, ob es sich bei den amici nun um die Pisones handelt oder noch um weitere Bekannte aus dem Umfeld des historischen Horaz, ist daher für das Hauptanliegen der Passage als zweitrangig einzustufen. 174 Die Lexeme humanus, caput, pictor und equinus sind in beiden Fällen identisch, die membra werden bei Wolff zu brac(c)hia.
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nesciet: hunc ego me, si quid componere curem, non magis esse velim quam naso vivere pravo, spectandum nigris oculis nigroque capillo. 175
Das hier benannte Zusammenstellen (componere) dient nicht dem Zweck, bestimmte Facetten eines Kunstwerks herauszukehren oder gar überzubetonen – dies wäre vielmehr die Profession der verpönten Aemilius-Schule –, sondern dem Ganzen (totum) zuzuarbeiten. Zur Illustration dieses Werkcharakters wird von Horaz der Zusammenschluss des Einfachen und Einzigen (simplex et unum) bemüht. 176 Man könnte nun leicht mutmaßen: Horaz wie auch Wolff geht es um die fast schon gnomisch zu nennende und bis in unsere Zeit geläufige Formel, das Ganze sei einfach stets mehr als die Summe seiner Teile – ein Gedanke, der, für sich betrachtet, wie das plane Gegenteil des Mechanizismus anmutet, versucht dieser doch, Funktionen des Ganzen (machina, apparatus) auf die Funktionen der einzelnen Teile (partes machinae, organa) rückzuführen. Genau das macht jedoch nicht die Substanz eines künstlichen Gebildes aus, weder für Horaz noch für den Mechanizismus. In der Ars poetica werden vielmehr Kriterien vorgebracht, die eine Kunsttheorie im Sinne einer ästhetischen Ausgewogenheit bei gleichzeitiger Differenz der Teileinheiten des Kunstwerks untereinander formulieren. 177 Der Mechanizismus wiederum gibt die Einzelteile auf dem Weg zum Ganzen nicht auf, sondern trägt sie in Form ihrer operationalen Funktionen in das Ganze mit fort. Umgekehrt dient die Rückführung auf Einzelteile im Mechanizismus spätestens mit dem Erfolg dynamischer Philosophien immer auch der Rückführung auf Prinzipien – seien diese Prinzipien nun Bewegung, Tätigkeit oder Kraft genannt. Somit ist die Zusammengesetztheit dann ein Ganzes zu nennen, wenn sie bestimmten Anforderungen nach Gliedern und Teileinheiten, Fähigkeiten und Funktionen genügt. Was Horaz gleichsam verwehrt blieb, wovon Wolff indes ausgiebig Gebrauch machen kann und macht, ist die Entfaltung dieses Moments anhand der leibnizschen Philosophie. Leibniz nämlich bietet mit der prästabilierten Harmonie das maßgebliche Prinzip der Schönheit im Rahmen einer substanHor., ars, 32–37: »Der Handwerker am untersten Ende der Aemilius-Schule wird Fingernägel zum Ausdruck bringen und seidige Haare mit Erz nachbilden, am höchsten Anspruch des Werks wird er jedoch scheitern, da er es nicht vermag, ein Ganzes zu schaffen. Wenn ich etwas zusammenstellen wollte, so wollte ich ebenso wenig jener sein, wie mit krummer Nase zu leben, selbst wenn ich mich mit dunklen Augen und dunklem Haar sehen lassen könnte.« (Hervorhebung in der Übersetzung: D. B.) Der Ausdruck ›Aemilius-Schule‹ bezeichnet eine Ausbildungsstätte von Gladiatoren in Rom. 176 Vgl. Hor., ars, 23: »simplex [. . . ] et unum«. 177 Denn Horaz schwebt nicht die schiere Gleichheit vor, sondern Dinge, die »in sich stimmig sind«. (Hor., ars, 119: »sibi convenientia«). 175
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tiell in sich diversifizierten Welt. Denn auch Leibniz sagt nicht, dass alles Eins sei, er verfolgt kein monistisches Programm wie etwa Spinoza. 178 Leibniz' Programm ist vielmehr holistisch zu nennen, hat also das Ganze nicht nur im Blick, sondern leitet die Funktion der Einzelteile aus dem Gesamtzusammenhang ab. Dem entspringt denn auch die von Wolff bemühte Wortwahl, dass die Kunstfiguren ein Kontinuum bilden können – ganz in Entsprechung zur Auffassung über die im Universum vorhandene Energie, die urtümlich kontinuierlich vorhanden ist und demgemäß auch in ihren phänomenalen Fortsetzungen keine Sprünge macht. Die Essenz eines Kunstwerks besteht somit nicht in der schieren Funktionalität der Einzelteile, sondern in seinem ganzheitlichen – für Leibniz und Wolff holistisch grundierten – Kompositionscharakter. Halten wir fest: Das Prinzip der Komposition ist bei Wolff psychomechanisch begründet: Es befindet sich als Tätigkeit (facultas fingendi) im Einflussbereich der Einbildungskraft (vis imaginandi, imaginatio), bedient sich der Analytik und Kombinatorik aus der universellen Mathematik (mathesis universa) und bringt fortlaufend Elemente ins Spiel, deren Substrate aus der sinnlichen Welt geschöpft wurden. Hierdurch finden wir nun die passende Antwort, was ein phantasma ist, wenn schon, jedenfalls nach Wolffs Meinung, Aristoteles hierzu allzu wenig gesagt hatte: ein Aufgreifen, Wiederherstellen und Verbinden der über die Sinne vermittelten Wirklichkeitssubstrate – zugleich die Grundeinheit des ästhetischen Urteils. Das ästhetische Urteil kann indes – wie bei Horaz gesehen – nur allzu leicht und zuallererst in der Ablehnung, im Gelächter bestehen. Es kann aber – wenn wir bedenken, dass der Künstler selbst sein erster Kritiker ist – auch selbst reichliche Irrwege beschreiten, die sich im Werk wie auch in dessen Rezeption fortsetzen. Es bedarf daher bestimmter Kriterien, an denen sich der Kunstverstand, nicht nur der Rezipienten, sondern auch der Künstler, schulen muss. Die Freiheit des Künstlers darf, wie gesehen, nicht in Beliebigkeit münden. Wodurch müssen die Freiheiten des Künstlers im Sinne des von Horaz herbei gezogenen Interlocutors 179 also nun eingeschränkt werden? Bei Horaz geht es in dieser Frage und der daraus abgeleiteten Forderung klar um die Wahl der Stoffe und deren Anordnung. Bereits der so gescholtene Maler zeichnete sich dadurch aus, dass er Gliedmaßen von überall her zog (undique conlatis membris) und diese auch noch geschmacklos kombinierte. Eine gute
178 Nicht zuletzt deswegen verteidigt Wolff ihn auch gegenüber dem Vorwurf, dass das System der prästabilierten Harmonie einen verkappten Spinozismus darstelle; vgl. Wolff, De differentia systematis harmoniae praestabilitatae et hypothesium Spinosae, 63–65. 179 Vgl. Hor., ars, 9 f. »pictoribus atque poetis / quidlibet audendi semper fuit aequa potestas.« (»Maler und Dichter / hatten immer schon dieselbe Macht, zu wagen, was auch immer sie wollten.«).
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Ordnung gelinge demgegenüber nur demjenigen, der seinen eigenen künstlerischen Kräften nicht zu viel zumutet:
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Sumite materiam vestris, qui scribitis, aequam viribus et versate diu, quid ferre recusent, valeant umeri. cui lecta potenter erit res, nec facundia deseret hunc nec lucidus ordo. 180
Man soll sich also nur dasjenige zum Gegenstand wählen, das den eigenen Kräften gemäß ist. Da dies in Form einer regelrechten Last, die auf den Schultern ruht, vorgeführt wird, lässt sich von einer Art von Stemmkraft sprechen, die hier von Horaz angedacht wird. Das Ziel ist aber nicht nur, die geeignete Schwere (oder eben Leichtigkeit) des Stoffes zu wählen, sondern auch die geeignete Ordnung hervorzubringen, in der diese Stoffe sich zu befinden haben – ein Leitaspekt, der durch sumite materiam und lucidus ordo auch rhetorisch abgebildet wird, insofern sie die vier Verse rahmen, in denen von der Kraft der Dichter 181 die Rede ist. Bereits die Wahl des geeigneten, das heißt: den eigenen Kräften entsprechenden Stoffes ist der erste Schritt zu einer gelungenen Komposition. Auch Wolff stellt die Frage nach der Wahl- und Kombinationsfreiheit der Künstler. Denn auch bei ihm ist die Frage nach dem Zusammenschluss einzelner Teile, wie schon in Paragraph 148 der Psychologia Empirica ersichtlich war, eine Frage, die das künstlerische Vermögen elementar betrifft. Da dieses künstlerische Vermögen, wie in Kapitel iv.2 gesehen, in einer facultas fingendi besteht, muss es in Abhängigkeit von der Einbildungskraft und damit auch anhand der Freiheit der selbigen beantwortet werden. Und tatsächlich macht Wolff hierzu eindeutige Aussagen, die sich nicht nur in der Psychologia empirica, sondern auch in deren rationalistischem Pendant, der Psychologia rationalis (1734) niederschlagen. Wieder liegt dies in einer Tätigkeit der Seele (operatio animae); es ist das Lenken der Aufmerksamkeit (attentionem dirigere), was hierfür einsteht: §. 344. Wenn man seine Aufmerksamkeit auf irgendetwas richtet, was man mit seinem Sinn aufgenommen hat, von wo man dieselbe [sc. Aufmerksamkeit] auch wieder abwenden konnte, so hängt das Vorstellungsbild, das von dort aus entsteht, von der Freiheit der Seele ab hinsichtlich des Actus. Wenn man nämlich seine Ebd., 38–41: »Nehmt, die ihr schreibt, einen Stoff, der euren Kräften entspricht, / und erwägt lange, was eure Schultern zu tragen verweigern und was sie [sc. tragen] können. / Demjenigen, der die Sache mit der nötigen Kraft gewählt hat, / wird es nicht an Redegewandtheit und klarer Ordnung fehlen«. 181 Durch die Attribuierung qui scribitis hat sich Horaz nach seinen Einlassungen zur Mal- und Töpferkunst nun eindeutig den Dichtern zugewandt. 180
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Aufmerksamkeit auf irgendetwas richtet, was man mit dem Sinn erfasst, obschon man sie von dem selbigen abwenden könnte, besteht kein Zweifel daran, dass man die Aufmerksamkeit in diese Richtung frei richten wollte (§. 194. Psychol. empir.). Also ist es notwendig, dass man auch dasjenige will, was aus dieser Aufmerksamkeit notwendigerweise folgt. Da ja nun, sobald eben diese [sc. Aufmerksamkeit auf etwas] gelegt wurde, ein Vorstellungsbild notwendigerweise hervorgebracht wird, das durch das Gesetz der Einbildungskraft von dort abhängt (§. 224), hängt ein Vorstellungsbild, das aus einer sinnlichen Idee hervorgegangen ist, auf die man seine Aufmerksamkeit richtet, obschon man diese [sc. Aufmerksamkeit] von dort abwenden könnte, von der Freiheit der Seele ab. 182
Die Bewegung vollzieht sich von der sinnlichen Welt hin zur Welt der Einbildungskraft. Sie konstituiert sich aus dem Gesetz der Einbildungskraft (lex imaginationis). Darin eine plane Affirmierung der Sinnlichkeit zu sehen, wäre gleichwohl falsch. Auch die Vernunft muss eine Rolle spielen: §. 348. Wenn man durch die Tätigkeiten des Geistes dasjenige auswählt, was zum Erstellen eines gewissen Vorstellungsbildes zusammenkommen muss, hängt dessen Hervorbringen von der Freiheit der Seele ab. Wenn man nämlich durch die Tätigkeiten des Geistes, unter denen auch die vernunftmäßige Überlegung ihren Platz hat (§. 325. Psychol. empir.), dasjenige auswählt, was zum Erstellen eines gewissen Vorstellungsbildes zusammenkommen muss, sich gleichsam an eine gewisse hieroglyphische Figur macht (§. 252. Psychol. empir.), spannt man seine Aufmerksamkeit auf die Hervorbringung des Vorstellungsbildes an und wendet, um dieses zu erreichen, Tätigkeiten des Geistes an, die man auslassen könnte. Deswegen hängt die Hervorbringung dieses Vorstellungsbildes von der Freiheit der Seele ab (§. 941. Psychol. empir.). Erwäge irgendein Beispiel für eine hieroglyphische Figur, wie die der Seele bei Comenius oder die des Teufels, der in der Gestalt eines franziskanischen Mönchs erscheint (not. §. 152. Psychol. empir.), und bedenke, welche Tätigkeiten des Geistes es sind,
Wolff, Psychologia rationalis, sect. I, cap. III, § 344: »§. 344. Si attentionem dirigis in quidpiam sensu perceptam, a quo eandem avertere poteras; phantasma inde ortum a libertate animæ pendet, quoad actum. Etenim si in quidpiam, quod sensu percipis, attentionem tuam dirigis, cum eam ab eodem avertere posses; dubio caret, quod attentionem in eam directionem dirigere libere velis (§. 194. Psychol. empir.). Necesse igitur est, ut ea etiam velis, quæ ex hac attentione necessario consequuntur. Quoniam itaque eadem posita phantasma necessario producitur, quod per legem imaginationis inde pendet (§. 224); phantasma ortum ex idea sensuali, in quam attentionem tuam dirigis, cum eam inde avertere posses, a libertate animæ pendet«. Emendiert wird, da es sich um einen offensichtlichen Druckfehler handelt, »avertere« für »averte« (Seite 278, Zeile 3 in der verwendeten editio princeps). 182
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denen die Hervorbringung jenes Vorstellungsbildes zuzuteilen ist, und sogleich wirst du sehen, wie viele Bewegungen einer freien Seele hier zusammenkommen. 183
Die Tätigkeiten des Geistes werden hier eng auf die Einbildungskraft bezogen; sie dienen als Ausweis der seelischen Freiheit, können sich indes auch in andere Seelenteile, etwa das Gedächtnis auslagern. 184 Die Freiheit der Seele ist somit damit beschäftigt, Bewegungen zusammenlaufen zu lassen. Was sie selbst dabei vollführt, besteht demnach in nichts anderem als in Bewegungen einer freien Seele (actiones animae liberae). Was fasst Wolff also unter Bewegung? Die hierzu wichtigste Erörterung ist in einem umfassenden, mit »De legibus motus« betitelten Kapitel der Cosmologia generalis (1737) zu finden. 185 Was wir bereits anhand des Erhaltungssatzes sehen konnten, bestätigt sich auch in Bezug auf die Bewegungslehre: Wolff folgt im Wesentlichen der elastischen Körperlehre der Leibniz-Philosophie. Der Elastizität der Körperwelt entspricht die durch die seelische Freiheit begründete Permeabilität der einzelnen Seelenteile anhand von Bewegungen. Wolff schreibt sich in den Paradigmenwechsel von der kinematischen zur dynamischen Philosophie ein, indem er auch in diesem Kapitel zu den Bewegungen verschiedene Kraftbegriffe erörtert. Er unterscheidet zwischen einer vis mortua (§ 356), einer vis viva (§ 357), einer vis primitiva (§ 358 f.) sowie einer vis activa (§ 360), die er auch vis motrix nennt. Letztere leitet sich aus der vis primitiva, und daher dem per se inesse ab. Betrachten wir die wesentlichen Beziehungen hieraus synoptisch, indem wir die Begriffe, um die es geht, in ihrer lateinischen Originalform beibehalten:
183 Wolff, Psychologia rationalis, sect. I , cap. III , § 348: »§. 348. Si per operationes mentis elicis ea, quæ ad constituendum aliquod phantasma concurrere debent; ejus productio a libertate animæ pendet. Etenim si per operationes mentis, quas inter etiam ratiocinatio locum habet (§. 325. Psychol. empir.), ea elicis, quæ ad constituendum phantasma aliquod concurrere debent, veluti quæ figuram aliquam hieroglyphicam ingrediuntur (§. 252. Psychol. empir.), phantasmatis productionem intendis & ut hanc consequaris, operationes mentis adhibes, quas omittere poteras. Quamobrem phantasmatis hujus productio a libertate animæ pendet (§. 941. Psychol. empir.). Perpende aliquod figuræ hieroglyphicæ exemplum, veluti animæ apud Comenium aut Diaboli sub forma monachi Franciscani apparentis (not. §. 152. Psychol. empir.), & considera, quales sint mentis operationes, quibus productio illius phantasmatis tribuenda; statimque videbis, quam multæ hic concurrant actiones animæ liberæ«. 184 Vgl. ebd., § 350: »Quamobrem libertas influit in illas actiones, quibus aliquid memoriae mandamus.« (»Daher fließt die Freiheit in diejenigen Bewegungen ein, mit denen wir etwas dem Gedächtnis übergeben.«). 185 Vgl. Wolff, Cosmologia generalis, sect. II , cap. IV , §§ 302–502.
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§. 358. Die Vis primitiva ist [sc. die Kraft], die jedem Körper per se innewohnt, oder wenn kein anderer Grund für sie außer in den Elementen gegeben ist. [. . . ] §. 359. Da ja für die vis primitiva kein anderer Grund gegeben ist, warum sie einem Körper innewohne, außer in den Elementen (§. 358.), kann sie [sc. die vis primitiva] nur durch die den Elementen intrinsischen Bestimmungen (§. 122. Ontol.) oder durch das, was ihnen selbst innewohnt, erkannt werden. (§. 56. Ontol.). Solange die intrinsischen Bestimmungen der Elemente – seien sie allgemein oder spezifisch – nicht gekannt werden, kann daher die vis primitiva auf keine erkennbare Weise erklärt werden. [. . . ] §. 360. Da ja die vis activa beziehungsweise motrix eines Körpers wie die einer Substanz erfasst werden muss (§. 169.), auch wenn sie nicht eine solche ist, aber zumindest als eine solche erscheint, ist die Substanz indes ein beständiger und modifizierbarer Begriff (§. 768. Ontol.). Die vis primitiva ist schlechterdings dieser beständige und modifizierbare Begriff unter dem Blickwinkel genauer aktualer Modifizierungen; folgerichtig wird sie vis primitiva genannt, insofern ebendieser [sc. Kraft] die Substantialität zugestanden wird beziehungsweise [insofern ebendieser Kraft] derartige feststehende Bestimmungen zugewiesen werden, deretwegen sie Raum für eine Modifikation hat – und zwar durch die Geschwindigkeit (§. 153.) und die Richtung (§. 165.). 186
Eine auffällige, an Kepler gemahnende Ersetzung wird hier vorgenommen: Die anima motrix wird zur vis motrix, aus der bewegenden Seele wird bewegende Kraft. Sie kann dies dadurch werden, dass sie als vis activa aus der LeibnizPhilosophie vorgeprägt ist. Zudem tritt an die Seite dieser vis primitiva das Konzept einer abgeleiteten Kraft, einer vis derivativa. Auch diese Kräfte werden
Ebd., §§ 358–360: »§. 358. Vis primitiva est, quæ omni corpori per se inest, seu cujus non alia datur ratio, præterquam in elementis. [. . . ] §. 359. Quoniam vis primitivæ non alia datur ratio, cur corpori insit præterquam in elementis (§. 358.), nonnisi per determinationes elementis intrinsecas (§. 122. Ontol.), seu ea, quæ ipsis insunt, intelligi potest (§. 56. Ontol.). Quamdiu itaque elementorum determinationes intrinsecæ, seu genericæ & specificæ ignorantur; tamdiu vis primitiva intelligibili modo explicari nequit. [. . . ] §. 360. Quoniam vis activa corporis sive motrix instar substantiæ concipi debet (§. 169.), utut talis non sit, sed saltem appareat; substantia vero est subjectum perdurabile & modificabile (§. 768. Ontol.); vis primitiva utique est istud subjectum perdurabile & modificabile, præcisis modificationibus actualibus spectatum, consequenter vis dicitur primitiva, quatenus substantialitas eidem tribuitur, seu tales tribuuntur determinationes constantes, ob quas modificationis capax, nempe per celeritatem (§. 153.) & directionem (§. 165.)«. Die im Lateinischen fehlenden Formen des Genitiv Singular und Dativ Singular zu vis werden von Wolff über die Flexion des zugeordneten Adjektivs angezeigt. 186
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unter konkretem Bezug auf die gegenüber Kepler neuere Philosophie Leibniz' ausgeführt: §. 362. Die Vis derivativa ist [sc. die Kraft], die durch eine Modifikation der vis primitiva entsteht. [. . . ] §. 363. Die vis derivativa entsteht durch das Aufeinanderprallen der Körper untereinander. Die vis derivata entsteht nämlich durch die Modifikation der vis primitiva (§. 362.), solange sich folgerichtig deren Geschwindigkeit (§. 153.) oder Richtung ändert (§. 165.), und zwar so weit, wie die Bewegung des Körpers bestimmt wird (§. 172.). Da ja keine Änderung der Bewegung stattfinden kann außer durch Aufeinanderprallen (§. 325.), entsteht die vis derivativa durch das Aufeinanderprallen der Körper untereinander. [. . . ] §. 364. Die Vis derivativa entsteht durch die Begrenzung der vis primitiva. Sie entsteht nämlich durch die Modifizierung der vis primitiva (§. 362.). Da aus diesem Grund jede Modifizierung einer Sache in einer Änderung der Grenzen [sc. der Hemmnisse] besteht (§. 830. Ontol.), müssen auch die Modifizierungen der vis derivativa in einer Änderung der Grenzen bestehen. Bis zu dem Punkt entsteht die vis durch eine Begrenzung der vis primitiva. Leibniz sagt, dass die vires derivativae ebenso aus der Begrenzung entstehen. Der Grund, warum er gewissermaßen im Zweifel spricht, ist offenkundig nicht hinreichend klar. Erst recht, da aus dem oben Genannten feststeht, dass die vis motrix ein Phänomen ist (§. 296.) und dass die Substanz nur in Erscheinung tritt (§. 178.), sind auch die Phänomene bloße Modifizierungen – natürlich in dem Sinn, dem gemäß wir die vis motrix zu den Phänomenen (§. 296.) kraft Definition gezählt haben (§. 215.). Leibniz scheint so sehr mit Zweifel sprechen zu wollen, dass niemand glaubt, dass er die vis motrix für eine wahre Substanz und die Modifizierungen für die wahren Grenzen jener Substanz halten wolle. 187 187 Ebd., §§ 362–364: »§. 362. Vis derivativa est, quæ per modificationem vis primitivæ resultat. [. . . ] §. 363. Vis derivativa per corporum inter se conflictus resultat. Etenim vis derivativa per modificationem vis primitivæ resultat (§. 362.), consequenter dum ejus celeritas (§. 153.), aut directio variatur (§. 165.), adeoque motus corporis determinatur (§. 172.). Quoniam itaque motus mutatio nulla accidere potest nisi per conflictum (§. 325.); vis derivativa per corporum inter se conflictus resultat. [. . . ] §. 364. Vis derivativa resultat per limitationem vis primitivæ. Resultat enim per modificationem vis primitivæ. (§. 362..). Quare cum omnis rei modificatio in variatione limitum consistat (§. 830. Ontol.); vis quoque derivativæ modificationes in variatione limitum vis primitivæ consistere debent. Vis adeo derivativa per limitationem vis primitivæ resultat. Leibnitius ait vires derivativas primitivæ veluti limitatione resultare. Non satis manifesta videtur ratio, cur quasi subdubitanter loquatur. Enimvero cum ex superioribus constet, vim motricem phænomenon esse (§. 296.) & nonnisi substantiam apparere (§. 178.); modificationes quoque nonnisi phænomena sunt, eo scilicet sensu, quo vim
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Wenn sie auch bei weitem nicht so vielseitig wie Newtons vis impressa gedacht wird, so wird die vis derivativa doch auf die Körperwelt bezogen. Wo bei Newton eine einlagerte Kraft einen graduellen Einfluss auf andere Körper zeitigt, kann bei Wolff die innewohnende Kraft eines Körpers zur äußerlich sichtbaren werden. Wenn also die vis insita beim Aufeinanderprallen der Körper zur vis impressa werden kann, so kann die vis primitiva beim Kontakt der Körper zur vis derivativa werden. Es besteht daher zwar durchaus ein Primat der Interiorität, dennoch lassen sich Kräfte als aus dem per se inesse abgeleitet verstehen. Wie kann so etwas wie Spontaneität gelingen? Der newtonsche Ansatz, einen sprunghaften Übergang zwischen vis impressa und vis insita anzusetzen, widerspräche ja vollkommen dem Energieerhaltungssatz. Nach Newton wird die Kraft in einem kurzen Moment, dem des Anstoßes (impetus), diskontinuierlich übertragen. Wolffs Antwort hierauf lautet, dass die Spontaneität der Anfangsgrund ist, sich zum Handeln innerlich zu determinieren. Spontaneität wird – im Gegensatz zur Sprunghaftigkeit – hingegen bejaht – und dies mit bemerkenswerter Bezugnahme: §. 933. Spontaneität ist das intrinsische Prinzip, sich selbst zum Handeln hin zu bestimmen. Auch Bewegungen werden spontan genannt, sofern ihr Agens die selbigen durch ein ihnen intrinsisches Prinzip, ohne extrinsisches Bestimmungsprinzip, bestimmt. Daher hat schon Aristoteles daran erinnert, dass Spontaneität sowohl den unbelebten Gegenständen wie auch den belebten Wesen zuzuweisen ist, natürlich, soweit es geht, ohne äußere Kraft; einzig aufgrund einer inneren Kraft bewegen sie sich anscheinend durch sich selbst. So wird vom Feuer gesagt, dass es aus eigenem Antrieb bewegt wird, weil kein äußerer Grund in Erscheinung tritt, der dessen Bewegung hervorbringt. 188
Wieder einmal wird Aristoteles als Gewährsmann herangezogen, diesmal um das Kraftprinzip der Spontaneität über lebendige und unbelebte Entitäten aufzuspannen. Dass Aristoteles allerdings ebenso der festen Überzeugung war, dass Bewegbares stets von etwas bewegt werden müsse, wird zugunsten der rein intrinsischen Verlagerung des Bewegungsprinzips, einer inneren Kraft (vis interna), geflissentlich übergangen. Die Spontaneität wird vielmehr als princimotricem in numerum phænomenorum (§. 296.) vi definitionis retulimus (§. 215.). Videtur adeo Leibnitius subdubitanter locutus, ne quis existimet, eum vim motricem pro vera substantia habere, & modificationes pro veris limitationibus illius substantiæ«. 188 Wolff, Psychologia empirica, pars II , sect. II , cap. II , § 933: »§. 933. Spontaneitas est principium sese ad agendum determinandi intrinsecum. Et actiones dicuntur spontaneae, quatenus per principium sibi intrinsecum, sine principio determinandi extrinseco, agens easdem determinat. Hinc jam Aristoteles monuit spontaneitatem tribui etiam rebus inanimatis & animantibus brutis, quatenus nempe sine vi quadam externa; sola vi interna per se moveri videntur. Ita ignis sua sponte moveri dicitur, quod nulla appareat causa externa, quæ motum ejus producit«.
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pium intrinsecum gefasst; es geht hierbei also um eine innere Selbsttätigkeit – um eine Übertragung des sua sponte auf unbelebte Entitäten. Mit dem Feuer ist das Elementarbeispiel genannt, das im Laufe des 18. Jahrhunderts zum Leitparadigma für die poetologischen Diskussionen zum Enthusiasmus werden wird. Aber auch retrospektiv ist der Paragraph bemerkenswert: Das seit der Renaissance-Astronomie verbreitete Desiderat, die Bewegungsformen der unbelebten und belebten Körper auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, zeigt sich hier über die Prinzipien der inneren und äußeren Kraft abgeschlossen. Es wird deutlich, dass die vis, die bei Kepler noch vage blieb, hier mittlerweile durch die wissenschaftlichen Diskurse gegangen ist, die wir in Kapitel iii.3 anhand der Newton / Leibniz-Debatten sehen konnten. Auch ein anderer Punkt erscheint hier bedeutsam: Was für Masse und Seele bei Kepler in analoger Weise galt, findet hier endgültig seine Loslösung vom Platonismus – und dies nicht durch eine Hervorhebung der Atome, der Materie oder der schieren Körperlichkeit, sondern durch einen schließlich aufgrund der LeibnizPhilosophie genauer explizierten und an den Aristotelismus angeschlossenen Kraftbegriff. Halten wir fest: Leibniz setzt die aristotelische Entelechie ein, um seine vis primitiva zu einer vis derivata, zu einer abgeleiteten, aber mit Eigenursächlichkeit versehen Größe zu machen; Wolff übernimmt dieses Konzept grosso modo, um daraus eine Beschreibung der phänomenalen Welt zu ermöglichen. Am Ende steht die Überwindung einer materialistischen Psychologie à la Hobbes durch einen Mechanizismus nach cartesianischer Manier und einen Spiritualismus in Folge der Monadenlehre Leibniz'. Wenn im späten 17. Jahrhundert zunächst die Loslösung vom Platonismus einen weitreichenden Aufstieg der dynamischen Naturphilosophie ermöglichte, so ermöglicht die um 1700 folgende Loslösung vom cartesischen Dualismus den Aufstieg eines dynamisierten Aristotelismus. Aristoteles wird nicht mehr aufgrund seiner scholastischen Bedeutsamkeit gelesen, sondern aufgrund seiner metaphysisch grundierten δύναµις, seiner naturphilosophischen Einbettung der menschlichen Seele sowie seiner auf unterschiedliche Kraft-Bereiche applizierbaren Ursachenlehre. Der bedeutendste Anschluss hieran findet – wie bereits in Kapitel iv.1 der Studie angesprochen – in der Ästhetik Baumgartens statt, wie sie in den Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus (1735), der Metaphysica (1739) und schließlich der Aesthetica (1750/58) ausgebreitet wird.
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5. Baumgartens Ästhetik
Bei Wolff werden sowohl auf struktureller als auch auf paradigmatischer Ebene regelmäßig leibnizsche, cartesische und aristotelische Theoreme zueinander in Beziehung gesetzt. Auch Baumgartens Vorgehen ist im Anschluss an die bereits durch Wolff popularisierte Leibniz-Philosophie grundsätzlich ein eklektisches. 189 Zu den wichtigsten Anknüpfungspunkten kann gezählt werden, dass sich Baumgarten mit seiner Lehre von den seelischen Kräften und Vermögen in die leibnizsche und wolffsche Philosophie einschreibt, insbesondere hinsichtlich der Auffassungen über das Verhältnis von Seele und Welt, nicht so sehr jedoch in die cartesische. Gleichwohl verschieben sich die Schwerpunkte, auf die es Baumgarten gegenüber Leibniz und Wolff ankommt. »Meine Seele ist eine Vorstellungskraft des Universums, entsprechend der Stelle ihres Körpers«, 190 heißt es prägnant in der so grundlegenden wie umfassenden Schrift Baumgartens zur Ontologie, der Metaphysica (1739). 191 Die Tradition zu Leibniz und Wolff ist damit deutlich markiert. Die als Metaphysik deklarierte Schrift beschäftigt sich indes gar nicht ausschließlich mit Dingen ›hinter‹ der Physik, sondern rekurriert in ihren Ausführungen immer wieder auf Prinzipien von Kraft und Bewegung, auf denen die Intensitäten der sinnlichen Seelenbereiche beruhen. Kleinschmidt bringt dieses Phänomen auf einen treffenden Punkt: Auch Alexander Baumgarten, der Begründer einer philosophischen Ästhetik, geht schon in seiner ›Metaphysica‹ (1739) für Empfindungen und Einbildungen offenkundig von über Schwäche und Stärke beziehungsweise Dunkelheit und Klarheit artikulierten Intensitätsstaffelungen aus. [. . . ] Der Intensität der Perzeption tritt die der Imagination im mobil konzipierten Modus einer »lebendigen Bewegtheit der Erkenntnis« (vita cognitionis) zur Seite. 192
Stärke mit Klarheit zu identifizieren, entspringt einem Anspruch, den wir als klassische mechanistische Diktion kennengelernt hatten, nämlich Kräfte über Vgl. Schwaiger (2011), 23–25. Baumgarten, Metaphysica, pars III, cap. I, sect. I, § 513: »Anima mea est vis [. . . ] repraesentativa [. . . ] vniversi [. . . ] pro positu corporis sui«. 191 Die Bedeutung der Metaphysica im Œuvre Baumgartens ist lange Zeit unterschätzt worden, da sie – zumindest in der literaturwissenschaftlichen Forschung – im Schatten der eigentlichen poetologisch-ästhetischen Schriften Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) und Aesthetica (1750/1758) stand. Zur Zeit ihrer Publikation und in den darauf folgenden Jahrzehnten stellte sie jedoch ein vielbeachtetes und -rezipiertes Werk Baumgartens dar, das allein bis 1779 in Halle, Dresden und Wien sieben Neuauflagen erfuhr. 192 Kleinschmidt (2004), 76. Das Zitat rekurriert auf Baumgarten, Aesthetica, pars I , sect. I , § 22: »vita cognitionis«, unter Betonung eines bemerkenswerten, von Kleinschmidt richtig gesehenen Einschlusses der Bewegung in das Prinzip der lebendigen Erkenntnis. 189 190
Baumgartens Ästhetik
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ein mathematisch-geometrisches Tableau auszubreiten, sie dadurch zu visualisieren, untereinander vergleichbar zu machen, sie miteinander zu verrechnen etc. Das cartesische Kriterium, Distinktion als das Ziel der Erkenntniskraft zu bestimmen, mag als Voraussetzung dafür noch mitschwingen, um die Zielrichtung der inneren Bewegung fort von der Dunkelheit hin zur Klarheit, mithin als eine Bewegung von den unteren in die oberen Seelenregionen, festzusetzen; der von Baumgarten vorgesehene Bezug auf Empfindungen und Einbildungen zeigt jedoch an, dass sich das Prinzip der Bewegung nicht nur auf geistigdistinkte, sondern auch – und dies sogar vorzugsweise – auf sinnlich geprägte Seelenbereiche applizieren lässt. 193 Baumgarten führt dieses Programm in der Metaphysica aus; der oben zitierte Satz zur Vorstellungskraft bildet hierzu den Ausgangspunkt. Dabei wird die Reihenfolge der antiken Hierarchie der Seelenteile beibehalten, und es werden Schritt für Schritt die repräsentativen (auf Vorstellungen und Begriffen beruhenden) Funktionen der Seelenteile in ihrer Beziehung zum Universum erläutert. Im Hinblick auf die empfindenden Seelenkräfte drückt sich dies folgendermaßen aus: §. 534. Ich denke meinen gegenwärtigen Zustand. Also stelle ich meinen gegenwärtigen Zustand vor, das heißt Ich empfinde. Die Vorstellungen meines gegenwärtigen Zustandes beziehungsweise Empfindungen (Erscheinungen) sind Vorstellungen des gegenwärtigen Zustandes der Welt, §. 369. Also wird meine Empfindung durch die Vorstellungskraft der Seele entsprechend der Position meines Körpers bewirkt, §. 513. 194
Hier wird der Bereich der Empfindungen als eine Vorstellung vom Zustand der Welt aufgefasst. Diese ontologische Zuspitzung eines ganzen Seelenbereichs auf einen Zustand hin stützt sich vor allem auf den konzeptionellen Einschluss von Gegenwärtigkeit und Körperlichkeit. 195 Dass ein überwiegender Teil der Metaphysica, namentlich §§ 504–739, mit »Tractatio de psychologia empirica« übertitelt ist, kann als ein deutliches Indiz hierfür gelten. Die »Psychologia rationalis« nimmt gegenüber diesen 235 Paragraphen gerade einmal 59 Paragraphen ein (§§ 740– 799). Hierin drückt sich nicht zuletzt eine neue Gewichtung der durch Wolff begründeten Sektionierung der Psychologie zugunsten des empirischen Teils aus. 194 Baumgarten, Metaphysica, pars III , cap. I , sect. III , § 534: »§. 534. Cogito statum meum praesentem. Ergo repraesento statum meum praesentem, i. e. S ENTIO. Repraesentationes status mei praesentis seu S ENSATIONES (apparitiones) sunt repraesentationes status mundi praesentis, §. 369. Ergo sensatio mea actuatur per vim animae repraesentativam pro positu corporis mei, §. 513«. Die syntaktische Funktion von universi wird hier und im Folgenden als objektiver Genitiv auf das Attribut repraesentativam (zu vim) bezogen: Wir haben Vorstellungen von etwas und besitzen dementsprechend eine Vorstellungskraft von etwas. 195 Eine maßgebliche Analyse dieser Textstelle, insbesondere der in ihr verhandelten Bedeutungshorizonte von Sinnlichkeit, bietet Berndt (2011), 23–27. 193
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Im Folgenden geht Baumgarten gleichsam eine Stufe auf der Seelenleiter nach oben, indem er sich der Phantasie zuwendet. Es wird in strukturanaloger, jedoch semantisch leicht abweichender Weise zu den Empfindungen formuliert: §. 557. Ich bin mir meines vorübergegangenen Zustandes, mithin des [sc. vorübergegangenen] Zustandes der Welt bewusst, §. 369. Die Vorstellung des vorübergegangenen Zustandes der Welt, mithin meines vorübergegangenen Zustandes, §. 369, ist ein Vorstellungsbild (Vorstellung, Erscheinung, Vision). Also bilde ich ein Vorstellungsbild, beziehungsweise ich imaginiere es, und dies durch die Vorstellungskraft der Seele vom Universum entsprechend der Position meines Körpers, §. 513 196
Schließlich kommt Baumgarten auf den höchsten Bereich der menschlichen Seele, die Gedankenwelt zu sprechen, indem er die Beziehung der vom Menschen vollzogenen Gedanken (cogitationes) zur universellen Vorstellungskraft der Seele in einem einzigen Satz zusammenfasst – eine stilistische Entscheidung, die angesichts der Vorliebe Baumgartens für eine komplexe und zugleich dichtgedrängte Syntax nicht überrascht; vor allem aber enthält sie bemerkenswerte Ausführungen zur Bestimmung der Urteilsbildung (Gleichheit und Unterschiedlichkeit): §. 576. Da sich alles in dieser Welt teils gleicht, teils unterschieden ist, §. 265, 269, werden die Vorstellungen von Identitäten und Unterschieden in den selbigen [sc. Seelen], mithin auch die Spielereien des Witzes (das Aushecken), das heißt: Gedanken, die vom Witz abhängen, und Feinheiten, die vom Scharfsinn abhängen, durch die Vorstellungskraft der Seele vom Universum, §. 513, bewirkt. Falsche Spielereien des Witzes werden dessen Täuschungen und falsche Feinheiten werden leere Spitzfindigkeiten genannt. 197 Baumgarten, Metaphysica, pars III, cap. I, sect. IV, § 557: »§. 557. Conscius sum status mei, hinc status mundi, praeteriti, §. 369. Repraesentatio status mundi praeteriti, hinc status mei praeteriti, §. 369, est P HANTASMA (imaginatio, visum, visio). Ergo phantasmata formo, seu imaginor, idque per vim animae repraesentativam vniversi pro positu corporis mei, §. 513«. Nebenbei greift Baumgarten mit visum eine ciceronisch-augustinische Tradition des Phantasiebegriffs auf, die sich mit stoischen Prämissen auseinandersetzt. Konkret geht es dabei um die Diskussion des Standpunkts, dass es sich bei den Inhalten des Vorstellungsvermögens um nichts anderes als sinnlich, insbesondere optisch, rezeptive Größen handle. Vgl. zu den diesbezüglichen loci classici den Beitrag von Reinhardt (2018). 197 Baumgarten, Metaphysica, pars III , cap. I , sect. V , § 576: »§. 576. Quum omnia in hoc mundo sint partim eadem, partim diversa, §. 265, 269, repraesentationes identitatum diversitatumque in iisdem, hinc & I NGENII (foetus) L USUS, i.e. cogitationes ab ingenio dependentes, & S UBTILITATES, cogitationes ab acumine dependentes, actuantur per vim animae repraesentativam vniversi, §. 513. Lusus I NGENII falsi eius I LLUSIONES, & falsae subtilitates I NANES ARGUTATIONES vocantur«. 196
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Scharfsinn (acumen) und Witz (ingenium) 198 stellen demnach die beiden Bestandteile eines Verstandesapparates dar, der auf Feinheiten im Urteilsvermögen abzielt und hierfür explizit die Vorstellungskraft (vis repraesentativa), eine mittlere Seelenkraft, benötigt. Diese Kraft ist jedoch nicht für sich selbst repräsentativ, sondern hängt gleichfalls von einer Vorstellung vom Universum ab. Durchweg auffällig ist bei allen drei Seelenstufen also die Analogie des Zustands der Seele (status animae) zum Zustand der Welt (status mundi). Sie erweitert den hier verhandelten Horizont über die Anlehnungen an Leibniz bis in die Astronomie der Frühen Neuzeit; sie fordert gleichsam zu einer Rückverfolgung im Sinne der in Kapitel iv.4 der Studie beschriebenen Konzepte von Psychomechanik auf. Die menschliche Seele befindet sich, ganz wie bei Galilei und Kepler, im Einklang mit dem sie umgebenden Universum; zugleich befindet sie sich in Interaktion, in einem ständigen Austausch mit ihm. Der erste Teil dieses Befunds, der Einklang von Kosmos und Seele, mag auf den ersten Blick an eine der elementaren Analogien des Platonismus gemahnen, ist aber bei Baumgarten – anders als etwa bei Kepler – nicht gleichzusetzen mit einer kosmologischen Harmonie, in der sich beide Seiten, menschliche Seele und Kosmos, aufgrund derselben beiden inhärierenden göttlichen Ordnung entsprechen würden. Baumgarten geht es vielmehr – wie in der Metaphysica gesehen – vorwiegend um den Raum der Vorstellungen, mithin um die darin wirkende Vorstellungskraft, während bei Platon vor allem die geistige Form, die sich in der Anteilnahme an den Ideen niederschlägt, das ausschlaggebende Prinzip bedeutet. Baumgarten nimmt die Vorstellungskraft zur einzig gültigen Ausgangsgröße für all dasjenige, was Kepler über die Geometrie zu erklären versuchte. 199 Was bei Baumgarten in den Vordergrund rückt, ist aber die Gegenwärtigkeit beziehungsweise Vergegenwärtigung des Universums anstelle einer kosmisch befestigten Strukturanalogie. Aktuale Zustände des Universums wirken auf den aktualen Zustand der menschlichen Seele – und vice versa. Bei dieser Verhältnisbestimmung steht ein Zusammenspiel der Kräfte, nicht ein solches zwischen Ideen und Abbildern im Mittelpunkt. Die prägnante Bedeutung ›Witz‹ für ingenium schlägt Baumgarten an der Stelle selbst vor; vgl. ebd., marg.: »Witz«. Es handelt sich um eine Fähigkeit, die sich durch die originelle Verbindung einzelner Teile auszeichnet und diese spontan hervorzubringen weiß. Die englische Begriffstradition des wit spielt hier ebenso mit hinein wie die des genialischen Einfalls – jedoch noch ohne die spätere Bedeutung eines Humorpotentials, das die Ausprägung origineller Einfälle bilden könnte. Letztere Bedeutungsdimension ist vielmehr gleichsam als ein Kind des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen; vgl. Gabriel (1996), 8: »Das heutige Verständnis von ›Witz‹ (im Sinne der vormals so genannten ›Scherzrede‹) hat sich erst im 19. Jahrhunderts herausgebildet, nachdem das dem lateinischen ›ingenium‹ nachgebildete Lehnwort ›Genie‹ an die Stelle der ursprünglichen Bedeutung ›Witz‹ getreten war«. 199 Vgl. Kapitel IV. 4.a der Studie. 198
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Diese implizite Absetzung vom Platonismus mit den Mitteln der LeibnizWolff-Philosophie gilt es zu beachten, will man Baumgartens Philosophie sowohl hinsichtlich ihrer weiteren Hinwendung zu einer psychologisch fundierten Ästhetik als auch hinsichtlich ihrer auffälligen Favorisierung des Aristotelismus 200 nachvollziehen. Denn die oben beschriebenen Tätigkeiten der menschlichen Seele, die sich praktisch durch den gesamten klassischen Seelenapparat von unten nach oben bewegen (sentire, imaginari, cogitare) und das Hervorbringen von Vorstellungen, auf das immer wieder rekurriert wird, sind als Konstituenten einer mathematisch-mechanistischen Grundstruktur von Psychologie unter den erneuerten Vorzeichen eines aristotelischen Möglichkeitsbegriffs zu verstehen. Es geht dabei um jene Doppeldeutigkeit der seelischen operatio, die einerseits die energetische Verwirklichung wie auch andererseits der Existenzgrund eines Vermögens selbst bedeuten kann. Zur erweiterten Rolle dieses Sinnlichkeitsprinzips bemerkte in jüngerer Zeit Stöckmann, dass [m]it dieser Konstruktion [der Psychologie entsprechend der Leibniz-Wolff-Philosophie; D. B.] [. . . ] die Leitperspektive der Aesthetica naturalis jener Konzeptualisierung der Sinnlichkeit und des Seelenbegriffs verp ichtet [bleibt], nach der noch die rezeptiv bestimmten Vollzüge der Aisthesis nicht das Resultat passiver und selbstbezüglicher Perzeptionen von Sinnesdaten sind, sondern das Ergebnis einer gegebene Merkmale unterscheidenden psychischen Tätigkeit des Vorstellens (d. h. des Produzierens sensitiver Vorstellungen, repraesentationes). 201
In den von Stöckmann angeführten »rezeptiv bestimmten Vollzüge[n] der Aisthesis«, die zu Recht als »das Ergebnis einer gegebene Merkmale unterscheidenden psychischen Tätigkeit des Vorstellens« festgehalten werden, scheint dasjenige durch, was in der frühneuzeitlichen Kosmologie durch einen zweiseitigen Vermögensbegriff vorbereitet wurde: die Simultaneität von Aufnahmeund Produktionsfähigkeit sinnlicher Entitäten im Vollzug einer spezifischen Fähigkeit der menschlichen Seele (facultas animê), die sich als Bewegung beschreiben lässt (anima motrix). Die enge Verknüpfung von Vorstellungsvermögen und merkmalsästhetischem Unterscheidungsvermögen, 202 wie wir sie bei Leibniz und Wolff beobachten konnten, 203 ist als dasjenige zu begreifen, was Stöckmann »Leitperspektive der Aesthetica naturalis« nennt. Ein wichtiger Entwicklungsschritt fort von der früheren Psychomechanik besteht nun allerHierauf wird in Kapitel IV.5.a noch genauer eingegangen werden. Stöckmann (2009), 98 f. 202 Auch bei Baumgarten ist Klarheit vor allem als Vermehrung von Merkmalen zu verstehen; vgl. Baumgarten, Metaphysica, pars III, cap. I, sect. II, § 531: »Ergo multitudine notarum augetur claritas« (»Daher vergrößert sich die Klarheit durch die Menge an Merkmalen«). 203 Vgl. Kapitel IV .2–3 der Studie. 200
201
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dings darin, dass auf der Produktionsseite – im Gegensatz zu Keplers streng geometrisch zu denkenden Proportionen (proportiones) – rein subjektiv-sinnliche Größen, namentlich die Vorstellungen (repraesentationes) hervorzubringen sind. Die repraesentationes sind an die Stelle dessen getreten, was die Mechanik des 17. Jahrhunderts noch ganz der Geometrie, den proportiones, überantwortet hatte. Die Tätigkeit, Vorstellungen zu erzeugen, findet im Inneren der Seele statt, ist jedoch nicht mehr als selbstperzeptiver Akt aufzufassen, sondern weiß gegebene Merkmale der sie umgebenden Welt zu unterscheiden. Dies impliziert eine Form von Erkenntnisfähigkeit, die nicht mehr das keplersche Begriffspaar occupari und inducere zur Beschreibung der Aneignung der Welt durch das Subjekt benötigt. Die neu zu beschreibende Fähigkeit liegt vielmehr in der sinnlichen und erkennenden Vorstellungskraft im Sinne einer Aneignungs- und Ausdrucksfähigkeit. Stützt sich die distinkte Erkenntnis (cognitio distincta) traditionellerweise auf den Wiedererkennungswert begrifflicher wie gegenständlicher Merkmale, mithin auf ein rein intellektuales, keineswegs auf ein sinnliches und erkennendes Moment, so bezieht die verworrene Erkenntnis (cognitio confusa) ihren Erkenntnisbestand aus den sich im Grund der Seele (fundus animae) versammelnden dunklen Vorstellungen. Die verworrenen Erkenntnisse stehen daher in einer engen Beziehung zur Dunkelheit (obscuritas), indem sie gewissermaßen aus der Dunkelkammer der Seele sinnliche Inhalte schöpfen und weiterentwickeln. Dieser Zusammenhang wird von Baumgarten in Anlehnung an die Merkmalsästhetik hergestellt; zudem wird der fundus animae von ihm als dezidierter Zusammenschluss (complexus) dunkler Wahrnehmungen aufgefasst: §. 510. Gewisse Dinge denke ich auf distinkte, gewisse [sc. andere] auf verworrene Weise. Jemand, der etwas auf verworrene Weise denkt, hat dessen [sc. des Gedachten] Merkmale nicht unterschieden, er stellt sie dennoch vor beziehungsweise nimmt sie wahr. Denn wenn er die Merkmale eines auf verworrene Weise dargestellten [sc. Gegenstandes] unterscheiden würde, würde er dasjenige, was er auf verworrene Weise darstellt, auf distinkte Weise denken; wenn er nicht geradewegs die Merkmale eines auf verworrene Weise vorgestellten [sc. Gegenstandes] wahr-nehmen würde, könnte er nicht dasjenige, was er durch diese [sc. Merkmale] auf verworrene Weise wahrgenommen hat, von anderen [sc. Gegenständen] unterscheiden könnte. Daher stellt jemand, der etwas auf verworrene Weise denkt, gewisse Dinge auf dunkle Weise vor. §. 511. Es gibt in der Seele dunkle Wahrnehmungen, § 510. Deren Zusammenschluss wird Grund der Seele genannt. 204 204 Ebd., pars III , cap. I, sect. I, § 510 f. »§. 510. Quaedam distincte, quaedam confuse cogito. Confuse aliquid cogitans, eius notas non distinguit, repraesentat tamen, seu percipit. Nam si notas
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Bis heute beeindruckt an der hier vorgeführten Denkfigur die konsequente Weiterentwicklung der bei Leibniz und Wolff angelegten Theorie einer nichtdistinkten Erkenntnis. Die Gewinnung von Prägnanz, die nach Überzeugung der wolffschen Philosophie in der Sammlung von Merkmalen besteht, besteht aus dem Zusammenschluss sinnlicher Erfahrungen im Inneren der Seele. Die im intima rerum-Konzept des 17. Jahrhunderts verankerte Selbstperzeption von Mensch und Kosmos findet sich hier derartig fortgeschrieben, wie es in der auf geometrischen Proportionen beruhenden Kunsttheorie in der Renaissance noch nicht angedacht war. Die Intensivierung eines innerseelischen Vermögens liegt nicht mehr in der tiefen Erkenntnis der Mathematik und Geometrie, sondern im Grund der Seele (fundus animae), in einer Dunkelheit begründet, vorgeführt als Zusammenschluss (complexus) der dunklen Wahrnehmungen (perceptiones obscurae). Dieser Zusammenschluss ist noch nicht vom Menschen künstlich hergestellt, sondern selbst ein sinnlicher. Der Mensch musste zu seinem Zustandekommen keine bewusste Kraft beitragen. Wir wollen diesen bemerkenswerten ideengeschichtlichen Vorgang zunächst aus der Sicht dessen betrachten, was er in erster Linie nicht darstellt. Gelegentlich ist in der Forschungsliteratur das Deutungsmuster anzutreffen, Baumgarten verschreibe sich in seiner Hinwendung zu den tief im Inneren der menschlichen Seele sitzenden Vermögen vor allem einer mystischen Philosophie – einer Philosophie, die sich der scholastischen Welterschließung verpflichte und zudem mit frühneuzeitlich-rationalistischen Grundannahmen nur schwerlich in Einklang zu bringen sei, wenn sie diesen nicht sogar zuwiderlaufe. So führt Schneider bezüglich der obscuritas an, dass für Baumgarten auch sinnliche Erkenntnis [. . . ] vollkommen [ist], mag sie auch noch so tief verborgen und dunkel, im cartesianischen Sinne also eine ›idea confusa‹, sein. Bei dieser Aufwertung der ›obscuritas‹ folgt Baumgarten bis zu einem gewissen Grade der tenebristischen Tradition, die seit der Renaissance von pansophischen, der Mystik nahestehenden Systemen immer wieder gegen rationalistische Modelle aufgegriffen wurde. 205
Dass sich die obscuritas grundsätzlich einer tenebristischen Kunstauffassung gegenüber aufgeschlossen zeigen kann, scheint durchaus naheliegend, wenn man allein bereits die Überschneidungen der Wortfelder der obscuritas und confuse repraesentati distingueret, quae confuse repraesentat, distincte cogitaret : si prorsus non perciperet notas confuse cogitati, per eas confuse perceptum non distinguere valeret ab aliis. Ergo confuse quid cogitans quaedam obscure repraesentat. §. 511. Sunt in anima perceptiones obscurae, § 510. Harum complexus F UNDUS ANIMAE dicitur«. 205 Schneider (52010), 24 f.
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der tenebrae besieht. 206 Ideengeschichtlich ist gleichwohl einzuwenden, dass der von Schneider angeführte »gewisse Grad« nur soweit reichen kann, wie die Vollkommenheit mit der Verworrenheit korrespondiert. Baumgartens bereits aus den Meditationes bekannte Definition des Gedichts als einer vollkommenen sinnlichen Rede (oratio sensitiva perfecta) wird, wie es ja bereits im Begriff enthalten ist, mit einem höchsten Grade, namentlich einem vollkommenen Grade (perfecta), ausgestattet. Hiermit kann aber, nach den Ausführungen in Kapitel iv.2, nur die Verworrenheit gemeint sein; mit der idea confusa ist mithin gerade nicht der Gegenspieler einer oratio sensitiva perfecta benannt, sondern ganz im Gegenteil deren Zulieferer. Dasselbe gilt auch in die andere Richtung: Mit der vollkommenen sinnlichen Rede ist das Ziel der Verworrenheit, nicht das der Klarheit benannt. Vollends problematisch muss dann die Behauptung erscheinen, Baumgarten träte mit seiner Aufwertung der Dunkelheit in einen Widerspruch zum Rationalismus beziehungsweise rebelliere »gegen rationalistische Modelle«. 207 Vielmehr sind die Theoreme von Leibniz und Wolff maßgebliche Bezugssysteme, um Taxonomien von Vorstellungen (repraesentationes) herstellen zu können, die überhaupt so weit reichen, Aspekte von Erkenntnis, Schönheit und Vollkommenheit zu umfassen. Es geht – mit Kondylis gesprochen – um Aufwertungen sinnlicher Eigenschaften der Seeleninhalte in einem dem Rationalismus entspringenden Begriffsrahmen. 208 Dies bedeutet indes nicht, dass die ratio selbst, in Umkehrung ihrer urtümlichen Funktion der Erhellung von Sachverhalten konkreter und abstrakter Natur, auf die Schaffung oder auch nur Aufrechterhaltung einer obscuritas ausgerichtet wäre; sie ist vielmehr eine Größe, die sich überhaupt erst in der Lage zeigt, die Sinneseindrücke im Seelengefüge ohne Wertverlust von unten nach oben zu transportieren. Ein solcher Verlust wird ja gerade dadurch vermieden, dass die Sinnesdaten in ihrem Durchlaufen der einzelnen Bereiche nicht nur in Kategorien eingeordnet, sondern von Kräften aus der dynamischen Erkenntnislehre bearbeitet werden. Dass ausgehend von der grundsätzlichen Dichotomie zwischen klaren und dunklen Vorstellungen im Bereich der klaren Vorstellungen eine weitere Unterscheidung getroffen wird zwischen deutlichen und vermischten Vorstellungen, folgt somit der von Leibniz gegen Descartes vorgebrachten Blickrichtung, sich den vermischten Vorstellungen in besonderer Weise zuzuwenden, dabei aber nicht auf tenebristische Traditionen zu pochen. Weitaus leitender ist das Diktum der Mechanik, einen inneren Urgrund Vgl. Georges (81998), s. v. »obscuritas«, 1262; ebd., s. v. »tenebrae«, 3057. 207 Schneider (52010), 25. 208 Denn wie in Kapitel IV .2. gesehen, benötigen Konzepte von Sinnlichkeit die Eigenschaften der Vernunft, um eine valide, den gesamten Seelenapparat berücksichtigende Theorie von Begriffen und Vorstellungen zu formulieren. 206
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an Kräften – denn nichts anderes meint der Zusammenschluss an Sinneseindrücken im Grund der Seele – schrittweise auszubreiten und dabei in neue Ebenen der Erkenntnis zu überführen. Klarheit für die sinnliche Wahrnehmung ist dementsprechend nur im Sinne von Kraft vorstellbar. Solms merkt hierzu richtig an, dass [d]ie sinnliche Prägnanz als das Resultat extensiver Klarheit [. . . ] sich dann [wenn das richtige Verhältnis zwischen Klarheit und Deutlichkeit vorliegt; D. B.] [. . . ] in der »Lebhaftigkeit« und der »Kraft«, die ans Gemüt geht [, ausdrückt]. Für den Bereich der Künste präzisiert Baumgarten in der »Aesthetica« diesen Zusammenhang terminologisch als »ubertas aesthetica«, als »ästhetischen Reichtum.« 209
Die Begriffe von Prägnanz und Reichtum sind uns bereits aus der Merkmalsästhetik wohlbekannt. Solms schließt in diesem Sinn unmittelbar an: Mit dem gnoseologischen Kriterium extensiver Klarheit, das aus der Fülle vorgestellter Merkmale resultiert, weist Baumgarten so nach, daß die sensitive Erkenntnis der begrifflichen nicht subordiniert, sondern in ihrem eigenen Vorstellungsfeld, insbesondere also den Künsten, eine autonome Erkenntnis ist. 210
In ganz ähnlicher Diktion äußert sich hierzu auch Brandstätter: »Sinnliche Erkenntnis zeichnet sich durch die ›ubertas sensitiva‹ aus, also durch Reichtum und Fülle, die die Abstraktheit der begrifflichen Erkenntnis bei weitem übersteigt«. 211 Damit ist die Frage, wie aus einer dunklen Vorstellungswelt, die tief in der Seele schlummert, eine Klarheit werden kann, beantwortet: Sinnliche Kräfte werden aus ihren obskuren Zusammenhängen herausgelöst und auf einem Begriffsfeld beschreibbar gemacht. Dieses Begriffsfeld entstammt dem Rationalismus. Die sinnlichen Kräfte behalten bei alledem stets ihre Funktion bei. Die obscuritas nimmt dementsprechend eine intensive Rolle, die claritas eine extensive Rolle bei der Herstellung poetischer Vorstellungen an. Die Behauptung einer Existenz dunkler Vorstellungen (repraesentationes obscurae) mag zwar wie ein Qualitätsurteil anmuten (zudem wie ein negatives oder unheimliches), sie sind aber zum einen aufgrund ihres Ursprungs in der Sinneswelt, zum anderen aufgrund ihres Charakters eines Zusammenschlusses (complexus) sinnlicher Größen, streng quantitativ zu nennen. Ihre Komplexität hat in erster Linie etwas mit der Körperwelt zu tun; die Körperlichkeit wiederum wird benötigt, um – wie in § 534 der Metaphysica gesehen – so etwas wie 209
Solms (1990), 40 f. Zu Solms’ begrifflichen Bezügen vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 517,
§ 531. 210 211
Solms (1990), 41. Brandstätter (2008), 105.
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Gegenwärtigkeit herzustellen. Die Vergegenwärtigung von Vorstellungen wird zum Prinzip der schönen Künste. Die Aufwertung des Grundes der Seele gelingt durch den strukturanalogen Aufstieg der Sinnlichkeit, und die bei Baumgarten massiv erweiterte Funktion der sinnlichen Klarheit gelingt über die Festsetzung einer neuen topischen Verbindung, die ihm zwischen Klarheit und Quantität / Extensivität vorschwebt. Auch die poetologischen und ästhetischen Schriften Baumgartens schließen sich den bisher beschriebenen Grundüberlegungen an. So findet schon in den Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) eine Aufwertung der dunklen Vorstellungen statt. Sie nämlich seien, obschon nicht klar erkennbar, zur poetischen Vorstellungswelt zu zählen: § xii. Sinnliche Vorstellungen sind Verschiedentlichkeiten [sc. verschiedene Aspekte] eines Gedichts, § 10, daher poetisch, § 11, 7. Da sie aber sinnlich oder verdunkelt oder klar sind, § 3, sind poetische Vorstellungen dunkel und klar. 212
Die gleichzeitige Präsenz von sinnlichen und distinkten Vorstellungen wird von Baumgarten aus dem Bereich der Poetizität hingegen ausgeschlossen, denn »[d]istinkte, vollständige, adäquate, durch alle Stufen profunde Vorstellungen sind nicht sinnlich, daher nicht poetisch, § 11«, 213 insofern bei einer solchen absoluten Bewegung nicht auf die Vollkommenheit (perfectio) des Gedichtes hingearbeitet wird. 214 Die Vorstellungen sind dunkel im Urstadium ihrer Entstehung; zunehmend klarer und vollkommener werden sie durch die entsprechenden Tätigkeiten der mittleren und höheren Seelenregionen. Jede Vorstellung beginnt in der Sinnlichkeit und wird mithilfe des poetischen Verfahrens fortwährend veranschaulicht, namentlich durch die Tätigkeit der Einbildungskraft, sie in unterschiedlichem Grade in die Regionen der Klarheit zu führen. Die höchste Poetizität herrscht indes nicht dann vor, wenn die Klarheit gleichsam über die Dunkelheit siegt, sondern dann, wenn der verworrene Modus der Vorstellungsinhalte in Beziehung zur Klarheit gesetzt wird. Dies wird in den Meditationes nach Graden der Extensität geschieden: Baumgarten, Meditationes, § XII: »§ XII. Repraesentationes sensitivae sunt varia poematis, § 10, ergo poeticae, § II. 7. quum autem sensitivae aut obscurae aut clarae § 3. sint, obscurae et clarae sunt repraesentationes poeticae«. 213 Ebd., § XIV : »Repraesentationes distinctae, completae, adaequatae, profundae per omnes gradus non sunt sensitivae ergo nec poeticae. § 11«. 214 Vgl. den in diesem Kontext von Baumgarten angeführten elften Paragraphen (Baumgarten setzt die Paragraphen-Querverweise in den Meditationes nicht in römische, sondern in arabische Ziffern, daher verweist »§ 11« auf ebd., § XI: »§ XI. P OETICUM dicetur quicquid ad perfectionem poematis aliquid facere potest.« (»P OETISCH wird genannt werden, was auch immer zur Vollkommenheit des Gedichts etwas beitragen kann.«). 212
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§ xv. Da klare Vorstellungen poetisch sind, § 13, werden sie entweder distinkt oder verworren sein, bereits distinkt sind sie nicht, § 14, also verworren. § xvi. Wenn in einer Vorstellung A mehr Dinge vorgestellt werden als in B, C, D etc., mögen dennoch alle verworren sein, so wird A extensiv klarer sein als die übrigen. [. . . ] § xvii. In den extensiv klarsten Vorstellungen werden mehr Dinge auf sinnliche Weise vorgestellt als in den weniger klaren, § 16, daher tragen sie mehr zur Vollkommenheit des Gedichtes bei, § 7. Daher sind extensiv klarere Vorstellungen am poetischsten, § 11. § xviii. Je mehr die Dinge bestimmt werden, desto mehr umfassen die Vorstellungen von ihnen; je mehr Dinge aber in einer verworrenen Vorstellung angehäuft werden, desto extensiv klarer, § 16, und desto poetischer wird sie, § 17. Daher bedeutet poetisch, wie sehr man vorzustellende Dinge in einem Gedicht bestimmen kann, § 11. 215
Der Extensivierung der Vorstellungen entspricht sozusagen die Intensität des Poetischen. Die Poetizität erweist sich mithin als im Dunklen bereits angelegt, wird jedoch erst im extensivierten, allerdings noch nicht distinkten Zustand auf ihren höchsten Grad gebracht. In dem Moment, in dem die Vorstellungen distinkt werden, verlieren sie ihre Eigenschaft der Poetizität. Dasjenige, was sie in diesem Stadium hält, ist die Kraft der mittleren Seelenvermögen (imaginatio, repraesentatio). Das bedeutet gleichwohl nicht, dass sie in ihrer durch die Vorstellungskraft gesteigerten Bildlichkeit nicht extensiv klarer (extensive clarior) zu machen wären. Wir betreten dabei den Bereich der Anschaulichkeit; und in diesem Bereich ist nach Baumgarten die vorzügliche Eigenschaft des Anführens von Beispielen (exempla) in der Dichtkunst in dem Moment erkennbar, in dem es darum geht, distinkte Vorstellungen über ihren distinkten Status weiterführend zu illustrieren, sie dadurch gleichsam mit Leben zu füllen: § xxii. Beispiele, die verworren vorgestellt worden sind, sind extensiv klarere Vorstellungen als diejenigen [sc. Vorstellungen], denen sie zur Erklärung vorangestellt werden, § 21, daher poetischer, § 18, und in Einzelfällen freilich die besten, § 19. Dasjenige, was Herr Leibniz im hervorragenden Buch, in dem er es unternommen hat, den Streitfall um Gott[es] [Existenz] zu verteidigen, Teil Baumgarten, Meditationes, §§ XV – XVIII: »§ XV. Quum clarae repraesentationes sint poeticae, § 13, aut erunt distinctae aut confusae, iam distinctae non sunt, § 14, ergo confusae. § XVI. Si in repraesentatione A plura repraesententur, quam in B, C, D &c., sint tamen omnes confusae, A erit reliquis extensive clarior. [. . . ] § XVII. In extensiue clarissimis repraesentationibus plura repraesentantur sensitiue, quam in minus claris, § 16, ergo plura faciunt ad perfectionem poematis, § 7. Hinc repraesentationes extensiue clariores sunt maxime poeticae, § 11. § XVIII. Quo magis res determinantur hoc repraesentationes earum plura complectuntur; quo vero plura in repraesentatione confusa cumulantur, hoc fit extensiue clarior, § 16, magisque poetica, § 17. Ergo in poemate res repraesentandas quantum pote[st] determinari, poeticum, § 11.«. 215
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ii, Paragraph 148, sah, wenn er sagte: Das hauptsächliche Ziel der Dichtkunst muss es sein, die Klugheit und die Tugend durch Beispiele zu lehren. Während wir ein Beispiel für ein Beispiel suchen, sind wir fast schon zu Tantali geworden in einem so großen Überfluss, aus dem am meisten zu schöpfen [wir] unsicher [sind]. Wir wollen zum Meer des armen Naso laufen, Trist. i, i & ii; die weniger bestimmte Vorstellung Oft bringt, wenn ein Gott einen bedrückt, ein anderer Hilfe, war kaum entflogen aus seinem Munde, der vor salzigem Meeresregen triefte; und siehe da, sogleich folgt in sechs Versen ein ansehlicher Fluss an Beispielen, den er für sich beanspruchen kann: Mulciber stand gegen Troja, für Troja stand Achilles [sc. schützend] ein etc. 216
Die den Paragraphen bestimmende These, dass die Beispiele auf einen Leitgedanken folgen müssen, um diesen extensiv klarer zu machen, ohne dabei selbst ihre Verworrenheit zu verlieren, wird von Baumgarten über die Philosophie der Frühen Neuzeit eingeführt und anhand prominenter antiker Paradigmen vertieft. Zuerst wird Leibniz für sein Diktum gelobt, dass es auf Beispiele ankomme, durch welche die Dichtkunst positive Wirkungen auf die Anlagen der Menschen zeitigen könne. 217 Um derartiges zu erreichen, scheint der Zugriff auf einen scheinbaren Überreichtum an Beispielen in der Welt nötig zu sein; nicht aber lässt sich eine Ebene betreten, die darüber hinaus ginge – denn es gibt kein Beispiel eines Beispiels (exemplum exempli). Wo Tantalus zugleich an einem Überangebot und Mangel an Speisen litt, weil ihm permanent etwas vorgesetzt wurde und er von alledem nichts erreichen konnte, so scheint die Suche nach Beispielen von Beispielen ein Unterfangen, das auch die zeitgenössischen Dichter zu regelrechten Tantali machen kann. Der recht abrupte Übergang zu Ovid, namentlich die Rekurrenz auf Tristien 1, 2, 4, vertieft das Problem, um das es Baumgarten geht. Was ihm hieran reizvoll erscheint, ist die auf Ebd., § XXII: »§ XXII . Exempla confuse repraesentata sunt repraesentationes extensiue clariores, quam eae, quibus declarandis proponuntur, § 21, hinc magis poeticae, § 18, & in exemplis singularia quidem optima, § 19. Id, quod vidit Ill. Leibnitzius egregio libro, quo caussam Dei defendendam suscepit, part. II, p. 148, quando ait: Le but principal de la Poesie doit etre d’enseigner la prudence et la vertu par des exemples. Exemplum exempli dum quaerimus, paene facti sumus Tantali in tanta affluentia, unde potissimum hauriendum incerti. Decurramus ad mare miseri Nasonis Trist. I , I & II, minus determinata repraesentatio: Saepe premente deo fert deus alter opem, vix elapsa erat ex ore salsis lacrumarum & maris imbribus rorante: & ecce, repente sequitur 6 versibus sibi vindicans exemplorum decumanus fluctus: Mulciber in Troiam, pro Troia stabat Achilles &c.«. 217 Das von Baumgarten gelobte Buch, in dem Leibniz das Ausbreiten von Beispielen zum Mittel der moralischen Verbesserung erhebt, ist die Theodizee (1710). 216
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den zitierten Vers in den Tristien folgende Beispielreihe, mithin das Verfahren, das Ovid anwendet: Ovid setzt mit einen Allgemeinplatz an und führt diesen dann an einem epischen Beispiel aus. 218 Die von Baumgarten benannten sechs Verse (Ov., trist., 1, 2, 5–10), von denen er ausführlich nur den ersten zitiert, werden nicht deswegen angeführt, weil sie einen hohen episch-erzählerischen Gehalt haben, sondern weil sie bildlich-konkrete Vorstellungen erzeugen und aufgrund ihrer Bildlichkeit den in Tristien 1, 2, 4 ausgedrückten Gedanken nicht in einen höher geordneten Erkenntnisbereich überführen, 219 sondern im Bereich der Verworrenheit halten. Sie illustrieren somit einen an sich distinkten Gedanken auf bildhafte, mithin ausgebreitete – es ließe sich sagen: ›extensive‹ – Weise und entfalten dadurch poetische Kraft. Der wörtlich zitierte Vers 6 zeigt dies hervorragend an, insofern mit Mulciber 220 und Achill zwei aus Mythos und Theologie bekannte Verkörperungen mit klaren Attributen 221 angeführt werden. Die Vorführung dieses Widerstreits der Kräfte anhand von Beispielen führt zu einer größeren Plastizität. Konkretes Vorbild hierfür sind bereits für Ovid Vergils Schilderungen in der Aeneis. 222 Ovid wird, so lässt sich sagen, von Baumgarten als Schlüssel verwendet, um ein aus dem Bereich des Epos bekanntes Verfahren zu illustrieren und auf die Ästhetik zu applizieren. Durch die in den exempla repräsentierte Bildlichkeit gelingt es demnach, einen Gedanken zu extensivieren, indem dieser auf konkrete Einzelfälle ausgedehnt und veranschaulicht wird. Da es dabei um innerlich-sinnliche Repräsentationen geht, bleibt dessen Entstehungsgrund indes nach wie vor ein dunkler, dem fundus animae entspringender. Dies gilt selbst für Illustrationen, der der erhabenen Denkungsart (sublime cogitandi genus) entsprechen, wie Baumgarten in der Aesthetica vorführt: §. 304. Um dieses höchst wahre Licht des Erhabenen, eine Dunkelheit, die in Erscheinung tritt, erkennen zu können, nimm den Orakelspruch der Sibylle Aen. Treffend hierzu auch Luck (1977), 26: »premente deo: bezeichnet die aus dem Epos bekannte und (5–10) mit Beispielen belegte Verfolgung eines Sterblichen durch einen Gott: 1, 5, 75 f. me deus oppressit nullo mala nostra levante: / bellatrix illi (sc. Ulixi) diva ferebat opem; 78 illum Neptuni, me Iovis ira premit; ex P. 3, 6, 21 f. crede mihi, miseris caelestia numina parcunt, / nec semper laesos et sine fine premunt«. Die von Luck angeführten Parallelstellen entstammen ebenfalls den Tristien beziehungsweise im letzten Fall den Epitulae ex Ponto. 219 Im Falle des zitierten Verses wäre dies etwa der Bereich der gnomischen Wahrheiten. 220 Hierbei handelt es sich um Vulcanus respektive Hephaistos. 221 Bei Achill etwa der in der Aeneis (Buch 8) ausführlich beschriebene Schild, bei Hephaistos der Hammer und der Amboss. 222 Vgl. zur semantischen Antithetik Luck (1977), 26: »in Troiam . . . stabat = adversus Troiam pugnabat; [. . . ] Als Gegensatz dazu pro Troia stabat, eig. stellte sich schützend vor (das Haus, die Stadt usw.); [. . . ] Verg. Aen. 9, 677 pro turribus adstant; 12, 661.« Die beiden von Luck angeführten Stellen aus der Aeneis behandeln den Kampf um Troja. 218
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vi 83–97, wo der Dichter gleichsam das Privileg gehabt hätte, die wahre Klarheit wegen der wahrscheinlichen Nebelhaftigkeit der Orakelsprüche zu vergessen. Obschon er auch selbst sagen mag: Mit solchen Worten aus der Tiefe singt die Sibylle von Cumae Rätselhaft-Schauriges, und aus der Höhle brüllt sie Wahres, indem sie es mit Dunklem vermengt, so wird man dennoch wahrhaft Erhabenes dabei erfassen, was nun aber – was es [sc. das Erhabene] für sich auch wollen mag und wieviel es [sc. das Erhabene] an Gewicht haben mag – nicht jeder aus der Menge der Gelehrten verstehen kann [.] 223
Es handelt sich um dasselbe Verfahren, das wir in den Meditationes bezüglich des Einsatzes von Beispielen gesehen hatten: Zunächst findet sich die wenig plastisch anmutende Erwähnung eines Topos, namentlich der »Orakelspruch der Sibylle« in Verbindung mit dem abstrakten Verweis auf die Verse 83–97 der Aeneis, dann erst folgt die wörtliche Anführung einer verworrenen Vorstellung, in diesem Fall das Bild, das der Rezipient sich von der Priesterin Sibylle durch die vergilischen Verse machen kann. Das aufgerufene Bild ist als Bild indes nicht ausschließlich verworren zu nennen, sondern reicht bis in den Bereich des Dunklen hinein – in die Tiefe (adytum), in die Höhle (antrum), in den Bereich, in dem wahre Dinge (vera) mit dunklen Dingen (obscura) vermengt werden. Baumgarten verwendet die vergilische Darstellung somit zur Illustration von Verworrenheit und Dunkelheit im poetologischen Sinne. 224 Dies wird hier auf eine Weise vorgeführt, als hätte Vergil selbst dieses Programm mit der Schilderung der Sibylle in der Höhle vor Augen gehabt. Was Vergil laut Baumgarten in seiner Schilderung gerade nicht vergaß, besteht darin, die wahre Durchsichtigkeit (vera perspicuitas) in seiner epischen Darstellung auszudrücken. Wahrscheinlichkeit (verisimilitudo) wird mit der Nebulosität Baumgarten, Aesthetica, sect. XXI, § 304: »§ 304. Ut hanc verissimam sublimium lucem, obscuritatem apparentem, possis in exemplo dignoscere a tenebris, lege, sis, vaticinium Sibyllae Aen. VI 83–97, ubi privilegium quasi poeta habuisset obliviscendi verae perspicuitatis ob verisimilem oraculorum caliginem. Quamvis et ipse dicat Talibus ex adyto dictis Cumaea Sibylla, / Horrendas canit ambages, antroque remugit / Obscuris vera involvens, tamen deprehendes vere sublimia, quae nec nunc, quid sibi velint, quantumque habeant ponderis, quivis ex plebe litteratorum intelligat«. 224 Der ganze Paragraph ist auch deswegen poetologisch zu nennen, weil er auf zwei Ebenen operiert: Das Vergilzitat fungiert auf einer ersten, äußeren Ebene als exemplum für die von Baumgarten thematisierte erhabene Denkungsart; auf der zweiten Ebene, seiner eigenen Immanenz, enthält es mit der Höhlenschilderung ein Gleichnis der baumgartenschen Psychologie. Beides, die Extensivierung und der dunkle, sinnliche Urgrund, sind – wie wir bereits in den Meditationes sahen – notwendige Bedingungen für Poetizität im Sinne Baumgartens. Beide Aspekte kreuzen sich gleichsam im Vergilzitat. 223
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verbunden (verisimilem [. . . ] caliginem), die Wahrheit mit Klarheit enggeführt und die Dunkelheit nach wie vor als tiefer Urgrund angenommen. Ohne letztere funktioniert dasjenige nicht, was poetologisch begründet werden soll, die erhabene Denkungsart (sublime cogitandi genus). Der Dichter wird also auch in der Darstellung dunkler und verworrener Vorstellungen nach Baumgarten zur Erhabenheit emporsteigen können. Der Grund der Seele steht nicht der Erhabenheit im Wege, sondern ist – im Gegenteil – ihr notwendiger Zulieferer. Was bedeutet dies für den Fiktionsstatus dunkler Vorstellungen? Die von Solms und Brandstätter beschriebene Aufwertung der dunklen Vorstellungen lässt sich durchaus in einer Tradition mit der generellen Aufwertung der Innerlichkeit sehen, wie wir sie seit dem Aufstieg (körper-)immanenter Größen in der frühneuzeitlichen Mechanik feststellen konnten. Auffällig ist, dass selbst diese philosophische Entwicklung – wie bereits an der Ovid- und Vergil-Rezeption gesehen – nach wie vor nicht ohne die Antike zu denken ist. Dies gilt erst recht für die naturphilosophische Grundierung eines auf Tiefe und Innerlichkeit beruhenden poetischen Verfahrens. Ausgehend vom cartesischen Anspruch, mit dem inspicere eine Tätigkeit zu benennen, die darin besteht, in die Urgründe des Subjekts und Objekts so tief einzublicken, bis sie irreduzibel erscheinen, sind Baumgartens Umwertungen von Klarheit und Dunkelheit vor allem mit der bereits von Leibniz vollzogenen Umwertung des Aristotelismus zu erklären. Die energetische Verwirklichung durch die Vorstellungskraft des Universums (vis repraesentativa) wird dann zu einer Tätigkeit, die zwischen den unteren und oberen Seelenvermögen vermittelt; zudem wird sie aber auch zur wesentlichen Bezugnahme des Menschen zum Kosmos ausgearbeitet. Es bedarf daher der Unterscheidung zwischen einer Vernunft, als Vorstellungskraft des Universums, die auf uns wirkt, und eines Verstandes, als Vorstellungskraft des Universums, die in uns wirkt. Beides wird in der Metaphysica in jeweils eigenen Paragraphen ausgeführt, für den Verstand (intellectus) in § 631: §. 631. Dies ist das Gesetz meines Verstandes: Wenn ich beim Vergleichen von nicht verglichenen Dingen abstrahiere, ist das Überbleibsel das auf distinkte Weise Wahrgenommene. §. 627. Und wenn mein Verstand begrenzt sein sollte, §. 248, so ist dieses Gesetz das Gesetz eines begrenzten Verstandes, der anhand des Anspannens, Reflektierens, Vergleichens, Abstrahierens und Präzisierens durch die Vorstellungskraft des Universums verwirklicht wird, §. 625, 626. 225 225 Baumgarten, Metaphysica, pars III , cap. I , sect. XII , § 631: »§. 631. Intellectus mei haec lex est: Si comparans a non comparatis abstraho, residuum est distincte perceptum, §. 627. Quumque finitus sit intellectus meus, §. 248. Haec lex est lex intellectus finiri, qui attendendo, reflectendo, comparando, abstrahendo, praescindendoque actuatur per vim animae repraesentativam vniuersi, §. 625, 626«.
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In der Gesetzhaftigkeit, die innerhalb der Seele herrscht, erschöpfen sich nicht die Tätigkeiten des Verstandes; sie erweisen sich vielmehr als immer wieder neu aufgerufene Möglichkeiten des Universums, begrifflich manifestiert im actuare. Es ist somit die scheinbar überkommene aristotelische Kategorie des actus, die hier zwischen den Tätigkeiten des Verstandes (attendere, reflectere, comparare, abstrahere, praescindere) und dem Universum selbst vermittelt. In § 642 finden wir dasselbe Prinzip anhand der Vernunft (ratio) vorgeführt: §. 642. Wenn alle Dinge auf dieser Welt sich in einer universellen Beziehung befinden, §. 356–358, so verwirklicht sich die Vernunft durch die seelische Vorstellungskraft des Universums entsprechend dem Sitz des Körpers, §. 631, und zwar nach diesem Gesetz: Wenn ich in A klar C erkenne, so gibt es etwas, aus dem ich klar erkennen kann, warum ich etwas klar Erkennbares in C, A & B als miteinander verbundene Dinge begreife, §. 14, 632. 226
Bei Baumgarten unterliegt, wie schon bei Aristoteles, alles im Universum Verwirklichungen. Wie die Wirklichkeit bei Aristoteles gleichsam ständig damit beschäftigt ist, aus Potentialen energetische Zustände zu machen, ist bei Baumgarten die menschliche Seele permanent damit befasst, sich zu verwirklichen. Die Vernunft waltet allerdings im Gegensatz zu Aristoteles analog zu den anderen Seelentätigkeiten, nämlich durch eine Universalkraft, die in spezifischen Zusammenhängen, den subjektiven Seelen, auf allgemeine Weise zu wirken vermag. Aus alledem ergeben sich drei Punkte, die im Folgenden zu vertiefen sind: die Neuformulierung der Fiktionstheorie auf ontologischer Grundlage, die unterschiedlichen Funktionen ästhetischer Kräfte in psychologischer und poetologischer Hinsicht sowie die Funktionen, welche antike Autoren (und zwar nicht nur Philosophen) bei der Ausführung dieses Programms spielen. Dazu ist das Feld der psychomechanischen Ästhetik vorübergehend zu verlassen und sich wieder verstärkt der Ontologie und ihren Vorstellungen von Vermögen und Möglichkeiten zuzuwenden. 227
Ebd., pars III, cap. I, sect. XIII, § 642: »§. 642. Quum omnia in hoc mundo sint in vniuersali nexu, §. 356–358, ratio actuatur per vim animae repraesentativam vniuersi pro situ corporis, §. 631, & hac quidem lege: Si in A clare cognosco C, aliquid, ex quo clare cognoscam, cur sit aliquid clare cognoscendum in C, A & B concipio connexa, §. 14, 632«. 227 Derartige Bestrebungen, eine umfassende ontologische Lehre von den artes zu errichten, dürfen zu den letzten großen Systementwürfen gezählt werden, die vor der Epoche der Empfindsamkeit hervorgebracht wurden; hier herrscht ein gewisser Glaube an Universalität vor, der in vielen Zügen noch ›barock‹ zu nennen ist. So besteht auch der Tenor bei Deleuze (2000) passim darin, dass es sich bei Leibniz um den letzten wirklichen Barock-Philosophen handelt. 226
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5.a. Das Heterokosmische – die ontologische Fundierung der Fiktionstheorie Baumgartens
Die Haupttätigkeit der Einbildungskraft ist mit der Überführung der Sinnlichkeit in höhere Seelenbereiche und dem Vermögen, diese untereinander zu kombinieren, bestimmt worden. Für unser Thema stellt sich nun die Frage, was von dieser Tätigkeit überhaupt hervorzubringen ist – was, dingphilosophisch gesprochen, ihre zu erzeugenden Gegenstände sind. Wie in vielen anderen Punkten knüpft Baumgarten auch in dieser Frage an Wolff an, so dass der Faden an der Stelle aufzunehmen ist, an der Wolff eine Verbindung zwischen der künstlerischen Phantasie und den künstlerisch geschaffenen Welten herstellt. Dürbeck setzt diesen Komplex in einen treffenden Zusammenhang mit der leibnizschen Kosmologie, indem sie die Aufgaben und Funktionen der poetischen Einbildungskraft unter dem Gesichtspunkt möglicher Welten zusammenfasst: Die von Leibniz übernommene Theorie der möglichen Welten ist für die Konzeption der Einbildungskraft – hier der poetischen Einbildungskraft – insofern interessant, als einem fiktivem Zusammenhang der Dinge trotz des Widerspruchs zur gegenwärtigen ›Welt‹ ein Daseinsrecht zugestanden wird. Hier heißt möglich also nicht notwendig wirklich oder realisierbar. Nichtsdestoweniger gelten für diese fiktiven Produkte innerhalb der ›andern Welt‹ dieselben rationalen Prinzipien, die auch in der realisierten, der besten aller möglichen Welten zu befolgen sind. Deshalb ist die These, daß Wolff trotz seines mechanistischen Weltbildes »den Spielraum der künstlerischen Phantasie großzügig« bemesse, zwar Recht zu geben, doch muß hinzugefügt werden, daß nur die rational kontrollierte ›künstlerische Phantasie‹ erweitert wird. Denn die Verknüpfung der Dinge in einer möglichen Welt unterliegt gleichermaßen den Prinzipien des zureichenden Grundes und des ausgeschlossenen Widerspruchs. 228
Das Mögliche wird – Leibniz' kosmologischen Grundsätzen gemäß – als Welt schlechthin und nicht mehr als in der gegenwärtigen Welt vorherrschendes Potential gesehen. Die Instanz des possibile ist daher produktiv in Hinsicht auf die Schaffung von Welten – ein Gedanke, der sich von der Schaffung von Dingen innerhalb einer Welt abgrenzt. In diesem Sinn mutet die von Dürbeck beschriebene Ontologie wie eine starke Antithese zur aristotelischen Auffassung an – ist doch für Aristoteles, wie in diversen Zusammenhängen gesehen, das Mögliche Teil der einen Wirklichkeit und nicht als Grundgröße einer Pluralität von Welten aufzufassen, die sich nach den Kriterien der Konvergenz 228
Dürbeck (1998), 45. Das von Dürbeck angeführte Zitat bezieht sich auf Krüger (1984), 39.
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und Divergenz strukturieren würde. 229 Der wichtigste Konnex zwischen Phantasiewelt und äußerer Welt besteht für die Leibniz-Wolff-Philosophie in der Kontrolle durch die Instanzen von Vernunft und Notwendigkeit. So sehr die künstlerische Phantasie nach Wolffs Ansicht durch die Vernunft kontrollierbar zu machen ist – und dies nicht, wie Dürbeck meint, »trotz seines mechanistischen Weltbildes«, sondern gerade wegen der psychologischen Tätigkeiten, die mit diesem Weltbild einhergehen –, so sehr kann das Mögliche nur aus ontologischer Notwendigkeit heraus Geltung erlangen. Denn Gott schafft die bestmögliche aller Welten aus Notwendigkeit (necessitas). Er selbst stellt mithin die erste notwendige Wesenheit (ens necessarium) dar. Dieser Wesenheit muss sich denn auch das Kontingente unterwerfen, wie Leibniz in der kurzen Abhandlung De Contingentia (1689) 230 ausführt: In Gott unterscheidet sich die Existenz nicht von der Essenz, oder, was dasselbe ist: Es ist für Gott essentiell zu existieren. Daher ist Gott das notwendige Wesen. [. . . ] Weil wir nichtsdestoweniger sagen, dass sowohl Gott als auch die Geschöpfe existieren und die notwendigen Aussagen nicht weniger als die kontingenten wahr sind, so ist es notwendig, dass im Begriff der kontingenten Existenz und der essentiellen Wahrheit etwas Gemeinsames liegt. 231
Wenn Gott wie hier als das erste ens necessarium gedacht wird und die Welt dieser Rolle gemäß in der uns gegebenen Weise geschaffen hat, so ist selbst in der kontingenten Wirklichkeit eine gewisse Notwendigkeit als erster Anfangsgrund stets mit enthalten. 232 Denn die Wirklichkeit mag im Gegensatz zur Geistessphäre logischer und mathematischer Wahrheiten von zufällig auftretenden Akzidenzien durchwirkt sein, sie wird dessen ungeachtet von Leibniz passim als die beste aller möglichen Welten angesetzt, die Gott überhaupt hervorbringen konnte. Zuallererst ist jedoch die Frage nach der Herkunft einer solchen Güte der Welt in modallogischer Hinsicht zu stellen; demzufolge könne [g]efragt werden, ob diese Aussage: Gott wählt das Beste notwendig ist, oder ob sie eher eine [sc. einzige] und die vorrangige aus seinen freien Entscheidungen Wertereihen in einer möglichen Welt sind zueinander konvergent, während sie sich zu Wertereihen in einer anderen möglichen Welt divergent verhalten; vgl. ausführlich hierzu Bavink (1947). 230 Das Jahr 1689 bildet für die Datierung dieses Traktats den terminus ante quem; vgl. Holz (1996), 174. 231 Leibniz, De Contingentia, 179: »In Deo existentia non differt ab essentia, vel, quod idem est, Deo essentiale est existere. Unde Deus est ens necessarium [. . . ] Nihilominus, quia tam Deum quam creaturas existere dicimus, et necessarias non minus quam contingentes propositiones dicimus esse veras, necesse est ut communis aliqua sit existentiæ contingentis notio et veritatis essentialis«. 232 Die radikale Gegenposition hierzu wäre der Atomismus in der Tradition von Demokrit und Epikur, der nur Kontingenz kennt. 229
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ist. Ebenso kann auf ähnliche Weise gefragt werden, ob diese Aussage notwendig ist: Nichts existiert ohne einen größeren Grund zu existieren als nicht zu existieren. 233
Ganz im Gegensatz zum Radikalzweifel Descartes', in dessen Rahmen selbst ein böser, täuschender Dämon diskutiert wird, steht für Leibniz der primordiale Akt Gottes bei der Wahl der möglichen Welten unverbrüchlich fest. Hierzu lässt sich festhalten, dass die Frage nach der besten Wahl Gottes zur Disposition steht, die sich dann in der besten aller möglichen Welten realisieren muss. Die theologischen Implikationen dieser Denkfigur werden von Leibniz anhand der Eigenschaften Gottes aufgezählt: Man muss anscheinend zugestehen, dass Gott niemals handelt außer weise – beziehungsweise so [sc. handelt], dass derjenige, der dessen Gründe, dessen höchste Gerechtigkeit, Güte und Weisheit erkennen und anbeten würde. Und es scheint in Gott niemals der Fall des reinen Beliebens gegeben zu sein, welches nicht zugleich Wohlwollen wäre. 234
Die Wahl derjenigen Welt, die infolge der Entscheidung Gottes für eine bestimmte Welt unsere Wirklichkeit repräsentiert, weist sich stets als die beste Wahl Gottes aus, insofern sich seine Wahl auf unverbrüchliche Wesenseigenschaften (justitia, bonitas, sapientia) seiner selbst gründet. Der größere Existenzgrund (gegenüber der Nicht-Existenz) bildet die letzte, nicht weiter reduzierbare Instanz, nach der die Welt aus menschlicher Sicht kognitiv (agniturus) und religliös (adoratus) zu erklären sei. So könnten wir zwar als Menschen über den allerersten Beweggrund Gottes auf die mannigfaltigste Weise rätseln und dennoch zugleich dasjenige als universell und allgemein annehmen, was durch Grund und Erfahrung selbst bekräftigt wird (soweit es gegeben [i. S. v. möglich] ist, dass wir in die Dinge eindringen), das Prinzip, das von Gott unserem Geist eingegeben worden ist, dass nichts ohne Grund geschieht und dass aus entgegengesetzten Dingen immer dasjenige geschieht, was mehr an Grund hat. 235 Leibniz, De Contingentia, 182: »Quaeri [potest] an hæc ipsa propositio: Deus eligit optimum necessaria sit, an vero potius unum et primarium ex liberis eius decretis. Item quæri potest similiter, utrum hæc propositio necessaria est: nihil existit sine majore existendi quam non existendi ratione«. 234 Ebd., 182: »Concedendum videtur, Deum nunquam agere nisi sapienter, seu ita ut is qui cognosceret ejus rationes, summam eius justitiam, bonitatem et sapientiam esset agniturus et adoratus. Atque non videtur unquam in Deo dari casus purplaciti, quod scilicet simul beneplacitum non sit«. 235 Ebd., 182 f.: »et tamen illud simul tenere in universum vel generatim, quod et ratione et experientia ipsa (quantum nos in res penetrare datum est) firmatur, insitum divinitus menti nostræ principium, nihil fieri sine ratione, et ex oppositis semper illud fieri, quod plus rationis habet«. 233
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Gott bringt die Wirklichkeit also nicht willkürlich hervor (obschon er natürlich in seiner Wahl und seinem Willen frei ist), er stellt vielmehr die Bedingung für alles Notwendige und Kontingente dar, das wir in der Welt vorfinden. 236 Leibniz gelingt es, über das Kriterium des Eindringens in die Dinge (penetrare) das Prinzip der intima rerum als inspicere auf theologische und kosmologische Zusammenhänge zu übertragen. Anhand dieses Einblickens offenbaren sich somit die Urgründe der Welt, etwa Leibniz' Prinzip des zureichenden Grundes (ratio sufficiens, raison suffisante), wie wir ihn in der Monadalogie formuliert finden; dieser besagt, [d]ass keine Tatsache als wahr und existierend, keine Aussage als richtig gelten kann, ohne dass ein zureichender Grund vorliegt, weshalb es so und nicht anders ist, auch wenn diese Gründe in den meisten Fällen uns nicht bekannt sein mögen. 237
Was in diesem Zusammenhang bemerkenswert erscheint: Es findet sich auch im Modell einer Weltenpluralität keine Absage an das essentialistische Denken; im Gegenteil: Vernünftige Essenzen liegen selbst in einer als kontingent vorgestellten Wirklichkeit vor, insofern sie einen größeren Grund zur Existenz als einen solchen zur Nicht-Existenz aufweisen. Somit wird im Prinzip der Notwendigkeit ein umfassendes Potential begründet, das Spannungsverhältnis der Theorie vieler Welten zum Aristotelismus aufzuheben. Denn die Schaffung des Möglichen bringt im Vergleich zu Aristoteles eine stärkere Gewichtung des Notwendigen (in Abgrenzung zum Wahrscheinlichen) hervor. Während bei Aristoteles das Notwendige an die Seite des Wahrscheinlichen rückte, um das Mögliche zu begründen, ist bei Leibniz das Notwendige regelrechtes Zugpferd für das Mögliche. Das Mögliche selbst betrifft zunächst die ganze Welt, in der wir leben (als mögliche Welt), dann auch die Ereignisse in der von Gott gewählten Welt (das Mögliche in der Welt). Die entsprechenden Ereignisse lassen sich nach Notwendigkeit und Kontingenz ordnen, wobei der Urgrund beider Ereignisprinzipien wiederum nur in der Notwendigkeit (bei Gott als erstem ens necessarium) liegen kann. 238 Die Hierarchie zwischen NotwendigVgl. zu Leibniz’ Auffassung auch Wiehart-Howaldt (1996), 62: »Eine solche [schöpferische Entität; D. B.] heißt deshalb ›ens necessarium‹, nicht weil sie mit logischer Notwendigkeit existiert, sondern weil ihre Existenz notwendige Bedingung für die Existenz von Kontingentem überhaupt ist«. 237 Leibniz, Monadologie, § 32: »Qv’aucun fait ne sauroit se trouuer vray ou existent, aucune Enonciation veritable, sans qv’il y ait une raison suffisante, pour qvoy il en soit ainsi, et non pas autrement; qvoyqve ces raisons le plus souuent ne puissent point nous etre connues«. 238 Diese Ansicht kann, insofern sie Eigenschaften Gottes prädiziert, für die leibnizsche Philosophie als nicht mehr hintergehbares Axiom gelten; vgl. hierzu Röd (1984), Cramer (1967), 15–100 und Wiehart-Howaldt (1996), 57–73. 236
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keit, Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit und Kontingenz wird also gegenüber der aristotelischen Physik, Metaphysik und Poetik neu geordnet. Wie aber ließ sich dann der Aristotelismus mit dem frühneuzeitlichen Naturbegriff in Hinsicht auf die Schaffung von Welten, insbesondere poetischen Welten vereinbaren? Baumgarten löst unter den Philosophen der Frühaufklärung die Probleme zwischen aristotelischem und leibnizschem Möglichkeitsbegriff auf die ausführlichste Weise auf. Ihm gelingt es, einerseits die Leibniz-Philosophie im Zuge der eigenen Wolff-Rezeption in das 18. Jahrhundert zu transportieren und andererseits dem Aristotelismus dabei die Rolle einer weiterhin unverbrüchlichen Bezugsgröße für poetologische Fragen zuzuschreiben. Nach den bisherigen Ausführungen ist es eine ziemlich genau bestimmbare Entwicklung, die der aristotelischen Poetik um 1700 zugutekommt: Zum einen hat die Fortentwicklung der Erkenntnistheorie aus dem cartesischen Rationalismus heraus eine Überwindung der traditionellen Erkenntniskriterien hervorgebracht. Denn Descartes hatte noch ausschließlich Wahrheit und Falschheit als gültige Werte hierzu anerkannt und dabei denjenigen Urteilsformen, denen ›nur‹ ein wahrscheinlicher oder möglicher Status zukommt, keinen hohen, zumindest keinen epistemologischen Stellenwert beigemessen. Mit Leibniz trat einer solchen, sich auf die Aussagenlogik kaprizierenden Ontologie die Modallogik an die Seite; sie wies, wie in Kapitel iv.2 gesehen, den nicht völlig wahren und nicht völlig unwahren Befunden über die Wirklichkeit einen eigenen Wert zu. Hieraus leitet sich ein nicht zu unterschätzender Vorteil für die aristotelische Poetik ab: Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit beanspruchen gegenüber der Wahrheit wieder eine hohe Gültigkeit in ontologischen und erkenntnistheoretischen Fragen. Und selbst die Notwendigkeit – als die neben Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit dritte Kategorie, die Aristoteles für die Bestimmung des poetischen Kunstwerks veranschlagte – 239 wird in der Leibniz-Philosophie, wie oben gesehen, nicht auf die Folge abstrakter Formeln oder deren Verhältnisse zueinander beschränkt; 240 sie wird vielmehr als eine Größe verstanden, die sich auf diejenigen Aussagen richtet, die über mögliche Welten getätigt werden können. Um auf dem skizzierten Hintergrund die Aufgabe der Dichter zu bestimmen, kehren wir wieder zu De Contingentia zurück. Dort finden sich neben dem durch den Gottesbegriff verbürgten Zusammenschluss von Notwendigkeit und Kontingenz auch Einlassungen zu den Bedingungen von Fiktionalität überhaupt: Vgl. Kapitel II.5.a der Studie. Etwa in Form von ›Wenn aus A B folgt und aus B C, dann folgt auch aus A mittelbar C‹ oder ›Wenn A + B = C, dann gilt auch: C – B = A‹. 239
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Es muss für sicher angenommen werden, dass nicht alles Mögliche zur Existenz gelangt; andernfalls könnte keine Romanfigur erdichtet werden, die nicht irgendwo oder irgendwann existierte; vielmehr kann es anscheinend nicht eintreten, dass alles Mögliche existiert, weil es sich gegenseitig behindern würde. Und es ergeben sich unendliche Reihen möglicher Dinge, eine einzelne Reihe kann aber jedenfalls nicht in einer anderen enthalten sein, da eine jede universell ist. 241
Die Dichtkunst ist, da sie mögliche Welten erschafft, in denen beispielsweise Romanfiguren (romanisci) Ort und Zeit besetzen, nach Leibniz universell zu nennen. Wenn Leibniz im selben Zuge betont, dass nicht alles Mögliche zur Existenz gelange, führt er damit die Bedingung für die Ansetzung eines Möglichen in aristotelischer Tradition an. 242 Nun ist es für Aristoteles wie für Leibniz ausgemacht, dass ein Dichter – in gewisser Analogie zu Gott – nicht Beliebiges schafft. Es geht vielmehr darum, die prinzipiell ins Unendliche reichende Reihe möglicher Dinge, die in einer geschaffenen Welt auftreten können, gleichsam zu bändigen. Es ist die Kombinatorik, die genau dies leistet; 243 sie geht im berühmten Paradigma einer Bezeichnungskunst (ars characteristica) auf. 244 Insbesondere Wolff bedient sich ihrer, um vorgestellte Dinge in ihren seriellen Zusammenhängen zu bestimmen. So dient die Symbolizität bei Wolff im Rahmen des Programms einer ars characteristica nicht der Verschlüsselung der Welt qua Zeichen, sondern ganz im Gegenteil dem Auffinden neuer Wahrheiten im Rahmen einer möglichen Welt. Aus der mathematischen Kombinatorik wird im Zuge der Etablierung einer Psychomechanik vollends eine ars characteristica combinatoria: §. 297. Jene Kunst, die Zeichen lehrt, die zum Finden nützlicher Dinge dienen, sowie die Art und Weise, die selbigen zu kombinieren und deren Kombinationen nach einem bestimmten Gesetz zu verändern, wird kombinatorische Bezeichnungskunst genannt. Von Leibniz wird sie spezifisch allgemeine [sc. Kunst] genannt. Ein gewisser Teil dieser kombinatorischen Bezeichnungskunst ist Aufgabe der speziellen Algebra, die man – in Übereinstimmung mit diesem Begriff – kombinatorische Bezeichnungskunst der Größen durch die Bezeichnungs241 Leibniz, De Contingentia, 184: »Pro certo habendum est non omnia possibilia ad existendum pervenire; alioqui nullus fingi potest Romaniscus, qui non alicubi aut aliquanto existeret; imo non videtur fieri posse, ut omnia possibilia existant, quia se mutuo impediunt. Et dantur infinitæ series possibilium, una autem series in alia utique esse non potest, cum unaquæque sit universalis«. 242 Es sei an die Ausführungen hierzu in Kapitel II .1–2 der Studie erinnert. 243 Diese hatten wir in Kapitel IV .3 als Grundtätigkeit eines mathematisch begründeten Seelenbegriffs kennengelernt. 244 Vgl. hierzu dezidiert Heinekamp (1972).
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kraft derjenigen Dinge, die wir zu einer vorhergehenden Aussage hinzufügen, nennen könnte. 245
Nach den in Kapitel iv.1 beschriebenen Auseinandersetzungen mit der Phantasie ist auch hier kein willkürliches Walten der Einbildungskraft gemeint; vielmehr hat ein Gesetz (certa lex) vorzuherrschen, nach dem die Zeichen miteinander zu kombinieren seien. Gesetze erzeugen wiederum Notwendigkeiten, die den Verbindungen einzelner Entitäten zu entsprechen haben. Verfolgen wir diesen Weg ideengeschichtlich weiter: Mit Georg Bernhard Bilfinger (1693–1750) wird sich einer der prominentesten Wolff-Schüler in den Dilucidationes philosophicae (1725) für einen Schulterschluss zwischen Mechanik und Metaphysik einsetzen. 246 Bilfinger fordert eine Beschreibung der Vermögensweisen der menschlichen Seele, die den Ansprüchen des aristotelischen Organon-Begriffs genügen könne: Ich wollte, es gäbe Menschen, die für das Vermögen des Fühlens, der Einbildung der Aufmerksamkeit, der Abstraktion und für das Gedächtnis das leisteten, was jener hervorragende Aristoteles [. . . ] für den Verstand geleistet hat, dass sie nämlich alles, was dazu gehört und beiträgt – sie zu ihrem Gebrauche zu leiten und zu unterstützen – in die Gestalt einer Kunst brächten, so wie Aristoteles im Organon die Logik oder die Fähigkeit des Beweisens in eine Ordnung gebracht hat. 247
Die Leibniz-Wolff-Tradition, wie wir sie in den Kapiteln iv.2–3 der Studie etwa in Form der Merkmalsästhetik und der graduellen Begriffseigenschaften ken245 Wolff, Psychologia empirica, pars I , sect. III , cap. II , § 297: »§. 297. Ars illa, quæ docet signa ad inveniendum utilia & modum eadem combinandi eorundemque combinationem certa lege variandi, dicitur Ars characteristica combinatoria. Vocatur a Leibnitio speciosa generalis. Artis hujus characteristicæ combinatoriæ pars quædam: specialis Algebræ est, quam notioni huic convenienter dixeris Artem characteristicam combinatoriam magnitudinum vi eorum, quæ ad præcedentem propositionem annotavimus«. 246 Vgl. programmatisch hierzu Bilfinger, Dilucidationes philosophicae, sect. 2nda, cap. III , § CLXIX: »Ita vero factum est, ut Mechanismi originem quæsierit in Metaphysica; ut præter Essentiam in corporibus consideraverit vim illis iditam divinitus; [unde & Chr. Wolfius, cum eas demonstrare in Metaphyica aggressus est, ex experientia aliquid assumere necessum habuit, quod a priori demonstrari non potuit.] [. . . ] Ita subordinatur Mechanica Metaphysicæ, & corporum successiones primæ rerum omnium origini.« (»So aber trat es ein, dass er [sc. Leibniz] den Urgrund des Mechanizismus in der Metaphysik gesucht hat. [. . . ] So ordnet sich die Mechanik der Metaphysik unter und die Fortbewegungen der Körper dem ersten Ursprung aller Dinge.«). 247 Bilfinger, Dilucidationes philosophicae, sect. 2nda, cap. III, § CCLXVIII : »Vellem existerent, qui circa facultatem sentiendi, imaginandi, attendendi, abstrahendi, & memoriam præstarent, quod bonus ille Aristoteles, adeo hodie omnibus sordens, præstitit circa intellectum: hoc est, ut in artis formam redigererent, quicquid ad illas in suo usu dirigendas, & juvandas pertinet & conducit; quemadmodum Aristoteles in organo Logicam, sive facultatem demonstrandi redegit in ordinem«.
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nengelernt hatten, wird Bilfinger aufgegriffen und die Fähigkeit des Vorstellens in den Mittelpunkt gerückt. Ein Beispiel hierfür ist die erneute enge Verbindung zwischen Fühlen (sentire), Vorstellen (repraesentare) und Erkennen (cognoscere); letztere wird dabei nochmals geschieden nach den Fähigkeiten, einer Idee Aufmerksamkeit zu schenken (attendere), sie zu abstrahieren (abstrahere) oder zu vergleichen (comparare). Sie entspringt jedoch der Vorstellung eines Unterschieds: Aus der Fähigkeit des Fühlens stellen sich Vorstellungen verschiedener Dinge ein. Aus der Fähigkeit, Ideen Aufmerksamkeit zu geben, sie zu abstrahieren und zu vergleichen, entsteht die Vorstellung eines Unterschieds, der zwischen den verschiedenen Dingen besteht. Wenn man jenen Unterschied durch deren Merkmale und Einzelteile erkennt, wird die Idee des ganzen Dings distinkt genannt; und die Fähigkeit, Dinge distinkt zu erkennen, wird Intellekt genannt. 248
Zudem äußert sich Bilfinger zur Trennung von Kraft und Fähigkeit in Hinsicht auf das Verhältnis der Seele zur Welt: Die Fähigkeit unterscheidet sich aber von der Kraft, weil die Fähigkeit das bloße Vermögen des Handelns benennt; die Kraft aber soll einen Drang und einen Versuch zum Handeln ausdrücken. [. . . ] Ich werde klarer sagen: Es gibt in der Seele eine Kraft, die Welt vorzustellen. 249
Bilfinger trennt Kraft und Vermögen voneinander und führt sie in der LeibnizFigur Est in Anima Vis repraesentandi Mundum wieder zusammen. Die Verbindung zwischen menschlicher Seele und Welt ist somit auch hier keine schiere Fähigkeit zum Handeln, sondern wird – was wir zuerst bei Kepler sahen – durch ein Repräsentationsverhältnis begründet. Es lässt sich festhalten: Bilfinger wünscht sich eine ars nach aristotelischem Vorbild – eine ars, die aber zugleich auch auf den durch Leibniz und Wolff begründeten Einschluss der sinnlichen Vermögen in der Sphäre höherer Erkenntnisinhalte fußt. Bevor es aber zur ars aesthetica Baumgartens kommen kann, bedarf es der ars characteristica Wolffs. Die von Bilfinger vorgetragene Forderung, eine dem Aristotelismus genügende Vermögenslehre von der Sinn248 Ebd., § CCLXXII : »Ex facultate sentiendi adsunt repræsentationes rerum diversarum: Ex facultate attendendi, abstrahendi, & comparandi ideas oritur repræsentatio discriminis, quod inter res diversas intercedit: Quod si illud discrimen per notas suas & partes agnoscas, idea rei totius dicitur distincta; Et facultas cognoscendi res distincte dicitur Intellectus«. 249 Ebd., § CCLII : »Differt autem facultas a Vi, quod facultas dicit nudam agendi potentiam; Vis dicat nisum & conatum ad agendum. Ita, si unus agendi nisus sit, qui tamen pro diversitate rerum, & status sui agat diversimodo, manente vi una, plures sunt facultates. Dicam clarius: Est in Anima Vis repræsentandi Mundum«.
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lichkeit zu etablieren, daraus gar eine neue Kunstlehre zu formulieren, wird sich in der Philosophie Baumgartens erfüllen. Kennzeichnend hierfür ist, den Aristotelismus mit den Axiomen des leibnizschen Weltbildes in Einklang zu bringen und daraus eine beiden Parteien, den Alten und den Neuen, genügende Auffassung der Dichtkunst hervorzubringen – dies eben nicht mehr unter der Signatur poetica, sondern als aesthetica. Baumgarten vollzieht diesen Schritt, indem er die sinnlichen Kriterien aus der Psychomechanik heraus entwickelt und mit den modallogischen Ansprüchen Aristoteles' rückkoppelt, ohne dabei die leibnizsche Tradition aufzugeben. Im Gegenteil, er entwickelt, wie noch genauer zu sehen sein wird, seine gesamte Fiktionstheorie geradewegs aus dieser Tradition heraus. Um aus der Vermögenslehre eine Fiktionstheorie zu entwickeln, ist vom Menschen als einem Wesen auszugehen, das insbesondere mit der Fähigkeit des Erfindens (facultas fingendi) ausgestattet ist. Diesbezüglich verfolgt Baumgarten, Solms' präziser Zusammenfassung nach, vor allem folgende Strategie: Am Leitfaden des leibnizschen Gedankens, daß die Seele im Vollzug der Vergegenwärtigung des Weltzusammenhangs eine Bewegung vollzieht, weil sie immer nur isolierte Aspekte des einen Universums vorstellen kann, beschreibt Baumgarten die »facultas fingendi«, die Dichtungskraft, als das kombinatorische Vermögen, die disparaten Teile einer »perceptio praegnans«, einer »vielsagenden Vorstellung«, intuitiv und mit Hilfe der Einbildungskraft zu einem Ganzen zu verbinden und daraus eine »bewegende« Erkenntnis zu bilden. [. . . ] Die Befähigung zur kombinatorischen Verknüpfung der Dinge, die die Einheit in der Vielheit transparent macht, teilt die »facultas fingendi« als die dominierende Fähigkeit des »analogon rationis« mit dem »ingenium«, dem »Witz«, wie Baumgarten übersetzt, als dem primären Bestandteil des Verstandes. 250
Aus der Aktualisierung der Weltzusammenhänge resultiert demzufolge eine neue Verknüpfung der Dinge. Dies deckt sich mit der aristotelischen σύστασις πραγµάτων. Der hierzu analoge Begriff der series repraesentationum 251 verlagert nun den gegenständlichen Zusammenhang in den inneren Bereich der Seelenvermögen. Stellten bei Aristoteles die Dinge (πράγµατα) die Grundeinheit eines modallogischen Beziehungsgeflechts dar – denn sie konnten sich zueinander ›notwendig‹, ›möglich‹ und ›wahrscheinlich‹ verhalten –, so ist es bei Baumgarten die Vorstellung (repraesentatio), in der sich der Fiktionszusammenhang widerspiegelt. Die Vorstellung ist dasjenige, das durch seine Kraft einen Zusammenhang mit anderen Vorstellungen bildet, wie es Wolff mit seiner ars characteristica combinatoria vorschwebte. Solms (1990), 46. Sowohl in den Meditationes als auch in der Aesthetica ist dies der von Baumgarten passim verwendete Begriff zur Beschreibung von Ereignisstrukturen im Gedicht. 250 251
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Wie gesehen, existieren Notwendigkeiten in der Leibniz-Tradition auf zwei Ebenen – auf der Ebene des Existenzgrunds (ens necessarium) und auf der Ebene der Ereignisse in einer möglichen Welt. Dies führt auch bei Baumgarten zu einer Zweiteilung des Notwendigkeitsbegriffs. Er greift in der Metaphysica (1739) den Aspekt der von der ars characteristica geforderten Folgerichtigkeit (consequentia) auf, indem er auf die leibnizsche Verschränkung von Existenz und Notwendigkeit rekurriert: 252 Dasjenige, dessen Gegenteil in sich selbst unmöglich ist, ist das Notwendige in sich (metaphysisch, physisch, intrinsisch, absolut, geometrisch, logisch). [. . . ] Die Bestimmung eines Wesens, durch die es als notwendiges existiert, ist dessen Notwendigkeit. Also ist die Notwendigkeit entweder absolut (vom Folgenden), oder hypothetisch (von der Folgerichtigkeit). 253
Das hypothetisch Notwendige liegt, insofern es eben hypothetisch ist, außerhalb eines aktualen Gegenstandes, vielmehr, wenn man so will, zwischen den Gegenständen. Aristotelisch ist hieran der Notwendigkeitsbegriff, der auf einen Gegenstand bezogen vollkommen intrinsisch und essentiell (entis determinatio) bleibt: Ein Ding ist nur dann ein Ding, wenn es aus Notwendigkeit heraus existiert. Denn dann ist es naturgemäß. Insofern dieses Begründungsmoment wiederum nur in Zusammenhang mit dem Weltganzen zu denken ist, 254 wird das holistisch-harmonistische Denken der Leibniz-Wolff-Tradition aufgegriffen und zu einem neuen Paradigma entwickelt. Die Verbindung zwischen dichterischen Fiktionen und dem Weltganzen findet sich bei Baumgarten im Heterokosmischen 255 ausgedrückt. Darin ist bereits die Vorstellung berücksichtigt, dass es mehrere Welten geben könne, von denen Gott nur die bestmögliche realisiert habe. Die poetologisch wichtigste Einlassung hierzu findet sich in den Meditationes, wo es heißt: Verworrene Vorstellungen, die aus geteilten und zusammengesetzten Einbildungen hervorgegangen sind, sind Einbildungen, folglich poetisch. Die GegenDie folgenden Ausführungen stützen sich auf eigene Vorarbeiten; vgl. Borghardt (2015). Baumgarten, Metaphysica, pars I, cap. II, sect. I, § 102: »Cuius oppositum in se impossibile est, est illud necessarium in se (metaphysice, physice, intrinsecus, absolute, geometrice, logice). [. . . ] Entis determinatio, qua necessarium est, est eius necessitas. Ergo necessitas est vel absoluta (consequentis), vel hypothetica (consequentiae)«. 254 Vgl. ebd., pars II , cap. II , sect. I , § 357: »In omni mundo sunt partes actuales. Hae singulae connectuntur cum toto. Hinc singulae connectuntur cum singulis. Ergo in omni mundo nexus est partium & harmonia universalis.« (»In jeder Welt gibt es aktuale Teile. Diese sind als Einzelne verbunden mit dem Ganzen. Von dort sind sie als Einzelnes mit Einzelnem verbunden. Also gibt es in der ganzen Welt eine Verbindung der Teile und eine universelle Harmonie.«). 255 Ein Kompositum nach der bekannten Etymologie aus griechisch »ἕτερος« (»anders«) und »κόσµος« (»Welt«). 252 253
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stände solcher Vorstellungen sind entweder in der bestehenden Welt möglich oder unmöglich. Letztere könnte man Erdichtungen, erstere wahre Erdichtungen nennen. Die Gegenstände der Erdichtungen sind entweder nur in der bestehenden Welt oder in allen möglichen Welten unmöglich. Letztere werden wir ›utopisch‹ nennen. Sie sind absolut unmöglich. Erstere werden wir ›heterokosmisch‹ nennen. 256
Hier treffen sich die Annahmen holistischer Naturphilosophie und die Kategorien einer essentialistisch ausgerichteten Poetik. Das Mögliche wird nicht mehr in der einen diesseitigen Welt als Gegenpol zum Notwendigen aufgefasst, sondern existiert bereits in der Form möglicher Welten. Das heterokosmische Denken Leibniz' drückt sich in einem komplexen Begriffsgefüge aus, das eine gewisse Originalität für sich beanspruchen darf – die figmenta heterocosmica in poemate hypothetice necessaria: Wenn die Erfahrung nicht genügt, dann sind wahre Erdichtungen, wenn auch die Geschichte nicht genügend reich ist, dann sind wahrscheinlich heterokosmische Erdichtungen notwendig. Also sind in einem Gedicht ebenso wahre wie heterokosmische Erdichtungen hypothetisch notwendig. 257
Wir finden hier mit dem necessarium und dem probabile die modallogischen Größen wieder, die Aristoteles zur Konstruktion des Möglichen (δυνατόν) benötigte. Baumgarten leitet sie jedoch aus der leibnizschen Kosmologie ab. Er trägt über den Begriff heterocosmica einerseits dem Weltenpluralismus Rechnung; zum anderen werden in der Annahme, dass Erdichtungen im Gedicht hypothetisch notwendig (hypothetice necessaria) sein können, die Fiktionsanforderungen bedient, die wir in Aristoteles' Poetik ausmachen konnten. Denn wie wir in Kapitel ii.5 sehen konnten, ist es für Aristoteles völlig unproblematisch, dass in Dichtungen auch Wahres enthalten sein könne; dieses Wahre wird im Zuge seiner Eingliederung in ein poetisches Kunstwerk jedoch auf ein Mögliches hin transformiert. In der Leibniz-Philosophie lässt sich – aufgrund der Weltenpluralität – sowohl Wahres als auch Heterokosmisches als Mögliches
Baumgarten, Meditationes, §§ L – LII: »Repraesentationes confusae ex divisis et compositis phantasmasi natae sunt phantasmata, ergo poeticae. Repraesentationum talium obiecta vel in mundo existente possibilia vel impossibilia has figmenta, illas liceat dicere figmenta vera. Figmentorum obiecta vel in existente tantum, vel in omnibus mundis possibilibus impossibilia, haec quae Utopica dicemus absolute impossibilia, illa salutabimus Heterocosmica.« (Einfache Anführungszeichen in der Übersetzung: D. B.). 257 Ebd., § LVIII : »[E]xperientia non sufficiente figmenta vera, nec historia quidem satis divite, figmenta probabiliter heterocosmica necessaria. Ergo figmenta tam vera quam heterocosmica in poemate hypothetice necessaria«. 256
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denken; für Baumgarten wiederum fällt Wahres und Heterokosmisches in den Bereich der hypothetisch notwendigen Dinge (hypothetice necessaria). Das Spiel mit der Modallogik ist damit aber noch nicht am Ende. Die Abwendung von der Wahrheit und gleichzeitige Hinwendung zur Wahrscheinlichkeit wird von Baumgarten als ästhetische Notwendigkeit bezeichnet: § 495. Die ästhetische Notwendigkeit, von der völlig gewissen und strengsten Wahrheit häufiger in Richtung der Wahrscheinlichkeit abzuweichen, wird 8) dann bestehen, wenn derjenige, der in der gesitteten Denkungsart, § 226, weitreichender auf eine neue Art des Ethos [ἦθος], § 193, achtgeben will, dahin gerät, eine Begebenheit darzustellen, die mit den sittlichen Charakteren der einmal eingesetzten Personen, mit den Sitten der Vorfahren und den Gewohnheiten, mit den Zeiten, dem Vaterland etc. auf vorzügliche Weise übereinzustimmen scheint, § 434, und die aus keinem Grund die moralische Kräftemessung, § 462, des Analogons der Vernunft beleidigen, deren Wahrheit im strengsten Sinne aber dennoch nicht gegeben sein mag. In diesem Fall befand sich Vergil, als er Aeneas mit Waffen für das Vaterland Troja einkleidete, B[uch] ii, § 309. 258
Es tritt demzufolge gelegentlich für den Dichter eine regelrechte Notwendigkeit ein, sich von der Wahrheit abzuwenden. Dieses Postulat ist als eine Fortführung der Leibniz-Denkfigur aufzufassen, die wir im Zusammenhang mit dem ens necessarium sehen konnten: Am Anfang jeder modallogischen Schaffung einer Welt steht eine Notwendigkeit – bei Leibniz eine essentielle, bei Baumgarten eine ästhetische. Das plastische Beispiel, das Baumgarten in Form einer Anspielung auf Vergils Aeneis anführt, besteht in der Moral beziehungsweise Sittlichkeit (ἦθος, mos) der fiktionalen Figuren, gesteuert durch die sittliche Denkungsart des Dichters. Sie wird anhand des Vergil-Bezugs in ein von Baumgarten explizit so genanntes Spiel der Kräfte mit eingebunden. 259 Nimmt man Baumgarten beim Wort, so habe Vergil seinen Helden genau im Spannungsfeld zwischen tradierten Mustern / Vorbildern (mores maiorum) und seiner eigenen gegenwärtigen Situation (pro patria Troia) figuriert. Baumgarten rekurriert dezidiert auf den Beginn der Heldenmission des Aeneas, angespielt werden dieBaumgarten, Aesthetica, sect. XXIX, § 495. »§ 495 Necessitas aesthetica a veritate, complete certa, et strictissima, saepius deveniendi ad verisimilitudinem erit, 8) quando morato latius cogitandi genere, § 226, iam novam ἤθους speciem, § 193, observaturus, § 433, incidat in pingendum eventum cum moralibus personarum semel constitutarum characteribus, moribus maiorum, et consuetudinibus, aetate, patria, e. c. apprime conspirare visum, § 434, nec ulla ratione male qui habeat moralem nalagi rationis dynamometriam, § 462, cuius tamen eventus non complete certa sit strictissima veritas. In hoc casu Virgilius fuit Aenean armis induens pro patria Troia, l. II, § 309«. 259 Auf den auffälligen Begriff der Kräftemessung (dynamometria) wird im folgenden Teilkapitel IV.5.b, in dem es um die Diversifizierung der ästhetischen Kräfte geht, noch genauer eingegangen. 258
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Abb. 7: Enea fugge da Troia con Anchise sulle spalle ed Ascanio
Abb. 8: Enea, Anchise e Ascanio
jenigen Szenen der Aeneis, in denen der Heros zu den Waffen greift: 260 Die Verpflichtung gegenüber dem alten, untergehenden Troja lässt Aeneas zunächst an Verteidigung denken, seine moralische Verpflichtung gegenüber der Familie, dem Vater Anchises und dem Sohn Iulus, indes an gemeinsame Flucht denken. Dergestalt wird bei Vergil eine Moralität im Modus des Wahrscheinlichen, aktualisiert in Aeneas' Bedrängnissen und seinen konkreten Handlungsoptionen, aufgerufen. Der für Aeneas mehr als nur charakteristische, ja gewissermaßen die Figur in der europäischen Kunst- und Literaturgeschichte determinierende göttliche Auftrag bildet dann, so lässt sich Baumgarten hier verstehen, die auf Dauer gestellte, ›wahre‹ Bestimmung der Figur. 261 In der europäischen Kunstgeschichte ist diese Szene bekanntermaßen ikonisch geworden. Berühmte Darstellungen sind Maestro del Dados Kupferstich Enea fugge da Troia con Anchise Vgl. Verg., Aen., 2, 314–317 und 2, 668–678. Es handelt sich also – in Baumgartens Lesart – um ein triadisches Kraftfeld mit den Polen ›Verantwortung für Troja‹, ›Schutz der eigenen Familie‹ und schließlich dem ›göttlichen Auftrag‹. Das im Fortlauf des Epos immer dominanter werdende Epitheton pius vermag es in seiner etymologischen Verwandtschaft zu pietas zunächst, all diese Ebenen zu umfassen, bevor es dann vorwiegend für die Erfüllung des göttlich vorgegebenen Schicksals (fatum) einsteht; vgl. Georges [81998], s. v. »pius«, 1722: »väterlich, kindlich, pflichtgetreu« sowie ebd., s. v. »pietas«, 1702: »Pflichtgefühl, Frömmigkeit, [. . . ] Vaterlandsliebe«. 260
261
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sulle spalle ed Ascanio (∼ 1530) und Berninis Skulptur Enea, Anchise e Ascanio (1618–1619). Wie Baumgarten, aber auch Maestro del Dado und Bernini eindrucksvoll vorführen, ist für die Einhaltung der Frömmigkeit (pietas) gewiss ein hohes Maß an Ethos, ebenso aber auch eine Anspannung von Kräften vonnöten. Dies macht laut Baumgarten die ›wahre‹ gesittete Denkungsart aus, die gleichzeitig die Frömmigkeit des Aeneas als eine wahrscheinliche – eine mögliche unter anderen – präsent hält. Wenn also die Wahrscheinlichkeit in besonderer Weise der schönen Denkungsart zuarbeitet, stellt sich die Frage, wann sich ein Dichter denn überhaupt der Wahrheit zuwenden darf. Die Antwort Baumgartens hierauf lautet, dass es ein spezifisch ästhetisches Bemühen um die Wahrheit gebe. Dieses Bemühen grenzt sich von dogmatischen und historiographischen Verfahren ab und richtet sich, ganz im Sinne der hypothetisch notwendigen Dinge (hypothetice necessaria) auf die Darstellung des Heterokosmischen aus: § 566 Das absolute, aber ästhetische Bemühen um Wahrheit, § 565, zeigt sich, im Verhältnis betrachtet, vor allem entsprechend den drei Arten des Wahren und den Graden der stofflich vollkommenen Dinge, mit denen es sich beschäftigt. Die Stoffe des selbigen sind 1) Allgemeines, 2) Wirkliches dieser Welt, 3) Heterokosmisches. Die Denkungsart, die Allgemeines aber auf geschmackvolle Weise ausdrückt, ist die ästhetikodogmatische; diejenige, die Wirkliches dieser Welt auf anmutige Weise malt, wollen wir ästhetikohistorische nennen. Die Art schließlich, auf geschmackvolle Weise über Heterokosmisches zu sinnieren, wollen wir mithilfe einer neu einzuführenden Synekdoche auch dann, wenn sie nicht in Gedichten ausgedrückt wird, Poetische Denkungsart nennen. 262
Die Ziele der poetischen Denkungsart (genus cogitandi poeticum) verbindet das Heterokosmische mit dem guten Geschmack. Der Weg dorthin ist im Falle der Wahrheitslehre die Beweisführung. Was in Kapitel ii.5.c bei Quintilian zu beobachten war, dass nämlich das probare nicht von einer logischen Beweisfunktion her zu bedenken sei, wird von Baumgarten aufgenommen, indem 262 Baumgarten, Aesthetica, sect. XXXV , § 566: »§ 566 Studium veritatis absolutum, sed aestheticum, § 565, comparate sese exseret pro triplici veritatum specie, et materialiter perfectorum gradu, in quibus versatur, potissimum. Sunt eiusdem materiae 1) generalia, 2) actualia huius mundi, 3) heterocosmica. G ENUS C OGITANDI generalia sed eleganter exprimens est A ESTHETICODOGMATICUM, actualia huius mundi venuste pingens, ob exiguum futurorum strictissima in veritate sistendorum numerum, dicamus A ESTHETICOHISTORICUM. Genus tandem eleganter heterocosmica meditandi nominemus per novam aliquam synecdochen tunc etiam, quando non exprimitur carminibus, G ENUS C OGITANDI P OETICUM«.
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er die argumenta probantia nicht in einem syllogistischen Gedankengebäude verortet, sondern allein aufgrund ihrer Kraft bemisst: § 539 Beweisende Argumente sind für uns Ästhetiker nun diejenigen, deren einzige oder vorzüglichere oder doch gewiss am meisten zu berücksichtigende Kraft darin besteht, den zu denkenden Dingen eine schöne Wahrscheinlichkeit zu verschaffen und sie gleichsam damit zu umgeben und ihnen diejenige Wahrheit zu verschaffen, die – wie groß auch immer sie sein mag und in wieviel Falsches sie auch immer gehüllt zu sein scheinen mag – sich dennoch als gefällige erweist und sich leicht allen Guten darbietet, die kundig darin sind, diesen Garten der Wahrheit zu durchdringen. 263
Die Kraft, die von den argumenta probantia ausgeht, umfasst somit die Bereitstellung von Wahrscheinlichkeit, mithin ein heterokosmisches Kriterium, und die Wirkung auf die Rezipienten (se probet [. . . ] iucundam ac facilem). Die Modallogik wird zur Ästhetik regelrecht ausgearbeitet, das Mittel dazu ist die Kraft des Ästhetikers, die sich an der Realisierung der schönen Wahrscheinlichkeit (pulcra verisimilitudo) bemisst. Als ein hervorragendes Beispiel hierfür wird im Folgenden mit Lukrez ausgerechnet ein Lehrdichter angeführt 264 bevor Baumgarten dann auch explizit auf Quintilian eingeht – und dabei eine Pointe mit einbaut: § 542 Wir wollen uns mit der Beschreibung bei Quintilian 1.c. zufriedengeben, wenn er sagt: »Ein (beweisendes) Argument ist eine vernunftgeleitete Überlegung, die der Beweisführung Beweiskraft liefert, wodurch etwas durch etwas anderes erschlossen und etwas Zweifelhaftes durch etwas Unzweifelhaftes in seiner Gewissheit bekräftigt wird.« Aber halt! Wieviel fordert er, wenn er doch fortfährt: »Es muss für jemanden, der Beweise richtig anwenden will, auch die Kraft und das Wesen aller [sc. in der Beweisführung enthaltenen] Dinge bekannt sein und welche Wirkungen ein jedes von ihnen in der Regel zeitigt. Denn daraus ergeben sich die Dinge, die man ›wahrscheinliche Dinge‹ [εἰκότα] nennt.« Wir allerdings legen ›bekannt sein‹ im Sinne von ›ästhetisch [sc. beBaumgarten, Aesthetica, sect. XXXIII, § 539: »§ 539 A RGUMENTA P ROBANTIA nunc aestheticis sunt, quorum vel unica, potior, vel certe iam potissimum consideranda vis est, § 143, exhibere cogitandis et quasi circumdare pulcram verisimilitudinem, et eam veritatem, quae quantacunque sit, quotcunque falsis videatur involuta, se probet tamen et iucundam ac facilem praebeat bonis omnibus haec veritatis viridaria penetrare gnaris«. 264 Vgl. ebd., § 540 und die darin angeführten Verse aus Lucr., 2, 1023 sowie 2, 1040–1044, worin es um die Überzeugungskraft der wahren, vom Geist jedoch noch zu rezipierenden und anzuerkennenden Lehre geht. Die Beziehung zur Wahrscheinlichkeit wird dadurch hergestellt, dass der Geist nichts als gegeben hinnehmen, sondern sich erst überzeugen lassen solle – sich, mehr noch, gegen falsch erscheinende Argumente »rüsten« (ebd., 2, 1043: »accingere«) solle. 263
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kannt sein]‹ aus und ›alle Dinge‹ im Sinne von denjenigen Dingen, bei denen man es unternehmen kann, über sie auf schöne Weise zu denken. Denn er [sc. Quintilian] gesteht selbst ein, dass es »langwierig, unmöglich oder vielmehr unendlich [sc. anstrengend]« sei, seiner Forderung Genüge zu tun. 265
Quintilians Prämisse von der Kenntnis über die Beweiskraft einzelner Gegenstände, die sich der Redner anzueignen habe, wird hier als ein ästhetisches Paradigma ausgelegt (interpretemur [. . . ] aesthetice). Und es zählt zu den reizvollen Pointen dieser Rezeption durch Baumgarten, dass die Rückstufung des Wahrheitsanspruchs einer Rede – die wir bereits in Teil ii.5 der Studie bei Quintilian, aber auch bei Cicero auf das genus iudicale bezogen vorfanden – hier auf das schöne Denken (pulcre cogitare) übertragen wird. Hatte Aristoteles die Dichtkunst aus ihrem Zusammenhang mit Wahrheitsdiskursen gelöst und hatte Quintilian das Wahre auf seine Wirkintensitäten rhetorisch rückgeführt, so wird von Baumgarten beides zusammengeführt. Das Wahre existiert nicht mehr als Diskurs, sondern als Wirkliches von unterschiedlicher Schönheit, und es existiert als Kraft und Wesen (vis et natura) der Dinge, über die sich der homo aestheticus auszeichnet. Das theoretische Resultat bildet einen Verbund aus beiden Disziplinen, in denen dies vertreten wurde, Poetik und Rhetorik, und damit eine der Bedeutungsformen der Ästhetik.
5.b. Zur Diversifizierung ästhetischer Kräfte
Bereits 1973 hat Hans Rudolf Schweizer für den ontischen Status der sinnlichen Erkenntnis (cognitio sensitiva) festgehalten: Die 〈cognitio sensitiva〉 ist primär nicht statisch, als Resultat, sondern dynamisch, als Aktivität zu verstehen. Wenn wir von 〈ästhetischer Aktivität〉 sprechen, so bringen wir damit zum Ausdruck, dass die 〈sinnliche Erkenntnis〉 in keinem Fall nur rezeptiv, sondern auch produktiv ist, also nie bloß 〈Intuition〉, sondern auch 〈Ausdruck〉 bedeutet. 266
265 Baumgarten, Aesthetica, sect. XXXIII , § 542: »§ 542 Acquiescamus in descriptione apud Quintilianum 1.c. quando, argumentum, ait, (probans) est ratio probationem praestans, qua colligitur aliquid per aliud, et quae, quod est dubium, per id, quod dubium non est, confirmat. Verum ohe! quae quanta postulat? Pergens: Debet nota esse, recte argumenta tractaturo, vis et natura omnium rerum, et quid quaeque earum plerumque efficiat. Hinc enim sunt, quae εἰκότα dicuntur. Verum interpretemur nota aesthetice et res omnes, de quibus pulcre cogitare instituas. Generatim enim suo postulato satisfacere concedit ipse longum, impossibile, aut potius infinitum esse«. 266 Schweizer (1973), 93 f.
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Nach den vorhergehenden Kapiteln lässt sich noch genauer beschreiben, was die von Schweizer benannte »Aktivität« im Einzelnen auszeichnet. Zu Recht betont wird von Schweizer die Simultaneität von Produktion und Rezeption, die für die ästhetische Aktivität kennzeichnend ist; auch die Erweiterung der Intuition um das ausdrückende Moment, die ars characteristica, kann zu den wesentlichen Bestandteilen dieser Aktivität gezählt werden. Ebenso lässt sich der angeführten Verlagerung des Erkenntnisbegriffs weg von einem disjunktiven, rationalen Gebrauch im Cartesianismus hin zu einem dynamischeren Zuschnitt – mit Blick auf dessen Umformatierungen in der Leibniz-Wolff-Tradition – zustimmen. Was aber kann diese janusköpfige Erscheinungsweise, die sich so empfangend wie hervorbringend ausnimmt, nun einen? Eine klassische Antwort hierauf ist die Koppelung von Subjekts- und Vermögensbegriff: Das nach sinnlicher Erkenntnis strebende Subjekt geht in einer sinnlichen Tätigkeit auf; diese Tätigkeit markiert dann zugleich sein Vermögen, wie in jüngerer Zeit von Menke angeführt wurde: Baumgarten erläutert Leibniz' ›inneres Prinzip‹ der sinnlichen Tätigkeit als ›Vermögen des Subjekts‹. Baumgarten konnte zum gerühmten ›Erfinder‹ der Ästhetik werden, weil er den Anspruch des Sinnlichen auf Erkenntnis dadurch zu sichern vermag, dass er es als eine Praxis des Subjekts versteht. 267
Das Sinnliche konstituiert demnach einen Vermögensbegriff, der auf die Tätigkeit des Subjekts vorausweist. Was von Menke zudem im Zusammenhang mit dem subjektiven Vermögen betont wird, ist die Bezogenheit auf ein Ziel. Zum teleologisch anzustrebenden Prinzip wird das Gute erklärt, das sich wiederum in seiner Verhaftung mit wesentlichen Eigenschaften der δύναµις aristotelisch ausnimmt. Es selbst wird durch die Tätigkeit des Subjekts in die Energetizität überführt, während die dazu notwendige Fähigkeit des Subjekts eher an die τέχνη gemahnt. Es wird somit zwischen Ziel und Mittel unterschieden, wobei die τέχνη ganz wesentlich von der Entscheidungsfrage des Gelingens und Misslingens geprägt ist: Ein Vermögen auszuüben heißt, das Gute zu verwirklichen, auf das das Vermögen gerichtet ist. Wird das Gute nicht verwirklicht, dann ist auch das Vermögen nicht – oder nur fehlerhaft, mangelhaft – ausgeübt worden. Etwas zu vermögen heißt nicht, irgendwelche Wirkungen zu haben, sondern dieses bestimmte Gute verwirklichen zu können: Etwas zu vermögen heißt, etwas gelingen lassen zu können. 268 267 268
Menke (2008), 46. Ebd., 35 f.
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Gerade die Engführung von teleologischem Ziel und der Rolle des Guten ist aristotelischen Zuschnitts; 269 man verwirklicht etwas zu einem bestimmten Zweck und realisiert im Zuge dessen das Gute. 270 Damit ist indes noch nicht gesagt, wie die eigenen Vermögensweisen arbeiten müssen, um eben etwas hervorrufen zu können, das nicht in beliebige Wirkweisen diffundiert. Daher ist in Ergänzung zu den bisherigen ideengeschichtlichen Beiträgen genauer zu erwägen, welche Arten von Kräften nötig sind, um eine cognitio sensitiva zu erzielen. Denn diese meint, neben der Bekräftigung ihres Status als einer Praxis des Subjekts, stets auch eine Aufbietung bestimmter Kräfte im Gefüge des Seelenapparats. Menke weist in diesem Zusammenhang bereits auf die zentrale Bedeutung des Kraftbegriffs hin, setzt ihn allerdings mit ›Fähigkeit‹ und ›Fertigkeit‹ auf eine Ebene, um den Vermögensbegriff selbst zu umreißen: Damit erhält der Ausdruck ›Kraft‹ (vis), den Baumgarten, neben anderen wie ›Fähigkeit‹ (facultas) und ›Fertigkeit‹ (habitus), zur Bezeichnung des Könnens verwendet, eine eindeutige Bestimmung: ›Kraft‹, ›Fähigkeit‹ oder ›Fertigkeit‹ bezeichnet bei Baumgarten das Vermögen des Subjekts. Dabei heißt ein Vermögen zu haben, etwas zu vermögen: etwas ausführen, etwas verwirklichen zu können. 271
Ergänzend zu Menkes Analyse soll der ästhetische Kraftbegriff, ausgehend von dem zentralen Seelenvermögen der Ästhetik, der Einbildungskraft, genauer besehen werden: Wo Menke vor allem die Ausführung, die Handlungspraxis, in den Blick nimmt, soll hier der Bereich der seelischen Kräfte selbst fokussiert werden, und zwar vornehmlich im Bereich der Vorstellungsbilder (phantasmata, imagines) sowie, damit einhergehend, der Affekte (affectu¯ s). Zunächst ist festzuhalten, dass Baumgarten in seiner Bestimmung der Vorstellungsbilder auf die konstitutiven Begriffe der Mechanik rekurriert – auf Kraft, Anstoß und Bewegung. Den begrifflichen Ausgangspunkt hierzu bilden, entsprechend der erhöhten Rolle der Sensualität, die Empfindungen (sensiones). Bereits 1735, in den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, findet sich ein Kraftbegriff, der auf die Empfindungen bezogen wird und dabei von einem Eindruck ausgeht. Die Empfindungen werden dort als schwache (imbecilles) oder stärkere (fortiores) vorgestellt; der damit zusammenhängende Vgl. etwa die Eingangssätze in Aristoteles’ Politik (Aristot., pol., 1, 1, 1252a1–6). Ein Problem besteht gleichwohl darin, dass es dann genau um das Ausüben des Vermögens, nicht aber um das Vermögen selbst geht. Und hierfür setzt die Aufklärungsphilosophie neue Impulse. So ist Menke in seiner Kritik an Gadamer (vgl. Menke [2008], 134, FN 32), der in Wahrheit und Methode die vorkantische Ästhetik auf viel zu lose gefasste aristotelische Kategorien reduziere, grundsätzlich zuzustimmen. 271 Menke (2008), 35. 269
270
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Bewegungsbegriff wird sprachlich den Komposita des Intensivums citare entliehen: excitare, concitare und incitare. 272 Dieser Begriffsbestand ist, wie wir in Kapitel ii.5.b–d der Studie sehen konnten, hochgradig durch die klassische Rhetorik vorgeprägt. Bereits an dieser Stelle verschränkt Baumgarten somit die Poetik mit der Rhetorik, und damit insbesondere mit der Affektenlehre, wie § 27 eindrucksvoll zeigt: Sensiones fortiores sunt clariores, ergo magis poeticae quam minus clarae et imbecilles, § 17; sensiones fortiores comitantur affectum vehementiorem quam minus vehementem, § 25. Ergo excitare affectus vehementissimos maxime poeticum. 273
Die Kraft des sinnlichen Eindrucks, deren graduelles Moment sich im komparativischen Gebrauch der stärkeren (fortiores) und klareren (clariores) Wahrnehmungen ausdrückt, 274 ruft einen vehementen, das heißt: leidenschaftlichen, hitzigen Affekt hervor. Dass nun diese Kraft ihrem Wesen nach einem sinnlichen Eindrucksmoment, einem τύπος gleichkommt, zeigt sich im darauffolgenden § 28: Phantasmata sunt repraesentationes sensitivae, § 3, adeoque poeticae, § 12. [. . . ] Quis enim negaret phantasma esse quod imaginati sumus? Iam vero facultas imaginandi in ipso Suidae lexico describitur tanquam παρὰ τῆς αἰσθήσεως λαβοῦσα τῶν αἰσθητῶν τοὺς τύπους, ἐν ἑαυτῇ τούτους ἀναπλάττουσα. 275
Im Ausdruck τύπος, den Baumgarten hier über die Gelehrtenkultur der byzantinischen Renaissance aufruft, 276 liegt noch nicht die Form eines phantasma gemäß einer abgeschlossenen Größe vor, sondern es konnotiert im Sinne des Vgl. zu ciere (»in Bewegung setzen«), das etymologisch mit den griechischen κίω und κινέω verwandt ist, Georges (81998), s. v. »cieo«, 128. 273 Baumgarten, Meditationes, § XXVII : »Stärkere Empfindungen sind klarer, also mehr poetisch als weniger klare und schwache, § 17. Stärkere Empfindungen begleiten den heftigeren Affekt eher als den weniger heftigen, § 25. Demnach ist es höchst poetisch, sehr heftige Affekte zu erregen«. 274 Der Gegensatz hierzu, den wir auch in der antiken Rhetorik kennengelernt hatten, hieße imbecilles. 275 Ebd., § XXVIII : »Einbildungen sind sensitive Vorstellungen, § 3, und daher poetisch, § 12. [. . . ] Wer würde nämlich bestreiten, dass eine Einbildung dasjenige ist, was wir uns vorstellen? Die Einbildungskraft wird ja bereits im Lexikon von Suida selbst derart beschrieben, dass sie ›die Eindrücke der wahrnehmbaren Dinge aus der Wahrnehmung annimmt und diese in sich umbildet‹«. Zur Emendation der griechischen Partizipien vgl. Lamarra / Pimpinella (1993), 55. 276 Die Suda beziehungsweise selten – wie hier bei Baumgarten – ›Suida‹ stellte das wichtigste Enzyklopädie der sogenannten byzantinischen Renaissance im 10. und 11. Jahrhundert dar. Es handelt sich bei diesem Begriff nach heutigem Stand um den Titel des Lexikons selbst, während zu Baumgartens Lebzeiten die Ansicht vorherrschte, es handle sich um den Verfassernamen. Zur historischen Rolle der Su(i)da vgl. Baldwin (2006). 272
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τύπτειν den Schlag beziehungsweise den Eindruck als dessen metonymische Folge. 277 Die τύποι τῶν αἰσθητῶν sind daher dezidierte Eindrücke sinnlich erfassbarer Dinge, wohingegen die αἴσθησις den Sinn als Perzeptionsorgan bezeichnet. Aus ihr entstammen (παρὰ τῆς αἰσθήσεως) die sinnlichen Eindrücke, die dann mit Nachhaltigkeit auf die Seele wirken. Was diese Theorie von einem bloßen sensualistischen Standpunkt abhebt, ist nun das Umbilden (ἀναπλάττειν) der sinnlichen Eindrücke; es erhöht im Sinne Baumgartens diejenigen Seelenteile, die in cartesianischer Tradition noch unterhalb der ratio anzusetzen waren, ohne dabei behaupten zu müssen, dass die Sinne in ungebrochen linearer Weise von den untersten in die mittleren Vermögen der Seele vorstießen. Es handelt sich um kein bloßes Durchlaufen der Seelenstadien von den äußeren Sinne hin zum geistigen Apparat im Sinne einer nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu-Formel, 278 sondern um eine instanzielle Umformung der sensiones. Was im Aristotelismus sowie in der klassischen Rhetorik noch ein Verhältnis zwischen τέχνη und δύναµις bezogen auf den Menschen in toto meinte, wird von Baumgarten in den interioren Bereich der Seele selbst verlagert. Der imaginatio wird also gestalterisches Potential zugeschrieben, und es ist diese Funktion, welche sie gerade im Vergleich zu anderen Begriffstraditionen 279 als selbsttätige Kraft ausweist. Hierin verbinden sich nun gleichermaßen diejenigen aktiven und passiven Potentiale, die wir vom mechanistischen Weltbild her kennen: Die imaginatio nimmt, wie Baumgarten anführt, Eindrücke auf (»λαβοῦσα«) und bildet diese kunstvoll um (›ἀναπλάττουσα‹). 280 So erst entstehen Vorstellungsbilder innerhalb der Gegen die Übersetzung von Paetzold (1983), 32, der von »Bildern« spricht. Folgte man diesem Terminus, so lägen die phantasmata bereits vor ihrem Eintritt in das Vorstellungsvermögen als formal-bildliche Anschauung vor. Dies widerspricht aber ihrer Grundeigenschaft eines sinnlichen Substrats, die wir so häufig in der philosophischen Linie von Leibniz über Wolff zu Baumgarten feststellen konnten. Es ist ja gerade die Abstraktion aus den priorisch vorliegenden sinnlichen Eindrücken, die dann zu Bildern im Vorstellungsvermögen führt. Einschlägiger Nachweis hierfür ist die Möglichkeit ihrer Reproduktion auch in absentia. Anders gewendet: Die Sinneseindrücke sind als Eindrücke noch keine ›Bilder‹; sie liefern aber gleichwohl das Material, aus dem das Subjekt seine Vorstellungen herzuleiten, zu formen und zu rekonstruieren vermag. 278 Vgl. als prominentesten Namensgeber dieser Formel Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, quaest. II, art. III, arg. IX. Zum Fortwirken dieser Denkfigur in der Frühen Neuzeit, insbesondere in der Philosophie Lockes, vgl. Rickless (2015) und Ayers (1991). 279 Etwa im Vergleich zu Hobbes’ ermatteter sensio oder Spinozas vestigia von Sinneseindrücken, die wir in Kapitel III.2.a bereits abgegrenzt hatten. 280 Im »πλάττειν« liegt der gestalterische Aspekt der Materialformung vor, ausgehend von Künsten wie derjenigen des Töpferns oder Bildhauens; vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »πλάσσω [att. πλάττω]«, 1412: »form, mauld [. . . ], knead, [. . . ] plaster«. Die von Baumgarten bemühten lateinischen Entsprechungen ›refictae« und »reproductae‹ sind nur scheinbare Oxymora. Der im ›ἀνά‹ beziehungsweise ›re‹ ausgedrückte Funktionsaspekt meint keine bloße Wiederholbarkeit, sondern einen Rückgriff auf vorhergehende Eindrücke im Sinne einer produktiven Aneignung. Ein 277
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Seele. 281 Das sinnliche Empfinden erstreckt sich daher auf interne (phantasia) wie externe (sensus) Seelenteile und dient in dieser Verbindung der Rezeption wie der Produktion; derartige Tätigkeiten werden durch das Empfinden im Sinne der Selbstperzeption der Seele vollzogen, das wir in Kapitel iii.1.c.α und iv.4.a kennengelernt hatten. Denn die Nähe der Seele zur körperlichen Welt wird durch die Eindrücke nicht schlichtweg bestätigt, die Eindrücke gelangen nach ihrem Eintritt vielmehr weiter in den mittleren Bereich der Seele und zeigen sich dort in der Lage, heftige Affekte hervorzurufen. Die Umwandlung der τύποι zu phantasmata und deren Auswirkungen auf die affectu¯ s verweisen somit auf die unterschiedlichen Seelenbereiche anhand der Umwandlung von Kräften in Bewegung. Daran anschließend wirft sich die Frage auf, von welchem mechanischen Zuschnitt die genannte Umbildung der Eindrücke in Vorstellungsbilder sein muss. Das angeführte Produktionsmoment lässt die Einbildungskraft vor allem als operationales Vermögen in Form einer ars fingendi unter besonderer Betonung des bildhauerischen Aspekts erscheinen. Denn ihre Tätigkeit geht im Zusammenschluss des Bildens (πλάττειν) mit der Kraft des Schlagens (τύπτειν) auf. Im πλάττειν schwingt unverkennbar die leibnizsche vis plastica mit, 282 und damit eine Kraft, die als Formung bestehenden Materials zu denken ist. Sie wird hier aber gegenüber der Leibniz-Philosophie auf eine andere Ebene übertragen, von der Ebene der Körpermassen auf die Ebene der Phantasie. Da innere Prozesse die Eindrücke zu Vorstellungsbildern (phantasmata) umgestalten können, kann es sich hier nicht um eine einfach gerichtete Anstoßkraft handeln, sondern es muss ein komplexes Vermögen angenommen werden, das in der Lage ist, neben einer Form auch eine Vehemenz auszuprägen. Die Stärke der sinnlichen Empfindung (sensio fortior, sensio imbecillis) ruft Affekte von unterschiedlichen Vehemenzgraden hervor. Sie sind daher nicht beliebig gerichtet, sondern stets als Teil des von der Einbildungskraft ausgehenden Impulses aufzufassen. In dieser Funktion ist der Ausdruck facultas, wie er für die Einbildungskraft bemüht wird, zu sehen. Anders gewendet: Die Kraft durchdringt das Vermögen, wie das Vermögen die Kräfte bereitstellt. phantasma muss demnach kein schwaches Ebenbild eines wie auch immer gearteten Sinneseindrucks sein, sondern besteht in einer imago der tätigen Seele. 281 Dieses enge Band wurde in jüngerer Zeit auch von Menke festgehalten: »Die Einbildungskraft gehört in das Feld der Sinnlichkeit (denn sie vermag ihren Vorstellungen nicht den Charakter von Repräsentationen, ihren Bildern nicht den Status von Erkenntnissen zu verschaffen), sie ist aber zugleich nicht bloß rezeptiv, nicht bloß der Abdruck eines Eindrucks. [. . . ] Die Einbildungskraft ist hervorbringend oder produktiv.« (Menke [2008], 16). 282 Insofern der Wortstamm des Adjektivs plasticus über den Weg des πλαστικός dem griechischen πλάττειν entlehnt ist; vgl. Georges (81998), s. v. »plasticus«, 1731.
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Es liegt nahe, in Anknüpfung an die Untersuchungsergebnisse zur Entwicklung des Kraftbegriffs in Teil iii.3 der Studie, die ästhetische Kraft bei Baumgarten als einen dreifach medialen Begriff aufzufassen. Er ist in erster Linie medial, da er sich – wie bereits gesehen – aus aktiven wie passiven Potentialen heraus generiert, wodurch sein Rezeptionsvermögen mit seinem Produktionsvermögen gewissermaßen in eins fällt; er ist zweitens dadurch medial, dass er eine vermittelnde Stellung zwischen Sinnen und Erkenntnis einnimmt; und er ist in dritter Hinsicht medial, da er die psychomechanischen Affekte in einen göttlich besetzten Begriff wie den Enthusiasmos zu überführen vermag. Gerade bei letzterem handelt es sich um einen Weg, der zwei offen gebliebene Fragestellungen bedient: Der Cartesianismus konnte und wollte sich nicht festlegen, woher die Bewegungen metaphysisch rühren – somit blieb auch die Affektenlehre, die seit der Antike vorwiegend als eine Bewegungstheorie aufgefasst wurde (animos movere), im Status der Beschreibung von Leidenschaften. Die Poetik wiederum nahm sich in ihren barocken Zuschnitten vor allem der Gattungslehren im Sinne von Mustergültigkeiten an; ebenso ging es in den Hauptspielarten des französischen Klassizismus vor allem um die Bedeutung der antiken Gattungen und Autoren im Sinne einer Vorbildsfunktion – oder eben, wie in der Querelle diskutiert, Nicht-Vorbildfunktion. In beiden Fällen blieben Leerstellen hinsichtlich der dichterischen Kräfte bestehen. Diese Leerstellen werden durch die Medialität der Kräfte der Seele, auf Grundlage der in der mechanistischen Tradition vorformulierten Selbstperzeption der selbigen, mit einer mehrgliedrigen Operationalität gefüllt. Und dennoch müssen diese Kräfte irgendwo beginnen, um sie überhaupt beschreibbar zu machen: Sie haben ihren Urgrund, ganz wie aus der Tradition der Vermögenslehre des 17. Jahrhunderts bekannt, in den unteren Erkenntnisvermögen – in solchen Vermögen, die »diesen ihren lebendigen Kräften gleiche Wirkungen geben [können], die größer sind als die gewöhnlichen Kräfte und sich zu diesen ungefähr so verhalten wie das Quadrat zu seiner Wurzel«. 283 »Quadrat« und »Wurzel« sind durch die mathematische Psychologie spezifiziert und können daher dem Vermögensbegriff genügen, wie es Baumgarten vorschwebt. Sie enthalten ein abstraktes Substrat und richten sich doch zugleich auf die energetische Wirklichkeit. Baumgarten vertieft diesen Gedanken, indem er mit Blick auf die sich zu der Zeit noch ausprägende Wissenschaft der Psychologie anführt: »Für die Psychologen ist es offenkundig, dass bei einem derartigen Ansturm die Seele gänzlich ihre Kräfte anspannt, am stärksten aller-
283 Baumgarten, Aesthetica, sect. V , § 78: »dent effectus his suis viribus vivis aequales, viribus ordinariis maiores, et ad eas se circiter habentes, uti quadratum ad radicem«.
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dings die unteren Seelenvermögen«. 284 Wo Kepler noch die Seele schlechthin mit Kraft ersetzte, um ein die geistige wie körperliche Welt durchdringendes Prinzip zu formulieren, werden hier besonders die unteren Seelenvermögen (facultates inferiores) in den Blick genommen und mit dem höchsten Grad an Kraft besetzt. Der Sitz dieser Kraft ist nach der Leibniz-Wolff-Philosophie klar verortet: Es handelt sich um den Grund der Seele, den fundus animae. Und genau dies habe nun ausgerechnet Lukrez, obschon er natürlich von den frühneuzeitlichen Vorstellungen über einen fundus animae nichts wissen konnte, besser erkannt als diejenigen, die meinten, einen Enthusiasmos als Erklärungsgrund für die dichterische Produktivität ansetzen zu müssen: Hic animae fundus quum a multis adhuc ignoretur, etiam philosophis, effectus eius extraordinarius, quem § 78 descripsimus, diis adscriptus est auctoribus, secundum illud Lucretii: Ignorantia caussarum conferre deorum Cogit ad imperium res, et concedere regnum, ut Quorum operum caussas nulla ratione videre Possunt, haec fieri divino numine rentur. § 81 Lustremus aliquas incitationis eiusmodi opportunitates pro positu corporis aut aucupandas, aut saltim oblatas arripiendas, in quibus aut nunc, aut nunquam. Eo refero 1) motionem agitationemque corporis, praesertim non nihil melancholici, e. g. per equitationem celeriorem, § 46. Hinc forte Pegasus Hippocrenen recludens, hinc tot in itineribus carmina scripta. Mirum est, ut animus agitatione motuque corporis excitetur, Plin. l. i., Ep. 6. 285
Vorgeführt wird von Baumgarten ein ganz auf das Diesseits gerichtetes Modell, das die Ablehnung eines göttlichen Willens, eines divinum numen impliziert – 284 Ebd., § 80: »Psychologis patet in tali impetu totam quidem animam vires suas intendere, maxime tamen facultates inferiores«. 285 Ebd. §§ 80 f.: »Da dieser Grund der Seele von vielen, sogar von Philosophen, bis heute nicht zur Kenntnis genommen wird, wird dessen außerordentliche Wirkung, die wir in § 78 beschrieben haben, den Göttern als Urhebern zugeschrieben, gemäß jenem [sc. Ausspruch] des Lukrez: Unkenntnis der Ursachen zwingt dazu, die Dinge auf die Macht der Götter zu beziehen und die Herrschaft über Werke ihnen zuzugestehen, damit sie meinen, dass dasjenige aus göttlichem Willen geschehe, deren Ursachen sie mit keiner Vernunft erblicken können. § 81 Gehen wir einige Möglichkeiten einer Erregung dieser Art durch, auf die man es entsprechend der Stelle des Körpers entweder absehen muss oder die man wenigstens ergreifen muss, wenn sie sich darbieten; bei ihnen gilt: Jetzt oder nie! Dazu beziehe ich mich 1) auf die Bewegung und den Antrieb des Körpers, besonders auf den eines Melancholikers, beispielsweise während eines schnelleren Rittes, § 46. Vielleicht ist es daher Pegasus, der die Hippokrene sprudeln lässt, und werden daher auf so vielen Reisen Gedichte geschrieben. Es ist erstaunlich, wie der Geist durch den Antrieb und die Bewegung des Körpers erregt wird, Plin., B[uch] 1., Ep[istel] 6«.
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unter Heranziehung von De rerum natura (Buch 6, 54 f. und 90 f.) als hierfür durchaus geeigneter Referenzgröße. Dort nämlich wird die Befreiung vom Aberglauben – der nach Lukrez mit dem religiösen Glauben schlechthin in eins fällt – als eines der erstrebenswertesten Ziele des menschlichen Lebens proklamiert. Im Anschluss an diese lukrezischen Einlassungen kommt bei Baumgarten die Frühe Neuzeit, namentlich die Leibniz-Wolff Philosophie ins Spiel: Die pro positu corporis-Junktur hatten wir in der Monadenlehre Leibniz' sowie in der Psychologia empirica Wolffs als Kriterium des monadischen Standpunktes kennengelernt. Hier dient sie in ähnlicher Weise dazu, den Einbezug der Seele in die körperliche Welt darzustellen. Das Zitat aus der Epistula 1, 6 Plinius' des Jüngeren schließt diesen Gedanken rhetorisch versiert ab. 286 In der Erläuterung des fundus animae rahmt somit an dieser Stelle die Antike in Form von Lukrez und Plinius dem Jüngeren die Frühe Neuzeit ein. Nicht grundlos werden hierzu zwei Autoren herangezogen, die sich durch anti-spekulative, ganz auf das Diesseits ausgerichtete Lebensphilosophien auszeichnen. 287 Auch der Bewegungsaspekt spielt in der Ästhetik Baumgartens eine tragende Rolle, und dies bereits in den Meditationes. Betrachten wir ihn näher anhand seiner Beziehung zu den Vorstellungsbildern und den sinnlichen Ideen: Phantasmata minus clara quam ideae sensuales, ergo minus poetica, § 17. Quum ergo affectus moti determinant ideas sensuales, poema movens affectus perfectius quam plenum phantasmasi mortuis, § 8, 9, et affectus movere magis poeticum quam phantasmata alia producere. 288
Es geht demnach bei der Erzeugung von Vorstellungsbildern nicht um ein Anfüllen der Seele, bis sie eine Art Plenum an phantasmata darstellt, sondern um eine fortgesetzte Bewegung, die an den phantasmata nur ihren Ausgangspunkt nimmt, um Affekte zu erzeugen. Die Bewegung adressiert nicht die Energie, sondern die Affekte. Daher kann topische Fülle kein Selbstzweck sein, sondern Besonders ist dabei die Wendung animus agitatione motuque corporis hervorzuheben: Geist (animus) und Körper (corporis) nehmen gegenüber den Bewegungsbegriffen (agitatione motuque) eine rahmende Stellung ein, zudem wird über die Alliteration animus agitatione der enge Bezug zwischen körperlichem Antrieb und seelischer Affiziertheit zum Ausdruck gebracht. 287 Von Christoph Martin Wieland wird die von Baumgarten zitierte epistula 1, 6 des jüngeren Plinius – in ausdrücklich emphatischem Sinn – noch »ein naives Gemäldchen [. . . ], wie Gelehrte zu jagen pflegen« (Wieland, Proben einer neuen Uebersetzung der Briefe des Plinius, 74), genannt und geschätzt werden. 288 Baumgarten, Meditationes, § XXIX : »Vorstellungsbilder sind weniger klar als sinnliche Ideen, demnach weniger poetisch, § 17. Insofern also die erregten Affekte die sinnlichen Ideen bestimmen, ist ein Gedicht, das Affekte bewegt [movens], vollkommener als eines, das voll ist von toten Einbildungen, § 8, 9, und Affekte zu bewegen [movere] ist poetischer als andere Vorstellungsbilder hervorzubringen«. 286
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muss die lebendigen Kräfte aufrechterhalten und in Affekte umwandeln. Die phantasmata mortua sind demgegenüber geradewegs als das Gegenteil der lebendigen Kräfte aufzufassen, die aus dem fundus animae heraus zu schöpfen sind. Sie entsprechen nicht den sinnlichen Ideen (ideae sensuales) – einer Größe, die wir bereits bei Leibniz und Wolff als wichtigen Bestandteil der Merkmalsästhetik kennengelernt hatten. Ein phantasma ist mithin dann ein poetisches phantasma, wenn es einer sinnlichen Idee genügt. Überträgt Baumgarten in den Meditationes noch mit dem affectu¯ s movere ein Wirkziel der klassischen Rhetorik auf einen poetologischen Zusammenhang, so wird der Bewegungsbegriff in der Aesthetica noch deutlich weiter ausdifferenziert. Die wichtigste Chiffre für die unterschiedlichen Bewegungsarten stellt dort der impetus aestheticus dar. Die einzelnen Bestandteile, welche diese Chiffre auszeichnen, sind poetologischem Vokabular entnommen. Sie werden semantisch zusehends von einer Anstoßkraft hin auf das Konzept lebendiger Kräfte entwickelt: »pulchra mentis incitatio, inflammatioque, ὁρµή, ecstasis, furor, ἐνθουσιασµός, πνεῦµα θεοῦ«. 289 Das Inbewegungsetzen (incitatio) wird hier zunächst mit der poetologischen Metapher des Inbrandsetzens (inflammatio) verbunden, während die folgenden Begriffe sich hierzu explikativ verhalten, um dann vor allem graduelle Steigerungen zu bezeichnen. 290 Selbst die göttliche Inspiration (πνεῦµα θεοῦ) stellt demzufolge einen besonderen Grad poetischer Wallung 291 dar. Je lebendiger eine Kraft ist, je mehr sie sich also aus den sinnlichen Ideen speist, desto stärker wirkt sie. Die göttliche Inspiration steht nicht am Beginn, sondern am Ende einer Verkettung seelischer Bewegungen. Wie weit ist also die Bewegung der Seele, wenn wir ihre Funktion als impetus im Auge behalten wollen, zu denken? Baumgarten kommt in dieser Frage in bester antiker Tradition auf Phoibos (Apollon) und die Musen zu sprechen. So verbindet er in § 82 Kräfte mit Nachahmung, wie wir es aus der Rhetorik bei Cicero und Quintilian, aber auch bei Horaz sahen: § 82 2) Occasio impetus ad venuste cogitandum est, status animae, in quo praevisio praesagiumque naturaliter faciliores sunt, M. § 602, ad eleganter cogitanda praesertim necessariae vires, ordinario maxime debiles, § 39, M. § 597, et mens sana in corpore sano, E. § 254, per venustum alterius ingenium ad imitationem inclinatur, §§ 56, 44. Hac ratione excitatus φοιβόληπτος est. Ita, circa criticas Baumgarten, Aesthetica, sect. V, § 78: »Schönes Inbewegung- und Inbrandsetzen des Geistes, Ansturm, Aufruhr, Raserei, Enthusiasmus, Hauch Gottes«. 290 Mirbach weist auf diese Implikation im Sinne von Stärkegraden hin. Zugleich sieht sie darin eine »epochemachende, positive Umwertung des Enthusiasmus-Begriffs« (Anm. zu Baumgarten, Aesthetica, § 78, 948). 291 Baumgartens durchweg bevorzugter Terminus hierfür lautet fervoris gradus; vgl. etwa Baumgarten, Aesthetica, sect. V, § 79. 289
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huius vitae vicissitudines, instante magna mutatione, plurimum habitura momenti; poscere fata Tempus erit. Deus, ecce, deus! § 80. 292
Eine hier vertretene These ist uns aus der antiken Rhetorik wohlbekannt: Kräfte sind nachahmbar, aber nur durch Aufbietung eigener geistiger Bewegung, durch das Hinneigen (clinari) zu einem anderen erhabenen Geist. Wo bei Cicero und Quintilian die göttliche Kraft indes aus der Rhetorik – im Gegensatz zur Poetik – ausgeschlossen wurde, kommt sie hier wieder zu ihrem Recht: Die aus der Hinneigung zu einem anderen Geist resultierende Ergriffenheit drückt sich im hac ratione excitatus φοιβόληπτος est aus. Der schöne Geist ist von Phoibos (Apollon) ergriffen. Im folgenden § 83 ist er dann von den Musen ergriffen, indem es ganz analog heißt: »Hac ratione concitatus µουσόληπτος καὶ µουσοπάτακτος est.« 293 Die intensivierenden Ausdrücke excitare und concitare lassen die klassische Bewegungslehre der Rhetorik aufscheinen; das zweifach verwendete, einmal auf Phoibos (Apollon), einmal auf die Musen selbst bezogene Suffix ληπτός stellt wiederum, als Verbaladjektiv zu λαµβάνειν, die Verbindung her zur λαβοῦσα-Tätigkeit der Einbildungskraft, die Baumgarten in § 28 der Meditationes aus der Suda zitiert hatte. Die Ergriffenheit erfährt hier indes, gegenüber der reinen Aufnahme ästhetischer Eindrücke in den Meditationes, eine nochmalige Steigerung durch das µουσόληπτος ergänzende Adjektiv µουσοπάτακτος. Das Suffix πάτακτος verweist auf eine Hingerissenheit und damit auch auf eine Entrückung von der Welt, die dem von den Musen ergriffenen Dichter zuzusprechen ist. 294 Die Kulmination erfolgt schließlich im VergilZitat (Aeneis, Buch 6, 45 f.), mit der größtmöglichen Art der Hinwendung, nämlich des direkten Anblicks der göttlichen Sphäre (Deus ecce deus!). Die Kräfte sind also in einem edlen Gemüt, in einem venustum ingenium angelegt; sie können weitergegeben und gesteigert werden und gipfeln schließlich in der Numinosität. Es tritt daher eine Umkehrung des klassischen Enthusiasmos-Begriffs ein: War in der Antike, wie wir in Kapitel ii.4.a anhand von Platons Ion beispielhaft Ebd., sect. V, § 82: »Eine günstige Gelegenheit des Anstoßes zum anmutigen Denken ist der Zustand der Seele, in welchem Voraussicht und Vorhersage natürlicherweise leichter sind, M. § 602; zum geschmackvollen Denken sind besonders Kräfte notwendig, die gewöhnlich äußerst schwach sind, § 39, M. § 597, und ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, E. § 254, neigt sich durch den anmutigen Geist eines anderen der Nachahmung zu, §§ 56, 44. Wenn er aus diesem Grund erregt wird, ist er von Phoibos ergriffen. Und so wird es bei schwierigen Wechselfällen dieses Lebens, wenn eine große Veränderung droht, die die höchste Bedeutung haben wird, an der Zeit sein, Weissagungen zu erbitten. Der Gott, siehe, der Gott!, § 80«. 293 Ebd., § 83: »Aus diesem Grund ist er von den Musen ergriffen und erschüttert«. 294 Vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »µουσοπάτακτος«, 1149: »smitten by the muses, ›moonstruck‹«. 292
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sehen konnten, der Ursprung des Enthusiasmos die göttliche Sphäre, die θεία δύναµις, und bestand der Endpunkt des Enthusiasmos in den Kraft-Reaktionen gleich einer magnetischen Kette, so ist es hier der Zustand der menschlichen Seelen, von wo aus die Kräfte sich entfalten, und der Anblick des Gottes das Ziel des enthusiastischen Strebens. Das innere Prinzip der Monaden, das im Einschluss von Seele und Körper besteht, 295 fungiert – wie auch schon weiter oben an der Anführung der pro positu corporis-Formel im Kontext der Lukrezund Plinius-Rezeption gesehen – als die Bestimmung des Subjekts in der Welt. Von dort, wo das Subjekt sich befindet, geht auch die Kraft seines Vermögens aus. Wo in Platons Ion die Kraftübertragungen zugleich als metonymische Übertragung und Aneignung einer numinosen Urkraft gelten konnten, ist es hier eine Neigung zur Nachahmung, die zur weiteren Ausbreitung führt. Der Anblick Gottes steht dann auch am Ende einer solchen Kraftentfaltung. Baumgarten kombiniert somit das von Cicero und Quintilian her bekannte Prinzip der Nachahmbarkeit rednerischer Kräfte mit der Göttlichkeit einer zur vollen Entfaltung gebrachten dichterischen Kraft. Wo Nachahmung entstehen kann, sind indes nicht nur Kräfte erforderlich, sondern auch die Möglichkeit eines Vergleichs. Denn Nachahmen heißt, seine Kräfte zu verwenden, um etwas Ungleiches zu etwas Gleichem zu machen, das Schwächere dem Stärkeren anzugleichen. Zu diesem Zweck führt Baumgarten die natürliche Kräftemessung (dynamometria naturalis) in den Bereich der Poetik ein. Was er damit meint, beschreibt er in § 457, der von der ästhetischen Falschheit (falsitas aesthetica) handelt: § 457 Est ingeniis excitatioribus quaedam Dynamometria naturalis, et mensura virium ad sensum, quem aiunt, communem relata, rationis analogon ingenio proportionem inter caussam et effectum sensitivo ponderans. Sit itaque effectus a te viribus caussae, quibus adscribitur, vivis maior vel minor, hinc naturaliter impossibilis, sed ita, ut nec descriptae nunc virium notitiae mathematicae, nec rationi iam intellectuique per summam evidentiam patescat dicta disproportio, et censorem aestheticum sine nota turpidinis eiusmodi naturaliter impossibile praetervehetur, velut Atlas olim, qui caelum tulerat. 296 Die von Baumgarten hierzu bemühte, prominente Sentenz mens sana in corpore sano nimmt Bezug auf Juvenals Satire 10, 356. Die Übertragung und Umformung des Zusammenhangs ist bemerkenswert: Wo Juvenal regelrecht davor warnt, in die göttlichen Entscheider allzu viel Hoffnung zu setzen und dafür plädiert, sich mit seinen Bitten selbst zu beschränken (vgl. Iuv., 10, 346–366), geht es Baumgarten gerade um die unbedingte Hinwendung zu den Göttern, um die eigenen Ziele zu verwirklichen. Dies ist indes nicht zu verwechseln mit einer reinen Bittstellerhaltung: Der Weg dorthin ist nämlich ein Weg, der nur über die Kraftanstrengungen der eigenen Seele funktioniert. 296 Baumgarten, Aesthetica, sect. XXVIII , § 457: »§ 457 Bei aufgeweckteren Begabungen gibt es eine gewisse N ATÜRLICHE K RÄFTEMESSUNG und ein Maß der Kräfte hinsichtlich desjenigen, was 295
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In diesem Paragraphen ist viel vom Abwägen, von Ebenmaß und Unebenmaß die Rede. Das Abwägen soll laut Baumgarten im Abwägen von Wirkung (effectus) und Ursache (caussa) bestehen, womit die mechanistisch-mathematische Tätigkeit schlechthin benannt ist. Der theoretische Raum zwischen beiden Größen wird von den Kräften bestimmt, und zwar von lebendigen Kräften. 297 Wenn nun, wie hier, angenommen wird, dass natürlicherweise keine Wirkkräfte größer oder kleiner werden als ihre ursächlichen Kräfte, so ist es der leibnizsche Energieerhaltungssatz, der im Hintergrund dafür Pate steht. Denn ihm zufolge geht ja auch in den vielfältigsten Bewegungen, die sich im Universum vollziehen, keine Energie verloren. Und so erklärt sich auch die Wahl Atlas' (velut Atlas olim) als der mythischen Größe, die an dieser Stelle den Gewährsmann liefert: Es gibt kaum eine Figur aus der antiken Mythologie, die im Wortsinn mehr mit der Erhaltung von Energie beschäftigt gewesen wäre als er. Wenn das Abwägen ästhetischer Kräfte zur Rede steht, muss selbstverständlich auch das Ausreizen der Fähigkeiten der Einbildungskraft mit behandelt werden. Häufig nämlich sind es Inkonzinnitäten, mit denen die Phantasie umgehen muss und an denen sich eine gewisse Überforderung einstellen kann. Bereits Horaz wies ja auf den so wichtigen Anspruch hin, der an die Vereinbarkeit der Teile gerichtet wird. Baumgarten bemüht hierzu nun zwei loci classici aus dem Bereich der epischen Dichtung, die berühmten Schildbeschreibungen bei Homer und bei Vergil: Difficile erit dynamometriae naturali, de qua § 457, non Homeri solum, sed et Virgilii clipeum animo sibi formare, etiamsi meminerit dei artificis. 1) Quomodo in definito humanam per staturam, licet heroicam, clipeo tot picturae, v. 626–729, locum habuerint, tantum quaelibet, ut humanis oculis discerni potuerint, et inter alia 2) quomodo per eandem picturam Cleopatra
man den Gemeinsinn nennt – ein Analogon zur Vernunft, das mittels seiner sinnlichen Anlage das Ebenmaß zwischen Ursache und Wirkung abwägt. Es sei also eine von dir beabsichtigte Wirkung entweder größer oder kleiner als die lebendigen Kräfte der Ursache, denen sie zugeschrieben wird, sie sei daher natürlicherweise unmöglich, aber so, dass das erwähnte Unebenmaß weder der soeben beschriebenen mathematischen Kenntnis der Kräfte noch auch der Vernunft und dem Verstand offenkundig ist; ein solches auf natürliche Weise Unmögliches wird ohne ein Merkmal der Hässlichkeit an einem ästhetischen Richter vorübergehen, wie einst Atlas, der den Himmel getragen hatte«. 297 Die Fähigkeit, dieses Zwischenmaß zu ermitteln, wird hier als sensus communis angeführt, womit sich Baumgarten lose auf die im 18. Jahrhundert florierende Philosophie des common sense bezieht. Dieser vor allem im britischen Raum entstehenden Philosophie nach ist den Menschen ein Sinn für das Gemeine, eine Art ›Gesunder Menschenverstand‹ eingegeben, an dem auch moralische Sätze ausrichtbar seien; vgl. umfassend hierzu Albersmeyer-Bingen (1986).
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Regina in mediis patrio vocat agmina sistro, navibus Augusto hostis obviam vecta, et tamen Illam inter caedes pallentem morte futura Fecerat ignipotens undis et Iapyge ferri? Si dicas ipsam cum omni orientis exercitu fuisse bis pictam, non sine subtili et artificiosa quadam intercapedine. 1) signum pugnae dantem, 2) fugientem, augetur difficultas prima. 298
Es geht hier um das Imaginieren eines Gegenstandes von immerhin göttlichem Ursprung. Die Pointe, die Baumgarten anführt, betrifft die Fiktionstheorie im elementaren Sinn: Die Einbildungskraft hat Schwierigkeiten, sich einen Schild vorzustellen, bestenfalls hat nur ein Schild, derjenige Homers oder derjenige Vergils, Platz in ihrem Vermögen. Mit Cleopatra wird hierzu ein Beispiel aufgerufen, das historischen wie poetischen Zuschnitts ist; 299 sie wird von Vergil in verschiedenen Handlungssituationen vorgeführt, die von der Einbildungskraft nicht leicht in eins zu denken sind: Entweder stellt sich die Einbildungskraft ein Bild vor, wie sich Cleopatra in der Schlacht befindet oder wie sie sich auf dem Schiff befindet. Oder die Einbildungskraft versucht, diese Bilder in eins zu bringen. Zudem ist zu beachten, dass Cleopatra in beiden Situationen nicht nur äußerlich verschieden – auf dem Schlachtfeld etwa fahl (pallentem) – erscheint, sondern natürlich auch in anderen Handlungen gegeben ist. Es geht daher um Katachresen, und zwar um Katachresen auf piktoraler Ebene, auf Handlungsebene und in der Kreuzung beider Ebenen. Diese Kreuzung betrifft nun den Bereich der Kombinatorik, wie wir ihn in der mathematischen Baumgarten, Aesthetica, sect. XXVIII, § 459: »Schwierig wird es für die natürliche Kräftemessung sein, von der in § 457 [sc. die Rede war], sich nicht nur den Schild des Homer, sondern auch denjenigen des Vergil für sich im Geiste zu bilden, auch wenn sie sich erinnern sollte, dass dessen Schöpfer ein Gott war. 1) Wie werden auf einem für die menschliche Gestalt, sei es auch die Gestalt eines Helden, vorgesehenen Schild so viele Bilder Platz gefunden haben, und jedes von ihnen in dem Maße, dass sie mit den menschlichen Augen zu unterscheiden sein könnten? Und unter anderem: 2) Wie ruft in ein und demselben Bild Kleopatra inmitten der Schlacht als Königin das Heer mit dem väterlichen Sistrum, nachdem sie mit ihren Schiffen dem Augustus feindlich entgegengefahren ist, während doch mitten im Abschlachten und fahl werdend vor dem nahenden Tod, der Feuermächtige [sc. Vulcanus] jene gebildet hatte, wie Winde und Wellen sie trugen? Wenn du sagen solltest, sie sei zusammen mit dem ganzen Heer des Morgenlandes zweimal abgebildet worden, nicht ohne feinsinnige, kunstreiche Unterbrechung, nämlich 1) als sie das Zeichen zum Kampf gibt und 2) als sie flieht, wird die erstgenannte Schwierigkeit noch erhöht«. 299 Die von Baumgarten aufgerufenen Szenen entstammen der Schildbeschreibung (vgl. Verg., Aen., 8, 626–729). Cleopatra selbst wird dort als Aegyptia coniunx (ebd., 8, 688) des Marcus Antonius periphrastisch eingeführt. Die beiden unterschiedlichen Situationen, die Baumgarten zitiert, finden sich ebd., 8, 696 und ebd., 8, 709 f. 298
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Psychologie sehen konnten, wie auch den Bereich der seelischen Kräfte. Es kreuzen sich Raum (Aufenthaltsort Cleopatras) und Zeit (Handlungssequenzen zwischen Schiff und Schlacht). Namentlich kreuzen sie sich im Bereich der Einbildungskraft, deren Kräfte durch den Bildbruch wiederum herausgefordert werden. Das analogon rationis nimmt bei Baumgarten somit eine hochgradig vermittelnde Funktion ein. Es verpflichtet sich nicht so sehr der Erkenntnis im Sinne eines Übergangs vom Unwissen zum Wissen, sondern in einer Einschätzung des Maßes der unteren und mittleren Seelenkräfte. Wo Leibniz' vis activa, wie in Kapitel iii.3.a gesehen, eine vermittelnde Stellung zwischen Vermögen und Tätigkeit einnahm, wird hier die lebendige Kraft zur Bestimmung der Ästhetik fortentwickelt, indem sie sich an den sinnlichen Seelenkräften – dem sensus, der imaginatio und nicht zuletzt dem fundus animae – orientiert. Da Baumgarten, wie bereits an vielen Stellen gesehen, diese Philosophie vollständig an antiken Autoren demonstriert und die Rekurrenz auf die Antike teils so weit intensiviert wird, bis der Traktat fast in einem einzigen Dialog antiker Stimmen aufzugehen scheint, 300 wird deren Funktionsweisen im Folgenden eine noch weitergehende Betrachtung zukommen.
5.c. Die Funktionsweisen antiker Autoren in Baumgartens Aesthetica
Die hohe Rekurrenz auf antike Autoren in Baumgartens Aesthetica wird von der Forschung nicht immer mit derselben Aufmerksamkeit bedacht; Schneider etwa bezeichnet sie recht lapidar als »Belegmaterial«. 301 Es geht bei Baumgartens Behandlung der Antike allerdings nicht um die Ausschöpfung eines zur Verfügung stehenden Reservoirs an Stoffen, dessen hauptsächlicher Zweck dem argumentativen Beleg dienen sollte. Das direkte Zitieren zahlreicher antiker Autoren ist nicht Ausweis eines Zitatenschatzes, der sich auf Referenzfunktionen beschränken würde; auch geht es keinesfalls nur um die Mustergültigkeit oder die Vorbildfunktionen, die den antiken Autoren zuzuweisen wären; vielmehr stehen, wie wir bereits in den vorherigen Teilkapiteln sehen konnten, spezifische Funktionen im Vordergrund, die sich auf die Legitimation, die Kontextualisierung oder die Transformation ästhetischer Theoreme richten. Besonders häufig wird von Baumgarten – wie bereits gesehen – auf klassische römische Autoren wie Horaz, Vergil und Ovid zurückgegriffen, es treten aber auch weniger kanonisierte Autoren wie Martial oder Juvenal hinzu. Wie wir 300 301
Vgl. etwa Baumgarten, Aesthetica, sect. V, § 86–§ 90. Schneider (52010), 21.
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bereits an den Zitaten aus Ovid und Vergil sehen konnten, geht es darum, Begründungsmomente für die Herstellung ästhetischer Kunstwerke im Allgemeinen zu schöpfen. Hierbei sind drei Bereiche besonders augenfällig, auf deren Verbindung zu antiken Autoren einzugehen ist: die Affekte (affectu¯ s), die Stoffe (materiae) und die ästhetische Größe (magnitudo aesthetica). Gerade im Bereich der Affektenlehre zeigt sich die Aesthetica inspiriert von der im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Verehrung für Horaz. 302 Baumgarten geht in diesem Zusammenhang vor allem auf die Kräfteverhältnisse zwischen den rationalen und irrationalen Seelenvermögen ein. Dabei wird Horaz immer wieder mit dem ästhetischen Ansturm, den wir als impetus aestheticus beziehungsweise als ὁρµή kennengelernt hatten, in argumentative Zusammenhänge gebracht: § 79 In minoribus huius fervoris gradibus, effectus vi mentis ordinaria maior, ut talis, non patet omnibus, si vere tamen adsuerit ὁρµή, eveniet tentanti, dum friget, Ut sibi quivis Speret idem, sudet multum frustraque laboret ausus idem, Hor. Character eius apud ipsum iustum sui aestimatorem, eo non nunquam corripiendum, erit 1) si e. g. scripta sua, dum scribit, et immendiate post conceptionem ipsi minus placeant, ac post aliquid temporis heterogeneis occupationibus insumpti: 2) ipsa maior celeritas, character etiam virium vivarum in physicis. 303
Das von Baumgarten angeführte Zitat stammt aus der Ars poetica (240–242). Es steht dort in einem Kontext mit der Frage nach der Originalität der dichterischen Schöpfungskraft. 304 Baumgarten nimmt den Grad an Hitze (fervoris 302 Für einen Literaturüberblick über die Horaz-Rezeption vgl. die Bibliographie bei Harrison (1995), 16 sowie den jüngeren Lexikonartikel von Baldo (2010). Auf die gattungspoetischen Implikationen der Horaz-Rezeption wird in Kapitel v.4 noch genauer eingegangen werden. 303 Baumgarten, Aesthetica, sect. V , § 79: »§ 79 Bei den niedrigeren Graden dieser Hitze steht ihre Wirkung, die größer ist als die gewöhnliche Kraft des Geistes, als solche nicht allen zur Verfügung; wenn jedoch das Strebevermögen wahrhaftig zugegen gewesen ist, wird demjenigen, der sie [sc. die Hitze] wieder anfachen will, während sie erkaltet, dies geschehen, dass jeder, / der dasselbe erhofft, viel Schweiß lässt und sich vergeblich abmüht, / sofern er gleiches wagt, Hor. Deren [sc. der Hitze] Merkmal wird bei dem sein, der sich selbst gebührend einschätzt und der von dieser [sc. Hitze] bisweilen ergriffen werden muss: 1) Wenn ihm beispielsweise seine Schriften, während er sie schreibt und ihm unmittelbar nach ihrer Abfassung weniger gefallen als nach einer gewissen Zeit, die er von andersartigen Beschäftigungen vereinnahmt war. 2) die größere Geschwindigkeit selbst, ebenfalls ein Merkmal der lebendigen Kräfte in den physischen Dingen.« (Kursivierung der Originalpassagen hier und im Folgenden, sofern sie bei Baumgarten eingebettet sind: D. B.). 304 Vgl. Hor., ars, 240–243: »ex noto fictum carmen sequar, ut sibi quivis / speret idem: sudet
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gradus) im Vergleich mit der Kraft des Geistes (vis mentis) und diskutiert, ob diese Hitze beliebig neu zu entfachen sei. Durch das Horaz-Zitat wird somit nichts ›belegt‹, sondern überhaupt erst der Gedanke entfaltet, dass ein ästhetischer Ansturm im Dichter vorherrscht, der spontan und willkürlich agiert und nicht planvoll initiiert werden kann. Um dies zu illustrieren, tritt mit Tibull ein weiterer römischer Autor, zudem ein Zeitgenosse Horaz', hinzu. Die lyrischen Einlassungen Horaz' zum bacchantischen Urgrund der Begeisterung werden von Baumgarten in einem regelrechten Zusammenschluss mit einer elegischen Passage von Tibull vorgeführt: § 86 6) Fontanae eiusmodi praeferent vinum, § 85, cum Horatio iudicantes Nulla placere diu neque vivere carmina posse, quae scribuntur aquae potoribus. Ille liquor docuit voces inflectere cantu, § 83, movit et ad certos nescia membra modos, § 81, Bacchus et agricolae magno confecta labore pectora tristitiae dissolvenda dedit, §§ 84, 52. Bacchus et afflictis requiem mortalibus affert, crura licet dura compede pulsa sonent, § 85, Tib. 305
Der metrische Bruch vom stichischen Hexameter zum elegischen Distichon bedeutet zugleich den Umschwung von einem Autor zum anderen. Die Zitate entsprechen Hor., epist., 1, 19, 2 f. 306 sowie Tib., 1, 7, 37–42. 307 Im Gegensatz zu multum frustraque laboret / ausus idem tantum series iuncturaque pollet, / tantum de medio sumptis accedit honoris.« (»Ich werde nach einem aus dem Bekannten [sc. neu] ersonnenen Gedicht streben / so dass derjenige, der für sich dasselbe erhofft, viel schwitzt und sich vergeblich daran abmüht, / sofern er Gleiches wagt; so viel Kraft hat die Reihung und Verbindung / so viel an Würde gewinnen die Dinge, die man mitten aus dem Leben nimmt.«). 305 Baumgarten, Aesthetica, sect. V , § 86: »Als eine Quelle solcher Art werden diejenigen den Wein bevorzugen, die mit Horaz urteilen, dass keine Lieder lange Gefallen erregen und leben können, / die von Wassertrinkern geschrieben werden. Jener Trank hat gelehrt, durch Gesang die Worte zu beugen, / er bewegte auch die unwissenden Glieder zu bestimmten Takten, / Bacchus schenkte es auch dem Bauern, der von schwerer Arbeit erschöpft war, / die Herzen der Trübsal aufzulösen /Bacchus bringt zudem den betrübten Sterblichen Ruhe, / mögen auch die Schenkel klirren, wenn die Fußfessel hart anschlägt«. 306 Hierbei handelt es sich um den Anfangsteil eines berühmten, an Maecenas adressierten Briefs. Dort wird von Homer über Dionysos bis hin zu den Musen und »Vater Ennius« (Hor., epist., 1, 19, 7: »Ennius [. . . ] pater«) ein weites Feld an Gewährsmännern und -frauen aus griechischer und römischer Vergangenheit sowie aus menschlicher und göttlicher Sphäre ausgebreitet. Sie alle seien das Gegenteil jener Wassertrinker, die für die Dichtkunst nicht in Frage kämen. 307 In der siebten Elegie des ersten Buchs geht es vorwiegend um den Triumphzug des Messalla nach einem erfolgreichen Feldzug, der in Form einer regelrechten Orientschau zur Darstellung kommt, welche von Kilikien über Syrien und Phönizien bis nach Ägypten reicht.
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§ 79 wird hier jedoch das Horaz-Zitat nicht mit dem Autorenkürzel (»Hor.«) markiert. Somit scheinen Horaz und Tibull inhaltlich mit einer Stimme zu sprechen. Diese Stimme ist eine bacchantische, zugleich auch oszillierende; sie drückt den Übergang von der Ruhe zur Bewegung (movit [. . . ] membra) und dann wieder von der Bewegung zur Ruhe (requiem affert) aus. Horaz bestimmt nach Baumgartens Rezeptionsart somit dasjenige allgemein (vivere carmina posse), was sich dann über Tibulls poetische Ausführungen weiter illustrieren lässt: Das Lebensprinzip (vivere) besteht im Bewegungsprinzip (movere), und das poetische Prinzip ist die Bewegtheit durch die Affekte. Dass Dichtkunst nicht ohne Affekte und Taumel auskommt, ist für Baumgarten unzweifelhaft, da es durch die antiken Autoren bereits vorgeführt wurde. Was zu den Affekten nun dazu tritt, sind die Stoffe. Sie bilden nach aristotelischer und ciceronischer Lehre den Kernbereich der Topik. Jeder Redegegenstand, sei er zu rhetorischen oder poetischen Zwecken verwendet, geht bekanntlich von einem Auffinden der Topoi, der εὕρησις / inventio aus. Die aristotelische Topik, die kaum im Verdacht stehen kann, selbst auf eine ars aesthetica abzuzielen, wird von Baumgarten neben der ciceronischen umstandslos als die hierfür geeignete Disziplin anerkannt: § 130 2) Topica s. Topologia, quae definitur ars s. disciplina inveniendorum argumentorum, § 26, Cic. Top. 2. Eandem inveniendi artem Cicero salutans, 1.c. 6, & Aristoteles etiam multis tradens, sua velut auctoritate stabiliverunt. [. . . ] Hanc sibi collendam sumpsit Aristoteles, ita tamen, ut multa eo facientia non analyticis solum, sed & aestheticis commode possint topicis, § 130. 308
Es ist somit keine grundsätzlich neue Topik, die Baumgarten vorschwebt, sondern eine Aneignung der klassischen Antike unter den neuen Vorzeichen einer ästhetischen Disziplin. Wie verhalten sich nun stoffliche Fülle und die Bewegungen, die den menschlichen Geist im ästhetischen Zustand zu durchdringen haben, zueinander? Baumgarten bemüht zur Klärung solcher Fragen auffallend häufig Horaz und Vergil. Mit einzubeziehen ist hierfür der Ausdruck des Stoffreichtums (ubertas materiae), der in der Aesthetica besonders ausführlich als ästhetischer Reichtum (ubertas aesthetica) vorgestellt wird. Um den Reichtum Baumgarten, Aesthetica, sect. X, § 130 f.: »§ 130 2) Die TOPIK oder TOPOLOGIE, die als Kunst beziehungsweise Wissenschaft vom Auffinden der Argumente bestimmt wird, § 26, Cic. Top. 2. Indem Cicero ihr ebendiesen Titel der Kunst des Findens gegeben hat, 1.c.6, und Aristoteles sie ebenso überliefert hat, machten beide sie geradezu mit ihrer Autorität unerschütterlich. [. . . ] Diesen [sc. dialektischen Teil der Topik] zu pflegen, nahm sich Aristoteles zur Aufgabe, gleichwohl so, dass viele Dinge, die daselbst nützen, nicht nur an die analytische, sondern auch an die ästhetische Topik umstandslos angelegt werden könnten«. 308
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als auf den Menschen und die Welt gleichermaßen beziehbare Größe auszuführen, wird er als objektiver und als subjektiver Reichtum aufgefasst. Hier ist Horaz der wichtigste von Baumgarten bemühte Bezugspunkt: § 118 Ubertas aesthetica, porro est vel obiectiva (rerum, materialis), quatenus in obiectis et cogitandis ipsis est praecipua ratio, cur per humani vires ingenii possint ubertim pingi, vel subiectiva (ingenii et personae), possibilitas physica et potentia certi hominis, etiam secundum quid, et hypothetice talis certam rem ubertim repraesentandi. Sunt obiecta, velut ultro suas divitias offerentia. Vix in mentem incidunt, adparetque beata pleno Copia cornu, Hor. Tunc modo capacitatis habueris, quantum satis est, non aliis solum, sed et tibi copia Manabit ad plenum benigno Ruris honorum opulenta cornu, Hor. 309
Das erste Zitat stammt aus dem Carmen saeculare (Hor., carm. saec., 59 f.). Dort geht es um die Fülle der Treue (Fides), des Friedens (Pax), der Ehre (Honos), der Scham (Pudor) 310 und der Tugend (Virtus). 311 Klassische antike Gottheiten, die zur Zeit des Carmen saeculare mit jeweils eigenen Tempeln in Rom vertreten waren, 312 illustrieren bereits für sich eine gewisse Fülle, die bis zum Überfluss reichen kann. Es handelt sich um Verkörperungen von Werten, die in einem Baumgarten, Aesthetica, sect. VIII, § 118: »§ 118 Der Ä STHETISCHE R EICHTUM ist ferner entweder OBJEKTIV ([sc. als Reichtum] der Dinge, als stofflicher), sofern in den Gegenständen oder in den zu denkenden Dingen selbst der vorwiegende Grund dafür liegt, warum sie [sc. die Gegenstände] durch die Kräfte des menschlichen Vermögens reichhaltig gemalt werden können, oder [sc. er ist] SUBJEKTIV ([als Reichtum] des Vermögens und der Person), die natürliche Möglichkeit und das Vermögen eines bestimmten Menschen, auch mit gewisser Einschränkung, von einer solchen Art, eine bestimmte Sache auf hypothetische Weise reichhaltig darstellen zu können. Es gibt Gegenstände, die geradezu von sich aus ihren Reichtum darbieten. Kaum kommen sie einem in den Sinn, erscheint auch ihre verheißungsvolle Fülle in einem vollen Horn., Hor. Dann wird, so man bloß genügend Fassungsvermögen hat, nicht nur anderen, sondern auch dir Fülle / zuströmen im Überfluss, / mit an ländlichen Gaben reich gesegnetem Horn, Hor.«. 310 Im Sinne einer gottesfürchtigen Haltung; vgl. Georges (81998), s. v. »pudor«, 2066: »das Gefühl für Recht und Gesetz, die Ehrenhaftigkeit, Gewissenhaftigkeit«. 311 Vgl. Hor., carm. saec., 57–60.: »iam Fides et Pax et Honos Pudorque / priscus et neglecta redire Virtus / audet adparetque beata pleno / Copia cornu« (»Schon wagen es Treue und Friede und Ehre und einstmalige Scham / sowie die vernachlässigte Tugend wieder zurückzukehren, und es tritt glückspendend / der Reichtum mit vollem Füllhorn in Erscheinung«). 312 Ein Topos, der auch gerne von empfindsamen Dichtern aufgenommen und auf Dichterpersönlichkeiten und die Dichtkunst selbst übertragen wurde; vgl. Pyras episch-didaktisches Gedicht Tempel der Dichtkunst (1744) oder Klopstocks Ode An des Dichters Freunde (1747). 309
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regelrechten Götterreigen aufgehen. 313 Der Reichtum (Copia) selbst mag zu den weniger prominenten Gottheiten zählen, er wird aber angeschlossen und mit seinem Füllhorn herangezogen. Hat Baumgarten also hier eine Art von Faible für altrömische Gottheiten geweckt? Mitnichten, vielmehr fügen sich die Zitate in einen Gedankengang des ganzen Paragraphen, der bemerkenswert ist: Baumgarten führt den ästhetischen Reichtum zunächst anhand der Kräfte und Vermögen (humani vires ingenii [. . . ] potentia certi hominis) ein und kommt hierbei auf das räumliche Fassungsvermögen (capacitas), auf ein quantitatives Argument (quantum satis est) zu sprechen. Es handelt sich bei der capacitas um den inneren Seelenraum, eine Größe, die zu dem subjektiven Reichtum zu zählen ist und mit dem natürlichen Vermögen (ingenium) eng verknüpft wird. Der innere Reichtum wird somit zur Voraussetzung für den Reichtum der noch hervorzubringenden Gegenstände. Die poetischen Gegenstände selbst werden in ihrem bildlich-malerischen Zuschnitt aufgefasst (ubertim pingi) und zeigen sich hierdurch ein weiteres Mal von Horaz, namentlich dem ut pictura poesisParadigma aus der Ars poetica, inspiriert – wie wir noch sehen werden, nicht zum letzten Mal. Bei der Behandlung des ästhetischen Reichtums tritt mit Vergil der epische Dichter der römischen Antike schlechthin an die Seite von Horaz. Er wird indes nicht einfach als großartiges Beispiel für die erhabene Denkungsart bemüht, sondern in ein intertextuelles Spiel mit Juvenal und Catull eingebunden: § 141 Si praeliminaribus eiusmodi, secundum artem quamcunque topicam, §§ 130–140, institutis collectionibus occupatum corripuerit ille mentis impetus ac incitatio, de quibus S. v, iam tibi satis superque profuisse velitationes iudicans, reice, quicquid est ubique locorum, § 132, pendeant opera topicorum interrupta, tuque in eventum festinans et in medias res non secus, ac notas, raptus, aggredere totum, pone caput, informa partes principes futuri operis, vocant quia carbasa venti Totos pande sinus, ne, dum tuam pertexis telam topicam inglorius, nec Zephyros audis spirare secundos, rem maximam cunctando perdas, et occasionem amittas, loco praeparatoriorum, egregie conficiendi partem operis ipsius gravissimam, § 95, qua si gnaviter esses usus opportunitate, So ist das von Horaz herangezogene redire (Hor., carm. saec., 58) in zweierlei Hinsicht aufzufassen: All die altrömischen Tugenden kehren zurück, als Gottheiten in ihre Tempel, aber auch in die Menschen selbst. 313
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utrumque Iuppiter Simul secundus incidisset in pedem, Cat. 314
Der Ansturm und Antrieb des Geistes (mentis impetus ac incitatio) zeigt die Abwendung von den Stoffen und die Hinwendung zu den Einfällen. Was in der Moderne häufig als ›Geistesblitz‹ bezeichnet wird, bedeutet hier zunächst ex negativo ein Abwenden von den Stoffen – von den Topoi überhaupt, die gegenüber dem Ansturm des Geistes nur noch als Geplänkel (velitationes) erscheinen können. Man wird zu einem Mittelpunkt hin fortgerissen (in medias res [. . . ] raptus). Wichtig ist in Baumgartens Lesart aber, dass die Topoi in letzter Instanz auch davon zu profitieren wissen, denn die Hauptteile des Werks – auf die sich ja die neue Aufmerksamkeit des Ästhetikers wieder richten soll – entscheiden über deren Anordnung. Die Bildebene besteht in dem Hören von Winden, die man beachten müsse, um im rechten Augenblick die Segel öffnen zu können. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der technische Einsatz der antiken Zitate: Die Anlehnung an Vergils Aeneis (vocant quia carbasa venti) 315 wird fortgeführt mit einem direkten Zitat aus Juvenals Satire 1, 150 (Totos pande sinus). Dies bedeutet nicht nur einen Bruch mit dem Stoff, sondern auch mit der Stilhöhe – vom genus grande (Versepos) geht es gleichsam hinab zum pikaresken Blickwinkel der Satire, um dann mit nec Zephyros audis spirare secundos (Verg., Aen., 4, 562) wieder zum Epos zurückzukehren. Die Passage beschließt diesen Gang durch einzelne Autoren und deren Gattungen mit einem Vertreter der neoterischen Dichtung, Catull (carmen 4, 20 f.), der seine Gedichte selbst programmatisch als Tändeleien (nugae) 316 inszeniert und damit einem genus von (vermeintlich) niederem Zuschnitt zurechnet. Es ist somit nicht nur die schiere Spannweite, sondern eine generische Bewegung zunächst von oben nach unten, dann von unten nach oben und schließlich wieder nach unten, die 314 Baumgarten, Aesthetica, sect. X , § 141: »Wenn, während du mit derartigen, nach einer beliebigen Kunst der Topik, §§ 130–140, unternommenen Sammlungen beschäftigt bist, jener Ansturm und Antrieb des Geistes, von der in S[ektion] V [sc. die Rede war], dich ergreift, dann verwerfe, sobald du befindest, dass dir die Geplänkel schon überaus genug Nutzen gebracht haben, was auch immer es an Topoi wo auch immer geben mag, § 132; dann sollen die Arbeiten an der Topik unterbrochen liegenbleiben, du aber nimm – indem du dich zur Vollendung beeilst und mitten in die Dinge, nicht anders als wenn sie dir bereits bekannt wären, fortgerissen wirst, die Hauptsache in Angriff, bilde die hauptsächlichen Teile des künftigen Werks, denn weil die Winde die Segel rufen, öffne gänzlich ihren Bausch, damit du nicht, während du dein stoffliches Ziel unrühmlich zu Ende webst, selbst nicht hörst, dass die Zephyre günstig wehen, und damit die Hauptsache durch Zögern zunichtemachst und die Gelegenheit verlierst, anstelle der Vorbereitungen den bedeutendsten Teil des Werkes selbst auf rühmliche Weise auszuführen, § 95, wo doch, wenn du dich eifrig der Gelegenheit bedient hättest, Jupiter / [sc. dir] gewogen zur Stelle gewesen wäre Cat.«. 315 Vgl. Verg., Aen., 4, 417: »vocat iam carbasus auras«. 316 Vgl. Catull., 1, 4.
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hier vollführt wird. Im Rahmen der baumgartenschen Ästhetik kann gelten: Im Wandeln durch die antiken Gattungen verwirklicht sich das Wandeln durch die menschlichen Seelenregionen. Und diese Bewegung verwirklicht sich – wie der ästhetische Reichtum zeigt – immer wieder durch Kraft. Kommen wir an diesem Punkt zur Behandlung der ästhetischen Größe (magnitudo aesthetica), wie sie vor allem in Sectio xv behandelt wird. Zwar scheint sie sich, eben als magnitudo, auf quantitative, mithin stoffliche Größen zu beziehen; sie ist aber tatsächlich kein bloßes stoffliches Kriterium, sondern eines, das auf das Erhabene (sublime) rekurriert. Wenig überraschend mutet an, dass (Ps.-)Longin bemüht wird, und zwar in einer eigenen lateinischen Übersetzung Baumgartens: § 177 Secunda cura sit in rebus venuste cogitandis, § 115, Magnitudo, M. § 515, sed Aesthetica, quo nomine 1) pondus obiectorum, § 18, et gravitatem, M. § 166, 2) proportionatarum obiectis cogitationum, 3) cum foecunditate utrorumque, M. § 166, complectamur, § 22. Illud vere magnum, quod subinde cogitandum considerandumque nobis occurrit (οὗ πολλὴ ἡ ἀναθεώρησις) quod vix, ac ne vix quidem, animo excidere potest, sed constanti, firma, et indelebili memoria retinetur, Longinus, S. vi. 317
Die Kraft des Erhabenen erweist sich demzufolge ganz besonders in der inneren Beständigkeit (constanti, firma, et indelebili memoria). Mit dem Gedächtnis ist es ein mittleres Seelenvermögen, das hierzu – wie wir in Kapitel ii.4.b sahen, auch bereits von (Ps.-)Longin – bemüht wird. Es ist die Ebene der Seelenvermögen, die Baumgarten an (Ps.-)Longin zuvorderst interessiert. Aber auch Martial und Persius spielen hierzu eine gewichtige Rolle. So zitiert Baumgarten Martials Epigramm 9, 50, 1–4, um zu zeigen, dass die ästhetische Größe nicht im schieren Umfang der poetischen Werke bestehen könne, dass sie ferner nicht ohne Weiteres auf das ingenium des Verfassers übertragen werden könne. Baumgarten ergänzt hierzu den ersten Vers um einen Querverweise auf den obigen Paragraphen 177 seiner eigenen Aesthetica, erzeugt also eine Textur aus antikem Zitat und eigenen theoretischen Ansichten:
317 Baumgarten, Aesthetica, sect. XV , § 177: »§ 177 Die zweite Besorgnis im anmutigen Denken der Sachen soll die G RÖSSE sein, M. § 515, allerdings die Ä STHETISCHE, unter deren Namen wir 1) das Gewicht der Gegenstände und ihre Bedeutsamkeit, M. § 166, 2) das Gewicht und die Bedeutsamkeit der diesen beizumessenden Gedanken, 3) mit Fruchtbarkeit beider, M. § 166, zusammenfassen, § 22. Das ist wahrhaft groß, was uns als immer wieder zu Denkendes und zu Erwägendes in den Sinn kommt (hoû polle`¯ he¯ anatheo´¯ re¯ sis), was nur mit Mühe, ja nicht einmal mit Mühe aus dem Geist verbannt werden kann, sondern beständig, fest und unvergänglich im Gedächtnis bewahrt wird, Longin, S. VI.« (Kursivierungen in der Übersetzung: D. B.).
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Ingenium mihi, Gaure, probas sic esse pusillum, § 177, Carmina quod faciam, quae brevitate placent, Confiteor. Sed tu, bis denis grandia libris Qui scribis Priami proelia, magnus homo es. 318
Der Passus wird in Martials Epigramm als ironische Einlassung inszeniert; von der Größe der Form auf die Winzigkeit des Talents zu schließen, sei demzufolge ein Fehlschluss. Eine solche Ironie funktioniert aber nur dann, wenn ohnehin unterstellt wird, dass sich Dichter von geringerem Talent der großen Form bedienen müssten, um ihr eigenes Defizit gleichsam zu kaschieren. 319 Im als Querverweis angeführten Paragraphen 177 wiederum findet sich das oben bereits behandelte (Ps.-)Longin-Zitat. Baumgarten implementiert somit indirekt den wichtigsten antiken Autor zur Theorie des Erhabenen in eine der satirischsten antiken Äußerungen zur vermeintlichen Rückführbarkeit der Größe eines Werks auf die Erhabenheit des Gemüts seines Urhebers. Das Rezeptionsspiel besteht darin, (Ps.-)Longin vorwiegend als Beschreibungsinstanz der Seelenkräfte zu verstehen und diese in einen Kontext zu übertragen, in dem es um die (mangelnde) Größe der dichterischen Begabung (ingenium [. . . ] pusillum) und deren Verhältnis zur Größe der Werke (bis denis [. . . ] libris) und der in ihnen behandelten Stoffe (grandia [. . . ] proelia) geht. Eine zentrale Rolle der Antikenrezeption nimmt bei Baumgarten die Anverwandlung der horazischen ut pictura poesis-Formel ein. Dies vollzieht sich im vorliegende Fall anhand der Frage, ob man Kunstwerke ausbessern dürfe. 320 Sie wird von Baumgarten bejaht und durch Horaz beglaubigt: § 97 Quaedam pulcre cogitata non obligamur efferre prius, quam omnes iis, quas potuimus, gratias conciliavimus, curas posteriores admittentia. In his, quoniam omnis partialis pulcritudo, caeteris paribus, auget pulcritudinem totius, M. § 185, characterem felicis aesthetici coronat v) Correctionis Studium (limae labor et mora) s. habitus protensa attentione in pulcre informatum opus, quantum possis, minores, minutarum etiam eius partium, perfectiones augendi, tollendi imperfectiones, aliquantula phoenomena [sic], citra detrimentum totius, § 27. Pulcra cogitatio omnis erit, ut pictura. Baumgarten, Aesthetica, sect. XV, § 179: »Dass ich eine so winzige Begabung habe, Gaurus weist du nach, § 177; / dass ich Gedichte verfasse, die durch Kürze gefallen, / bekenne ich. Du jedoch, der du in 20 Büchern die bedeutenden / Kriege des Priamus beschreibst, bist ein großer Mann«. 319 Mit Blick auf die Editionsgeschichte stellt sich hier auch die Frage nach der Interpunktion. In der modernen Textausgabe von Lindsay wird Vers 3 f. als Frage aufgefasst. Baumgarten wiederum scheint die letzten beiden Verse des Epigramms bewusst wegzulassen und macht daher aus der (von Martial vertretenen) Frage eine Aussage. 320 Die Gegenposition würde lauten, sich ganz und gar auf den Genius zu verlassen, der alles aus sich selbst heraus in der endgültigen – und nicht mehr zu revidierenden – Gestalt hervorbrächte. 318
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Haec, § 96, amat obscurum, volet haec, § 97, sub luce videri, Iudicis argutum quae non formidat acumen, Haec, § 96, placuit semel, haec, § 97, deciens repetita placebit, Hor. 321
Das begriffliche Kernstück der ars aesthetica, das pulcre cogitare (hier: pulcra cogitatio), wird eng auf Horaz bezogen. Der aufgerufene Vergleich pulcra cogitatio [. . . ] ut pictura steht in Tradition des berühmten ut pictura poesis-Paradigmas (Hor., ars, 361). Das unmittelbar daran angeschlossene Zitat stammt ebenfalls aus der Ars poetica, und zwar aus dem nahen Umfeld (Hor., ars, 363–365), und wird von Baumgarten lediglich unterbrochen durch die Selbstverweise auf Paragraph 96 und den nämlichen Paragraphen 97 der Aesthetica. 322 War es bezüglich der Rhetorik noch die ciceronisch-quintilianische Rückstufung der Wahrheit, die auf das pulcre cogitandi bezogen wurde, 323 so ist es hier der horazische Topos aus der Ars poetica, der diese Funktion erfüllt. Baumgarten greift beides, den rhetorischen und den poetologischen Topos auf, überführt beides in das Paradigma des pulcre cogitandi und schreibt somit beides auf neue, ästhetologische Weise fort. Insgesamt erweist sich das Ineinandergreifen kanonischer und weniger kanonischer Autoren als funktional typisch für die Betrachtungen Baumgartens zur ästhetischen Größe; hierdurch wird nicht zuletzt vorgeführt, dass die magnitudo aesthetica facettenreich und auf verschiedene Stilhöhen applizierbar ist. Aber es bleibt nicht bei bloßen stilkritischen Einlassungen in den Überschneidungsbereichen von Dicht- und Redekunst. Wenn Baumgarten Autoren unterschiedlicher Gattungen und Stilhöhen zusammenführt, sind es nicht ausschließlich die schönen Künste, Poetik und Rhetorik, sondern vor allem unterschiedliche Seelenvermögen, die miteinander in Beziehung gesetzt werBaumgarten, Aesthetica, sect. VI, § 97: »§ 97 Wir sind nicht verpflichtet, gewisse schön gedachte Dinge, die nachträgliche Behandlungen zulassen, eher herauszugeben, als wir ihnen alle Anmutigkeiten, zu denen wir imstande sind, haben zukommen lassen. In diesen Fällen – da ja jede Schönheit in den Teilen unter ansonsten gleichen Umständen die Schönheit des Ganzen erhöht, M. § 185 – setzt dem Charakter des glücklichen Ästhetikers V) das S TREBEN N ACH A USBESSERUNG (die Mühe und der Zeitaufwand des Ausfeilens) die Krone auf, das heißt: die Haltung, mit anhaltender Aufmerksamkeit bei einem schön gestalteten Werk, so viel man kann, kleinere Vollkommenheiten, selbst der kleinsten Teile, zu erhöhen und die Unvollkommenheiten, kleinste Erscheinungen, ohne Schädigung des Ganzen zu entfernen, § 27. Jedes schöne Denken wird sein wie ein Bild. Dieses, § 96, liebt das Dunkel, dieses, § 97, will bei Licht besehen werden/und fürchtet nicht das scharfe Urteil des Richters; / dieses, § 96, hat einmal gefallen, doch dieses, § 97, wird auch nach zehnmaliger Betrachtung noch gefallen, Hor.«. 322 Der Anführung »§ 96« steht dabei stellvertretend für diejenigen Kunstwerke, die keine nachträgliche Behandlung erfahren haben, die Anführung »§ 97« – wie gesehen – für den gegenteiligen Fall. 323 Vgl. Kapitel IV .5.a der Studie. 321
Das Erbe der ästhetischen Kräfte
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den. Dies entspricht einerseits ganz der globalen Übertragungsleistung der ars aesthetica (von sinnlichen Erkenntnisvermögen hin zu poetologischen Aussagen); andererseits stellt es eine Rearretierung der ästhetischen Kräfte dar (von den Seelenkräften hin zu den konkreten Texten). Das Mittel der Wahl hierzu sind die antiken Autoren. Es wird jedoch nicht übermäßig auf deren Autorität gepocht, etwa dass sie besser ›informiert‹ über die Gegenstände gewesen wären, von denen die Ästhetik handelt. Auch wird nicht deren Dignität in der Ästhetik ausschließlich ausgestellt. 324 Die antiken Autoren haben vielmehr, wenn man Baumgarten Glauben schenken möchte, bereits eine Seelenkunde energetisch durchgeführt, indem sie ihre Dichtkunst mit poetologischen Aussagen durchwirkt haben und die Wirkkräfte der selbigen auf Ebene der Gattungen zu steuern wussten. Baumgartens Verfahren besteht darin, diese poetologischen Aussagen zu ›verinnerlichen‹, um das Verhältnis zwischen Seelenkräften und poetischen Werken im Sinne der Ästhetik neu zu thematisieren.
6. Das Erbe der ästhetischen Kräfte
Dass die ästhetischen Kräfte von der Analogisierung der unteren und oberen Seelenvermögen abhängen, wurde durch die Ausführungen zu Baumgartens Vorstellungen von Klarheit und Verworrenheit herausgestellt. Aus der Engführung der Sinne mit den Erkenntnisorganen resultieren indes nicht nur neue Arten von Seelenkräften, sondern auch ein engerer Zusammenschluss von Kraft und Vermögen, als er in der Antike noch angedacht war. Ausgehend von der mechanistischen Grundeinsicht, dass eine Kraft aus anderen Kräften zusammengesetzt sein kann sowie, je nach eingenommener Perspektive, unterschiedliche Valenzen erlangen kann, nimmt sich die Komplexität der seelischen Kräfte als eine Fortschreibung der auf geometrischen Verfahren basierenden Erfassung der Welt aus. Sie vollzieht dies seit Kepler anhand der harmonischen und disharmonischen Zusammenhänge, die im Weltengebäude vorzufinden sind. Die scheinbare Einfachheit der Kräfte zeigt sich dieser Einstellung zufolge in der Lage, etwas über ihren eigenen Grad an Stärke auszusagen; damit ist alEtwa in dem Sinne, wie es Buchenau (2012), 67 f. vorschwebt: »Baumgarten gibt also vor, seine aisthesis direkt von den antiken Autoren zu entlehnen. Dieser Appell an die Tradition erinnert in gewisser Hinsicht an Kant, der sich einige Jahrzehnte später in seiner eigenen Neubestimmung von Sinnlichkeit und Vernunft der Inauguraldissertation von 1770 seinerseits auch auf die antike Einteilung in phaenomena und noeta beruft. Wie man diese Begriffe auch neu bestimmen und neu denken mag, so wird die eigene Innovationsleistung eher kaschiert. Man beruft sich lieber auf die Antike und auf Autoritäten, die den eigenen Argumenten eine gewisse Dignität verleihen«. Bei Kants Dissertation, auf die sich Buchenau bezieht, handelt es sich um die Schrift De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. 324
Die Entwicklung der Ästhetik: Seelenkräfte und ihre Kontexte
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lerdings noch längst nicht nachgewiesen, dass diese für sich ›einfach‹ zu nennen wären. Vielmehr beeinflussen sich diverse Kräfte aufgrund ihrer unterschiedlichen Stärke und Gerichtetheit. Beides sind Aspekte, die im späten 17. Jahrhundert durch die newtonsche und die leibnizsche Geometrie genuin erfasst und gebündelt werden. Was für die Kräfte in mechanischen Systemen gilt, hat auch Auswirkungen auf die Einbettung der ästhetischen Kräfte in ein aus Kosmos und Seele bestehendes Spannungsfeld: Ästhetische Kräfte können verschiedene Potentiale sowohl in sich aufnehmen als auch zur energetischen Wirkung bringen; sie sind mithin nicht mehr als vis schlechthin fassbar, sondern werden mit sinnlichen, kognitiven und praktischen Funktionen belegt. Ihre Produktivität fußt erheblich auf dem Elementarzusammenhang, der zwischen der Erfassung der körperlichen Welt durch die Seele und deren gleichzeitiger Selbsterfassung besteht. In dem Moment, in dem die ästhetischen Kräfte über einen rein naturphilosophischen Status hinausgehen und den Bereich der Anschaulichkeit und schönen Künste betreten, betonen sie stets den eigenen Zuschnitt, in dem sich das vorgängige Zusammenwirken der seelischen Vermögen, namentlich deren Zusammengesetztheit und Interaktion niederschlägt. Von Ciceros vis virtutis duplex, wie wir sie in Kapitel ii.5.b in den Partitiones oratoriae kennengelernt hatten, 325 über Keplers duplex facultas circa harmonicas proportiones, wie sie in der Übertragung der mechanischen Kosmologie auf die Psychologie zur Geltung kam, 326 bis zu Leibniz' duplex vis activa, worin sich eine Gliederung nach metaphysischen und mechanistischen Grundsätzen niederschlug, 327 hat sich das Feld der Kräfte in sich selbst vertieft und zugleich auf den Bereich der Lebendigkeit ausgedehnt. Auf diesen beiden Achsen, Vertiefung und Ausdehnung, beruht im 18. Jahrhundert denn auch das Feld der Ästhetik. Seine diskursive Zielrichtung ist die vis viva, die Begründung einer lebendigen Kraft aus dem Geiste eines erneuerten Entelechie- und Seelenverständnisses. Die Philosophien Leibniz', Wolffs und Baumgartens entwerfen profunde Seelenbereiche und entwickeln die in diesen Bereichen liegenden, sinnlichen Urgründe zur Klarheit hin, erweitern sie dabei um einen neuen Möglichkeitsbegriff und bauen dadurch das Feld der Psychologie weiter aus. Wo auf der Seite der tiefen Sinnlichkeit der fundus animae steht, steht auf der Seite der hohen Erkenntnis die extensive Klarheit. Mithin steht bei dieser Frage der Nexus von Philosophie und Poesie überhaupt zur Disposition. Bei Cicero bestanden die beiden grundlegenden Aspekte im Wissen (scientia) und in der Performanz (actio) des Redners. 326 In den Harmonices mundi Libri, wie wir in Kapitel IV .4.a der Studie sehen konnten, unterschieden nach geistiger (mentalis) und tätiger (operativa) Kraft. 327 Im Specimen Dynamicum, wie in Kapitel III .3.a gesehen, gegliedert nach selbständiger (per se inesse) und abgeleiteter (derivativa) Kraft. 325
Das Erbe der ästhetischen Kräfte
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Für Aristoteles war die extensive Seite der Dichtkunst zwar auch verschränkt mit der Frage nach den Intensivierungen; dies vollzog sich jedoch vor allem in eine Richtung, hin zu den Wirkaspekten, die von einem Gedicht auszugehen hätten. 328 Es zählt zu den bemerkenswerten Leistungen der Ästhetik, dass sie Intensivierung und Extensivierung als wesentliche Prozeduren des poetischen Aktes aufrecht erhält, zugleich jedoch gerade den Status der mittleren Seelenvermögen in deren modallogischen Entfaltungsmöglichkeiten betont und ebendiese dergestalt ausdehnt, als gehörten sie zur quantitativsinnlichen Welt. Hieraus ergibt sich ein neues Möglichkeitsfeld, in dem die Ästhetik die vorzüglichste Tätigkeit der Einbildungskraft, die Erzeugung von Verworrenheit (confusio), verortet. Die schlagkräftige Antwort der Ästhetik auf den Monismus ist das heteronome Verhältnis, das sie zwischen dem ästhetischen Anstoß (impetus) und den möglichen Welten (mundi possibiles) ansetzt, und ihre Ausdrucksebene ist das nie ganz zur distinkten Urteilsbildung gelangende, sich aber auch nie ganz auf die schiere Sinnlichkeit verlassende Prinzip der inneren Tätigkeit. In den inneren Dimensionen, welche die Sinne auf die Ebene der Erkenntnis spiegeln und die Erkenntnis auf die Ebene der Sinne zurückspiegeln, drückt sich demnach auch der bereits von Aristoteles beachtete Übergang von einer praktischen (πρακτικῶς, τεχνικῶς) auf eine gegenständliche (κατ᾽ οὐσίαν) Poetik aus. Gerade durch die Anreicherung der Poetik durch Kräfte aus der Redekunst wird die Poetik selbst auf eine Weise rhetorisiert, die das Spektrum der traditionellen artes übertrifft. Wie schon der antike Redner auf ein Ideal (orator perfectus) hinstrebte und seine Kräfte durch dieses Streben steigerte, so strebt die Ästhetik auf ein Ideal (homo aestheticus) hin. Dieses Ideal enthält jedoch nunmehr die Charakteristika eines neuzeitlichen Vorbilds: Wenn bereits die Mechanik die Naturkräfte (vires naturae) zur Darstellung brachte, so lässt die Ästhetik Kräfte aus der im 17. Jahrhundert umformatierten philosophia naturalis wirken. Die Mechanik orientiert sich in ihrer philosophischen Ausrichtung am Ideal der Geometrie und brachte dadurch sinnliche Eindrücke auf eine von den Sinnen verabsolutierte Ebene; sie veräußerte gleichsam dasjenige, was bis dahin im Inneren der Dinge schlummerte. Die Ästhetik begreift ihre Kräfte dem Ursprung nach ebenfalls als sinnlich fassbare und erachtet sie als vom Künstler steigerbar, um sie dann durch die einzelnen Seelenvermögen in transgressive Tätigkeiten zu bringen. Das Resultat hieraus, der poetische Gegenstand, folgt seiner ontologischen Präsenz nach einem über die Leibniz-Philosophie transformierten Aristotelismus. Die Favorisierung des Pivotpunktes zwischen ›altem‹ und ›neuem‹ Aristotelismus ist daher zu den entscheidenden Einflüssen zu zählen, die von der 328
Vgl. vor allem die Darstellungen in Kapitel II.5.a der Studie.
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Die Entwicklung der Ästhetik: Seelenkräfte und ihre Kontexte
ars aesthetica im 18. Jahrhundert ausgehen. Die gleichzeitige Stabilisierung der naturphilosophischen Tradition im Allgemeinen und der aristotelischen Tradition im Besonderen bedeutet gleichsam das Überleben der klassischen Metaphysik gegen die Widerstände des radikalen Sensualismus und des materialistischen Monismus. Denn die philosophia naturalis, als nach wie vor verbindliche Bezugsdisziplin, setzt sich in dieser Zeit ungebrochen mit den metaphysischen Sedimenten des Aristotelismus und der platonischen Kosmologie auseinander. Durch die Bereitstellung der wichtigsten Kategorien für das Ersinnen von Welten ist ihr Einfluss auf die Poetik immens: Schon die σύστασις πραγµάτων meinte nach Aristoteles kein Phantasieren in beliebige Richtungen, sondern vielmehr eine gesetzmäßige Ordnung auf ontologisch gefestigter Grundlage. Auch der nexus rerum stellt zweifellos eine Ordnung im ontologischen Sinn dar. Diese Ordnung bezieht sich jedoch nicht mehr vorwiegend auf die dichterischen Objekte in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern inhäriert der menschlichen Seele selbst. Denn es ist die Phantasie, die den allerersten Raum zur poetischen Produktion entfaltet und sich einem gewissen Regelwerk für die Ordnung fingierter Dinge zuwendet. Es geht dementsprechend nicht um völlig freie, gar beliebige Konnotationen, sondern um Assoziationen, die im Zusammenspiel zwischen Künstler, Kunstwerk und Rezipient in der Ordnung der Dinge, die im poetischen Kunstwerk vorherrschen. 329 Die Kräfte, welche diese Assoziationen mit Verbindlichkeit herstellen, sind nur denkbar aufgrund der strengen Verbindlichkeit, mit der die Kräfte aus der mechanistischen Tradition ihren ganzheitlichen und spezifischen Erklärungsanspruch formulierten. Die Vertiefung der poetischen Kraft hieß in der Antike Enthusiasmos und verschrieb sich in letzter Instanz dem Bereich des Göttlichen, im selben Zuge aber auch demjenigen des Irrationalen. Die antike Auffassung von der Ausdehnung der poetischen Kraft bestand demgegenüber in einer wirklichkeitsanalogen Darstellung des Möglichen, der Mimesis. Beide Größen, der Enthusiasmos und die Mimesis, können über die Ästhetik im 18. Jahrhundert in einer Form aufgegriffen werden, die zur Ausprägung neuer Poetiken beiträgt. Diese neue Form generiert die Ästhetik aus den Disziplinen der Metaphysik und Erkenntnistheorie sowie aus den Kraftkonzepten der Psychomechanik. Sie kann mithin als eine Poetik der Übertragung beschrieben werden. In diesem Sinn lassen sich, ausgehend von der beschriebenen Affirmierung des Aristotelismus und der Naturphilosophie, nochmals drei Aspekte des Einflusses der ästhetischen Kräfte hervorheben: Sie stellen eine Verbindung her zwischen äußerer Welt und poetischem Werk; sie vermitteln zwischen poetischem Werk und menschlicher 329 Die mathematische Psychologie nannte, wie in Kapitel IV .2–3 zu sehen war, diese Größen ›Begriffe‹ und ›Vorstellungen‹ und ihre Assoziationsmöglichkeiten ›realdefinitorisch‹ und ›nominal‹.
Das Erbe der ästhetischen Kräfte
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Seele; und sie zeigen sich verantwortlich als Bindeglieder zwischen der Seele und der Seelenwirkung. Letztlich halten rationale Elemente in Form der durch die Mechanik bewirkten Analogisierung der unteren und oberen Seelenvermögen auch in wirkästhetischen Kontexten die Dualisierungen von Geist und Körper, von Vorbild und Abbild sowie von Schöpfer und Werk aufrecht. Was die Psychomechanik indes vor allem in eins nimmt beziehungsweise als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet, sind die Aspekte von Rezeption und Produktion: Kräfte werden in dem Moment, in dem sie rezipiert werden, schon wieder fruchtbar gemacht. Umgekehrt werden Anstoßkräfte in einen rezipierbaren Bereich gleichsam entlassen. Insofern die Kräfte stets nach Tätigkeit streben, ist ihre Wirksamkeit praktisch niemals abgeschlossen, sondern überträgt sich auf andere Kontexte – auf die Seele des Literaten, auf dessen Gedichte, und letztlich auf die Seele des Rezipienten. Die Tätigkeit eines Gedichtes besteht demgemäß im Affizieren. Seine Kraft bemisst sich in der Rührung des Rezipienten. In diesem Sinn sehen wir im 18. Jahrhundert neue Begründungsmuster für traditionelle Begriffe aufscheinen: Der Enthusiasmos muss nicht mehr einem monistischen Kraftbegriff gleichkommen, das Prinzip des sinnlichen Urgrundes keinen bloßen Sensualismus darstellen. Die Einbildungskraft benötigt kein eigenes stoffliches Substrat, sondern ›nur‹ eine eigene Tätigkeit. Und die Antike braucht nicht mehr im Status ihrer klassizistischen Mustergültigkeit zu verharren, sondern kann neue Kraftwirkungen freisetzen.
V. Die neuen Kräfte der Antike ab 1747
1. Poetologische Grundpositionen um 1747
Bezieht man die poetologischen Diskussionen, die sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts formieren, in die Betrachtung mit ein, zeigt sich ein Nebeneinander vielfältiger philosophischer Traditionen. Um die differierenden Strömungen in Beziehungsgefüge zu fassen, lässt sich in ideengeschichtlicher Hinsicht vor allem auf sensualistisch, mimetisch oder ästhetisch orientierte Termini zurückgreifen. 1 Für unser Thema ist, ausgehend von den Ausführungen zur Psychomechanik und Kräftelehre, folgende Hypothese leitend: Zunehmend diskutiert werden im 18. Jahrhundert diejenigen Kräfte, die nicht ausschließlich synchron im Sinne einer unmittelbaren Seelenwirkung aufgefasst werden, sondern die eine historische Vorprägung besitzen, die ein bestimmtes Vermögen ausdrückt. Dem Anspruch gemäß, das Potential der literarischen Tradition aufzugreifen und fortzuschreiben, fällt die erste Wahl auf die Kräfte der antiken Autoren und Gattungen. Sie bilden nicht nur die ›erste Epoche‹ und können demnach als Analogon zum fundus animae fungieren, sondern sind darüber hinaus für das Kriterium vollendeter Form, mit der Ästhetik gesprochen: für das Kriterium der extensiven Klarheit, der erste Bezugspunkt. 2 Bei dieser Janusköpfigkeit geht es nicht allein um die Erstellung von Kraft-Taxonomien und -Hierarchien; 3 das Zentrum, von dem alle Kraftbegriffe der Aufklärung ausgehen und zu dem sie gleichsam wieder zurückstreben, liegt vielmehr in der Bedeutung des Naturbegriffs. So wie die dynamische Naturphilosophie von den Umwertungen des Naturbegriffs im 17. Jahrhunderts profitierte, profitiert im 18. Jahrhundert die Poetik von der selbstbewussten Aneignung psychomechanischer Paradigmen durch die ästhetische Theorie. Interessieren wird uns hieran vor allem ein bestimmtes Desiderat: Gesucht wird in dieser Zeit Zu sensualistischen Begründungsmustern der Poetiken im 18. Jahrhundert vgl. Eckert (2005), Laak (2003), 87–201 und Alt (1995), 412–434; zum mimetischen Horizont vgl. Auerbach (112015), Trappen (2001) und Petersen (2000), 187–230; zum ästhetischen Entwicklungsweg ohne Fokussierung der Kräftelehre vgl. Lieberg (2010), Hammermeister (2002) und Tatarkiewicz (1979). 2 Die Seite an Seite bestehende Gültigkeit beider Zuschreibungen an die Antike, sowohl von Vollkommenheit als auch von natürlicher Sinnlichkeit, sind im 18. Jahrhundert bis in die Weimarer Klassik hinein virulent. 3 Etwa in dem Sinne, dass Horaz Pindars Kraft in sich aufnahm und zugleich fortentwickelte oder dass Vergil die Kraft der Epik Homers und Apollonios’ von Rhodos in seine Werke einfließen ließ. 1
Die neuen Kräfte der Antike ab 1747
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vermehrt nach poetologischen Konzepten, die das ideengeschichtliche Erbe der ästhetischen Kräfte und des antiken Essentialismus zusammenzuführen in der Lage sind. Auf dem Hintergrund der bereits in Kapitel i.1.e–f der Studie beschriebenen Natur- und Kraftargumente und deren Explikationen in antiken (Teil ii der Studie) und frühneuzeitlichen Kontexten (Teil iii und iv der Studie) wird der Blick nun auf die Bedeutung von Kraft und Bewegung in den Poetiken der Aufklärung gerichtet. Warum fällt die Wahl des Jahres an diesem Punkt der Studie auf 1747? Es wird hier in Form eines Epochenjahres verstanden: Zum einen entstehen in diesem Jahr die ersten Oden Klopstock, darunter insbesondere sein programmatisch zu nennendes Gedicht Der Lehrling der Griechen. 4 Charles Batteux veröffentlicht kurz vor Beginn dieses Jahres seine vielrezipierte Abhandlung Les beaux arts réduits à un même principe, in der er das Mimesis-Prinzip auf ganz verschiedene literarische Gattungen bezieht. Julien Offray de La Mettrie legt mit L'homme machine eine kurze, aber wirkmächtige philosophische Abhandlung vor, die sich geradezu als ein Materialismus, Sensualismus und Libertinismus vereinendes Manifest bezeichnen lässt; ihre Publikation wird überhaupt erst ermöglicht durch ihre scheinbare Rolle als Vorwort zur Übersetzung von Senecas De beata vita, einer ausgerechnet stoischen Schrift. Zudem veröffentlicht Georg Friedrich Meier, der als Schüler Alexander Gottlieb Baumgartens zugleich als Propagator der baumgartenschen Philosophie in Erscheinung tritt, 1747 die Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst; er setzt sich und seine poetologisch-ästhetischen Überlegungen damit in ein bestimmtes Verhältnis zu den von Gottsched geprägten Diskursen der Frühaufklärung. 5 Dass das 18. Jahrhundert überhaupt zu einem Zeitalter der Ästhetik wird, ist auch und insbesondere Meier zu verdanken. 6 Zu diesen publikationsgeschichtlichen Gründen tritt noch ein gattungspoetischer: Die Rolle der Lyrik, die sie im Gattungskanon spielt, wird ab den späten 1740er Jahren im deutschsprachigen Raum erheblich aufgewertet. 7 Unter dem Einfluss des Freundschaftskultes empfindsamer Dichter wie Klopstock, Gleim, Hagedorn, Uz und Gellert gewinnen die Ausdrucksformen der Gefühle eine Bedeutsamkeit, die sich Zu den bedeutenden Oden, die von Klopstock selbst auf dieses Jahr datiert werden, zählen daneben Die künftige Geliebte und An des Dichters Freunde. Bei letzterem lautet der ursprüngliche Titel Auf meine Freunde. 5 Zur Auseinandersetzung Meiers mit Batteux und Gottsched, insbesondere mit deren Geschmacksbegriff, vgl. Vollhardt (1995). 6 Zur zeitgeschichtlichen Rolle Meiers im Kontext der aufklärerischen Ästhetik vgl. Bergmann (1910), Schaffrath (1940) und Grunert / Stiening (2015). 7 Zuvor waren, unter antiker Legitimation, Drama (vor allem Tragödie) und Epos die bestimmenden Gattungen; vgl. zur Rolle der Lyrik in der Antikenrezeption des 18. Jahrhunderts Amslinger / Borghardt (2018). 4
Poetologische Grundpositionen um 1747
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einem sinnlichen, zugleich aber auch einem universalistischen Naturbegriff zuwenden. Dies wiederum hängt mit der Relevanz von Leibniz zusammen, die um 1750 ungebrochen erscheint. 8 Neben dem durch den Aristotelismus über viele Epochen hinweg tradierten Nachahmungsprinzip ist es besonders die Affektpoetik, die detailliert diskutiert wird. 9 Affekte wiederum werden im Sinne der Lehre von den Seelenkräften verstanden. In jüngerer Zeit ist durch die Studien von Dürbeck die Einbildungskraft zum zentralen Begriff für die Beschäftigung der Forschung mit den Seelenkräften in den Poetiken der Aufklärungszeit überhaupt avanciert. Sie wird bei Dürbeck jedoch vor allem aus medizinischen, animistischen und vitalistischen Traditionen heraus betrachtet. 10 Um den Kontrast zwischen den Begriffstraditionen noch deutlicher zu machen, sei im Folgenden zunächst das – scheinbare – Gegenstück zur Psychomechanik beschrieben: die Möglichkeit einer Nachahmung von Mustern. Nur ›scheinbar‹ ist diese Gegenüberstellung bereits deswegen zu nennen, da in Teil ii.2 der Studie zu sehen war, dass Kraft und Bewegung unter Legitimation der klassischen Rhetorik durchaus mit dem Nachahmungsgebot einhergehen können. Im 18. Jahrhundert kann dieser Weg, wie noch genauer zu sehen sein wird, nur über ein Seelenvermögen, eine Gemütskraft, begangen werden. Diese Gemütskraft heißt Verstand, und ihre ästhetische Spielart ist der Geschmack.
1.a. Die ›Negativfolie‹: Nachahmung von Mustern
Die französische Sprache fasst unter classicisme etwas, wofür das Deutsche mit ›Klassik‹ und ›Klassizismus‹ zwei Ausdrücke kennt. Der Unterschied zwischen den beiden deutschsprachigen Begriffen ist für unser Thema durchaus von Bedeutung: Der eine bezeichnet einen ›klassischen‹ Urtypus, der andere Vgl. etwa die Vorrede zu Wielands Die Natur der Dinge (1751), insbesondere die Äußerungen zur Gotteskraft in den Vorläufigen Anmerkungen, 21. Die Ansetzung einer Gotteskraft dient dort der Vermeidung von Kontingenz im diesseitigen Weltenbau. Das Spannungsverhältnis zwischen dem vertretenen Weltbild und dessen Darstellung macht Die Natur der Dinge, neben seinem Status als erstes Werk Wielands, überhaupt bemerkenswert: Der Inhalt des Lehrgedichts ist so anti-lukrezisch wie seine formale Diktion, angefangen beim Titel, lukrezisch ist. 9 Diese Entwicklung lässt sich nicht nur in der Poetik, sondern auch bereits ab 1700 anhand der Rhetorik ablesen; vgl. konzise Till (2006b). 10 Vgl. Dürbeck (1998), insbesondere 13–33, wo Moralpragmatik und Eudämonismus anhand geistesgeschichtlicher Bezugspersonen wie Thomasius, A. F. Müller, Walch und Zedler skizziert werden. Zwar folgt mit Wolff die erkenntnistheoretische Ebene, jedoch wird – wie auch schon ebd., 24 f. – der Einfluss Descartes’ nur wenig behandelt. Vgl. zu diesen Desideraten, welche die Studie Dürbecks offenlässt, Gisi (2007). 8
Die neuen Kräfte der Antike ab 1747
606
die Nachahmung beziehungsweise die ›klassizistische‹ Anverwandlung jenes Urtypus. 11 Eine notwendige Voraussetzung für den Urtypus besteht darin, so er die erste Wahl für den Dichter darstellen soll, dass er sich durch Vollkommenheit auszeichnet. Erst die Vollkommenheit macht Schönheit und Idealität eines Werkes miteinander vereinbar. 12 Die in der Querelle des anciens et des modernes aufgeworfene Frage nach der perfection dichterischer Kunstwerke verweist im Laufe des 18. Jahrhunderts – beeinflusst von der Philosophie JeanJacques Rousseaus (1712–1778) – zunehmend auf die perfectibilité. 13 Die perfectibilité kann, im Gegensatz zur ideellen perfection, sowohl naturgewachsene als auch artifizielle Vollkommenheit verkörpern. Sie meint, mit Rousseau, die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zur Vervollkommnung zu bringen. 14 Somit entspricht seine Kunst ›idealerweise‹ auch seiner Natur und wirkt sich positiv auf die Verbesserung seiner selbst aus. Diese neue Großzügigkeit gegenüber der Vereinbarkeit von Natur und Kunst entwickelt sich zu einem neuen klassizistischen Sammelbegriff, zur doctrine classique. 15 Ein solches Verhältnis, das zwischen Vollkommenheit und der Fähigkeit zur Vollkommenheit herrscht, gilt es bei der Frage nach den Begründungsmöglichkeiten von Mustern im Hintergrund zu behalten. Der wichtigste Rezipient des französischen classicisme ist – sowohl historisch als auch systematisch – im deutschsprachigen Raum der Frühaufklärung Johann Christoph Gottsched (1700–1766). Die von ihm immer wieder herangezogene Größe ist die Nachahmung, und zwar in zwei Ausprägungen: die Nachahmung der Natur (imitatio naturae) und die Nachahmung der Alten (imitatio veterum). Zu diesem zweiseitigen Nachahmungsbegriff tritt die ästhetische Seelenlehre, um den Geschmacksbegriff, eines der erklärten Hauptanliegen Gottscheds, zu bestimmen. In der Behandlung des guten Geschmacks werden von Gottsched somit bestimmte Diskurse der Querelle zusammengeführt: die Frage nach Relativität und Absolutheit, die Frage nach Gegenwart Zur Begriffstrias ›klassisch‹, ›Klassik‹, ›Klassizismus‹ vgl. den Artikel von Voßkamp (2010). Denn ›Idealität‹ wäre ansonsten ein transzendentaler Begriff, während ›Schönheit‹ auf der anderen Seite ein sinnlicher Begriff bliebe. 13 Vgl. Lotterie (2006), Voßkamp (1992), 119–124 und Jauß (1970), 29–35. 14 Zu den wichtigen, wenn auch oft missverstandenen Grundsätzen der Philosophie Rousseaus zählt, dass sie den Menschen in seinem Idealzustand nicht als ein Naturwesen begreift, das sich ganz auf Irrationalität zu gründen habe. Der Vorgang der Selbstverwirklichung meint bezogen auf die perfectibilité eine gewisse Richtungsentscheidung (der Wille zur Vervollkommnung), und dies im Sinne einer stoizistisch anmutenden Selbstliebe (amour de soi-même) in Kombination mit einem voluntaristischen Menschenbild (der Wille gilt mehr als die Vernunft, kann aber die Vernunft durchaus als Mittel zum Erreichen seiner Ziele gebrauchen). Zum Naturbegriff im Frankreich des 18. Jahrhunderts vgl. als eine der bis in die Gegenwart besten Studien Éhrard (1962). 15 Vgl. zu diesem Schlüsselbegriff des französischen Klassizismus Bray (1951). 11 12
Poetologische Grundpositionen um 1747
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und Vergangenheit und die Frage nach Ideal und Nachahmung. 16 Da Gottsched den Geschmack als eine Form des Verstandes, nämlich als ästhetische Urteilskraft fasst, 17 ist der Blick zunächst auf dieses Vermögen zu richten. Der Verstand erfährt bei Gottsched eine geradezu selbstverständliche Einbettung in die Theorie der Seelenkräfte: Diesen [sc. den Verstand] aber zu bestimmen, das ist nicht eines jeden Werk. Wem es damit gelingen soll, der muß erstlich die Kräfte der menschlichen Seelen und sonderlich die Wirkungen des empfindenden und urteilenden Verstandes aus der Weltweisheit verstehen. 18
Aus der Zuschreibung, dass der Verstand als Gemütskraft in der Seele existiere, folgt für Gottsched indes noch nicht, dass die Vernunftprinzipien – derer sich der Verstand ja seiner Haupttätigkeit nach bedienen sollte – ebenfalls als Kräfte beschreibbar wären. Vielmehr müsse sich die Vernunft auf Logik und Regelhaftigkeit gründen, wodurch sie eine transzendentale Stellung zur menschlichen Seele und deren Kräften einzunehmen habe. Sie existiere nämlich zunächst autark und außerhalb des Seelenapparats, und erst ihre Vermittelbarkeit als Lehre könne dann als konkrete Fertigkeit und Fähigkeit des Menschen gelten: Hernach muss er eine Fertigkeit in der Vernunftlehre besitzen, so daß er fähig ist, sich von jedem vorkommenden Dinge und Ausdrucke nach den logischen Regeln eine gute Erklärung zu machen. 19
Das Instrument, das Gottsched ansetzt, um die Vernunftregeln auf die ästhetische Ebene zu überführen, ist nichts anderes als der Geschmack. Gottsched fügt ihn in das Register der Gemütskräfte ein – nicht zuletzt, um ihn als eine natürliche Anlage des Menschen erscheinen zu lassen: Der Geschmack ist also dem Menschen so was Natürliches als seine übrige [sic] Gemüts-Kräfte. Ein jeder, der Sinne und Verstand hat, besitzt auch eine GeAusgehend von den französischen Debatten um den bon goût im späten 17. Jahrhundert, wird der Geschmack auch im deutschsprachigen Raum zu einem ästhetischen Paradigma entwickelt, das besonderen Wert auf die Verknüpfung von Vermögen und Sittlichkeit legt; vgl. zur Grundierung dieses Begriffs Flandrin (1999), Faudemay (1992), Moriaty (1988) und Dens (1975). 17 Vgl. Gottsched, Critische Dichtkunst, 63 f.: »Ich rechne zuvörderst den Geschmack zum Verstande, weil ich ihn zu keiner andern Gemüts-Kraft bringen kann. Weder Witz, noch die EinbildungsKraft, noch das Gedächtnis, noch die Vernunft können einigen Anspruch darauf machen. Die Sinne aber haben auch gar kein Recht dazu, man müßte denn einen sechsten Sinn davon machen wollen. Ich sage aber, daß er ein urteilender Verstand sei: weil diejenigen, so ihn wirklich zu [sic] Unterscheidung der Dinge anwenden, entweder äußerlich oder doch innerlich den Ausspruch tun: Dies ist schön und jenes nicht«. 18 Gottsched, Critische Dichtkunst, 59. 19 Ebd. 16
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schicklichkeit, von der Schönheit empfindlicher Dinge zu urteilen. Und solange diese nicht ihre Natur und Eigenschaften verlieren, wird ein jedes vernünftiges Wesen davon sagen können, ob sie ihm wohl oder übel gefallen. 20
Die Beförderung des guten Geschmacks wird daher, im Sinne der Vervollkommnung des Menschen, zu einer fortschreitenden Hinführung des Menschen zur Vernunft erklärt: Fragt man weiter, welches denn das Mittel sei, den guten Geschmack bei Erwachsenen zu befördern? So sage ich: Nichts anders als der Gebrauch der gesunden Vernunft. Man halte nichts vor schön oder häßlich, weil man es so nennen gehöret oder weil alle Leute, die man kennet, es davor halten; sondern man untersuche es an und vor sich, ob es so sei. [. . . ] Durch dieses Mittel hat vorzeiten Griechenland die Regeln der meisten freien Künste erfunden und dadurch den guten Geschmack auf etliche tausend Jahre bei sich unwandelbar gemacht. 21
Genauso wenig wie die Vernunftregeln durch bloße Konvention entstehen könnten, ist der gute Geschmack relational zu nennen. Seine Aufgabe ist vielmehr essentiell ausgerichtet: Es geht darum, wie Gottsched formuliert, Dinge »an und vor sich«, also jenseits konkreter zeitlicher und räumlicher Verortungen zu beurteilen. Umso bemerkenswerter ist es, dass das antike Griechenland dennoch als historische Freisetzung der vernunftgeleiteten Regeln der Kunst zu gelten habe. Denn die Regeln, die von den alten Griechen in ihren Werken zum Ausdruck gebracht wurden, entziehen sich ja gerade Zeit und Ort. Und dennoch wird die historische Wertigkeit der zeitgenössischen Kunst im Vergleich zur Antike als geringer eingestuft. 22 Gottsched gibt indes auch Beispiele aus anderen Epochen an die Hand: Fraget man, wie man einen jungen Menschen zum guten Geschmacke in der Poesie bringen könne? So gebe ich diese Antwort: Man gebe ihm von Jugend auf lauter Poeten von gutem Geschmacke zu lesen. Terenz, Virgil, Horaz von den Lateinern; Petrarca und Tasso von Italienern; Malherbe, Boileau, Corneille, Racine, Molière und Voltaire von Franzosen; Heins und Cats von Holländern; Opitz, Dach, Fleming, Tscherning, beide Gryphier, Amthor, Canitz und Gün-
Ebd., 65. Ebd., 67. 22 Vgl. ebd., 76: »Alles dieses nun geht einzig und allein dahin, daß ein Poet sich an den Geschmack seiner Zeiten und Örter nicht zu kehren, sondern den Regeln der Alten und den Exempeln großer Dichter zu folgen habe«. 20 21
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ther von unseren Landesleuten: Das sind die Muster, die man jungen Leuten zur Nachfolge vorlegen muß. 23
Gottscheds Empfehlungen umfassen verschiedene Epochen und Sprachgemeinschaften; sie sind auf die Römer, Italiener, Franzosen, Holländer und Deutschen gemünzt. Die Griechen werden gar nicht erst genannt, da sie für Gottsched in toto als mustergültig gelten dürfen. Die Natur der Vorgänger und die Regeln der Vernunft werden beiderseits auf einen Geschmacksbegriff hin entwickelt. Die Nachahmung der Natur (imitatio naturae) und die Nachahmung der Alten (imitatio veterum) fallen durch den gleichzeitigen Absolutheitsanspruch von natürlichen Regeln und Geschmack in eins. Wichtig bleibt bei alledem, dass es ein Musterbild ist, das angewendet werden soll. Es existiert ein Muster, das den Regeln der Vernunft entspricht und damit dasjenige repräsentiert, was die unwandelbare Natur vorgibt. Zudem verfügt der Mensch über Vermögen, die es ihm erlauben, dieses Muster zu erkennen und sich dieses anzueignen, sich demgemäß an ihm entlang zu entwickeln. Mit der französischen Philosophie gesprochen, hat seine perfectibilité stets das Muster der perfection vor Augen. Somit ist aber der gute Geschmack beides: Ausgangsbedingung für das Erkennen des Musters sowie Resultat der Auseinandersetzung mit denjenigen Vorgängern, über deren Geschmack kein Zweifel bestehe. 24 Natur und Vernunft erscheinen im Hinblick auf das ästhetische Urteilsvermögen als nicht mehr weiter reduzible Größen. Sie verhindern, dass der Geschmack in seiner Doppelfunktion als ästhetische Gemütskraft und Mittel des Vernunftgesetzes in einem Zirkelschluss aufgehen könnte. Im Zuge der Etablierung absoluter Vernunftgesetze für den Bereich der Geschmacksästhetik erlangt die Mimesis im Sinne ihrer strikten Bedeutung von Nachahmung eine so fundierte wie neu gewendete Geltung. Zu den meistdiskutierten Beiträgen zur Mitte des 18. Jahrhunderts ist die Behandlung der Nachahmung bei Charles Batteux (1713–1780) zu zählen. Batteux veröffentlicht gegen Ende des Jahres 1746 seinen Traktat Les beaux arts réduits à un même principe und stellt ihn unter das verkürzte horazische Motto ex noto fictum sequar. 25 Während Baumgarten diesen Halbvers noch umstandslos in die Affektenlehre einfügte, 26 wird er von Batteux für etwas gänzlich anderes, für die Rechtfertigung der Nachahmung als wichtigsten Prinzips der schönen Ebd., 69. Hierin lässt sich grundsätzlich auch ein kanontheoretischer Impuls sehen, der an dieser Stelle nicht weiter verfolgt wird, da er nicht das Hauptthema der Studie bildet. 25 Hor., ars, 240: »ex noto fictum carmen sequar« (»Ich werde nach einem aus dem Bekannten [sc. neu] ersonnenen Gedicht streben.«). 26 Es sei an den Aspekt der Lebendigkeit als das für Horaz wichtigste Kriterium für die Übertragung der Wirklichkeit in poetische Werke erinnert. 23 24
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Künste verwendet. Die erste deutschsprachige Übersetzung der Beaux arts wird 1751 von Johann Adolf Schlegel (1721–1793) vorgelegt. Schlegel weist in seiner erläuternden Übersetzung der Abhandlung Batteux' das Verdienst zu, das Prinzip der Nachahmung auf intuitiv einleuchtende und damit schon natürlich zu nennende Weise zu behandeln. 27 Neben dieser Übertragung, die bis 1770 zwei weitere Auflagen erfährt, ist es vor allem Gottscheds Bearbeitung von 1754, die zur weiteren Verbreitung der Beaux arts im deutschsprachigen Raum beiträgt. 28 Gemäß seinem oben skizzierten Hauptanliegen, der Beförderung des guten Geschmacks, führt Gottsched in der Vorrede das Werk Batteux' als ein geeignetes Mittel gegen einen mutmaßlich grassierenden Geschmacksverfall auf deutscher und französischer Seite an. 29 Beide, Schlegel und Gottsched, heben in ihren Ausgaben indes die hohe Kenntnis hervor, die der »gelehrte Herr Batteux« 30 vom Altertum habe. Mit Blick auf die in Les beaux arts réduits à un même principe verhandelten Positionen mag die von Schlegel und Gottsched so gelobte Hinwendung zur Antikenrezeption auf Grundlage einer »guten Kenntnis des gelehrten Alterthumes« 31 nicht überraschen. Bereits auf dem Frontispiz erscheinen Sokrates und Phaedra idyllisch eingelagert unter einer Platane mit Platons Phaidros in der Hand. In den Mittelpunkt des Bildes gerückt wird dabei die Thematik des Dialogs, »Über das Schöne« (»Περὶ καλοῦ«): 32 Vgl. Schlegel, Einschränkung der schönen Künste, Vorrede an Christian Fürchtegott Gellert, XIV: »Ich gestehe es auch gern; wenn irgend jemand fähig ist, für den Grundsatz der Nachahmung der Natur unsern Beyfall uns unmerklich abzugewinnen, so ist es gewiß Herr Batteux. Er weiß seiner Methode, wie er ihn [sic] beweiset, eine so philosophische und doch zugleich so natürliche Miene zu geben, daß man diese leicht für einen sichern Bürgen der Wahrheit ansieht«. 28 Gottsched selbst spricht von einem »Auszug« (Gottsched, Die schönen Künste, Frontispiz) aus dem Traktat Batteux’. Dabei handelt es sich aber um eine in weiten Teilen freie Übersetzung und eigenständige Auslegung der batteuxschen Thesen. 29 Vgl. Gottsched, Die schönen Künste, Einladungsschrift, 1–3: »Bey dem herannahenden Verfalle des guten Geschmackes, worüber selbst so viele französische Schriftsteller klagen, bemerket man sehr viele seichte Bücherschreiber, deren Flüchtig-keit es nicht zugelassen, sich mit den schönen Wissenschaften anders als zum bloßen Zeitvertreibe zu beschäftigen. [. . . ] Es kam noch eine Ursache hinzu, die solchen Verfall der Gründlichkeit in den Anweisungen zu der angenehmen Gelehrsamkeit, merklich beförderte. Dieses war die Vernachlässigung der Weltweisheit in ihrem ganzen Umfange. [. . . ] Ein Mann von ganz anderer Art ist der gelehrte Herr Batteux. Mit einer guten Kenntnis des gelehrten Alterthumes verbindet er auch eine philosophische Einsicht. Er weis nicht nur, was die gründlichen Lehrer der schönen Wissenschaften, im alten Athen und in Rom davon gedacht, und vorgeschrieben haben; sondern er versteht auch die Kunst, richtig und ordentlich zu denken, gute erklärungen oder Definitionen zu geben, Grundsätze daraus herzuleiten, und eine Folgerung nach der andern daraus zu ziehen«. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Vgl. auch die Beschreibung bei Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe, Explication du Frontispice et des vignettes: »P HEDRE & S OCRATE assis sous un plane, lisent une Dissertation Sur 27
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Abb. 9: Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe, Frontispice
Diese Einlagerung in antike Autoren, Topoi und Schriften schlägt sich auch in der thematischen Behandlung der Nachahmung nieder. 33 Die wohl größte Herausforderung für die Legitimierung des Nachahmungsprinzips stellt dabei der Teil Über die lyrische Poesie (Sur la poesie lyrique) dar. Denn Lyrik wird seitens keiner einzigen antiken Autorität als mimetisch empfunden, in der Regel vielmehr als Ausdruck eines hervorbrechenden Gefühls aufgefasst, das vom Dichter auszugehen habe. 34 Eben dieser Einwand wird in den Beaux le Beau Περὶ καλοῦ. Sujet tiré de Plat. Dial. Phedr.« (»P HAEDRA und S OKRATES, sitzend unter einer Platane, lesen eine Abhandlung Über das Schöne Περὶ καλοῦ. Ein Thema, das aus Plat[ons] Dia[log] Phaidr[os] genommen ist.«). 33 Vgl. als eine der bis heute konzisesten Darstellungen Tavernier (1986). 34 Dieses Momentum des Hervorbrechens wurde in Kapitel II .5 der Studie insbesondere anhand der Pindar-Rezeption bei Horaz, Cicero und Quintilian noch als Ausweis einer scheinbaren Unnachahmbarkeit (Pindarum inimitabilem) festgehalten.
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arts ausgerechnet in einem aus der Antike bekannten Quid?-Stil, wie ihn ein Interlocutor pflegt, vorgetragen. Es wird die These diskutiert, dass die Kunst auf der Seite der Nachahmer, die Natur jedoch auf der Seite der Enthusiasten stehe. Dies führt zu Problemen bei der Frage nach der Klassifizierung, was denn dann noch alles ein Gedicht sein könne: Was? – rufen Sie sogleich. Die Gesänge der Propheten, die Psalmen Davids, die Oden von Pindar und Horaz sollen keine wahren Gedichte sein? Es sind die vollkommensten. Betrachten wir es vom Anfang her: Ist die Poesie nicht ein Singen, das von der Freude, der Bewunderung, der Dankbarkeit eingegeben ist? Ist sie nicht ein Schrei des Herzens, ein Schwung, bei dem die Natur alles macht und die Kunst nichts? Ich sehe darin kein Gemälde, keine Malerei. Hier ist alles Feuer, Empfindung, Trunkenheit. Zwei Sachen sind also wahr: erstens, dass die lyrischen Gedichte wahre Gedichte sind; zweitens, dass diese Gedichte nicht die Eigenschaft der Nachahmung haben. 35
Die zunächst vom Interlocutor, dann von Batteux als Erwiderung auf den Interlocutor vorgetragenen rhetorischen Fragen zeichnen einen affektpoetischen Grundriss und begründen diesen mit einem Naturverständnis, das sich nicht gegen die Antike, sondern indirekt gegen das natura non facit saltum-Credo richtet. Es ist nicht auf eine malerische Harmonie aus, sondern wird von Disparität (admiration), Spontaneität (cri du cœur), Schwüngen (élan) und Intensität (feu) geprägt. 36 So sehr das Argument auf einem frühneuzeitlichem Tableau ausgebreitet wurde, so sehr wird es auf die Antike appliziert. Aufgeworfen wird die Frage, [o]b die Chöre der Alten, welche die ursprüngliche Natur der Poesie bewahrten, diese Chöre, die der Ausdruck allein der Empfindung waren – die Natur selbst waren oder nur die nachgeahmte Natur? 37
Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe, chap. IX, 235 f.: »Quoi! S’écrie-t’on d’abord; les Cantiques des Prophètes, les Pseaumes de David, les Odes de Pindare & d’Horace ne seront point de vrais Poëmes? Ce sont les plus parfaits. Remontez a l’origine. La Poësie n’estelle pas un Chant, qu’inspire la joie, l’admiration, la reconnoissance? N’est-ce pas un cri du cœur, un élan, où la Nature fait tout, & l’Art, rien? Je n’y vois point de tableau, de peinture. Tout est feu, sentiment, yvresse. Ainsi deux choses sont vraies: la premiere, que les Poësies lyriques sont de vrais Poëmes: la seconde, que ces Poësies n’ont point le caractère de l’Imitation«. 36 Den Schwung hatten wir in Kapitel II .5.c.β bei Quintilian als assurgere, als einen Topos kennengelernt, in dem eine bestimmte Stillage (genus humile, genus medium, genus grande) zum Ausdruck kommt. 37 Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe, chap. IX , 236 f.: »Si les Chœurs des Anciens, qui retenoient la nature originaire de la Poësie, ces Chœurs, qui étoient l’expression du seul sentiment, s’ils étoient la Nature elle-même, ou seulement la Nature imitée?«. 35
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Bei Batteux ergibt sich im Folgenden eine genaue Taxonomie der Oden, orientiert an den Gegenständen, denen sie sich zuwenden: zunächst die Geistlichen Oden (Odes spirituelles/sacrées), die von der Allmacht und unendlichen Güte des obersten Wesens, eines heidnischen oder christlichen Gottes zu handeln haben, die Heroischen Oden (Odes héroïques), in denen der Ruhm der Helden besungen wird, die philosophisch-moralische Oden (Odes philosophiques ou morales), die über Tugenden und Laster belehren, sowie die vergnüglichen Oden im Stile der Lieder der Anakreontik (Odes Anacréontiques) und der französischen chansons, die sich mit erotischen und bacchantischen Themen befassen. 38 Die heroische Ode wird dabei Pindar und Horaz, aber auch manchen neuzeitlichen Franzosen zugeschrieben, wobei Pindar selbst hier einen gewissen Totalitätsanspruch beanspruchen kann, insofern »[s]o [sc. heroisch] [. . . ] die Oden des Pindar und einige von denjenigen des Horaz, Malherbe und Rousseau [sind].« 39 Der Aspekt des Heroischen ist demzufolge in Pindars Epinikien zur Gänze repräsentiert, während bei anderen Vertretern der Gattung nur manche Oden als heroisch gelten können, je nach Wahl ihres zu besingenden Gegenstandes. Die einmal aufgeworfene Gattungstaxonomie will Batteux demgemäß nicht als eine Lehre der Gefühlsausbrüche verstanden wissen; vielmehr verlagert er die Frage ins Gegenteil, fort von den Affekten und hinein in den Bereich der Gegenstände: Alle diese Arten sind, wie man sieht, einzig der Empfindung gewidmet. Und das ist der einzige Unterschied, den es zwischen der lyrischen Poesie und den anderen Gattungen der Poesie gibt. Und da dieser Unterschied ganz auf der Seite des Gegenstands liegt, beeinträchtigt er nicht den Grundsatz der Nachahmung. 40
Das seit der aristotelischen Poetik bekannte Begriffspaar von πράξεις und παθήµατα wird hier hypostasiert, um die scheinbare Unterschiedlichkeit zwischen der Lyrik und den anderen Arten der Poesie zugunsten eines gemeinsamen Kriteriums, demjenigen des Gegenstandes (objet) in Einklang zu bringen. Wenn die Emp ndung selbst zu einem schieren Gegenstand der Dichtkunst wird, erfährt sie, so Batteux' Kalkül, umstandslos die Eigenschaft der Nachahmbarkeit. Der Unterschied zu Epos und Drama besteht dann im Unterschied, nicht in der Vereinbarkeit zwischen Handlungen (πράξεις) und Emp ndungen (παθήµατα) und liefert die Begründung für eine von Batteux aufgestellte Behauptung: Vgl. zu dieser Ordnung der Oden ebd., 240–242. Ebd., 241: »Telles sont les Odes de Pindare, & plusieurs de celles d’Horace, de Malherbe & de Rousseau«. 40 Ebd., 242 f.: »Toutes ces Espèces, comme on le voit, sont uniquement consacrées au sentiment. Et c’est la seule différence, qu’il y ait entre la Poësie lyrique et les autres genres de Poësie. Et comme cette différence est toute du côté de l’objet, elle ne fait aucun tort au principe de l’imitation«. 38
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Die anderen Arten der Poesie haben als ihren wichtigsten Gegenstand die Handlungen. Die lyrische Poesie ist ganz den Empfindungen gewidmet; das ist ihre Materie, ihr wesentlicher Gegenstand. 41
Die Hypostasierung der Empfindungen – denn um nichts anderes geht es hier – gibt sich bei Batteux den Anschein, dem Aristotelismus bis weit in die Sphäre der Modallogik zu folgen, insofern mit der aristotelischen Zentralkategorie des Wahrscheinlichen (εἰκός/probabile) eine Größe zur Beschreibung der ontologischen Wirklichkeit Einlass in den Bereich der Empfindungen erhält: »Und wenn diese Empfindungen bloß wahr wären und nicht zugleich wahrscheinlich, müssten wir sie zwar anerkennen, aber sie könnten uns nicht den Eindruck des Vergnügens geben«, 42 woraus sich die Verpflichtung für den Dichter ergebe, dem Wahren die »Züge der Wahrscheinlichkeit« 43 zu geben. Batteux kann sich hier anscheinend auf dasjenige berufen, was wir als eine spezifische Leistung des Dynamisierungsverfahrens feststellen konnten: Der Bereich der Wahrscheinlichkeit wurde bei Aristoteles über die ›Zwischenstufe‹ des Glaubwürdigen (πιθανόν) auf den Bereich der Affekte ausgedehnt. Selbiges scheint Batteux mit seinen Äußerungen zu Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Empfindungen vorzuschweben. Tatsächlich ist es aber das umgekehrte Verfahren, das von ihm veranschlagt wird: Er fordert vom Dichter, die Empfindungen von wahren (vrais) zu wahrscheinlichen (vraisemblables) und damit von tatsächlichen zu möglichen zu machen. Die Ebene der Modallogik wird dadurch ganz schlicht auf die Ebene der Affekte übertragen, statt sie von der (horizontalen) Ebene der πράγµατα auf die (vertikale) Ebene der παθήµατα zu spiegeln, wie wir es bei Aristoteles gesehen hatten. 44 Zwar betonte Aristoteles ausdrücklich, dass Wahres in der Dichtkunst seinen berechtigten Platz habe; dies aber nur, weil sich wahrhaft geschehene Dinge vor Eintritt in ihren energetischen Status auch einmal im Status der Potentialität befanden und daher in die Reihungen der δυνατά nahtlos einfügen lassen. Nicht bedeutete dies aber, dass die beim Rezipienten zu erzeugenden Affekte einen Teil dieser Vernetzung bilden würden. Sie sind vielmehr erst aus dem Handlungsverlauf hervorzubringen, der sich ausdrücklich auch dem Bereich des Unwahrscheinlichen zuwenden dürfe, um eben die intendierten Affekte noch zu verstärken. Da Batteux das nicht bekümmert, kann er sich ganz auf die Affekte als solche konzentrieren und Ebd., 240: »Les autres espèces de Poësie ont pour objet principal les Actions: la Poësie lyrique est toute consacrée aux sentimens, c’est sa matière, son objet essentiel«. 42 Ebd., 239: »& si ces sentimens n’étoient que vrais, & non pas vraisemblables, nous devrions les respecter; mais ils ne pourroient nous faire l’impression du plaisir«. 43 Ebd., 239: »les traits de la vraisemblance«. 44 Vgl. Kapitel II .5.a.δ der Studie. 41
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deren (möglichen) irrationalen Urgrund ablehnen, wenn er im vierten Kapitel des Traktats sagt: Sie [sc. die Dichter] stacheln ihre eigenen Einbildungen an, bis sie sich bewegt und verängstigt fühlen: ja dann, Deus ecce Deus, das ist es, was sie singen, was sie malen; es ist ein Gott, der sie inspiriert: . . . Krieg, schrecklichen Krieg sehe ich, und den Tiber, wie er vor Unmengen an Blut schäumt. Das ist es, was Cicero meint, Von den Kräften des Geistes aufgestachelt zu werden, von einem göttlichen Hauch angehaucht zu werden. 45
Die Diktion des Passus ist gänzlich ironisch. Es sind mit Deus ecce Deus! und mentis viribus excitari, divino spiritu afflari einerseits die beiden höchsten Autoritäten für Dichtkunst und Rhetorik der Antike, Vergil und Cicero, die hier zusammengebracht werden. Andererseits wird dasjenige, was wir in Kapitel ii.5.b als einen von Cicero bevorzugten Ausdruck zur Darstellung der Inspiration kennengelernt hatten, geradewegs zur Ablehnung eines solchen Prinzips angeführt. 46 Und was wir in Kapitel iii.3.a in Leibniz' Vergil-Rezeption als Anverwandlung eines antiken Enthusiasmos-Begriffs kennengelernt hatten (Deus ecce Deus!), wird von Batteux mit nur scheinbarer Naivität sowie unter Ergänzung von Verg., Aen., 6, 86 f. übernommen, um geradewegs einen Bruch mit ebendieser Topik zu erzeugen. Die sperrig anmutende Verbindung der Exklamation Deus ecce Deus! mit dem Bella horrida-Zitat (man befindet sich hier im Kontext der Unterweltfahrt) wird enggeführt mit dem Ausspruch Ciceros, der angeblich dasjenige vorwegnahm, was in einem epischen Werk zum Ausdruck komme, von dessen Gestalt er zu Lebzeiten nicht einmal etwas ahnen konnte. Batteux fährt in dieser Diktion fort: Siehe da, die dichterische Raserei! Siehe da, der Enthusiasmus! Siehe da, der Gott, den der Dichter in der Epopöe anruft, der den Helden in der Tragödie inspiriert, der sich in der Komödie in einen einfachen Bourgeois verwandelt, in einen Schäfer in der Ekloge, der den Tieren in der Apologie Vernunft und Sprache gibt. Schließlich ist es der Gott, der die wahren Maler, Musiker und Poeten schafft! 47 45 Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe, chap. IV , 34 f.: »Ils excitent eux-mêmes leurs imaginations, jusqu’ à ce qu’ils se sentent émus, saisis, effrayés: alors, Deus ecce Deus: qu’ils chantent, qui’ils peignent, c’est un Dieu qui les inspire: . . . Bella horrida bella, Et Tibrim multo spumantem sanguine cerno. C’est ce que Ciceron appelle, mentis viribus excitari, divino spiritu afflari«. 46 Dort, als Teil der Redestrategie zur Verteidigung des Dichters Archias, bei Cic., Arch., 8 (18). 47 Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe, chap. IV , 35: »Voilà la fureur poëtique: voilà l’Enthousiasme: voilà le Dieu que le Poete invoque dans l’Epopée, qui inspire le Héros dans
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Das anaphorische Voilà ist als Ironisierung des ecce zugleich eine Ironisierung des Enthusiasmos. Im folgenden Passus kommen Gattungen ins Spiel, denen der Grad des Feuers zugeteilt wird: Gewohnt, dass es notwendig ist, Enthusiasmus nur für das große Feuer von Lyra oder Epopöe zu verlangen, sind wir vielleicht überrascht zu hören, dass es sogar für die Apologie notwendig ist. Aber was ist Begeisterung? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: eine lebendige Darstellung des Objekts im Geist und eine dem Objekt entsprechende Emotion des Herzens. So wie es einfache, edle, erhabene Gegenstände gibt, gibt es auch Enthusiasmen, die ihnen entsprechen, und die die Maler, die Musiker, die Dichter gemäß den Graden teilen, die sie angenommen haben; und bei denen es notwendig ist, dass sie sich alle ohne Ausnahme ihr Ziel erreichen, das der Ausdruck der Natur in seiner Schönheit ist. Und das ist es, warum La Fontaine in den Fabeln und Molière in seinen Komödien Dichter, und zwar so große Dichter wie Corneille in seinen Tragödien und Rousseau in seinen Oden sind. 48
Der Enthusiasmus wird also nicht mehr an die Seite des Prinzips der Nachahmung gestellt, im Sinne einer alternativen Erklärungsart für den Entstehungsprozess lyrischer Werke, sondern in Gänze abgelehnt. Diese Radikalität macht den Erfolg aus, den Les beaux arts auf die europäische Dichtungstheorie, nicht jedoch auf die Dichtungsmode zeitigen konnte. In der deutschen Frühaufklärung und darüber hinaus lassen sich starke Befürworter für dieses Prinzip ausmachen, von denen wir mit Gottsched hier nur den prominentesten kennengelernt haben. 49 Umso bemerkenswerter erscheint es, dass sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Entwicklung vollzieht, die gerade nicht den zur Gegenständlichkeit neigenden Prämissen Batteux' folgt, sondern den sinnlichen Urgrund der Natur in den schönen Künsten immer weiter bekräftigt. la Tragédie, qui se transforme en simple Bourgeois dans la Comédie, en Berger dans l’Eglogue, qui donne la raison & la parole aux Animaux dans l’Apologue. Enfin le Dieu qui fait les vrais Peintres, les Musiciens & les Poëtes«. 48 Ebd., 35–37: »Accoutumé que l’on est à n’éxiger l’Enthousiasme que pour le grand feu de la Lyre ou de l’Epopée, on est peut-être surpris d’entendre dire qu’il est nécessaire même pour l’Apologue. Mais, qu’est-ce que l’Enthousiasme? Il ne contient que deux choses: une vive représentation de l’objet dans l’esprit, & une émotion du coeur proportionée à cet objet. Ainsi de même qu’il y a des objets simples, nobles, sublimes, il y a aussi des enthousiasmes qui leur répondent, & que les Peintres, les Musiciens, les Poëtes, se partagent selon les degrés qu’ils ont embrassés; & dans lesquels il est nécessaire qu’ils se mettent tous, sans en excepter aucun, pour arriver à leur but, qui est l’expression de la Nature dans son beau. Et c’est pour cela que La Fontaine dans ses Fables, & Moliere dans ses Comédies sont Poëtes, & aussi grands Poëtes que Corneille dans ses Tragédies, & Rousseau dans ses Odes«. 49 Hierzu ist etwa Johann Elias Schlegel (1719–1749) zu zählen.
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1.b. Sinnlich-metaphysische Natur
Durch die Betrachtungen zum Französischen Klassizismus und zum Nachahmungsprinzip wurde ein Naturbegriff ins Auge gefasst, der sich in einem erweiterten Sinn als metaphysisch beschreiben lässt. Er verweist einerseits auf einen vor der Erfahrung liegenden Status künstlerischer Werke, andererseits betont er die Mustergültigkeit in ihrer dichterischen Dimension – bei Gottsched im Ausdruck des guten Geschmacks, bei Batteux in der Wahl des Gegenstandes. Wenn die Antike bei Gottsched als vorzüglicher Gegenstand der Nachahmung gilt, dann aus dem Grund, dass sie selbst über die höchste Güte des Geschmacks verfügt und diesen damit als praktisch unüberbietbar festlegt; und wenn die Antike bei Batteux über eine Anziehungskraft verfügt, dann aus dem Grund, dass ihre Gegenstände vollkommen und damit nachahmenswert sind. Batteux bevorzugt zumindest in diesem Sinn eindeutig die perfectibilité vor der perfection. So sehr sich Gottsched auch Batteux in Hinsicht auf das Nachahmungsprinzip verbunden zeigt, so wenig ist diese Verbundenheit philosophisch legitimiert. Denn eine Gliederung der Gattungen nach der Wahl ihrer Gegenstände ist nicht das leitende Diktum Gottscheds als vielmehr die Regeln der Natur. Da aber diese Regeln zugleich die Regeln der Vernunft und des guten Geschmacks sind, bleibt bei Gottsched ein essentialistischer Ansatz bestehen, der sich jederzeit auf metaphysische Sphären berufen kann. Genau das tut Batteux zuverlässig nicht. Nach Gottsched ist der einflussreichste Vertreter einer metaphysischen Auffassung über das Wesen der Alten im deutschsprachigen Raum Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). Sein verbreitetstes Werk zur Kunsttheorie sind die Gedanken zur Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildkunst (1755). Darin enthalten sind einige der bis heute meistzitierten Sentenzen zur Antikenrezeption im 18. Jahrhundert. Sie drücken sich teils in vermeintlichen Paradoxien aus: Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und was jemand vom Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernt, der ihn wohl verstehen gelernt, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, sonderlich der Griechen. 50
Winckelmanns Pointe besteht darin, dass das Nachahmbare nachzuahmen, um selbst unnachahmlich zu werden, bedeuten würde, der Nachwelt dasselbe Prinzip zu verschließen, dessen man sich bedient, nämlich die Möglichkeit der Nachahmung. In diesem Sinn scheint Winckelmann, wie Batteux, ganz der perfectibilité und nicht so sehr der perfection als poetologischem Leitprinzip 50
Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung, 2.
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zu folgen. Die Aufbietung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten, um ein Vorbild zu erreichen, hat demgemäß zur Folge, das Vorbild in dieser Hinsicht zu übertreffen, nämlich unnachahmlich zu werden. Wenn man sich aber etwas Nachahmbares aneignen will, ist es fraglich, ob es in dem Moment der Aneignung seine Eigenschaft der Nachahmbarkeit verliert. Denn eben dies wäre ja die Bedingung, um selbst ›unnachahmlich‹ zu werden, wie es Winckelmann vorschwebt. Somit liegt hier ein anderer Ideal-Begriff zugrunde als noch bei Gottsched und in der französischen doctrine classique. 51 Was ist der Ausweg aus dieser scheinbar selbst geschaffenen Aporie? Winckelmann gibt hierauf eine bemerkenswerte Antwort: Diese häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der Natur veranlaßten die griechischen Künstler, noch weiter zu gehen. Sie fingen an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten sowohl einzelner Teile als ganzer Verhältnisse der Körper zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben sollten; ihr Urbild war eine bloß im Verstande entworfene geistige Natur. 52
Die Methode der Griechen besteht demnach darin, die Überbietung der Natur erst auf die Beobachtung der selbigen folgen zu lassen. Die Teile verhalten sich demnach zum Ganzen wie die Sinnlichkeit zur metaphysischen Größe. Offensichtlich will auch Winckelmann selbst nicht den Charakter von Kunstwerken aus unveränderlichen Mustern heraus deduzieren, sondern der diesseitigen Welt entnehmen, mithin aus der phänomenalen Natur heraus Schönheitsparadigmen entwickeln: Das schönste Nackende der Körper zeigt sich hier [sc. in der griechischen Bildhauerkunst] in so mannigfaltigen, wahrhaften und edlen Ständen und Stellungen, in die ein gedungenes Modell, welches in unseren Akademien aufgestellt ist, nicht zu setzen ist. Die innere Empfindung bildet den Charakter der WahrVgl. hierzu Franke (2006), 87: »Der Begriff der idealen Natur eint sämtliche klassizistischen Kunsttheorien von Bellori an; doch vom gemeinsamen Signifikat abgesehen, unterscheidet sich Winckelmanns Neoklassizismus grundsätzlich von der Kunsttheorie der Doctrine Classique. Während Winckelmann den Wahrheitsgehalt des Ideals an dem Geltungsanspruch der wahren Urbilder, den Spezies, orientiert und die wahre Darstellung der menschlichen Gestalt an der Vorstellung des Ebenbildes Gottes misst, hält sich der akademische Klassizismus dagegen an die NaturNormen gesellschaftlicher Erwartungen und an die allgemeine Gewohnheit, den Menschen nach den üblichen Klassen der Sozietät einzuordnen. Auch die Bedeutung der vraisemblance in der orthodoxen idée de la nature ist von der aristotelischen Poetik und traditionellen Rhetorik her zu verstehen, Winckelmanns Wahrscheinlichkeits-Begriff dagegen geht, in Entbehrung eingeborener substantieller Vorbilder und Prinzipien, aus dem empiristischen Epistem hervor«. Dass Franke in seinen ansonsten sehr zutreffenden Äußerungen vom »Signifikat« statt vom – hier passenderen – Signifikanten spricht, lässt sich wohl als Druckfehler verstehen. 52 Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung, 8. 51
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heit, und der Zeichner, welcher seinen Akademien denselben geben will, wird nicht einen Schatten des Wahren erhalten ohne eigene Ersetzung desjenigen, was eine ungerührte und gleichgültige Seele des Modells nicht empfindet, noch durch eine Aktion, die einer gewissen Empfindung oder Leidenschaft eigen ist, ausdrücken kann. 53
Der nackte Körper ist der Inbegriff von Schönheit, nicht das Wahre, nicht das Gute und auch nicht das Schöne ›an sich‹. Mehr noch, das Modell, der Inbegriff jeder idealistischen Ästhetik, 54 wird von Winckelmann dezidiert abgelehnt. Jede Kunst habe vielmehr bei den Sinnen zu beginnen und benötige keinerlei Urbild; erst der Verstand scheint ein solches zu benötigen. Der Verstand wiederum befindet sich, wie aus der psychologischen Ästhetik bekannt, erst am Ende eines Durchlaufens von den unteren in die höheren Seelenvermögen. Dieser Bereich wird von Winckelmann mit der »innere[n] Empfindung« zum Ausdruck gebracht. 55 Winckelmann, der aufgrund seines so berühmt gewordenen Paradigmas der edlen Einfalt und stillen Größe in der Forschung wie auch in feuilletonistischen Einlassungen nicht gerade selten für ein Vertreter der metaphysischen Kunsttheorie par excellence gehalten wird, 56 verfolgt also tatsächlich einen auf Sinne und Erfahrung beruhenden Ansatz zur Kunstontologie. Diese dem stereotypen Winckelmann-Bild nicht unbedingt entsprechende Tatsache wird von Franke treffend zugespitzt: Winckelmann sucht seine Kunstlehre allein auf Erfahrung zu bauen, offenbar hält er eine metaphysische Alternative nicht mehr für glaubwürdig, doch gerade diese Quelle der Wahrheit garantiert keine Objektivität, und so steht sein normativer Anspruch vor erheblichen Schwierigkeiten. Ein empiristisches Epistem der Zeit der Aufklärung, wie es Winckelmanns Ideal zugrunde liegt, darf zwar noch immer auf eine göttliche Instanz vertrauen, die dem Menschen Dinge soweit zukommen lässt, als es für seine allgemeinen Überlebenserfordernisse nötig ist: Verlässlich treten sie mit denjenigen einfachen Qualitäten auf, welche der Mensch an ihnen gewahr wird, sofern sie denn auf ihn treffen. 57
Die Ausführungen Frankes weisen, was kein Paradox ist, das Ideal Winckelmanns als ein nicht-idealistisches aus. Die Grundlegung jeglicher Idealität Ebd., 6 f. Eine solche klingt im »Schatten des Wahren« in Anspielung auf das platonische Höhlengleichnis an. 55 Vgl. hierzu Baumecker (1933). 56 Vgl. etwa Groß (2017), Gohlke (2012) und Kim (2002), 237–241. 57 Franke (2005), 63. 53 54
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entspringt erst der Wirklichkeit, mithin zu einem beachtlichen Teil auch der Kontingenz. Aber sind, mit Winckelmann gesprochen, die Griechen nicht dennoch zeitlos zu nennen, ihre Kunst nicht epochenübergreifend? Dies gelte eben nur, insofern sie zugleich sinnlich zu nennen seien. Für Winckelmann ergibt sich das Idealbild erst aus der Anschauung und nicht umgekehrt. Franke führt dementsprechend weiter aus: In seinen [Winckelmanns; D. B.] Schriften suspendiert der Vorteil der Natur der Griechen nicht wirklich von der Akzidenz der Erfahrung und garantiert keineswegs substantielles Wissen; aber er soll doch den Griechen einen Vorsprung wahrscheinlicherer, objektiverer Naturerkenntnis gegenüber den Modernen sichern: Zwar wäre nach Winckelmanns Ausführungen Erfahrung überhaupt in Antike und Moderne hinsichtlich der Natursubstanzen gleichermaßen akzidentiell, hinsichtlich der modernen Empirie aber würde die griechische relativ objektiver, mithin doch nicht in gleichem Grade akzidentiell gewesen sein. Keine empiristische Philosophie könnte für solch einen Beugungsversuch des Kontingenz-Prinzips garantieren, sie müsste über die Erfahrung hinausgehen. Doch wird Winckelmann den Umweg über die hypothetischen Naturmodelle und -gesetze derjenigen modernen Forschung seiner Zeit machen, die sich selbst wieder streng empirischer Wissenschaft verpflichtet sieht: Nunmehr leitet er die Wahrscheinlichkeit seiner Argumente, selbst phantastische Konstruktionen nicht scheuend, einfach dadurch her, dass sie mit derart wissenschaftlich gestützten Naturgesetzen vereinbar erscheinen. 58
Es kann an dieser Stelle genügen festzuhalten, dass sich die Theorie des Klassizismus in der dominanten Spielart Winckelmanns zur Mitte des 18. Jahrhunderts dergestalt ausnimmt, Transzendenz und Kontingenz in eine Kategorie der Objektivität zu integrieren. Dabei fasst der Klassizismus seine geschichtliche Dimension über die Setzung ontologischer Bedingungen, die selbst keiner platonischen Höhle, aber auch keinem ungebrochenen Empirismus entstammen. Ebenso wenig scheint aber auch die Notwendigkeit zu bestehen, auf den Aristotelismus zu pochen, um das Kontingenzprinzip zugunsten eines ›höheren‹ Ideals abzulösen. Die Erkenntnis der Natur, das von Homer bis Pindar anerkannte Prinzip, das für die Klassizität der Griechen einsteht, garantiert nicht länger Wahrheit als vielmehr Wahrscheinlichkeit. Das entspricht der Hinwendung zur empirischen Wirklichkeit in dem Maße, in dem man bereit ist, im Sinne eines hypothetice necessarium, wie Baumgarten es formulierte, für den Fortbestand von Notwendigkeit im Raum einer auf Ereignissen und Folgen beruhenden Realität einzutreten. Die Hinwendung zur Empirie ist demgemäß 58
Ebd., 66 f.
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noch keine einseitige Hinwendung zu den kontingent wirkenden Sinnen. Leitend ist vielmehr die Frage: Können nach dem großen Erfolg, den der Aristotelismus um 1700 herum zeitigte, Gegebenheiten (πράγµατα) und Handlungen (πράξεις) in eine auf Sinnlichkeit, auf der Aisthesis beruhenden Philosophie erneut eingegliedert werden? Denn bei allem Insistieren auf der Sinnlichkeit hält Winckelmann insgesamt dann doch am Paradigma der Nachahmung fest.
2. Psychomechanische Kritik am Nachahmungsparadigma
Wenn sich im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts Kritik an der Nachahmung als einem ersten poetischen Prinzip auftut, so hängt diese Kritik häufig von demjenigen ab, was in Kapitel iv.4 der Studie skizziert wurde – von der Ebene der Seelenkräfte. Um diese Bezugsebene im Vergleich mit der bis auf Platon und Aristoteles rückführbaren Nachahmungstheorie zu nobilitieren, bleiben die Ausführungen zur Seele in der Zeit der Aufklärung bisweilen auf den Aspekt der Unsterblichkeit der selbigen bezogen. Holzhey fügt dies zu einer Allgemeinaussage über die deutsche Aufklärung, die sich in dieser Frage konträr zur französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts verhalte: Während des ganzen 18. Jahrhunderts bleibt es eine allgemein geteilte Überzeugung, daß der Mensch eine unsterbliche Seele hat – trotz einer vereinzelt bereits in die Öffentlichkeit dringenden, schon von F. W. Stosch (Concordantia rationis et fidei 1692), dann aber vor allem von französischen Materialisten vertretenen gegenteiligen Position. Debattiert wird einerseits über das Wesen der Seele, insbesondere im Zusammenhang mit dem Nachweis ihrer Unsterblichkeit (rationale Psychologie), andererseits über die Erfassung der Lebensund Bewußtseinsprozesse mittels eines Konzepts seelischer Vermögen beziehungsweise Kräfte (empirische Psychologie). In diesen Problemkonstellationen oszilliert Seele zwischen Körper und Geist (mens). 59
In der Riege der von Holzhey angeführten »französischen Materialisten« – zu denen neben La Mettrie auch Hélvetius und D'Holbach zu zählen sind – werden in La Mettries L'Homme Machine die wohl prominentesten monistischen Schlüsse gezogen, die das Konzept einer unsterblichen Seele unterminieren. 60 Holzhey (2001), 379. Vgl. allgemein hierzu Becker (2009), x: »Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens galt La Mettries Schrift L’Homme machine selbst bei seinen aufgeklärten – die klassische Metaphysik in Frage stellenden – Zeitgenossen als druchweg skandalöses Pamphlet, das mit seinen sittenwidrigen Tendenzen nicht nur die moralische Grundlage der Gesellschaft zersetzte, sondern generell eine gefährliche Attacke gegen die Allianz von Kirche, Staat und Gesellschaft darstellte«. 59 60
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Im deutschsprachigen Raum wird die Unsterblichkeit der Seele, wie bereits in Baumgartens ästhetischen Schriften ersichtlich, jedoch nur selten als ästhetische Konstante erwogen, geschweige denn zum entscheidenden Argument für eine Psychomechanik verwendet. Die Blickrichtung geht vielmehr zur empirisch geleiteten Psychologie hin, die, wie in Kapitel iii.3.a und iv.4.d gesehen, zur Voraussetzung diejenigen Kräfte hat, die das Weltbild der Leibniz-WolffPhilosophie bestimmen. Mitnichten »oszillier[en]« Körper und Geist in den theoretischen Vorstufen einer psychomechanisch begründeten Poetik miteinander, vielmehr übertragen sie ihre Eigenschaften (Sinnlichkeit, Distinktheit, Vermischtheit, Dunkelheit, Klarheit) auf die Ebenen der Eindrücke, Vorstellungen und Begriffe. Es geht dann, im Sinne einer zweiseitg sinnlichen und metaphysischen Anschauung, um eine erfahrungsbasierte Alternative zum Rationalismus, die nicht im radikalen Empirismus oder Sensualismus enden muss. Jacobs bringt dieses zeitgenössische Streben auf die Formel der vorurteilsfreien Kritik: Der aufklärerische Drang, die Gegenstände der Erfahrung einer vorurteilsfreien Analyse zu unterwerfen, zeitigte auf dem Feld der Kunsttheorie schon früh radikale Gegenthesen zu der [. . . ] rationalistischen Position. 61
Jacobs' Einlassung zielt auf einen Gegensatz ab, der zwischen Erfahrung und Vernunft bestehe. Dieser Gegensatz ist in der Psychologie Wolffs mit der Gliederung nach einer Psychologia empirica und einer Psychologia rationalis auf seinen weithin eindeutigsten Nenner gebracht worden. In Konkurrenz zu dieser ganz auf die Seelenmechanik setzenden Philosophie stehen die klassifikatorischen, an Gegenständlichkeit orientierten Ordnungsbegriffe, wie wir sie bei Batteux sehen konnten. Nachahmung aber beruht bereits naturgemäß stets auf (Vor-)Urteilen, namentlich auf Qualitäts-, Autoritäts- oder Originalitätsurteilen über den nachzuahmenden Gegenstand beziehungsweise die nachzuahmende Person. Sie ist, wenn man so möchte, gegenüber der gerade keinem Vorurteil unterliegenden Tätigkeiten der unteren und mittleren Seelenvermögen 62 das weniger ›aufklärerische‹ Prinzip. Die Haltung, der Nachahmungspoetik weniger Raum zuzugestehen und sich stattdessen auf die Kräfte der eigenen Seele zu konzentrieren, wird spätestens in den 1740er Jahren an der Seite der und bisweilen gegen die imitatio naturae positioniert. Dabei werden bisweilen die unterschiedlichen Positionen auf einem begrifflichen Tableau nebeneinander gelegt. So tritt Carl-Friedrich Jacobs (2001), 103. Gemeint ist hier, dass das Urteilen, wie wir bei Gottsched in besonderer Betonung sahen, nun einmal eine Tätigkeit des Verstandes bedeutet. 61 62
Psychomechanische Kritik am Nachahmungsparadigma
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Brämer in seiner Gründlichen Untersuchung von dem wahren Begriffe der Dichtkunst (1744) als Kompilator der zu seiner Zeit gängigen Theorien zur Dichtkunst in Erscheinung. 63 Der Paradigmenwechsel zwischen der Nachahmungsästhetik der Frühaufklärung und den Affektpoetiken der Empfindsamkeit 64 lässt sich in nuce am Bruch ablesen, der zwischen den Paragraphen 72 und 73 stattfindet. In Paragraph 72 wird zunächst der Erfolg der auf Nachahmung, Geschmack und Wahrscheinlichkeit beruhenden Poetik Gottscheds angeführt; dies allerdings, um bereits von dort aus in eine Kritik der selbigen überzugehen: §. 72. Diese Begriffe des Herrn Gottscheds [sic] haben nicht wenig Anhänger unter den Deutschen. Man findet dieselben in den mehreren Schriften, so seit einiger Zeit sowohl in Leipzig, als anderen Orten herausgekommen sind. Selbst des Herrn Bodmers und Breitingers Gedanken sind so sehr von denselben nicht unterschieden, als uns einige Umstände zu überreden scheinen. Ueberhaupt nennen sie die Poesie eine Nachahmung der Natur; und ob sie gleich aus der Nachahmung des nicht würklichen oder aus den wahrscheinlichen Erdichtungen das Hauptwerk machen; so rechnen sie doch auch die Nachahmung des würklichen hieher. Was die gebundene Schreibart anlanget; so setzen sie ebenfals bald die Poesie der Prosa, und diese jener entgegen, als wenn die Verse ein nöthiges und wesentliches Stück derselben wären, bald erklären sie selbige vor etwas zufälliges. 65
Es wird ein gemeinsamer Gegner geschaffen, indem der Konsens in der Frage der Nachahmung hervorgehoben wird. Selbst der Streit zwischen Gottsched und den Schweizern Bodmer und Breitinger wird zu »Umstände[n]« regelrecht lapidarisiert. 66 In Paragraph 73 wird dann direkt Baumgarten, einerseits als Der Titel ist etwas irreführend. Weder handelt es sich um eine »Untersuchung«, vielmehr um eine in Paragraphen verfasste Poetik, noch ist diese besonders »gründlich« zu nennen. Sie geht eher extensiv vor, indem sie ganz unterschiedliche Positionen von der Antike bis hin zu zeitgenössischen Poetiken aufnimmt und nebeneinander stellt. Zur sozialen Rolle Brämers in der deutschen Poetikgeschichte, die durchaus von einem gewissen Außenseitertum gekennzeichnet war, vgl. Markwardt (1956), 119–127. 64 Zu dieser Strömung, die bisweilen auch als Epoche gehandelt wird und seit Langem eigene Forschungszweige ausgeprägt hat, zählen zur Mitte des 18. Jahrhunderts deutsche und schweizerische Dichter wie Klopstock, Uz, Gleim, Hagedorn und Gellert; vgl. hierzu Wegmann (1988) und Krüger (1972). 65 Brämer, Gründliche Untersuchung, Abschn. 1, cap. 3, § 72. 66 In diesem Streit, der nicht selten zur ›deutschen‹ Querelle verklärt wird, geht es nicht nur um die Frage nach dem Vorrang der Einbildungskraft vor Vernunftgesetzen – siehe etwa Breitingers Von dem Einfluße und Gebrauche der Einbildungskraft (1727) –, sondern auch um die Frage, ob die Antikenrezeption eine gänzlich ›rationale‹ Angelegenheit sei oder ob Kategorien wie das Wunderbare in aristotelischer Tradition einen festen Platz inner- oder außerhalb der Dichtkunst behaupten könnten – siehe etwa Bodmers Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der 63
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Ergänzung, andererseits auch als Gegenbild zur Nachahmungsästhetik Gottscheds angeführt: §. 73. Ausser diesen herrschenden Begriffen, hat Alex. Gottl. Baumgarten, vor einigen Jahren, in seiner Dissertation de nonnullis ad poema pertinentibus, einen ganz neuen Begrif von einem Gedicht gegeben, welcher unserer Aufmerksamkeit wehrt ist, weil er vom Herrn Baumgarten kommt. Er erkläret §.ix ein Gedicht, daß es sey oratio sensitiva perfecta, eine Rede oder Schrift, die vollkommen sinnlich ist. Eine Rede nennet er sinnlich, insoweit die darinn ausgedruckte Vorstellungen sinnlich sind, §. iv. und sinnliche Vorstellungen heißt er, welche man der unteren erkennenden Kraft zu danken hat, §. iii. Vollkommen sinnlich nennet er endlich eine Rede, insoweit das mannigfaltige darinn auf die Erkenntnis sinnlicher Vorstellungen abzielet, §. vii. Daraus leitet er nun her, daß einzele Dinge, Beyspiele, sinnliche Begierde, Gleichnisse, Beschreibungen, Träume, Erdichtungen, wunderbahre Sachen, eine tropische, zierliche, wohlklingende Schreibart ec. in einem Gedichte können angewendet werden. 67
Es handelt sich um einen Katalog an Eigenschaften eines Gedichts, in dem vieles vorkommt, nur nicht die Nachahmung. Stattdessen wird Baumgarten, wenn auch nicht zur Koryphäe, so doch zu einem reizvollen Impulsgeber für poetische Prinzipien erklärt, die unbedingte Aufmerksamkeit verdienten. Dass die Nachahmung in den 1740er Jahren keine vorbehaltlose Zustimmung erfährt, zeigt zudem Georg Friedrich Meier, der in der Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst (1747) ein regelrechtes Gegenmodell zu demjenigen entwirft, was wir in Kapitel v.1.a als Gottscheds Position skizziert hatten. Er polemisiert in der Beurtheilung gegen Gottscheds Odentheorie und beruft sich dabei, ähnlich wie Brämer, auf Baumgarten. 68 Meier geht unter anderem auf das zweite Kapitel der Critischen Dichtkunst ein. Dieses handelt von dem Charakter eines Dichters, der von Gottsched als völliges Pendant zur Vernunft bestimmt wird. Meier hingegen äußert sich in diesem Kontext ausführlich zu den Kräften des Dichters – und er tut dies in einem Facettenreichtum, der sich nicht anders als ein Gegenvorschlag zu Gottsched lesen lässt: Poesie (1740). Der Versuch, diese Divergenzen einzuebnen, mag sich konstellationsgeschichtlich aus der exzentrischen Perspektive Brämers auf die Intellektuellenstreits in Mitteleuropa ergeben; dennoch ist die rhetorische Strategie nicht zu unterschätzen, mit der Brämer einen »wahren Begriff« formulieren will, der von der Dichtkunst zu machen sei. 67 Brämer, Gründliche Untersuchung, Abschn. 1, cap. 3, § 73. 68 Vgl. zu dieser Polemik gegen Gottsched und gleichzeitigen Inanspruchnahme Baumgartens Krummacher (2013), 94 f. Demgegenüber will Décultot (2011) derartige Affronts gegen Gottsched erst in den 1750er Jahren mit Schriften wie den Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften erkennen.
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§. 37. Bey den Kräften eines Dichters, §. 36. muß man sie selbst, ihre Erlangung, und ihren Gebrauch unterscheiden. Was die Kräfte selbst betrift, so machen sie zusammengenommen in einem Dichter seinen poetischen Kopf aus ( ingenium & temperamentum poeticum). Wer diesen recht entwerfen will, der muß nicht nur diese Kräfte selbst nahmhaft machen, sondern zeigen, in welcher Proportion sie in dem Dichter angetroffen werden müssen. Ich kann das hier nur in der Kürze thun, und ich rechne zu den Erkenntniskräften, und zwar zu den untern und sinnlichen Kräften als das herrschende Vermögen, die Dichtungskraft ( facultas fingendi) als diejenigen Vermögen, ohne welche die Dichtungskraft nicht stat finden kan, oder nicht ihre gehörige Vollkommenheit und Stärcke bekommen kan. 69
Die Verschiebung der facultas fingendi von einer Funktion der Einbildungskraft zur Dichtungskraft schlechthin zeigt die neu gewonnene Bedeutung der mittleren Seelenkräfte an. Was darauf folgt, ist eine genaue Auflistung ebendieser mittleren Kräfte: ž ž ž ž ž ž
Eine gute Einbildungskraft Gesunder Witz Grosse Scharffsinnigkeit Ein guter Geschmack Ein gutes Bezeichnungsvermögen Ein gutes Vermögen vorherzusehen 70
Gottsched hatte noch den Geschmack zum Dreh- und Angelpunkt von Vernunft und ästhetischen Regeln erklärt; hier wird dieser Punkt eingegliedert in ein größeres System. Ebenso finden wir die von Leibniz, Wolff und Baumgarten her bekannte vis characteristica als »Bezeichnungsvermögen« repräsentiert. Meier geht im Folgenden auf die Erlangung der poetischen Kräfte und somit gleichzeitig auf die Bedingungen der Entfaltung ihrer Möglichkeiten ein: §. 38. Was die Erlangung der poetischen Kräfte betrift, §. 37, so bekomt ein Dichter dieselbe Durch die Geburth, das heißt, er muß ein gebohrner Dichter seyn. Durch seine Uebungen. Diese sind von doppelter Art a. solche Uebungen die er anstelt, ohne die Regeln der Kunst zu verstehen, und derselben sich bewußt zu seyn, wenn er diese Uebungen anstelt. b. solche Uebungen, die nach den Regeln der Kunst geschehen. 71 69 70 71
Meier, Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, Zweytes Stück, § 37. Ebd. Anführungspunkte im Original. Ebd., § 38.
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Aus den zwei Optionen der Naturanlage – dem Vorteil, »ein gebohrner Dichter« zu sein – einerseits und der Einübung speist sich das Konzept des Dichters überhaupt. Es sind somit die baumgartenschen Quellen, die Meier hier bemüht, das ingenium und die exercitatio. Zudem klingt in Meiers Punkt 2.a eine besondere Rolle des dichterischen Enthusiasmus an, die eine gewisse Regellosigkeit ins Spiel bringt. Und ebendieser Aspekt wird von Meier dann dezidiert weiter ausgeführt: §. 39. Zu dem Gebrauche der Kräfte eines Dichters, §. 37, gehört 1.
2.
3.
Die poetische Wuth und Begeisterung, oder derjenige Zustand eines Dichters, in welchem so viele Kräfte in dem Grade bey ihm würksam, lebendig und geschäftig sind, als nöthig ist, wenn er würklich poetisch dencken will. Die poetische Großmuth, oder der Rathschluß nichts anders als würdige Gedancken hervorzubringen. Durch diesen Rathschluß werden die Begehrungskräfte eines Dichters, §. 37, auf die gehörige Art würcksam gemacht. Das Bemühen der Ausbesserung, oder der Gebrauch der Beurtheilungskraft, die in der poetischen Wuth erzeugten Gedacken zu verbessern, das ist, die Fehler aus dem Wege zu räumen, und die Schönheiten zu vermehren, die es bedürfen. 72
Die »poethische Wuth« als Übertragung des furor poeticus und »[d]ie poetische Großmut« als Übertragung der µεγαλοπρέπεια beziehungsweise der magnitudo animae rufen die Bewegtheit der Seele und ihre Größe als die wesentlichen Ausdrücke zur Beschreibung der Kräfte eines Dichters auf. 15 Jahre nach Wolffs Psychologia empirica und zwölf Jahre nach Baumgartens Meditationes hat sich die psychologische Ästhetik endgültig diese Paradigmen substantiell angeeignet und bringt sie gegen mimetische Theorien in Stellung. Ein solcher Affront hat auch in den Folgejahren Bestand: 1757 erscheinen Georg Meiers Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften, die sich in vergleichbarer Form wie in der Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst gegen Gottsched, noch ausdrücklicher jedoch gegen Batteux richten. Mit Gottsched und Batteux auf der einen sowie Baumgarten und Meier auf der anderen Seite ist das grundlegende Feld abgesteckt, auf dem sich der weitere Aufstieg der Antike in der Mitte des 18. Jahrhunderts in ästhetischer und poetologischer Hinsicht vollziehen konnte, und zwar – wie bei Klopstock zu sehen sein wird – gegen die Nachahmung gerichtet und anhand der Favorisierung von Prinzipien aus der Psychomechanik.
72
Ebd., § 39.
Nachahmung als Bewegungsform: Die Antike in Klopstocks Poetik
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3. Nachahmung als Bewegungsform: Die Antike in Klopstocks Poetik
Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724–1803) Oden bilden, ganz ähnlich zur Art und Weise, wie sich Meier in seinen Beurtheilungen zu Gottsched positioniert, ein Gegenmodell zu Batteux' in den Beaux arts provokativ vorgetragener Mimesis-These. Klopstock nimmt nicht die Gegenstände der Dichtkunst als Objekte wahr, vielmehr vermeidet er Hypostasierungen, wo es nur geht. Das bedeutet indes nicht, dass die Topik seiner Gedichte – zumindest bis zur Zeit der in den 1760er Jahren einsetzenden Ossian-Rezeption – nicht antik oder klassisch zu nennen wäre; es bedeutet vor allem, dass der erste Ansatzpunkt zur Beschreibung der Wirkkraft des Altertums nicht die majestätische Größe, nicht das erhabene Alter und auch nicht die klassizistischen, selbst vorbildlichen Bearbeitungen durch die Franzosen sind. 73 Stattdessen sind es Kräfte und Bewegungen, die nach der Vernunftpoetik Gottscheds, der gegenständlichen Nachahmungspoetik Batteux' und der sinnlich-verklärenden Kunsttheorie Winckelmanns in ihr Recht gesetzt werden. Mehr als jeder deutschsprachige Dichter und Poetologe vor ihm bringt Klopstock Kraft und Bewegung als valide Größen in die Debatten ein und befördert damit eine neue Wirkästhetik, die auf die Strömung der Empfindsamkeit großen Einfluss nimmt. Klopstock begreift sich grosso modo durchaus als ein Nachahmer der Antike, aber die Nachahmung ist für ihn dynamischen Ursprungs. Sie kann sich nur energetisch fassen und fortsetzen lassen und ist zuvorderst auf die Rührung der Rezipienten ausgerichtet. Diese poetologische Entscheidung findet, wie noch genauer zu untersuchen sein wird, ihren bevorzugten Niederschlag im Paradigma der Wortbewegung. In der deutschen Literaturgeschichtsforschung ist die herausragende Stellung Klopstocks für die Ausprägung der deutschsprachigen Literatur im 18. Jahrhundert unbestritten; Gleiches gilt für populärwissenschaftliche Darstellungen. 74 Ebenso unbestritten ist die Funktion der Lyrik als einer der leitenden Gattungen für die Empfindsamkeit sowie die dafür wiederum
Letzteres konnte etwa für Gottsched gelten, der den französischen Klassizisten des späten 17. Jahrhunderts nicht nur in der Critischen Dichtkunst größten Respekt zollt. Gottscheds Neigung zu den Franzosen entspricht umgekehrt eine gewisse Vernachlässigung der Engländer; vgl. Baasner (2009), 47 f.: »Die Critische Dichtkunst benennt im Register ihrer im Umfang deutlich gewachsenen vierten Auflage von 1751 kaum mehr als zehn englischsprachige Poeten. Das setzt Grenzen der England-Rezeption in Gottscheds Anhängerschaft«. 74 Vgl. stellvertretend Wehrli (31992), 89, demzufolge die Veröffentlichung der Oden Klopstocks »mit einem Schlag die geheimsten Tendenzen der Zeit zu erfüllen schien und bis heute die Grenze bedeutet zwischen einer bloß historisch und einer noch unmittelbar verständlichen Epoche deutscher Lyrik«. 73
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leitende Rolle Klopstocks. 75 Wenn Klopstock überhaupt von Poesie spricht, so bezieht er sich damit in den meisten Fällen auf die Lyrik. Ganz in diesem Sinn behandelt er in seinem Traktat Gedanken über die Natur der Poesie (1759) das »Wesen der Poesie« und setzt es in Verbindung mit einer Bewegung, die von den Gegenständen herrühre und die vermittels der Sprache auf die Seele wirke: Das Wesen der Poesie besteht darin, daß sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unsrer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andre wirkt, und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt. 76
Wenn die Beschäftigung der Seele als deren innere Tätigkeit aufzufassen ist, so insistiert Klopstock in der Ergründung der Ursachen der Dichtkunst auf dem Begriff der Bewegung, die den Worten eingegeben sein müsse. Er nennt diese Bewegung »Aktion« und weist ihr eine Brückenfunktion zwischen den »tiefsten Geheimnisse[n]« der Poesie und dem »Vergnügen« an der Dichtkunst zu – und dies mit horazischer Beglaubigung: Die tiefsten Geheimnisse der Poesie liegen in der Aktion, in welche sie unsre Seele setzt. Überhaupt ist uns Aktion zu unserm Vergnügen wesentlich. Gemeine Dichter wollen, daß wir mit ihnen ein Pflanzenleben führen sollen. Batteux hat nach Aristoteles das Wesen der Poesie mit den scheinbarsten Gründen in der Nachahmung gesetzt. Aber wer tut, was Horaz sagt: »Wenn du willst, daß ich weinen soll; so mußt du selbst betrübt gewesen sein!« ahmt der bloß nach? Nur alsdann hat er bloß nachgeahmt, wenn ich nicht weinen werde. 77
Die von Klopstock angeführte »Aktion« hat auch als Allgemeinbegriff nicht mehr viel mit den actions of the mind zu tun, die etwa Hobbes für die Eindrücke, die auf die menschliche Seele wirken, veranschlagt wissen wollte. 78 Die »tiefsten Geheimnisse«, die sich in der Bewegung manifestieren, weisen eine größere Analogie zum fundus animae auf als zu einer auf den Empfang äußerer Sinnesdaten verpflichteten Philosophie. So wird der profunde Sitz der poetischen Vorstellungen auch im Stadium der Wortbewegung aufrechterhalten und setzt sich bin hin zur Rührung des Rezipienten fort. Die tiefsten Geheimnisse der Vgl. Stenzel (2001), 257: »Antikisierende Formen wählt dann (seit 1747) mit Horazischen Oden auch Klopstock, der im Hochgefühl des Messias-Dichters ein neues empfindsames Dichterideal verkörpert, nicht zuletzt im Pathos der von ihm entwickelten freien Rhythmen und einer anspruchsvollen, religiöse Vorstellungen säkularisierenden poetischen Sprache«. 76 Klopstock, Gedanken über die Natur der Poesie, 180. 77 Ebd., 181. 78 Vgl. Kapitel III .2.a der Studie. 75
Nachahmung als Bewegungsform: Die Antike in Klopstocks Poetik
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Poesie sind die tiefsten Geheimnisse der innerseelischen Bewegung. Insofern die Formel, in der dies prägnant zu fassen sei, in Horaz' si vis me flere tibi primum dolendum est zum Ausdruck kommt, wird ein sympathetisches Verhältnis zwischen Produzenten und Rezipienten benannt. 79 Wenn Klopstock diese Formel hier in eigener Übersetzung anführt, so arbeitet dies gerade nicht der Frage nach der Mustergültigkeit zu – für die Horaz gemessen an manchen Stellen in den Carmina und der Ars poetica fraglos ebenfalls eintreten könnte –, sondern manifestiert die ursächliche Verkettung zwischen dem poetischen Kunstwerk und der innerseelischen Empfindung. Die Verkörperung dieses Verhältnisses heißt dann nicht mehr Nachahmung, sondern Bewegung. Bewegung wird damit zum poetischen Prinzip schlechthin erklärt. Klopstock rückt von dieser Haltung auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nicht ab, wie der Traktat Von der Wortfolge (1779) zeigt. Darin werden zunächst die Prinzipien der Linearität und Sukzession, die in den sprachlichen Künsten herrschten, in Abgrenzung zur Malerei hervorgehoben: Das Reden, und die Musik lassen uns ihre Gegenstände nach und nach hören; die Malerei hingegen zeigt uns die ihrigen auf einmal, oder vielmehr beinah auf einmal. Dies verwandelt sich sogar in das ›nach und nach‹, wenn der Maler sehr viele Gestalten, und schlechte Gruppen gemacht hat; allein das soll hier nicht in Betracht kommen, und wir wollen jenes bei der Malerei annehmen. 80
Klopstock zieht Musik und Malerei vergleichend zur Poesie hinzu, um auf die Unterschiedlichkeit der künstlerischen Verfahrensweisen hinzuweisen und damit auch die Kompositionsweisen derselben zu erläutern. Während die Gleichzeitigkeit im Raum ein Hoheitsgebiet der Malerei darstellt, zeigt sich die Poesie aufgrund der zeitlichen Abfolge ihrer Kernelemente eher der Musik verwandt – eine Position, die nicht nur für Klopstock, sondern auch für die poetologischen Überlegungen Lessings und Herders in den 1760er und 1770er Jahren von Bedeutung ist. 81 Sukzession ist jedoch, als Fortschreiten in der Zeit, nichts anderes als Bewegung, und ihre Verkörperung in der Poesie (nicht so sehr in der Musik) ist nach Klopstock die Wortbewegung. Die wichtigste Bezugsgröße für das Prinzip der Wortbewegung stellt ein weiteres Mal Horaz dar: Eh ich weitergehe, und die Ursachen, warum der Dichter die Ordnung der Worte ändert, anführe, will ich eine Stelle aus einem Alten übersetzen, um den Begriff der Wortfolge überhaupt zu erläutern. Ich mache zwei Übersetzungen, Dieses Zitat wurde bereits in Kapitel II.1 der Studie als ein Grundparadigma für affektorientierte Poetiken eingeführt. 80 Klopstock, Von der Wortfolge, 174. 81 Dies wird in Kapitel v.6 der Studie noch genauer nachvollzogen werden. 79
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die erste mit unsrer, und die zweite mit der lateinischen Wortfolge. Ich beziehe mich hierbei auf das Urteil der Ungelehrten. Denn die Gelehrten können hier kaum mitsprechen, weil sie zu sehr an die Wortfolge der Alten gewöhnt sind. Horaz sagt (ich übersetze mit Fleiß beinah wörtlich) bei Gelegenheit, daß er den jungen Römer kriegerischer wünscht: »Ihn von der feindlichen Mauer erblickend seufze das Weib des kriegenden Fürsten, und ihre reife Tochter: Weh uns, wenn nur der in Schlachten unerfahrne königliche Bräutigam den beim Berühren wütenden Löwen nicht reizt, welchen der blutige Grimm mitten durch das Würgen fortreißt.« 82
Horaz wird hier in erster Linie nicht zu einem Modell oder Muster erklärt, sondern in Gestalt einer Übersetzung Wort für Wort, das heißt »mit Fleiß«, nachvollzogen. Bei der von Klopstock übersetzten Passage handelt es sich um die Verse 6–12 aus Horaz' carmen 3, 2. Sie lauten im Original: [. . . ] illum ex moenibus hosticis matrona bellantis tyranni prospiciens et adulta virgo
10
suspiret, eheu, ne rudis agminum sponsus lacessat regius asperum tactu leonem, quem cruenta per medias rapit ira caedes. 83
Die Form der dritten asklepiadeischen Strophe hält für sich genommen bereits einige Erfordernisse, wenn nicht gar Erschwernisse an die Wortfolge bereit. Sie entwickelt sich von zwei kleineren Asklepiadeen über einen Pherekrateus zu einem Glykoneus hin und setzt entsprechende phonologische Akzente, etwa in den S- (supiret / sponsus) und A-Lauten (agminum / asperum) der beiden Asklepiadeen. Klopstock selbst lässt das Original aber unzitiert und fährt überraschend unmittelbar fort: Und nun eben die Worte, aber nach Horazens Stellung: »Ihn von der Mauer feindlichen das Weib des kriegenden Fürsten erblickend, und ihre reife Tochter seufze: Weh uns, wenn nur nicht der unerfahrne in Schlachten Bräutigam reizt königliche den wütenden beim Berühren Löwen, welchen der blutige mitten durch fortreißt Grimm das Würgen.« Und dies ist gleichwohl eine von den schönsten poetischen Perioden, die Horaz gemacht hat. 84
82 83 84
Klopstock, Von der Wortfolge, 176 f. Hor., carm., 3, 2, 6–12. Klopstock, Von der Wortfolge, 177.
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Die fast schon sklavisch zu nennende Beachtung der Wortfolge in der zweiten von Klopstock vorgebrachten ›Übersetzung‹ erzeugt fortwährend ungrammatische Effekte; sie führt jedoch die Wortbewegung des horazischen carmen anhand des dort verfolgten Begriffsgangs genauer vor Augen, als es eine Übersetzung leisten kann, die der deutschen Syntax folgt. Es werden bestimmte Vorstellungen und Begriffe aufgerufen, die an einigen Stellen noch grammatisch sinnvoll zu verbinden sind. Klopstock begründet dies wie folgt: Ich sagte oben, bei Gelegenheit des schnelleren Denkens, daß man die Worte, wenn sie hier und da getrennt herumtaumelten, mit Zeitverluste zusammensuchen müßte. Und mich deucht ja, daß es die angeführte Strophe laut genug bestätigt. 85
Der implizite Schluss besteht darin, dass die Möglichkeiten des Lateinischen über diejenigen des Deutschen hinausgehen; zugleich verkörpern sie, gemäß dem Thema des Traktats, die Möglichkeiten der Wortbewegung in souveränerer Weise, als es das Deutsche für sich beanspruchen könnte. Was sich scheinbar wie eine Verballhornung des Originals liest, ist in Wahrheit eine nachdrückliche Zurschaustellung des artistischen Vermögens, das Horaz, die lateinische Sprache und damit die römische Antike überhaupt auszeichnet. Zudem erweist sich Klopstocks Übersetzungsartistik indirekt als ein Plädoyer für die originale Horaz-Lektüre anstelle einer verherrlichenden Nachahmung. Klopstock bietet im selbigen Traktat neben Horaz auch ein griechisches Beispiel. Zentral hierfür sind die Einlassungen zu Homer, der für Klopstock – ohne Ironie – als »der gute Alte« gilt: Die Griechen gingen in dieser Verwerfung der Worte nicht so weit, als die Römer. Homer ist unter jenen der Enthaltsamste. Der gute Alte, der überhaupt ein trefflicher Witterer war, mocht auch wohl davon wittern, daß diese Wortordnung Tücken hätte, die der Darstellung zuweilen wohl gar bis ans Leben kämen. Die Wortfolge nachstehender Stelle aus ihm ist beinah völlig deutsch: »Er stieg von des Olympus Höhn voll Zorn die Seele, den Bogen an der Schulter habend, den rings-verwahrten und Köcher. Es erklang das Geschoß an der Schulter des Zürnenden, des Einherstürmenden. Er ging der Nacht gleich. Er setzte sich hierauf fern von den Schiffen; und hin die Pfeile sandt er. Und ein furchtbarer Klang entstand des silbernen Bogens.« Ich glaube gefunden zu haben, wie die verworfne Wortfolge der Alten entstanden sei. Sie hatten eine Menge Wörter mit lauter Längen, oder lauter Kürzen; und diese Wörter waren noch dazu nicht selten viersilbig. Oft brachte die 85
Ebd.
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natürliche Wortordnung ihrer mehr von einer Art zusammen. Dies bald sehr langsame, und bald sehr schnelle Sprechen war denn nun nicht auszuhalten. Und so trennte man, was, der Gedankenfolge nach, zusammengehörte. 86
Bei der zitierten Stelle handelt es sich um die berühmte Rückzugsszene Achills vom Kampfgeschehen. Sie stammt aus dem ersten Buch der Ilias (Verse 44–49): 45
βῆ δὲ κατ᾽ Οὐλύµποιο καρήνων χωόµενος κῆρ, τόξ᾽ ὤµοισιν ἔχων ἀµφηρεφέα τε φαρέτρην· ἔκλαγξαν δ᾽ ἄρ᾽ ὀϊστοὶ ἐπ᾽ ὤµων χωοµένοιο, αὐτοῦ κινηθέντος· ὃ δ᾽ ἤιε νυκτὶ ἐοικώς. ἕζετ᾽ ἔπειτ᾽ ἀπάνευθε νεῶν, µετὰ δ᾽ ἰὸν ἕηκεν· δεινὴ δὲ κλαγγὴ γένετ᾽ ἀργυρέοιο βιοῖο[.] 87
Insgesamt zeigt sich in Klopstocks Übersetzung eine jambische Regulierung mit dem Bestreben, möglichst viele quantitative Längen des Originals mit deutschen Akzenten zu treffen. Selbst der hexametrische Schluss mit Daktylos und Spondeus (»silbernen Bogens«) kann dabei aufrecht erhalten werden und auf höherer Ebene die engere Verwandtschaft des Deutschen mit dem Griechischen als mit dem Lateinischen bezeugen. 88 Im Theorie-Fragment Vom deutschen Hexameter, das im selben Jahr wie Von der Wortfolge (1779) erscheint, heißt es diesbezüglich: Die lange Silbe des Daktyls, sagen die Griechen, ist kürzer, als die vollkommen lange. Gewisse Anapäste (deren Beschaffenheit aber nicht bestimmt wird) haben eben die unvollkommene Länge und werden dann Zirkel genannt. Katagan ist ein solcher Anapäst. Der bekannte Vers Homers: Authis epeita pedonde külindeto laas anaithäs hat lauter unvollkommene Längen. Wer sich überzeugen will, daß es auch bei uns so ist, der darf nur z. B. donnerte und Donnerton aussprechen, und er wird hören, daß Don in dem ersten Fuße kürzere Zeit, als in dem letzten währt. Jeder weiß, wie rasch der Anapäst ist, und daß daher auch seine Länge schnell ausgesprochen wird. Den Unterschied, den die Griechen zwischen den Anapästen machen, kennen wir nicht. Ich merke noch an, daß nach Homers Verse don und lin (man glaubte sogar, daß die anfangenden d d der beiden folgenden Silben verlängern hülfen,) auch Ebd., 177 f. Hom., Il., 1, 44–49. 88 Dies wird im 18. Jahrhundert bis hin zu Hölderlin ein Gemeinplatz sein; vgl. etwa Hölderlin, Griechenland (1795). 86 87
Nachahmung als Bewegungsform: Die Antike in Klopstocks Poetik
633
mit unter den unvollkommenen Längen der Griechen sind. Man muß also entweder die Wirkung der genannten Füße, als überstark, das sie doch sein kann, annehmen, oder zugestehen, daß sich überhaupt die griechischen Längen den unsrigen, denn sie und wir haben ihrer viele wie die angeführten, in Ansehung des Mechanischen (das aber bei uns nur Beschaffenheit ist) bis auf den Ton so ziemlich nähern. 89
Die Rekurrenz auf Homer und dessen Darstellung von Sisyphos führt das Prinzip der Wortbewegung als eine Bewegung von oben nach unten vor. 90 Es wird von Klopstock aber vor allem auf die Intensivierung des Metrums übertragen. Denn die Wirkung der Metrik liegt hier in einem Übermaß, in dem Zugeständnis, dass sie »überstark« seien, begründet, und zwar »in Ansehung des Mechanischen«. Somit geht es hierbei letztlich auch um Sprunghaftigkeit: »Wenn eine Länge, die den Sprachton nicht hat, mit Leidenschaft soll ausgesprochen werden, so muß der Redende einen Sprung tun.« 91 Die Bewegung der Worte entspricht im Altgriechischen der Bewegung ihrer Quantitäten. Diese aber werden von Klopstock auf die Dauer der jeweiligen Silben im Deutschen in mechanischer Hinsicht bezogen. 92 Mag auch das Griechische weniger frei in der Auslegung der Zeitabstände seiner Silben sein und das Deutsche umgekehrt dem Versbau weniger Freiraum in der Dynamik, namentlich seiner Akzentuierung, zugestehen, so können sich deutsche und griechische Dichtersprache doch über die Mechanik, die ihrer Sprache jeweils zu eigen ist, einander annähern.
Klopstock, Vom deutschen Hexameter, 85 f. Der von Klopstock angeführte Vers entspricht Hom., Od., 11, 598: »αὖτις ἔπειτα πέδονδε κυλίνδετο λᾶας ἀναιδής.« (»Daraufhin rollte sogleich der tückische Steinblock die Ebene hinab.«) Hiermit ist der Moment beschrieben, in dem Odysseus in der Unterwelt beobachtet, wie Sisyphos der Stein entgleitet. 91 Klopstock, Vom deutschen Hexameter, 86. 92 Menninghaus betont diesen Umstand ebenfalls, bezieht ihn allerdings auf die freie Bestimmbarkeit, die dem Dichter im Prozess der Versifizierung zugestanden werden müsse: »Die mechanische Dauer der Silben ist im Deutschen durch Vers, Kontext und ›Vorstellung‹ des Lesers weitgehend frei bestimmbar; insofern hat der deutsche Vers größere Rechte über die Sprache als der griechische, der mit eindeutig festgelegten Zeitwerten der Silben zu rechnen hat. Umgekehrt, nämlich in dynamischer Hinsicht, sieht Klopstock im Deutschen die Rechte des Verses über die Sprache gerade eingeschränkt.« (Menninghaus [1989], 298). 89
90
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4. Die Psychomechanik der antiken Gattungen 4.a. Die Ode
Der gemeinsame Nenner, auf den sich die Diskurse um dichterische Kraft und Antike in den Odentheorien des 18. Jahrhunderts verständigen können, ist der ἐνθουσιασµός (enthousiasmós). Dies wurde in jüngerer Zeit, besonders mit Blick auf poetologische Traktate der 1750er und 1760er Jahre, von Krummacher betont: Es ist allen diesen Dokumenten zur Odentheorie aus den 50er und 60er Jahren des 18. Jahrhunderts gemeinsam, daß sie die Ode als ein Zeugnis begeisterter dichterischer Einbildungskraft auffassen. Sie bringen damit keineswegs etwas völlig Neues in die Theorie der Ode. Sie knüpfen vielmehr an das schon in der humanistischen und barocken Poetik aus antiker Überlieferung gegenwärtige und da und dort auch mit Erscheinungen lyrischer Dichtung verknüpfte Stichwort vom ἐνθουσιασµός, vom furor poeticus an, das freilich, auch wenn man vielleicht eine Erscheinung wie die pindarischen Oden des Gryphius mit seiner Tradierung zusammenbringen kann, nur eines unter anderen herkömmlichen Merkmalen der Oden oder Lieder war. 93
Die gerade im Vergleich zum 17. Jahrhundert deutlich höhere Rekurrenz auf den ἐνθουσιασµός, sowie dessen Einstufung als einer für die Ode gattungskonstitutiven Größe, wird von Krummacher im Kontext der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu Recht als das Merkmal einer »antiken Überlieferung« eingestuft. Mit der Rückführung auf und gleichzeitigen Zentrierung des ἐνθουσιασµός wird jedoch zugleich die Möglichkeit leicht preisgegeben, differenziert auf dasjenige zu blicken, was die innere Mechanik der Ode ausmacht. Anders gewendet: Mit dem ἐνθουσιασµός lässt sich praktisch alles Lyrische auf ein irreduzibles Prinzip rückführen und somit auch alles Irrationale mit Irrationalem erklären; in einer Größe, die alles erklärt, liegt jedoch, so viel muss eingestanden werden, zugleich ihre Schwäche begründet. Wenn der ἐνθουσιασµός also Kräfte begründet – und dies tut er seit Platons Ion – stellen sich unverändert die Fragen, von welcher Art diese Kräfte sind und wie sich zueinander zu verhalten haben. Einen gleichfalls verkürzten Ansatz verfolgt Riedel, wenn er für das 18. Jahrhundert feststellt: Hier, auf ästhetischem Gebiet, zeigt jenes Dunkle und Unbewußte, wie könnte es anders sein, sein freundliches Antlitz. Hier liegen, so meine Vermutung, die Wurzeln für einen begriffsgeschichtlichen Strang, den ich den enthusiastischen 93
Krummacher (2013), 98 f.
Die Psychomechanik der antiken Gattungen
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nennen möchte, und der, über die wesentlichen Etappen Herder, Schelling, Hartmann, Nietzsche und Jung laufend, das Unbewußte als ›deus in nobis‹ und Quelle aller seelischen und geistigen Produktivität begreift. 94
Riedel setzt, wie im Übrigen auch Schneider, 95 das Dunkle mit dem Enthusiasmos erheblich gleich, wenn er sagt, es liege ganz an der Ästhetik, am »ästhetischem Gebiet«, die Legitimierung für das Unbewusste als Grundlage des Lyrischen zu liefern. Die von Riedel angesprochenen »Wurzeln« können jedoch nicht am Unbewussten allein festgemacht werden, sondern sind – wie in den Kapiteln iii.1.c.α und iv.4.b der Studie gezeigt – von der aus der Mechanik entstandenen Auffassung von einer intima rerum gekennzeichnet. Die Begrifflichkeiten, mit denen operiert wird, sind aus denjenigen der mechanistischen Tradition heraus zu erklären. Anders gewendet: Der von Riedel bemühte deus in nobis bildet ein relevantes, bei weitem aber nicht mehr das einzige Paradigma zur Erklärung des ἐνθουσιασµός im 18. Jahrhundert. Die unmittelbare Verbindung zwischen einem Gott und einer dichterischen Entrücktheit ist ein Resultat psychomechanischen Denkens, nicht so sehr einer auf heidnischen Gottesvorstellungen basierenden Poetologie. 96 Die antike Denkungsart ist nicht mit ihrer frühneuzeitlichen Rezeption gleichzusetzen. Zur besseren Beantwortung dieser Fragen wird im Folgenden der Traktat Von der Ode (1763) in Betracht gezogen. Darin finden sich zahlreiche Aspekte ausgeführt, die auch im poetologischen Verständnis von Herder, Sulzer, Gerstenberg oder Mendelssohn ausmachbar sind; in Von der Ode spiegeln sich die Grundgrößen der zeitgenössischen Diskussionen zur Ästhetik und Affektenlehre wider, wodurch er – ungeachtet der der Tatsache, dass er anonym veröffentlicht wurde und sein Verfasser bis heute nicht sicher bekannt ist – 97 dazu dienen kann, ein vertiefendes Verständnis von demjenigen zu gewinnen, was in Kapitel iv.4 der Studie als psychomechanische Ästhetik bestimmt wurde. Es geht somit um die Überführung einer Ästhetik auf die poetologische Ebene der Gattungstheorie. Der Verfasser stellt früh den Anspruch des Traktats aus, indem er ankündigt, nichts weniger als das »Wesen der Ode« 98 bestimmen zu Riedel (1994), 422. Vgl. passim Schneider (52010). 96 Bereits in Kapitel III .3.a der Studie konnten wir sehen, dass der deus von Leibniz von seiner Funktion eines Ausgangspunktes der dichterischen Kraft – wie es im Ion noch der Fall war – hin zum Ziel der dichterischen Kraft invertiert wurde. 97 Er stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem persönlichen Umfeld Lessings; es könnte sich auch um Lessing selbst handeln. Erstmals publiziert wurde der Traktat 1763 in den Vermischten Beyträgen zur Philosophie und den schönen Wissenschaften (1762–1764); somit ist der ungewissen Urheberschaft zum Trotz von einer raschen und großen Verbreitung auszugehen. Als Untertitel findet sich in den Vermischten Beyträgen »Ein Versuch«. 98 Anonymus, Von der Ode, 155. 94 95
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wollen. Auffälligerweise schreibt sich dieses »Wesen« im Folgenden nicht in streng essentielle Bestimmungsweisen im Sinne des Platonismus oder Aristotelismus ein, sondern wird zu einem psychomechanischen Moment ausgearbeitet. Dieses Moment lautet »Hauptaffekt«. 99 Er steht für die Rührung beim Rezipienten ein und vermag es, den ἐνθουσιασµός auf eine Ebene mit anderen poetologischen Größen zu bringen. Deren wichtigste, die der Ode als Gattung zuzuschreiben seien, werden demzufolge als Enthusiasmus, Schwung, schöne Unordnung, Kürze, Wahrscheinlichkeit und Einheit festgehalten. 100 Als antike Bezugsgrößen klingen im Rahmen dieses Katalogs Longin (›Schwung‹), Aristoteles (›Wahrscheinlichkeit‹), Horaz (›Einheit‹) und die Inspirationstheorie selbst (›Enthusiasmus‹) an. Sie alle arbeiten hier aber einem gemeinsamen Ziel, eben dem Hauptaffekt, zu und werden dadurch auf eine Begründungsebene gebracht, die sich der Intensivierung seelischer Kräfte verschreibt. Hierfür bezeichnend ist, dass über Begriffe wie »Grad«, »Lebhaftigkeit«, »Affekt« sowie »unter[es] Begehrungsvermögen der Seele« 101 Elemente aus der Vermögenslehre der Ästhetik zur Geltung kommen. Vermehrt in den Blick rücken hierbei die Rührung und das Empfindungsvermögen; so sei die Ode vor allem aus dem Grund schön zu nennen, weil sie rührt, und [der Odenkritiker wird] uns noch einen nähern Grund davon angeben, weil sie empfindungsvoll ist. Alle diejenigen, welche mit Geschmack die Doris, die Ewigkeit, oder auch den Pindar, Horaz und Anakreon gelesen, werden mit diesem Urtheile übereinstimmen. Also ist die eigentliche Wirkung der Ode, die sie in der Seele eines jeden, der fähig ist, die Schönheiten der Gedichte zu empfinden, zurückläßt, – die Rührung. Der Grund von dieser Veränderung der Seele liegt also in der Ode. Es muß folglich in derselben eine Menge von Bildern enthalten seyn, welche Abdrücke von starken und lebhaften Empfindungen sind. Diese Empfindungen, wenn sie sich in einem Punkt vereinigen, welches die Hauptempfindung ist, verursachen eine gewisse Veränderung in der Seele, welche der Affekt genennet wird. Sie müssen sich aber vereinigen, denn sonst wäre es wider die eigenthümliche Schönheit des Gedichts. Da nun die Empfindungen einfach oder zusammengesetzt, rein oder vermischt, lebhaft, stark, erhaben sind; die Vollkommenheiten oder Unvollkommenheiten der menschlichen Seele, des Körpers und äußern Zustandes, die Schönheiten der Natur und Kunst zum Gegenstande haben; die Affekten aber aus der Vereinigung derselben entstehen; die Ode aber zu allen Arten der Empfindungen fähig ist; so folgt, daß sie auch zu allen Arten der Affekten Ebd., 156 und passim. Vgl. ebd., 157–165. 101 Vgl. ebd. 99
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aufgelegt ist. Die Affekten [sic] können entweder alle zu einem Hauptaffekt sich vereinigen oder nicht; in dem ersten Falle ist der Affekt zusammengedrängt, stark, von kurzer Dauer. Ein Gedicht aber, worinn ein zusammengedrängter Affekt herrscht, nennt man Ode. 102
Schönheit hat hier nicht mehr den Status einer klassischen Idealvorstellung inne, sondern entspricht einer Vereinigung von Affekten. Hauptaffekt und Hauptempfindung werden hier praktisch gleichgesetzt. Auch die Bilder, die sich in der Ode befinden, sind dementsprechend nichts anderes als »Abdrücke von starken und lebhaften Empfindungen«. Hierfür werden entsprechende Beispiele aus dem 18. Jahrhundert angeführt, namentlich Albrecht von Hallers Doris (1732) und Die Ewigkeit (1743); 103 der Bezug zur Antike folgt unmittelbar darauf, nämlich mit Horaz, Pindar und Anakreon, den in der Mitte des 18. Jahrhunderts meistrezipierten antiken Lyrikern. Der Verfasser verbindet in der zitierten Stelle die Gegenwart mit der Antike, wie er die Schönheit an die Affektpoetik bindet. Wichtiger als der kanonische, weil weithin tradierte Status der angeführten Dichter sind die psychomechanischen Begründungsmuster der hier verfochtenen Poetik: Bilder werden nicht als strenge Kompositionen in räumlich-malerischer Form, sondern in erster Linie als Abdrücke von Empfindungen gefasst. Es bleibt hier aber nicht bei einem tabula rasa-Konzept in dem Sinn, dass es reichen könnte, die menschliche Seele einer Tafel gleich zu beschreiben, sondern es werden die Umschwünge in der Seele betont, die durch jene Abdrücke verursacht werden und schließlich die Affekte herbeiführen, welche dann auch die Ode als Gattung auszeichnen. Versammeln sich die Affekte in der Seele in dichtgedrängter Form, so ist das wesentliche Ziel der Ode erreicht. Weiter heißt es hierzu: Laßt uns noch aus einem andern Gesichtspunkte zeigen, daß das Wesen der Ode im Affektvollen oder in der Zusammendrängung des Affekts bestehe. Das Gedicht überhaupt betrachtet, ist eine vollkommen sinnlich schöne Rede. Also besteht es aus undeutlichen Vorstellungen in allgemeiner Bedeutung genommen. Diese werden aber von den untern Seelenvermögen bewirkt. [. . . ] Ein starker, heftiger Affekt wird, ohne daß er mit andern Empfindungen abwechselt, von keiner langen Dauer sein. Folglich ist die Ode ein kurzes vollkommen affektvolles Gedichte. 104 Ebd., 155 f. Der vollständige Titel lautet Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit. Das Gedicht Doris wiederum wird in Klopstocks berühmter Freundschaftsode Der Zürchersee (1750) empfindsam gewürdigt: »Hallers Doris, die sang, selber des Liedes werth, Hirzels Daphne, den Kleist innig wie Gleimen liebt.« (Klopstock, Der Zürchersee, 21 f.). 104 Anonymus, Von der Ode, 156. 102 103
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Mit dem Begriff der »vollkommen sinnlich schöne[n] Rede« wird auf Baumgarten und dessen Ästhetik rekurriert. Zu dieser neuzeitlichen Bezugsgröße tritt aber auch ein antiker Autor, der für den benannten höchsten Grad des lebhaften Affekts einstehen könne. Nach den Erkenntnissen, die wir in Kapitel iv.5.c der Studie gewonnen hatten, ist es nicht überraschend, dass Horaz hierfür herangezogen wird. Wenn die Ode aus einer Folge kurzer enthusiastischer Affekte besteht, 105 stellt sich die Frage, was den enthusiastischen Charakter von Affekten ausmacht. Der Verfasser führt dies zunächst anhand der poetologischen Position Horaz' vor, um Horaz dann als vorzügliches, lyrisches Beispiel zu nehmen, wie der Enthusiasmus energetisch zu wecken sei: [D]araus wird ein Ganzes entstehn, das den empfindenden Leser mitreißt, und welches einen Dichter entdeckt, den Horaz schildert: Cui mens divinior atque os magna sonaturum. Der Affekt wird auf derjenigen Seite gemahlt werden, wo er am schönsten ist, er ist es aber, wenn er am lebhaftesten vorgestellt wird. Ein hoher Grad des lebhaften Affekts ist das Feuer desselben. Eine jede Ode aber besteht aus affektvollen Bildern, die lebhaft gemacht sind, weil es die wesentliche Schönheit dieses Gedichtes erfordert. Sie muß also den bestimmten Grad des lebhaften Affekts haben, den der Gegenstand fordert. Dieser Grad aber ist das Feuer. Man muß daher in jeder Ode einen Enthusiasmus entdecken. Wenn der Dichter sich in dieser Situation befindet, wird er sagen: Bacchum in remotis carmina rupibus Vidi docentem, credite, posteri, Nymphasque discentes, et aures Capripedum Satyrorum acutas. Euoe, recenti mens trepidat metu, Plenoque Bacchi pectore turbidum Laetatur. Euoe, parce, Liber, Parce, gravi metuende thyrso. Dann wird er begeistert rufen: Wohin, wohin reißt ungewohnte Wuth Mich auf der Ode kühnen Flügeln, Fern von der leisen Fluth Am niedern Helikon und jenen Lorbeer-Hügeln? Diesem Aspekt ist in dem Traktat ein eigenes kurzes Unterkapitel zugeordnet; vgl. ebd., 163. Allzu lange Oden hätten demnach »mehr die kalte Miene des Dogmatischen, als die glühende Hitze des Affekts« (ebd.) und ähnelten eben darin dem Lehrgedicht. Auf diesen Aspekt wird in Kapitel v.4.c noch genauer einzugehen sein. 105
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Ich fliehe stolz der sterblichen Revier; Ich eil in unbeflogne Höhen. Wie keichet hinter mir Der Vogel Jupiters, beschämt, mir nachzusehen! In Gegenden, wo mein entzücktes Ohr Der Sphären Harmonie verwirret, O Muse! Fleug mir vor, Du, deren freyer Flug oft irrt, sich nicht verirret! Ich folge dir bald bis zur Sonnen hin, Bald in den ungebahnten Haynen, Mit Libers Priesterinn, Wo keine Muse gieng und andre Sterne scheinen. 106
Der Enthusiasmus wird als eine aufwallende Einbildungskraft begriffen, verkörpert durch starke Empfindungen. Wenn es hier gleich zu Beginn heißt, dass »[d]araus [. . . ] ein Ganzes entstehn [wird]«, klingt das klassische Kompositionsziel des horazischen unum, ja des aristotelischen ὅλον an. 107 Allerdings meint hier die Geschlossenheit des Werks die Erzeugung eines Hauptaffekts gemäß einer nach affektiven Teileinheiten geordneten Struktur, nicht so sehr die Vereinbarkeit der Glieder (membra) eines abzubildenden Gegenstandes. Wir erfahren zudem, dass jeder Enthusiasmus seine Grade hat. Dazu gehört auch, dass in einer Ode, die stärkere Affekte hat, mehr Begeisterung angetroffen werden muss, als in derjenigen, in welcher der Affekt nicht so heftig ist. 108 Die stärksten Empfindungen, die zum Enthusiasmus befähigen, sind mihin die lebhaftesten. Die lebendigste Kraft entspricht damit auch der höchsten Eindruckskraft. An genau dieser Stelle treffen sich im Text Horaz und Uz – jener vertreten durch das carmen 2, 19, dieser durch die Ode An die lyrische Muse (1749). Bemerkenswerterweise erinnert das Gedicht Uz' in seiner Diktion aber eher an das horazische carmen 3, 25: Bereits der Eingangstopos »Wohin, wohin reißt ungewohnte Wuth / Mich auf der Ode kühnen Flügeln« deutet auf die Ergriffenheit des Sprechers durch eine ekstatische Kraft hin, wie es Horaz mit »Quo me, Bacche, rapis tui / plenum« 109 zu Beginn seiner Ode vorschwebt. Somit wird eine doppelte poetologische Funktion vorgeführt, die Bacchus und damit indirekt auch Horaz zukommt – zum einen als »Lieder lehrende[m]«, 110 Ebd., 158 f. Vgl. Kapitel IV.4.d der Studie. 108 Vgl. Anonymus, Von der Ode, 158 f. 109 Hor., carm., 3, 25, 1 f.: »Wohin reißt Du, Bacchus, mich, der ich von dir / angefüllt bin?«. 110 Ebd., 2, 19, 1 f.: »carmina [. . . ] / docentem« – hier vom Verfasser im ersten Teil wörtlich mitzitiert. Für eine ausführliche Analyse dieser Ode vgl. zuletzt Harrison (2017). 106 107
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zum anderen als mitreißender Kraft, die innerlich und äußerlich wirkt: Der Sprecher ist mit Bacchus angefüllt (plenum) und wird im selben Zuge von ihm fortgerissen (rapere). Der zeitgenössische Odendichter füllt sich damit an, bis er in seinen Liedern einen so hohen und schnellen Flug annimmt, dass ihm selbst der Adler Jupiters nur noch hinterherfliegen könne. Horaz wird durch seinen Enthusiasmus, durch sein tiefes Verständnis hinsichtlich rationaler und irrationaler Kräfte zur Kristallisationsfigur der Hingerissenheit. Antike und Empfindsamkeit treffen sich nicht nur im Enthusiasmos, sondern zumal in den »affektvollen Bildern«, in denen das ut pictura poesis-Paradigma, nunmehr begründet durch die Affektenlehre, fortlebt. Horaz, Haller und Uz gleichen sich auch hinsichtlich des »odenmäßigen Schwung[s]«, 111 in dem sich der Enthusiasmos ausdrücke. Vorsicht sei indes dahingegend geboten, dass der Schwung nicht allzu beständig ausfallen dürfe, da die Ode sonst das »Schicksal des Ikarus« 112 erfahre. Der Dichter darf sich sozusagen an mehreren, jedoch nicht allen Stellen zum Reiz der hohen Empfindung aufschwingen und dem Adler Jupiters vorausfliegen. Der in der Ode enthaltene Hauptaffekt hängt also aus psychomechanischer Sicht von den Schwüngen ab, die der Dichter in sein Werk legt. Der Schwung kann im strophischen Lauf zu- und abnehmen und lässt sich als Zusammendrängung einzelner Affekte verstehen, aus denen dann eine Bewegung nach oben hin resultiert. Ein Schwung entwickelt, gemäß dem Ziel der Ode, aus einer Vielzahl gedrungener Affekte heraus einen Hauptaffekt. Wenn die Bewegung von unten nach oben gerichtet wird, so ist das Ziel des Enthusiasmos das Erhabene. Die Funktionsweise des Schwungs wird in Von der Ode auf bemerkenswerte Weise durchgespielt. Legt man nämlich diesen Gesichtspunkt konsequent an, so könne manches horazische carmen streng genommen nur noch fragmentarisch zitiert werden: [S]o werden wir auch nur in einzelnen Stellen der Ode die Spuren des Schwunges entdecken. Dieses sind aber diejenigen, wo der Vereinigungspunkt der Schönheit sich befindet. Die schönsten Stellen in einer Ode machen folglich diesen Schwung aus. So wird man zugestehn, daß in der Ode des Horaz Justum et tenacem etc. folgende Stellen einen Schwung enthalten: Si fractus illabatur orbis Impavidum ferient ruinae. –––
111 112
Anonymus, Von der Ode, 159. Ebd.
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Ilion, Ilion Fatalis incestusque iudex Et mulier peregrina vertit In pulverem – ––– Troiae renascens alite lugubri Fortuna tristi clade iterabitur, Ducente vitrices catervas Coniuge me Iovis et sonore. Ter si resurgat murus aëneus Auctore Phoebo, ter pereat meis Excisus Argivis, ter uxor Capta virum puerosque ploret. 113
Die Form der Rezeption von Hor., carm., 3, 3 hat hier nichts mehr mit Mustern und Modellen, mit Idealen und Sinnbildern zu tun. Horaz wird, nachdem er zunächst so innig gelobt wurde, regelrecht zurecht gestutzt. 114 Dieses Zurechtstutzen ist jedoch paradoxerweise Zeichen der Wertschätzung, und die Legitimierung hierfür bietet das Paradigma des Schwungs. Dass von den 18 Strophen des carmen nur die 16. und 17. vollständig zitiert werden, weist darauf hin, dass der Schwung, jedenfalls nach Auffassung des Verfassers, gegen Ende der Ode zunimmt. In derselben Manier werden im Folgenden Albrecht von Hallers Ode Über die Ehre (1728) und Johann Peter Uz' Ode Die wahre Größe (1751) angeführt. Auch hier werden nur die Stellen, von denen Schwung ausgehe, übernommen. 115 Die Oden nehmen dabei geradezu die Form eines Torsos an. Die herausgestellten Oden-Fragmente sind, so merkwürdig das anmuten mag, daher zugleich auch Zeugnisse eines zentralen Wesensmerkmals der Ode als Gattung. Es handelt sich um eine regelrechte Laborsituation, in der sie untersucht wird: Die Intensität der Schwingungen wird anhand des Textmaterials gemessen, und nur die ausschlaggebenden Stellen aus den entsprechenden Oden werden zur Darstellung gebracht.
Ebd., 159 f. Der vom Verfasser fragmentiert zitierte Teil des carmen setzt beim alkäischen Neunsilber der zweiten Strophe ein und reicht bis zum alkäischen Zehnsilber der 17. Strophe. 115 Vgl. Anonymus, Von der Ode, 161. Auf diese Weise bleiben von ursprünglich 18 Strophen der Ode Die wahre Größe gerade einmal sechs bestehen. Von Hallers Ode Über die Ehre werden von 80 Versen noch ganze 15 angeführt. 113 114
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Zu den Schwingungen wird ein seit Aristoteles' prominent verfochtenen σύστασις und σύνθεσις als zentral erachtetes 116 und von Baumgarten weiter fortgeschriebenes 117 Kriterium für das Wesen poetischer Werke hinzugefügt: die Ordnung der Gegenstände im Gedicht. Es tritt hierbei jedoch eine scheinbare Gegenbewertung zu Aristoteles und Horaz auf; namentlich ist es das Kriterium der ›schönen Unordnung‹ auf, in dem sich das klassizistische Paradigma von der Einheit in der Mannigfaltigkeit mit den Forderungen Baumgartens an den nexus beziehungsweise die series repraesentationum auf neue Weise verbinden soll: In der Ode muß eine Unordnung herrschen. Die Ode ist ein lebhaftes Gemälde der Affekten [sic]; also der auf einander folgenden Empfindungen im Affekt, diese aber sind der Folge der Vorstellungen, in genauester Bedeutung genommen, unähnlich, also unordentlich. 118
Die Vorstellungen prägen idealerweise dieselbe Reihung aus wie die Affekte und umgekehrt. Die Unähnlichkeiten zwischen den Elementen sollen einer Unordnung entsprechen, und die Unordnung hat wiederum positive Auswirkungen auf die Empfindungen. Sie bilden durch diese Verschränkung von Vorstellungen und Affekten ein »lebhaftes Gemälde«. 119 Wenn Aristoteles das δυνατόν und dessen Teilaspekt des εἰκός auf Gegenstände mit poetischem Potential bezog, so wird das Potential der Verbindungen zwischen den poetischen Teileinheiten hier auf die lebendige Gefühlswelt des Rezipienten projiziert. Mithilfe der series verschiebt sich somit ausdrücklich auch das Kriterium der Wahrscheinlichkeit: »Die Wahrscheinlichkeit der Empfindung oder des Affekts ist die mögliche Verbindung derselben.« 120 Weiter heißt es: Man muß also die Wahrscheinlichkeit in der Ode nach den Gesetzen der unteren Begehrungsvermögen der Seele beurtheilen. In einer jeden Ode muss so viel Wahrscheinlichkeit seyn, als der Affekt erfordert. 121
Das Wahrscheinliche zwischen Affekt und unteren Seelenvermögen auszurichten, ist die Zuspitzung der in Kapitel ii.5.a.δ gezeichneten Kippfigur, dass der Dichter sich gelegentlich auch vom Glaubwürdigen (πιθανόν) ab- und dafür Vgl. Kapitel II.5.a.α der Studie. Vgl. Kapitel IV.5.a der Studie. 118 Anonymus, Von der Ode, 161 f. 119 Die Affekte bestimmen daher die Ordnung der Bilder zueinander und nicht umgekehrt: »Das Verhältniß der Grundbilder muß sich nach dem Affekt richten. Das Verhältniß dieser Bilder muß also den Empfindungen proportionirt seyn.« (Ebd., 175.). 120 Ebd., 164. 121 Ebd. 116
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dem reinen Wirkungsgrad (ἐκπλάττειν) seiner Kunst zuwenden dürfe, sofern der Grad der Erschütterung dadurch noch verstärkt werde. Der Stärkegrad des Affekts wird in dem Sinn zur Bemessungsgrundlage der im Gedicht auftretenden Wahrscheinlichkeit. Was Aristoteles zwar nicht ausschloss, aber durchaus als Ausnahme ansah, wird hier zum Regelfall erhoben. Auch die dichterische Tätigkeit, sich einen Gegenstand, der den Rezipienten innerlich in Bewegung versetzen soll, zunächst vor das eigene innere Auge zu führen – was sich bereits bei Aristoteles als eine Forderung an den Dichter formuliert findet –, 122 wird in diesem Zusammenhang aufgegriffen: Derjenige Dichter, welcher sich einfallen läßt, Oden zu schreiben, ohne zu lebhaften, starken Empfindungen aufgelegt zu seyn, wird kleine Bilder sorgfältig mahlen, und den Hauptpunkt der Schönheit mit einer merklichen Schwäche zeichnen. Man wird bey Lesung desselben zweifelhaft werden, ob er sich eigentlich einen bestimmten Gegenstand vorgestellet habe. Und eine ausschweifende Einbildungskraft wird von einem Affekt zum andern hinüberflattern, die verschiedenen Gegenstände mit gleichhellen Farben mahlen, und uns statt einer Ode zwo zu lesen geben. 123
Die Heraushebung von Affekt und Grad setzt sich bei der gattungstheoretischen Bestimmung der Ode fort. So seien es lediglich akzidentelle Bestimmungsmomente, welche die Ode, »was die Beschaffenheit anbelangt, mit andern Gedichten gemein hat, sich aber, in Absicht auf den Grad, von derselben unterscheidet.« 124 Hierzu tritt die (ps.-)longinische Diktion des Erhabenen 125 auf den Plan: »Das Erhabne des Affekts ist der größte Grad des Erhabnen. Laßt uns vorher beweisen, daß jede erhabne Empfindung ein Affekt sein müsse. Sie ist der Abdruck eines erhabnen Gegenstandes.« 126 Die Eindrücklichkeit wird zur lebendigen Erhabenheit. Sie gewinnt wiederum Stärke, insofern ihr Weg aus ehemals verworrenen Empfindungen herausführt: »Es wird demnach durch das Erhabne allezeit eine starke Empfindung, welche aus vielen einzelnen verworrnen zusammengeflossen ist, verursacht.« 127 Der Weg von Aristoteles über Horaz und (Ps.-)Longin zu Baumgarten ist die Linie einer neuen Auffassung von Wahrscheinlichkeit, Vorstellungen, Erhabenem und Affekten, begründet über deren krafttheoretischen Einschluss. Vgl. Kapitel II.5.a.δ der Studie und das dort behandelte Paradigma »µάλιστα πρὸ ὀµµάτων τιθέµενον« (Aristot., poet., 17, 1455a23). 123 Anonymus, Von der Ode, 165. 124 Ebd. 125 Vgl. Kapitel II .4.b der Studie. 126 Anonymus, Von der Ode, 167. 127 Ebd. 122
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Ebenso wird das Wunderbare, das als Kategorie dem Bereich der metaphysischen Natur zuordenbar ist, rein krafttheoretisch, und zwar über die Annahme dunkler Kräfte begründet: »Die Empfindungen, welche durch außerordentliche Wirkungen unbekannter Kräfte verursacht worden, sind wunderbar.« 128 Wie die erhabenen Empfindungen, so sind auch die wunderbaren aus einem dunklen Urgrund heraus zu denken. Wenn bei Aristoteles das Wunderbare außerhalb der Ordnung der Dinge stand, so steht es hier, da die Affekte mittlerweile die Elemente der σύστασις/σύνθεσις und series darstellen, außerhalb einer Ordnung der Affekte (series affectuum). Bei Aristoteles diente das Wunderbare der Affektsteigerung, während die series affectuum hier ohnehin die vorausgesetzte Begründungsebene bilden. Der Traktat fasst seine Einlassungen demgemäß mit dem resümierenden Begriff der »Mechanik der Ode« zusammen: Aus unsern entwickelten Begriffen und daraus hergeleiteten Sätzen kann man die Richtigkeit folgender Regel aus der Mechanik der Ode beurtheilen: Im Anfange muß die Ode Affekt zeigen, in der Folge muß der Affekt bald zu, bald abnehmen, oder in Graden steigen; das Ende muß am stärksten seyn. 129
Die in Von der Ode verhandelte Neujustierung der lyrischen Gattungspoetik repräsentiert nicht weniger als einen poetologischen Gemeinplatz der 1760er Jahre. Auch die ein Jahr nach Von der Ode veröffentlichten Fragmente einer Abhandlung über die Ode Johann Gottfried Herders argumentieren damit, keine »allgemeine[n] Vernunftgesetze«, 130 sondern eine »Metempsychosis der Ode in Ansehung ihrer Empfindung« 131 präsentieren zu wollen. Bei Herder eröffnet sich, im Unterscheid zu manchem Zeitgenossen, indes rasch eine historische, bisweilen auch geschichtsphilosophische Dimension. Die zeitlichen Gegebenheiten, die von Herder gern bemühte »Individualität der Umstände« 132, die sich in den Empfindungsgegenständen der Ode in den jeweiligen Epochen niederschlagen, sind vollständig sinnlich begründet: Immer ist der Gegenstand der Empfindung sinnlich; indeßen stets nach der Bestimmung des Orts und der Empfindung verschieden. Die Oden der Hebräer sind Hymnen, da ihre Augen und Ohr, oder wenigstens ihre Einbildungskraft Ebd., 168. Ebd., 177. 130 Herder, Fragmente einer Abhandlung über die Ode, 61. 131 Ebd., 63. Der Kunstausdruck ›Metempsychosis‹ (µετεµψύχωσις), ein Dikompositum mit den Präfixen µετὰ (»mit«) und ἐν (»in«), verweist auf die zweifach mechanische Struktur, die der Seele zugrunde liegt: einerseits innerlich mit Stärke angereichert zu sein, andererseits äußerlich jederzeit tätig werden zu können. 132 Ebd., 65. 128 129
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voll war von den Wundern der Götter: von Wundern, die gemeiniglich auf den Wagen der Cherubim und den Fittigen der Winde fuhren. Die Schilderung dieser Gegenstände ist also den Morgenländern so wesentlich als die Theokratie den Israeliten entweder den Stoff der Ode, oder doch den Abschwung in der Odenverwirrung ausmachte. Ihren Gesängen war das Geist, was unsern ein toter Buchstab des Gedächtnißes oder einer veräußerten Phantasie seyn muss. 133
Im Anschluss geht Herder dezidiert auf die Aspekte einer Gattungsentwicklung ein. Sie liest sich wie ein Alternativprogramm zu und Ausweg aus der frühaufklärerischen Richtung der Nachahmungspoetik. Herder erklärt die Ode – wie der Verfasser des Traktats Von der Ode – aus einem einzigen Hauptaspekt, der Empfindung, heraus, um im selben Atemzug – anders als jener Verfasser – einen Verfall ebendieser Empfindung im Zuge der Ausweitung der Künste und Wissenschaften seit dem Altertum zu konstatieren: Immer erweiterten sich die Aussichten allgemeiner; die rührende Ode ward in Pindars Munde eine voll Bewunderung: immer wurde sie kälter, betrachtender, voll Allgemeinörter, und Moralen: wie die feurigsten des Horaz. Unter uns verlor sie fast den Schein der Empfindung, die Einzelheit des Gegenstandes, und wurde eine Moralische Predigt über einen allgemeinen Satz; kaum so feurig, als das kalte Lehrgedicht. 134
Von der unmittelbaren Empfindung, die ursprünglich von der pindarischen Ode ausgegangen sei, scheint demzufolge in der Gegenwart nicht mehr viel übrig zu sein; sie sei vielmehr gleichsam diffundiert ins Allgemeine, Moralische und Religiöse. Das mag laut Herder auch daran liegen, dass »[d]ie Logik des Affekts – man verzeihe mir diesen anscheinenden Widerspruch – [. . . ] die kürzeste und schwerste aller Logiken im Reich der Wirklichkeit und Möglichkeit [ist].« 135 Aus der vermeintlichen Paradoxie zwischen einer logischen und einer affektbezogenen Annäherung an die Poesie geht ein Affront gegen Mimesiskonzepte à la Batteux hervor, insofern »die Oden, die den Affekt nicht zur Quelle, sondern zum Muster haben, [. . . ] kälter und künstlicher [sind] als die ersten«. 136 Die Originalität (»Quelle«) meint in Herders Betrachtung der Gattungsgeschichte nicht mehr das Potential zur Nachahmung; sie stellt sich vielmehr gegen das poetische Prinzip der Mustergültigkeit und verficht die sinnliche Empfindung als das eigentliche Konstituens der Gattungsausprägungen in ihren geschichtlichen Entstehungs- und Wirkkontexten. 133 134 135 136
Ebd., 67. Ebd., 72 f. Ebd., 73. Ebd., 76.
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Wenn Herder die »Moralische Predigt« und überhaupt jede außersinnliche Größe als Begründungsinstanz für die Ode ablehnt, so ist dies an Moses Mendelssohn (1729–1786) zu spiegeln. Mendelssohn tritt einerseits als vehementer Kritiker eines allzu moralisierenden Verständnisses auf, erweist sich jedoch zugleich auch als ein Kritiker einer einseitig sinnesbetonten, nämlich dem Lustkalkül entsprechenden Philosophie. Bemerkenswerterweise wird als Gegenvorschlag hierzu das Verhältnis zwischen lebendigen und toten Kräften angeführt, wie etwa in der Rhapsodie (1761). Mendelssohn nimmt dabei zunächst eine gegen das delectare gerichtete Haltung ein, um auf die reine Mechanik im poetologischen Sinn zu sprechen zu kommen. Er widerspricht damit indirekt dem Vorwurf, das mechanizistische Weltbild, wie es sich in der französischen Ausprägung (besonders bei D'Holbach, Helvétius und La Mettrie) dem sensualistischen Hedonismus zugewandt hat, ein nur auf Vergnügen ausgerichtetes sein könne: In dieser irrigen Berechnung [sc. im Lustkalkül] liegt also der Grund alles moralischen Übels, und ein jeder Schuldfehler setzet einen Erkenntnisfehler zum voraus. Plato schließet hieraus, daß die Tugend eine Wissenschaft sei, und wie andere Wissenschaften erlernet werden könne. Auf diese Theorie haben die Neuern ihre Lehre von den Fertigkeiten, und von dem Unterschiede zwischen der spekulativen und pragmatischen Erkenntnis gebauet. [. . . ] Die wirksame Erkenntnis ist eine tätige Triebfeder der Seele, die, wenn sie keinen Widerstand findet, ihre bestimmte Wirkung unfehlbar hervorbringet. [. . . ] Man nennet die Kraft der Erkenntnis, die wirklich zur Ausübung kommt, nach der Analogie der Benennungen in der Mechanik, eine lebendige Kraft; die aber durch den Widerstand in ihrer Tätigkeit gehemmet wird, nennet man eine tote Kraft. 137
Mendelssohn verfolgt die Theorie von den toten und lebendigen Kräften in den Folgejahren konstant weiter. In den Gedanken von dem Wesen der Ode. Zergliederung einiger sogenannten Oden der Fr. Karschin (1764) 138 vereint er, wenn man so möchte: in bester antiker Tradition, 139 aktuelle Literarkritik – Karschins zu rezensierende Oden waren erst kurz zuvor erschienen – mit der Darlegung einer poetologischen Auffassung. Ähnlich dem anonymen Verfasser der Abhandlung Von der Ode geht es Mendelssohn um die Beschreibung einer Ordnung, die der Ode als einer auf Empfindungen beruhenden Gattung innewohnt. Er legt dabei einen Schwerpunkt auf die Einbildungskraft; diese nämlich sei dasjenige Seelenvermögen, was der Gattung Ordnung und Gesetze verleihe: Mendelssohn, Rhapsodie, 175 f. Rezension zu der von Gleim (ebenfalls 1764) herausgegebenen Pränumerationsausgabe der Auserlesenen Gedichte von Anna Louise Karschin. 139 Vgl. Kapitel II .4.b.γ und II .5.c.β der Studie. 137
138
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Die Ordnung, die ihr [sc. der Ode] wesentlich ist, kan [sic] die Ordnung der begeisterten Einbildungskraft genent [sic] werden. So wie in einer begeisterten Einbildungskraft die Begriffe nach einander den höchsten Grad der Lebhaftigkeit erlangen, eben so, und nicht anders, müssen sie in der Ode auf einander folgen. Eine einzige ganze Reihe höchst lebhafter Begriffe, wie sie nach dem Gesetze einer begeisterten Einbildungskraft auf einander folgen, ist eine Ode. 140
Die Lebhaftigkeit der Begriffe greift den aus der leibnizschen Philosophie bekannten Topos der vires vividae auf, um dessen Primäreigenschaft des Graduellen hervorzuheben. Die Ordnung, von der hier die Rede ist, wird in erster Linie als eine Folge gedacht; es handelt sich demnach um ein Konzept in der Tradition der series imaginum. Die vom Vorstellungsvermögen hervorgebrachten Bilder ziehen im Rahmen dieser Ordnung Intellekt und Empfindung geradezu systematisch zu sich heran: Man muß durch Nachdenken und Vernunftschlüsse ergründen, welche Ideen die lebhaftesten seyn werden, und in welcher Ordnung sie nach dem Gesetze der Einbildungskraft auf einander folgen werden. Der Dichter muß sich also in beide Verfassungen zugleich setzen, er muß nachdenken und empfinden, und man siehet leicht ein, was ihm dieses für Schwierigkeit machen muß. Ueberläßt er sich ganz ohne Plan dem Strom der Begeisterung und dichtet; so wird er zwar eine Folge von sehr lebhaften Begriffen hervorbringen können, aber diese Folge wird selten ein Ganzes ausmachen, selten ein bestimtes Subjekt und nur durch ein Ungefähr die gehörige Einheit und angemessene Kürze haben, vermöge welcher sie den kürzesten Weg zu ihrem Ziele eilet. Dies geschiehet, wenn die Gemüthsbewegung, als die Ursache der Begeisterung, sehr heftig ist. 141
Obere wie untere Seelenbereiche sind demnach in einen Bezug zum mittleren Vermögen, der Einbildungskraft, zu setzen; die Tätigkeiten von Intellekt und Empfindung werden dadurch auf ein gemeinsames produktives Zentrum hingerückt. Die Erzielung eines Ganzen bei angemessener Kürze der Folge hängt davon ab, ob die Einbildungskraft die geeignete Ordnung vorgibt, so die Diktion Mendelssohns. Da Anna Louisa Karsch, genannt Fr. Karschin, in ihren laut Mendelssohn nur »sogenannten Oden« all dies nicht gelinge, sie vielmehr bald »von Gegenstand zu Gegenstand« 142 schwärme, bald »sich blos vom Ungefähr führen« 143 140 Mendelssohn, Gedanken von dem Wesen der Ode. [Rezension 1764], 150. Der Untertitel lautet »Zergliederung einiger sogenannten Oden der Fr. Karschin«. 141 Ebd., 151 f. 142 Ebd., 153. 143 Ebd.
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lasse, bald »die Gedanken [. . . ] nicht von der Stelle« 144 bringe, kurz: dem Leser eine beschämend schlechte series (affectuum) biete, fällt das Urteil eindeutig aus: Mich dünkt, aus all diesen Beispielen läßt sich mit gutem Fuge schliessen, daß die Dichterin von dem schönen Ideal einer Ode nicht den mindesten Begriff haben muß. Sie kan es vielleicht noch kennen lernen, wenn sie es nur nicht schon zu kennen glaubt. Wenn sie der Critik Gehör giebt, und sich den Rath ihrer strengern Freunde führen läßt; so dürfte es ihr vielleicht nicht viel schwerer werden, nach einem ausgearbeitenen Plan, als aus dem Stegreife zu dichten. 145
Das »schöne Ideal« kommt hier durch Kunst zustande; es ist dementsprechend zuvorderst eine ars, welche die Ordnung vorgibt, und keine Natur, die sich als metaphysisch oder irrational auswiese. Die Seelenvermögen selbst sind daher zwar durchaus enthusiastisch rührbar und in erhitzte Zustände zu bringen, ihr Wechselspiel ist allerdings, bei aller Betonung der von Mendelssohn veranschlagten »Gemüthsbewegung«, geordnet und rational nachvollziehbar. Herder paraphrasiert zwei Jahre später im Traktat Von der Horazischen Ode (1766) auf mehr als drei Seiten Passagen aus dieser Odentheorie Mendelssohns – namentlich diejenigen, die vom Verhältnis des Intellekts zur Einbildungskraft handeln: Die Ordnung, die ihr [sc. der Ode] wesentlich ist, kann die Ordnung der begeisterten Einbildungskraft genannt werden. Eine einzige ganze Reihe höchstlebhafter Begriffe, wie sie nach dem Gesezz einer begeisterten Einbildungskraft auf einander folgen, ist eine Ode. [. . . ] Man muss durch Nachdenken und Vernunftschlüsse ergründen, welche Ideen die lebhaftesten seyn, und in welcher Ordnung sie nach dem Gesetz der Einbildungskraft auf einander folgen werden. 146
In gleichem Maße, wie der göttlich-natürliche Ursprung der lyrischen Dichtkunst von Gefühl und Anschauung geprägt ist, entfremdet zudem jede Nachahmung dieses Grundgefühl von sich selbst: [A]ber wie schwer ist's, Affekte nachzuahmen sich in einen sinnlichen Zustand zu setzen, der eine Folge von Unwissenheit und ein Ursprung großer Gefühle ist. Wer es nicht gefühlt hat, wie schwer dies sey, kann den Werken der Neuern ansehen, daß es schwer seyn müsse. 147 144 145 146 147
Ebd., 159. Ebd., 166. Herder, Von der Horazischen Ode, 194 f. Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 113 (im gleichen Jahr erschienen).
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Der so viel beschworenen Ursprungskraft, die der Dichtkunst gerade in ihrer Gattungsausprägung als Ode zukomme, wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit einer eigenen, auf die Antike rekurrierenden Untergattung begegnet.
4.a.α. Die pindarische Ode
Die Nähe, die Pindar im 18. Jahrhundert zu den irrationalen Seelenkräften zugeschrieben wird, erinnert bisweilen an eine regelrechte Vorstufe zur Genieästhetik, die sich ab den späten 1760er Jahren entwickeln sollte. Bereits 1711 allerdings gibt sich Joseph Addison (1672–1719) in der 160. Ausgabe des Spectator davon überzeugt, »that Pindar was a great Genius of the first Class, who was hurried on by a natural Fire and Impetuosity to vast Conceptions of things and noble Sallies of Imagination.« 148 Pindar wird dort als Dichterfigur eingeführt, der natürliches Feuer (natural Fire) und eine krafterhaltende Impulsivität (Impetuosity) zu eigen waren. Nur wenig ist hier zu spüren von einem Versuch, Pindar historisch, als ›Kind seiner Zeit‹, einzuordnen oder ihn mit der Möglichkeit der Nachahmung auch nur in Verbindung zu bringen. Dies ändert sich mit Blick auf die Rezeption, die er in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts genießt – und zwar zunächst ohne dezidiert genieästhetische Konnotationen. Die wichtigsten poetologischen Einlassungen hinsichtlich der pindarischen Ode sind im deutschsprachigen Raum diejenigen von Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Christian Heinrich Schmid (1746–1800). Herder geht vor allem dem Aspekt der Einbildungskraft nach, während Schmid zunächst allgemein die Ausdifferenzierung nach verschiedenen Graden an Affekten verfolgt, die in den unterschiedlichen Odenarten, insbesondere in der pindarischen, anzutreffen seien. In seinem Traktat Pindar und der Dithyrambensänger (1767) will Herder die Briefe F. Grillos über die Dithyramben Johann Gottlieb Wilamovs, den Herder selbst meistens als ›Freund‹ bezeichnet, 149 rezensieren. Tatsächlich tut er das aber eher en passant. Im Zentrum stehen zusehends weniger die Briefe Grillos als vielmehr die Herleitung der pindarischen Ode aus den Dionysien, den mit der griechischen Theaterkultur verhafteten ekstatischen Umzügen im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. heraus. Herder stellt in diesem als Rezension geplanten Traktat so etwas wie einen Ursprungszustand der Dichtkunst auf und verknüpft diesen Urzustand mit Bacchus: 148 149
Addison / Steele, The Spectator, NO. 160, 46. Zum persönlichen Verhältnis von Herder zu Willamov vgl. Berkov (1968).
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Kurz die ältesten Namen der Dichter, die beynahe selbst Fabeln sind, alle haben sich mit Bacchus beschäftigt. [. . . ] [S]o paßt er am meisten auf den Abgrund der Zeiten, da man aus Aberglauben die Kraft einer göttlichen Gegenwart fühlte, da man mit starken sinnlichen Empfindungen begabt, den Eindruck der Jugendlehren und Nationalsagen beinahe zu einer wirklichen Anschauung erhob, da man aus Unwissenheit nicht blos die Fabelgeschichten als Wahrheiten glaubte, sondern mit der Einbildungskraft sie bis zum Leben ausmalte, und also die Begeisterung schmeckte, die Apoll über die Pythisse, Jupiter über die Sibyllen, Cybele über die Galler, und Bacchus über die Dithyrambensänger ausgoß. 150
Wenn die Einbildungskraft, Herder zufolge, bis hin zur Begeisterung reicht, so ist daran zu erinnern, dass bereits bei Leibniz die Vorstellungskraft (vis repraesentandi) über die lebendige Kraft (vis vivida) begründet wurde. 151 Sie konnte aber nicht dasjenige leisten, was Herder in der gegenwärtigen Dichtung zu vermissen scheint: den Mythen (»Fabelgeschichten«) Leben einzuhauchen. Herder zieht es in dem Traktat regelrecht fort von der zeitgenössischen Dichtung und dafür umso mehr hin zur Antike. Bevor er allerdings dezidiert auf Pindar zu sprechen kommt, inszeniert Herder die Geschichte des antiken Dithyrambos überhaupt; er schaltet somit eine mit Enthusiasmos und Ekstase konnotierte Gattung der Einordnung Pindars vor. Das erhellt sich daraus, dass nach Herders Ansicht Pindars Oden eher dem Dithyrambos als irgendeiner anderen Gattung verwandt seien. 152 Nacheinander werden von Herder angeführt: Archilochos' Fragment 77 (»∆ιονύσοιο ἄνακτος καλὸν ἐξάρξαι µέλος οἶδα διθύραµβον, οἴνῳ συγκεραυνωθεὶς φρένας«), 153 Horaz' carmen 3, 4 (»Auditis an me ludit amabilis / insania? Audire et videor pios / errare per lucos«), 154 das sechste Buch der Aeneis (»— immanis in antro / Bacchatur vates, magnum si pectore possit / excussisse Deum: tanto magis ille fatigat / os rabidum, fera corda domans, fingitque premendo.«) 155 und schließlich, als überragende philosophische Referenz, Platons ἀπαγγελία-Topos aus der Politeia, in der »Plato Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 305 f. Vgl. Kapitel III.3.a der Studie. 152 Vgl. Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 326: »So macht es Pindar der Odendichter – und Pindar der Dithyrambist?«. 153 Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 306. (= Archil., fr., 77: »Ich weiß, dass der Dithyrambos als schöner Gesang des Herrschers Dionysos begann, als er in seinen Sinnen vom Wein wie vom Donner gerührt ward.«) Auffallend ist hier das mittels »συν« zu einem Kompositum noch weiter intensivierte κεραυνόω. 154 Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 307. Dies entspricht Hor., carm., 3, 4, 5–7: »Hört ihr es, oder täuscht mich eine liebliche / Raserei? Ich meine es doch zu hören und durch heilige / Haine zu irren«. 155 Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 307. Dies entspricht Verg., Aen., 6, 77–80: »In der Höhle tobt ungestüm / die Priesterin, / ob sie wohl den großen Gott aus ihrer Brust / schütteln 150
151
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dem Dithyramben sogar die Nachahmung absprechen will«. 156 Letzteres ließe sich rhetorisch auch umstandslos anders herum wenden: Sogar Platon, als größter Verfechter der Mimesis, 157 will den Dithyramben die Nachahmung absprechen. Die von Herder aufgeführten Dichter Archilochos, Horaz und Vergil bezeugen somit die Bedeutung, welche der Affektpoetik bereits in der Antike zukam, und mit Platon ist es ein Philosoph, mithin eine der Wahrheit und nicht der Ekstase verpflichtete Instanz, die diese Reihe beschließt und zusätzlich legitimiert. Wenn nämlich selbst Platon in seiner strengen Kritik an der Dichtkunst und scheinbar vollkommenen Befürwortung der Mimesis die Möglichkeit erwägt, dass der Dithyrambos aus dem Schema der Nachahmbarkeit gleichsam herausfällt, kann es auch nicht so falsch sein, Bacchus als den letzten, irreduziblen Grund dieser Gattung anzunehmen. Zusammengefasst wird diese recht spezielle Form der Gattungspoetik in einer Verquickung von Geschichte, Religion und berauschtem Tanz. All diese Aspekte lassen sich nach Herder wiederum unter der Ägide der Einbildungskraft versammeln: [U]nd so ward er [sc. der Dithyrambos] ein Gemälde der Einbildungskraft aus der Bacchischen Geschichte, des Bacchischen Gottesdienstes, und des Tanzes: wo nüchterne Seelen wenig Verbindung, viel Uebertriebenes, und alles Ungeheur finden musten [sic]. 158
Was die Gattung des Dithyrambos auszeichne und ausgerechnet durch Pindar, einem Verfasser von Epinikien, am besten bezeugt sei, bestehe demnach in einer auf Sprüngen und Schwüngen basierenden Unordnung: Aus [. . . ] der Begeisterung, die eine Folge von Gemälden leitet, entspringt das, was man im Pindar als Unordnung bewundert, was man zu seinem Schwunge, und den Sprüngen seiner Ode rechnet. Es ist immer ein besonderer Einfall, den Einfall des großen Youngs von seiner Höhe abzubrechen, und im Pindar eine Aristotelische Logik zu suchen. 159
Die Argumentation Herders geht unmittelbar darauf in eine weitere voraussetzungsreiche Form der Verklärung über: könnte; umso mehr macht er [sc. der Gott] / ihrem rasenden Mund zu schaffen, das wilde Herz bezwingend, / und mit Druck macht er sie gefügig«. 156 Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 307. In der Politeia wird an der entsprechenden Stelle (394b8–c5) zugestanden, dass es theoretisch möglich wäre, die Nachahmung (µίµησις) auf den Bereich des Dramas zu begrenzen und den Dithyrambos eher als Mitteilung (ἀπαγγελία) sowie das Versepos als eine Vereinigung beider Aspekte zu verstehen. 157 Vgl. Kapitel II .3.b der Studie. 158 Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 307. 159 Ebd., 330. Herders polemische Anspielung auf (Edward) Young richtet sich auf die Gedanken über die Original-Werke in einem Schreiben an Richardson (1759).
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Pindars Gang ist der Schritt der begeisterten Einbildungskraft, die was sie siehet, und wie sie es siehet, singt; aber die Ordnung der Philosophischen Methode, oder der Vernunft, ist der entgegengesetzte Weg, da man, was man denkt, aus dem, was man sieht, beweiset. 160
Die wichtigste poetologische Aussage liegt im ersten Satz begründet: Insofern »Gang« und »Schritt« demselben Wortfeld angehören, werden anhand eines Chiasmus auch »Pindar« und »Einbildungskraft« enggeführt; 161 dies natürlich in Abgrenzung zur zuvor genannten »Aristotelische[n] Logik«, die ja, mutmaßlich, eine Ausrichtung auf die Mimesis diktiert – ein Grundsatz, den man bei Pindar gar nicht erst suchen sollte. Was sich stattdessen bei Pindar offenbar zu suchen lohnt, sind die Grade des Affekts: Christian Heinrich Schmid führt in seinem Traktat Von der lyrischen Poesie (ebenfalls 1767) unterschiedliche Grade der Poesie ein und kommt dabei zu einem Urteil, das Pindar in den Bewegungen zwischen oberen (»Wahrheit«) und darunter befindlichen Seelenvermögen (»Empfindung«) eindeutig positioniert: So, wenn eine Wahrheit in Empfindung übergeht, ist es wahrscheinlich, daß durch die dabey immer noch fortdauernde Arbeit des Verstandes der Affect geschwächt werde, und die lehrende lyrische Poesie nicht den ersten und zweiten, sondern nur den dritten Grad des Affects erreichen könne, doch unter den vierten nicht sinke. [. . . ] Die fünf Grade hat man durch ebenso viele Namen unterschieden. Der erste heißt die griechische, die pindarische Ode[.] 162
Pindar entzieht sich mithin gänzlich der »Arbeit des Verstandes« und evoziert gerade dadurch die höchsten Affektgrade. Schmid äußerst sich in der Folge nicht nur zu deren erster, sondern auch zu deren zweiter Stufe, und fasst damit gleich eine ganze Epoche zusammen: »Der zweite Grad gehört der lateinischen Ode, der Ode schlechtweg.« 163 Zudem schreibt sich Schmid – wenn wir die Beobachtungen zu Beginn von Kapitel v.4.a der Studie einbeziehen, in die gängigen Lyriktheorien seiner Zeit bei der Betrachtung der pindarischen Ode, hier als das »lyrische Gedicht« schlechthin definiert, ein: Ich definiere also das lyrische Gedicht, als den poetischen Ausdruck einer reinen Hauptempfindung, welcher verschiedne reine Nebenempfindungen untergeordnet sind. Was reine Empfindungen sind, weis man schon aus der Erklärung der ihnen entgegengesetzten vermischten, die der Elegie wesentlich waren. 160 161 162 163
Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 330 f. Pindar (A) – Gang (B) – Schritt (B) – Einbildungskraft (A). Schmid, Von der lyrischen Poesie, 304. Ebd.
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Reine Empfindung und Affect sind nur, wie Wirkung und Ursach [sic], verschieden. 164
Die Bevorzugung des Affekts entspricht, auf die Ebene der Naturbewegungen bezogen, einer (scheinbaren) sinnlichen Unordnung, die sich durch Sprünge und die Trennung von Haupt- und Nebenempfindungen auszeichnet: Wenn der Poet eine Folge reiner Hauptempfindungen, deren jede ihre untergeordnete reine Nebenempfindung hat, poetisch ausdrückt: so macht er ein lyrisches System, oder eine lyrische Geschichte, dergleichen z. E. die Amazonenlieder sind. [. . . ] Wenn eine Hauptempfindung unsre Seele sich alle Nebenempfindungen unterordnet: so befindet sich die Seele in einem Zustande, der Enthusiasmus genennet wird. Enthusiasmus ist also das nöthigste Talent des lyrischen Poeten vom Vaudevillentrillerer bis zum Trunkenbolde in der Dithyrambe. [. . . ] Im Enthusiasmus folgt die Seele nicht der Ordnung der Gedanken, sondern der Empfindungen. Dies ist die Ursache von dem unerwarteten Eingange, Sprung, scheinbaren Unordnung, Digreßionen und Nebenempfindungen im lyrischen Gedichte, von denen man jetzt eher, jetzt später mit verdoppeltem Feuer zur Hauptempfindung zurückkehrt. 165
Zieht man aus Herder und Schmid einen synoptischen Schluss, so geht in der Mitte der 1760er Jahre die Tendenz dahin, die pindarische Ode nach Kriterien der Psychomechanik auszudifferenzieren und auf Begriffe des newtonschen Naturbildes (›Sprung‹, ›Schwung‹ ›Digreßion‹ etc.) zu bringen. Dass sich diese Tendenz nicht lange verstetigt hat, liegt, so scheint es, in der Art, wie Pindars ›Kraft‹ verstanden wurde, selbst begründet. Sogar Goethe scheint nicht davor gefeit zu sein, nach den Deutungsangeboten, wie wir sie von Herder und Schmid exemplarisch vorgeführt fanden, Pindar wieder auf einen indifferenten, semantisch geradezu ausufernden und zudem arg persönlich motivierten Kraftbegriff zurückzuführen, wenn er in einem Brief an Herder vom 10. Juli 1772, dem berühmten ›Pindarbrief‹, festhält: Seit ich die Krafft der Worte στῆθος und πραπίδες fühle, ist mir in mir selbst eine neue Welt aufgegangen. Armer Mensch, an dem der Kopf alles ist! Ich wohne jetzt in Pindar, und wenn die Herrlichkeit des Pallasts glücklich machte, müsst ich's seyn. 166
164 165 166
Ebd., 302 f. Ebd., 305 f. Goethe, An Herder (10. Juli 1772), 293.
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4.a.β. Die horazische Ode
Die wichtigste Referenzfigur, an der sich Rezeption und Adaptation der horazischen Ode in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum bemessen lassen, ist Klopstock. Er übernimmt die strophischen Formen der horazischen Ode (die alkäische, die sapphische und besonders häufig die asklepiadeische Ode) auf Grundlage der opitzschen Versregeln. 167 Er kann damit als der herausragende formale Aneigner der horazischen Ode im deutschsprachigen Raum gelten. 168 Als solcher gilt er auch nach prominenten Fremdurteilen, wie die Rezensionen von Johann Heinrich Merck (1741–1791) und Herder zu Klopstocks autorisierter Oden-Ausgabe von 1771 zeigen. Sie besteht nahezu vollständig aus Gedichten in horazischen Odenformen. Mercks Rezension erscheint ein Jahr (1772), Herders zwei Jahre (1773) darauf, und beide zeigen sich weniger an der Publikationsgeschichte der in der Ausgabe enthaltenen Gedichte – deren Entstehungszeit immerhin bis 1747 zurückreicht – als vielmehr an den poetischen Prinzipien interessiert, die der Ode als Gattung überhaupt zu eigen seien. Bei Merck wird Klopstock, da er diese Prinzipien in seinen sprachlichen Eingebungen so gut repräsentiere, gar emphatisch zum »Schöpfer unsrer Dichtkunst, des deutschen Numerus, der Seelensprache des Vaterländischen Genius« 169 verklärt. Dieses Urteil ist nach Merck jedoch wohlbegründet, da er sprachliche Kraft und »deutschen Genius« in Klopstocks Oden zusammengeschlossen vorfinde: In der Ode, Unsre Sprache, welche Sammlung von Tönen, die alle dem deutschen Genius nur eigen sind, und wie angemessen dem ganzen Flug dieser kühnen Gedanken! In Sponda wie feine Bezeichnungen der Gränzen [sic] und Kräfte eben dieser Sprache, in die feinste dichterische Diktion gekleidet! 170
Was von Merck so sehr gelobt wird, ist der gedankliche Schwung, mithin dasjenige, was zur communis opinio der poetologischen Einlassungen zur Ode Opitz hatte diese 1624 in seinem Buch von der deutschen Poeterey bekanntlich dahingehend festgelegt, dass grundsätzlich einer langen Quantität in den alten Sprachen ein Akzent in der deutschen Sprache zu entsprechen habe. 168 Vgl. hierzu Bohnenkamp (1972), 2: »Seit Lessing und Klopstock, seit Herder und Nietzsche hat man in Deutschland neben dem Gehalt und der Aussage auch die Bedeutung der Form im Werk des Horaz erkennen und würdigen gelernt. Seither ist man nicht müde geworden, ihr nachzuspüren, sie in ihren Elementen aufzuschlüsseln und diese Elemente wie das Ganze begreifend zu erklären, um immer aufs Neue Gestalt und Gehalt aneinander messen und miteinander verstehen zu können«. 169 Merck, Johann Heinrich, Oden von Klopstock [Rezension 1772], 57. Hierbei handelt es sich um keine Ironie, wie man vielleicht aufgrund des Reims von »Numerus« und »Genius« vermuten könnte. Es handelt sich bei der gesamten Rezension tatsächlich um eine ausdrückliche Leseempfehlung. 170 Ebd., 60. 167
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in den 1760er Jahren zu zählen ist. Es scheint zudem ein Anliegen Mercks zu sein, nicht schlichtweg auf die schwungvolle Kraft der Oden Klopstocks hinzuweisen, sondern auch die »Gränzen« der selbigen mit einzubeziehen. Der von Merck angesprochenen Verfeinerung entspricht die Zusammendrängung der Affekte, die – wie in Kapitel v.4.a eingangs gesehen – überhaupt erst den Schwung auslösen, der für den höchsten ›Odenflug‹ einsteht, zu dem die deutsche Sprache fähig erscheint. Die Rezension Herders zu den Oden beginnt demgegenüber mit Anspielungen auf Baumgartens series repraesentationum (hier: »Reihe höchst lebhafter Begriffe«) und der oratio sensitiva perfecta (hier: »höchstsinnliche Rede«). Herder rückt somit den Kraftbegriff unmittelbar in die Richtung der psychomechanischen Ästhetik und spart dabei auch die »begeisterte Einbildungskraft« nicht aus: Wenn die Ode, selbst nach dem Begrif [sic] des kältesten Kunstrichters, nichts als eine einzige ganze Reihe höchst lebhafter Begriffe, ein ganzer Ausfluß, einer begeisterten Einbildungskraft, oder eines erregten Herzens, nichts als eine höchstsinnliche Rede über einen Gegenstand seyn soll: so müßten selbst für den, der blos nach der Definition prüfte, die meisten der vorliegenden Oden vortrefliche Stücke und Muster ihrer Art seyn. 171
Hier wird die Wirkkraft der Gedichte in ein Verhältnis zum Urteil des Kunstrichters gerückt, der wiederum mit dem Attribut größter Kälte versehen wird und damit in anderen Seelenregionen beheimatet ist, als es ein »erregte[s] Herz[]« zulässt. Aber das muss hier nicht zu einer negativen Bewertung führen: Die Oden genügen vielmehr beiden Dimensionen – der sinnlichen Wirkkraft wie der ›regelgerechten‹ Definition. Sie können gleichzeitig sinnlichen Schwung entfalten und von regelpoetisch instruierten Kritikern dennoch als Muster anerkannt werden. Damit sind nicht nur die beiden Größen benannt, die Horaz nach dem Urteil der Nachwelt selbst auszeichnen, 172 sondern auch diejenigen, die Klopstock – wenn auch nicht in allen Oden in gleichem Maße – aus Herders Sicht »so horazisch« machen: Sofern diese Regeln [sc. der Ode] wahr sind, d. i. sofern sie in der Natur des einen Gegenstandes und der Weise, wie der Affekt handelt, liegen, wird sie Herder, Johann Gottfried, Oden von Klopstock [Rezension 1773], 109. Der im Ausdruck der »höchstsinnlichen Rede« liegende Verweis auf Baumgartens oratio sensitiva perfecta legt nebenbei das perfecta als nähere Bestimmung des sensitiva aus, als Alternative zur »besten sinnlichen Rede«, wollte man perfecta – wie es schulgrammatisch naheliegen sollte – auf die oratio beziehen. 172 Insofern Horaz in der Ars poetica eine Poetik vorgelegt hatte, deren ›Regeln‹ in der Rezeptionsgeschichte der Frühen Neuzeit als Verkörperungen mustergültiger Formen angesehen wurden, und er mit seinen Oden selbst Artefakte von höchstem sinnlichem Wert geschaffen habe. 171
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gewiß die begeisterte Einbildungskraft von selbst in ihr Werk wirken, weil dies ohne solche Gesetze nicht möglich wäre. Und so dünkt uns, könnten aus den vornehmsten Stücken dieser Sammlung die feinsten Regeln des Affekts und eine Theorie der Ode abgezogen werden, die wir vielleicht noch nicht haben. Die meisten Oden des zweyten, und einige des dritten Buchs sind so horazisch: Die nachgeahmten Stellen in so vortreflicher Manier nachgeahmt – und sonst muß der Rec. bekennen, daß ihn die meisten Odengesetze, die man als solche in Lehrbüchern und Kriticken gäng [sic] und gäbe gemacht, sehr willkührlich dünken. 173
Die angeführten sogenannten »Odengesetze« sind lediglich »aus dem kleinsten Theile des Horaz abgezogen« 174 – angespielt wird hiermit auf die Ars poetica –, während die in den Gedichten selbst auffindbaren Affekte wiederum eine neue Theorie der Ode konstituieren könnten. Nichts anderes meint dann aber das Prinzip der aemulatio: die Kenntnisnahme der Vorgänger bei gleichzeitigem Versuch, diese durch ein neues, eigenes Prinzip noch zu übertreffen. Hier wird diese Gedankenfigur jedoch in eine psychomechanische Richtung gewendet: Es ist die Selbsttätigkeit der Einbildungskraft, die nicht nur in das poetische Werk hineinwirkt, sondern sich dazu noch befähigt zeigt, Regeln in actu hervorzubringen. Somit kann ein Odengesetz nicht als Gesetz bewiesen werden, sondern muss sich in jedem einzelnen Fall neu beweisen: »Hat diese [sc. die Einbildungskraft] nicht vielmehr bey jedem Gegenstande ihre eigne Art zu handeln?« 175 Was veranlasst Herder zu dieser Haltung? Offensichtlich gleicht nicht jede horazische Ode der anderen. In seinem Traktat Von der Horazischen Ode (1767) werden die Oden Klopstocks, Ramlers, Uz' und Langes am horazischen Stil bemessen und nicht einmütig beurteilt. 176 Nachdem zu Beginn Horaz als für manchen zeitgenössischen Dichter zu großes Vorbild eingestuft wurde, 177 Herder, Johann Gottfried, Oden von Klopstock [Rezension 1773], 114 f. Ebd., 115. 175 Ebd., 115. 176 Ein Anlass hierzu ist die lang erwartete Veröffentlichung der Oden Ramlers in einem einzigen Gedichtband (1767). Diese Gedichte bilden dort dementsprechend auch den Hauptteil der – überwiegend positiven – Kritik. 177 Vgl. Herder, Von der Horazischen Ode, 170: »Welche Altäre sind dem Horaz gebauet: und wie viel Verehrung hat er auf ihnen genossen: sollten wir wohl auf diese Altäre die Brustbilder einiger deutscher Dichter sezzen dörfen? – Auf der anderen Seite, wie viel deutsche Horaze gibt es nicht, die diesen Namen bei einem Publikum, das oft nicht Rom ist, gepachtet haben, und ihn vor sich her ausschreien lassen! – Ein Ding in vierzeilichten Strophen, voll Strohfeuers oder todtes Feuers, voll verworrener Construktionen, die über das Ende der Strophe laufen, untermischt mit hinkenden Reimen heißt eine – horazische Ode. Pindar kennt man zum Glück nicht: sonst würde man noch ärgere Misgeburten hervorbringen: die mit dem dreifachen Haupt des Cerberus, der 173
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nimmt sich Herder Ramlers Allegoresen an und zeigt auf, dass sich in diesem poetischen Verfahren die horazische Ode nicht erschöpfe: »Nicht blos Allegorie und Wohlklang: die Anordnung zum Ganzen der Ode ist der Vorzug, weswegen der Name Horazisch seinen Oden zukömmt.« 178 Die hier betonte Anordnung zum Ganzen muss – wie bereits in den Fragmenten einer Abhandlung über die Ode (1764) gesehen – vielmehr aus einem Hauptaffekt heraus entstehen. Ramler gelinge dies im Wesentlichen, Klopstocks Oden weisen demgegenüber zu diesem Zeitpunkt, vor der Veröffentlichung der Oden von 1771, noch »weniger horazische Züge« 179 auf, denn [s]eine meisten lyrischen Arbeiten nähern sich dem Hymnus: in einigen Stücken, die der Sammlung vermischter Schriften eingerückt sind, sind freilich vortreffliche horazische Züge, insbesondere in der Ode auf den Zürchersee; allein nie das Ganze, nie der Hauptton, nie der Wohlklang des Horaz. 180
Der Hauptton ist als Synonym zum Hauptaffekt zu verstehen, der – indem er zu sehr zum Hymnus neige – offenkundig noch nicht die »Gränzen«, die Herder in seiner Rezension von 1773 so ausdrücklich hervorhebt, berücksichtigt. Der Hymnus in seiner Hinwendung zum Göttlichen begibt sich gewissermaßen auf zu hohen Flug, um noch den Kriterien der horazischen Ode als einer im Ganzen wohlkomponierten Folge von Teil- und Hauptaffekten zu genügen. Samuel Gotthold Lange (1711–1781) wiederum habe laut Herder in seinen HorazÜbersetzungen von 1752 mehr Horazisch gesungen als übersezzt. Die besten Oden des Horaz leiden bei ihm, seines Fleißes, Genies, und einiger glücklichen Stellen ohngeachtet: überall verfehlte Stellen, verlohrner Nachdruck, unschickliche Einkleidung, an Kolorit und Wohlklang nicht zu denken: quid faciant hostes capta crudelius urbe. 181
Dass Klopstock sich gar nicht erst bemüht, Pindar formal nachzueifern, kommt Herder vorgeblich entgegen, da er »bekennen [muß], daß [er] die Sylbenmaasse in Pindar und den Chören meistens nicht versteht.« 182 Denn die pindarischen Strophen sind von Regellosigkeit bestimmt, wodurch Herders Ohr bescheidenerweise über sie »nicht sinnlich urtheilen« 183 könne. Dem römischen Ohr sei Strophe, Antistrophe und Epode, aus neun Rachen Unsinn bellen, und sich nennen – pindarische Oden«. 178 Ebd., 188. 179 Ebd., 201. 180 Ebd., 202. 181 Ebd., 204. Das Zitat entspricht Catull., 62, 24: »Was sollen Feinde Grausameres tun, wenn die Stadt erobert ist?«. 182 Herder, Von der Horazischen Ode, 120. 183 Ebd., 120.
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dies aber ebenso wenig gelungen; daher seien die römischen Dichter nicht über vierzeilige Strophen hinausgekommen und Horaz konnte nur Alkaios, Sappho und Asklepiades imitieren – eben denjenigen Strophenformen, denen sich Klopstock nun ausschließlich zuwenden muss, um Horaz nachbilden zu können. Einzig Wingolf mache in seinem Aufbau eine Ausnahme. 184 Vollständig zitiert wird von Herder allerdings – seiner programmatischen Rolle gemäß – Der Lehrling der Griechen. 185 Hierin liegt auch eine Pointe: Der »Lehrling der Griechen« ist vielmehr ein Lehrling Horaz'. 186 Rigoros fällt die Kritik dennoch nicht aus, wenn Herder Klopstock zugutehält, dass derjenige, der nach Gedanken sucht, solche immer auch finden kann; »[n]ur freylich hätte, wer bloß pensées sucht, eben den schlechtsten Theil der großen Seele Klopstocks!« 187
4.b. Die Elegie
Thomas Abbts Abhandlung Über die Natur der Elegie (1762) stellt einen in den 1760er Jahren weithin rezipierten gattungstypologischen Referenztext dar, der Literarkritik und Poetologie mit rhetorischem Geschick verknüpft. Im Rahmen seiner Rezension lateinischer Gedichte (die Verfasser sind C. A. Klotz und C. C. Schilling) verwendet Abbt ästhetische Kategorien und Zuschreibungen aus der Tradition Baumgartens. Die Elegie, so Abbts Grundthese, beschreibt und evoziert vermischte Empfindungen, die Ode hingegen reine. Reine Empfindungen sind erhabener und daher insofern für die Ode geeigneter, als sie die gesamte Seele übermannen können. Der paradigmatische Odendichter der Antike ist, folgt man Abbt weiter, mit Horaz benannt: Er [sc. Horaz] kan die entgegengesetzte [sic] Gesinnungen abgesondert betrachten, aber nicht beyde in Anwendung auf sich; sonst glauben wir, daß er nur leere Worte vortrage, und seine Empfindungen nur im Kopfe und nicht im Herzen anzutreffen wären. 188
Vgl. ebd., 122. Vgl. ebd., 122 f. 186 Das Gedicht zeigt sich von Horaz’ carmen 4, 3 beeinflusst. Da dieses carmen wiederum auf den Aitien-Prolog bei Kallimachos (Kall., ait., 1, 37–40) rekurriert, weist Klopstocks Lehrling der Griechen gleichsam als poetologisches Proömium fungierende Gedicht auf die römische und griechische Vorprägung der Inspirationskunst hin; vgl. hierzu Martin (2003), an dessen Interpretation gleichwohl die metrische Analyse (ebd., 22 f.) zu beanstanden ist. Statt katalektischen Metren handelt es sich schlicht um zwei Choriamben, welche den Mittelraum des Asklepiadeus ausfüllen. 187 Herder, Von der Horazischen Ode, 123. 188 Abbt, Über die Natur der Elegie, 66. 184 185
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Während die Elegie ein Spiel konträrer Empfindungen inszeniert, sind es die unvermischten Gesinnungen, die das Wesen der Horazischen Ode auszeichnen. Horaz' Meisterschaft in der Gattung der reinen, sublimierten Empfindung ist allerdings für zeitgenössische Dichter nur schwer beizukommen, wie Abbt am Beispiel von Klotz' 15. Ode Ad Horatium in dessen Opuscula poetica (1761) darlegt. Er stuft diese als »Nachahmung der berühmten Ode Quo me rapis Bacche tui plenum« 189 ein und bemängelt sogleich den Nachahmungsmodus: Besser nämlich wäre es gewesen, sich direkt an den »Gott der wütenden Begeisterung zu wenden, und von ihm den Einfluß zu erwarten, als an einen Dichter, der selbst sich selten bis zur Pindarischen Höhe geschwungen hat.« 190 Eine zu den horazischen Erhabenheitsformen hinaufstrebende Ode zu schreiben, sei für Klotz offenbar nicht möglich. Bacchus, der im genannten horazischen carmen als jemand erscheint, der den Sprecher geschwind an sich reißt – rapere, velox und agere sind die hierfür maßgeblichen Lexeme, die in den Eingangsversen bemüht werden –, 191 steht ein für eine kaum mehr gezügelte Affektivität, die unmittelbar ihre Wirkungen entfaltet. In der von Abbt nahegelegten hierarchischen Stufenfolge besetzt Pindar – wie auch schon bei Schmid – die Position des höchsten Odendichters, dem Horaz auf den Fuß folgt. Klotz hingegen, so lautet die Kritik, verfehlt in seiner misslingenden Nachahmung der horazischen Odenkunst schlichtweg das Profil der Gattung. Empfindungen werden bei Abbt grundsätzlich durch Schmerz als ein spontaner Angriff auf die Seele verstanden, »wenn ihre Kräfte durch den plötzlichen Anstoß niedergerissen werden«; 192 sie müssen, um elegisch zu sein, anders als die in der Ode dominierende Reinheit der einzelnen Empfindungen, jedoch durch ihr Gegenteil gemildert werden, da sonst die Seele »gleich den Fluten des Meeres« vom »Rauschen der Wehmuth« 193 überschwemmt werde: »Dem elegischen Dichter bleiben also nur Empfindungen übrig, die durch die Gegenseitigen schon gemildert sind.« 194 Ganz anders belasse die horazische Ode ihre Gegenstände für sich; sie kann als Gattung einer verdichteten Affektivität gelten, die allerdings die einzelnen Affekte gesondert darstellt. Während also die Ode qua Darstellung reiner Empfindungen eine Nahperspektive zu ihren Gegenständen einnehme, betont Abbt eine gattungskonstitutive elegische DisEbd. Dies meint Hor., carm., 3, 25. Abbt, Über die Natur der Elegie, 66. 191 Vgl. Hor., carm., 3, 25, 1–3: »Quo me, Bacche, rapis tui / plenum? Quae nemora aut quos agor in specus / velox mente nova« (»Wohin, Bacchus, reißt du mich, der ich von dir / angefüllt bin? Zu welchen Hainen oder in welche Höhlen werde ich / geschwind mit neuem Geist getrieben?«). 192 Abbt, Über die Natur der Elegie, 71 f. 193 Ebd., 72. 194 Ebd., 72. 189
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tanz, die als ein Mechanismus von Kraft und Gegenkraft funktioniere. Was dies konkret für die Darstellungsform der Elegie bedeutet, erläutert Abbt anhand ihrer Zeitstruktur: Wenn also ein Krieg das Vaterland verwüstet, die Wuth der Feinde eine Vaterstadt in die Asche legt; Länder, wo die Musen sonst gewohnt haben, durch Barbarey entheiligt sind; so können dergleichen Empfindungen entstehen; nur muß die Zeit den Bildern ihre alzugrosse Lebhaftigkeit geraubt haben; die schwarzen Formen müssen nicht mehr so gedrängt stehen, daß die Erinnerung nicht zugleich einige angenehme dazwischen stellen könnte. 195
Die Perspektive des Elegischen ist eine erinnernde, die Vergangenes durch den Filter der Retrospektive anvisiert und dergestalt auf Abstand hält. Die Erinnerung formiert sich somit zu einer die Kraft gegenwärtiger Empfindungen abmildernden Gegenkraft. Eine solche zeitliche Distanznahme 196 nimmt den Darstellungsinhalten zwar ihre Lebhaftigkeit, das heißt ihre Eindrücklichkeit, aber – so führt Abbt am Beispiel des obigen Kriegssujets aus – eben auch ihre ›Schwärze‹. Die elegische Erinnerung vermag gewissermaßen die in der Ode zusammengedrängten, starken Affekte, angenehmer zu gestalten und damit regelrecht zu entschärfen. Deutlich zutage tritt diese Argumentation für eine gattungskonstitutive Struktur von Kraft und Gegenkraft, wenn sich Abbt einem der seit den »alten Dichter[n]« bevorzugten Sujets elegischer Dichtung, dem Erotischen, zuwendet. Die Elegie bezieht dann ihre regelrechte Kraft aus dem Begehren beziehungsweise der Neugier des Rezipienten: Mir hat es immer geschienen, daß die Aufmerksamkeit, die sich die alten Dichter durch ihre verliebten Elegien erworben haben, mehr durch unsre Neugier als durch derselben innere Kraft hervorgebracht worden. Man ist gleichsam nach den Anekdoten eines solchen Mannes begierig und will von seinen besondern Angelegenheiten Nachricht haben. 197
Kaum aus einer ›inneren Kraft‹ ihr poetisches Spezifikum beziehend, bedarf die Elegie gewissermaßen eines ›kraftvollen‹, eines begehrenden Rezipienten, dessen Neugier sich auf die erotischen Inhalte richtet. Letztere jedoch wird er nicht ›rein‹ genießen, die Elegie nimmt, indem sie die Empfindungen ver-
Ebd., 74 f. Vgl. zum poetologischen Prinzip der Distanz in der deutschen Elegie zwischen 1750 und 1800 die mit guten Interpretationen versehene Studie von Schuster (2002). 197 Thomas Abbt, Über die Natur der Elegie, 69. 195 196
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mischt, 198 eine Distanz zum Dargestellten ein, was denn auch den zeitgenössischen Schicklichkeitsmaximen entsprochen hat. Neben Zeit und Moral wird die Raumordnung als drittes Argument des elegischen Arrangements diskutiert; denn für die Elegie gilt, dass Einsamkeit [. . . ] immer herrschen [muß]; die Lage selbst muß solche vermischte Empfindungen erwecken können. Daher sind einsame Zellen und Creutzgänge wo Eloise ihre Briefe geschrieben: Ufer, wo ein Strom traurig dahinrauscht, (wo der Israelitische Dichter seine Elegie verfertiget) Wälder, Felsen, wo die Aussicht und Stille in der Seele die Vorstellung der Gefahr, und das Bewustseyn der Sicherheit wechselweise hervorbringen, meistens dazu erwählt worden. Ein einsames Zimmer kan [sic] aber auch dazu dienen; besonders wenn noch äussere Umstände dazu kommen, von denen die Seele etwas leidet. 199
Schließlich argumentiert Abbt für eine dezidiert rhetorische Kontur der Gattung, was sich nicht zuletzt darin ausdrückt, dass er konkrete Figuren vorschlägt, derer sich der elegische Dichter zu bedienen habe. Im Zuge dessen wird zunächst das Verhältnis zwischen res und verba als Korrelation zwischen Empfindung (sensus) und Gedanke (sententia) umgewertet, und zwar unter Beibehaltung des aptum/πρέπον-Kriteriums: Die Gedanken nun selbst müssen der Würde der Empfindungen angemessen seyn. Es wird dabey ein Geist vorausgesetzt, der sich weder durch den Verlust eines schlechten Guten dahin reissen läst [sic], noch auch jedem Verluste stoisch wiedersteht [sic]. Folglich werden die erhabenen Gedanken aus der Elegie wegbleiben. Da die Seele ferner in einer Art von Erschlaffung ist; so ist ein geschärfter Wiz, das epigrammatische, das allzuweit hergesuchte in der Elegie unnatürlich. Hingegen finden Vergleichungen, kleine Geschichten, Fabeln, darin ihren Platz. Denn die Einbildungskraft ist bey einem solchen Zustande der Seele fast allein beschäftiget. Sie sucht also alle vergesellschafteten Bilder auf, die mit ihrer herrschenden Empfindung übereinstimmen, um entweder sich dadurch zu trösten, oder noch mehr zu betrüben. Sie bleibt öfters bey einem einzigen Gedanken stehen und wiederhohlt ihn; ja, macht unmittelbar die Anwendung auf sich. Daher kommet die Wiederholung einerley Worte am Ende des vorhergehenden und im Anfange des folgenden Verses, welche die Elegiendichter öfters so glücklich anbringen. 200 198 Vgl. auch Schmid, Von der lyrischen Poesie, 302: »Was reine Empfindungen sind, weis man schon aus der Erklärung der ihnen entgegengesetzten vermischten, die der Elegie wesentlich waren«. 199 Thomas Abbt, Über die Natur der Elegie, 76 f. 200 Ebd., 79 f.
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Die im letzten Satz beschriebene rhetorische Figur der Anadiplose (ἀναδίπλωσις) wird als ein vorzügliches Mittel der Elegie hervorgehoben. Noch wichtiger als diese beinahe schon technisch anmutende Empfehlung ist allerdings die im Zeichen des aptum beziehungsweise πρέπον – das hier zu Beginn in der Angemessenheit zur »Würde« in Erscheinung tritt – stehende Entsprechung von Empfindungen und Gedanken. Sie nimmt von den Empfindungen ihren Ausgang. Damit wird die in der antiken Rhetorik empfohlene Ausrichtung der in der Vortragsweise gezeigten Emotionen des Redners an seinem Gegenstand 201 regelrecht umgekehrt. Deutlich zeigt sich, dass Abbt die Gattung wesentlich über die Kategorie der Empfindung bestimmt und dabei das ›würdige‹ Zusammenspiel verschiedener Empfindungen in den Mittelpunkt rückt. Während der antike Redner die seinem Redegegenstand angemessenen Empfindungen wählt und verarbeitet, begibt sich der Elegiker auf die Suche nach Gegenständen, die dem gewählten Empfindungsarrangement zuarbeiten. Auch im Folgenden rekurriert Abbt bei seiner Darlegung des Gattungsprofils auf rhetorische Kategorien: Vor allen Dingen muß der Elegische Dichter die kleinsten Umstände, die mit seinem Gegenstände verwandt gewesen, sammeln und anführen. Dieses zeigt, daß seine Einbildungskraft ganz damit angefüllt sey und nicht das Geringste habe verlohren gehen lassen. 202
Das ›Sammeln von Gegenständen‹ spielt auf den Vorgang der inventio an, der an dieser Stelle in Richtung einer vermögenstheoretischen Poetik der Elegie gewendet wird: Der erste Schritt zum Elegischen besteht darin, dass die Einbildungskraft mit den ›gesammelten Gegenständen‹ angefüllt wird. Dies konstituiert eine der gewählten Hauptempfindung entsprechende poetische Grundkraft, die sodann dem Gattungsziel entgegenschreitet: Der Elegiendichter hat nun andere Empfindungen heranzuziehen, die die Grundempfindung mildern, ja als Gegenkräfte fungieren und das Gattungsparadigma der vermischten Empfindungen konstituieren. Ganz im zeitgenössischen Sinne beschreibt auch der anonyme Verfasser des Traktats Von der Ode den Prozess einer Abmilderung von Empfindungen als Spezifikum der Elegie, und dies ebenfalls in Abgrenzung zur Ode:
Vgl. Cic., de orat., 3 (37): »Quinam igitur dicendi est modus melior [. . . ] quam ut Latine, ut plane, ut ornate, ut ad id, quodcumque agetur, apte congruenterque dicamus?« (»Welche Art des Redens wäre also besser [. . . ], als wenn wir [sc. echt] lateinisch, deutlich, geschmückt und dem Gegenstand der Verhandlung angemessen und entsprechend reden?«) Die Übersetzung von est mit dem Konjunktiv ist ausschließlich durch den deutschen Sprachgebrauch begründet. 202 Thomas Abbt, Über die Natur der Elegie, 81 f. 201
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Die Elegie ist der Ode am nächsten verwandt; allein doch darinn [sic] unterschieden, daß sie nicht zu allen Arten der Affekten aufgelegt ist, z. E. zum Erhabenen, und daß sie diejenigen Affekten, deren sie fähig ist, nicht stark, nicht heftig, nicht erschütternd vorträgt, sondern mit sanften Bildern der Einbildungskraft mildert, und also vergesellschaftete Empfindungen hat. 203
Während also die Empfindungen in der Elegie eine regelrechte Beziehung zueinander eingehen, sich gleichsam vergesellschaften, zeigen sich die Affekte in der Ode in solitärer und verdichteter Form. Das Erhabene bleibt indes der Ode vorbehalten. Es eignet sich, gemäß seiner Stärke und Heftigkeit, nicht für vermischte Empfindungen.
4.c. Das Lehrgedicht
Wie an früherer Stelle die Kapitel ii.2–3 gezeigt haben, ließ sich bereits bei Hesiod ein poetologisches Verständnis nachvollziehen, das die wahre Wirklichkeit dem Produktionsprozess gegenüber als vorrangig und den Dichter folglich als einen Aktanten zweiter Instanz begreift, womit die Fertigkeit des Dichters offenkundig in einem zweifachen Zugriffsmoment liegt. Es gliedert sich nach einer stofflichen (Zugriff auf die Mythentradition) und einer formalen Seite (Zugriff auf die Transzendenz), wobei sich beide Zugriffsweisen reziprok bedingen. Insofern stellt sich die Inspiration der Naturdichter nicht als eine Art innere Eruption, sondern als Resultat produktiver Wechselprozesse aus. Diese Prozesse sind von diverser Natur; sie sind, wie gezeigt, erheblich von einem Spannungsverhältnis geprägt, das die poetischen, kognitiven und didaktischen Fertigkeiten erst zu stiften vermag. Eine solche Verfahrensweise steht in keinem genuinen Widerspruch zur inspirativen Eingebung, insofern selbst dieser Gestus im Wesentlichen dem Alteritätsmuster des Empfangens und Verkündens folgt. Die Initiation liegt dabei in erster Instanz weniger im Dichter selbst begründet als im Weltvermögen. Zu diesem Vermögen zählt neben seiner theokratischen Wirkkraft – der ›Macht‹ der Götter – auch die Bereitstellung einer bis dahin verborgenen Transzendenz. Da sich nun – entsprechend einer gattungs- und autorenübergreifenden griechischen Traditionslinie – jegliche Transzendenz aus einer kosmischen Konstitution ἐξ ἀρχῆς ergeben muss, 204 muss der Dichter, der ja an seine eigene Gegenwart durch die kontingent waltende Wirklichkeit gebunden ist, für ebendiese Darstellung entrückt werden. Denn ein Zugriff auf Universelles kann nicht alleine aus der 203 204
Anonymus, Von der Ode, 157. Siehe hierzu ebenfalls die Kapitel II.2–3 der Studie.
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Akzidenz geschehen. Er muss diese vielmehr überwinden. Entrückung meint somit nichts anderes als ein Überwinden des Akzidentellen zugunsten höherer Darstellungsdimensionen. Die Wahrheit – als das wichtigste modallogische Paradigma, das das Lehrgedichts zu erfüllen versucht – erscheint in diesem Sinn wertvoller als die Ähnlichkeit und erst recht wertvoller als die Meinungen. Die Potenz, die einen solchen Zugriff zu leisten vermag, muss, da sie bereits ihrer Ursächlichkeit nach den menschlichen Wirk- und Erfahrungsbereich übersteigt, vielmehr bei den Göttern gesucht werden. Sie folgt dabei Kraftvorstellungen, die in Bezug auf ihre Gottheiten intrinsisch anmuten – die Pistis besitzt Stärke, die Aletheia ein unerschütterliches Herz etc. –, jedoch bereits in erheblichem Maße auf die Formierung der Dichtungsgegenstände selbst und damit auf ihre eigene Repräsentationskraft hin konzipiert sind. Die Engführung eigentlich theoretischer Größen mit wirksamer Kraft wies zudem auf Platons Ideenlehre voraus. 205 Während sich in dieser Grundhaltung zugleich bereits die Produktionsmodalitäten der poetischen Werke reflektierten, so folgten deren Chiffren dem didaktischen, inspirativen und prophetischen Vokabular. Hierdurch generierten sie autarke Traditionslinien, die – wie in Ovids Fasti gesehen – auch in römischer Zeit Anreize zu spielerischen Arrangements boten. Das Lehrgedicht kann, wie auch die Elegie, als ein in der Antike maßgeblich vorgeprägtes Gattungsformat gelten, das im 18. Jahrhundert eine neue (und im Gegensatz zur Elegie auch letzte) Konjunktur erfährt. Die wichtigsten Beispiele unterscheiden sich in formaler Hinsicht erheblich: Das Spektrum reicht von Werken wie Albrecht von Hallers Die Alpen (1729) Brockes Irdischem Vergnügen in Gott (1721–1748) über Christoph Martin Wielands Von der Natur der Dinge (1751) bis hin zu Goethes Die Metamorphose der Pflanzen (1798), wobei selbst Verserzählungen wie Wielands Musarion (1768) entsprechende Gattungscharakteristika aufweisen. 206 Das Lehrgedicht wird bereits in seiner antiken Gattungsgeschichte immer wieder mit Göttlichkeit assoziiert. Auch im 18. Jahrhundert wird dieser Topos aufgegriffen; Baumgartens Aesthetica gibt hierüber die beste Auskunft. Es werden hierzu mit Horaz und Vergil bemerkenswerterweise zwei Gewährsmänner angeführt, die sich in ihren Lehrdichtungen – Vergil in den Georgica, Horaz in der Ars poetica – anderen, nichtgöttlichen Gegenständen – dem Landbau beziehungsweise der Dichtkunst – zugewandt haben und die dadurch das Gattungsprofil über das ursprünglich so zentrale Konstituens des Göttlichen hinausführen: Vgl. nochmals hierzu Schmidt (2006), 182: »Pistis meint Vertrauen, Glaube. Es handelt sich um etwas Höheres als die feste, rechte Auffassung, welche auch in der Politeia (431c6) als orthê doxa bezeichnet wird. Es handelt sich um die Kraft der Theorie«. 206 Vgl. zur Adaptation der Lehrgedichtstradition in der Musarion Borghardt (2014), 223 f. 205
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§ 126 Theologi primi fuerunt theogoniarum cantores, referre quibus Musa dedit fidibus divos, puerosque deorum, Hor. Cythara crinitus Jopas Personat aurata, docuit quae maximus Atlas. Hic canit errantem lunam, solisque labores, Unde hominum genus et pecudes, unde imber et ignes e. c. Ingeminant plausum Tyrii Troesque sequuntur, Virg., Aen. i 745. 207
Die Sänger der Theogonien (theogoniarum cantores) sind demnach nicht nur, wie etwa Hesiod, inspirierte Dichter, 208 sondern regelrechte Theologen (theologi). Die zur Erläuterung herangezogenen Verse entsprechen Hor., ars, 83 und Verg., Aen., 1, 740–747, wobei von letzteren die Verse 744–746 nicht explizit angeführt werden (»e. c.«). Jopas wird hier als Sänger (canit) und Atlas als dessen Lehrer (docuit) vorgeführt. Sie verbinden das Singen (canere) mit dem Belehren (docere) und stellen dadurch die Hauptaspekte des Lehrgedichts aus. Der Ursprung der Lehrdichtung liegt, dafür steht Atlas, in der Göttlichkeit, seine Ästhetik, dafür steht Jopas, im Singen. Somit liegt, insofern das Lehrgedicht in der Antike keineswegs dem Bereich der sangbaren und von einer Kithara begleiteten Poesie zugeordnet war, eine passgenaue Lyrifizierung der Gattung vor. Der Topos von einer Vergöttlichung des Dichters wird mit einer lyrischen Komponente versehen – ein Vorgehen, das im 18. Jahrhundert fortan immer wieder prominent bekräftigt wird, beispielsweise von Herder einige Jahrzehnte später im Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst (1766): Vorzüglich ist aber der Ursprung der Dichtkunst mit göttlicher Ehre belegt: so wie schon nach Platons Ausdruck, die Dichter selbst, heilige und göttliche Geschöpfe sind. Apoll, da er Python überwand, oder Bacchus, oder das Orakel, oder Osiris oder die Musen sollen die ersten Verse gesungen haben. 209 Baumgarten, Aesthetica, sect. IX, § 126: »§ 126 Die Theologen waren die ersten Sänger der Theogonien, denen die Muse es eingab, Götter und Götterkinder mit Saitenspiel zu besingen, Hor. Auf der goldenen Kithara lässt der langhaarige Jopas / erklingen, was ihn der großartige Atlas gelehrt hat. / Dieser besingt den umherziehenden Mond und Sonnenfinsternisse, / woher das Geschlecht der Menschen und die Tiere kommen, woher Regen und Feuer etc. [sc. kommen], / Die Tyrier seufzen vor Beifall auf, und die Troer schließen sich an. Virg., Aen. I 745«. In der Ausgabe, die Baumgarten vorlag, steht in Vers 741 quae, während die modernen Textausgaben an dieser Stelle quem bevorzugen. Die Übersetzung orientiert sich an dem, was Baumgarten selbst zitiert – also an quae. 208 Die Eingangsszene in der Theogonie kann als vorzügliches Beispiel für das von Baumgarten herangezogene horazische Diktum »Musa dedit fidibus divos, puerosque deorum« gelten. Denn es ist genau diese Fähigkeit, welche die Musen Hesiod, der sich zuvor als ein einfacher Schafhirte inszenierte, am Helikon eingeben. 209 Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 93. 207
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Die origo wird demnach als natürliche Verschränkung von Gott und Dichter gedacht, die Herder unter Bezugnahme auf die platonische θεία δύναµις, 210 wie sie im Ion diskutiert wurde, ins Feld führt. Im 18. Jahrhundert wird diese gottähnliche Befähigung des Dichters um die neuen Naturbegriffe erweitert. Die mathematisch-physikalische Beschreibungsdimension der Welt geht einher mit einer physikotheologischen. Barthold Heinrich Brockes' (1680–1747) großes Lehrgedicht Irdisches Vergnügen in Gott (1721–1748) setzt eine Naturbetrachtung in Szene, deren perspektivischer Verlauf sich vom Großen auf das Kleine richtet: 211 25
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Die größten Bäume trifft man hier In solcher Schön- und netten Kleinheit an, Daß man der Stämme Zweig' und Blätter holde Zier Nicht gnug besehn, nicht gnug bewundern kann. Ich fand, daß ob sie gleich sehr klein, Die Stämme wahres Holz, wie große Stämme, seyn. Es hat die Festigkeit, es brennet, eine Rinde Umgiebt sie, ja ich finde Dieselbe recht mit Moß, gleich den bejahrten Eichen, Umgeben und geziert. Die Blümchen, die so schön, Auf jedem kleinem Zweig', als Apfel-Blüthe, stehn, Sieht man der Bienen Heer die süße Nahrung reichen. Betrachte denn forthin, geliebter Mensch, die Heide Nicht sonder Gottes Lob, nicht sonder Freude! 212
Das Besehen und das Bewundern der Natur sind konstitutiv sowohl für den Sprecherstandpunkt als auch für die Weltaneignung und treiben die lyrische Beobachtung, und zwar die Bewegung der Beobachtung, mikroskopisch gerichtet vom Großen ins Kleine, voran. Die Freude an der Natur ist mithin geknüpft an einen Einblick in die Natur. 213 Beides zusammen führt auf direktem Wege zu Gott, dem und dessen Schöpfung sich das Lehrgedicht dezidiert im Modus des Gefühls annähert. 214 In Hallers Die Alpen (1729) verbreitet sich an Stellen wie der folgenden eine ganz ähnliche Stimmung in der Haltung zur Natur:
Hierauf bezieht sich offenbar »Platons Ausdruck« (ebd.). Zum Problem der Perspektivität in der Lehrdichtung Brockes vgl. Wagner-Egelhaaf (1997). 212 Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott, 25–38. 213 Das Prinzip der intima rerum erfährt daher bei Brockes eine physikotheologische Wendung. Vgl. zu diesem ideengeschichtlichen Kontext Steinmann (2008) und Trepp (2009). 214 Diese Verbindung zwischen dem Anblick der Schöpfung und der Freude wird auch in Klopstocks Ode Der Zürchersee (1750) mit besonderer Emphase vorgetragen. 210 211
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Und hier hat die Natur die Lehre, recht zu leben, Dem Menschen in das Herz und nicht ins Hirn gegeben. Hier macht kein wechselnd Glück die Zeiten unterschieden, Die Tränen folgen nicht auf kurze Freudigkeit; 215
Die Ähnlichkeiten der bei Brockes und Haller zugrundeliegenden Poetologien beschreibt Große im Kontext sensualistischer und empiristischer Weltbilder: Die Logik der Poesie oder der Einbildungskraft wie die sinnliche Anschauung leisten etwas, was die mathematisierte Logik der Zeit und die durch den experimentellen Verlauf geregelte Beobachtung nicht mehr leisten können und wollen. Die poetische ›Gefühlslogik‹, die ›Logik der Einbildungskraft‹ (Breitinger), läßt den logischen Sprung von der sich auf die Empirie beschränkenden Naturbeobachtung zum Preis Gottes dort noch zu, wo ihn die Logik der Naturwissenschaft verbietet. An Brockes läßt sich jedoch beobachten, wie er zwar einerseits die sensualistischen Ansätze und die empirisch-induktive Methode der neuen Naturwissenschaften aufnimmt, andererseits aber in seiner Poesie und durch Poesie den christlichen Universalismus gegen Atheismus und Deismus rettet. Die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften werden einem alten Weltbild in der Poesie und durch Poesie integriert. 216
Großes Einlassungen darf noch hinzugefügt werden, dass der in der Naturbetrachtung liegende Universalismus nicht unbedingt christlich sein muss, sondern gattungsgeschichtlich auf heidnischen Gottheiten beruhen kann. 217 Das physikotheologische Moment kann, wie an Leibniz' Metaphysik gesehen, durchaus einem deistischen Weltbild genügen. Zudem ist zu ergänzen, dass Brockes die mathematisch strenge Form aus den Inhalten seines Lehrgedichts keinesfalls ausschließt, sondern regelmäßig bemüht. Die poetologische Anlage des Lehrgedichts in der Frühaufklärung, für die Brockes und Haller exemplarisch stehen, weist eine Prägung auf, welche die antike Tradition noch nicht vorsah: Von Baumgartens Anführung eines Kitharasänger über die freudige Betrachtung, die der Mensch bei der Naturbetrachtung laut Brockes empfinden dürfe, bis hin zu Hallers auf das Herz gerichtete NaturEmphase rückt in allen Beispielen die Sinnlichkeit in den Mittelpunkt des Interesses. Dies tut sie jedoch nicht auf rein sensualistische Weise, sondern stets im Bewusstsein der Macht eines Gottes (Baumgarten) oder der Allmacht des Gottes (Brockes, Haller). Sowohl von einer solchen theologischen, aber auch von einer modallogischen Warte aus betrachtet, beschäftigt sich das Lehrgedicht vor 215 216 217
Haller, Die Alpen, 89–92. Große (32010), 150 f. Vgl. Kapitel II.3.a der Studie.
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allen Dingen mit der Wahrheit. Dadurch bezieht es sich, psychomechanisch gewendet, auf die kühle Ordnung des Verstandes. Ebendieses Kriterium wird die Hauptkritik am Lehrgedicht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bilden. Das Lehrgedicht repräsentiert in diesem Sinn diejenige Gattung, die Lessing in Pope ein Metaphysiker! (1755) suspendieren möchte – und zwar unter Einschluss des antiken Vorbilds Lukrez in das von Alexander Pope (1688– 1744) verfochtene »System« der Dichtkunst: Allein Ordnung! Was hat der Dichter damit zu tun? Und noch dazu eine so sklavische Ordnung. Nichts ist der Begeisterung eines wahren Dichters mehr zuwider. Man würde mich schwerlich diese kaum berührten Gedanken weiter ausführen lassen, ohne mir die Erfahrung entgegen zu setzen. Allein auch die Erfahrung ist auf meiner Seite. Sollte man mich also fragen, ob ich den Lucrez kenne; ob ich wisse, daß seine Poesie das System des Epikurs enthalte? Sollte man mir andere seines gleichen anführen; so würde ich ganz zuversichtlich antworten: Lucrez und seines gleichen, sind Versmacher, aber keine Dichter. Ich leugne nicht, daß man ein System in ein Sylbenmaß, oder auch in Reime bringen könne; sondern ich leugne daß dieses in ein Sylbenmaß oder in Reime gebrachte System ein Gedicht sein werde. – – Man erinnere sich nur, was ich unter einem Gedichte verstehe; und was alles in dem Begriffe einer sinnlichen Rede liegt. Er wird schwerlich in seinem ganzen Umfange auf die Poesie irgend eines Dichters eigentlicher anzuwenden sein, als auf die Popische. Der Philosoph, welcher auf den Parnaß hinaufsteiget, und der Dichter, welcher sich in die Täler der ernsthaften und ruhigen Weisheit hinabbegeben will, treffen einander gleich auf dem halben Wege, wo sie, so zu reden, ihre Kleidung verwechseln, und wieder zurückgehen. Jeder bringt des andern! Gestalt in seine Wohnungen mit sich; weiter aber auch nichts, als die Gestalt. Der Dichter ist ein philosophischer Dichter, und der Weltweise ein poetischer Weltweise geworden. Allein ein philosophischer Dichter ist darum noch kein Philosoph, und ein poetischer Weltweise ist darum noch kein Poet. 218
Lessing befindet sich mit seiner Polemik gegenüber dem Lehrgedicht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in guter Gesellschaft. Wenn beispielsweise Herder den Niedergang der Ode thematisiert, dann illustriert er diesen – ganz im Sinne des ausschließlichen Wahrheitsanspruchs, den das Lehrgedicht aufweise – daran, dass die Oden, die in der Gegenwart gedichtet werden, eine fortschreitende Kühle besäßen, die derjenigen des Lehrgedichts gleichkomme. Das Lehrgedicht sei demnach nur vortragend und darstellend und somit kalt:
218
Lessing, Pope ein Metaphysiker!, 636 f.
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Unter uns verlor sie [sc. die Ode] fast den Schein der Empfindung, die Einzelheit des Gegenstandes, und wurde eine Moralische Predigt über einen allgemeinen Satz, kaum so feurig als das kalte Lehrgedicht. 219
Bereits bei Christian Heinrich Schmid hatten wir diese Zuweisung des Lehrgedichts an einen bestenfalls mittleren, eher aber noch niedriger temperierten Affekt kennengelernt, insofern »die lehrende lyrische Poesie nicht den ersten und zweiten, sondern nur den dritten Grad des Affects erreichen könne«. 220 Diese Attribuierung der Lehrgedichtsgattung erscheint recht merkwürdig, da vor allem Brockes freudige Naturschau auf ein gefühlsmäßiges ›Durchblicken‹ der göttlichen Ordnung abzielt und dieses gewissermaßen im Modus des Lyrischen durchführt. Gewählt wird ein betont subjektiver Betrachter, der seine Augen den Naturphänomenen zuwendet und Gott in deren Schönheit ›findet‹ (»ich fand«, »ich finde«). Es kann somit keine Rede von einer kalten Darstellung oder einem predigenden Ton sein, wie Herder es im Vergleich zur Ode anklingen lässt; vielmehr ist die sinnliche, auf Auge und Gefühl basierende, ästhetische Erfahrung der Natur notwendige Voraussetzung für jedes denkbare Gotteslob. Mit dem von Herder vorgebrachten Ausdruck der »Predigt« – die hier die unempfindsame Ode auf die Ebene des Lehrgedichts rückt – schließt sich der Kreis gleichwohl zu den theogoniarum cantores Baumgartens, die als theologi zu gelten hätten. So sehr das Lehrgedicht auch Göttlichkeit enthält, so wenig dürfe es wie ein Vortrag wirken. Vielmehr solle es sich der Stärke des Ausdrucks verschreiben und dabei ausdrücklich gar bis hin zur lyrischen Empfindung reichen, wie Herder in der von ihm selbst herausgegebenen enzyklopädischen Zeitschrift Adrastea (1801–1803), die poetische Gattungen und Begriffe versammelt, ausführt: Mit welcher Felsenstärke kündigten Parmenides, Epimenides und mehrere ihrer Weisen die Wahrheiten ihres Systems als Aussprüche der Muse an! Nicht Gesetzgeber und Gnomologen allein, eigentliche Systematiker kleideten ihre Lehrsätze in Silbenmaße, deren überbliebne Fragmente uns den Verlust so mancher Geistesschätze bedauern machen. Die stärkste, reinste Aussprache der Wahrheit wird ihrer Natur nach allenthalben Dichtkunst; jedes System ist selbst ein Poem, sofern es mit sich bestehend, ganz und rein ist. Bis zur lyrischen Poesie erhebt sich die philosophische Wahrheit. Den Schatz der Griechen hierin haben wir, außer Pindar und kleinen Bruchstücken, verloren; Horaz aber, der die Griechen so schön bestahl, vielleicht der schätzbarste Dieb aller Zeiten, in wie trefflichen Strophen singt er uns Weisheit in die Seele! 219 220
Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 72 f. Schmid, Von der lyrischen Poesie, 304.
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So fein sind seine Worte zusammengesetzt, daß man sie nicht vergessen kann, wenn man gleich wollte. 221
Herder nennt, wie schon aus der zitierten Stelle hervorgeht, ausschließlich Beispiele aus der Antike und anderen Nationalliteraturen. 222 Es handelt sich offenkundig – und erst recht im Vergleich zu Herders Äußerungen von 1766 – mittlerweile mehr um einen Gattungshybrid denn um eine strenge, sich einzig der Wahrheit verpflichtende Form. Es geht nunmehr um regelrechte »Lehroden«. 223 Das deutschsprachige Lehrgedicht scheint, angesichts der praktisch nicht vorhandenen Beispiele bei Herder, diesen Kriterien gerade nicht zu genügen. Und hierin sollte Herder zugleich Recht behalten: Tatsächlich ist nach Goethes Metamorphose der Pflanzen (1798) kein solches prominentes Lehrgedicht mehr entstanden, dem eine universelle Bedeutung zugesprochen wurde.
4.d. Das Versepos
Den Ausgangspunkt für die Auseinandersetzungen mit der Gattung des Versepos liefert eine sich aus der Querelle des Anciens et des Modernes (1687– ∼ 1720) heraus entwickelnde Debatte. In der Querelle wird die Frage nach der Relativität der Antike in Konkurrenz zu anderen Epochen 224 gestellt und dabei regelmäßig mit bestimmten Autoren verknüpft. Die Frage nach der Qualität der eigenen Epoche steht immer auch im Verhältnis zu den als mustergültig aufgefassten Autoren der Antike. Es entwickeln sich dabei regelrechte diskursive Nebenstränge, wie etwa die Querelle de Pindare oder die Querelle d'Homère. 225 Zu den wichtigsten Protagonisten, die im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts die sogenannte Querelle d'Homère anstoßen, zählt Antoine Houdar de La Motte (1672–1731). Seine Übertragung der Ilias von 1714 ist von der ausdrücklichen Zielsetzung getragen, »Fehler« (defauts), die Homer in seinem Epos mutmaßlich begangen habe, auszumerzen. 226 Auch eine deutliche Kürzung des Originals in La Mottes Übertragung verweist auf einen neuen, Herder, Adrastea, Art. »Lehrgedicht«, 43. Genannt werden beispielsweise noch Lukrez, Melchior de Polignac, Dante und Petrarca. 223 Ebd. 224 Vgl. Kapitel I .1.d der Studie. 225 Vgl. hierzu das bis heute wichtige Standardwerk von Gillot (1914) sowie in jüngerer Zeit Fumaroli (2013). 226 Vgl. die Einlassungen im »Discours sur Homère« genannten Vorwort bei La Motte, L’Iliade, IX – X: »On s’attend sans doute sur cet usage, à trouver ici le panegyrique d’Homère; mais outre que je le traduis moins que je ne l’imite, & qu’ainsi l’usage des Traducteurs ne fait point de loi pour moi, j’ai crû encore que rien ne pouvoit autoriser les exagèrations; que le vrai mèrite ètoit de reconnoître les dèfauts par-tout où ils sont; que d’allieurs les fautes des grands hommes sont les dangèreuses, & 221 222
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kritischen Umgang mit Homer. Die rasch folgende Reaktion seitens der Gelehrtenwelt auf diese neue Version der Ilias, insbesondere von Anne Dacier (1645–1720) in ihrem Traktat Des causes de la corruption du goût (1714), besteht vor allem darin, das von konservativer Seite vertretene Autoritätsargument durch ein Originalitätsargument zu ersetzen: Das Original sei gegenüber der Übersetzung immer zu bevorzugen – eine Haltung, die zudem etwa Jean Terrason (1670–1750) und Jean Boivin (1663–1726) vertraten. Die ›Aussöhnung‹ zwischen den Parteien findet dann recht zügig, bereits 1716, statt. Die Querelle d' Homère erlangt im deutschsprachigen Raum insbesondere über Gottsched Eingang in die Diskussionen um das Versepos. Gottsched selbst attestiert dabei Homer zahlreiche Eigenschaften als Autor, die sich auch auf die Affektenlehre beziehen. Diese fallen jedoch durchaus ambivalent aus, insofern »er [sc. Homer] die Affekten [bewegt]; er schreibt edel und erhaben; er lehrt und belustiget endlich seine Leser«; 227 allerdings laufe bei Homer bisweilen aber auch »alles wider die Natur menschlicher Affekten, die zu allen Zeiten einerlei gewesen: und Homer kann auf keine Weise gerettet werden.« 228 Mit derselben Absolutheit, mit der er die Vernunftgesetze zugleich als Gesetze der Natur und der Poesie begreift, 229 bringt Gottsched die Absolutheit in den Bereich der Affektenlehre ein (»zu allen Zeiten einerlei«) und bemisst hieran das homerische Epos. Was Gottsched aus der Querelle d'Homère übernimmt, ist die relativierende Beurteilung der traditionell als majestätisch erachteten Größe Homers. Denn Homer gilt seit der Antike als Verkörperung des epischen Dichters schlechthin. Das Versepos wiederum zählt im 18. Jahrhundert – neben der pindarischen und horazischen Ode – zu denjenigen Gattungen, deren Dignität eng auf das Vermögen ihrer Verfasser bezogen wird, Affekte zu erzeugen und Bilder in der Seele zu zeichnen. Neben dem Standpunkt Gottscheds sind auch solche Haltungen zu berücksichtigen, die einen spielerischeren Umgang mit qu’il est d’autant plus important de les faire sentir, que bien des gens font gloire de les renouveller. Ce discours ne sera donc point un éloge d’Homère, mais seulement une dissertation, ou si je l’ose dire, un essai de Poëtique, où je dirai naïvement ce que je pense de l’Iliade & de son Auteur.« (»Man erwartet zweifellos aus Gewohnheit, hier eine Lobrede über Homer zu finden; aber ich übersetze ihn weniger, als dass ich ihn nachahme; und daher bildet die Gewohnheit der Übersetzer kein Gesetz für mich; ich habe bisher immer geglaubt, dass nichts Übertreibungen rechtfertigen könnte, dass der wahre Verdienst darin bestehe, die Fehler zu erkennen, wo auch immer sie sich befinden; [außerdem habe ich geglaubt,] dass alle Fehler großer Männer gefährlich sind und dass es umso wichtiger ist, auf sie aufmerksam zu machen, weil viele Menschen sich dafür rühmen, sie zu wiederholen. Dieser Discours wird also kein Lob Homers sein, sondern nur eine Erörterung oder, wenn ich es wagen darf zu sagen: ein Versuch über Poetik, in dem ich ohne Vorbehalt vortragen werde, was ich von der Ilias und ihrem Autor halte.«). 227 Gottsched, Critische Dichtkunst, 33. 228 Ebd., 134. 229 Vgl. Kapitel V .1.a der Studie.
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dieser Frage bevorzugen, indem sie die Relativität der Epochen (und nicht, wie Gottsched, die unterschiedliche Qualität mancher Stellen innerhalb eines Werks) zueinander ausstellen. So wird in Friedrich von Hagedorns An die Dichtkunst (1747) die Poesie zunächst in tändelnder Manier als »Gespielin« 230 apostrophisch angerufen und in der Folge mit der Kraft der beiden maßgeblichen Autoren des griechischen und römischen Versepos enggeführt:
10
[D]ie Kraft, der Helden Trefflichkeiten mit tapfern Worten auszubreiten, verdankt Homer und Maro dir. Die Fähigkeit, von hohen Dingen den Ewigkeiten vorzusingen, verliehst du ihnen und nicht mir. 231
Nach der Nennung der gattungstypischen Thematik (»der Helden Trefflichkeiten«) werden mit Homer und Vergil die beiden zentralen Vertreter hierfür aus der griechischen und römischen Antike angeführt. Sie beziehen ihre Kraft von der Dichtkunst her, also von einer personifizierten ars und nicht aus einem enthusiastischen Urgrund – ein Vorzug, den der Sprecher selbst vorgeblich nicht bieten könne. Das muss jedoch keinen schwerwiegenden Mangel bedeuten, sondern erweist sich hier noch als nützlich für den Topos der recusatio (»verliehst du ihnen und nicht mir«). Insofern die recusatio traditionellerweise eine bestimmte Erwartungshaltung vorschützt, 232 inszeniert der Sprecher hier seine eigene (Un-)Fähigkeit im Verhältnis zu den antiken Vorbildern und einer regelrecht vergöttlichten ars poetica. Gleichfalls spielerisch geht Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737– 1823) in seinen Briefen über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1767) mit dem Versepos um. Es handelt sich dabei zunächst um eine Rezension in Form eines platonischen Dialogs zu Michael Hubers Anthologie deutscher Lyrik Choix de Poësies Allemandes (1766), welche zu der Zeit die erste Anthologie dieser Art in französischer Sprache überhaupt darstellt. Huber überträgt darin ausgewählte deutsche Gedichte und Lieder in französische Prosa. Die Veröffentlichung dieser Anthologie bietet hier nur den willkommenen Anlass, um allgemeine Fragen der Poetologie aufzuwerfen. Zu deren Beurteilung, um die es Gerstenberg geht, spielen nun Kategorien, die wir bereits im Zusammenhang mit der Odentheorie kennengelernt hatten, wie etwa der »Schwung der Versification« 233 eine Hagedorn, An die Dichtkunst, 1. Ebd., 7–12. 232 In dem Sinne, dass der Sprecher, indem er behauptet, bestimmten Erwartungen nicht genügen zu können, bereits voraussetzt, dass der Rezipient solche Erwartungen überhaupt hegt. 233 Gerstenberg, Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur, 20. Brief, 348. 230 231
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bedeutende Rolle. Inszeniert wird der Dialog zwischen dem Bibliothekar von Belverede und dem Herrn von S**d**lm, »Freund« genannt, vor der Grotte Apollons. Eine Hinwendung zur Affektenlehre im Sinne der Lehre von den Seelenkräften. So wird zunächst die Freude in ihren allegorischen Funktionen diskutiert, 234 um schließlich eine psychologisch geprägte Beurteilung durch den Bibliothekar zu erhalten: »Die Freude muß unsrer Empfindung Nerve und Kraft geben, um das Glück schätzen zu können.« 235 Im Folgenden werden Weitschweifigkeit, Unrichtigkeit des Plans, Nachlässigkeiten und Ungleichheiten im Ausdruck 236 als meidenswerte Fehler des Poeten eingestuft, um sie mit einem ovidischen Zitat zusammenzufassen: Viele dieser Kleinigkeiten zusammengenommen sind so sehr der Tod eines Liedes, daß, um Ihnen eine Sentenz zurückzugeben, Nec vigor, et vires, et quae modo visa placebant, Nec corpus remanet. 237
Zitiert wird das bekannte Schicksal des Narcissus nach Ovids Metamorphosen, 3, 492 f. Die Ausdrücke vigor, vires und corpus bilden ein Wortfeld der (Körper-)Kräfte 238 und bereiten ex negativo (nec [. . . ] nec) eine Empfindungspoetik vor, die sich mit Klopstock und gegen Batteux lesen lässt. Der Bibliothekar formuliert sie auf kaum weiter reduzible Weise: Folglich drückt sich nicht jeder Gegenstand der Empfindung durch den Gesang aus; sondern die Empfindung selbst, in welche die verschiedenen Gegenstände zusammenfließen, löst sich in Töne auf, und wird der simple und einfache Gesang der Natur. 239
Der »Gesang der Natur« entspricht demnach eher der Empfindung als dem Gegenstand der Empfindung. Im Folgenden wird die Frage, wie sich poetische Werke rational beurteilen ließen, wo doch der Urgrund dichterischer Produktion irrationale Empfindung ist. Sie kulminiert in der definitorische Streitfrage, was ein ›Genie‹ sei. Der Bibliothekar vertritt dabei einen Geniebegriff, der über Namentlich anhand des Liedes Freude, Göttin muntrer Jugend, höre mich (1743 in Friedrich Graefes Sammlung verschiedner und auserlesener Oden) Carl Heinrich Grauns, welches Huber an den Beginn seiner Anthologie gesetzt hat. 235 Gerstenberg, Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur, 20. Brief, 356. 236 Vgl. ebd., 368. 237 Ebd. 238 Bereits bei Ovid ist das Hendiadyoin aus gewachsener Lebenskraft (vigor) und den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Kräften (vires) von einiger Bedeutung, um eine in sich komplementäre und damit ganzheitliche Verwandlung des Jünglings zur Darstellung zu bringen. 239 Ebd., 375. 234
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die Rolle der Fähigkeiten hinauszugehen habe: »Was diese Gelehrten [sc. Sulzer und andere Autoren in den Breßlauischen Beyträgen] Genie nennen, ist bloß bestimmte Fähigkeit, und unzulänglich, das Werk des Genies von Meisterstücken großer Köpfe ohne Genie zu unterscheiden«. 240 Der Herr von S**d**lm nimmt die entgegengesetzte Haltung an: »Ich habe Fähigkeit immer für den allgemeinen Namen gehalten, dessen Bestimmungen Genie, Gedächtniß, Geschmack etc. sind.« 241 Und betont an späterer Stelle: »Das Genie ist aber im Grunde doch nur eine Fertigkeit.« 242 Worum es bei dieser Debatte vor allem geht, ist indes die aus der Psychomechanik bekannte Frage, auf welche Art von Kraft sich die einzelnen Seelenkräfte rückführen lassen: [U]nd wir sind voreilig genug, aus den Phänomenen auf die Ursachen und Triebfedern zu schließen, da wir doch über den innern Mechanismus der Seele, wenn ich mich so ausdrücken darf, in der blindesten Unwissenheit tappen. Was weis ichs, wie es der Imperator macht, wenn er in dem Augenblicke, da seine Schale zu steigen anfängt, da sein Leben selbst in Gefahr ist, da seine Legionen von allen Seiten muthlos zurückgetrieben werden; [. . . ] Allein, ich kann in seine [sc. des Imperators] Seele nicht hineinschauen. Ich weis nicht, wie ihre Kräfte gespannt sind; nicht, worinn die Harmonie bestehe, die so erstaunliche Wirkungen hervorbringt. 243
Es stellt sich hier dieselbe Frage, die Kepler und Leibniz schon beschäftigt hatte: Sind Fähigkeiten der menschlichen Seele mit einer Ur-Fähigkeit begründbar oder bedarf es einer qualitativ davon unterschiedenen Kraft, die nicht nach rationalen Regeln erschließbar ist? Leibniz' Antwort hierauf bestand im Konzept der lebendigen Kraft (vis vivida). 244 Sie wird hier als viuida vis animi aufgegriffen und mit Homers Genius in Verbindung gebracht, anhand von Faktoren wie Hitze, Stärke, Kraft und Begeisterung – und dies mit einem Seitenhieb auf das dichterische Talent Johann Jakob Bodmers: [D]iese Hitze, diese Stärke, diese anhaltende Kraft, dieser überwältigende Strom der Begeisterung, der ein beständiges Blendwerk um uns herum macht und uns wider unsern Willen zwingt, an allem gleichen Antheil zu nehmen – das ist die Wirkung des Genies! Wenn Bodmer das kann, so ist er unser Homer! – 240 241 242 243 244
Ebd., 385. Ebd., 386. Ebd., 390. Ebd., 387 f. Vgl. die Kapitel III.3.a und IV.4.c der Studie.
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Sie lehren mich in der That die viuida vis animi, das os Graium und rotundum aus einem ganz neuen Gesichtspunkte betrachten. Die Illusion des gegenwärtigen Gottes – die Inspiration – die viuida vis animi – so ists! Durch sie allein konnten Erdichtungen Wahrheit werden! Sie werden mir zugeben, daß diese Kraft, die ich in Beziehung auf uns Trug oder Illusion nenne, diese Kraft, die Natur wie gegenwärtig in der Seele abzubilden, in Beziehung auf den Dichter diejenige entschiedene und hervorstechende Eigenschaft sey, die wir uns unter dem Namen des poetischen Genies auch da denken, wo wir uns von unsern Begriffen nicht immer Rechenschaft zu geben wissen. 245
Die Reaktion des rationalen Herrn von S**d**lm (»Sie lehren mich in der That [. . . ]«) darf, wie zu sehen, leicht spöttisch ausfallen, denn die Begriffe, die sich der Bibliothekar vom Genius macht, sind zwar traditionsreich; sie rekurrieren auf Inspirationstopoi, auf die lebendigen Kräfte und auf die Repräsentationskraft der Natur in der menschlichen Seele. Diese Größen werden jedoch nicht argumentativ genau auf den Kontext übertragen, sondern wie in einem Potpourri verwendet. Allein eine Tatsache scheint hier gewiss zu sein: Homer hat als die einzige Inkarnation der Kraft des Genies zu gelten. Alle Ependichter der folgenden Epochen haben lediglich noch einen formalen, erfinderischen Zugriff auf die Kraft des homerischen Genies: Hat nicht Virgil, haben nicht Tasso und Voltaire neue Erfindungen, neue Seiten? Haben sie nicht alles, was Homer hat – das einzige ausgenommen, wodurch er uns Homer ist! – Statius und Silius beobachten eben den Gang, bedienen sich eben der Oekonomie, wie Homer: die Form der Epopöe ist aber das einzige, was sie mit ihm gemein haben; es fehlt ihnen Homers Genie. 246
Demzufolge zählt zu den Tücken der Epigonalität, dass sie nicht mehr als lebendige Urkraft gelten kann, sondern nur noch Ableitungen aus derselben vollzieht, sich also nur auf die eigene Fähigkeit zur Erfindung verlassen kann. Dies betrifft die Gattung des Versepos als solches, das nach Homer nur noch der »Form« nach weitergetragen werden könne. Der Gegensatz zwischen Erfindungsgabe und wahrem Genius, zwischen Fertigkeit und lebendiger Kraft, zwischen erklärbaren Seelenkräften und dem inneren Mechanismus des Genies bilden zusammen den Aufbau der dichterischen Seele, wobei nur Homer in allen Bereichen Stärke aufweist. Er leistet ungewollt gleichsam einen Bärendienst an der Literaturgeschichte, denn Vergil, Statius, Silius Italicus, Tasso 245 246
Gerstenberg, Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur, 395 f. Ebd., 405.
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und Voltaire konnten vor lauter sorgfältig abgewogener, »[o]ekonomi[scher]« Nacheiferung gar nicht mehr ihren eigentümlichen Genius zur Ausprägung bringen. Was man seit der Antike beobachten könnte, sei eine fortschreitende Diversifizierung und Vermischung der Gattungen: »Wir bekamen also poetische Erzählungen, lyrische und didaktische Gedichte, poetische Fabeln, poetische Satyren, und poetische Gespräche.« 247 Die Verbindung von Kraft mit einer Ursprungstheorie kann in den 1760er Jahren als paradigmatisch für die Bestimmung des Versepos als Gattung überhaupt gelten. Im Anschluss an die Bedeutung der theologi primi in Baumgartens Ästhetik meint das poetische Fortschreiten aus einer origo heraus bei Herder, etwa im Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst (1766), ebenfalls zugleich eine Loslösung vom Chaos. Das heißt jedoch nicht, dass der Urmoment dichterischer Produktion von der Einführung von Regeln bestimmt wäre. 248 Der Entwicklungsgang wird von Herder über die Götterhymnik, die religiösen Gesänge der Orphik und die Bewegung der Rhapsodik nachgezeichnet. 249 Homer verkörpert dann mit seiner Versepik einen weiteren Entwicklungsschritt aus der Rhapsodenkunst, er ist also keineswegs der erste, sondern derjenige, der zu seinem eigenen Genie etwas Neues dazu ersinnt. 250 Daraus ergibt sich eine Inversionsfigur: Homer wird von Herder gleichsam vom Ausgangspunkt der Epik zum Endpunkt der Liedkultur gemacht. Die Lyrik besitzt damit einen Ebd., 406 f. Vgl. Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 102: »Nein! Alle Werke des Genies sind nicht durch Regelmäßigkeiten entstanden: hätten wir eine Geschichte der Erfindungen, so würde es sich zeigen, daß wir das Meiste und Kostbarste dem Gotte des Zufalls zu danken haben«. Der hier benannte Austritt aus dem Urzustand heraus in die religiöse Sangeskunst wird an späterer Stelle weiter ausgeführt: »[D]a die älteste Religion der Völker nicht aus Betrachtung über die Werke der Natur entsprungen: sondern da wahrscheinlicher Veränderungen der Welt, Zerrüttungen der Natur, Spuren einer unsichtbaren feindlichen Gewalt, ein Streit der Begebenheiten im Laufe der Dinge die sinnlichen Menschen auf den Begriff der Götter gebracht: so müssen die ersten heiligen Gesänge mehr zur lebendigen Handlung als zur todten Malerei gleich von Anfang seyn gewöhnt worden« (Ebd., 110 f.). Der Streit der Begebenheiten, der Zwiespalt der Dinge zueinander, erinnert an die Bilder, die sich die Antike vom Urzustand gemacht hat, insbesondere an Ovids berühmte Chaos-Beschreibung in den Metamorphosen. Denn als das Chaos herrschte, »stand dem einen das andere entgegen« (Ov., met., 1, 18: »obstabatque aliis aliud«) – im Übrigen ein Streit, den bereits dort nur »ein Gott und eine bessere Natur« (Ebd., 1, 21: »deus et melior [. . . ] natura«) schlichten konnten. Dass die Beschreibung des Übergangs vom Chaos zum Kosmos ein genuines Anliegen der Lehrdichtung ist, führt Hes., theog., 116–153 vor. 249 Vgl. Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 108–118. Die orphischen Hymnen seien demzufolge darauf aus, dass in ihnen »[a]lles lebt und [. . . ] Thaten [thut]« (ebd., 112), und die antiken Götterhymnen überhaupt seien »Kräfte der Natur« (ebd., 118). 250 Diese Haltung findet sich passim in zahlreichen Bemerkungen Herders zur homerischen Frage wieder; vgl. besonders explizit Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 98: »Eben so hat man sich geirret, wenn man den Homer für den ersten Dichter gehalten«. 247 248
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Primat vor der Epik, und dennoch kann die Kraft Homers als die historisch nachhaltigste gelten. Homer nämlich habe von den Vorentwicklungen in der Rhapsodik genuin profitiert und konnte dadurch erst recht seine eigene Strahlkraft entwickeln: Alle Zeitalter der Anfangsversuche, der schlechten und mittelmäßigen Gedichte waren vorbei: er [sc. Homer] konnte alle diese Proben nützen; hatte die goldne Zeit der Dichtkunst erlebt, und ward also die Sonne, die ihre Morgensterne erbleichte, und vor welcher Jahrhunderte nachher als für einem Gott und Boten der Götter niederknieten. 251
Wichtig für Herder ist, dass vor Beginn der lyrischen Gattungsgeschichte, aber auch vor Beginn der Versepik noch keine Regeln für die entsprechenden Gattungen existierten. Die Kontingenz, wenn man so möchte: das Chaos, wird dann zur notwendigen Bedingung für die Entstehung einer neuen Gattung, wie Herder ein Jahr später in Pindar und der Dithyrambensänger (1767) bekräftigt: »Vor den regelmäßigen Stücken im schönen Stil muste das große wüste Unregelmäßige voran gehen.« 252 Diese Denkfigur bildet eine gewisse Herausforderung für die antike wie auch für die zeitgenössische Literatur. Bereits die Antike blickte immer wieder auf ihre eigenen Ursprünge zurück 253 und formulierte das Bedürfnis nach Erklärungsmodellen, die eine hohe Qualität bereits im Anfangsstadium der Dichtkunst belegen könnten. Gleiches tun laut Herder die poetologischen Einlassungen späterer, »großer« Autoren: [D]ie Poetiken großer kritischer Schriftsteller führen gemeiniglich eine Stelle der Alten, wie ein Orakel, an, um den Ursprung der Dichtkunst zu zeigen, bei dem sie sich genügen lassen. Nun sind diese Nachrichten so kurz, daß sie einem vorbeistreichenden Blitz gleichen: sie gewähren uns einen kurzen Anblick, nie aber ein vollkommenes Anschauen. 254
Ein Augenblick genügt demzufolge nicht, um die origo zu erfassen. Hierzu wäre vielmehr das zweideutig 255 verstehbare »vollkommene[] Anschauen« nötig. Die Tätigkeit des Erblickens und Erscheinens wird zum koinzidenten Moment bei der Bestimmung des Ursprungs, insofern
Ebd. Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 308. 253 Besonders eingängig im Wettkampf, der zwischen Homer und Hesiod auszufechten sei, im Certamen Homeri et Hesiodi, entstanden um 400 v. Chr., in der heute überlieferten Form zusammengestellt von einem anonymen Kompilator im 2. Jahrhundert n. Chr. 254 Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 89. 255 Zum einen im Sinne der Abgeschlossenheit, zum anderen im Sinne der Perfektion. 251 252
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[wir] die Dichtkunst aber [. . . ] schon bei ihrem Ursprunge in Glanz [erblicken]; denn nicht von menschlichem Witz ist sie erfunden, sondern vom Himmel gesenket; nicht durch kleine Zunahmen gewachsen, sondern gleich bei ihrer Geburt vollständig reif an Stärke und Schönheit erschienen. 256
Es handelt sich beim Ursprung der Dichtkunst demnach um eine ›Erscheinung‹ ihrer vollständigen Reife; diese sei jedoch gerade nicht als Offenbarung zu denken, wie Herder im Folgenden weiter ausführt: Das Poetische ist so wenig ein wesentliches Stück der Offenbarung, daß der Zweifler sogar auf den Irrweg gerathen könnte, auch der Inhalt selbst sey eine Folge einer feurigen Einbildungskraft. In der That hätte Gott, wenn er zu Weisen geredet hätte, die einer Ueberzeugung ohne Rührung fähig gewesen wären, gewiß blos für den Verstand geredet, und man macht das zum Zeichen der göttlichen Herrlichkeit, was eine Foderung [sic] unserer Schwachheit ist. 257
Die intensiven Aspekte der »feurigen Einbildungskraft« und der »Rührung« sind auch im Moment der Entstehung die eigentlichen Konstituenten des Poetischen. Rein stoffliche Kriterien, etwa »der Helden Trefflichkeiten«, wie sie Hagedorn veranschlagte, spielen demnach im Urstadium der Dichtkunst noch gar keine Rolle. Die theoretische Fokussierung auf die Affekte und gleichzeitige Vernachlässigung der topischen Stoffe erschweren zudem die Nachahmbarkeit. 258 Aspekte, die man nach unseren Betrachtungen in Kapitel v.4.a– c eher der lyrischen Gattung zuschreiben möchte, wie Hitze, Feuer und die konsequente Ausrichtung auf Affekte, werden von Herder demgemäß in den Fragmenten einer Abhandlung über die Ode (1764) auf die Versepik angewandt und auf die Bewunderung, den erhabensten Affekt, zu dem das Epos fähig sei, bezogen. Herder kritisiert hier die Versepik seiner Zeit einzig auf der Folie wirkintensiver Kategorien: Wenn man die Epopee als die höchste Dichtart verehret, so hat man allerdings recht, wenn die Bewunderung der erhabenste Affekt ist: allein sollte die Stärke und Hitze des Affekts der Maasstab [sic] werden, so ist schon der theatralische höher: und überhaupt kann man es geradezu leugnen, daß die Epopee unsere ganze Seele bewegen kann: ihre Zeit ist zu kurz, ihre Handlung durch Reden und Episoden zu unterbrochen: ihre Affekte zu sehr betrachtend. Das Drama rührt Ebd., 94. Ebd., 100. 258 Vgl. ebd., 113: »[A]ber wie schwer ist’s, Affekte nachzuahmen, sich in einen sinnlichen Zustand zu setzen, der eine Folge von Unwissenheit, und ein Ursprung großer Gefühle ist«. Hierin zeigt sich nicht zuletzt eine ablehnende Haltung gegenüber der Position Batteux’, wie wir sie in Kapitel v.1.a der Studie sehen konnten. 256 257
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wegen aller dieser Ursachen noch mehr; allein mit dem Odenfeuer in seiner Natur verglichen, verlierts unendlich. 259
Dem Epos gelingt es somit im Vergleich zur Ode nie, die ganze Seele zu rühren. Die hergebrachte Hierarchie, die das Versepos als genus grande oberhalb der anderen Gattungen sah, ist hier nicht mehr gültig. Ganz ohne Emphase und Betonung eigener Empfehlungen belässt Herder seine Betrachtungen zur Antike allerdings dann doch nicht. Und dort hat Homer dann doch wieder seinen stabilen Platz: Denn gewiß! wenn eine Erscheinung mir frei ließe, drei Männer des griechischen Alterthums zu sprechen: so würde ich ohne Streit mit mir selbst, Orpheus, Homer und Plato wählen. 260
Folgt man Herder, so erlebt die Geschichte der lyrischen Dichtkunst durch die Legitimation einer auf Affekte und Kräften beruhenden Poetologie ihre ersten Höhepunkte in den orphischen Gesängen und weiß ihre Kraft im homerischen Epos zu bündeln. Platon wiederum spielt hierzu diejenige Rolle, die er im Ion offenbart hatte, 261 als einer der ersten Philosophen, die sich mit der Dichtkunst auf krafttheoretische Weise auseinandersetzten und dabei vor allem den Enthusiasmos in den Mittelpunkt rückten. Den späteren Zeiten bleibt demgegenüber nur die formale Aneignung der Antike aufgrund der Unnachahmbarkeit eines ursprünglichen Affektes.
4.e. Exkurs: Ossian-Rezeption
Um die Bedeutungsspanne, die der Epik in den 1760er Jahren als prägender Gattung zukommt, noch genauer zu umreißen, bietet es sich an, eine exkursorische Betrachtung der Rezeption der ›Ossian-Fragmente‹ anzufügen. Zunächst zum geschichtlichen Kontext: 1760 werden die sogenannten Fragments of Ancient Poetry, collected in the Highlands of Scotland and translated from the Galic or Erse language von James Macpherson (1736–1796) veröffentlicht; 1762 folgt die Veröffentlichung von Fingal, 1763 diejenige von Temora, welche zu den Hauptstücken des ›Ossian-Corpus‹ zählen und erklärtermaßen Herder, Fragmente einer Abhandlung über die Ode, 77 f. Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 110. 261 Vgl. ebd., 101: »In diesem Betracht kann ich mir des Platons Gespräch Jo, das mit so dichterischem Enthusiasmus vom Enthusiasmus der Dichter spricht, erklären, ohne nach dem alten Sprüchwort der Wahrheit, oder dem Plato unrecht zu thun, weil er nichts minder wollte, als den Ursprung und das Genie des Dichters erklären«. 259
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die germanisch-keltischen Pendants zu Homers Ilias (Fingal) und Odyssee (Temora) bilden sollen. 1765 folgt dann die Publikation der Works of Ossian mit ›Parallelstellen‹ zu Homer, Vergil und Milton sowie mit einem Beitrag von Hugh Blair (1718–1800). Von den Fragments bis hin zu den Works erfreuen sich diese als ›Ossian-Fragmente‹ bezeichneten Texte – der vorgebrachten Skepsis Samuel Johnsons (1709–1784) zum Trotz – von Beginn an großer Beliebtheit unter den europäischen Gelehrten. 262 Während vor allem die Fragments lyrischen Zuschnitts sind, bewegen sich Fingal und Temora im Bereich der Epik. Auf die Frage der Authentizität dieser Werke scheint es dabei weniger anzukommen als auf die regelrechte Erleichterung, ›endlich‹ ein nordeuropäisches Gegengewicht zur klassischen Antike, einen ›Homer des Nordens‹ vorweisen zu können. Inmitten dieser Gemengelage veröffentlicht Rudolf Erich Raspe (1736–1794) seine Nachricht von den Gedichten des Oßian, eines alten schottischen Barden; nebst einigen Anmerkungen über das Alterthum derselben (1763). Sie ist zunächst aufschlussreich für die Beschreibung des neuen kompetitiven Verhältnisses, das zwischen (pseudo-)keltischer und griechisch-römischer Antike herrscht. Raspe erkennt in seiner Nachricht die Unechtheit der Fragmente noch nicht beziehungsweise ignoriert sie, wenn er sie erkennt. Ihm zufolge seien die von Macpherson übersetzten Fragmente »ohne Zweifel das älteste, schätzbarste und verehrungswürdigste Denkmahl der alten celtischen Gelehrsamkeit«, 263 das zudem in einer Zeit entstanden sei, da man von den Schotten mit Recht sagen konnte: triumphati magis quam victi, da die Sitten und Gebräuche dieses celtischen Stammes noch durch keine römische oder fremde Herrschaft verändert, ihre Tapferkeit und Muth durch kein fremdes Joch geschwächt, und ihre Sprache durch den Umgang mit Ausländern noch nicht verfälscht worden. 264
Es sind, unter taciteischer Beglaubigung, 265 mit »Tapferkeit und Muth« fast schon archaisch zu nennende Gemütskräfte, die ihren Niederschlag in den Ossian-Fragmenten gefunden hätten. Selbst die Publikationsgeschichte, die Die mit Abstand beste Zusammenstellung der wesentlichen Rezeptionsphänomene im deutschsprachigen Raum bieten Gaskill / Schmidt (2003). 263 Raspe, Nachricht von den Gedichten des Oßian, 1457 f. 264 Ebd., 1458. 265 Vgl. Tac., Germ., 37: »triumphati magis quam victi« (»mehr triumphierend als besiegt«). Die Wahl Tacitus’ erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass dieser für die Germanen – die nach Auffassung der zeitgenössischen Ethnographie ebenfalls zu den nördlichen Völkern Europas zu zählen sind – hinsichtlich ihrer Sitten, Bräuche und Kultur fast ausschließlich lobende Worte findet. Die Tacitus-Rezeption hat ab dem späten 15. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum eine merkliche Steigerung erfahren und wurde nicht selten für die Etablierung eigener deutscher Altertümer instrumentalisiert; vgl. hierzu Mertens (2004), 73–101. 262
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sich – von Macpherson strategisch inszeniert – in Form angeblich immer neuer ›Entdeckungen‹ vollzieht, wird hier noch als Beleg für eine Analogie zu Homer und den Rhapsoden herangezogen: Sind nicht Homers Gedichte, an deren Aufrichtigkeit doch keiner zweifelt, durch die Rhapsoden auf gleiche Art stückweise erhalten worden? Hatten nicht die Teutschen noch im achten Jahrhundert ihre durch die Überlieferung beybehaltenen Bardenlieder? 266
Im Zuge dessen kündigt Raspe noch eine von ihm besorgte Ausgabe des Fingal, eines der pseudo-ossianischen Hauptgedichte in der Macpherson-›Übersetzung‹ nebst einer eigenen deutschen Prosa-Übertragung an. 267 Er wünscht nicht weniger, als dass diese vom Leser »zu beurtheilen [sind], als Rollin den Homer zu beurtheilen und zu lesen empfiehlet.« 268 Für die erste deutsche Übersetzung der ossianischen Gedichte kommt Raspe gleichwohl zu spät. Diese wird bereits 1768 vom Jesuiten Michael Denis (1729–1800) in Wien veröffentlicht und von Herder kritisch besprochen. Herders Rezension zu Die Gedichte Oßians, eines alten celtischen Dichters, aus dem Englischen übersezt von M. Dennis, aus der G. J. Erster Band, Wien bey Trattner 1768, gr. 8, 226 Seiten 269 bietet Anlass für poetologische Erwägungen, die über das einzelne, zu rezensierende Werk erheblich hinausgehen. So wirft etwa die Tatsache, dass Michael Denis die pseudo-ossianischen Gedichte in daktylische Hexameter überträgt, für Herder vor allem eine wirkästhetische Frage auf: »[T]hut Oßian in seinem homerischen Gewande eben die Würkung, als Oßian der Nordische Barde?« 270 Analog zur aus dem Ersten Wäldchen bekannten, dort jedoch an Pindar diskutierten Gedankenfigur, 271 der zufolge die Entscheidung für ein bestimmtes Metrum einen »Gang« der Dichtung widerspiegle, heißt es hier: Homers Muse wählte den Hexameter, weil dieser in der reichen, vieltönigen, abwechselnden griechischen Sprache lag, und auch in seinem langen und immer rastlosen Gange dem Gange der Poesie am besten nach- und mitarbeiten konnte. 272 Raspe, Nachricht von den Gedichten des Oßian, 1460. Vgl. ebd., 1469. 268 Ebd., 1470. Raspe bezieht sich hier auf das zwischen 1726 und 1728 in Paris entstandene Traktat De la manière d’enseigner et d’étudier les Belles-Lettres par rapport à l’esprit et au cœur des Altertumswissenschaftlers Charles Rollins (1661–1741), der nicht nur Historiographien über die Völker der Antike verfasste, sondern 1715 auch Quintilian ins Französische übersetzte. 269 So der vollständige Titel der bereits 1769 erschienenen Rezension. 270 Herder, Die Gedichte Oßians, eines alten celtischen Dichters [Rezension 1769], 64. 271 Vgl. Kapitel V .4.a.α der Studie. 272 Herder, Die Gedichte Oßians, eines alten celtischen Dichters [Rezension 1769], 65. 266
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Wenn der Schritt der begeisterten Einbildungskraft bei Pindar zu regellosen Strophenformen führe, in denen sich der Enthusiasmus widerspiegele, so sei Homers Gang demgegenüber lang und rastlos zu nennen. Mit dem Nach- und Mitarbeiten ist es eine Tätigkeit, die zudem den Kristallisationspunkt zwischen Metrik und Poesie bildet. Zu den Eigenschaften der ossianischen und homerischen Epik zählen, so Herder weiter, wesentlich heroischer Eindruck, die Reihung der Bilder, der Redefluss und der Haupteindruck des Tons: Ich zweifle, daß die Dennissche [sic] Uebersetzung diesem Charakter getreu bleibe. Epischen, heroischen Eindruk läßt sie; aber nicht Schottischheroischen, Nordischepischen Eindruk [sic]. Sie muß die kurze Abgebrochenheit des Dichters mildern, und gleichsam verschmelzen: sie muß seine Bilder reihen, die er erhaben hinwarf: die Lücken zwischen ihnen verflößet sie: sie bringt alles in Fluß der Rede – ein homerischer Rhapsodist, nicht aber auch dem Haupteindruk [sic] des Tons nach, der raue erhabne Schotte. 273
Der (Haupt-)Eindruck von Bildern und Tönen erscheint hier als das wesentliche Element der Epik auf. Neu ist indes hieran, dass er mit nationalen Charakteristika versehen wird. Jedes Volk verfügt demnach über seine eigene Eindrücklichkeit, der sich in der Epik manifestiere. Rauheit und Erhabenheit zeitigen demnach qualitativ andere Eindrücke als der fließende Eindruck, wie er in der homerischen Epik vorzufinden sei. Die Kritik Herders an der Übertragung Michael Denis' richtet sich genau hierauf und macht dies an der Reihung der Bilder fest, die in der Seele entstehen. Sie nämlich müssen streng auf jenen Haupteindruck hin ausgearbeitet sein, der im Original – und zwar in dessen nationaler, kultureller Prägung – wahrnehmbar ist. 274 Aufschluss über den weiteren Fortgang dieser Verklärung einer ›nordischen Antike‹ gibt Herders Rezension zu den beiden Nachfolgebänden, die Denis 1772 veröffentlicht. Hier liege eine Analogie zu Popes Homer-Übersetzung vor, die »den Griechen verschönert« 275, was wiederum Klopstocks Epigramm Der englische Homer (1771) aufruft, das Herder hier vollständig zitiert. Klopstocks ›Urteil‹ sei mutatis mutandis auf Ossian und Denis übertragbar. Zum einen gestalte sich Denis' Übertragung zu weich und »halb südlich«. 276 Das Hauptargument indes drückt einmal mehr eine Verbindung von psychologischen und geschichtsphilosophischen Aspekten aus. Die literarische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts sei Ebd., 66. Dieses Verfahren wird in Kapitel v.6.a der Studie theoretisch noch näher anhand der HomerLektüre Herders bestimmt werden. 275 Herder, Die Gedichte Oßians, eines alten celtischen Dichters [Rezension 1772], 439. 276 Ebd. 273 274
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[m]ehr an eine Kette raffinirter [sic] Vorstellungen, leichter Abstraktionen, angenehmer pensées und Reflexionen gewöhnt, als an den rauhen Schrey der Leidenschaft, kühner Hinwürfe einer starkgetrofnen Einbildung, und einer wüsten starken Gestalt der Seele. 277
Es ist somit ein auf Sprüngen und Würfen basierendes Naturbild, das auf die Seele Wirkungen zeitigen soll. Die zu meidende Diktion von pensées hingegen verweist auf den Bereich der Philosophie und somit – wie seit der Antike verbürgt – 278 auf reflexive, abstrahierende Seelenregionen. Jedoch haben sich laut Herder, aufgrund einer regelrechten Verzärtelung der menschlichen Seele, bey uns in Denkart, Ausdruck und Gestalt der Sprache auch ganz andre Seelenkräfte entwickelt, oder zu entwickeln angefangen. Alles bis auf unsre Dichtkunst und Dichtungsgespräche hat den Weg des schönen Anstandes, des Feinausgedachten und Feingesagten, der guten Wendung, des vollendeten Umrisses auch in Bilde, Perioden, Vers, Wohlklang, Sylbenmaas – den Kunstweg hat alles genommen. Dazu liegen Formen und Materialien in unsrer Seele bereit – und gegen alles dies welchen Abstand macht Oßian! 279
Mag den Deutschen – oder besser: Deutschsprachigen (Michael Denis selbst war Österreicher) – auch eine kulturelle Nähe zu Ossian zugesprochen oder angedichtet werden, ruft doch für Herder der räumliche und zeitliche Abstand die Ausprägung unterschiedlicher Sprachen und Wirkweisen auf die Seelenkräfte hervor. Dass Courtoisie, Feinheiten und der Perfektionsgedanke angesprochen werden, deutet darauf hin, dass vor allem der französische Einfluss gemeint ist. Kurz, »statt Kraft, Stärke ist überall poetischprosaisches bürgerliches Vermögen u. s. w.«. 280 Herder veröffentlicht ein Jahr nach der zweiten Rezension in seinem Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker (1773) einen fiktionalen Briefwechsel als eine weitere Replik auf Michael Denis' OssianÜbersetzung. Die denissche Übertragung erfährt hierin vor dem Hintergrund der Oden Klopstocks nochmals eine neue Bewertung. Klopstock selber hat, unter dem Einfluss der allgemeinen Ossian-Begeisterung, einige Oden aus der griechisch-römischen Mythologie in die germanische Mythologie transformiert – etwa Wingolf (1767), bei der es sich um eine Umgestaltung von An des Dichters Freunde (1747) handelt. Anlässlich der Neuausgabe der gesammelten Oden Klopstocks (1771) wird Wingolf von Herder angeführt und – ungeachtet 277 278 279 280
Ebd., 440. Vgl. Kapitel II.5 der Studie. Herder, Die Gedichte Oßians, eines alten celtischen Dichters [Rezension 1772], 440. Ebd., 445.
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ihrer Transformation von der griechischen in die germanische Mythologie – als »große[s] Pindarische[s] Gebäude« 281 bezeichnet – womit nichts anderes ausgesagt ist, als dass selbst bei analogem Austausch der Topoi die Kraft eines Gedichtes dieselbe bleibt. Und ebendies müsse auch für eine Übersetzung gelten – ein Anspruch, den Michael Denis nach Herders Urteil offenkundig nicht erfüllt. Die Dichter werden, wie Herder im Auszug regelrecht beschwört, zu eindringlichen »Seelenerweckern«, deren Stärke und Sinnlichkeit ihr geschichtliches Überleben sichern, denn »[j]e länger ein Lied dauren soll, desto stärker, desto sinnlicher müssen diese Seelenerwecker seyn, daß sie der Macht der Zeit und den Veränderungen der Jahrhunderte trotzen.« 282 In diesem Zuge wird nicht zuletzt der Topos des Nachruhms reformuliert, dessen Vorlagen in der Antike, insbesondere in der augusteischen Dichtung entwickelt wurden. 283 Im Briefdialog zwischen dem als »Rezensent« und »Übersetzer« bezeichneten Partien versucht sich der Übersetzer dann für gewisse Entscheidungen zu rechtfertigen, wie Herder anhand einzelner Lieder, namentlich Odins Höllenfahrt und dem Webegesang der Valkyriur expliziert: Der Geist, der sie erfüllet, die rohe, einfältige, aber grosse, zaubermäßige, feyerliche Art, die Tiefe des Eindrucks, den jedes so starkgesagte Wort macht, und der freye Wurf, mit dem der Eindruck gemacht wird – nur das wollte ich bey den alten Völkern, nicht als Seltenheit, als Muster, sondern als Natur anführen, und darüber also lassen Sie mich reden. 284
Herder nutzt auch hier die Gelegenheit, den geschichtlichen Relativismus hervorzuheben, dem jede Dichtung überhaupt unterliege. Bereits das Studium der Altertümer sei, so Herders hier durchaus polemisch instruierte Diktion, davon beherrscht, »Leidenschaften zu erkünsteln, die wir nicht haben, Seelenkräfte nachzuahmen, die wir nicht besitzen – und endlich wurde alles Falschheit, Schwäche, und Künsteley.« 285 Auch der Rezensent schließt sich dieser Argumentationslinie grundsätzlich an. Dazu wird wiederum die Topik der Seelenkräfte aufgegriffen: Erkennet ein Dichter, daß die Seelenkräfte, die theils sein Gegenstand und seine Dichtungsart fodert [sic], und die bey ihm herrschend sind, vorstellende, 281 Herder, [Rezension zu] Oden von Klopstock, bey Johann Joachim Christoph Bode, Hamburg 1771. 4. 294. S. Postpapier (1773), 122. 282 Herder, Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder der alten Völker, 12. 283 Wir hatten diesen Gemeinplatz bereits in Kapitel II .2 im Zusammenhang mit der Frage nach der transzendenten Dimension der Dichtkunst kennengelernt; es sei nur an Ov., met., 15, 871–879, Verg., Aen., 9, 448 und Hor., carm., 4, 9, 1–4 erinnert. 284 Herder, Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder der alten Völker, 39. 285 Ebd., 41.
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erkennende Kräfte sind: so muss er seinen Gegenstand und den Inhalt seines Gedichts in Gedanken so überlegen, so deutlich und klar fassen, wenden, und ordnen, daß ihm gleichsam alle Lettern schon in die Seele gegraben sind, und er gibt an seinem Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck. Fodert [sic] sein Gedicht aber Ausströmung der Leidenschaft und der Empfindung, oder ist in seiner Seele diese Klasse von Kräften die würksamste, die geläufigste Triebfeder, ohne die er nicht arbeiten kann: so überläßt er sich dem Feuer der glücklichen Stunde, und schreibt und bezaubert. 286
Herder zufolge lässt sich die auf Sprüngen und Würfen fußende Natur, die wir bereits in seiner Rezension von 1772 identifizieren konnten, vor allem in der Volkspoesie finden, denn »Nichts in der Welt [hat] mehr Sprünge und kühne Würfe [. . . ] als Lieder des Volks«. 287 Die ursprüngliche Volkspoesie stellt darum allerdings keineswegs ein irrationales Taumeln dar, sondern kreist stets um Begebenheiten und Handlungen: Alle Gesänge solcher wilden Völker weben um daseyende Gegenstände, Handlungen, Begebenheiten, um eine lebendige Welt! Wie reich und vielfach sind da nun Umstände, gegenwärtige Züge, Theilvorfälle! Und alle hat das Auge gesehen! Die Seele stellet sie sich vor! Das setzt Sprünge und Würfe! Es ist kein anderer Zusammenhang unter den Theile [sic] des Gesanges, als unter den Bäumen und Gebüschen im Wald, unter den Felsen und Grotten in der Einöde, als unter den Scenen der Begebenheit selbst. 288
Die Poetik der Naturvölker muss demnach darauf aus sein, dass die Einbildungskraft äußere Gegebenheiten in besonderer Kühnheit zu nicht-kontinuierlichen Gedanken verbindet, namentlich zu »Sprünge[n] und Würfe[n]«. Volkspoesie kann, konzipiert auf der Grundlage einer Seelenmechanik, für diesen Moment beides meinen: den antiken Homer und den ›nordischen‹ Homer.
5. Sulzers Lehre von sinnlicher Empfindung und antiker Energie
Neben der philosophischen Ästhetik haben die Ansätze zu einer mechanistischen Psychologie im englischen Empirismus, insbesondere bei David Hume, einen entscheidenden Einfluss auf Sulzers Neujustierung der Psychologie. Nicht ohne Grund fertigt Sulzer 1755 die erste deutschsprachige Übersetzung des bekanntesten Traktats Humes, An Enquiry concerning Human Understan286 287 288
Ebd., 44. Ebd., 47. Ebd., 59 f.
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ding (1748), an. 289 Diese Übersetzung bildet gleichzeitig den Initialpunkt für die in den folgenden Jahren von Sulzer durchgängig vertretene Überzeugung von einer Philosophie, die sich zuvorderst auf die Funktionen der unteren Seelenbereiche zu konzentrieren habe. 290 Humes Philosophie wiederum kann als eine der einflussreichsten für die Verbindung von Mechanizität und Sinnesleistungen in der menschlichen Seele gelten, der zufolge auch der Erkenntnisapparat auf die Sinne reduzibel ist. Die Tätigkeit der Seele liegt im psychomechanischen Rezeptionsvermögen und der Verwirklichung ihrer Fähigkeiten. Hierzu zählt insbesondere das Verstehen auf Basis der sinnlich generierten Erfahrungen; so schreibt Hume im Enquiry der Seele die Fähigkeit zu, Informationen auf vorwiegend mechanischem Wege zu erlangen und weiterzuverarbeiten. 291 Hume bewegt sich mit diesem Erklärungsmodell in die Richtung psychologischer Grundbereiche. Hierbei findet sich eine bemerkenswerte Aussage zum angeborenen Instinkt. Hume sieht bei allen Lebewesen einen solchen Instinkt vorliegen, der auf die empirische Verstandesbetätigung (experimental reasoning) aus sei und bei dem es sich um das innere Prinzip einer mechanisch tätigen Kraft handle. 292 So sei es zu den ureigenen Funktionen der lebendigen Kräfte zu zählen, ihre eigene Aktivität vor den Erkenntnisvermögen verborgen zu halten; dies werde umso evidenter, when we consider, that the experimental reasoning itself, which we possess in common with beasts, and on which the whole conduct of life depends, is nothing but a species of instinct or mechanical power, that acts in us unknown to ourselves; and in its chief operations, is not directed by any such relations or comparisons of ideas, as are the proper objects of our intellectual faculties. 293
Dieser Traktat bildet ein Schlüsselwerk zu praktisch allen Bereichen der Philosophie Humes, ursprünglich betitelt mit Philosophical Essays concerning Human Understanding. Hierbei handelt es sich wiederum um eine Überarbeitung des Treatise concerning Human Understanding (1739–1740). Zur Entstehungsgeschichte dieser Werke vgl. Lüthe (2004) und Streminger (1995). 290 Die Quellen der Erkenntnis bestehen in den sensations und den ideas, wobei die ideas nichts mit der platonischen Vorstellung von ἰδέα/εἶδος zu tun haben, sondern vielmehr eine Folge innerer und äußerer Empfindungen (sentiments) darstellen, die durch den Geistesapparat operationalisiert worden sind; vgl. Hume, An Enquiry concerning Human Understanding, sect. II, 13: »In short, all the materials of thinking are derived either from our outward or inward sentiment: The mixture and composition of these belongs alone to the mind and will. Or, to express myself in philosophical language, all our ideas or more feeble perceptions are copies of our impressions or more lively ones«. 291 Zum generellen Einfluss Humes auf Sulzer vgl. die grundlegende Studie von Tumarkin (1933) sowie in jüngerer Zeit den Sammelband von Grunert / Stiening (2011). 292 Dies befindet sich im Einklang mit der Philosophie, die wir in Kapitel III .3 als Grundlage der vires vivae ersehen konnten. 293 Hume, An Enquiry concerning Human Understanding, sect. IX , 78. 289
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Die mechanische Kraft (mechanical power) schlägt sich in den Haupttätigkeiten (chief operations) der Seele nieder. Erst in den oberen Regionen finden sich die intellektuellen Fähigkeiten der Seele (faculty) (an-)erkannt. Das bedeutet aber nicht, dass die mechanische Kraft vor diesem Einsichtsmoment nicht bereits tätig gewesen wäre und gewisse Wirkungen gezeitigt hätte. Die Vergleichsvorgänge, die zwischen den Ideen vorgenommen werden (comparisons of ideas), sind dementsprechend keine Prozesse, die vor jeder Erfahrung lägen. Insgesamt werden die Kräfte der Seele, ganz wie aus der mechanistischen Tradition bekannt, als vorwiegend operationale gedacht 294 und vollziehen ihre Tätigkeiten zu einem großen Teil unbemerkt (unknown to ourselves), ja auf geradezu automatisierte Weise, bevor der Verstand sie als solche benennen könnte. Somit entwickeln sich Begriffe und Vorstellungen erst aus dem sinnlichen Urgrund anhand psychomechanischer Akte heraus. Diese Humes Philosophie geradezu programmatisch kennzeichnende Überzeugung von einer dunklen, sinnlichen Kraft, die im Menschen walte, findet, wie im Folgenden noch näher zu zeigen sein wird, in der Philosophie Sulzers einen prominenten Niederschlag.
5.a. Kraft, Empfindung und die »zwo Seelen«
Bildet Hume eine wichtige Vorlage für die Skepsis an der vorrangigen Gültigkeit des Verstandesvermögens, so wird sich die Argumentation Sulzers darauf konzentrieren, die Funktion der Empfindungen im Verhältnis zu den anderen in der menschlichen Seele waltenden Kräfte zu beschreiben. Die durch die ars aesthetica vorangetriebene Erhöhung der sinnlichen Seelenvermögen wird durch Sulzer noch weiter radikalisiert. Es genügt nicht mehr die Setzung eines analogon rationis, das zwischen sensualen und gnoseologischen Bereichen vorherrsche; stattdessen findet eine strikte Teilung der Seelenregionen statt, die auf einer Kräftetheorie des Unbewussten fußt. Sinnliche Empfindungen erweisen sich demzufolge als wirkmächtig und handlungsstimulierend. Es geht dabei um Triebkräfte, die, einmal in Gang gesetzt, selbst von der Vernunft kaum noch zu bändigen sind. Die distinktiven Kräfte der Seele, die mithilfe deutlicher Ideen operieren, sind ihnen hoffnungslos unterlegen, wie sich an Sulzers Äußerungen zu den dunklen Vorstellungen ablesen lässt: Die wahren antreibenden Kräfte sind vors erste die sinnlichen Empfindungen, dann so wohl die klaren, aber sehr verworrenen, als auch die bis zu einem gewisZur Operationalität des Geistes bei Hume im Vergleich zu den Auffassungen, die sich bei anderen englischen Empiristen, insbesondere Locke und Berkeley, finden lassen, vgl. die Studie von Mall (1984). 294
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sen Grade dunkeln Vorstellungen. Keine einzige deutliche Idee kann bewegen; sie kann bloß die Aufmerksamkeit leiten. 295
Man fühlt sich an Quintilians Unterscheidung zwischen den vires und den vires verae erinnert, wenn Sulzer den sinnlichen Empfindungen den Status von »wahren antreibenden Kräften« zuspricht. 296 Wenn bei Quintilian hierdurch die Dichotomie zwischen äußeren Wirkkräften und innerem Potential des Redners gewährleistet wurde, dann geht es bei Sulzer – wie man am Rekurs auf die »sehr verworrenen« und »dunkeln Vorstellungen« sieht – vor allem um die Wirksamkeit des fundus animae, also um den innerseelischen Bereich, in dem Kräfte und wahre Kräfte walten. Letztere stellen die eigentlichen Triebkräfte dar, sind also mehr mit Vorstellungen eines Impulses verhaftet als mit solchen eines Vermögens. Es geht Sulzer vorwiegend um ein mechanistisches Modell des Seelischen, wobei das Augenmerk auf dem besonderen Kraftfeld, das von den unteren Seelenregionen ausgeht, liegt. Wie aber denkt Sulzer die Funktionsweise eines solchen Impulses? Wenn bei Baumgarten noch immerhin die Vernunft als gnoseologische Größe zur Verfügung gestellt wurde, um überhaupt den Sinnen höhere Leistungen als nur rezeptive zukommen zu lassen, so verlagert Sulzer den Bewegungsimpuls vollständig in den niederen Bereich der dunklen Empfindungen. Allerdings nimmt die Aufmerksamkeit in Sulzers Modell wiederum die Rolle einer Kraft ein, die dazu dient, die Empfindungen als Vorstellungen in die mittleren und höheren Seelenbereiche zu überführen. Sie ist somit unabhängig von verstandesgemäßen Zubringerleistungen des Geistes zu verstehen. In Wolffs Psychologie konnte dieses Momentum des Umschlagens vom Unbewussten zum Bewussten anhand der Merkmalsfülle und des realdefinitorischen Verfahrens bezüglich der vor das geistige Auge zu stellenden Entitäten nachvollzogen werden. 297 Sulzer schreibt sich in diese Tradition ein, 298 um dann wiederum die Bedingungen des Umschlags von einer Perzeption zu einer Apperzeption noch weiter in Richtung einer vom Verstandesvermögen unabhängigen Bezugnahme der Seele zu sich selbst zu
Sulzer, Von dem Bewußtseyn und seinem Einfluße in unsere Urtheile, 213. Diese hatten wir in Kapitel II.5.c als eine Spielart der rhetorischen Vermögenslehre kennengelernt, die sich von derjenigen Ciceros absetzen konnte, indem sie von der Wirkmächtigkeit intrinsischer Kräfte ausging. 297 In Kapitel IV .3 hatten wir ein solches Verfahren als integralen Bestandteil einer mathematischen Begriffsgenese im Raum der menschlichen Seele verortet. 298 Vgl. Sulzer, Von dem Bewußtseyn und seinem Einfluße in unsere Urtheile, 200: »Die Philosophen verstehen durch das Wort Bewußtseyn (apperceptio) diejenige Handlung des Geistes, wodurch wir unser Wesen von den Ideen, welche uns beschäfftigen, unterscheiden, und also deutlich wissen, was wir thun und was in uns und um uns vorgeht«. 295
296
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modifizieren. 299 Bei Baumgarten hingegen war es, wie in Kapitel iv.1 und iv.5 der Studie gesehen, vor allem eine strukturanaloge Darstellung der unteren und oberen Seelenkräfte, in der die Tätigkeit der Seele selbst zum Ausdruck kam. Somit nehmen die sinnlichen Vermögen, je nach Nähe zu ihrer rationalen Gegenseite, eine unterschiedliche Position zur Operationalität des Geistes ein. Mehr als die baumgartensche bestimmt die wolffsche Philosophie die ästhetischen Überlegungen Sulzers – wenn auch nicht ohne Kritik: Für ihn gilt es als ausgemacht, dass Wolff die Psychologie zwar im Grundsatz richtig aufgegliedert habe, dabei jedoch die falschen Schwerpunkte gesetzt habe. Sulzers Monitum richtet sich bereits auf die Tatsache, dass mit der Psychologia rationalis eine Verstandespsychologie von Wolff bereitgestellt wurde, welche die Psychologia empirica komplementär und gleichberechtigt ergänzte. Im Kurzen Begriff aller Wissenschaften (1759) findet sich im Sinne der richtigen Aufgliederung zunächst ein Lob für Wolff und dessen Vorgänger Descartes: Die Ehre der Erfindung und Festsetzung dieses wichtigen Theils der Psychologie [sc. der Lehre von den unteren Seelenvermögen] kann dem berühmten deutschen Weltweisen Wolf [sic], den wir in diesem Abschnitte so ofte nennen müssen, nicht wol abgesprochen werden. Da die Alten sogar die gemeine Experimentalphysik versäumt haben, so ist leicht zu erachten, daß sie noch weniger an diese gedacht haben. Des=Cartes hat einigermaßen angefangen, richtige Beobachtungen über die Natur der Seele zu sammeln, unser Weltweise aber hat zuerst das allermeiste, was dazu gehört, in ein System gebracht und unzählige Dinge, welche man vor ihm obenhin betrachtet, mit seiner gewöhnlichen Scharfsinnigkeit auseinander gesezt und auf bestimmte Begriffe gebracht, und also zuerst den wahren Grund zu einer gründlichen Kenntnis der Natur der Seele gelegt. 300
Nach Art eines Epochenpanoramas würdigt Sulzer hier die Vorzüge der mathematisch-mechanischen Experimentalphilosophie. Mit der Würdigung Wolffs für die Einrichtung eines Systems über die Natur der Seele geht bei Sulzer eine Kritik einher, die sich bemerkenswerterweise auf die Antike richtet. Das Defizit der Alten bestand in ihrer Unkenntnis über die Experimentalphysik – und somit auch über die Experimentalphilosophie. In den Vorzügen der Mechanisierung und Mathematisierung – für die mit Descartes der neben Newton Vgl. ebd., 201: »Das Bewußtseyn setzet also auf der einen Seite die klare Idee von sich selbst, und von dem, was man thut, voraus, da sich indessen auf der andern Seite der Verstand noch mit irgend einer andern Sache beschäfftiget, welche er als außer sich und von seinem Wesen unabhängig betrachtet«. 300 Sulzer, Kurzer Begriff aller Wißenschaften, § 206. Zugrunde gelegt wird die zweite Auflage, die gegenüber der ersten eine deutlich höhere Resonanz erfahren hat. 299
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bedeutendste Exponent namentlich genannt wird – liegt zugleich auch dasjenige begründet, was Hume experimental reasoning nannte: eine Tätigkeit, die instinktiv angelegt ist und in psychomechanischer Weise zur Geltung kommt. Über die Erkenntnisse der frühneuzeitlichen Mechanizisten, soweit Sulzers kaum anzweifelbarer Befund, verfügte die Antike also noch nicht. Aber auch die Frühe Neuzeit erscheint diesbezüglich nicht makellos. Bezeichnend für ihr Defizit, namentlich der wolffschen Philosophie, ist der aus dem Rationalismus bekannte Hang, die dunklen Seeleninhalte stets in distinkt-klare Bewusstseinsinhalte überführen zu wollen, diese sozusagen rationalisierbar zu machen. Insbesondere in der Rezeption Descartes' und Leibniz' durch die wolffsche Philosophie schlage sich dies nieder, wodurch Sulzers Traktat als doppelte Antwort auf die Psychologia empirica Wolffs lesbar wird: Da nun die Kenntnis der menschlichen Seele der edelste Theil der Wissenschaften ist, so ist die Erweiterung der empirischen Psychologie den Liebhabern der Weltweisheit bestens zu empfehlen. Insbesonderheit möchten wir sie erinnern, die genaue Aufmerksamkeit auf die dunkeln Gegenden der Seele (wenn man so reden kann) zu richten; wo sie durch sehr undeutliche und dunkle Begriffe handelt. 301
Das hier verfochtene Programm besteht demzufolge darin, die Psychologie Wolffs, insbesondere dessen Psychologia empirica, auf die mit dem Ausdruck der »empirischen Psychologie« angespielt wird, im Bereich der Dunkelheit noch weiter auszubauen. Es geht also vor allem um diejenigen Konzepte, die als notio obscura oder als obscuritas schlechthin den unteren Seelenbereich vor der Erhellung durch den Verstand bestimmen. Die Psychologia rationalis mit ihrer Neigung, vor allem distinkte Urteile zu problematisieren, tritt demgegenüber zurück. Die Erweiterung der Psychologia empirica soll aber nun durch keinen Zusammenschluss dieser Sphären gelingen, sondern wird ganz davon gespeist, dass die Trennung zwischen sinnlicher und geistiger Welt weiter vertieft wird. Sulzer insistiert dabei gerade nicht auf den Cartesianismus – der nach allem, was wir in den Kapiteln iii.1.a–c sehen konnten, eine naheliegende Referenzgröße für jene substantielle Trennung darstellen würde –, sondern auf ein anderes Momentum: Es ist vor allem die Überzeugung von der Widerspenstigkeit, mit der sich die verschiedenen Seelenteile begegnen, die bei der Ausarbeitung einer empirischen Psychologie zum Tragen kommt. Dieses von Sulzer avisierte Projekt wird eingelöst durch eine genuin ästhetische Theorie der Kraft, wie sie sich prominent in der vielfach rezipierten Enzyklopädie Allgemeine Theorie der schönen Künste (1774–1775) formuliert findet. 301
Ebd.
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Sulzer geht davon aus, dass die Verworrenheit einen noch größeren Widerpart zu den Funktionen geistiger Klarheit bildet als in der Tradition der ars aesthetica. Die Verworrenheit konnte ja bei Baumgarten immerhin mit der Klarheit konformgehen, um poetische Vorstellungen zu erzeugen; Baumgarten stellte somit ein dem Rationalismus entliehenes Kriterium (›Klarheit‹) dem Übergangsstadium von der Stufe der obscuritas zur Stufe der confusio zur Verfügung. Die confusio konnte jedoch nur deswegen als überindividuell verstanden werden, weil es der Geschmack ist, der eine intersubjektiv zugängliche Beurteilungsgröße darstellt. Denn er bildet ein außerhalb der bloßen Sensualität befindliches Urteilsvermögen, und im Gegensatz zu geistigen Seeleninhalten werden sinnliche Inhalte in der Regel als individuell aufgefasst. 302 Sulzer schätzt ebenfalls die Kategorie des Geschmacks hoch ein, betont jedoch, im Gegensatz zu Baumgarten, nicht dessen strukturanaloge Nähe zu den höheren Urteilsvermögen, sondern beharrt durchweg auf dem intrinsischen, mithin souveränen Status der Sinne, der sich gerade nicht mit den Mitteln des Geistes erfassen lasse. Der Primat der inneren Sinne wird im Artikel »Kraft« der Allgemeinen Theorie der schönen Künste somit zum Zielpunkt der ästhetischen Kräfte erklärt. Dort wird ›Kraft‹ dementsprechend zugleich als Eigenschaft geschmacklich bewertbarer Entitäten eingeführt sowie als das hauptsächliche Mittel des Künstlers aufgefasst, überhaupt auf die Gemüter der Rezipienten wirken zu können: Wir schreiben jedem Gegenstand des Geschmacks eine ästhetische Kraft zu, in so fern er vermögend ist eine Empfindung in uns hervorzubringen. Was in körperlichen Dingen Geschmak und Geruch ist, das ist die ästhetische Kraft in den Gegenständen, die die Künste den inneren Sinnen darbieten. [. . . ] Also sind die verschiedenen ästhetischen Kräfte die Mittel, die der Künstler braucht auf die Gemüter zu würken, und nichts ist ihm nöthiger, als die Kenntnis dieser Kräfte, die den Gegenständen, die er uns vorlegt, eigen sind. 303
Wenn der Geschmack eine Sache bewertet, so tut er dies nur aufgrund des inneren Sinns. Die Sache selbst, die von diesem Sinn bewertet wird, enthält selbst wiederum ein Kraftpotential. Diese Kraft unterscheidet sich ontologisch nach Essenz und Kontingenz. Wenn unsere inneren Sinne beide Arten aufnehmen und sie in den fundus animae integrieren, so mag gemäß der inneren Wirkweise keine Evidenz für deren notwendige oder akzidentelle Herkunft vorherrschen; jedoch lässt sich, indem sich der Fokus auf den Gegenstand richtet, die Qualität Dies hatten wir in Kapitel v.1–2 anhand der Lehre von den Gemütskräften bei Gottsched nachvollzogen. 303 Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Art. »Kraft«, 45. 302
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des ästhetischen Gegenstandes als eine nach zwei Arten von Kräften unterschiedene Gegebenheit erkennen: Diese Kraft kommt entweder von der Beschaffenheit des Gegenstandes, und seinem unveränderlichen Verhältnis gegen die Natur unsrer Vorstellungskraft, oder sie beruhet nur auf zufälligen Umständen. [. . . ] Jene von der Beschaffenheit des Gegenstandes herkommende Kräfte kann man wesentliche, die andern aber zufällige ästhetische Kräfte nennen. 304
Wenn wir also den essentiellen Ursprung einer ästhetischen Kraft suchen, müssen wir den Gegenstand ins Auge fassen. Dieser bezieht seine poetische Kraft laut Sulzer nun aus drei Bereichen, »aus Vollkommenheit, aus Schönheit und aus Güte«; 305 diese Bereiche werden von Sulzer mit verschiedenen Seelenvermögen verknüpft: Was den Verstand befriediget, kann unter der allgemeinen Benennung des Vollkommenen begriffen werden, und so kann man überhaupt schön nennen, was dem natürlichen Geschmak, und gut, was den natürlichen Neigungen des Herzens angemessen ist. 306
Analog zu diesem Gedanken wird im Folgenden Schönheit mit Sinnlichkeit und Güte mit Moral enggeführt. 307 Das Augenmerk liegt bei alledem nicht auf der abstrakten Idealität, die man diesen Kategorien zuschreiben mag, sondern auf der Gerichtetheit der Seelenvermögen. Vollkommenheit, Schönheit und Güte sind daher primär gar nicht die zu erreichenden Ziele, sondern – gemäß der fundus animae-Theorie – als Urgrund der Kunst und deren Bemessungsgrundlage anzusehen. Die Vermögen formulieren somit gewisse Ansprüche, die zu erfüllen sind. Die Zielsetzung der Kunst besteht im Umkehrschluss darin, bestimmte Seelenvermögen beim Rezipienten anzusprechen. Die Ansprache an bestimmte Vermögen scheint prima facie ausschließlich mit sinnlich vermittelbaren Übertragungen von Kräften in eins zu fallen. Es kommt an der Stelle indes auch die Vernunft ins Spiel: Die Vernunft muss sich an genau jenem Punkt einschalten, an dem es darum geht, den Bezug auf Vollkommenheit, Güte und Moral durch ein kontrollierendes Moment zu gewährleisten. 308 Das Ebd., 45 f. Ebd., 46. 306 Ebd., 46. 307 Vgl. ebd., 46 f. 308 Daher ist die Vernunft zwar nachgestellt, nicht jedoch entfernt aus dem Wechselspiel der ästhetischen Kräfte; vgl. auch die Ausführungen bei Riedel (1994), 422.: »Es liegt nahe, diesen [Sulzers; D. B.] mehr als kritischen Blick auf die in der ›Tiefe der Seele‹ gleichsam ›hinter ihrem Rücken‹ waltende Dynamik subrationaler Kräfte der illusionslosen Haltung des Empirikers und 304 305
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Abzielen auf Vernunftwerte beweist die Reaktionsfähigkeit der Vernunft auf sinnliche Vorgänge. Sie schaltet sich nur dann ein, wenn die Sinne bereits im aktiven Zustand sind. Ästhetische Kräfte werden im Medium des Sinnlichen entfaltet, wobei die Sensualität nicht den Zielpunkt des Schönen bildet. Selbst wenn man die Ästhetik konservativ als ausschließliche Lehre vom Sinnlichen auffasst, so geht sie bei Sulzer doch zum größten Teil in einer Krafttheorie auf. Diese Krafttheorie besteht auf der Entfaltung des dem Verstand entgegengesetzten Vermögens und der Einschaltung des Verstandes im Augenblick der Kontrolle einer Herzensneigung. 309 Die Effektivität, mit der die irrationalen Seelenkräfte auf uns wirken, veranlasst Sulzer gar dazu, überhaupt einen Dualismus der menschlichen Seele anzunehmen. Vorgeführt wird dies etwa in den ausladend betitelten Anmerkungen über den verschiedenen Zustand worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet (1773): Bey der Ausübung dieser zwey Vermögen scheint die Seele so verschieden von ihr selbst zu sein, daß man in Versuchung geräth, die Meynung der alten Philosophen anzunehmen, daß es zwo Seelen in dem Menschen gebe, eine vernünftige und eine empfindende. Die vernünftige Seele der Alten ist das, was wir das Vorstellungsvermögen nennen, und ihre empfindende Seele ist das Vermögen zu empfinden. 310
Sulzer möchte demzufolge nicht nur die Psychologie als Vermögenslehre, sondern umgekehrt auch die Vermögenslehre als Seelenlehre avant la lettre verstanden wissen. 311 Aus der Entscheidung, zwei Vermögen voneinander zu trennen, folgt die Annahme zweier Seelen. Zugleich spielen, wie die obigen Anmerkungen zeigen, hier zwei Zeitalter eine Rolle: Die zeitgenössische Philosophie, namentlich die Ästhetik, nennt dasjenige Vorstellungsvermögen, wofür die Antike vorgeblich noch den Begriff der Vernunft veranschlagen musste. Wenn Sulzer von der »vernünftige[n] Seele der Alten« spricht, so ist dies auf den νοῦς damit dem Pionier der späteren ›Erfahrungsseelenkunde‹ zuzurechnen. Doch ist Sulzers Aufmerksamkeit hier auch durch ein retroversives Moment seines Denkens geschärft, durch seine Bindung an die Wertungen der alten Aufklärung, an ihr tiefes Mißtrauen gegen alles, was nicht Vernunft ist in der Seele des Menschen«. 309 Vesper (2011), 184 hält treffend hierzu fest: »Grundlegend für Sulzers Theorie der verschiedenen psychologischen Zustände ist eine drastische Gegenüberstellung: Auf der einen Seite verfügen wir über ein Erkennen, von dem wir nicht im Handeln geleitet werden; auf der anderen Seite werden wir durch ein Empfinden zum Handeln geführt, das keinen repräsentationalen Gehalt besitzt«. 310 Sulzer, Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, 227. 311 Vgl. hierzu auch Stöckmann (2009), 207–250.
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zu beziehen – sei dieser platonischer, stoischer oder aristotelischer Provenienz. Die Leitfunktion, die er bei Platon und der Stoa innehatte, übernimmt bei Sulzer jedoch die Aufmerksamkeit; die strukturierende Rolle, die Aristoteles ihm zuschrieb, obliegt in der Ästhetik wiederum dem Geschmacksurteil. Die »zwo Seelen«, von denen Sulzer spricht, sind in der Antike bestenfalls als moralische Zugkräfte, nicht jedoch als ontologische Entitäten gekennzeichnet. 312 Worauf Sulzers radikale Trennung hinausläuft, die neue Rolle des Vorstellungsvermögens, das durch die ars aesthetica eine beispiellose Aufwertung erfahren hat. 313 Alle Funktionen des Geistes, sofern sie eine ästhetische Zielrichtung haben, werden in die mittleren Regionen der Seele verlagert. Es handelt sich mithin um eine bemerkenswerte Verschiebung von der ratio hin zur imaginatio. Die begriffliche Verschachtelung sinnlicher und rationaler Begriffsgrößen im Rahmen des rationalistischen Denkmodells entspricht der philosophischen Fortentwicklung der Sinnlichkeit aus dem Geist der Antike hin zu den Vermögensweisen der Verworrenheit.
5.b. Wirkkräfte und Energien der Antike
Die Antike wird, wie wir noch genauer sehen werden, von Sulzer zur sinnlichen Epoche par excellence erklärt und mit dem Konzept des fundus animae in Hinsicht auf die erste Bündelung poetischer / ästhetischer Kräfte enggeführt. Sulzers emphatische Theorie der Sinnlichkeit versichert sich ihrer selbst im Rückblick auf die Antike. Bereits in der klassizistischen Betrachtung der Antike durch Winckelmann ging die der Antike zugeschriebene Transzendenz von einem sinnlichen Substrat, der Erfahrung, aus. In Kapitel v.1.b wurde dieser Zusammenhang für die Entwicklung einer Auseinandersetzung mit der Antike verständlich gemacht, die weder radikal mimetisch noch radikal sensualistisch zu nennen war. Bei Sulzer schlägt diese Auseinandersetzung nun den Weg einer Qualitätszuschreibung auf der Ebene der ästhetischen Kräfte ein. Die Antike wird weiterhin als eine vorwiegend sinnliche Epoche aufgefasst und somit, gemäß der Analogisierung von innerem Sinn und ästhetischer Kraft, mit ihren Vorstellungen über Wirkkräfte beziehungsweise Energien lesbar gehalten. 314 Vgl. Plat., nom., 10, 896e, dort zum Topos der Weltseele erweitert. Es sei an den Vergleich zwischen der baumgartenschen und der aristotelischen Auffassung hierüber in Kapitel IV.1 sowie an die in Kapitel IV.2 illustrierte neue Valenz der mithilfe der Einbildungskraft generierten Begriffe / Vorstellungen erinnert. 314 Auch eine andere Verfahrensweise, namentlich die rein topische Behandlung der Antike, findet sich bei Sulzer. Er nimmt hierzu geschichtliche Diversifizierungen und Wertungen vor, welche die (Frühe) Neuzeit mit umfassen: »Nicht denen aus Constantinopel vertriebenen Griechen haben 312 313
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Ihre Ausdifferenzierung erfolgt nach den Wirkvermögen und den Energien, die ihr laut Sulzer zuzuschreiben sind. Wie in den Anmerkungen über den verschiedenen Zustand gesehen, gibt es einen Status der Vorstellungen, die der antiken Auffassung von Vernunft – Sulzer zufolge – sehr nahe kommen. Er besteht in ihrer Fähigkeit, klare Bilder zu erzeugen, die dem Verstand durchaus zuarbeiten können beziehungsweise diesen in bestimmten Bereichen überhaupt erst operational machen. Die Gegenrichtung einer solchen Klarheit, die Kraft nach unten, besteht in der Verworrenheit. Es gibt also zwei Richtungen in der Seele – die Kraft nach oben und die Kraft nach unten, die Neigung zum Rationalen und die Neigung zum Irrationalen. Wenn das Vorstellungsvermögen zur Klarheit neigt, neigt es sich zugleich dem Geiste zu; wenn es sich der Dunkelheit zuneigt, wird es zusehends irrational – selbst wenn es sich zuvor im Bereich geistiger Klarheit befand. Die Zunahme an Verworrenheit entspricht dann dem Entzug der Kontrolle des Geistes. Diese Denkfigur formuliert Sulzer mit Rekurs auf Gemeinplätze aus der antiken Mythologie und Literatur; am Schluss der Schrift Von dem Bewußtseyn und seinem Einfluße in unsere Urtheile (1764) heißt es hierzu: Die verworrenen Vorstellungen, wenn sie sehr zusammengesetzt sind, widersetzen sich dieser glücklichen Gegenwart des Geistes am meisten; sie sind Sirenen, aber umso viel fürchterlichere Sirenen, da man die Wirkung ihrer Bezauberung empfindet, ohne sie zu sehen und zu hören. 315
Die berühmte Sirenen-Episode aus der Odyssee dient hier der Illustration der verworrenen Vorstellungen: Die Sirenen appellieren als mythisch-magische Wesen ausschließlich an irrationale Kräfte und üben dadurch einen Einfluss aus, dem sich praktisch niemand entziehen kann. Bei Homer wird dementsprechend ausdrücklich davor gewarnt, »mit Einfalt« 316 zu ihnen zu fahren und wir die Wiederherstellung der Gelehrsamkeit, nicht denen Medicis haben wir die Künste, nicht einem Calvin oder Luther hat ein Theil Europens seine geistliche Freyheit zu verdanken. Ein Plato, ein Xenophon, ein Demosthenes, ein Cicero, ein Phidias, ein Polyklet, haben diese glücklichen Veränderungen bewirkt.« (Sulzer, Von der Kraft (Energie) in den schönen Künsten, 130 f.) Der fast schon panoramatische Blick auf die griechische und römische Antike genügt einem klassizistischverklärenden Anspruch; das asyndetische Hexakolon bekräftigt den epochalen Sonderstatus, welcher der Antike zuzumessen sei. Eine solche Darstellung ist noch ganz im Geiste einer gemäß Autoritäten argumentierenden Antikenrezeption lesbar. Gewährsmänner für die von Sulzer proklamierte »geistliche Freiheit« werden aufgezählt und ihre Bedeutung hervorgehoben; zudem wird darauf geachtet, Vertreter aus möglichst verschiedenen Bereichen anzuführen: aus der Philosophie (Plato), aus der Geschichtsschreibung (Xenophon), aus der Beredsamkeit (Demosthenes, Cicero) und aus der bildenden Kunst (Phidias, Polyklet). 315 Sulzer, Von dem Bewußtseyn und seinem Einfluße in unsere Urtheile, 223 f. 316 Hom., Od., 12, 41: »ἀϊδρείῃ«. Die warnende Sprecherin ist an dieser Stelle mit Circe (Κίρκη) eine Figur, die mit magischen Wirkungen aus ihrer eigenen Alltagswelt bestens vertraut ist.
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ihren Stimmen zu lauschen. Da Odysseus aber das Gegenteil einer einfältigen Figur ist, seinen Verstand gar für einen listigen Plan verwendet, der darin besteht, sich an den Mast seines Schiffes fesseln zu lassen, um die Gesänge der Sirenen trotz allem wahrnehmen zu können, kann er eine Erfahrung machen, die seinem Begehrungsvermögen entspricht und ihm durch sein planvolles Handeln erst ermöglicht wird. 317 So wenig er die Wirkkraft der Sirenen bezähmen kann, so sehr kann er die Effekte, die dieser Gesang auf ihn selbst ausübt, durch vorausschauendes Planen kontrollieren. Die Sirenen meinen bei Sulzer aber noch mehr als eine grundständige, schwer zu bezähmende Gefahr; sie sind vielmehr Widersacher und regelrechte Saboteure des Geistes. In Sulzers Wendung von den »fürchterlichere[n] Sirenen« liegt also auch ein Komparativ zur Sinnlichkeit der Antike vor. Wo Odysseus sich noch auf seine List verlassen konnte, um der verführerischen Gewalt einen Widerstand entgegenzusetzen, so vermag der Geist bei Sulzer in einem viel umfassenderen Sinne nichts auszurichten. Und wo es in der Odyssee um äußere Sinnesreize ging, die das Gemüt verzaubern, geht es hier um einen Vorgang, der in der Seele immanent stattfindet. Sulzer geht somit in seiner Koppelung des antiken Mythos an den ästhetischen Topos der verworrenen Vorstellungen gegenüber der homerischen Vorlage zwei Schritte weiter: Er verlagert die homerische Szenerie in das Innere der Seele selbst und lässt in der Folge das Verstandesvermögen, wie er es nennt: die »Gegenwart des Geistes«, unwirksam erscheinen. Hierdurch wird allerdings nicht das Substrat des antiken Mythos, die Kraft der Sirenen, desavouiert; sie erlangt, im Gegenteil, vor dem Hintergrund der Theorie irrationaler Kräfte eine so vielschichtige Bedeutung, wie sie selbst dem vielgewandten Odysseus nicht in den Sinn kommen konnte. Hatten wir in Sulzers Anmerkungen über den verschiedenen Zustand bereits eine Verschiebung vom antiken Vernunftbegriff hin zur frühneuzeitlichen Auffassung vom Vorstellungsvermögen feststellen können, so führt dies in Verbindung mit Sulzers postulierter Ausarbeitung der empirischen Psychologie zu einer noch weitergehenden Theorie des Unbewussten. In ihr spielt wiederum ein Gefüge von Empfindungen, Kräften und Bewegungen die vornehmliche Rolle. Ihren Ausgangspunkt nimmt die Theorie bei einem Zitat von Ovid: Man kann also, überhaupt zu reden, sagen, daß die abstrakten Wissenschaften zur Verminderung der Empfindlichkeit des Herzens, und daß hingegen die schönen Künste zur Vermehrung derselben dienen können. Artibus ingenuis – – Pectora mollescunt, asperitasque fugit. 317
Vgl. Hom., Od., 12, 192–200.
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Zuletzt bemerkte ich, daß die über den Zustand der Empfindung gemachten Bemerkungen uns lehren, daß es fast nicht möglich ist, weder sich vor plötzlichen Eindrücken zu verwahren, noch diese Eindrücke in dem Augenblicke, da man sie empfindet, durch Vernunftschlüsse zu schwächen. [. . . ] Wir werden von Kräften in Bewegung gesetzt, die wir nicht kennen. Es ist also nicht möglich, ihnen geradzu zu widerstehen. Wir fühlen die Wunde ohne den Pfeil zu sehen, der uns verwundet hat. 318
Das verkürzte Zitat aus Ovids sechster Epistula ex Ponto wird eingebettet in die Lehre von den Empfindungen als einer Theorie von den dunklen Vermögen und Kräften. Bei Ovid steht die Aufmunterung des Adressaten Graecinus im Vordergrund, der nicht allzu schwer am Schicksal seines Freundes leiden möge; der Trost kommt dabei in der Erweichung des Herzens (mollescere), mithin im Rückgang von Härte (asperitas fugit) zum Ausdruck. 319 Diese Veränderung von der Härte zur Weichheit wird nun von Sulzer aufgegriffen und hin zu einer Kräftelehre weiterentwickelt. Es geht in dieser theoretischen Neujustierung um eine Herzensregung, die sich in den Menschen einschleicht und dabei – ganz im Sinne der subkutanen Präsenz dunkler Sinnesempfindungen – zunächst unbemerkt bleibt. Die Bewegungen, die wir dann auch in anderen seelischen Regionen wahrnehmen, beruhen auf denjenigen Kräften, die von den oberen Seelenvermögen solange unbemerkt bleiben, bis wir ihre Wirkung spüren. Ihnen können allerdings, ganz wie im Mechanizismus üblich, andere Kräfte durchaus im Wege stehen, woraus sich dann ein regelrechter Widerstreit ergibt. 320 Die Lösung dieses Konflikts liegt in dem hier von Sulzer durchgespielten Fall nun gerade nicht in den Vernunftschlüssen (die der neuzeitliche Rationalismus als Lösung suggerieren würde), sondern in dem, was Ovid in seiner Epistula gleichsam anbietet: in den edlen Künsten (artes ingenuae), und damit vorwiegend in der Poetik und der Rhetorik sowie (im 18. Jahrhundert) Sulzer, Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, 243 f. Vgl. Ov., Pont., 1, 6, 7–10: »Artibus ingenuis, quarum tibi maxima cura est, / pectora mollescunt asperitasque fugit; / nec quisquam meliore fide complectitur illas, / qua sinit officium militiaeque labor.« (»Durch die edlen Künste, an denen dir am meisten liegt, wird das Herz weich und die Härte entflieht; / und niemand [sc. außer dir] umarmt jene [sc. Künste] mit größerer Treue, / soweit es die Kriegspflicht und -mühe zulässt.«). 320 Der Topos des Kriegsdienstes (officium militiaeque labor) mag sich bei Ovid auf Funktionen des adressierten Freundes Gaius Pomponius Graecinus im kaiserlichen Staatsapparat beziehen (vgl. zu dessen Vita den Artikel von Eck [2001]). Für Sulzer scheint dies zusätzlich die Wahl dieser Textstelle motiviert zu haben, da dadurch das psychologische Vermögen im Bereich der Kriegsmetaphorik verhandelt wird. Dass diese Bildebene eine wichtige Rolle spielt, um konfligierende Parteien im Raum der Seele zu illustrieren, hat Torra-Mattenklott (2002), 247–263 in einer sorgfältigen Analyse des Spannungsfeldes zwischen Prudentius’ christlich instruierter Seelenallegorie Psychomachia und Mendelssohns Rhapsodie nachgewiesen. 318
319
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der Ästhetik. Das Bild, das Sulzer hier von der Antike zeichnet, wird in eine Kräftelehre transformiert, ebenso wie die darin formulierten edlen Künste. Die Konzentration auf derartige Äußerungen antiker Autoren behält Sulzer auch im Traktat Von der Kraft (Energie) in den schönen Künsten (1773) bei. Dort wird gleich zu Beginn in einem Asterisk der im Titel verwendete Begriff ›Energie‹ erläutert und dabei auf Horaz rekurriert: Ich bin, aus Mangel eines andern Ausdrucks, genöthiget, mich dieses Wortes [sc. ›Energie‹] zu bedienen, um dadurch überhaupt eine gewisse vorzügliche Kraft, nicht nur in der Rede, sondern in allen andern Dingen, die zum Geschmacke gehören, anzuzeigen. Es ist eben das, was bey dem Horaz (Serm. i, 4) acer spiritus et vis in verbis et rebus heißt. 321
Die der vierten horazischen Satire entnommene, ins Positive gewendete Junktur 322 weist auf eine umfassende Form von Energie hin. Das Hendiadyoin acer spiritus et vis, »heftiger Geist und Kraft«, verbindet die Frage nach dem guten Geschmack mit der Frage nach der Kraft, die in den Worten zu herrschen habe. Das mitzitierte Präpositionalattribut in verbis et rebus, »in Worten und Dingen«, füllt das Spektrum von inventio bis zur elocutio aus den schönen Sprachkünsten aus. Anders gewendet: Horaz wusste bereits – obgleich er nicht über die Erkenntnisse der frühneuzeitlichen Naturphilosophie verfügte –, worin die Energie zu bestehen hat, die den guten Geschmack ausmacht. Die homerischen Sirenen, das ovidische mollescere und die horazische Junktur acer spiritus et vis in verbis et rebus erschöpfen sich nicht in ihrem motivischen Bildpotential, sondern sind einem bestimmten Kraft- und Wirkvermögen zuzuschreiben. Die Antike wird durch die Kräftetheorie aufgegriffen und zugleich auf eine die Eigendynamik des Sensualistischen zuspitzenden Weise überboten. Den Kanon klassischer Autoren komplettiert im Folgenden Vergil. Sulzer richtet sein Augenmerk hierzu auf die Einbildungskraft, genauer: auf ihre propädeutische Funktion für das verstandesgemäße Einsehen der Gerechtigkeit: Der Dichter greift die Sache anders an, er stellet unsrer Einbildungskraft die schrecklichen Folgen der Ungerechtigkeit und der Gottlosigkeit in sinnlichen und wegen ihrer grossen Lebhaftigkeit unauslöschlichen Gemälden vor. Nachdem er die Einbildungskraft gerührt hat, wendet er sich an den Verstand und Sulzer, Von der Kraft (Energie) in den schönen Künsten, 122, marg. Aus dem Negativausdruck »acer spiritus ac vis / nec verbis nec rebus [inest]« (Hor., serm., 1, 4, 46 f.) macht Sulzer »acer spiritus et vis in verbis et rebus«, indem er »nec [. . . ] nec« durch »et [. . . ] et« ersetzt. Wir hatten diese Junktur bereits in Kapitel II.5.a als Ausdruck der im ingenium liegenden Kraft einer in den schönen Künsten versierten Person kennengelernt. 321 322
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hält ihm die Wahrheit vermittelst jenes starken eindringenden Ausdrucks vor, welcher gleichsam die Aufschrift des Gemäldes ist: Discite justitiam, moniti, nec temnere Divos! Dies ist die Energie, welche bloß allein der Künstler den speculativischen Wahrheiten geben kann. 323
Das von Sulzer angeführte Zitat aus der Aeneis hatten wir in Kapitel ii.3.a der Studie bereits im Zusammenhang mit der Frage nach dem Status der Wirklichkeit im Verhältnis zur Göttlichkeit kennengelernt; dort wurde die Missachtung des göttlichen Willens als Überschreitung und damit aber auch gleichzeitig als Bekräftigung der Grenzen, die zwischen olympischer, oberer und unterer Welt vorherrschen, als poetischer Ausdruck einer absoluten Gerechtigkeit aufgefasst. Die Bestrafung von Tantalos, Prometheus oder Sisyphos zeigte diese Hierarchien in Aeneas' Unterweltfahrt eindrücklich auf. Ein solcher topologischer Grundsatz wird von Sulzer indes aus seinem bildlichen Gefüge herausgelöst und intensiviert. Für Sulzer ist es der Charakter des »eindringenden Ausdrucks«, der im Vordergrund steht; die räumliche Trennung wird von der Stärke des Ausdrucks ersetzt, der nicht mehr zwischen Ober- und Unterwelt changieren muss, sondern in der permeablen Seele selbst seine Kräfte walten lässt. Die Bezugsebenen sind also, analog zu Hades und Olymp, die unteren und oberen Seelenkräfte: Die Dinge, welche diese Art von Energie haben, beziehen sich unmittelbar auf die moralischen Gesinnungen und auf die leidenschaftlichen, oder, um mich in der Sprache der Philosophen auszudrücken, auf die untern Kräfte der Seele, in welchen sie Verlangen und Abscheu hervorbringen. Man wird bemerkt haben, daß die energischen Gegenstände, von welchen ich bisher geredet habe, sich insgesammt auf die Art und Weise, die Dinge zu sehen, oder sich vorzustellen, d. i. auf die obern Kräfte der Seele beziehen. 324
An dieser Stelle versieht Sulzer den Energie-Begriff nach der Erläuterung der Titelei ein weiteres Mal mit einem Asterisk. Dabei scheint es sich auf den ersten Blick um ein klassisches anekdotisches exemplum zu handeln: Ich will nur ein einziges Beyspiel anführen, um zu zeigen, wie weit die Energie eines Wortes gehen könne. Da Hannibal an dem Hofe des Königs Antiochus war, musterte dieser Fürst seine Kriegesheere, um die Wache, womit er die Römer anzufallen willens war, sehen zu lassen. Nachdem er dem Carthaginensi323 324
Sulzer, Von der Kraft (Energie) in den schönen Künsten, 131 f. Ebd., 135.
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schen Feldherrn den Reichthum der goldenen und silbernen Fahnen, die Menge der mit Sicheln bewaffneten Wagen, die Elephanten, und endlich seine wegen der Kostbarkeit der Harnische und der ganzen Rüstung ungemein glänzende Reyterei gezeiget hatte, fragte er mit vielem Stolze den Hannibal, ob er wohl glaubte, daß dieses für die Römer genug seyn würde. Worauf dieser antwortete: ob gleich die Römer unter allen Völkern des Erdbodens die geizigsten sind, so glaube ich doch wohl, daß sie sich damit begnügen werden. Rex contemplatione tanti tamque ornati exercitus gloriabundus Annibalem aspicit, et: putasne, inquit, satis esse Romanis haec omnia? Tunc Poenus – – – plane inquit satis esse credo Romanis haec, etsi avarissimi sint. Macrobius im 2. Kap. im 2. B. der Saturnalien. 325
Die von Sulzer angeführte Anekdote stammt, von Sulzer selbst benannt, aus Macrobius' Saturnalien (∼ 430 n. Chr.). Sie wird dort von Praetextatus, dem Veranstalter des Gastmahls, als scherzhafter Ausspruch (cavillatio) eingeführt. 326 Bezieht man die literarischen und historischen Kontexte aufeinander, so offenbart sich eine gewisse Komplexität: Macrobius lässt den Gastgeber des Symposions von einer Anekdote berichten, die im zweiten Punischen Krieg, also ein halbes Jahrtausend vor dem Verfassen der Saturnalien selbst stattfand. Indem Sulzer diesen zitiert und übersetzt, macht er sich selbst – nach der historischen Figur Hannibal, der fiktionalen Figur Praetextatus und dem Literaten Macrobius – zu einem Geschichtsschreiber auf vierter Ebene. Es gibt aber einen Kulminationspunkt, der die Verschachtelungen greifbar macht: Sulzer zitiert die Anekdote unter Berufung auf die Energie eines Wortes und dessen Reichweite. Den Ausgangspunkt der Anekdote bildet bei Macrobius das Interesse an der Unterhaltung der Zuhörer aufgrund des Witzes, der dem Ausspruch innewohnt; bei Sulzer ist es gleichfalls weniger ein anekdotisches, geschweige denn historisches Interesse an den beschriebenen Ereignissen als vielmehr die dynamische Wirkkraft, die von dem Ausspruch Hannibals ausgeht Dieser Punkt wird von Sulzer unmittelbar vertieft, indem er einen zeitlichen Sprung in seiner Antikenschau vollzieht und auf Cicero eingeht: Solche triumphierende Worte, dergleichen Cicero zuweilen gegen seine Feinde ausstieß, haben eine Energie, welcher nichts zu widerstehen vermag. Diejenigen also, welche diese Künste vollkommen verstehen, haben das Herz der Menschen in ihrer Gewalt. Sie bringen die Beherztesten zum Zittern und flößen
Ebd., marg. Vgl. die Einleitung der Anekdote bei Macr., Sat., 2, 2, 1–2: »Ea cavillatio huiuscemodi fuit.« (»Dieser Scherz war von folgender Art.«). 325 326
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den Schwächsten Standhaftigkeit ein; sie sind vermögend, die Trotzigsten zu demüthigen und die Demuth selbst stolz zu machen. 327
Die »triumphierende[n] Worte« beanspruchte Cicero – wie wir in Kapitel ii.5.b.β sehen konnten – für sich selbst, um seine Stärke als Gerichtsredner vorzuführen. Das tat er einerseits auf seine Biographie rückblickend, andererseits fasste er es auch als Ausweis zeitloser Durchsetzungskraft (denn um eine solche ging es im Orator) auf. Dabei nahm er Bezug auf seinen großen Antrieb (magnus impetus), der ihm beim Reden innewohne, resultierend in der Fähigkeit, seine Feinde niederzustrecken (deicere). Der Widerstand gegenüber einer solchen Redekraft erschien Cicero so zwecklos wie es Sulzer zwecklos scheint, der Energie eines in den Künsten ausgezeichneten (und gerade dadurch auch in der Bewegung der unteren Seelenvermögen geschulten) Redners irgendeine Renitenz entgegenzusetzen. Wenn die benannte Energie auf den Rezipienten Wirkung zeitigt, so kann er schlechterdings nur verstummen – ganz so wie es Hortensius und Catilina im Angesichte Ciceros – nach dessen eigenem historischen Zeugnis – augenblicklich taten. »[D]ie Trotzigsten zu demüthigen und die Demuth selbst stolz zu machen« wird zu Sulzers zeitgenössischer Paraphrase des ciceronischen obmutere. Wie an den vorangehenden Beispielen gesehen, fungiert die Antike als qualitative Grundstufe einer Überbietungsargumentation, die von Sulzer in doppelter Weise, einerseits als Affirmation des sinnlichen Urgrunds einer ganzen Epoche, andererseits als Ausgangspunkt für eine gegenüber ihren geschichtlichen Vorbildern weitaus tendenziöser auftretende Philosophie von sinnlichen Kräften verwendet wird. Wenn Sulzer also die Antike in anekdotisch anmutenden Zitaten aufgreift, so sind es doch vor allem die Formen von zeitlicher und überzeitlicher Energie, die zur Disposition stehen. Mögen sich auch die Kategorien von Vollkommenheit, Schönheit und Güte wie eine Transzendierung der Sinnlichkeit begreifen lassen, so bleibt doch der Befund bestehen, dass die Frühe Neuzeit keinesfalls als Zeitalter der Vernunft die sinnliche Antike ablöst. Vielmehr kommt Konzepten wie dem ›inneren Sinn‹ die Aufgabe zu, zwischen den oberen und unteren Seelenvermögen so zu vermitteln wie mithilfe der schönen Künste zwischen alter und neuer Zeit zu vermitteln ist. Dass dabei die obskuren Kräfte eine Aufwertung erfahren, macht die Antike, als Epoche, in der Sinnlichkeit und Natur noch mutmaßlich in eins fielen, längst nicht zu einer dunklen Epoche. Sie wird, im Gegenteil, zur Quelle der Energie, zur ersten Instanz, von der man Rechenschaft einholen kann, wenn es um die Frage nach der Wirkweise rednerischer und poetischer Kräfte und der Empfänglichkeit permeabler Seelenarchitekturen hierfür geht. 327
Sulzer, Von der Kraft (Energie) in den schönen Künsten, 141 f.
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6. Kraft, Antike und antiker Kraftverlust bei Herder
Sulzers Ausformulierung der psychologischen Ästhetik wendet sich dem Topos der Tiefe der Seele mit einer im Vergleich zu Wolff und Baumgarten neuen Radikalität zu. Dass die dunklen Kräfte der Seele auch bei Herder eine wichtige Rolle spielen, wird im folgenden Kapitel gezeigt. Dabei soll zudem nachvollzogen werden, dass Herder in einer bestimmten Richtung einen Schritt weiter geht als seine Vorgänger 328 sowie in anderer Hinsicht eine ganz neue Richtung einschlägt: Er konstatiert zunächst in aller Emphase eine Krafttheorie der literarischen Gattungen der Antike, die er mit einer Epochentheorie des Verfalls verbindet. Ausgehend von einer Argumentation, die das Höchstmaß an poetischer Kraft bei den antiken Autoren (Homer, Pindar, Horaz) und deren Gattungen (Epos, Ode, Dithyrambos) realisiert sieht, 329 formuliert Herder eine Kritik an der zeitgenössischen Dichtungspraxis, in der jene antiken Vorbilder lediglich nachgeahmt werden. Sein Modell literarischer Epochen verzeichnet dergestalt einen Kraftverlust in den Literaturen der europäischen Aufklärung. Parallel dazu entwickelt er ein Argument der bildlichen Klarifizierung, das den dunklen Urgrund der Seele weiterhin enthält, dessen ›Lichtung‹ – an der sein unmittelbarer theoretischer Vorgänger Sulzer sich nicht sonderlich interessiert zeigte – jedoch anders vollzieht, als es bei Wolff und Baumgarten der Fall war. Die Lehre von den dunklen Seelenkräften dient als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. In der Forschung wurde die Tendenz Herders, an einem dunklen Seelengrund unverbrüchlich festzuhalten und damit die ästhetische Tradition des 18. Jahrhunderts fortzuführen, bereits häufig herausgestellt; so befindet Adler, dass [i]mmer wieder [. . . ] beim frühen Herder der fundus animae, der dunkle Grund der Seele auf[taucht], den Baumgarten als den Komplex der »perceptiones obscurae« bestimmt hatte. Hatte Sulzer 1759 der empirischen Psychologie die Befassung mit den »dunkeln Gegenden der Seele« nahegelegt, so ist nun für Herder dieser Bereich zentral geworden. 330 Hierzu ist auch Baumgarten zu rechnen, dessen Ästhetik Herder ausdrücklich als Seelenlehre auffasst; vgl. exemplarisch Herdes Einlassungen im (erst postum veröffentlichten) Fragment Baumgartens Denkmal: »Aus der Seelenlehre ist die Baumgartensche Erklärung der Poesie geschöpft, und gibt also auch am meisten Anlaß, die Dichtkunst auf ihre Mutter und Freundin, die menschliche Seele zurückzuführen. Im Geiste des Menschen, das war Baumgartens große Ahndung, in der Seele muß der Poesie ein Gebiet des Eigentums zuerkannt, und genau angewiesen werden können. Hier müssen Kräfte liegen, die dieselbe hervorbrachten, und Kräfte, die sie wieder beschäftiget.« (Herder, Baumgartens Denkmal, 684). 329 Vgl. die Behandlung der entsprechenden Gattungspoetiken in Kapitel V .4 der Studie. 330 Adler (1990), 64. 328
Kraft, Antike und antiker Kraftverlust bei Herder
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Der fundus animae bleibt als der Ort in der Seele erhalten, an dem die dunklen Perzeptionen angelegt sind. Ihn im Kontext der Aufklärungsphilosophie mit Kraft und Vermögen in Verbindung zu bringen, hat sich seit der Jahrtausendwende zusehends zu einem Gegenstand der Forschung entwickelt. Der fundus animae fungiert in diesem Sinn – mit Herder selbst gesprochen – als eines der »mechanische[n] Triebwerke« 331 der Seele. Dieser für das ästhetische Denken Herders zentrale Topos wurde in jüngerer Zeit von Menke diskutiert: Der sich damit [mit der Sukzession durch Kraft als dem dunklen Mechanismus der Seele] andeutende Unterschied der »Gattung« zwischen subjektivem Vermögen und unbewußter, dunkler Kraft tritt jedoch erst dann in aller Schärfe hervor, wenn man sich – mit und gegen Herder – klarmacht, wie die unbewußte Kraft der Seele nicht gefasst werden kann. Die unbewußte, dunkle Kraft ist kein subjektives Vermögen, weil sie nicht selbstbewußt und daher nicht normativ ist. Das bedeutet aber weder, daß die unbewußte, dunkle Kraft mechanisch, noch, daß sie biologisch ist; denn die dunkle Kraft kennt weder Gesetz noch Zweck. 332
Eine Kraft, die »weder Gesetz noch Zweck« kenne, mutet prima facie wie ein Abgesang sowohl auf Leibniz als auch auf Newton und mit Blick auf die Ablehnung einer organologisch verankerten Zweckmäßigkeit nicht zuletzt auch auf Aristoteles an. Dennoch bestehen in der Ästhetik Herders wichtige Verbindungen zur naturphilosophischen Tradition. Bezüglich Leibniz hält Menke folgenden Einfluss fest: »Mechanisch« meint bei Herder im Blick auf die unbewußten Kräfte der menschlichen Seele oft, was Leibniz als den selbsttätigen Wirkungsautomatismus der »aktiven Kraft« beschrieben hat: Die aktive Kraft wird »durch sich selbst in Tätigkeit gesetzt und bedarf keiner Hilfe, sondern nur der Entfernung der Hemmung«. »Mechanisch« meint bei Herder im Blick auf die unbewußten Kräfte der menschlichen Seele aber nie, daß diese Kräfte und ihr Wirken mechanistisch erklärt werden können. 333
Hier wird einerseits sehr treffend die Rolle der leibnizschen vis activa hervorgehoben; sie ist bereits von Selbstperzeption und -tätigkeit geprägt. Die von Menke angesprochene »Entfernung der Hemmung« entspricht demgegenüber äußerlich waltenden Kräften. Menke schwebt eine Differenzierung zwischen jener aktiven Kraft und den mechanischen Kräften vor: Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, 36. Menke (2008), 54. 333 Ebd. Die von Menke zitierte Phrase greift Leibniz’ Über die Verbesserung der ersten Philosophie und den Begriff der Substanz auf. 331
332
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Mechanistische Erklärungen bringen den Begriff der Kraft zum Einsatz, um nach allgemeinen Gesetzen Wechselwirkungen zwischen Körpern zu erklären, die ihnen äußerlich sind. Dieses Modell »von plumpem Mechanismus, hölzernem Druck und Stoß« (Erkennen, 352) weist Herder für den »dunklen Mechanismus der Seele« ab, weil es die Natur seiner Prozesse verfehlt: Die Empfindungen der Seele sind »Ausdruck«, Expressionen, denn in ihnen wirken immer erneut und immer anders Kräfte der Hervorbringung von Gestalten. Seelische Prozesse haben ein inneres Prinzip, unterliegen keinem äußeren Gesetz. 334
Die strenge Trennung zwischen der selbsttätigen und der wechselwirksamen Kraft, die Menke hier vornimmt, braucht im Rahmen der leibnizschen Kräftelehre nicht angenommen zu werden. Eine aktive Kraft umfasst nach Leibniz noch mehr als die Tatsache, dass sie keine Hilfe benötigt, um sich selbst zu realisieren: Sie umfasst Urkraft (vis primitiva) und abgeleitete Kraft (vis derivativa). 335 Somit geht sie nicht allein im Aspekt der Selbsttätigkeit auf. Größen wie »Druck« und »Stoß« fallen in der Leibniz-Tradition, wie von Menke festgehalten, tatsächlich ausschließlich in den Bereich der abgeleiteten, kausal wirkenden Kräfte. Das heißt allerdings noch nicht, dass sie sich einer metaphysischen Anschlussfähigkeit verschließen würden. Das »äußere[] Gesetz«, von dem hier gesprochen wird, ist im mechanistischen Weltbild durchaus vereinbar mit inneren Prinzipien; mehr noch, der Einblick in das innere Prinzip stellt in den meisten Fällen geradezu den Exordialtopos für die mechanistische Beschäftigung mit der Welt dar. 336 Somit läuft Menkes Gleichsetzung von äußerem Gesetz und äußeren Wechselwirkungen Gefahr, den Aspekt der Ursprünglichkeit von Kräften zu vernachlässigen. Ursprünglichkeit wiederum treibt, wie wir in Kapitel v.4.d sahen, Herder als Thema besonders um. Das wohl wichtigste Prinzip der psychologischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, aus der Kraft im Inneren der Seele Ausdrücke zu machen (vis characteristica, ars characteristica), entspricht der Ausbreitung und somit nicht einfach dem Wechselspiel äußerlich wirkender Kräfte, sondern auch und insbesondere der extensiven Fortführung einer inneren Intensität. Dass die dunkle Kraft der menschlichen Seele ästhetisch ist, muss daher längst nicht auf etwas Unmechanisches abzielen. Das innere Prinzip bedeutet vielmehr selbst Kraft, die auf dem Tableau der Reize, Sinne und Empfindungen Menke (2008), 55. Das von Menke mit Erkennen versehene Zitat verweist ebenfalls auf die Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, dort in der Ausgabe von Brommack und Bollacher (1994). 335 Vgl. die Ausführungen zur vis primitiva und vis derivativa, die beide Ausprägungen der vis activa darstellen, in Kapitel III.3 der Studie. 336 Vgl. Kapitel III .1.c.α – β der Studie. 334
Kraft, Antike und antiker Kraftverlust bei Herder
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unter Heranziehung eines zur ratio strukturanalogen Instrumentariums identifiziert werden kann. 337 Damit ist der Urgrund noch nicht als vollkommen subjektiver, sehr wohl aber als ästhetischer gekennzeichnet. Und an diesem Punkt knüpft Menke auch wieder an: »Die dunkle Kraft der menschlichen Seele ist – nicht subjektiv, nicht mechanisch, nicht biologisch, sondern – ästhetisch.« 338 Als neben Leibniz maßgeblicher Einfluss für Herders Vorstellungen von Kraft ist die Philosophie des kroatischen Philosophen und Naturwissenschaftlers Ruðer Boškovi´c (1711–1787) anzusehen. Boškovi´c befasst sich in seinen Abhandlungen insbesondere mit Kraft und Materie. Die Ergebnisse seiner zu einem beträchtlichen Teil physikalischen Experimenten entstammenden Untersuchungen schlagen sich erstmals umfassend im Werk De viribus vivis (1745) nieder. Dort sowie in den Folgewerken De centro gravitatis (1751) und De lege virium in natura existentium (1755) zeichnet sich bei Boškovi´c als wesentliches Prinzip dasjenige der Kontinuität (principium continuitatis) ab – ein genuin leibnizscher Gedanke zur Energieerhaltung. 339 Diese Einzelwerke werden in der umfassend angelegten Theoria Philosophiae Naturalis (1758) zusammengefasst und im Entwurf der Naturlehre (1769) in gebündelter Form einem deutschsprachigen Publikum vorgelegt. Praktisch durchgängig findet sich bei Boškovi´c eine Beschäftigung mit den beiden großen naturphilosophischen Systemen zu Beginn des 18. Jahrhunderts, mit der newtonschen Mechanik und der leibnizschen Monadologie. Boškovi´c kündigt in der Theoria Philosophiae Naturalis programmatisch an, sein Weltbild so darzustellen, dass deutlich werde, was diese [sc. von Boškovi´c selbst vorgelegte Theorie] mit der leibnizschen und was mit der newtonschen Theorie gemeinsam hat, worin sie von beiden abweicht und auch, worin sie beide noch übersteigt. 340
Die Theoria kann als eine Synopse der Kraftbegriffe gelten, die für die Aufklärung in Deutschland von erheblichem Einfluss ist. 341 Ihre Darlegungen fußen Vgl. Kapitel IV.5 der Studie. Menke (2008), 58. 339 Vgl. Kapitel III .3.d der Studie. 340 Boškovi´ c, Theoria Philosophiae Naturalis, Synopsis, XVII: »quid ea commune habeat cum Leibnitiana, quid cum Newtoniana Theoria, in quo ab utraque discrepet, & vero etiam utrique præstet«. 341 Die bedeutende Rolle von Boškovi´ c im Spannungsfeld zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft wurde in den letzten Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum – trotz eines insgesamt gestiegenen Interesses an der Aufklärungsphilosophie – nicht mit der angemessenen Aufmerksamkeit bedacht; vgl. Grössing / Ullmaier (2009), 1: »In der Tat findet Boscovich, [. . . ] den Heisenberg den ›kroatischen Leibniz‹ nannte, in der modernen Wissenschaftsgeschichte eine erstaunlich geringe Aufmerksamkeit. Ausnahmen bilden nur Großbritannien und die USA, wo es ein kontinuierliches Interesse an Boscovich gab und gibt, und natürlich sein Heimatland Kroatien. [. . . ] 337 338
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auf dem reduktionistischen Anspruch, alle Kräfte der Natur auf ein einziges Kraftgesetz zurückzuführen, durch das sich diese bestimmt zeigen. 342 Es sind die Theoria und der Entwurf der Naturlehre, die Herder besonders intensiv rezipiert. 343 Herder zeigt sich dabei zum einen eingenommen von dem neuen engen Verhältnis, das zwischen Naturwissenschaft und Philosophie herrscht – und wofür Boškovi´c im 18. Jahrhundert geradezu paradigmatisch eintreten kann; 344 zum anderen zeigt sich auch die Ästhetik Herders immer wieder von einem Abwägen zwischen leibnizschen und newtonschen Theoremen inspiriert, wie es Boškovi´c bereits zuvor praktiziert hat. Herder bezieht nicht sämtliche Kraftbegriffe aus dem Leibnizianismus, sondern flicht auch regelmäßig Aspekte der newtonschen Principia mit ein. So heißt es im Traktat Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778): Je mehr wir indes das große Schauspiel würkender Kräfte in der Natur sinnend ansehn, desto weniger können wir umhin, überall Ähnlichkeit mit uns zu fühlen, alles mit unsrer Empfindung zu beleben. Wir sprechen von Würksamkeit und Ruhe, von eigner oder empfangener, von bleibender oder sich fortpflanzender, toter oder lebendiger Kraft völlig aus unserer Seele. Schwere scheint uns ein Sehnen zum Mittelpunkte, zum Ziel und Ort der Ruhe: Trägheit die kleine Teilruhe auf seinem eigenem Mittelpunkte, durch Zusammenhang mit sich selbst: Bewegung ein fremder Trieb, ein mitgeteiltes fortwürkendes Streben, das die Ruhe überwindet, fremder Dinge Ruhe störet, bis es die Seinige wieder findet. Welche wunderbare Erscheinung ist die Elastizität? Schon eine Art Automat, das [sic] sich zwar nicht Bewegung geben, aber wieder herstellen kann: der erste scheinbare Funke zur Tätigkeit in edlen Naturen. Jener griechische Weise, der das System Newtons im Traum ahndete, sprach von Liebe und Haß der Körper: der große Magnetismus in der Natur, die anziehet und fortstößt, ist lange als Seele der Welt betrachtet worden. So Wärme und Kälte, und die feinste edelste Dagegen sind von einer ›Boscovich-Renaissance‹ im deutschsprachigen Raum bisher nur vereinzelte Anzeichen auszumachen«. 342 Die Theoria Philosophiae Naturalis trägt in den meisten Ausgaben zusätzlich den Untertitel redacta ad unicam legem virium in natura existentium, was vollständig übersetzt heißt: »Theorie der Naturphilosophie, rückgeführt auf ein einziges Gesetz der in der Natur existierenden Kräfte«. 343 Vgl. Heinz (2016), 248 f., FN 5: »Von Boscovich besitzt Herder: die Theoria philosophia naturalis [redacta ad unicam legem virium in natura existentium]. Venetiae 1763 (also die zweite Auflage; die erste wäre Wien 1758) und den Entwurf der Naturlehre mit 1 Kupfertafel. Breslau 1769«. 344 Vgl. hierzu ebd., 251: »Nicht zufällig also stellt Herder seine Bemühungen um eine lebensphilosophische Transformation der Spinozanischen Substanzmetaphysik am Schluss des zweiten und zu Beginn des dritten Gesprächs in den Kontext einer Betrachtung über die Philosophie und Wissenschaft seiner Zeit, deren vorzügliche Repräsentanten Boscovich, Lambert und der vorkritische Kant sind«. Heinz bezieht sich hier auf die nach platonischem Vorbild gestalteten Dialoge Gott, einige Gespräche (1787).
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Wärme, der elektrische Strom, diese sonderbare Erscheinung des großen, allgegenwärtigen Lebensgeistes. 345
Während die Passage zu Beginn newtonsche Kraftkonzepte mit einer affektpoetisch aufgeladenen Diktion aufgreift, 346 wird im weiteren Verlauf mit der Elastizität das Prinzip der kontinuierlich (und eben nicht, was Newton gemäß wäre, sprunghaft) aufeinander wirkenden Körper aus der Leibniz-Philosophie ausdrücklich bewundert. Im Gegensatz zu Boškovi´c geht Herders Gedankengang nun jedoch nicht dahin, diese Systeme genauestens zu explizieren oder sie gar mit einer eigenen Theorie zu übertreffen. Vielmehr wendet er den Blick sodann noch weiter zurück, auf »jene[n] griechische[n] Weise[n]«, mit dem niemand anderes als Empedokles gemeint ist. 347 Die Bewunderung der newtonschen und leibnizschen Naturprinzipien mündet ausgerechnet in einer Verklärung der vorsokratischen Naturphilosophie. Herder behält diesen Gestus im Folgenden bei und universalisiert die bisher eingeführten Prinzipien und Philosophen: So das große Geheimnis der Fortbildung, Verjüngung, Verfeinerung aller Wesen, dieser Abgrund von Haß und Liebe, Anziehung und Verwandlung in sich und aus sich – der empfindende Mensch fühlt sich in Alles, fühlt Alles aus sich heraus, und druckt darauf sein Bild, sein Gepräge. So ward Newton in seinem Weltgebäude wider Willen ein Dichter, wie Buffon in seiner Kosmogonie, und Leibniz in seiner prästabilierten Harmonie und Monadenlehre. Wie unsre ganze Psychologie aus Bildwörtern bestehet, so wars meistens Ein neues Bild, Eine Analogie, Ein auffallendes Gleichnis, das die größten und kühnsten Theorien geboren. 348
Herder geht es hier um die großen naturphilosophischen Themen, die nie ihre Gültigkeit verlieren und an deren Beantwortung sich große Geister erst erweisen. Zugleich pocht er hier aber auch auf die Singularität, die der Entfaltung neuer Weltgebäude zukomme. Es geht um eine Epochentheorie, die von der
Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, 3 f. So wird aus der Zentripetalkraft (vis centripeta) hier ein »Sehnen zum Mittelpunkte«, aus der Trägheit (vis inertiae) wird »die kleine Teilruhe auf seinem eigenem Mittelpunkte« und aus der Bewegung (motus) ein »fremder Trieb«. Sehnen und Triebe fallen in den Bereich der Leidenschaften und Affekte der menschlichen Seele, nicht aber unbedingt in den Bereich desjenigen, was man für gefühllose Körper veranschlagen möchte. 347 So ruft Herder mit »Liebe und Haß der Körper« das empedokleische Begriffspaar von Φιλότης und Νεῖκος auf, das auf die Naturprozesse des Anziehens und Abstoßens verweist; vgl. Emp., DK 31 B 8. 348 Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, 3 f. 345
346
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Genialität, vom ästhetischen Vermögen einzelner Weltweisen abhängig ist. 349 Die Manifestationen dieser Genialität fasst Herder mit »Bild«, »Analogie« und »auffallende[m] Gleichnis«. Es sind also im Grunde poetische Verfahren, die am Anfang jedweder Theoriebildung stehen. Die Genese der Theorie aus der Dichtung exemplifiziert Herder anhand von Homer. Genau die genannten figurativen Paradigmen (Bild, Analogie, Gleichnis) werden in einer HomerLektüre herangezogen, um die psychomechanische Auffassung von der Dichtkunst als Kraft zu entfalten.
6.a. Psychomechanik im Geiste Homers
Wie im Rahmen der Epostheorie gesehen, 350 ergänzt Herder das Paradigma vom homerischen Genius, der für die Begründung des Naturstatus der Poesie in den 1760er Jahren noch maßgeblich war, um den Topos der reinen Volkspoesie. Wenn Herder Ossian als ›Homer des Nordens‹ rezipiert beziehungsweise stilisiert, geht es ihm theoretisch nicht nur um einen neuen Volksgeist, sondern auch um eine neue Volkskraft. Dies aber bedeutet, wie an der nahezu überbordenden Wertschätzung Homers ablesbar war, keine Abkehr von einem homerischen Naturstatus als vielmehr dessen Intensivierung bis hin zu einem Wesensbegriff der Versepik, der allein auf Kraft beruht. Da diese Kraft nicht allein auf die Gattung, sondern stets auch auf ihren konkreten Urheber zu beziehen ist, verschränken sich hier Gattungs- und Autorenpoetik in besonderer Weise. In Herders Homer-Rezeption zeigt sich dies besonders ausgeprägt. In den Kritischen Wäldern (1769) spezifiziert Herder das Theorem der lebendigen Kraft als einen Prozess des lebendigen Lesens, vollzogen durch einen sinnlichen Leser: [I]nsgeheim übersetzt ihn [sc. Homer] sich die Seele des Lesers, wo sie kann, selbst wenn sie ihn Griechisch hört: und ich sinnlicher Leser! ich kann mir ohne diese geheime Gedankenübersetzung sogar kein wahrhaftig nutzbares und lebendiges Lesen Homers denken. 351
Die Lektüre Homers wird hier als ein geradewegs diskreter Vorgang innerer Sinnlichkeit vorgeführt. Es konstituiert sich in der Übersetzung von Gedanken ein sinnlicher Leser. Sinnlichkeit, Gedanken und Lebendigkeit bilden daher 349 Das intellektuelle Vermögen tritt demgegenüber merklich zurück. Es ist vielmehr »der empfindende Mensch«, der »sich in Alles, [. . . ] Alles aus sich heraus [fühlt]« (ebd.), der Herder vorschwebt. 350 Vgl. Kapitel V .4.d–e der Studie. 351 Herder, Kritische Wälder, Erstes Wäldchen, 126.
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eine in sich geschlossene Einheit. Die Gedankenübersetzung bedeutet, wie Herder im Folgenden ausführt, im Kontext des lebendigen Lesens kein Hervorbringen von Propositionen, sondern vor allem eine Verbildlichung in der Vorstellungswelt. Hierzu wird ein prägnantes Beispiel angeführt, namentlich Ilias, 3, 23: Menelaus wird den Räuber seiner Ehre und seiner Gattin vor dem Heere ansichtig, und ›freuet sich wie ein Löwe, der auf einen großen Raub fällt.‹ Nun wäre das Bild zuende, aber für Homer ists noch nicht tief gnug [sic] in der Seele. 352
Bemerkenswerterweise ist es ein Gleichnis, mithin das logische Nebeneinander und bildliche Nacheinander zweier Bilder (Menelaus / Löwe), das hier bemüht wird, um den lebendigen Eindruck auf die Seele des Lesers zu illustrieren. Es stellt sich nun die Frage: Wann ist ein Bild »tief gnug in der Seele« – oder: Wann entfaltet es sein Höchstmaß an lebendiger Kraft beim Rezipienten? Folgt man Herder, so gibt Homer die Antwort in den folgenden Versen. Auf den Vergleich von Menelaos mit einem Löwen folgt bei Homer eine weiterführende Illustration des Bildes. Ein Löwe nämlich freue sich, 25
[w]enn er einen gehörnten Hirsch auffindet oder sich einem Gemsbock nähert. Denn sehr gierig verschlingt er [sc. ihn], auch wenn ihn schnelle Hunde scheuchen und junge, kräftige Krieger. 353
Herder fügt hierzu eine Übersetzung einiger zentraler Tierdarstellungen aus der Homer-Passage unter Betonung ihres ›voranrollenden‹ Charakters bei 354 und zieht folgenden Schluss: Nun ist das Bild ganz; ich sehe den gierigen Löwen, den Raub, sein Erhaschen, und, was der Raub sey, seine Freude, und seine die Gefahr vergessende Gierigkeit. [. . . ] Sein Gemälde ist ein Kreisbild, wo ein Zug in den andern fällt, wo das Vorige zurück kehrt, um das Folgende zu entwicklen. 355
Zunächst scheint nur die eine Seite des Gleichnisses intensiviert zu werden. Der Löwe wird bei einem typischen Beutegang beschrieben. Am Ende wird aber mit Ebd., 132. Hom., Il., 3, 24–26: »εὑρὼν ἢ ἔλαφον κεραὸν ἢ ἄγριον αἶγα / πεινάων· µάλα γάρ τε κατεσθίει, εἴ περ ἂν αὐτὸν / σεύωνται ταχέες τε κύνες θαλεροί τ᾽ αἰζοί«. 354 Vgl. Herder, Kritische Wälder, Erstes Wäldchen, 132: »Was ist das: der auf einen großen Körper fällt? Homer fährt wiederholend fort: wenn er einen hörnichten Hirsch, oder eine wilde Ziege gefunden. Nun wäre uns wieder das Bild seiner Freude zu weit vom Auge entfernet: es rollt also weiter: hungrig war er: gierig verschlingt ers! Und um den letzten Stachel in der Seele zu lassen, von seinem gierigen Schlingen, von seiner erhaschenden Freude; so erweckt Homer hinter ihm eine laute kommende Jagd: schnelle Hunde, blühende junge Jäger verfolgen ihn«. 355 Ebd. 352 353
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dem jungen, kräftigen Krieger eine Figur ins Spiel gebracht, die bildlich wieder an den Ausgangspunkt ›Menelaos‹ anschließt. Zudem wird der Löwe selbst vom Jäger zum Gescheuchten. Was in dem »Kreisbild« zum Ausdruck kommt, ist daher nicht so sehr das Prinzip einer inneren Geschlossenheit, sondern dasjenige der Sukzession, welches sich in den Kategorien des »Vorige[n]« und »Folgende[n]«, der Rückkehr und Entwicklung, niederschlägt. Herder beschreibt eine Kreisbewegung, indem er es Homers epischer Technik zuschreibt, die Linie eines Kreises nachzufahren. Dabei ergibt sich kein idealer Kreis, sondern vielmehr ein plastisches Bild von hoher Wirksamkeit in der Seele. 356 Das von Homer gezeichnete Bild gerät nun umso tiefer in die Seele, je deutlicher und mannigfaltiger seine Ausbreitung in derselben vonstattengeht. Dies entspricht dem von Baumgarten vorgeschlagenen Verfahren, das wir in Kapitel iv.5.c kennengelernt hatten, namentlich einen topischen Ausgangspunkt zu wählen, um diesen dann bildhaft zu illustrieren und damit zugleich zu dynamisieren. Mag es sich also an der von Herder zitierten Stelle um keine außergewöhnliche, sondern um eine eher konventionelle poetische Verfahrensweise handeln, die in den homerischen Gleichnissen praktiziert wird, so gewinnt diese Verfahrensweise eine psychologische Dimension dadurch, dass eine gleichnishafte Bebilderung, wie sie Homer praktiziert, nicht nur den Raum der Einbildungskraft ausfüllt, sondern zugleich auch die Tiefe der Seele auslotet, das heißt eine maximal gesteigerte Wirkintensität in der Seele erzielt. Herder scheint im Folgenden gar eine auf synästhetische Effekte zielende Wirkweise dieser Bildlichkeit beschreiben zu wollen, insofern [j]edes Bild Homers [. . . ] eine musikalische Malerei [ist]. [. . . ] So überwindet Homer das Hinderniß seiner Kunst, daß ihre Wirkung gleichsam jeden Augenblick verschwindet; so macht er jeden Zug seines Bildes daurend. 357
Homers poetisches Ausnahmevermögen wird hier als aktive Kraft 358 entwickelt, auf dessen Grundlage der Dichter die Wirkintensität seiner Kunst zu verstetigen versucht. Dasjenige, was diese Wirkung andauern lässt, ist bereits ein Bild – und zwar »[j]edes« –, somit eine ausgebreitete und von einer bestimmten Extensität geprägte Größe. Mit der »musikalische[n] Malerei« wird von Herder zudem ein Produkt aus Raum (Malerei) und Zeit (Musik) angeführt. Dieses
Dieses Vorgehen, das gerade keine Abstraktionskunst meint, sondern vielmehr auf dem Prinzip der Bewegung beruht, hatten wir in Kapitel IV.3.b im Rahmen der mathematischen Psychologie Wolffs als realdefinitorisches Verfahren kennengelernt. 357 Herder, Kritische Wälder, Erstes Wäldchen, 133. 358 Dies nämlich stellt das einende Kriterium von vis primitiva und vis derivativa als zwei Ausprägungen der vis activa dar, das wir in Kapitel III.1.e kennengelernt hatten: die Ungehemmtheit. 356
Kraft, Antike und antiker Kraftverlust bei Herder
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Produkt entspricht der Definition der mechanischen Kraft. 359 Somit lässt sich das innere Prinzip der Dichtkunst als eine solche Kraft begreifen, die über ihre Wirkungen auf Dauer gestellt werden kann. Auch wenn sie »tief gnug in der Seele«, im fundus animae, verankert ist, so ist sie nichtsdestoweniger über Kraft, nämlich über Zeit und Raum, fassbar und trägt somit die Möglichkeit ihrer eigenen Extensivierung bereits in sich. Die geschilderte Denkfigur Herders hat ihr Vor- und Gegenbild in der Ästhetik Lessings. Für Lessing ist entscheidend, dass Homer zwar, wie jeder epische Dichter, auf die Folge von Handlungen angewiesen sei, 360 er dies aber mit einem Blick tue, der selbst von einer außergewöhnlichen Kompetenz im Malerischen geprägt sei. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Einlassungen Lessings zu Homer, die im Laokoon (1766) bevorzugt an Zeugnissen aus der Antike entfaltet werden: Da übrigens die Homerischen Meisterstücke der Poesie älter waren, als irgend ein Meisterstück der Kunst, da Homer die Natur eher mit einem malerischen Auge betrachtet hatte, als ein Phidias und Apelles: so ist es nicht zu verwundern, daß die Artisten verschiedene ihnen besonders nützliche Bemerkungen, ehe sie Zeit hatten, sie in der Natur selbst zu machen, schon bei dem Homer gemacht fanden, wo sie dieselbigen begierig ergriffen, um durch den Homer die Natur nachzuahmen. Phidias bekannte, daß die Zeilen ῏Η καὶ κυανέῃσιν ἐπ᾽ ὀφρύσι νεῦσε Κρονίον· ἀµβρόσιαι δ᾽ ἄρα χαῖται ἐπερρώσαντο ἄνακτος κρατὸς ἀπ᾽ ἀθανάτοιο· µέγαν δ᾽ ἐλέλιξεν ῎Ολυµπον· ihm bei seinem Olympischen Jupiter zum Vorbilde gedienet, und daß ihm nur durch ihre Hülfe ein göttliches Antlitz, »propemodum ex ipso coelo petitum« gelungen sei. 361
Unterschiedliche Arten und Ebenen von Betrachtungsprozessen werden hier beschrieben: Homer habe für seinen Teil die Natur bereits mit einem »malerischen Auge« betrachtet; homerisches Sehen ist keinesfalls bloß passive Naturbetrachtung, sondern schon aus sich selbst heraus bildgebend. Produktion und Rezeption fallen demnach bei Homer in eins. Da dieser Blick dem Naturprinzip schlechthin gleichkomme, konnten sich die von Lessing und Valerius Vgl. hierzu ebenfalls Kapitel III.3 der Studie. Das Gegenstück hierzu bilden Maler und Bildhauer, deren Kunst auf die Darstellung im Raum angewiesen ist. 361 Lessing, Laokoon, Teil I , Kap. XXII , 161 f. Ergänzung der im Original fehlenden diakritischen Zeichen: D. B. 359
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Maximus 362 angeführten Verse 363 als Naturbild über Generationen forttragen und hatten einen produktionsästhetischen Einfluss nicht nur auf kommende Dichter, sondern – so die kunsttheoretischen Einlassungen Lessings und Valerius' – auch auf die bildenden Künste. Herder sieht, wie in der Behandlung des Löwen-Gleichnisses dargestellt, ebenfalls ein tiefreichendes bildnerisches Potential bei Homer vorliegen. Er stuft allerdings die Sukzession vornehmlich als Verkörperung der Energie ein, die Homer in die epische Handlung einspeise: Kurz: ich kenne keine Successionen in Homer, die als Kunstgriffe, als Kunstgriffe der Noth, eines Bildes, einer Schilderung wegen, da seyn sollten: sie sind das Wesen seines Gedichts, sie sind der Körper der Epischen Handlung. In jedem Zuge ihres Werdens muss Energie, der Zweck Homers liegen. 364
Die epische Körperlichkeit, die ›Kreisbilder‹, die Homer in seinen Werken malt, sind keine »Kunstgriffe der Noth«, das heißt sie entziehen sich dem Bereich des rein Technischen, einer bloßen ars. Somit lautet die eigentliche Chiffre für das Wesen der homerischen Epen ›Energie‹. Dies wird von Herder im Folgenden noch weiter bekräftigt und ausgeführt: Wenn ich eins von Homer lerne, so ists, daß Poesie energisch wirke: nie in der Absicht, um bei dem letzten Zuge ein Werk, Bild Gemälde (obwohl successive) zu liefern, sondern, daß schon während der Energie die ganze Kraft empfunden, und werden müsse. Ich lerne von Homer, daß die Wirkung der Poesie nie aufs Ohr, durch Töne, nicht aufs Gedächtniß, wie lange ich einen Zug aus der Succession behalte, sondern auf meine Phantasie wirke. 365
Die Wirkung auf die Phantasie bedeutet ein Empfinden von Kraft, die vom epischen Körper ausgeht. Der Ansatz Lessings war noch davon geprägt, Bildlichkeit in das poetische Prinzip der Sukzession dadurch mit einzuschließen, dass ersteres letzterem unterzuordnen ist. Homer hatte Lessing zufolge zwar mit malerischem Auge in die Natur geschaut, musste aber letztlich in seiner eigenen Kunst immer wieder auf das Verfahren der Sukzession zurückkommen. Wenn Phidias sich in Homers Epik eine Inspiration für seine eigene 362 Das Zitat »propemodum ex ipso coelo petitum« (»fast schon aus dem Himmel selbst geholt«) stammt aus Val. Max., 3, 7, dort natürlich »caelo« statt »coelo«, und bezieht sich auf das »Antlitz Jupiters« (ebd.: »vultum Iovis«). 363 Die drei, auch von Valerius angeführten Verse entsprechen Hom., Il., 1, 528–530: »So sprach und winkte Kronion mit dunklen Brauen / und die ambrosischen Locken des Herrschers wallten nach vorne / von dem unsterblichen Haupt; und er erschütterte den großen Olymp«. 364 Herder, Kritische Wälder, Erstes Wäldchen, 150 f. 365 Ebd., 157.
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Bildhauerkunst suchte, so bedeutete dies nichts anderes als ein neuerlicher Wechsel des künstlerischen Mediums: von der homerischen Betrachtung der Natur mit »malerischem Blick« hinein in eine Sukzession der Handlungsfolge (in Ilias und Odyssee) und schließlich wieder – durch Phidias' Zeus-Statue – eine Rückführung der Sukzession in die bildhafte Kunst. Herder hingegen zeigt bereits durch seine Auffassung von den homerischen Gleichnissen, dass ein Bild in seiner wirkungsästhetischen Intensität auf Dauer eingestellt werden sollte, dass es mithin energetisch wirken sollte. Dasjenige, was sich tief in der Seele des Rezipienten einpflanzt, ist somit eine auf Fortlauf und verdichtete Bildlichkeit gerichtete Poesie. Somit wandelt sich die Homer-Rezeption von Lessing zu Herder fort von einer poetologischen Autorität – insbesondere in den Handlungsdarstellungen – hin zum maßgeblichen Impulsgeber für eine Kraft-Poetik energetischer Verkörperung. Hierin scheint eine Haltung Herders zur Ästhetik durch, die sich auf allgemeinerer Ebene als Multiplikationsfigur bezeichnen lässt. 366
6.b. Raum mal Zeit: Poesie als Multiplikation
Zunächst ist vor Augen zu führen, wie Herder ›Ästhetik‹ überhaupt verstanden wissen will. Im Zentrum bleiben im Folgenden daher weiterhin Herders kunsttheoretische Erörterungen in den Kritischen Wäldern. Wie bereits anhand der Homer-Rezeption ersichtlich wurde, nehmen diese Abhandlungen insbesondere auf Lessings Laokoon Bezug, dem das Werk als Ganzes auch gewidmet ist. Tragend sind die beiden Zuschreibungen, dass Musik Energie und Dichtung Kraft sei. Während die Malerei Simultaneität im Sinne eines gleichzeitigen Auftretens künstlerischer Zeichen im Raum darstelle, meint Kraft nach Herder eine nachhaltige, wie weiter oben anhand der Homer-Rezeption gesehen, eine »daurende« Wirkung auf die Seele. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich – beginnend mit James Harris' Three Treatises (1744) und Diderots Lettre sur les sourds et muets (1751) – eine ideengeschichtliche Tendenz nachverfolgen, das Verhältnis von Raum und 366 Das folgende Teilkapitel stützt sich auf die Vorarbeiten von Clark (1942), Nisbet (1970) und Torra-Mattenklott (2002). Es hat die Funktion, mithilfe der Multiplikationsfigur den ästhetischen Kraftbegriff Herders so zu illustrieren, dass die grundsätzliche Haltung Herders zu Kraftparadigmen noch weiter verständlich wird; es will also nicht sämtliche ideengeschichtliche Stränge aufgreifen, die in den genannten Grundlagenstudien verfolgt worden sind. Den Fluchtpunkt bildet – im Gegensatz etwa zur bei Torra-Mattenklott (2002), 305–346 behandelten Bogenschuss-Metaphorik oder Theorie des Kolossalischen – die Theorie vom Kraftverlust (Kapitel V.6.c), der jedoch – auch in seiner epochentheoretischen Spielart – erst über die Gesetze von Raum und Zeit als solcher fassbar wird.
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Zeit in den schönen Künsten neu zu thematisieren. 367 Lessing veranschlagt, wie bereits im vorhergehenden Kapitel angesprochen, im Laokoon (1766) eine grundsätzliche Ungleichheit, die zwischen malender und dichtender Kunst herrsche. Er führt dies mit der Unterschiedlichkeit der Darstellung im Raum einerseits und in der Zeit andererseits aus. Im ersten Teil des Laokoon findet sich hierzu die berühmte These von einer unterschiedlichen Medialität von Malerei und Dichtkunst: Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nemlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen. 368
Das Nebeneinander der Bilder und das Nacheinander der Handlungen sind das dichotome Paar, auf das es Lessing ankommt. Raum und Zeit sind daher, wie schon bei Harris und Diderot, mit bestimmten Künsten assoziiert. Während es das Aufgabengebiet der bildenden Künste ist, Gegenstände im Sinne von Körpern darzustellen, ist die Dichtkunst auf die Darstellung von Handlungen beschränkt. 369 Der Laokoon Vergils 370 vermag dementsprechend andere ästhetische Wirkungen auf den Rezipienten hervorzubringen als die Statue des selbigen. 371 Für Herder hingegen ist die Entwicklung von Bildern eines der grundlegenden Muster, auf die es nicht nur in Malerei und Bildhauerkunst, sondern auch in der Dichtkunst ankommt. Eine solche Überlegung entfaltet er entlang des von ihm eingebrachten Kraftbegriffs. Zunächst wird im Ersten Wäldchen Der leitende Gegensatz für die unterschiedlichen Wirkweisen der Künste ist bei Harris derjenige zwischen compact und nature, bei Diderot derjenige zwischen peinture und poëme. 368 Lessing, Laokoon, Erster Teil, Kap. XVI , 116. 369 Vgl. auch ebd.: »Gegenstände, die neben einander oder deren Teile neben einander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die auf einander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie«. Dass die »Gegenstände« sowohl auf Körper als auch auf Handlungen bezogen werden können, legt nahe, dass hier die aristotelischen πράγµατα ein weiteres Mal gleichsam Pate stehen. 370 Lessing bezieht sich hier bekanntlich auf die Darstellung bei Verg., Aen., 2, 40–56 und ebd., 199–227, besonders auf letztere Szene, in der es um die Schlangenfesselung geht. 371 Hiermit ist die sogenannte Laokoon-Gruppe in den Vatikanischen Museen gemeint, die im Jahr 1506 wiederentdeckt wurde. 367
Kraft, Antike und antiker Kraftverlust bei Herder
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zu diesem Zwecke die Bestimmung der Malerei und der Musik ausgeführt. Der Unterschied zu Lessing liegt augenscheinlich in der Wirkweise, die laut Herder der Poesie zuzuschreiben ist: Malerei wirkt ganz im Raume, neben einander, durch Zeichen, die die Sache natürlich zeigen. Poesie aber nicht so durch die Succession, wie jene durch den Raum. Auf der Folge ihrer artikulirten Töne beruhet das nicht, was in der Malerei auf dem Nebeneinanderseyn der Theile beruhete. Das Successive ihrer Zeichen ist nichts als conditio, sine qua non, und also blos einige Einschränkung: das Coexistieren der Zeichen in der Malerei aber ist Natur der Kunst, und der Grund der Malerischen Schönheit. Um diesen Unterschied deutlicher zu machen: muß eine Vergleichung zwischen zweien durch natürliche Mittel wirkenden Künsten gemacht werden, zwischen Malerei und Tonkunst. Hier kann ich sagen: Malerei wirkt ganz durch den Raum, so wie Musik durch die Zeitfolge. [. . . ] Jene [sc. die Malerei] verliere sich nie aus dem Coexistentem, diese nie aus der Succession: denn beide sind die natürlichen Mittel ihrer Wirkung. 372
Daraus, dass Malerei durch die (räumliche) Kontiguität ihrer Elemente wirkt, folgt demnach noch längst nicht, dass auch die Poesie bloß durch die (zeitliche) Kontiguität ihrer Elemente wirke. Es läge dann, zumindest für Herder, eine unzulässige Übertragung zweier ganz verschiedener Medien vor. Das natürliche Mittel der Wahl muss für die Poesie vielmehr in einer Symbiose aus beiden Kunstprofilen bestehen. Aus dem Insistieren auf den genannten Zuschreibungen, dass nämlich Malerei dem Raum entspreche und Musik der Zeit, die Dichtkunst aber gerade nicht auf die Dimension der Zeit reduzierbar sei, folgt bei Herder ein ebenso vehementes Insistieren auf einem Begriff von Kraft: Malerei wirkt im Raume, und durch eine künstliche Vorstellung des Raums. Musik, und alle energische Künste wirken nicht blos in, sondern auch durch die Zeitfolge, durch einen künstlichen Zeitwechsel der Töne. Ließe sich nicht das Wesen der Poesie auch auf einen solchen Hauptbegrif bringen, da sie durch willkührliche Zeichen, durch den Sinn der Worte auf die Seele wirkt? Wir wollen das Mittel dieser Wirkung Kraft nennen: und so, wie in der Metaphysik Raum, Zeit, Kraft drei Grundbegriffe sind, wie die Mathematischen Wissenschaften sich alle auf einen dieser Begriffe zurückführen lassen; so wollen wir auch in der Theorie der schönen Wissenschaften und Künste sagen: die Künste, die Werke liefern, wirken im Raume; die Künste, die durch Energie wirken, in der Zeitfolge; die schönen Wissenschaften, oder vielmehr die einzige schöne Wissenschaft, die Poesie, wirkt durch Kraft. – Durch Kraft, die einmal den Worten 372
Herder, Kritische Wälder, Erstes Wäldchen, 135.
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beiwohnt, durch Kraft, die zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar auf die Seele wirket. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht aber das Coexistente, oder die Succession. 373
›Kraft‹ lässt sich hier, sobald sie auf die Dichtkunst appliziert wird, umfänglich als dasjenige lesen, was wir in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts als Einbildungskraft spezifiziert vorgefunden haben. 374 Die Einbildungskraft umfasst, wie sich bezogen auf Gattungs-, Autoren- und Affektpoetiken erkennen ließ, beides: sowohl eine extensive wie auch eine intensive Kehrseite. Sie ist stets als Raum ihrer selbst zu begreifen, wie sie als Tiefe des Eindrucks psychomechanische Wirkungen hervorbringt. Beide Seiten sind aber nicht ohne ihr Pendant zu denken. Der Raum der Einbildungskraft ist ebenso wenig bloßer Raum, wie ein tiefer Eindruck bloß vergangene Zeit ist. Dementsprechend nimmt Herder nach der Bestimmung ex negativo eine Charakterisierung der Poesie in beiden Dimensionen vor: Sie wirkt im Raume: dadurch, daß sie ihre ganze Rede sinnlich macht. [. . . ] Sie wirkt in der Zeit: denn sie ist Rede. [. . . ] Keines von beiden, allein genommen, ist ihr ganzes Wesen. Nicht die Energie, das Musikalische in ihr; denn dies kann nicht Statt finden, wenn nicht das Sinnliche ihrer Vorstellungen, das sie der Seele vormalet, vorausgesetzt wird. Nicht aber das Malerische in ihr; denn sie wirkt energisch, eben in dem Nacheinander bauet sie den Begriff vom sinnlich vollkommnen Ganzen in die Seele: nur beides zusammen genommen, kann ich sagen, das Wesen der Poesie ist Kraft, die aus dem Raum, (Gegenstände, die sie sinnlich macht) in der Zeit (durch eine Folge vieler Theile zu einem Poetischen Ganzen) wirkt: kurz also sinnlich vollkommene Rede. 375
Die räumliche Dimension der Poesie fungiert als die Sinnlichkeit ihrer Rede; ihre zeitliche Dimension liegt in der Zeichenabfolge. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Kategorialität fundamental. Wenn Herder hier von »zusammen genommen« spricht, kann demnach kein additives Verhältnis gemeint sein. Es geht vielmehr um ein Moment des Hervorbringens sowie des Ineinandergreifens, wie Herder sagt: »aus dem Raum [. . . ] in der Zeit«. Und dies meint durch die Geschichte hindurch – sowohl bei Descartes als auch bei Leibniz als auch bei Newton – allen naturphilosophischen Uneinigkeiten zum Trotz, die zwischen diesen Philosophen herrschten, im Grundsatz stets die Multiplikationsfigur ›Raum mal Zeit‹. 376 Der mechanische Kraftbegriff hat offensichtliche Spuren hinterlassen und dient hier nunmehr dazu, die Natur der Dichtkunst 373 374 375 376
Ebd., 136. Vgl. Kapitel III.2.a, IV.1–2 und passim IV.4 der Studie. Herder, Kritische Wälder, Erstes Wäldchen, 136 f. Vgl. Kapitel III.3, insbesondere III.3.d.
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zu erklären. 377 Herder bringt dies auf die Definitionsformel der »sinnlich vollkommene[n] Rede« und nimmt damit Bezug auf die oratio sensitiva perfecta, wodurch sich wiederum der Kreis zu Baumgarten schließt. 378 Es ist aber ein energetischer Schulterschluss, der hier vollzogen wird. Denn wenn die Malerei ›bloß‹ darstellend ist, so ist die Poesie energisch, das ist, während ihrer Arbeit muß die Seele schon alles empfinden; nicht wenn die Energie geendigt ist, erst zu empfinden anfangen, und erst durch Recapitulation der Successionen empfinden wollen. 379
Es würde etwas weit gehen, den hier sicherlich bemerkenswerten Begriff der ›Arbeit‹ – der in der modernen Physik ebenfalls eine Multiplikationsfigur (Kraft mal Strecke) darstellt – als vollkommene Hinwendung zur physikalischen Erklärung der Seele durch Herder zu verstehen. Entscheidender ist aber an dieser Stelle, dass die Poesie ständig ihre eigenen Wirkungen produziert und zugleich empfunden werden will. Die Koinzidenz von Produktion und Rezeption, ein signum mechanistisch definierter Kräfte, 380 dringt auch hier durch. So pseudo-mechanisch der ›dunkle Mechanismus‹ der Seele bei Herder also auch anmutet, so sehr weiß er sich gegenüber biologistischen Modellen zu behaupten. Die unbewusste Kraft der Seele ist so mechanisch wie die Kraft der Dichtung energetisch ist. Mag es Herder bei alledem auch um eine Kritik an Lessings Dogma über die Grenzen der Malerei und Poesie gehen, so betreibt er dennoch einen bemerkenswerten Aufwand, um nicht nur Lessings Sukzessionsprinzip durch Kraft zu ersetzen, sondern ganz besonders, um die Poesie als eine psychomechanische Kunst wirkender Kräfte zu beschreiben.
Torra-Mattenklott sieht hierin vor allem ein Reproduktionsmoment von Raum und Zeit gegeben, das der Tätigkeit der Repräsentation zuarbeitet: »Es zeigt sich, daß das Medium Kraft – und diesbezüglich ist es angemessen, ›Kraft‹ mit ›Repräsentation‹ zu übersetzen – die Medien Raum und Zeit in sich reproduziert«. (Torra-Mattenklott [2002], 311). 378 Vgl. hierzu ebd., 312: »Gemeinsam mit der Baumgartenschen Version von enárgeia (extensive Klarheit, Lebhaftigkeit), die Vor-Augen-Führen im Rahmen des Poetischen als sinnliche Vollkommenheit konzeptualisiert, vermag die Aristotelische Kategorie Lessings medientheoretische Perspektive mit der prägnanten, d. h. freizügigen und doch konzisen Definition von Dichtung als ›vollkommen sinnliche Rede‹ in Einklang zu bringen«. Es lässt sich noch ergänzen, dass das »VorAugen-Führen« ebenfalls eine Aufgabe der Einbildungskraft darstellt, die sich gar durch Aristoteles’ Poetik legitimiert zeigt; vgl. Kapitel II.5.a.δ der Studie. 379 Herder, Kritische Wälder, Erstes Wäldchen, 158. 380 Vgl. Kapitel III .1.c., III .3 und IV .4.a der Studie. 377
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6.c. Von der Antike zur (historischen) Gegenwart: Die Theorie vom Kraftverlust
Im Gegensatz zu biologischen Kräften, die auf Reproduktion, Vervielfältigung und Vermischung aus sind, haben mechanische Kräfte die Eigenschaft, mit der Zeit aufgrund der Einflussnahme äußerer Faktoren an Wirkung zu verlieren. Wenn Herder für die Poesie das Wirken durch Kraft als Urgrund ansetzt, diese Kraft gar zu ihrem Wesen erklärt, so ist damit für sie immer auch das Risiko verbunden, ebendieses Wesen einzubüßen. Dies ist gleichsam die bittere Konsequenz, von der idealistisch argumentierende Poetiken verschont bleiben. Typisch für Herder ist es, diese Denkfigur nicht im Rahmen der Bestimmung einzelner Gedichte zu belassen, 381 sondern sie zu einer epochengeschichtlichen Theorie auszubauen. 382 Was sich auf die Energie, die Krafterhaltung der antiken Gattungen im Laufe der Geschichte negativ ausgewirkt hat, sind laut Herder vor allem zwei Dinge: die Nachahmung und die Religion. Einschlägiges Beispiel für den Kraftverlust antiker Dichtung ist der Dithyrambos. Für Herder ist ein »Dithyrambos [. . . ] bewegt, und [er] bringt sehr die Begeisterung mit Tanz zur Anschauung, indem er zu Leidenschaften führt, die dem Gott am meisten vertraut sind.« 383 Dies stellt nach Herder, hier zudem legitimiert durch ein spätantikes Zeugnis, nichts anderes als den Grundzustand der Gattung dar. Die dionysischen Umzüge seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. sind nicht nur Feierlichkeiten oder rauschhafte Kollektivzustände, sondern Verkörperungen dichterischer Begeisterung und Bewegung und damit gattungskonstitutiv. In der Folge habe die Kraft des Dithyrambos jedoch nachgelassen und sei in die bloße Nachahmung gemündet: So war der Dithyrambos, ehe er völlig Nachahmung wurde. Als aber die Griechen in ein gesittetes Zeitalter übergiengen [sic]; so ward ihre Religion über das Sinnliche mehr erhoben; ihre Begeisterung sank, ihre mehr gebildete Sprache entfernte sich von Dithyrambischen Freiheiten; ihr Sylbenmaas ward bestimmter und gebundener, ihre Musik Dorisch. 384
Wenngleich er dies, wie wir in Kapitel v.4.e sehen konnten, wenn nicht als Philosoph, so doch gerne als Rezensent tut. 382 Treffend hierzu Plößer, der bemerkt, »dass die ›Kraft‹ einer historischen Epoche im entwicklungslogisch bereits erreichten Niveau der Menschheitsentwicklung besteht, während das entwicklungsdynamische Zurückbleiben einer faktischen Gesellschaft den Überschuss des Ideals gegenüber der Wirklichkeit anzeigt.« (Plößer [2020], 258). 383 Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 309: »∆ιθύραµβος ἐσ[τ]ὶ κεκινηµένος καὶ πολὺ τὸ ἐνθουσιωδὲς µετὰ χορείας ἐµφαίνων, εἰς πάθη κατασκε[υ]αζώµενος [sic], τὰ µάλισ[τ]α οἰκεῖα τῷ θεῷ« nach einem Proklos-Zitat in der Bibliotheke des Photios (Phot., bibl., 321a). Mit »dem Gott« (»τῷ θεῷ«) ist Dionysos gemeint. 384 Vgl. Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 309 f. 381
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Der ›Zugewinn‹ an Religion im »gesittete[n] Zeitalter« – Herder schwebt hier der Eintritt in die institutionell gefestigte Polis-Kultur nach den Perserkriegen (490–480 v. Chr.) vor – geht zwar mit einem Zugewinn an Sittlichkeit einher, dies aber zum Preis des Verlustes der urtümlichen Kraft, die den Dithyrambos auszeichne. Der Sinkflug der Begeisterung entspricht somit der Domestizierung des Sinnlichen durch die Religion. Sobald die sittliche Reflexion einsetzt, kommt überhaupt erst Nachahmung ins Spiel. Und tatsächlich ist Platon mit der Politeia der erste Philosoph, der die Mimesis als das zentrale Kriterium der Dichtkunst ansetzt – und als historische Figur fraglos fest im »gesittete[n] Zeitalter« zu verorten ist. Das Prinzip, dass eine Nachahmung nicht auf das Wesen einer Gattung hinführen könne, gilt Herder besonders für seine Gegenwart, sofern sich ein zeitgenössischer Dichter dazu angehalten sehen sollte, Dithyramben zu dichten. Herder rät davon explizit ab: »Dithyramben, nach dem Griechischen Geschmack nachgeahmt, bleiben für uns fremde.« 385 Dieses Verdikt betrifft indes auch andere Gattungen: Wie in Kapitel v.4.a.α zu sehen war, führt Herder die pindarische Ode generisch mit dem Dithyrambos eng. Daraus folgt dann aber auch, dass sie denselben Kraftverlust hinnehmen muss, wenn man sich daranmachen würde, sie nachzuahmen oder sie auch nur definitorisch festzulegen: Horaz in seiner Ode über Pindar hat ja keine Definition geben wollen, und gewiß daran gar nicht gedacht, daß jemand einmal jedes von seinen Worten auffädeln, und sich aus seiner Strophe einen Plan abzirkeln, einen Grundriß abzäunen würde, um ihm künstlich zu rasen, nüchtern zu taumeln, bei Wasser ein regelmäßiges Evan! zu rufen. 386
Wie schon an zahlreichen Stellen beobachtet, wird Horaz zum Gewährsmann für affektpoetische Einlassungen erklärt. Horaz mag zwar nicht Pindar gewesen sein, er hat Pindar aber besser verstanden, als die zeitgenössischen Dichter und Poetologen es gekonnt hätten, indem er keine Regeln in ihm erkennen konnte respektive erkennen wollte. Ganz anders Herders Zeitgenossen: Die meisten Poetikenschreiber halten sich bei der πολυπλοκία der Worte auf, gleich als wenn dies ein Hauptstück und nicht eine nothwendige Folge des Di385 Ebd., 314. Hierin enthalten ist kein günstiges Urteil über empfindsame Dichter wie etwa Klopstock, der in seiner Ode An des Dichters Freunde (1747) proklamiert: »Unsterblich, sing ich meine Freunde / Feyrend in mächtigen Dithyramben« (Klopstock, An des Dichters Freunde, 3 f.), sich jedoch in der Umarbeitung zu Wingolf (1767) scheinbar eines Besseren besonnen und die Verse durch »Die Götter, sing’ ich meine Freunde / Feyrend in kühnerem Bardenliede« (Klopstock, Wingolf, 3 f.) ersetzt hat. 386 Vgl. Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 317. Mit der »Ode über Pindar« ist Hor., carm., 4, 2 gemeint.
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thyrambengeistes wäre. Und überhaupt, da es schon eine kalte Begeisterung ist, die blos aus Beispielen aufgewärmt wird: so ist's lächerlich, sich ohne Beispiele, durch Regeln; oder vielmehr ohne Regeln durch kleine Nachrichten, entzücken zu wollen[.] 387
Herder fügt dieser Polemik in den Fragmenten einer Abhandlung über die Oden noch eine weitere Pointe hinzu: Die Ode legt noch vor allen anderen Gattungen, auch vor dem Dithyrambos, primär die Differenzen der Empfindungsarten offen. Diese unterliegen nach Herder – wie schon in Kapitel v.4.e gesehen – einer nationalen und kulturellen Diktion. Aufgrund ebendieser unterschiedlichen Prägung erweist sich das Ziel der Nachahmung der Griechen als nicht tragfähig für die zeitgenössische Odendichtung: Das Vaterland jedes andern Odendichters der Griechen scheint seine Ader der Empfindung zu bestimmen: so daß der Thebe den Pindar, Sparta den Alkman, Tejos den Anakreon, Lesbos die Sappho zeugte. Diese Bestimmung ist eben so angenehm zu untersuchen, als es nöthig ist zu fragen, warum die Sophokles und Euripides durchaus nicht Shakespears und Racinen sind. Wenn schon in der Kunst sich die griechische Empfindungsart des Schönen von der unsrigen unterschied, so sollten uns endlich so viele mißgerathene Versuche belehren, daß sie sich in den Gedichtarten noch mehr, und in der Ode am meisten unterscheidet. 388
Die »Ader der Empfindung« ist hier die bestimmende Größe. Sie lässt sich nicht nur auf »Vaterländer«, sondern auf ganze Epochen übertragen. Daraus folgt, dass die »Metamorphosen eines Deutschen [. . . ] nicht Ovidisch seyn sollten, so wenig als der Held Homers Aeneas wurde«, 389 und dass »Horaz [. . . ] ohne Zweifel beßer Horaz seyn [wird], als ichs seyn kann«, 390 so Herders Polemik, die sich nur scheinbar gegen sich selbst – Herder hat selber keine Oden, schon gar keine horazischen verfasst – als vielmehr gegen die eigene Zeit richtet. Was für das Verhältnis der Zeitgenossen zu den Griechen gilt, gilt – wenn auch in geringerem Maße – erst recht für die ersten Rezipienten der Griechen in der Antike selbst. Herder sieht dementsprechend bereits in der Anverwandlung der griechischen Literatur durch die Römer ein Verlustmoment vorliegen: Die Ader der Römer war trockner und kälter [sc. als die der Griechen]. Daß Horaz und Catull ihre einzigen Odendichter waren, ist ein eben so merkwür387 Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 317. Ergänzung des Akuts in »πολυπλοκία« (»Verschlungenheit«): D. B. 388 Herder, Fragmente einer Abhandlung über die Ode, 65. 389 Ebd., 69. 390 Ebd., 72.
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diges Phönomen [sic], als daß Seneka [sic] blos ihr tragischer Dichter ward. Bei dem Horaz wird Alcäus' Ode oft Hofmoral, und im Catull Anakreons Liedchen oft ein abgemeßner galanter Einfall, wie er einer römischen Schönen gefallen konnte, die freilich zwischen Anakreons Mädchen und französischen Damen just einen Catull erfoderten [sic]. Es ist ein beständiger Widerspruch, die Schönheit einer Ode in die Individualität der Umstände zu setzen, sie auch beständig dem Horaz, und oft wider seinen Willen zuzuschreiben: und ihn doch nachahmen zu wollen. 391
Sei es die scheinbare Linientreue eines Horaz zum augusteischen Herrscherhaus, sei es die besondere Galanterie eines Catulls gegenüber einer römischen puella: die Abgemessenheit, als Gegenmodell zur Spontaneität, führt zu einer Schwächung, oder hier: Austrocknung und Erkaltung der empfindsamen Ader. Die Inanspruchnahme der griechischen Antike durch die römische bildet dabei nur die erste Stufe dieses Prozesses. 392 Wenn also die Nachahmung einen Kraftverlust bedeutet, muss sie – den mechanischen Gesetzen gemäß – selbst eine Kraft sein, die graduell bestimmbar ist. Herder führt dies in den Fragmenten einer Abhandlung über die Ode anhand einer antithetischen Figur vor und wendet diese zu einer regelrechten Verfallstheorie, die, nicht ohne polemischen Ton, im völligen Ersterben der Kräfte endet: Wer sieht hieraus nicht die Ursache, warum die Poesie stets sinken muß, von der goldene Höhe ihres Ursprungs gerechnet. Je mehr sich die Gegenstände erweitern, die menschlichen Geisteskräfte sich entwickeln, desto mehr ersterben die Fähigkeiten der sinnlichen Thierseele. Die Ausbreitung der Wissenschaften verengert die Künste, die Ausbildung der Poetik die Poesie; endlich haben wir Regeln statt poetischer Empfindungen; wir borgen Reste aus dem Alten, und die Dichtkunst ist todt! 393
Die angeführten »Fähigkeiten der sinnlichen Thierseele« sind ausdrücklich in positiver Abgrenzung zu den »menschlichen Geisteskräfte[n]« gesetzt. Je stärker also die Geisteskräfte werden, desto mehr werden die sinnlichen Kräfte zurückgedrängt. Herder ignoriert hier die ästhetische Tradition Baumgartens und Meiers, die ja keineswegs davon ausging, dass eine Steigerung der geistigen Ebd. Auch Johann Georg Jacobi greift in seiner Abhandlung Ueber das Lied (1776) diesen Topos auf: »Mehr von dem alt-griechischen Geiste finden wir unter den Römern, welche nach ihm sich bildeten; iedoch fühlt man die Nachahmung. Es ist nicht unmittelbarer Hauch, nicht angebohrnes Leben, nicht inwohnende Kraft«. (Jacobi, Ueber das Lied, 692). 393 Herder, Fragmente einer Abhandlung über die Ode, 69. 391 392
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Kräfte mit einem automatischen Verlust der sinnlichen einhergehen müsste, sondern sie vielmehr strukturanalog in Einklang zu bringen wusste. Da sich dies aber nicht in den Plan fügt, den Herder hier verfolgt, wird eine Position aus der Zeit vor der psychologischen Ästhetik bemüht, die eher an den Platonismus, an die Antipode von διάνοια und αἴσθησις erinnert als an die Formen der sinnlichen Erkenntnis. An diesem flexiblen Umgang mit Seelenkräften zeigt sich, dass für Herder hier vor allem ein Umstand entscheidend ist: Aus der Erweiterung des menschlichen Intellekts sind Regeln entstanden; und diese Regeln sind es, auf welchen die Nachahmung beruht. Kräfte sind demgegenüber ein Stück weit regellos. Das Schicksal des Dithyrambos und der Ode droht in noch größerem Umfang der ganzen europäischen Literatur. 394 Schuld daran hat laut Herder das Christentum. Pindar und die ersten Dithyrambiker haben demzufolge noch den Vorteil besessen, von der christlichen Gottesschau befreit zu sein, insofern »[n]icht an Altären, sondern in wilden Freudentänzen [. . . ] die Dichtkunst [entsprang]«. 395 Nun hängt die geschichtliche Entwicklung der Dichtkunst von der Rolle ab, welche die Gottheiten in ihr spielen. Im Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst (1766) expliziert Herder dies mit der Uneigentlichkeit, die in jedem Gottesbegriff von Natur aus enthalten sei. Wenn in Platons Ion noch eine göttliche Kraft diskutiert wurde, so hat Aristoteles in seiner Poetik mit derlei nicht mehr viel zu tun: Aristoteles war der erste, der in seiner Poetik ganz und gar die dichterischen Gottheiten entfernte, was das Wesen und den Ursprung jeder Dichtart anbetrifft: und in den spätern Zeiten hat man diese Sprache entweder blos den Dichtern überlassen, oder die poetische Begeisterung mit uneigentlichen Ausdrücken bezeichnen wollen. 396
Ein entscheidender Unterschied zwischen den heidnischen Göttern und dem christlichen Gott besteht darin, dass letzterer als ein Gott der Gnade und der frommen Furcht begriffen wird. Was er auszulösen vermag, sind daher – in Herders Lesart – negativ behaftete Affekte, »unangenehme Leidenschaften«, die fatalerweise in der Seele stärker wirken als ihre positiven Pendants: 394 Hiermit ist weniger ein ›nachvollziehbarer‹ historischer Verlauf gemeint als vielmehr die Entscheidungsmöglichkeit, die den Dichtern selbst obliegt, sich in eine Nachahmungstradition einzuschreiben oder genuine Kraft in die eigenen Werke zu setzen. 395 Herder, Pindar und der Dithyrambensänger, 303. Schmid kommt zu ähnlichen Aussagen hinsichtlich der Hymnik der Patriarchen: »Entsteht der Affect dieser Art Oden aus der Betrachtung Gottes oder göttlicher Dinge; so wird sie Psalm und Hymne genennt.« (Schmid, Von der lyrischen Poesie, 304). 396 Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 101.
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Wie die unangenehmen Leidenschaften stärker und empfindlicher wirken, als die angenehmen: wie Furcht lebhafter als Hoffnung, und Rache stärker als Dankbarkeit, und Schrecken empfindlicher als Ruhe ist: so siehet man auch, daß die ältesten Religionslieder von diesen mächtigern Empfindungen vorzüglich belebt werden. 397
Wie schon der Übergang von der griechischen zur römischen Kultur, so liest sich auch der Übergang vom antiken Götterglauben zum Christentum bei Herder als ein regelrechter Verlust sinnlicher Leidenschaften: So mag eine Hymne der Patriarchen gewesen seyn: voll erhabner Ehrfurcht, wenn sie an Gott dachten, statt der sinnlichen Leidenschaft der heidnischen Götter, womit sie auf Kosten des Gottanständigen rührten: voll Betrachtung der Natur statt voll von heidnischen Götterthaten. 398
Durch das Christentum wurde also nicht nur der Götterhimmel durch eine monotheistische Religion ersetzt, sondern auch die antike Sinnlichkeit durch Ethos (ἦθος) und Anschauung (θεωρία). Der Blick auf den christlichen Gott war, ganz im Gegensatz zum dionysischen Taumel, den Herder als den Kraftquell der griechischen Dichtkunst einstuft, nicht mehr als ein »gnädiges Anschauen«. 399 Herder pointiert diesen Gedanken dadurch, dass er eine rhetorische Frage stellt, die mit Lukrez ausgerechnet einen Kritiker der vorchristlichen Religion auf den Plan ruft: [H]at Lukrez nicht ganz recht in der Stelle, über die man ihn so sehr verketzert hat: Humana ante oculos foede cum vita iaceret In terris oppressa gravi sub relligione: [sic] Quae caput a coeli [sic] regionibus ostendebat Horribili super adspectu mortalibus instans: Primum Graius homo mortales tollere contra Est oculos ausus, primusque obsistere contra: Quem nec fama Deum, nec fulmina, nec minitanti Murmure compressit coelum, [sic] sed eo magis acrem Virtutem Inritat animi, confringere ut arcta Naturae primus portarum claustra cupiret.
397 398 399
Ebd., 115. Ebd., 127. Ebd., 132.
Die neuen Kräfte der Antike ab 1747
724
Freilich hat die Weltweisheit und die Kenntniß der wahren Ursachen den Menschen von dieser niedrigen Furcht befreiet, aber der Ursprung der Dichtkunst forderte diese starken Triebfedern, um hervorzukommen. 400
Die implizite Antwort Herders kann an dieser Stelle ganz schlicht lauten, dass Lukrez natürlich recht hatte. Waren es zuvor noch die »Geisteskräfte«, so ist es nun die »Weltweisheit« schlechthin, die – epikureistisch gedeutet – zwar zu einer Befreiung von der Gottesfurcht führte, jedoch noch nichts vom kommenden Schicksal ihrer Vereinnahmung durch das Christentum erahnen konnte. An dieser Stelle ist – ein letztes Mal – der Bogen zu Homer zu spannen. Die Engführung von Homer mit Kraft wurde in Kapitel v.4.d auf zwei Weisen nachvollzogen: bei Gerstenberg in satirischer, bei Herder in gattungspoetischer Ausformung. In Kapitel v.6.a wiederum wurde Homer als vorbildlich in der Art seiner psychomechanischen Bildkraft vorgeführt. Das Fortschreiten von Bildern in der Zeit wird, wie es Herder im Aufsatz Homer, ein Günstling der Zeit in den Horen von 1795 formuliert, 401 zu einem regelrechten »Homerischen Fortschreiten« 402 ausgebaut: Von der Wahrheit, Einfalt und Pracht der griechischen Bilder angewandt auf ihre schöne Homerische Fortschreitung. [. . . ] Der anschauliche Fortgang der Begebenheit, der wachsende Glanz der Rede, mit jedem neu hinzufliessenden Zuge; Er ist das Hauptwerk, über welchem man selbst die Harmonie des Verses vergißt, und fast unwillig wird, wenn man, unzeitig erinnert, an sie als an etwas Besonderes denket. Bei den alten Sängern dorfte [sic] dies der Fall nie seyn, oder die Harmonie selbst hinderte die Wirkung des Epos. Dies nahm sich Zeit, Alles ganz darzustellen, daß, auf dem Flügel der Rede fortgetragen, der Hörer mit Vergnügen eilte und weilte. 403
Ebd., 115 f. Das Zitat entspricht Lucr., 1, 62–71 und lässt sich wie folgt wiedergeben: »Als das menschliche Leben vor den Augen [sc. der Menschen] schmählich dalag / auf Erden, niedergedrückt unter der schweren Religion, / die von den Himmelsbereichen herab ihr Haupt streckte / und unter schrecklicher Fratze den Sterblichen drohte, / hat erstmals ein griechischer Mensch gewagt, seine sterblichen Augen emporzuheben und sich als erster dagegen zu erheben. / Diesen schreckte kein Gerücht über die Götter, keine Blitze und kein Himmel mit drohendem Getöse; vielmehr reizte es seinen Geistesmut noch zu einer umso stärkeren Kraft des Geistes, / dass er begehrte, als erster die Riegel aufzubrechen, welche die Tore der Natur verschlossen hielten«. 401 Vgl. zur Entstehungsgeschichte dieses Aufsatzes Arnold (2010), 453–459. 402 Herder, Homer, ein Günstling der Zeit, 64. 403 Ebd., 64 f. 400
Kraft, Antike und antiker Kraftverlust bei Herder
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Herder führt nun im Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst mit einer süffisanten Aussage die Homer-Verehrung mit der eigenen Religionskritik auf polemische Weise zusammen: Es wäre in gewissen Zeitaltern Griechenlands und in gewißen Städten so gefährlich gewesen, an der Göttlichkeit der homerischen Poesie zu zweifeln: als es in gewissen Jahren und Oertern war, die biblische Poesie menschlich zu nennen, wenn man gleich bei ihrem Inhalt die göttliche Offenbarung annimmt. 404
Neben Herder lässt sich kaum ein Philosoph im späten 18. Jahrhundert ausmachen, der den Verlust der Antike so konsequent auf den Verlust ihrer Kräfte bezieht. Es lässt sich darüber hinaus kein Theoretiker erkennen, der in vergleichbarem Maße darauf insistiert, dass die Antike an ihrer eigenen Kraft zugrunde gegangen sei und in den Versuchen ihrer Rezeption immer wieder aufs Neue zugrunde gehe. Ihre Rezeption kann nicht mehr dieselbe Intensität und damit auch nicht mehr dieselbe Qualität erlangen, wie sie ihre originalen Werke noch enthielten. Und im Gegensatz zu Newtons Weltbild steht hier kein Gott bereit, der sie von Neuem aufzuziehen vermag. Herder bringt die mechanistische Theorie der Kräfte in ihre bis dahin neuzeitlichste Form, die Verlustangst, indem er zu Homer zurückkehrt.
404
Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 63.
VI. Schlussbetrachtung
Die zuletzt diskutierte Theorie des Kraftverlusts kann sinnbildlich für einen Weg einstehen, den der Mechanizismus eigentlich immer vermeiden wollte: den Verlust an Sinnlichkeit. Die Linien, die von Homer zu Herder, von Platon zu Galilei und Kepler, von Aristoteles zu Leibniz, von Horaz zu Klopstock, von (Ps.-)Longin zu Baumgarten, von Archimedes zu Del Monte, von Pappos zu Descartes, von Cicero und Quintilian zu Gottsched etc. geführt haben, sind Bewegungen von der alten Natur zur neuen Natur. Diese Bewegungen sind aber nicht einseitig gerichtet; sie weisen vielmehr indirekt auf dasjenige zurück, was sie einst freigesetzt hat – auf einen Begriff von Kraft. Die Poetik schöpft ihre Kräfte aus ihren Vorbildern, nicht weil es sich um schiere Vorbilder handeln würde, sondern weil sich ihre Seelen auch empfänglich für einen Geist zeigen, den sie historisch – jedenfalls nach Auffassung ihrer Rezipienten – noch gar nicht empfinden konnten. Die Ästhetik schöpft die in ihr diskutierten Kräfte aus der Gleichwertigkeit oberer und unterer Seelenvermögen, nicht weil sie diese Vermögen indifferent betrachten würde, sondern weil die Mechanik dafür gesorgt hat, dass die Seele sich im Kosmos als selbsttätig und selbstdurchdringend erfahren kann. Die Mechanik wiederum schöpft ihre Kräfte aus einer neuen, sinnlichen Auffassung von Mathematik, deren Nobilitierung umso mehr voranschreitet, je mehr sie sich den scheinbar niederen Naturbereichen zuwendet. Diese Wege werden lange Zeit von einer Entwicklung geprägt, die von beispiellosem Einfluss auf die schönen Künste war und ist. Das mechanistische Weltbild hat im Laufe seiner Geschichte immer wieder die Nähe zur Metaphysik, zur Kosmologie und zur Psychologie gesucht und sich dabei ebenso häufig selbst reflektiert, wie es an anderen Philosophien partizipierte. So sehr die Systeme der Mechanik Geschlossenheit anstreben, so wenig kann diese Geschlossenheit als gesetzt gelten. Vielmehr lassen sich Kippfiguren zwischen den Positionen des Materialismus, des Aristotelismus und – mit Blick auf Galilei und Kepler – des Platonismus historisch und systematisch nachvollziehen. Angetreten als streng mathematisch-geometrische Wissenschaft, verleiht die Mechanik, obschon ihre Grundtendenz auf die Körperwelt gerichtet ist, auch der Metaphysik neue und entscheidende Impulse. Hierzu zählt, dass die antike Auffassung von der Unveränderlichkeit transzendentaler Prinzipien durch das Prinzip der Kraft ergänzt oder gleich ganz ersetzt wird. Zur Geschichte dieses Prinzips zählt jedoch auch, dass es mit einiger Regelmäßigkeit angezweifelt und an Alternativgrößen wie der idealistischen Natur bemessen wird.
728
Schlussbetrachtung
Auch die Geschichte der Antike ist eine Geschichte von einer Epoche, die immer wieder in Frage gestellt wird. Die Antike kann ihre Mustergültigkeit in der Frühen Neuzeit nur behaupten, indem ihre eigenen Modelle entweder offensiv vertreten werden – wie etwa der kugelgestaltige Kosmos im Weltbild der Renaissance- und Barockphilosophie – oder indem Potentiale in ihr aufgedeckt werden, die zuvor nicht evident waren – wie etwa die krafttheoretische Entelechie bei Leibniz. Es geht in diesen Zusammenhängen auffallend häufig um Konkurrenzsituationen nicht nur zur Antike selbst, sondern auch im philosophischen Wettstreit auf dem zeitgenössischen philosophischen Meinungsmarkt. Als prominentestes Beispiel hierfür kann der Streitfall um den Vorrang des newtonschen oder leibnizschen Systems eingestuft werden – die sich schließlich bei Herder in gewisser Weise zu versöhnen scheinen. Die Anverwandlung eines spezifisch ›antik‹ aufgefassten Grundbestandes an Philosophemen zur Natur meint in der Frühen Neuzeit deutlich mehr als die scholastische Auslegung einer über Autoritäten legitimierten (philosophus dixit), säuberlich abgesteckten Schullandschaft. Die Antike kann die Beweiskraft ihrer Weltbilder durch die große Tradition ihrer Rezeption umstandslos bezeugen; nur genügt diese Beweiskraft nicht mehr ohne Weiteres, da es mittlerweile mehr um eine Beweislast geht. Die Mechanisierung und Mathematisierung der Weltbilder stellt die antiken Lehrmeinungen über Körper und Geist, über Geometrie und Arithmetik, über Erkennen und Sinnlichkeit nachhaltig auf die Probe. Restaurative Antworten, wie etwa von Seiten der Cambridge-Platoniker, entfalten bezeichnenderweise nur dann eine restaurative Wirkung, wenn sie selbst eine Schule bilden. Produktiv wird die Rezeption der Antike dann, wenn sie als Realisation, als energetische Wirkung ihrer eigenen Theoreme gedacht wird. Wenn also die Antike im Rahmen der neuen Naturen ihren Wert beibehalten soll, so gelingt dies dann am besten, wenn man – wie Kepler – das Sonnengleichnis Platons zur universellen Kraft der Seele bestimmt, wenn man – wie Leibniz – die aktiven Kräfte auf mechanische und aristotelische Kräfte applizierbar macht oder wenn man – wie Goethe – die »Krafft der Worte« Pindars fühlt. In diesen Fortschreibungen, Umdeutungen und Transformationen, kurz: Rezeptionen, werden neue, spezifische Verhältnisse der Antike zu den in der Studie behandelten Diskursfeldern ermöglicht. Sie verhält sich zur Mechanik auf scheinbar generöse und dennoch irritierende Weise. Ihre Rezeption umfasst aus mechanistischer Warte nicht selten eine Position und zugleich deren genaues Gegenteil. Pseudo-Aristoteles und Aristoteles, Platon und Trägheit, Lukrez und das Christentum: All diese scheinbar unvereinbaren Größen werden im Rahmen von Umdeutungsprozessen zu einem das Kunstverständnis befördernden Naturbegriff entwickelt. Es ist in diesem Zusammenhang geradezu symptomatisch zu nennen, dass die mecha-
Schlussbetrachtung
729
nistische Philosophie einst angetreten ist, »to replace that [philosophy; D. B.] of Aristotle«; 1 denn das Resultat entspricht, mit Blick auf die Gemengelage, die zwischen der Leibniz-Philosophie und der psychologischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts auszumachen ist, gerade nicht diesem Antrittsziel als vielmehr dem Gegenteil. Dies heißt aber nicht, dass das Antrittsziel damit aufgegeben oder desavouiert worden wäre. Die Gültigkeit der mechanischen Natur liest sich auf begriffsgeschichtlicher Ebene bisweilen wie eine Geschichte von Interpretationsversuchen, auf der Ebene der freien Künste erweist sich jedoch die Mechanisierung der Antike zunehmend als ein vertieftes Verständnis des grundlegenden Einschlusses der Natur in den Bereich der menschlichen Fertigkeiten. Dazu bedarf es – in der Antike wie in der Frühen Neuzeit – jedoch einer ars. Da die historischen artes mechanicae diesem Bedürfnis in keiner Weise entsprechen können, ergeben sich in der Frühen Neuzeit im Kontext der ars aesthetica unverhoffte Möglichkeiten zur Transformation der klassischen essentialistischen Schulen, vorzugsweise des Aristotelismus. Hierzu bedurfte es aber, wieder bezeichnenderweise, zunächst der Nobilitierung der pseudoaristotelischen Problemata mechanica in der archimedischen Renaissance. Die Antike verhält sich zur Ästhetik, indem sie für die ars aesthetica die ontologischen Kategorien zur Verfügung stellt, die eine Theorie über den fiktionalen Status sprachlicher Kunstwerke überhaupt erst ermöglichen. Die Bereitstellung der modallogischen Komponenten (possibile, probabile, necessarium) erweist sich im holistischen Weltbild Leibniz', in der Psychologie Wolffs und in der Metaphysik Baumgartens als zuverlässig gültig, wenngleich um ein entscheidendes Moment ergänzt: Im Zuge der Verbreiterung und Vertiefung der Rolle, welche die Einbildungskraft in der Architektur der Seele spielt, wird zugleich die facultas fingendi um eine kosmologische Dimension erweitert. Da diese Dimension von einer bei Leibniz und Wolff holistischen, bei Baumgarten heterokosmischen Diktion geprägt ist, wird die Funktion des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs (possibile) extensiviert. Wenn sich Leibniz, Wolff und Baumgarten dieses Begriffs bedienen, so schließt dies die neue Rolle der Erfindungskraft und damit das Verhältnis von Seele und Kosmos mit ein. Fähigkeit (facultas) und Naturanlage (ingenium) bilden die beiden, bereits aus der antiken Rhetorik (orator perfectus) bekannten Kehrseiten eines nunmehr als ästhetischen Menschen (homo aestheticus) aufgefassten Künstlers. In ihm, genauer: in seinem Vorstellungsvermögen, findet sich der Kosmos in individuierter und zugleich vereinheitlichter Gestalt wieder, so wie sich im orator perfectus die freien Künste (artes liberales) zur Einheit gebracht sahen. Dadurch erweist sich die psychomechanische Kraft als in zwei Dimensionen gerich1
Menn (1998), 24.
730
Schlussbetrachtung
tet: als intensivierte Seelenkraft sowie als ausgebreitete Kraft, repräsentiert im Raum des Vorstellungsvermögens. Die Antike nimmt schließlich auch ein Verhältnis zur Poetik ein. Hierbei handelt es sich um diejenige Disziplin, die sie selbst wirkmächtig begründet hat. Mit Blick auf das Nachahmungsgebot Batteux', das Vernunftgesetz Gottscheds sowie generell die exponierte Rolle, welche die metaphysische Natur im Kontext der Aufklärung, bei all ihrer Tendenz zur Sinnlichkeit, immer wieder behaupten kann, lassen sich ideengeschichtliche Kontrahenten ausmachen, die einer auf der Seelenmechanik beruhenden Poetik mit Strategien der Naturnachahmung und der Hypostasierung begegnen. Das wichtigste Exerzierfeld für die Psychomechanik bleibt bei alledem die Affektpoetik. Die erstaunlich stabile, bereits aus der keplerschen Astronomie bekannte Tradition, die ästhetische Aneignung der Welt als Koinzidenz von Rezeption und Produktion, mithin von unteren und oberen Seelenvermögen, aufzufassen, wird in den Poetiken des 18. Jahrhunderts auf gattungs- und epochenspezifische Kontexte übertragen und ausgedeutet. Produktivität und Repräsentativität bestimmen nicht nur das Wesen mechanischer Kräfte, sondern auch das Verhältnis von Autor und Werk, von Werk und Rezipient, von poetischer Dunkelheit (obscuritas) und Klarheit (claritas) und schließlich auch von Genie (genius) und Nachahmung (imitatio). Als Kristallisationspunkte dieser Kräfte fungieren die Schnittstellen von Gattungs- und Autorenpoetiken. Antike Autoren wie Horaz, Pindar und Homer lassen sich gerade als Vertreter ihrer Gattungen als natürlich, stark und energetisch erfassen. Wenn Klopstock Horaz' sympathetisches Prinzip von flere und dolere adaptiert, erschöpft sich dies demgemäß nicht in einer sentimentalischen Hinwendung zu emotionalen Rührungsprinzipien, sondern bedeutet ein Bekenntnis zu der Grundüberzeugung, dass Dichtung vorwiegend über Kraft und Bewegung funktioniert; wenn Herder wiederum Pindar zum Dithyrambensänger (v)erklärt, so wird die Entstehung einer ganzen Dichtungsgattung in einen Bereich ungehemmter Kräfte, mithin in den Bereich aktiver Kräfte (vires activae) verlagert. Gleichwohl ist auch auf manche Divergenz in bestimmten Positionen hinzuweisen, die sich nur schwerlich auflösen lässt: Nachahmung bedeutete in der Antike bisweilen noch einen Gewinn an Kraft für den Nachahmenden; in den Affektpoetiken der Aufklärungszeit droht Kraft durch Nachahmung hingegen verloren zu gehen. Entscheidend hierfür ist der anders nuancierte Essenzbegriff, der in der Antike sowohl in der Kraft wie auch in den durch Kraft zu vermittelnden Gegenständen liegen konnte, in der Frühen Neuzeit jedoch aufgrund der Bevorzugung intrinsischer, auf einem externen Tableau noch in die Repräsentation zu überführender Prinzipien (intima rerum) neu aufgerollt wird. Insgesamt spielt die Antike, gemessen daran, dass sie außer dem Ato-
Schlussbetrachtung
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mismus kaum ein auf die reine Sinneswelt fokussiertes philosophisches System hervorgebracht hat und ihre beiden wichtigsten Vertreter – der Platonismus und der Aristotelismus – sich ganz dem Essentialismus verschreiben, eine erstaunlich konstruktive, teils gar emphatische Rolle bei der Entwicklung der neuen Naturen. Dass Homer, Aristoteles, Horaz und Vergil zu den kanonischsten aller antiken Autoren wurden und es bis heute sind, liegt spätestens ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht mehr in der scholastischen Betonung ihrer Mustergültigkeit, sondern vor allem in ihrem (psycho-)mechanischen Wert begründet, den ihnen die Frühe Neuzeit zuweist. * Die beschriebenen Wege, welche die Mechanik und die Antike auf vielfältige Weise einen und trennen, sind mit der Philosophie Herders mutmaßlich noch nicht an ein Ende gelangt. Wenn in der Studie die Zeiträume der Antike und der Frühen Neuzeit vor der ›kantischen Wende‹ fokussiert wurden, so wäre weiter zu fragen, welche Bewertung mechanische Kräfte in der Ästhetik und Poetik des deutschen Idealismus und der Weimarer Klassik in ihrem – expliziten und impliziten – Bezug zur Antike erfahren. Tatsächlich deuten Aussagen, wie Schiller sie in den Briefen Über die ästhetische Erziehung (1795) trifft, 2 darauf hin, dass in den epochengeschichtlichen Deutungen auch Kraftkonzepte eine Rolle spielen. Dieses Problem einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, die darauf abzielt, wie sich der Kraftbegriff in der Ästhetik und Antikenrezeption der Weimarer Klassik weiter gewandelt hat, wäre Aufgabe einer anderen Studie.
2 Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Sechster Brief, 570: »Damals bei jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte hatten die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum; denn noch hatte kein Zwiespalt sie gereizt, mit einander feindselig abzuteilen, und ihre Markung zu bestimmen«. Das Ende des Briefes scheint bereits auf die Vorstellung einer Synthese aus den getrennten Kräften hinzudeuten: »Es muß also falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muß es bei uns stehen, diese Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen.« (ebd., 578).
Literaturverzeichnis
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Textausgaben (außer Antike)
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Abbildungsnachweise
Abb. 1 (301) Galilei, Galileo, »Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo.« In: Le opere di Galileo Galilei, Ristampa della edizione nazionale, curata da Antonio Favaro e portata a complimento negli anni tra il 1890 e il 1909, Volumen 7, Florenz 1932, cap. ii, 191. Abb. 2 (307) Ioannis Kepleri, De stella nova in pede serpentarii, et qui sub ejus exortum de novo iniit, Trigono igneo, Libellus Astronomicis, Physicis, Metaphysicis, Meteorologicis, & Astrologicis, Disputationibus, ἐνδόξοις et παραδόξοις plenus, Prag 1606, 80. Abb. 3 (376) Newton, Isaac, Philosophiae naturalis Principia mathematica, Editio tertia aucta & emendata, London 31726, lib. i, sect. x, 143. Abb. 4 (376) Leibniz, Gottfried Wilhelm, »Specimen Dynamicum«. In: Ders., Mathematische Schriften, Bd. vi, Die mathematischen Abhandlungen, herausgegeben von C[arl] I[mmanuel] Gerhardt, Hildesheim / New York 1971 (zweiter ND der Edition: Halle 1860), pars 1, fig. 24. Abb. 5 (497) Ioannis Kepleri, Harmonices Mundi Libri v, Sumptibus Godofredi Tampachii Bibl. Francof. excudebat Ioannes Plancus, Linz 1619, lib. iv, cap. v, 140. Abb. 6 (497) Ioannis Kepleri, Harmonices Mundi Libri v, Sumptibus Godofredi Tampachii Bibl. Francof. excudebat Ioannes Plancus, Linz 1619, lib. iv, cap. v, 140. Abb. 7 (570) Maestro del Dado, Enea fugge da Troia con Anchise sulle spalle ed Ascanio. In: Gonnelli, Libreria antiquaria / Casa d'Aste, Asta 23 – Libri & grafica, Parte ii, Autografa, Florenz. Abb. 8 (570) Enea, Anchise e Ascanio, by Bernini, preserved in the Borghese Museum, Villa Borghese, Rome, Mandatory Photo Credit: Archivi Alinari, Florenz. Abb. 9 (611) Batteux, Charles, Les beaux arts réduits à un même principe, chez Durand, Libraire, rue S. Jacques, à S. Landry & au Griffon, Paris 1746, Frontispice.
Personenregister
(Nennung in Fußnoten kursiv) Abbt, Thomas 658, 658, 659, 659, 660, 660, 661, 661, 662, 662 Archimedes 244, 244, 246, 247, 247, 251, 253, 255, 312, 315, 440, 727 Aristoteles 24, 53, 53, 54, 58, 59, 60, 60, 61, 64, 65, 65, 66, 66, 67, 67, 68, 68, 69, 70, 72, 76, 77, 80, 81, 84, 86, 91, 92, 96, 103, 104, 105, 107, 117, 119, 121, 122, 123, 125, 126, 127, 131, 132, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 139, 141, 142, 143, 145, 145, 147, 147, 148, 149, 150, 151, 151, 152, 152, 153, 154, 155, 155, 157, 162, 164, 167, 173, 181, 182, 182, 183, 183, 184, 199, 203, 212, 214, 215, 216, 218, 231, 234, 235, 236, 236, 237, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 255, 264, 265, 266, 273, 273, 274, 274, 275, 280, 284, 284, 288, 289, 290, 290, 292, 305, 313, 320, 325, 326, 326, 327, 327, 329, 343, 344, 345, 346, 355, 362, 363, 364, 364, 365, 366, 372, 374, 380, 385, 386, 388, 402, 403, 405, 406, 408, 412, 414, 443, 446, 447, 448, 448, 450, 450, 452, 460, 467, 484, 491, 502, 511, 512, 516, 517, 518, 519, 523, 528, 529, 534, 540, 540, 541, 557, 558, 561, 562, 563, 564, 564, 566, 568, 573, 575, 590, 590, 599, 600, 614, 621, 628, 636, 642, 643, 644, 694, 703, 717, 722, 727, 728, 731 Bacon, Francis 224, 224, 225, 225, 226, 226, 227, 227, 259, 285, 291, 414, 419, 451, 467 Baldi, Bernardino 248, 248, 249, 249, 251, 255 Batteux, Charles 23, 604, 609, 610, 610, 611, 612, 612, 613, 614, 615, 615, 616, 617, 622, 627, 628, 645, 673, 678, 730 Baumgarten, Alexander Gottlieb 28, 28, 38, 95, 157, 216, 217, 241, 443, 443, 444, 444, 445, 445, 446, 472, 473, 473, 479, 479, 541, 542, 542, 543, 543, 544, 544, 545, 545, 546, 546, 547, 548, 549, 550, 550, 551, 551, 552, 552, 553, 553, 554, 555, 555, 556, 556, 557, 558, 562, 565, 566, 566, 567, 567, 568, 568, 569, 569, 570, 570, 571, 571, 572, 572, 573, 573, 574, 575, 576, 576, 577, 577, 579, 579, 580, 581, 581, 582, 582, 583, 584, 584, 585, 585, 586, 586, 587, 587, 588, 588, 589, 589, 591, 591, 592, 593, 593, 594, 594, 595, 595, 596, 596, 597, 597, 598, 604, 609, 620, 622, 623, 624, 624, 625, 626, 638, 642, 643, 655, 655, 658, 664, 665, 667, 669, 676, 688, 689, 691, 702, 702, 710, 717, 721, 727, 729 Bil nger, Georg Bernhard 564, 564, 565
Boileau, Nicolas 20, 608 Bošcovi´c, Ruðer 705, 705, 706, 706, 707 Brämer, Carl-Friedrich 622, 623, 623, 624 Caesar (Gaius Iulius Caesar) 36, 37, 38, 160, 200, 200, 201, 201, 208, 208, 209, 209, 210 Catull (Gaius Valerius Catullus) 128, 592, 593, 593, 657, 720, 721 Cicero (Marcus Tullius Cicero) 36, 58, 71, 125, 125, 129, 130, 130, 158, 159, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 164, 165, 165, 168, 169, 170, 170, 171, 171, 172, 172, 173, 173, 174, 174, 175, 175, 176, 177, 178, 178, 179, 179, 180, 181, 183, 183, 184, 185, 187, 188, 189, 190, 190, 191, 191, 192, 193, 193, 197, 198, 199, 200, 204, 205, 206, 207, 208, 208, 209, 210, 211, 215, 573, 582, 583, 584, 590, 590, 598, 598, 611, 615, 615, 688, 695, 700, 701, 728 Clarke, Samuel 421, 423, 423, 424, 424, 425, 425, 427, 427, 428 De Guevara, Giovanni 249, 249, 250, 250, 251 Del Monte, Guidobaldo 244, 244, 245, 245, 246, 246, 247, 247, 248, 249, 249, 251, 252, 255, 255, 272, 277, 278, 370, 387, 414, 494, 727 Demokrit 88, 110, 169, 170, 170, 183, 333, 410, 559 Descartes, René 35, 45, 87, 94, 94, 219, 220, 221, 229, 230, 230, 238, 239, 239, 240, 240, 242, 243, 248, 261, 262, 263, 266, 266, 267, 267, 268, 268, 269, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 274, 275, 276, 277, 277, 278, 278, 280, 280, 281, 288, 293, 297, 302, 303, 306, 308, 311, 320, 326, 326, 329, 331, 333, 334, 334, 335, 335, 336, 337, 338, 339, 341, 341, 342, 343, 344, 344, 345, 345, 346, 346, 347, 347, 348, 349, 349, 350, 351, 351, 352, 358, 359, 359, 362, 362, 363, 370, 372, 374, 375, 377, 382, 383, 383, 384, 388, 389, 390, 393, 401, 404, 408, 411, 412, 413, 415, 415, 422, 429, 430, 430, 432, 435, 436, 436, 452, 452, 454, 454, 455, 456, 457, 458, 459, 459, 463, 465, 466, 472, 477, 490, 491, 492, 509, 512, 518, 522, 523, 524, 524, 525, 525, 526, 549, 560, 562, 605, 689, 690, 716, 727 D'Holbach, Paul-Henri Thiry 222, 222, 470, 511, 621, 646 Empedokles 54, 65, 76, 77, 80, 88, 88, 89, 89, 90, 224, 707 Epikur 51, 234, 237, 327, 397, 419, 559, 668
822
Personenregister
Galilei, Galileo 222, 265, 275, 276, 279, 281, 287, 296, 297, 297, 298, 298, 299, 299, 300, 300, 301, 302, 302, 303, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 308, 310, 313, 314, 317, 318, 320, 321, 327, 332, 333, 340, 344, 345, 349, 352, 353, 355, 361, 366, 370, 371, 373, 374, 375, 377, 377, 381, 382, 402, 414, 437, 440, 477, 480, 484, 491, 492, 493, 545, 727 Gassendi, Pierre 220, 234, 234, 235, 235, 236, 237, 237, 238, 238, 239, 240, 241, 241, 260, 273, 303, 311, 326, 327, 328, 329, 357, 373, 393, 411, 431, 440, 492, 516 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 604, 623, 637, 646 Goethe, Johann Wolfgang 12, 12, 68, 107, 107, 110, 142, 653, 653, 664, 670, 728 Gottsched, Johann Christoph 22, 22, 157, 517, 604, 604, 606, 607, 607, 608, 609, 610, 610, 616, 617, 618, 622, 623, 624, 624, 625, 626, 627, 627, 671, 671, 672, 691, 727, 730 Hagedorn, Friedrich von 604, 623, 672, 672, 678 Haller, Albrecht von 637, 637, 640, 641, 641, 664, 666, 667, 667 Herder, Johann Gottfried 46, 110, 218, 218, 468, 629, 635, 644, 644, 645, 646, 648, 648, 649, 649, 650, 650, 651, 651, 652, 652, 653, 653, 654, 654, 655, 655, 656, 656, 657, 657, 658, 658, 665, 665, 666, 668, 669, 669, 670, 670, 676, 676, 677, 677, 678, 679, 679, 681, 681, 682, 682, 683, 683, 684, 684, 685, 702, 702, 703, 703, 704, 705, 706, 706, 707, 707, 708, 708, 709, 709, 710, 710, 711, 712, 712, 713, 713, 714, 715, 715, 716, 717, 717, 718, 718, 719, 719, 720, 720, 721, 721, 722, 722, 723, 724, 724, 725, 725, 727, 728, 730, 731 Hobbes, Thomas 221, 221, 230, 238, 239, 239, 241, 257, 258, 293, 308, 326, 326, 327, 330, 343, 344, 351, 352, 352, 353, 353, 354, 354, 355, 356, 357, 357, 358, 358, 359, 360, 362, 363, 370, 371, 371, 373, 417, 440, 448, 449, 471, 518, 541, 577, 628 Homer 18, 23, 23, 24, 31, 52, 58, 70, 73, 74, 75, 76, 76, 77, 87, 88, 90, 99, 104, 105, 106, 108, 109, 112, 113, 113, 114, 115, 126, 127, 128, 129, 134, 171, 207, 207, 218, 585, 586, 586, 589, 603, 617, 620, 631, 632, 633, 670, 670, 671, 671, 672, 674, 675, 676, 676, 677, 677, 680, 681, 682, 682, 685, 695, 702, 708, 709, 709, 710, 711, 712, 713, 720, 724, 724, 725, 728, 730, 731 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 15, 23, 23, 31, 51, 58, 125, 137, 158, 159, 159, 160, 160, 161, 164, 185, 197, 200, 204, 206, 206, 211, 215, 426, 531, 532, 532, 533, 533, 534, 535, 535, 582, 585, 587, 588, 588, 589, 589, 590, 591, 592, 592, 595, 596, 603, 608, 609, 611, 612, 613, 628, 629, 630, 631, 636, 637, 638, 639, 640, 641,
642, 643, 645, 650, 651, 654, 655, 655, 656, 656, 657, 658, 658, 659, 664, 669, 698, 702, 719, 720, 721, 727, 730, 731 Hume, David 221, 685, 686, 686, 687, 687, 690 Kant, Immanuel 30, 45, 57, 84, 206, 597, 706 Karschin, Anna Louise 646, 646, 647, 647 Kepler, Johannes 222, 228, 241, 242, 252, 257, 265, 265, 276, 279, 281, 287, 305, 307, 308, 308, 309, 309, 310, 310, 311, 312, 312, 313, 313, 315, 315, 316, 316, 317, 317, 318, 318, 319, 320, 321, 322, 327, 332, 333, 335, 340, 343, 344, 349, 352, 353, 356, 361, 363, 364, 366, 367, 367, 368, 368, 369, 369, 370, 371, 373, 374, 377, 377, 381, 382, 394, 395, 395, 402, 414, 419, 420, 421, 432, 437, 440, 459, 477, 484, 489, 492, 493, 494, 494, 495, 496, 496, 497, 497, 498, 499, 499, 500, 500, 501, 501, 502, 502, 503, 503, 504, 504, 505, 506, 507, 508, 508, 509, 509, 511, 512, 513, 514, 515, 517, 519, 520, 526, 538, 539, 541, 545, 547, 565, 580, 597, 598, 674, 727, 728 Klopstock, Friedrich Gottlieb 591, 604, 604, 623, 627, 627, 628, 628, 629, 629, 630, 630, 631, 632, 633, 633, 637, 654, 654, 655, 655, 656, 656, 657, 658, 658, 666, 673, 682, 683, 684, 719, 727, 730 La Mettrie, Julien Offray de 222, 239, 240, 293, 401, 470, 604, 621, 621, 646, 659 Le Bossu, René 273, 273, 274, 275, 278, 326, 383 Leibniz, Gottfried Wilhelm 94, 95, 219, 220, 221, 230, 238, 239, 239, 240, 242, 252, 257, 260, 263, 266, 276, 280, 324, 325, 325, 326, 326, 327, 327, 328, 328, 329, 329, 330, 330, 331, 331, 332, 336, 336, 337, 338, 343, 348, 363, 364, 371, 371, 372, 372, 373, 375, 375, 376, 376, 378, 379, 383, 385, 387, 388, 389, 389, 390, 390, 391, 391, 393, 393, 394, 395, 395, 396, 397, 398, 399, 399, 400, 401, 402, 403, 403, 404, 404, 405, 405, 406, 406, 407, 407, 408, 408, 409, 409, 410, 411, 412, 413, 415, 415, 416, 417, 418, 419, 421, 422, 423, 424, 424, 425, 425, 426, 427, 427, 428, 429, 430, 430, 431, 432, 432, 433, 435, 436, 436, 437, 438, 440, 450, 457, 458, 458, 459, 459, 460, 460, 461, 462, 463, 464, 464, 465, 466, 467, 468, 472, 473, 475, 476, 476, 477, 478, 479, 487, 489, 502, 503, 507, 509, 511, 512, 515, 516, 516, 517, 517, 518, 519, 520, 520, 521, 521, 522, 522, 523, 523, 524, 525, 526, 533, 534, 537, 538, 539, 541, 542, 545, 546, 548, 549, 552, 553, 553, 556, 557, 558, 559, 559, 560, 560, 561, 561, 562, 563, 563, 564, 564, 565, 567, 568, 569, 574, 577, 578, 580, 581, 582, 587, 598, 599, 605, 615, 622, 625, 635, 650, 667, 674, 690, 703, 703, 704, 705, 705, 707, 716, 727, 728, 729 Lessing, Gotthold Ephraim 60, 629, 635, 654, 668, 668, 711, 711, 712, 713, 714, 714, 715, 717, 717
Personenregister Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis) 584, 587, 592, 593 Locke, John 221, 221, 226, 226, 240, 257, 351, 487, 488, 577, 687 (Ps.-)Longin 118, 118, 121, 126, 193, 197, 201, 205, 206, 206, 215, 594, 594, 595, 636, 643, 727 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 54, 110, 235, 235, 295, 327, 396, 397, 428, 429, 572, 580, 580, 581, 584, 668, 670, 723, 724, 728 Martial (Marcus Valerius Martialis) 587, 594, 595, 595 Meier, Georg Friedrich 604, 624, 625, 626, 627 Mendelssohn, Moses 11, 11, 635, 646, 646, 647, 647, 648, 697 Newton, Isaac 29, 30, 219, 220, 221, 221, 238, 239, 240, 242, 254, 256, 257, 260, 264, 266, 276, 278, 280, 316, 316, 323, 324, 324, 339, 340, 343, 344, 346, 348, 358, 359, 359, 360, 360, 361, 361, 362, 363, 370, 373, 375, 375, 376, 382, 385, 402, 411, 411, 412, 413, 413, 414, 414, 415, 415, 416, 417, 417, 418, 418, 419, 420, 421, 421, 422, 422, 423, 423, 424, 427, 435, 436, 438, 440, 467, 473, 474, 477, 511, 516, 540, 541, 689, 703, 706, 707, 716, 725 (Ps.-)Ossian 627, 679, 680, 681, 682, 683, 684, 708 Ovid (Publius Ovidius Naso) 11, 31, 71, 77, 78, 81, 160, 166, 176, 397, 451, 528, 553, 554, 556, 587, 588, 664, 673, 673, 676, 696, 697, 697 Parmenides 65, 77, 80, 84, 85, 86, 86, 87, 88, 88, 89, 90, 91, 94, 117, 118, 153, 214, 217, 297, 339, 384, 445, 459, 669 Perrault, Charles 20, 20 Pindar 58, 85, 90, 102, 117, 171, 205, 205, 206, 206, 207, 603, 611, 612, 612, 613, 613, 620, 636, 637, 645, 649, 650, 650, 651, 651, 652, 652, 653, 656, 657, 659, 669, 670, 677, 677, 681, 682, 702, 718, 719, 719, 720, 720, 722, 722, 728, 730 Platon 31, 35, 53, 65, 66, 69, 80, 84, 91, 92, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 102, 103, 104, 106, 106, 107, 107, 110, 112, 114, 114, 115, 117, 118, 123, 126, 129, 129, 130, 131, 132, 132, 133, 138, 150, 154, 157, 167, 170, 170,
823
182, 182, 183, 183, 196, 214, 218, 231, 232, 232, 240, 255, 263, 264, 264, 273, 284, 288, 302, 303, 304, 305, 313, 338, 385, 388, 391, 393, 397, 397, 398, 398, 403, 410, 410, 412, 419, 439, 446, 446, 447, 448, 451, 457, 459, 464, 466, 480, 493, 494, 507, 508, 509, 511, 512, 515, 515, 518, 545, 583, 584, 610, 621, 634, 651, 664, 665, 666, 679, 679, 694, 719, 722, 727, 728 Plotin 230, 265, 284, 311, 313 Proklos 265, 284, 502, 502, 507, 718 Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 57, 71, 109, 158, 182, 191, 192, 192, 193, 194, 195, 195, 196, 197, 199, 200, 201, 203, 205, 205, 206, 207, 207, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 217, 571, 572, 573, 582, 583, 584, 611, 612, 681, 688, 727 Rousseau, Jean-Jacques 21, 606, 606, 613, 613, 616, 616 Schiller, Friedrich 30, 84, 206, 731 Sulzer, Johann Georg 331, 635, 674, 685, 686, 686, 687, 688, 688, 689, 689, 690, 691, 691, 692, 692, 693, 693, 694, 694, 695, 695, 696, 697, 697, 698, 698, 699, 699, 700, 701, 701, 702 Tibull (Albius Tibullus) 589, 590 Vergil (Publius Vergilius Maro) 17, 31, 160, 388, 394, 395, 396, 397, 400, 403, 412, 528, 554, 555, 555, 556, 569, 570, 583, 585, 586, 586, 587, 588, 590, 592, 593, 603, 615, 651, 664, 672, 675, 680, 698, 714, 731 Wieland, Christoph Martin 44, 581, 605, 664 Winckelmann, Johann Joachim 31, 617, 617, 618, 618, 619, 620, 621, 627, 694 Wolff, Christian 30, 157, 221, 276, 404, 421, 421, 433, 433, 434, 434, 435, 435, 450, 472, 473, 474, 474, 475, 475, 476, 476, 477, 477, 478, 479, 481, 481, 482, 483, 484, 485, 485, 486, 487, 487, 488, 488, 489, 489, 503, 509, 523, 523, 524, 524, 525, 526, 526, 527, 527, 528, 529, 529, 531, 532, 532, 533, 534, 534, 535, 536, 537, 537, 538, 540, 540, 541, 542, 543, 546, 548, 549, 558, 559, 562, 563, 564, 564, 565, 566, 567, 574, 577, 580, 581, 582, 598, 605, 622, 625, 626, 688, 689, 690, 702, 710, 729
Dank
(In alphabetischer Reihenfolge) Eric Achermann (Erstbetreuer der Dissertation), Julia Amslinger, Alexander Arweiler (Zweitbetreuer der Dissertation), Alexander Ballmann-Wahl, Moritz Baßler, Marco Bunge-Wiechers, Nick Cichon, Maren Conrad, Heinz Drügh (Drittbetreuer der Dissertation), meiner Familie, Mirko Hall, Melanie Horn, Marius Janßen, Annette Keck, Thekla Kittel, Anna Köbrich, Ulf Korthas, Vera Kostial, Wolfgang Krohn, Sarah Maaß, Vincenz Pieper, Alexandra Pontzen, der Graduate School ›Practices of Literature‹, Carolin Rocks, Marcel Schemien, Marco Verhuelsdonk, Daniel Wendt, Marie-Isabel Werner. Der Stiftung ›Bildung und Wissenschaft‹ im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft danke ich für die Gewährung eines zweijährigen Promotionsstipendiums.