Poesie des Alterns: Chinesische Philosophie und Lebenskunst 9783495820742, 9783495490426


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Table of contents :
Cover
Inhalt
Einstimmung
Danksagung
I Befinden und poetische Reflexion
I.1 Selbstwahrnehmung: das Sicht- und Spürbare
I.1.a) Das Alter in Zahlen und Zeichen
I.1.b) Das »Dennoch« der Männer
Alterssignale und -befindlichkeit.
Gefühlsatmosphären.
Entkommen in Weite.
I.1.c) Die Seufzer- und Weidenkätzchenlyrik der Frauen
Seufzer und Weidenkätzchen.
Themen der Frauengedichte.
Gefühlsatmosphären.
Enge als Grundbefindlichkeit.
Entkommen in Weite.
Alter und Altern in den Frauengedichten.
I.2 Altersstrategien zwischen Tun und Nichtstun
I.2.a) Aktivitäten
Dichtung und Kalligraphie.
Lektüre.
Singen und Musizieren.
Bewegung.
I.2.b) Lob des Augenblicks
I.2.c) Geteilte Atmosphären
Familie.
Freunde.
Nachbarn.
Umland.
Nichtmenschliche Lebenswelt.
Kaiser und Reich.
II Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung
II.1 Alterszeichen der Medizin
II.1.a) Natürliches Altern
II.1.b) Altersbeschwerden
Beschwerden in den Altersgedichten der Männer.
II.1.c) Therapeutisches
II.2 Lebenspflege und Alterspflege
II.2.a) Nähren von Atem- und Lebenskraft (yǎng-Qì 養氤)
Äußere und Innere Alchimie.
Tierspiele.
Sechs Laute (liù-zì 倅字).
Lob des Gehens.
Künste als Lebenspflege.
II.2.b) Sexualität und Alter
Sexualhandbücher.
Weibliche Sexualität.
Sexualität im Alter.
Erotische Gedichte?
II.2.c) Essen und Trinken
Altersspezifisches Essen.
Essen und Trinken in den Gedichten der Männer.
III Der Leere gewachsen sein: Alter und Spiritualität
III.1 Umgang mit der Endlichkeit
III.1.a) Alles ist Wandlung
Die Wandlungen des Qì.
Seufzer über Werden und Vergehen.
III.1.b) Grenzgänge der Meditation
Meditation im Daoismus.
Meditation im Chan (jap. Zen).
III.1.c) Lebenssinn
Zwischen Amt und Zurückgezogenheit.
Personsein zwischen Ideal und Realität.
III.2 Zurück zum Ursprung
III.2.a) Religiöse Erfahrung
Der Seins-Ort der Leere.
Leere und Buddha-Natur.
Leere als Substanz- und Wesenlosigkeit.
Spirituell oder religiös?
Persönliches Erleuchtungserleben.
III.2.b) Letzte Vorkehrung
III.2.c) Räume der Toten
Situationsontologie.
Substanzontologie.
Wandlungsontologie.
Leibliches Spüren.
IV Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten
IV.1 Lebensstufen
IV.1.a) Altersstufen in Kult und Ritus
Volkskulte.
Ahnenkult.
IV.1.b) Die für den Staatsbürger relevanten Zäsuren
Zivilrecht.
Strafrecht.
IV.1.c) Die abgestufte Entfaltung der Persönlichkeit
IV.2 Das Prinzip der Gegenseitigkeit
IV.2.a) Kindliche Pietät
IV.2.b) Ungehorsam
Ungehorsam in Gesetz und Recht.
Ein Recht auf Ungehorsam?
IV.2.c) Das wechselnde Verhältnis von Alt und Jung
Altchinesisches Gedankengut.
Frühe Kaiserzeit.
Mittlere Kaiserzeit.
Späte Kaiserzeit.
V Leben in wachsenden Ringen: Altersutopien der chinesischen Philosophie
V.1 Alter als Verpflichtung und Privileg: Konfuzius und Nachfolge
V.1.a) Die Reden des Konfuzius
Relativierung des Alters.
Konfuzianische Tugenden.
Gemeinsame Situationen.
Altern als Verpflichtung.
Alter als Privileg.
V.1.b) Philosophen in der Nachfolge des Konfuzius
V.1.c) Die Alten und Schwachen in der Philosophie des Staates
V.2 Selbstbeschränkung und Selbsterweiterung im frühen philosophischen Daoismus
V.2.a) Selbstbeschränkung als Ökonomie der Mitte
V.2.b) Selbsterweiterung als Leben in wachsenden Ringen
V.2.c) Exkurs: Buddhismus, Mitgefühl und Alter
Zusammenfassung und Ausblick: Zur Kunst geglückten Alterns
I Befinden und poetische Reflexion.
II Nähren von Innen und Außen: Alter und Lebensbewahrung.
III Der Leere gewachsen sein. Alter und Spiritualität.
IV Alt und Jung. Rituale sind wie Bambusknoten.
V Leben in wachsenden Ringen. Philosophische Altersutopien.
Endnoten
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Zeittafel
2. Personenverzeichnis
3. Verzeichnis der Werke
4. Verzeichnis und Nachweis der Abbildungen und Tabellen
5. Sachindex
6. Zum Gebrauch des Buches
6.1 Begriffe aus der Neuen Phänomenologie
Situation und Atmosphäre.
Personsein und Selbstkultivierung.
Personale Emanzipation und Regression.
Fluss der Zeit und Dauer des Augenblicks.
6.2 Hinweise zur Lektüre
7. Qigong am Brunnen: Geschichten und Übungen
1. Der Brunnen oder das Maschinenherz
Geschichte.
Übung.
2. Die Freude der Fische – Resonanz und Spitzfindigkeit
Geschichte.
Übung.
3. Die Schildkröte oder Lob des Rückzugs
Geschichte.
Übung.
4. Der Riesenvogel Peng oder Großes Wissen – Kleines Wissen
Geschichte.
Übung.
5. Der alte Eichbaum oder Der Nutzen der Nutzlosigkeit
Geschichte.
Übung.
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Poesie des Alterns: Chinesische Philosophie und Lebenskunst
 9783495820742, 9783495490426

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Gudula Linck

Poesie des Alterns

Chinesische Philosophie und Lebenskunst

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820742

.

B

Gudula Linck Poesie des Alterns

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Gudula Linck

Poesie des Alterns Chinesische Philosophie und Lebenskunst

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Gudula Linck Poetry of Aging Chinese Philosophy and the Art of Living The twilight years raise one’s awareness for that which is particularly special about one’s own being in general and about the current moment one lives through. The present book cites texts dealing with aging which reflect Confucian, Daoist and Buddhist states of mind, and it also includes autobiographical contemplations as well as advice literature on life care. Its main focus, however, lies on poems written by Chinese men and women. Here, the »poetical sighing« of women is contrasted with the »but« uttered by men who know how to laugh away the aging process and the suffering it entails. In manifold ways the abundance of one’s personal experience is combined with philosophical and religious-spiritual inspiration.

The Author: Gudula Linck was born in Mainz in 1943. She studied in Paris, Germersheim, Salamanca, Tübingen, Taibei, Osaka, Munich, Freiburg, Beijing and Berkeley. After completing her PhD and habilitation she was Professor of Chinese Studies in Kiel from 1990 to 2008. Since 2008 she has been lecturing in Chinese Studies, as well as teaching Qi Gong and Yoga in Freiburg.

https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Gudula Linck Poesie des Alterns Chinesische Philosophie und Lebenskunst Die spätere Lebenszeit sensibilisiert für das jeweils Besondere des eigenen Seins und des gerade gelebten Augenblicks. Neben autobiographischer Reflexion, altersspezifischen Texten des Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus, aber auch Ratgeberliteratur der Lebenspflege liegen dem Buch Gedichte von Männern und Frauen zugrunde – Selbstausdruck und vorrangige Kunstform der chinesischen Gelehrtenkultur. So kontrastiert die »Seufzerlyrik« der Frauen mit dem »Dennoch« der Männer, die auch ihre Altersleiden mit Humor zu nehmen wissen. Auf vielfältige Weise verbindet sich die Fülle des eigenen Erlebens mit philosophischer und religiös-spiritueller Sinngebung.

Die Autorin: Gudula Linck war Professorin für Sinologie an der Universität Kiel und lebt seit ihrer Pensionierung wieder in Freiburg. Neben Vorträgen zur Kultur und Geschichte Chinas, insbesondere der Leibphilosophie, unterrichtet sie Qigong und Yoga und ist mit Senioren als Wanderführerin unterwegs. Zuletzt bei Alber: Leib oder Körper. Mensch, Welt und Leben in der chinesischen Philosophie (2011, 2. Auflage 2012), Ruhe in der Bewegung. Chinesische Philosophie und Bewegungskunst (2013, 3. Aufl. 2018), Yin und Yang. Die Suche nach Ganzheit im chinesischen Denken (2017).

https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverbild: Kraniche, © Gisela Schuster Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49042-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82074-2

https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Inhalt

Einstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I Befinden und poetische Reflexion . . . . . . . . . I.1 Selbstwahrnehmung: das Sicht- und Spürbare . . I.1.a) Das Alter in Zahlen und Zeichen . . . . . I.1.b) Das »Dennoch« der Männer . . . . . . . . I.1.c) Die Seufzer- und Weidenkätzchenlyrik der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2 Altersstrategien zwischen Tun und Nichtstun . . . I.2.a) Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2.b) Lob des Augenblicks . . . . . . . . . . . . I.2.c) Geteilte Atmosphären . . . . . . . . . . .

. . . .

15 15 16 18

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23 36 37 42 44

. . . . . . . . .

51 51 52 56 60 64 64 72 81

Der Leere gewachsen sein: Alter und Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1 Umgang mit der Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . III.1.a) Alles ist Wandlung . . . . . . . . . . . . . .

91 91 92

II

Nähren von Innen und Außen: Alter und Lebensbewahrung . . . . . . . . II.1 Alterszeichen der Medizin . . . . . . . . . II.1.a) Natürliches Altern . . . . . . . . . II.1.b) Altersbeschwerden . . . . . . . . . II.1.c) Therapeutisches . . . . . . . . . . . II.2 Lebenspflege und Alterspflege . . . . . . . II.2.a) Nähren von Atem- und Lebenskraft II.2.b) Sexualität und Alter . . . . . . . . II.2.c) Essen und Trinken . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

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. . . . . . . . .

III

7 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Inhalt

III.1.b) Grenzgänge der Meditation III.1.c) Lebenssinn . . . . . . . . . III.2 Zurück zum Ursprung . . . . . . . III.2.a) Religiöse Erfahrung . . . . III.2.b) Letzte Vorkehrung . . . . . III.2.c) Räume der Toten . . . . . .

. . . . . .

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96 99 105 105 117 121

IV Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten . . . . IV.1 Lebensstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1.a) Altersstufen in Kult und Ritus . . . . . . . . IV.1.b) Die für den Staatsbürger relevanten Zäsuren IV.1.c) Die abgestufte Entfaltung der Persönlichkeit. IV.2 Das Prinzip der Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . IV.2.a) Kindliche Pietät . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.b) Ungehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.c) Das wechselnde Verhältnis von Alt und Jung

128 129 129 132 135 140 141 146 150

V

Leben in wachsenden Ringen: Altersutopien der chinesischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . V.1 Alter als Verpflichtung und Privileg: Konfuzius und Nachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.a) Die Reden des Konfuzius . . . . . . . . . . . V.1.b) Philosophen in der Nachfolge des Konfuzius . V.1.c) Die Alten und Schwachen in der Philosophie des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2 Selbstbeschränkung und Selbsterweiterung im frühen philosophischen Daoismus . . . . . . . . . . . . V.2.a) Selbstbeschränkung als Ökonomie der Mitte V.2.b) Selbsterweiterung als Leben in wachsenden Ringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.c) Exkurs: Buddhismus, Mitgefühl und Alter .

159 159 160 165 168 170 171 176 178

Zusammenfassung und Ausblick: Zur Kunst geglückten Alterns . . . . . . . . . . . . . . . 185 8 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Inhalt

Endnoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Literaturverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Anhang 1.

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

2.

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

3.

Verzeichnis der zitierten Werke . . . . . . . . . . . 212

4.

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

5.

Sachindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

. . . . . 215

6. Zum Gebrauch des Buches . . . . . . . . . . . . . . 218 6.1 Begriffe aus der Neuen Phänomenologie . . . . . . . 218 6.2 Hinweise zur Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 7.

Qigong am Brunnen: fünf Geschichten, fünf Übungen . . . . . . . . . . . 223

9 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Einstimmung

Ach, ein Erdenleben, wie verfliegt es! Wie ein Funke, den der Meißel aus dem Stein geschlagen. Wie Glühwürmchenlicht, das im Morgendämmer verlöscht. Wie nasser Tau, der unter der Sonne vergeht. 1

Wem der Zauber der Vergänglichkeit so vertraut ist wie Dichtern und Philosophen im vormodernen China, dem ist auch das Rad der Lebensalter nicht fremd. Der weiß: Alles hat seine Zeit! Die Gewissheit, »dass es ein Ende haben muss«, sensibilisiert für das je Besondere der eigenen gereiften Existenz und des gerade gelebten Augenblicks. Davon soll in diesem Buch die Rede sein: von individuellen und kulturellen Voraussetzungen geglückten Alterns, von einer chinesischen Phänomenologie der späteren Lebenszeit. Der Blick auf die andere Seite der Welt ist zwangsläufig ein vergleichender, kann Spiegel oder Hindernis sein. In jedem Fall nimmt er staunend Strategien wahr, die eine Kultur bereithält, wenn sie aus kollektiver Erfahrung und symbolischer Formung schöpft. Umso aufschlussreicher, wenn sich im Fremden auch Eigenes findet, und umso besser, wenn sich das Fremde als so attraktiv erweist, dass aus der Begegnung ein neues Drittes entsteht. Die Überlieferung will, dass Dreh- und Angelpunkt dieser Betrachtung die traditionelle Gelehrtenkultur Chinas ist. Ob es einen Unterschied macht zwischen dem alternden Mann und der alternden Frau, ob philosophisch-religiöse Besinnung im Alter hilfreich ist, ob und wie die vorgeschrittene Lebenszeit gesellschaftspolitisch wahrgenommen wird, wie Alt und Jung korres-

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Einstimmung

pondieren und was im Alter Pflege des Lebens heißt – sind zentrale Fragen dieses Buchs. Roter Faden darüber hinaus: die Neue Phänomenologie des Kieler Philosophen Hermann Schmitz mit Augenmerk auf leibliche Regungen, Bewegungen, atmosphärisch aufgeladene Situationen. Nicht alle Textsorten antworten auf die Frage nach situativer und individueller Befindlichkeit. So wechselt Erleben von Dichtern und Dichterinnen mit medizinisch, rechtlich, religiös und philosophisch motiviertem Nachdenken über die Lage alter Menschen im vormodernen China. Für den »leibphilosophischen« Faden, der sich durch alle fünf Kapitel windet, mal stärker, mal schwächer ausgeprägt, ist eine Wegmarkierung hilfreich, die im Anhang »Zum Gebrauch des Buches« einzusehen ist. Der Titel »Poesie des Alterns« kommt nicht von ungefähr und soll auf zwei Besonderheiten dieser Gelehrtenkultur hinaus: zunächst auf die im Alter fortgesetzte »Poetisierung des Lebens«, damit neben Alltagsroutine oder Altersleid auch »der süße Duft von Lotus« seinen Augenblick bekommt. Zweitens greift das Buch mit Vorliebe Gedichte auf, beredt im Selbstausdruck, vorrangig als Kunstform dieser Gelehrtenkultur. Auch das vormoderne China war ein Dichterland. Die von mir gesichteten Altersgedichte zeichnen sich nun dadurch aus, dass sie überraschend konkret sind in der Schilderung dessen, was gerade geschieht: Da wird mit warmem Wasser gegurgelt aus einem silbernen Krug. Einer kratzt sich am Kopf. Ein anderer streicht sich den gefüllten Bauch und demonstriert auf diese Weise, wie man Gourmand bleibt – auch ohne Zähne! Dass in der Vorrede zu den Gedichten, wenn nicht schon in der Überschrift, Umstände, Ort und Zeit ihrer Veranlassung expliziert sind, spricht nicht minder für das Bedürfnis, konkret zu sein. So eignen sich diese Altersgedichte als detailfrohe Auskunft, wenn nach subjektiver und situativer Befindlichkeit gefragt ist. Gleichwohl kommen die Texte stilisiert und metaphorisch daher: »Wer geht schon nackt auf die Bühne!« (Lu Xun) 12 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Einstimmung

Auch am Ende dieser Einleitung steht ein Gedicht – fiktives Zwiegespräch zweier Dichterpersönlichkeiten: Shao Yong (1011–1077) und Su Shi (1036–1101). Es soll die Leser darauf einstimmen, dass im Selbstverständnis der Gelehrtenkultur Humor und Ironie unverzichtbar Teil der Poetisierung sind: Wenn Su meint: »Alte Männer mit Blumen im Haar sind keine Schande für die Blumen, wohl aber Hohn für die alten Köpfe!« So meint Shao: »Spotte nicht! Alte Männer mit Blumen im Haar haben mehr davon gesehen!« 2

* * *

Danksagung Und immer hat hier Ringelnatz das letzte Wort: »So viel Danke gibt es gar nicht, wie ich nunmehr schuldig bin«. Voran meiner jüngsten Schwester Gisela Schuster (1945–2018) für das Titelbild vom Tanz der Kraniche – im alten China Symbol für Langlebigkeit. Dank auch meiner Schwester Marei, meinem Sohn Florian für kritische Begleitung sowie Dr. Ulla Ott und Gerhild Götzky fürs Korrekturlesen. Bei der aufwendigen Suche nach chinesischen Originaltexten im Internet, vor allem der Frauengedichte, standen Li Ping und Pan Lixin hilfreich zur Seite. Auch ihnen gilt mein Dankeschön. Nicht zuletzt den Zuhörern meiner Vorträge zur »Poesie des Alterns« während der beiden letzten Jahre. Die große Nachfrage, das Schmunzeln über die Altersgedichte aus dem vormodernen China nährten den Gedanken zu diesem Buch, das Lukas Trabert als Philosoph, Sinologe, Lektor und Verleger von Beginn an mit wertvoller Anregung unterstützte. 13 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Einstimmung

Mir selbst hat die Arbeit an den Gedichten so viel Freude bereitet, dass ich nur wünschen kann, sie möge überspringen wie »der Funke, den der Meißel aus dem Stein geschlagen« (siehe oben). Gudula Linck, Freiburg im Januar 2019

14 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

I

Befinden und poetische Reflexion

Zunächst kommen Männer und Frauen zu Wort, die das Sichtund Spürbare (I.1) ihres Alterns aufmerksam oder auch beiläufig bemerken. Ganz im Sinne des Denkens in Yīn 阴 und Yáng 阳 – wonach nichts nur schlecht ist – sucht die allererste Strategie (I.2), dieser Lebenszeit prinzipiell zustimmend zu begegnen, sei es weil es nun einmal so ist oder weil sich ihr auch angenehme Seiten abgewinnen lassen. So gelingt es, Befinden zwischen Leben und Tod, zwischen Dasein und Abschied nicht nur wahrzunehmen, zu reflektieren, sondern auch poetisch zu zelebrieren.

I.1 Selbstwahrnehmung: das Sicht- und Spürbare Eingedenk der gegensätzlichen Räume und Rollen von Mann (Außen) und Frau (Innen) verwundert nicht, wenn Selbstwahrnehmung je spezifisch ausfällt. In beiden Fällen kommen Gedanken und Emotionen mit Vorliebe in Gedichten zum Ausdruck. In beiden Fällen hilft Naturschilderung, die eigene Gefühlslandschaft zu erkunden. Bei aller Arbeit am Gedicht, bei aller poetischen Selbststilisierung ist hier unterstellt, dass Sprachbilder nicht aus der Luft gegriffen, vielmehr mit Empfinden korrelieren. Dass Bewegungssuggestion, die der Metaphorik innewohnt, auch die Leser tangiert und mitnimmt, versteht sich von selbst. Im besten Falle stimmt beides auf einer tieferen Ebene überein. Von den Männern (I.1.b) sind zahlreiche Altersgedichte erhalten im Unterschied zu den Frauen (I.1.c), deren Lebensdaten schon häufig im Dunkeln bleiben, erst recht die Entstehungszeit 15 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Befinden und poetische Reflexion

ihrer Gedichte. Zuvor die Frage nach dem Alter in Zahlen (I.1.a): Wann gilt man als »alt« im vormodernen China? Wann fühlt man sich alt? Und was erzählen chinesische Zeichen über diesen Zustand und Prozess?

I.1.a) Das Alter in Zahlen und Zeichen »Früher lebten die Menschen sechzig Jahre« heißt es im Buch der Riten. Errechnet aus der Kombination der Zehn Himmelsstämme (tiān-gān 天干) und Zwölf Erdzweige (dì-zhī 地支), auf der alle vormoderne Zeitzählung beruht, hat die Zahl Sechzig kosmologische Bedeutung. Doch der Mensch hält sich nicht daran. Um diesen Sachverhalt kreist ein chinesischer Märchentypus, der behauptet, man habe die Alten in ihrem sechzigsten Lebensjahr von der Familie getrennt und ausgesetzt. Die Varianten zu diesem Märchenmotiv sind mit der Abschaffung dieser Sitte befasst. Seither sterben die Menschen, wie es gerade kommt! Die Alten, von denen im Buch Zhuangzi (4./3. Jahrhundert v. Chr.) ausführlicher die Rede ist, sind allesamt Männer, in der Regel siebzig oder achtzig Jahre alt. Hier findet sich auch der schöne Ausdruck chén-rén 陳人, zusammengesetzt aus chén (ausbreiten, zum Beispiel von Reis) und rén (Mensch), also einer, der schon lange »lagert«: ein »Mensch der Vergangenheit« (Richard Wilhelm). Du Fu (712–770), derjenige unter den hier zitierten Dichtern, der am jüngsten verstarb, fühlt sich, die 55 überschritten, »altersschwach« (shuài 衰) und macht sich drei Jahre später nach schwerer Krankheit auf und davon. Die anderen erleben ihre sechziger, siebziger und achtziger Jahre: Wang Wei (701– 761) und Li Taibo (701–761), im gleichen Jahr geboren und gestorben, erreichen das 60. Lebensjahr, Tao Yuanming (365–427) wird 62, Su Shi (1037–1101), der allein zehn Jahre seines Lebens im Exil verbringt, immerhin 64; Bo Juyi (772–846) kommt 16 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Selbstwahrnehmung: das Sicht- und Spürbare

auf 74, Yang Wanli (1127–1206) auf 79 und Yuan Mei (1716– 1797) auf 81 Jahre. Lu You (1125–1210) feiert sogar sein 85. Lebensjahr. »Gefühlt« mag das Alter schon im vierten Lebensjahrzehnt beginnen, erst recht aus »rhetorischen« Gründen, denn neben Krankheit legitimiert Alter das Bedürfnis, sich gesellschaftspolitischer Verpflichtung zu entziehen. Kann im Falle der Männer tatsächlich von »Altersgedichten« die Rede sein, so ist bei den Frauen die späte Lebenszeit nur nebenbei erwähnt. Überhaupt scheint altersbedingte Befindlichkeit oder auch Krankheit nicht vorrangig Thema der Frauengedichte zu sein, nicht einmal dann, wenn es heißt, die Betreffende sei 67, 69, 73, 75, 84 oder gar 90 Jahre alt geworden. Oder aber: Die Geschichte der Überlieferung hat das Thema aus dem poetischen Werk der Frauen verbannt. Wortzeichen. Am Anfang chinesischer Texttradition steht das Buch der Lieder mit einschlägigen Wortzeichen für »alt«: am häufigsten und durchgängig bis heute lǎo 老. Das Piktogramm aus den Anfängen der chinesischen Schrift zeigt einen »Mann mit schütterem Haar, gestützt auf den Stock«. Alte Wortzusammensetzungen von lǎo 老 sind lǎo-rén 老人 (alter Mann) und fù-lǎo 父老 (Vater + alt); letzteres synonym mit zhǎng 長 für die auf Dorfebene maßgebliche Altersklasse der »Ältesten«. Auch die Wortzeichen yé 爺 (Vater) und yé-yé 爺爺 (Großvater) kommen als Anrede für alte Männer vor. Im Buch Mengzi (siehe V) erscheint an markanter Stelle im ersten Satz des ersten Kapitels: sǒu 叟(Greis), ehrenhafte Begrüßung des Königs von Liang für den alten Philosophen: »Alter (sǒu 叟)! Tausend Meilen waren Euch nicht zu weit! Da habt Ihr bestimmt etwas mitgebracht, was meinem Lande nutzt.« Die ebenso berühmte Antwortet lautet: »Warum von Nutzen reden, oh, König? Es gibt doch auch Menschlichkeit (rén 仁) und Pflichtgefühl (yì 義). Und viel mehr ist nicht einmal vonnöten.« Die Bezeichnung für die Fünfzigjährigen: ài 艾, wörtlich: »Moxaasche«, verweist auf die altersbedingte Verfärbung der 17 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Befinden und poetische Reflexion

Haare. Männer dieser Altersstufe sind dann »die mit Haaren grau oder weiß wie Asche« oder auch »vermischt wie Salz und Pfeffer«. Innerhalb der Alten kann begrifflich weiter unterschieden sein zwischen Sechzig-, Siebzig-, Achtzig- und Neunzigjährigen (siehe IV.1.b), bis sich der Hundertjährige »in einen Kranich verwandelt« und davonfliegt zur Insel der Seligen. Die Wortverbindungen shuāi-nián 衰年 (die kraftlosen Jahre), mùnián 墓年 (Jahre, nah dem Grab) oder xī-xī 西夕 (wenn sich die Sonne im Westen zum Untergang neigt) sprechen für sich. Der alte Mann wird auch wēng 翁 (Greis) genannt. Das ursprüngliche Piktogramm zeigt die Halsfedern eines Vogels: ein Bild, das an die Kranichmetamorphose des Hundertjährigen erinnert. In einem der Gedichte bezeichnet Bo Juyi sein schütteres Haar als »Kranichflaumenhaar«. Auch Lu You dient der »Kranichflaumen-Greis« zu humorvoller Selbstbezeichnung, nennt er sich doch, nachdem er im 51. Lebensjahr – wiederholter Trunkenheit wegen – des Amtes verwiesen worden war, trotzig: Fàngwēng (放翁) »Der Alte, der lebt, wie es ihm gefällt«.

I.1.b) Das »Dennoch« der Männer 3 Alterssignale und -befindlichkeit. Für die sichtbaren Altersmerkmale, die Verfärbung der Haare, Zahnverfall oder die ausgemergelte Gestalt finden die Dichter nicht nur formelhafte Wendungen, wie »Schnee auf dem Haupt«, »Raureif an den Schläfen«, sondern ganz unverbrauchte Bilder: »Zähne wie zerschlissene Stiefel«, »Ich bin eine alte Stocherstange«, »ein getrockneter Karpfen« … Lassen die Sinne zu wünschen übrig, heißt es bedauernd: »Im Alter seh’ ich Blumen nur noch wie im Nebel stehen!« Oder humorvoll: »Die Dinge der Welt sind wie der Wind, der mir um die Ohren streicht. Da trifft es sich gut, dass ich ein bisschen taub geworden bin.« Versagen die Gliedmaßen, dann lahmt das Bein oder die Hände sind »zu schwach, um die Stäbchen zu halten, 18 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Selbstwahrnehmung: das Sicht- und Spürbare

geschweige denn einen Becher Wein«. Sein Gesicht, alterstrocken, erinnert Bo Juyi an die Haut eines gerupften Huhns. Zu den spürbaren Alterszeichen zählen Schwindelgefühl: »Ich schwanke, wenn ich gehe, mir schwindelt, wenn ich sitze«; Schlaflosigkeit in der Nacht: Yuan Mei bietet zehn Jahre seines Lebens gegen einen Traum; Kurzatmigkeit: »Ein kleines Gespräch – und mein Atem geht schnell; kaum drei Schritte – schon wünsche ich die Sänfte herbei«; Vergesslichkeit »auf halbem Wege«, wenn nicht beginnende Geistesschwäche: »Das Alter trübt allmählich meinen Geist«, um gleich darauf auch dem etwas abzugewinnen: »So bringt man wenigstens die andern zum Lachen«. Wem sich das Alter auf die Schulter setzt, dem fährt es bald durch alle Glieder: »Ich bin ein Boot, dem das Segel riss«, »ein alter Baum, der gerade noch Wind und Frost widersteht«. Jenseits der üblichen Alterssignale erwähnen fast alle Dichter Krankheit, die kürzer oder länger anhält und mehr oder weniger einschneidend ist (siehe I.1.b). Dann überzieht für eine Weile »der Schimmel Weinbecher und Krug«. Gefühlsatmosphären. Schon das erhöhte Bewusstsein für die Endlichkeit reicht, um die Stimmung im Alter melancholisch einzufärben, und Melancholie kann bei erschwerten Lebensbedingungen umschlagen in Kummer und Resignation. Du Fu beneidet »den alten Hengst, dem die weiten Wege erspart bleiben«, fühlt er sich selbst in der Fremde »wurzellos, den Stürmen ausgesetzt«. Hinzu kommt die Ohnmacht, fern der Hauptstadt zu politischer Untätigkeit verurteilt zu sein – zumal in einer Zeit dynastischen und sozialen Niedergangs: »Mein Kummerblick nach Norden geht.« (Raffael Keller) Kummer und Trauer äußern sich, vertraut man der Metaphorik der Gedichte, im Empfinden von Enge: »Winteranfang: Wolken, Schicht auf Schicht, versiegeln den Himmel … kommen, träge wie ich, nicht vom Fleck«; »nicht leicht zu meistern 19 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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ist das Leben, das in der Fremde stockt«, »eingezwängt und festgezurrt wie ein Seidenwurm in seinem Kokon«. Und doch sprechen die Altersgedichte der Männer auch eine andere Sprache. Vor allem Lu You verwendet gehäuft Wortzeichen und Wendungen, die Freude und Wohlbefinden, Lebendigkeit und Behendigkeit zum Ausdruck bringen: kuài 快, xǐ 喜, lè 樂, xīn-xīn 欣欣, xīn-shǎng 欣賞, wú-jìn-xìng 無盡興 (unerschöpfliche Freude), fàng-dàng 放蕩 (gelöst): Über achtzig Jahre alt, »das Herz eines Kindes«, »die Mütze quer auf dem Kopf«, fühlt er sich gut – an jedem beliebigen Ort. Auch Bo Juyi »erfreut sich an der Welt« – so sein Beiname Lètiān 樂天. Im Loblied auf die »Jahre der versöhnlichen Ohren« plädiert er zugunsten des Jahrzehnts zwischen dem fünfzigsten und sechzigsten Lebensjahr: 三時四時五欲牽 七時八時百病纏 五時六時欲不惡 恬淡清凈心安然 已過愛貪聲利後 猶在病羸昏耄前 未無筋力尋山水 尚有心情聽管弦 閑開新酒嘗數醆 不用嫌他耳順年

sānshí sìshí wǔyù qiān qīshí bāshí bǎibìng chán wǔshí liushí yù bù wù tiándàn qīngjìng xīn ānrán yǐ guò aì tān shēng lì hòu yóu zài bìngléi hūnmào qián wèi wú jīn lì xún shānshuǐ shàng yǒu xīnqíng tīng guǎnxián xián kāi xīnjiǔ cháng shù zhǎn bù yòng xián tā ěrshùnnián

Zwischen 30 und 40 – ins fünffache Begehren verstrickt Zwischen 70 und 80 – von keiner Krankheit verschont Zwischen 50 und 60 – was will man mehr: Abgeklärt, das Herz in Frieden, jenseits von Liebe, Ruhmsucht und Gier, diesseits von Krankheit und Schwäche. Noch reicht die Muskelkraft, um Berg und Täler zu durchwandern. Noch erfreuen Flöten- und Saitenspiel. Und – weiter nichts zu tun, als becherweis’ vom neuen Wein zu kosten. Beschwert euch nicht über die Jahre der versöhnlichen Ohren (ěrshùn 耳順)! 4

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Gewiss klagt Bo Juyi, wenn in Büscheln sein Kopfhaar ausfällt, um sich gleich darauf zu trösten, weil sein kahler Kopf die Sommerhitze besser übersteht und er die Haare nicht mehr waschen, kämmen und zum Knoten stecken muss. Auch Krankheit weiß er humorvoll zu nehmen, ist es doch »besser, einen kranken Körper zu haben als gar keinen mehr«. Unschlagbar als Lebenskünstler: Li Taibo, den Du Fu in einem seiner Gedichte wie folgt charakterisiert: 李白:一斗詩百篇 長安市上酒家眠 天子呼來不上船 自稱臣是酒中仙

Lǐ bái yīdǒu shī bǎipiān Chang‘ān shìshàng jiǔjiā mián tiānzi hūlái bú shàng chuán zì chēng chén shì jiǔzhōng xiān

Li Bo: Aus einem einzigen Becher schäumen ihm hundert Gedichte zu. In einer Schänke der Hauptstadt, schläfrig vom Wein, erreicht ihn der Befehl, auf dem Schiff des Kaisers zu erscheinen. Li Bo geht nicht an Bord, er sei gerade ein Genius tief im Wein. 5

Der Wein begleitet Li Taibo ein Leben lang, erfreut und inspiriert ihn. Alles, was ihm begegnet, ist Anlass für Lachen und ein Gedicht. Und sei es nach einer durchzechten Nacht am frühen Morgen am Wegesrand: eine »Kugel Pusteblume«, die er zunächst für seinesgleichen hält: »Sieh’ einer an, dieselben weißen Schläfen! – Du, unscheinbares Gewächs, lachst du etwa über mich? Doch schon hat der Wind Melancholie und Spott zerstoben.« Die Legende will, dass Li Taibo nachts im Boot unterwegs und wieder einmal »tief im Wein« (jiǔzhōng 酒中) beim Versuch, das Spiegelbild des Mondes im Wasser zu fassen, über Bord geht und ertrinkt. Humor ist gleichmäßig auf die Dichter verteilt: Kommentiert Yang Wanli in einer schlaflosen Nacht seinen Schatten an der Wand: »Wahrhaftig – ein alter kranker Affe!«, so konstatiert Su Shi analog: »Früh am Morgen schon die Schultern hochgezogen – ein frierender Rabe im Winter.« Yuan Mei vergleicht 21 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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sich, als sein Darm rebelliert, mit einem Weinkrug, »der leckt und Tropfen für Tropfen den kostbaren Lebenssaft entweichen lässt«. Selbst Du Fu, dem das Schicksal zusetzt wie keinem der andern, findet in seiner Sprachlust immer wieder Bilder voller Humor und Selbstironie, wenn auch mit bitterem Beigeschmack: »Wühl ich mir im weißen Haar, wird es schütterer nur. Die Hutnadel will und will nicht mehr halten.« (Raffael Keller) Entkommen in Weite. Wenn es stimmt, wie Lu You meint, dass im Alter berauschte Freude (hān 酣) und Kummer (chóu 愁) nah beieinander liegen, ja »miteinander kämpfen«, so sind die Dichter stets bereit, sich auf die Seite von Rausch und Freude zu schlagen. Denn jeder Seufzer der Erleichterung sorgt für Entkommen in Weite – Gebot der Stunde angesichts einer schrumpfenden Lebenszeit. Wandern oder Reisen, über Land und auf dem Wasser, ist Gewinn von Weite: »Wind in den Pinien, ich löse den Gürtel« – selbst dann noch, wenn man vom Krankenbett aus nur mit Blicken die Landschaft erwandert oder im Traum »tausend Berge und tausend Schluchten umarmt«. Schon den Himmel zu betrachten, macht weit und leicht: »Mein Blick geht hinauf zum Abendstern, der am Himmel leuchtet. Der Alte mit dem weißen Schopf tanzt und singt, gestützt auf den Stock – was sonst soll er tun, schlaflos in der Nacht!« Auch Erinnern sorgt für kleine Fluchten: »Nördlich der Berge, südlich der Berge, überall bin ich gewandert«, erst recht der Genuss von Wein: »Allein der Wein kann mir das Herz erleichtern.« »Im Trinken such’ ich Zerstreuung, vergesse die Schwermut.« Zuletzt verspricht noch das Sterben Entkommen in Weite: »Mein Körper wird bald wie die Wolken sein.«

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I.1.c) Die Seufzer- und Weidenkätzchenlyrik der Frauen Auch die Durchsicht der Frauengedichte 6 folgt nicht literaturwissenschaftlichen Kriterien. Weder kommt es auf Formen, Rhythmen, Reim- oder Tonschemata an noch auf gelehrte Anspielungen und Zitate früherer Dichterpersönlichkeiten. Unbekümmert um die unendliche Ausdeutbarkeit poetischer Texte geht es allein darum, sie auf Sprachbilder, Symbole und Topoi hin zu betrachten und deren suggestiv-leibliche Wirkkraft und Botschaft. Seufzer und Weidenkätzchen. Die Frauengedichte teilen mit denen der Männer manches Thema, allen voran: Vergänglichkeit. Ihrem abwesenden Mann schreibt Li Qingzhao (1084–1155?): »Sage nicht, es verzehre nicht die Seele! … Menschen vergänglicher als Chrysanthemen!« Auch Symbole und Topoi sind Dichtern und Dichterinnen gemeinsam: die Verwandlung des Ozeans in Maulbeerbaumfelder als Zeichen, dass nichts bleibt, wie es ist, oder Wildgänse als Lebens- und Liebeszeichen aus der Ferne, die Lethargie der Wasserlinsen, die sich unwillig zerstreuen, wenn »der Zweig der Trauerweide über das Wasser streicht«. Im Großen und Ganzen aber und über die Jahrhunderte gesehen dringen aus den inneren Gemächern vor allem die Seufzer und Klagen der verlassenen Frau über Abschied, Trennung und Verlust. Und dies, so scheint es, unabhängig vom Alter. Dabei ist nicht zu klären, ob die einseitige Trauerschwere dieser Poesie allein der Überlieferung geschuldet ist, die damit erst im Nachhinein den Typus der »weinerlichen Gedichte« (Hanne Redies) schuf. Frauengedichte als »Lyrik der Weidenkätzchen« zehren von der Symbolkraft der (Trauer)Weide. Schon der Vergleich der Taille einer schönen Frau mit dem geschmeidig-bewegten Weidenbaum, ihrer schwungvollen Augenbrauen mit dem Weidenblatt weist diesen Baum dem weiblichen Geschlecht zu. In den Frauengedichten ist es der Weidenzweig, den ein Mann von der 23 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Frau zum Zeitpunkt der Trennung erhält. Da die Wörter für »Weide« (liǔ 柳) und »verweilen« (liú 留) im Laut gleich sind, drückt die Abschiedsgeste den Wunsch aus, der Geliebte möge verweilen! Nicht zuletzt kann die Kennzeichnung »Weidenkätzchenlyrik« für die Verletzlichkeit der Frauen stehen und ihrer Karrieren als Dichterinnen, abhängig vom Gutdünken männlicher Zeitgenossen und männlicher Verwalter der Tradition: »Jetzt, da ich alt bin«, seufzt Li Yin (1616–1685), »schäm’ ich mich meiner schwindenden Fähigkeiten: Langsam wird mein Name Ziel des Spotts!« Männer blickten nicht nur wohlmeinend auf das weibliche Geschlecht, schon gar nicht auf Frauen aus dem schillernden Milieu, rechtlich Unfreie, deren Dienste als Kurtisanen, Prostituierte und Singmädchen sie andererseits gern in Anspruch nahmen. Bo Juyi wird vorgeworfen, eine gewisse Guan Panpan (8./9. Jahrhundert) in den Selbstmord getrieben zu haben. Panpan nahm, nachdem ihr Patron gestorben war, kaum 20-jährig für sich in Anspruch, in der Rolle der »keuschen Witwe« zu verbleiben. Das erregte Anstoß und bewegte Bo Juyi zu den Zeilen: »Wie konnte man die Rotgeschminkte lehren, sich nicht in Asche zu verwandeln?«, um ihrem Patron bei den Neun Quellen Gesellschaft zu leisten. Ihre Antwort war: »Nicht, dass ich nicht hätte sterben können! Ich fürchtete nur, dass man den Herrn meinetwegen für allzu zügellos halten könnte.« Sie schrieb ein Abschiedsgedicht und hungerte sich zu Tode. 7 Andererseits sind Männer und Frauen über das Medium der Dichtkunst auch in Wertschätzung einander zugetan: Yuan Zhen (779–831) zum Beispiel, Freund des Bo Juyi, und Yuan Mei (1716–1798) – jeder zu seiner Zeit: ersterer mit der Dichterin Xue Tao (768–831) in Liebe oder Freundschaft liiert; letzterer ein glühender Verfechter von Ausdrucksfreiheit und Frauenemanzipation. Im 17. und 18. Jahrhundert stützten sich Dichterinnen wechselseitig als Freundinnen, Mütter und Töchter, pflegten Austausch in den zum Teil rein weiblich besetzten lite-

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rarischen Zirkeln. Gedichte dieser Epoche geben vielfach Kunde von weiblicher Zuneigung und Solidarität. Im Idealfall teilen die Dichterinnen ihre literarischen und künstlerischen Neigungen mit dem Ehemann, zum Beispiel Zhuo Wenjun (2. Jh. v. Chr.), Li Qingzhao (1084–1155?), Guan Daosheng (1262–1319) und Li Yin (1616–1685). Und doch dürften glückliche Ehen eher die Ausnahme als die Regel gewesen sein. Entscheidend beim Heiratsverhalten war nicht Liebe, sondern ökonomischer und sozialer Vorteil im Sinne der Familienräson. So kam es vor, dass der Ehemann deutlich älter war als die Frau – wie im Falle der Cui Shi, die ihr Los allerdings mit Humor zu nehmen weiß, in den Frauengedichten ein eher seltener Ton: 不怨盧郎年紀大 不怨盧郎官職卑 自恨妾身生校晚 不及盧郎年少時

bú yuàn Lúláng niánjì dà bú yuàn Lúláng guānzhí bēi zì hèn qièshēn shēng jiào wǎn bù jí Lúláng nián shào shí

Ich beklage nicht das Alter des Herrn Lu. Ich beklage nicht, dass sein Beamtenrang bescheiden. Ich grolle nur mir selbst, dass ich so spät geboren bin und die Zeit verpasste, da Herr Lu noch jung. 8

Selbst geglückte Verbindungen schlossen Herzensqual nicht aus, da die Männer als Beamte in einer anderen Stadt oder Provinz ihren Dienst absolvierten und ohnehin alle drei Jahre den Amtssitz wechseln mussten. Auch Kriege, sogenannte Verteidigungskriege an der Nordgrenze und Expansionszüge im Westen und Süden, führten die Männer fort in unwirtliche Grenzgebiete »am Rande des Himmels« (tiān-yá 天涯), von wo die Heimkehr ungewiss war. Selbst in der Hauptstadt oder auf dem Weg dahin, und sei es nur für die staatlichen Prüfungen, konnte ein junger Ehemann verlorengehen: 春色能幾時 那堪此愁緒 蕩子游不歸 春來淚如雨

chūnsè néng jǐshí nǎ kān cǐ chóuxù dàngzi yóu bù guī chūn lái lèi rú yǔ

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Wie lange kann ein Liebesglück bestehen? Und wie erträgt man seine Traurigkeit? Der lose Knabe ging und kam nicht wieder. Der Frühling kam mit Tränen wie ein Regen. 9

Themen der Frauengedichte. Bei aller Skepsis, wie repräsentativ die überlieferten weiblichen Selbstzeugnisse sind, trifft die Charakterisierung: »Seufzerlyrik«. Noch die harmloseste Schilderung des Regens, der auf die Bananenblätter fällt, der Zimtblüte, die ihren Duft verströmt, des Papageis in seinem Käfig ist zugleich trauerumflortes Seelenbild. Neben Ehefrauen brillieren als Dichterinnen zu allen Zeiten Nonnen und Kurtisanen. Nicht nur letzteren, auch daoistischen Nonnen wird ein freizügiger und selbstbestimmter Lebenswandel nachgesagt. Und doch wünschen auch Nonnen und Kurtisanen nichts mehr, als eines Mannes Haupt- oder Nebenfrau zu sein – gesellschaftlich legitimierte und ökonomisch abgesicherte Existenz der Frau. In seltenen Fällen ist ein Gedicht ausschließlich dem gewidmet, was die Dichterin in eben diesem Augenblick um sich herum wahrnimmt, jenseits von seufzender Selbstumkreisung und Identifikation. So gesehen stellt das Gedicht der Lin Yining (1655–1730?) als aufmerksame Momentaufnahme der Um- und Mitwelt eine Ausnahme dar: 竹架整書除脈望 春池洗硯亂蘋花 日暖蜂王早放衙 童子佩壺尋澗水 沿籬野豆初牽蔓 繞砌山桃半欲花 村姬結束新螺髻 傍曉比鄰喚採茶

zhújià zhěngshū chú mòwàng chūnchí xǐyan luàn pínhuā rì nuǎn fēngwáng zǎo fàng yá tóngzi pèihú xún jiànshuǐ yánlí yědòu chūqiān wàn rǎoqì shāntáo bàn yù huā cūnjī jiéshù xīn luójì bàngxiǎo bìlín huàn cǎichá

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Beim Ordnen der Bücher auf dem Bambusregal: Entfernen der Silberfischchen. Beim Waschen des Tuschesteins am Frühlingsteich: Aufruhr unter den Wasserlinsen Die Sonne wärmt. Schon schickt die Königin der Bienen ihre Truppen aus. Ein Knabe, gegürtet mit dem Krug, unterwegs zur Schlucht. Am Heckenzaun streckt die Bohne immer neue Ranken aus. Der Bergpfirsich an der Wendeltreppe steht kurz vorm Erblüh’n. Ein Dorfmädchen, frisiert nach der neuesten Schneckenmode, ruft vor Tagesbeginn der Nachbarin: »Lass’ uns Tee pflücken gehen!« 10

Künstlerisch, literarisch und historisch gebildet und interessiert, pflegen die jungen Mädchen und Frauen der Oberschicht Kalligraphie und Malerei, spielen Flöte, Laute oder auch die Griffbrettzither (qín 琴). Neben solcherart Beschäftigung ist in den Versen von Garten-, Näh- und Stickarbeit die Rede, letztere auch als Geschenk für den geliebten Mann, ist daran doch die Hoffnung auf Heirat und Ehe geknüpft. Gefühlsatmosphären. Anders als in den Altersgedichten der Männer, wo Nichtstun Hinwendung zum Augenblick bedeutet: »nah den Wesen und Dingen« (chǔ-wù 處物) und offen für das, »was gerade geschieht« (siehe I.2.b), ist das Nichtstun der Frauen mehr Trägheit, Mattheit, Lustlosigkeit und Langeweile. Die Wendung wúnà 無那 (ratlos, hilflos, nicht wissen, was tun) ist der Begriff für den Seelenzustand der »gelangweilten Frau«: 無緒嚴妝獨倚樓 愁在心頭 愁在眉頭 欲下簾鉤懶下簾鉤 琴也慵修書也慵修 夕陽西墮水東流 怕更聽籌又近更籌

wúxù yánzhuāng dú yǐlóu chóu zài xīntóu chóu zài méitóu yù xià liángōu lǎn xià liángōu qín yě yōng xiū shū yě yōng xiū xī yáng xī duò shuǐ dōng liú pà gēng tīng chóu yòu jìn gēng chóu

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Mir ist nicht nach Schminken. Allein im Turm! Kummer auf dem Herzen, Kummer auf der Augenbraue. Will den Vorhanghaken lösen, bin zu faul, es zu tun, zu faul, die Zither zu spielen, zu faul, den Pinsel zu rühren. Die Sonne geht im Westen unter, der Fluss nach Osten fließt. Ich fürchte den Glockenschlag und halte mich doch dabei auf. 11

Trauer, Melancholie, Müdigkeit, ennui. Erst recht, wenn Krankheit zu schaffen macht: »Das halbe Leben vorbei und nie von Krankheit frei. Ich mag dieses Blühen nicht. Bleib’ draußen und fern meinen Träumen!« Zhu Shuzhen (?1063–1106) ist überzeugt, dass »Liebe die Ursache aller Leiden ist« und »Krankheit von Leid und Enttäuschung kommt«. Erleben die alten Männer die Jahreszeiten unmittelbar, weil draußen vor der Tür: im Hof, im Garten, im Feld, beim Wandern und Reisen zu Land und zu Wasser, so die Frauen vor allem von innen: vom Fenster, vom Balkon, vom hohen Turm. Insbesondere ist der Herbst eine Zeit der Trauer – und des Alters, das die Nonne Yu Xuanji (844–868) nach einer unglücklichen Ehe als Nebenfrau sich nunmehr herbeiwünscht: 自嘆多情是足愁 況當風月滿庭秋 洞房偏與更聲近 夜夜燈前欲白頭

zìtàn duōqíng shì zú chóu kuàng dāng fēngyuè mǎn tíng qiū dòngfáng piān yǔ gēngshēng jìn yèyè dēngqián yù báitóu

Unwillkürlich seufze ich – so viele Gefühle sind nur satt von Traurigsein! Dass jetzt auch noch Wind und Mond den Hof mit Herbst erfüllen! Im innersten Gemach wach’ ich mich dem Wechsel der nächtlichen Stunden entgegen. Allabendlich vor der Lampe wünsch ich mir weißes Haar. 12

Doch auch der Frühling macht nicht wirklich froh: Kaum sind die Blumen erblüht, hat ein Wind sie geknickt und verweht! So symbolisiert die frühe Jahreszeit ebenfalls in hohem Maße Vergänglichkeit und Melancholie:

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花開不同賞 花落不同悲 欲問相思處 花開花落時

huā kāi bù tóng shǎng huā luò bù tóng bēi yù wèn xiāngsī chù huā kāi huā luò shí

攬草結同心 將以遺知音 春愁正斷絕 春鳥復哀吟 風花日將老

lǎn cǎo jié tóngxīn jiāng yǐ yí zhīyīn chūnchóu zhèng duànjué chūnniǎo fù āi yín fēng huā rì jiāng lǎo

Als sie erblühten, hat sich keiner mit mir gefreut. Als sie verwelkten, teilte niemand mein Weh. Ich wüsste gern, woher die Sehnsucht kommt Aus der Zeit des Blühens? Oder des Vergehens? Das Gras in meiner Hand knüpft’ ich zum Bund der Herzen. Ich wollt es jenem schenken, der mein Lied versteht. Des Frühlings Schwermut hatt’ ich kaum verwunden Da klang des Frühlingsvogels Klage wieder auf. Wind und Blumen – wie meine Tage darüber vergeh’n. 13

Enge als Grundbefindlichkeit. Schon die Beschränkung der weiblichen Lebensform auf die inneren Gemächer – zumal mit gebundenen Füßen, spätestens seit dem 14./15. Jahrhundert – sorgt für Empfinden von Enge und Eingesperrtsein: »Das Innere zu hüten bis ins Alter, ist mir vom Schicksal bestellt. Ein Leben: beschränkt auf Kleider, Socken, Strohsandalen!« Symbole und Metaphern von Engung und Beklemmung in den Frauengedichten sind das mehrfach verschlossene Tor, dichter Nebel über dem Fluss, Bäume, die den Blick verstellen, erst recht Wolkenmassen, die »den Wind verdunkeln«, Mitternachtskälte, die durch Fenster und Bettvorhang kriecht, die Traum- oder Wanderseele (hún 魂), »die erschrickt«. Wiederkehrend versinnbildlicht der Papagei im »goldenen Käfig« das Eingesperrtsein: »Ich mag dein schneeweiß’ Gefieder, Gefährte meiner Gefühle im innersten Gemach.« 29 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Li Qingzhao, die einzige Frau unter den »zwölf großen Dichtern« Chinas aus vormoderner Zeit, findet schon in ihrem Frühwerk zu eindrucksvollen Bildern von Enge und Beklemmung, zu einer Zeit, als ihr Mann noch am Leben und bloß abwesend war. Weite kommt in der letzten Zeile nur als »gebrochene Weite« ins Bild: 寂寞深閨 柔腸一寸愁千縷 惜春春去 幾點催花雨 倚遍欄干 衹是無情緒 人何處, 連天芳草 望斷歸來路

jìmò shēnguī róucháng yīcùnchóu qiānlǚ xīchūn chūn qù jǐdiǎn cuī huā yǔ yìbiàn lán’gān zhǐ shì wúqíng-xù rén hé chù liántiān fāngcǎo wàng duàn guī lái lù

Einsam tief hinten im Gemach. Mein Innerstes: jeder Zoll von Leid mit tausend Stricken eingeschnürt. Ich liebe den Frühling, der Frühling aber ist vorbei. Die Blüten, bei so viel Tropfen vom Regen bedrängt Am Geländer lehnend – ringsum wie taub ohne jedes Gefühl. Wo ist der Mensch? Soweit der Himmel reicht: duftendes Gras! Brüchig erscheint die Straße der Heimkehr. 14

Entkommen in Weite. Die Versuche der Dichterinnen, dieser Welt der Enge vorübergehend zu entfliehen, sind bescheiden im Vergleich zu den Möglichkeiten der Männer, die noch im fortgeschrittenen Alter weit ausschreiten querfeldein, die Berge hinauf und hinunter, lange Wege zurücklegen zu Fuß, im Boot, in der Sänfte, auf dem Pferd, Tage und Nächte in Tempeln und Klöstern verbringen und auf ihren Reisen nur sich selbst mitnehmen, um sich selbst zu finden! Wang Hui (spätes 17. Jahrhundert) beschert schon der Spaziergang vor die Tore der Stadt »Orientierungslosigkeit«. Am ehesten bieten Garten und Park Freilauf und Schutz zugleich. 30 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Am unverfänglichsten und jederzeit zugänglich – der Blick in die Weite vom Fenster, vom Balkon oder vom hohen Turm: »Endlos der blaue Himmel, fern die Wege, einsam die Wolke, die kommt und geht, wie es ihr gefällt«. »Herbstwasser spiegeln den Himmel; so weit das Auge reicht, alles vom Licht des Mondes erleuchtet.« »Ich freue mich am Mond und singe mit dem Wind.« Im Erleben stark zurückgenommen schon: das Entkommen in eine Landschaft als Bild: 懶登高閣望青山 愧我年來學閉關 淡墨遙傳缥缈意 孤峰只在有無間

lǎn dēng gāogé wàng qīngshān kuì wǒ niánlái xué bìguān dàn mò yáo chuán piāomiǎo yì gū fēng zhǐ zài yǒuwú jiàn

Zu faul, den Turm zu besteigen, um blaue Berge zu betrachten. Seit Jahren üb’ ich bei verschlossener Tür, aus der Phantasie zu malen. Aus blasser Tusche wird flüchtiger Sinn: Dieser einsame Gipfel hier – irgendwo zwischen Sein und Nicht! 15

Das Bild muss nicht einmal selbst gemalt sein, um glauben zu machen, sie sei mitten in wilder Natur: 怪石長松儼相對 板橋茅屋林之隈 瀑流激石聲如雷 恍然坐我匡廬下 便覺胸次無凡埃

guàishí chángsōng yǎn xiāngduì bǎnqiáo máowū línzhī wēi pù liújī shí shēng rú léi huǎngrán zuò wǒ kuāng lúxià biàn jué xiōng cì wú fán āi

Wunderliche Felsgebilde, himmelhohe Pinienstämme, respektvoll einander zugewandt. An der Biegung des Waldes: eine Brücke aus Holz, eine Hütte, schilfbedeckt. Donnernd zersplittert der Sturzbach auf dem Gestein – Als säß’ ich am Fuße des Berges Lu und frei sei mein Herz von allem Staub. 16

Dem Selbermalen oder Hineinschlüpfen ins gemalte Bild vergleichbar: das flüchtige Spiel auf der Griffbrettzither. So fühlt 31 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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sich Yang Wenli (16. Jahrhundert) entführt in die mit Rhythmen und Tönen von ihr selbst erschaffenen Welt: 落霞飛指下 流水瀉弦中 停曲聊延佇 高天度遠鴻

luòxiá fēi zhǐxià liúshuǐ xiè xiánzhōng tíng qū liáoyán zhù gāo-tiān dù yuǎn hóng

Sinkendes Abendrot unter den Fingern verfliegt. Zwischen die Saiten stürzt ein Wasserfall. Stockt die Melodie, steht die Zeit still. Am hohen Himmel quer die Wildgänse zieh’n. 17

Wenigstens im Traum gelingt es auszuschwärmen, um Enge zu überwinden: »Ich träumte, ich sei ein Schmetterling – immer noch auf der Suche nach Blüten.« »Wenn die Dattelpflaume blüht, besuch’ ich dich wieder in meinen Träumen.« »Die Träume der Verlassenen gehen so weit, wie Straßen lang sind, die zur Grenze führen.« Dem Träumen verwandt das Erinnern: »Ich denke an unsere vergangene Liebe. Tränen des Abschieds in den Augen versinkt mein Blick im Blau der Berge.« Auch Liu Yao (ca. 8. Jh.) findet im Gedenken an den früh verstorbenen Mann zu naheliegenden Metaphern der Weite: den fernen Himmel, den Nebel, der im Steigen Weitung verspricht: 五湖春水接遙天 國破君亡不記年 唯有妖蛾曾舞處 古台寂寞起愁煙

wǔhú chūnshuǐ jiē yáotiān guó pò jūn wáng bù jì nián wéi yǒu yāoé zéng wǔchù gǔtái jìmò qǐ chóuyān

Die Frühlingswasser der fünf Seen berühren fern den Himmel. Das Reich zerbrach, der Mann kam um, ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr. Was vom Zauber der Jugend übrigblieb: der Tanzplatz nur – von früher. Einsam steigen von der alten Terrasse die Nebel der Trauer. 18

Längere Aufenthalte im Freien, wenn auch im Schutz der Familie, erlauben jahreszeitlich wiederkehrende Feste, die in den 32 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Selbstwahrnehmung: das Sicht- und Spürbare

Frauengedichten öfter erwähnt sind als in den Altersgedichten der Männer: vor allem das Totenfest am 4. Tag des 4. Mondmonats, wenn die Gräber der Ahnen zu richten sind. Oder das Mädchenfest am 7. Tag des 7. Mondmonats, wenn die Sternbilder des Hirten und des Webermädchens einander begegnen und die weibliche Jugend sich vom Webermädchen Geschick in der Nadelarbeit verspricht. Das Neujahrsfest, das sich über zwei Wochen erstreckt, und das Fest der Chrysanthemen am 9. Tag des 9. Mondmonats beschäftigen Männer und Frauen gleichermaßen – im Sinne der stets gefühlten Vergänglichkeit. Allein Wang Wei (?1600– 1647?) kann unabhängig von Familie und Jahresfesten als selbstbestimmte Kurtisane jederzeit unterwegs sein im eigenen Boot auf Flüssen und Seen, an Bord ihre ausgesuchten Bücher und männlichen Begleiter, mit denen sie ihre Gedichte tauscht. Zu all diesen Anlässen gehört bei beiden Geschlechtern ganz selbstverständlich der Genuss von Wein. Aber auch der wird genderspezifisch genossen. Bei den Dichtern scheint »tief im Wein« die Welt erst recht in »berauschte Freude« getaucht zu sein, mit Ausnahme von Du Fu. Ihm und den Dichterinnen ist der Wein immerhin »ein Ding, das den Kummer vertreibt«, wobei Ma Shouzhen (1548–1604) fragt, wieviel Kummer er überhaupt zu vertreiben vermag. Alter und Altern in den Frauengedichten. Bei so viel Melancholie und Resignation als Grundstimmung von früher Jugend an stellt sich die Frage, was die vorgerückte Lebenszeit den Dichterinnen zusätzlich bringt an Leid und Einsamkeit, ob sie auch Freude bereithält und Freiheit wie im Falle der Dichter. Die Antwort fällt schwer: Frauengedichte, die sich eindeutig als Altersverse zu erkennen geben, sind dünn gesät oder eben nicht überliefert. Und wenn, dann wirkt der Hinweis auf »das weiße Haar«, die »frostigen Schläfen«, den »Schnee, der von den Locken fällt« fast beiläufig und stereotyp. Wenn es aber darum geht, den Ehemann zur Reue oder 33 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Befinden und poetische Reflexion

Heimkehr zu bewegen, mag das Alter sogar als Zukunft vorweggenommen sein: Auf diese Weise verhindert Zhuo Wenjun, so will es die Legende, mit ihrem »Lied der weißen Haare« (bái-tóu yín 白頭吟), dass ihr Mann, der Dichter Sima Xiangru (179–117 v. Chr.), sich ein Singmädchen nimmt. Der Begleitbrief – womöglich eine spätere Fälschung – endet mit den Worten: »Mit dir will ich alt werden!« Auch Guan Daosheng (1262–1319) schickt ihrem Mann, dem Maler Zhao Mengfu (1254–1322), der allzu lang schon in der Ferne weilt, auf einer ihrer Bambusmalereien die unmissverständliche Botschaft: 夫君去日竹初栽 竹已成林君未来 玉貌一衰再难好 不如花落又花开

fūjūn qù rì zhú chū zāi zhú yǐ chénglín jūn wèi lái yùmào yīshuāi zài nán hǎo bù rú huā luò yòu huā kāi

An jenem Tag, an dem Du gingst, hat man den Bambus hier zum ersten Mal gepflanzt. Nun ward daraus schon ein Gehölz und du – noch immer nicht zurück! Ist meine Schönheit erst einmal dahin, ist sie nicht wieder herzuholen – anders als bei der Blume, die verwelkt, um aufs Neue zu erblüh’n. 19

Leid mag die Verfärbung der Haare beschleunigen: »Das weiße Haar im Spiegel kündet von meinem Leid.« Auch Li Yin, die ihren Mann um vier Jahrzehnte überlebt, weiß ein Lied davon zu singen: 時序催黃葉 排空鴈字橫 獨愁增白髮 多病 怯秋聲 老愧黔驢技 搔首嘆餘生

shíxù cuī huángyè pái kōng yàn zì héng dúchóu zēng báifà duōbìng qiè qiūshēng lǎo kuì qián lü´jì sāoshǒu tàn yúshēng

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Selbstwahrnehmung: das Sicht- und Spürbare

Es eilt die Zeit, schon fallen gelbe Blätter. Wildgänse sammeln sich am Himmel zu Schriftzeichen aufgereiht. Das Leid, allein zu sein, färbt mein weißes Haar noch weißer. So oft war ich krank, dass ich fürchte des Herbstes Klang! Jetzt da ich alt bin, schäm’ ich mich meiner schwindenden Fähigkeiten. Ich streiche mir übers Haar und seufze vor dem, was vom Leben übrigblieb. 20

Als Li Qingzhao ihre Altersgedichte schrieb, vier davon erkennbar am Hinweis auf die »weißen Schläfen« und das »schüttere Haar«, wird sie über fünfzig Jahre alt gewesen sein. Nach dem Tod des geliebten Mannes, dem Verlust der wertvollen Antiquitäten- und Schriftensammlung, einer zweiten übereilten Heirat, der baldigen Scheidung und einem Gefängnisaufenthalt – da sie als Frau (!) den Mann vor Gericht verklagt und die Scheidung fordert – lebt sie den Gedichten nach ein prekäres Leben fern der Heimat. Wie und wann sie starb, ist unbekannt, vermutlich in einem buddhistischen Kloster in der Nähe von Hangzhou, der südlichen Kaiserstadt. Ihre Altersgedichte sind, wie die Frauengedichte überhaupt, voller Melancholie und Resignation: »Wie oft hab’ ich Mond und Wind besungen! Jetzt, da ich alt bin: kein Verdienst, kein Erfolg! Verblüht und verwelkt: Wer hat da schon Mitgefühl? Laternen aufzuhängen – was soll das? (wú yì-sī 無意 思) Den Frühling zu suchen – auch keine Lust (méi xīn-qíng 沒 心情). Am ehesten mit dem befasst, was im Augenblick geschieht, ist das folgende Gedicht: 病起蕭蕭兩鬢華 臥看殘月上窗紗 豆寇連梢煎熟水 莫分茶 枕上詩書閑處好 門前風景雨來佳 终日向人多醞藉 木犀花

bìng qǐ xiāo xiāo liǎngbìn huá wò kàn cányuè shàng chuāngshā doùkoù liánshāo jiān shú shuǐ mò fēn chá zhěnshàng shīshū xián chù hǎo ménqián fēngjǐng yǔ lái jiā zhōng rì xiàng rén duō yúnjí mùxīhuā

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Seit Beginn der Krankheit an beiden Schläfen weiß das schüttere Haar. Liegend schweift mein Blick zum Fenster: Der abnehmende Mond steigt den Vorhang hinauf. Kardamom am Zweig in Wasser gekocht – ohne Tee! Auf den Kissen meine Bücher mit Gedichten: ein abgeschiedener, wohliger Ort! Vor der Tür im Regen die Landschaft noch schöner. Den ganzen Tag schenkt sich mir großzügig – die Osmanthusblüte. 21

I.2 Altersstrategien zwischen Tun und Nichtstun Der Unterschied beider Lebenswelten zeigt sich sichtbarer noch, wenn wir Ausschau halten nach altersspezifischen Aktivitäten (1.2.a). Frauen tun am Lebensabend offenbar nichts anderes als das, was sie immer schon taten: Lesen, Nähen und Sticken, Musizieren, Dichten, Kalligraphieren, Seufzen und Klagen. So wird im Folgenden mehr von den Männern die Rede sein, erobern diese sich doch neue Felder der Betätigung: Tao Yuanming, Wang Wei, Du Fu, Lu You und Su Shi allein schon, weil das Leben in Armut oder im Exil Selbstversorgung als Bauer und Gärtner erforderlich macht. Gleichzeitig widmen sich die Männer im Alter vermehrt den schönen Künsten, denen während der aktiven Lebenszeit weniger Raum beschieden war. Auch das sorgt für Begeisterung, erst recht die Fülle an Zeit, in der sie tun und lassen können, was und wie es ihnen gefällt oder eben auch: gar nichts tun (I.2.b). Wenn von weit über zweihundert Altersgedichten von der Hand der Männer nur zehn bis zwölf Überschriften Kritisches ankündigen: »Ich fühle mich alt«, »Ich habe es satt, alt zu sein«, »Ich bin traurig, alt zu sein«, dann folgt daraus, dass im Selbstverständnis dieser Dichter das Alter mehr Lob als Tadel verdient. Dieselbe zustimmende Haltung prägt auch das Zu36 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Altersstrategien zwischen Tun und Nichtstun

sammensein mit anderen, die gemeinsam geteilten Situationen (I.2.c).

I.2.a) Aktivitäten Der Rückzug vom Amt aufs Land beschert den Männern neben Zugewinn an Muße ein Gefühl von Freiheit. Fühlen sich die Frauen ihr Leben lang eingesperrt wie der Papagei in seinem Käfig (siehe oben), so machen die Männer umgekehrt die Erfahrung, im Alter dem Käfig öffentlicher Verpflichtung, den »Netzen der Welt« (shì-gāng 世綱) entflohen zu sein. Bo Juyi, der sich im Laufe seiner Beamtenkarriere mehrfach beglückwünscht, hält im Rückblick die Jahre nach der Pensionierung für seine schönste Lebenszeit. Lu You bezeichnet das Alter als »poetische Angelegenheit« (yōu-shì 幽事) 22 und schenkte mir damit den Titel zu diesem Buch. Dichtung und Kalligraphie. Fragen wir Dichter nach Vorlieben im Alter, verwundert kaum, wenn das Verfassen von Gedichten nach wie vor Lieblingsbeschäftigung ist – einschließlich ihrer kalligraphisch anspruchsvollen Niederschrift. Viele Verse tragen den Titel: »Verfasst zu meinem Vergnügen«, »um mich zu »beruhigen«, zu trösten«, »zu ermutigen«. Die Studierstube des Dichters ist der »schönste Ort«, wenn unterm Duft von Räucherstäbchen oder jadegrünem Tee »ganz von selbst die Reime fließen«. Auch im Freien: im Hof, auf der Veranda, unter dem Vordach findet sich die Muße ein, selbst bei Gefahr, dass der Wind die Verse davonweht mitsamt den Frühlingsblüten. »Überall regt sich Poesie. Dem Pinsel vertrauend entsteht von selbst ein Gedicht.« Beim Wandern gewinnen nicht nur die Füße Weite, sondern auch Herz und Gemüt: »Im Gehen murmelnd vollende ich ein Gedicht«. Yang Wanli ist sogar überzeugt: »Verse zu suchen hinter verschlossener Tür, ist nicht das 37 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Dào der Poesie. Unterwegs nur zeigt sich von selbst ein Gedicht.« Der Intuition der Dichter zuträglich sind alle möglichen Dämmerzustände, ein Schwebezustand zwischen Dösen und Hellwach, sei es auf der Veranda unmittelbar vom Mittagsschlaf erwacht, sei es wie Su Shi »in der Sänfte vom Schlaf übermannt«. In der Vorrede zu diesem Gedicht heißt es: »Im Traum kam mir der Vers: ›Auf tausend Bergen: Fischschuppengewimmel; in zehntausend Schluchten: Mundorgel- und Glockenspiel!‹ Beim Aufwachen: frischer Wind und Regenguss. Mir zur Freude diese Zeilen verfasst.« Ausnahmslos inspirierend ist der Dämmerzustand »tief im Wein«. Su Shi wird nachgesagt: »Er liebt den Wein! Nach vier bis fünf Bechern ist er voll bis an den Rand, legt sich nieder und beginnt donnernd zu schnarchen. Kehrt er dann an den Tisch zurück, schreibt und malt er so geschwind wie ein Wirbelwind.« Das Alleinsein, jahreszeitlich oder auch wetterbedingt, schenkt den Dichtern Muße, um an alten Kompositionen zu feilen oder neue Verse hinzuzufügen: »Wind und Regen tagaus, tagein. Küche ohne Feuer, ohne Rauch! Einsam wie ein Mönch wasche ich meinen Tuschestein, tauche den Pinsel hinein und schreibe dieses Gedicht.« Grundsätzlich wirken alle möglichen Stimmungen poetisierend: Begeisterung über eine schöne Berglandschaft: »Fünftausend Fuß ragt die Erde zum Himmel hinauf. Ich bitte die Berge, sich herabzulassen und Platz zu nehmen in meinem kleinen Gedicht.« Trauer über den Tod eines Freundes: »Verwaist in meinem Zimmer, tränennass Schnurrbart und Bart. Was nützt der Bogen, wenn der Pfeil zerbrochen ist?!« Auch Schreck und Angst lösen sich beim Schreiben: »Ich reise nicht gern über Land, ziehe die Wasserwege vor. Bricht ein Sturm los, schreibe ich ein Gedicht, um die inneren Wogen zu glätten.« Das kalligraphische Schreiben kann ausarten in Geschäftigkeit. Yuan Mei, der früher immer andere für sich schreiben ließ, fühlt sich im Alter von Freunden und Nachbarn bedrängt, die 38 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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ihn um Inschriften bitten oder ein Gedicht: »Je ungeschickter die Zeichen, ein bisschen wie ein trippelnder Rabe, desto mehr wollen sie davon. Fürchten sie etwa, der Rabe könnte nächstes Jahr auf- und davongeflogen sein?« Kreatives Schreiben als Altersstrategie und die Freude, die daraus erwächst, zeigt sich schon in den Überschriften und Vorreden zu den Gedichten, wo es heißt: »Verfasst, mir selbst zur Freude«, »Verfasst im Wohlgefühl, »Mein Wohlgefühl zum Ausdruck bringen« »Welche Freude, alt zu sein«, »Verschiedene Freuden« »Verschiedene Freuden an einem Frühlingstag in den Bergen« »Freuden des Herbstes«, »Freude nach dem Regen«, »Freude am schönen Wetter«, »Freuden am Ende des Jahres«, »Friedlicher Mittagsschlaf«. Lektüre. Hand in Hand mit dem Schreiben geht das Lesen der eigenen Gedichte, der Gedichte und Briefe aus fremder Hand, der Klassiker auf den Regalen aus Geschichte, Literatur, Philosophie und Religion. Das Lesen alter chinesischer Texte – ohne Punkt, ohne Komma, ohne Strich – war und ist nie leichte Lektüre, vor allem wenn es darum geht, »sorgfältig die Worte zu wenden«, »präzise zu sein in Form und Aussprache der Zeichen«. Ganz zu schweigen von den leidigen Manuskripten in kleiner Schrift (xiǎo-zì shū 小字書). Yuan Mei, enttäuscht von seiner – der Gelehrsamkeit abholden – Nachkommenschaft, sieht ein, dass nur die Silberfischchen seine Leidenschaft für Bücher teilen, und Lu You stellt sich aus eben diesem Grunde vor, im nächsten Leben selbst ein Silberfischchen zu sein. Singen und Musizieren. Lesen ist im alten China vor allem lautes Lesen: Deklamieren und Rezitieren. Hinzu kommt das Tönen buddhistischer Sutren, das Singen der Lieder und Gedichte. Noch mit achtzig kann Yuan Mei nicht genug davon haben. Tao Yuanming, Wang Wei, Du Fu, Bo Juyi, Lu You und Su Shi singen auch zur Griffbrettzither, zupfen 39 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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und schlagen die Saiten – für sich allein oder in Geselligkeit. Bo Juyi, der das »Spiel von Bambus und Seide« meisterhaft beherrscht, schreibt viele Gedichte über die Griffbrettzither. 23 Doch hat er im Alter auch Freude an einfacher ländlicher Musik: 管妙弦清歌如雲 老人合眼醉醺醺 誠知不及當年聽 猶覺聞時勝不聞

guǎnmiào xiánqīng gē rù yún lǎorén héyǎn zuì xūnxūn chéng zhī bù jí dāngnián tīng yóu júe wén shí shèng bù wén

Trillernde Flöten, klare Saitentöne – Lieder bis in die Wolken hinauf. Der alte Mann, die Augen geschlossen im Rausch der Trunkenheit! Gewiss, fern von dem, was mein Ohr einst gehört, gewiss aber besser, als gar nichts mehr zu hören. 24

Bei aller Hingabe bleiben Schreiben und Lesen, Singen und Musizieren auf der Strecke, sobald aus der Küche der feine Duft von Nudeln und frittiertem Gemüse dringt, erst recht von mariniertem Fisch oder saftigem Fleisch. Essen und Trinken strukturieren den Tag (siehe II.2.c). Bewegung. Dies alles ist sitzende Tätigkeit. Doch Bewegung kommt auch nicht zu kurz. Wer sich im Alter aus Liebe zur Natur aufs Land zurückzieht oder in die Berge, der wird, wenn die Füße noch tragen, so oft es geht, unterwegs sein auf einer kleineren oder größeren Wanderung: »Der Tag wird schön. Lasst uns aufbrechen in die Weite!« Sei es wie Tao Yuanming, der das Wie und Wohin dem Augenblick überlässt: »Manchmal verlangt mich nach meinem mit Sonnensegel bedeckten Wagen, manchmal treibe ich in meinem Boot, einmal bin ich auf Zickzackwegen unterwegs durch die steilen Schluchten, dann wieder auf steiniger Straße.« Sei es wie Li Taibo, Bo Juyi, Su Shi oder Lu Yu (733–804) auf dem Weg zum nächsten Tempel – zum stillen Sitzen und Ge40 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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spräch mit den Mönchen oder dem Abt: »Dann trage ich ein dünnes Tuch um den Kopf, Strohsandalen an den Füßen, ein grobes kurzes Gewand und in der Hand den Reisesack.« Sei es wie Lu You zum nächsten Gasthaus am Landesteg des Flusses oder wie Wang Wei zu einer verborgenen Quelle: 中歲頗好道 晚家南山陲 興來每獨往 勝事空自知 行到水窮處 坐看雲起時 偶然值林叟 談笑無還期

zhōngsuì pō hào dào wǎnjiā nánshānchúi xìng lái měi dú wǎng shèng shì kōng zì zhī xíng dào shuǐ qióng chù zuò kàn yún qǐ shí ǒurán zhí lín sǒu tánxiào wu huan qī

In meinen mittleren Jahren ward das Dào mir lieb. In meinen späten Jahren hab’ ich mein Haus am Südberg steh’n. Wenn ich will, wandere ich allein – den Dingen gewachsen, von deren Leere ich weiß. Wandere dem Ort der Quelle zu, verweile sitzend, seh’ die Wolken steigen. Trifft es sich, dass ich dem Alten begegne vom Wald, schwatzen und lachen wir und vergessen die Zeit. 25

Tao Yuanming, Du Fu, Su Shi und Lu You erweisen sich auf ihre alten Tage als geschickte Gärtner, bangen bei Dürre und Insektenplage mit den Bauern um die Ernte und freuen sich, wenn »die Salatpflanzen stehen in Reih und Glied« und der Teestrauch üppig gedeiht. Lu You macht sich nützlich auf dem Hof, wässert den Garten, legt die Steine zurück auf die verfallene Mauer, schaut nach Hühnern und Schweinen. Yang Wanli sorgt selbst für seine Kleidung, hängt sie in die Sonne am Mittag, um sie am Abend zusammengefaltet in die mit Stoff gefütterte Weidentruhe zurückzulegen: »Lachend fragen Frau und Kinder: Wer ist denn dieser dienstbeflissene barfüßige alte Mann?« Li Taibo »tanzt anmutig mit dem Schwert«, eine Form der Kampfkunst. Du Fu, von Jugend an im Reiten versiert, stürzt im Alter noch einmal vom Pferd: »Von jeher versuchen Grau41 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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köpfe zu imponieren. Seinen Impulsen zu folgen, bringt im Leben häufig Scham.« Die genannten Alltagsaktivitäten erfolgen dem Lebensalter angemessen in heiterer Gelassenheit (shì-rán 釋然/cóng-róng 從 容). Wird diese auf die Probe gestellt, können die Männer auch aufmüpfig sein, wie der kranke Yuan Mei, der sich beklagt, dass er Fleischverbot hat, obwohl er kein Mönch sei, oder Bo Juyi, der sich in seinen Gedichten gegen Vorwürfe von Frau und Familie wehrt über seine Geld-verzehrende Trunksucht.

I.2.b) Lob des Augenblicks Die in Überschriften und Vorreden zu den Gedichten der Männer wiederkehrende Bemerkung »Geschrieben, um das Ereignis zu bestätigen« verweist auf das Hauptanliegen ihrer poetischen Anwandlungen: den gerade gelebten Augenblick zu zelebrieren. So geht es mehr noch um das »süße Nichtstun« als um ein Tun: das heißt einfach da zu sein, »nah den Wesen und Dingen« (chǔwù 處物), offen für das, was gerade ist oder geschieht. Eine Reihe von Wörtern und Wendungen, wie »müßig«, »lässig, ohne etwas zu tun«, »gleichgültig gegen morgen und übermorgen«, erinnern so unmittelbar an die daoistische Formel wú-wéi 無為 und das chan-buddhistische Lob des Augenblicks, dass kein Zweifel daran besteht, wes Geistes Kind diese Dichter sind (siehe III.2.a sowie V.2). Die Formel wú-wéi (wörtlich: Nicht-Tun) impliziert wohl auch, gar nichts zu tun. Daraus leitet Lu You sein Recht auf Altersfaulheit ab: »Was kümmert’s mich, wenn der Hahn des Nachbarn morgens kräht!« Mehr noch geht es darum, sich bei allem Tun vor Hast und Geschäftigkeit zu hüten, erst recht vor der Versuchung, den Lauf der Dinge zu erzwingen. Positiv gewendet, bedeutet wú-wéi, sich »einzufügen in den Lauf der Dinge« (shí-yùn zhī-mìng 識運知命), »deren Eigenbewegung 42 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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zu folgen« (wēi shùn-dòng 委順動), »ohne Absicht, ohne Plan« (wú-xīn 無心, wörtlich »herzlos«). Mit anderen Worten, die Dinge, »wie sie von selbst sind« (zì-rán 自然), so sein und geschehen zu lassen. Das Nichtstun der Dichter ist meilenweit von der Mut- und Lustlosigkeit der Dichterinnen entfernt, geht es den Männern doch darum, den Augenblick zu halten, zu kosten und zu dehnen. Nichts liegt ihnen ferner, als Zeit und Langeweile »zu vertreiben«: »Am Rande des Baches. Hier kreuzen die alten Wege. Im Abendsonnenschein steh ich allein, zähle die Leute im Vorübergehen.« So ist das zwischen Tun und Nichtstun beheimatete Zählen: Lob des Augenblicks. Zählt Zhang Xuedian (18. Jahrhundert) die roten Lotusblüten auf dem Teich, die ihr vom Sommer übriggeblieben, so Lu You die Fische im Bach, die Raben am Abendhimmel, und wie Su Shi ist er den Menschen, die an seinem Haus vorübergehen, zählend zugewandt: 朝看出市暮看歸 數盡行人尚依扉 要見先生無盡興 少須高樹掛殘輝

zhāo kàn chū shì mù kàn guī. shù jìn xíngrén shàng yīfēi yào jiàn xiānshēng wú jìn xìng shǎoxū gāoshù guà cánhuī

Am Morgen blick’ ich den Leuten nach auf ihrem Weg zum Markt, am Abend seh’ ich sie heimwärts ziehen. Zu Ende gezählt, verweile ich ans Gattertor gelehnt. Wollt ihr wissen, was mich dann unendlich freut: Hoch oben in den Bäumen, wo der Sonnenstrahl hängen bleibt für einen letzten Augenblick. 26

Nichtstun als Achtsamkeit für den bewusst gelebten Augenblick (xī cùn-yáng 惜寸陽) – darauf spielen viele Gedichte schon in der Überschrift an: »Was gerade geschieht« (jí-shì 即事), »Was ich gerade sehe« oder »höre«, »Was ich gerade empfinde«, oder auch »Dem Pinsel freien Lauf lassen« und »Improvisation« (ǒurán 偶然).

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Was gerade geschieht, kann alles Mögliche sein: Der Südwind huscht durchs Gartentor und blättert in meinem Buch. Im Hof: die Blüten zu Boden gegangen, gewandert der Schatten des Baumes. Ein Becher Wein: Schon steigt mir der Frühling ins Gesicht. Ich hebe die Hand, sie berührt den Mond. Legt sich der Wind, verweilt auf dem Teich der süße Duft von Lotus. Legt sich der Wind, kehren die Reiher und Stechmücken zurück. Vom Tempel der Ton einer Glocke, der im Smaragdgrün der Berge versinkt. Aus den Blüten der Glyzinien fällt die Dämmerung. Lauschen auf die Stimme des Regens. Ein Räucherstäbchen brennt. Mittagsschlaf – aus den müden Händen fällt das Buch. Eine durstige Biene schlürft Wasser aus dem Tuschestein. Ein Licht nach dem anderen entzündet sich im Fischerdorf. Vom Abendwind – ganz verwirrt die Bananenblätter. Als ich aufwache in der Nacht, liegt der Mond auf der anderen Hälfte der Bettstatt. 27

I.2.c) Geteilte Atmosphären Wenn wie im vormodernen China der Einzelne sein Selbstverständnis aus den Gesellungen bezieht, denen er zugehört, dann sind die mit anderen Menschen, ja Tieren und Pflanzen geteilten Situationen dem Wohlbefinden zuträglich oder auch abträglich wie im Falle von Su Shi, Li Qingzhao und Lu You die politischen Umstände. Familie. In den Gedichten der Frauen wird der Familie größte Bedeutung beigemessen, einschließlich der Herkunftsfamilie aus Mutter und Vater, Schwestern und Brüdern. Erst recht ist die innige

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eheliche Beziehung Thema der Dichterinnen, so bei Li Qingzhao und Guan Daosheng (siehe I.1.c). Auch Lu You schreibt sein Leben lang Liebesgedichte an die früh verstorbene erste Frau, und Du Fu widmet in Zeiten der Trennung Frau, Kindern und den Brüdern Verszeilen oder ein ganzes Gedicht. In seinen Altersgedichten ist zumindest die Anwesenheit der Frau unterstellt: »An heißen Tagen helf’ ich meinem Weib in die kleine Barke …« (Raffael Keller) Bo Juyi genießt es, im Schoß der Familie, einschließlich von Neffen und Enkelkindern, alt zu werden, und stellt im Umgang mit den Kleinen fest: »Im Alter verschenkt man so leicht sein Herz.« Yuan Mei, umhegt von Frau, Konkubinen und reichlich Hauspersonal, »leidet« zugleich unter so viel Fürsorglichkeit, wenn sie ihn für zu alt befinden, um achtzigjährig noch auf Reisen zu gehen, oder vor Schreck erstarren, eingedenk seiner wiederkehrenden Schwindelanfälle: »Geh ich in den Garten, eilen die Dienstboten herbei. Steig ich die Treppe hinauf, sind alle entsetzt.« Auch in Lu Yous Gedichten treten – neben dem Küchenknaben, dem er sein Geheimrezept für Tee verrät – Enkelkinder auf, mit denen er spielt am nahen Fluss oder leichte Arbeiten teilt auf dem Hof und – die ihm abends die Füße waschen: »Inzwischen kundig, wann die Wassertemperatur genau die richtige ist«. Ein Gedicht ist ihm der Augenblick wert, als ein Brief eintrifft von einem der sechs erwachsenen Söhne. In Su Shis späten Jahren teilt einer der Söhne mit ihm die letzte und schwerste Herausforderung, das Exil auf Hainan. »Da sitzen wir wie zwei Mönche in Askese« und spielen Schach: »Ob Guo gewinnt oder verliert, er scheint immer fröhlich zu sein.« In den Altersgedichten der Männer gerät auch die um Mägde und Knechte erweiterte Familie in den Blick, bei Tao Yuanming zum Beispiel im berühmten Heimkehrgedicht: Oh, Heimkehr! … Ich zürne dem Morgen, der noch nicht dämmern will. Da erblick’ ich das Haus! Wie froh ich bin! Wie ich zu eilen be-

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ginne! Da kommen mir freudig die Knechte entgegen, die Kinder warten am Tor. Verwildert zwar die drei Gartenstege, aber die Chrysanthemen und Kiefern sind noch da. Die Kleinen an der Hand, tret’ ich ins Haus … 28

Freunde. Mehr als die Familie bevölkern die alten Freunde (gù-rén 故人) die Gedichte der Männer. Du Fu, im Alter für den Lebensunterhalt auf Freunde angewiesen, widmet einen Vers dem Spender von dreißig Bund Frühlingszwiebeln: »Die runden Knollen jadestäbchenblank, in Bündeln, leuchtend grün wie frisches Heu. Duft und Wärme werden mich entheben der Sorgen um den kalten Greisenbauch.« (Raffael Keller) Die Freundschaft mit Li Taibo war ihm mindestens sechs Gedichte wert – das schönste, nachdem ihm der Freund im Traum begegnete: 故人入我夢 魂來楓葉青 魂返關塞黑 落月滿屋梁 猶疑照顏色 水深渡浪闊 無使皎龍得

gùrén rù wǒ mèng hún lái fēngyè qīng hún fǎn guānsāi hēi luò yuè mǎn wūliáng yóu yí zhào yánsè shuǐ shēn dù làng kuò wú shǐ jiǎo lóng dé

Im Traume traf ich dich, mein alter Freund. Kam deine Seele wohl durch grüne Ahornwälder und machte kehrt am schwarzen Pass? Beim sinkenden Mond vermeine ich, als leuchte dein Gesicht am Zimmerbalken! Die Wasser sind tief und an der Furt die Wellen hoch. Oh! Dass die Drachen dich nicht greifen! 29

Auch Bo Juyi vermisst den Freund Yuan Zhen (779–831): »Der Vogel im Käfig, der Affe hinterm Gitter sind noch nicht tot. Werden wir uns in der Welt der Menschen je wiedersehn?« Mit Liu Yuxi (772–842) tauscht er Briefe in Gedichtform, obwohl dieser im Alter in der Nähe wohnt und sie sich regelmäßig treffen. Das wird dann jedes Mal ein Fest. Sein Tod macht ihm sehr 46 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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zu schaffen: »Hundert Jahre Freundschaft. Auch im Rückzug: gemeinsam arm, gemeinsam krank; der eine tot, der andere lebt. Wirst du unter der Erde wohl Yuan Zhen begegnen?« Im Exil auf Hainan pflegt Su Shi Freundschaft mit lokalen Beamten und Einheimischen aus dem Stamm der Li. Wang Wei ist die Freundschaft mit Beamtenkollegen, Mönchen und Äbten umso wichtiger, als er nach zwei Jahren Ehe die Frau verlor und nie wieder geheiratet hat: »Überraschend kommt ein alter Freund vorbei. Hand in Hand gegen den Wind, erleben wir Himmel und Erde.« Nachbarn. Wiederholt ist in den Altersgedichten vom Nachbarn die Rede, mit dem sich Tao Yuanming und Du Fu spontan zu einem Krug Wein zusammensetzen, bei dem Lu You sich für seinen Ausritt »das räudige Eselchen« leiht »mit dem nackten Schwanz«. Und voller Empathie beobachtet Zhang Furen, die in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts lebte, die Nachbarin beim »Beten zum Neuen Mond« (bài yuè 拜月): 昔年拜月騁容輝 如今拜月雙淚垂 回看眾女拜新月 欲憶紅閨年少時

xīnián bàiyuè chěngróng huī rújīn bàiyuè shuānglèi chuí huíkàn zhòngnǚ bài xīnyuè yù yì hóng guī nián shàoshí

Wie hat sie früher zum Mond gebetet: strahlend und selbstgewiss! Betet sie heute, fließen die Tränen im Strom. Denk ich an all die Frauen, die da beten zum Neuen Mond, gedenk ich der Zeit, als wir jung waren in den Frauengemächern, ach, so jung! 30

Umland. Auch mit den Menschen der näheren und ferneren Umgebung halten die Dichter Kontakt, frequentieren Tempel und Klöster und sind, vor allem Li Taibo und Lu You, in den Tavernen der Gegend zu Gast. Die Kräuterkundigen unter den Dichtern verteilen auf ihren Wanderungen selbstgefertigte Arzneien an Be47 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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dürftige, die in den Bergen leben. Yuan Mei verfasst für seine Pächter Talismane und amtliche Schriftstücke. Bei aller Freude an Geselligkeit, kommt es vor, dass das Gattertor stunden-, tage-, wochenlang verschlossen bleibt: Das Alter verlangt Mittagsruhe, und Kreativität verlangt, von Zeit zu Zeit allein zu sein. Sogar der anhaltend sengenden Sommerhitze kann Yuan Mei dann etwas abgewinnen, da Besucher fernbleiben und er Muße findet, die alten Manuskripte zu ordnen. Nichtmenschliche Lebenswelt. Eine besondere Beziehung pflegt Lu You mit seiner Katze und scheint damit für ein ganzes Genre japanischer Katzen-Haiku 31 verantwortlich zu sein: 風卷江湖 雨闇村 火軟氈暖 我與狸奴 不出門

fēng juǎn jiānghú yǔ àn cūn huǒ ruǎn zhān nuǎn wǒ yǔ línú bù chū mén

Sturmbewegt Fluss und See. Regenverfinstert das Dorf. Mildes Feue, warme Decke. Ich und die Katze bleiben heute zuhaus. 32

Bo Juyi und Yuan Mei erfreuen sich an den gezähmten Kranichen auf dem Hof, die tanzend an des Hausherrn Stelle die Gäste empfangen. Über Katzen und Kraniche, Hühner und Schweine hinaus ist die nichtmenschliche Lebenswelt der Dichter und Dichterinnen bevölkert von Vögeln und Fischen, Blumen, Hecken und Bäumen bis hin zu »Berg und Wasser« (shān-shuǐ 山水) – so der chinesische Ausdruck für »Landschaft«. Die übergreifende Situation von Um- und Mitwelt ist in den Gedichten nicht nur zusätzlich, »bloß« atmosphärisch präsent. Auch sind die tagesund jahreszeitlich wechselnden Stimmungen von Landschaft 48 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Altersstrategien zwischen Tun und Nichtstun

und Natur mehr als nur »Spiegel« der Befindlichkeit, vielmehr untrennbar mit dem Spüren verwoben. So fein lassen die Gedichte der Männer und Frauen die Töne klingen, dass der ganze Bildeindruck ebenso erhalten bleibt wie das Empfinden, ungeteilt mittendrin zu sein: »Klagend rauscht der Herbstwind durch das öde Tal, die grünen Kräuter verlieren ihren letzten Duft.« Kaiser und Reich. Identifikation mit der politischen Situation von Kaiser und Reich ist in den Gedichten von Du Fu, Li Qingzhao oder Lu You mehr als präsent: »Nach der Schlacht viel neuer Geister Weinen. Traurig singt ein alter Mann allein. Der Abendstreif von Wolken tief zerzaust. Der Wind verwirbelt Schnee zu wildem Tanz.« (Raffael Keller) Erst recht nehmen Staat und Politik bei Su Shi großen Raum ein, da er sozialen Missstand anklagt, wo immer er ihm begegnet. Schon das erste Exil hatte ihm eines seiner Gedichte eingebracht, die im Lande kursierten. Nur knapp war er damals, 43-jährig, der Todesstrafe entkommen. Ratlos, ja verstört fragt er sich: »Wozu soll das gut sein, das Urteil über Richtig und Falsch?! Es gleicht dem Zirpen von Insekten, das jahreszeitlich in der Stille verstummt.« Und kann es doch nicht lassen, denn zwei weitere Verbannungen folgen. Wenn am Ende des ersten Kapitels trotz der ungleichen Quellenlage ein Vergleich zwischen den Geschlechtern gewagt sein soll, so könnte es folgender sein: Die Männer, aufmerksam dem Leben und Altern zugewandt, registrieren die Vielfalt körperleiblicher Anzeichen, reflektieren die Neuartigkeit der Erfahrung und finden zu originellen Bildern, humorvoller Selbstbeschreibung oder auch wie Du Fu zu einer Art Galgenhumor: »Weicher in die Grube fällt, wer lustig locker bleibt. Närrischer im Alter noch, ein Narr sich selbst verlacht!« (Raffael Keller) Aller Beschwerden zum Trotz arrangiert man sich, so gut es geht, mit dem letzten Endchen Leben: »Traurig fürwahr! Aber soll ich deshalb hassen den Herbst und seinen Trauerlauten grollen?«, fragt Ouyang Xiu (1017–1072). Auch Yuan Mei denkt bei 49 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Befinden und poetische Reflexion

Frühlingsblüten nicht zwanghaft an Endlichkeit und Vergänglichkeit: 花下攤書卷 花落多落旁 想來花意思 也似愛文章 他年再翻看 還恐有餘香

huā xìa tān shūjuǎn huā luò duō juǎnpáng xiǎnglái huā yìsī yě sì aì wénzhāng tāníán zài fānkàn hái kǒng yǒu yú xiāng

Blüten fallen ins offene Buch, Blüten fallen zuhauf daneben. Als liebten jene die Literatur. Übers Jahr nehm’ ich das Buch wieder blätternd zur Hand, verweilt womöglich ein Blütenduft! 33

So kontrastiert das »Dennoch« der Männer mit den »Seufzern« der Frauen: Von Kindheit an auf die inneren Gemächer verpflichtet, in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt, setzt beim weiblichen Geschlecht im Alter nichts Neues ein. Entweder ist der Ehemann oder Geliebte über alle Berge oder weilt schon nicht mehr unter den Lebenden. Übergangslos setzt sich, so scheint es, die Grundstimmung aus Einsamkeit, Melancholie und Resignation im Alter fort, verstärkt durch Krankheit oder besonders prekäre Lebensumstände wie im Falle der Li Qingzhao. Die Einbettung in übergreifende Situationen, insbesondere der Familie, ist beiden Geschlechtern gemeinsam. Gemeinsam auch das Bedürfnis nach Entkommen in leibliche Weite. Während die Männer sich im hohen Alter noch im Freien herumtreiben, wirken die Fluchtbewegungen der Frauen entschieden zurückgenommen, ja virtuell: Ihr künstlerisches Schaffen – Malen, Musizieren und Dichten – scheint weniger Folge ihres Erlebens zu sein als das Erleben selbst.

50 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

II

Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung

Lange vor Beginn der philosophischen Besinnung im fünften Jahrhundert vor Christus (siehe V) kursieren in der Region, die wir Nordchina nennen, medizinische Praktiken für den Fall gesundheitlicher Probleme. Auch die mit dem Alter verknüpften Beschwerden wollen bald medizinisch durchdrungen sein. Davon handelt der erste Abschnitt (II.1). Von Anfang an ist »rechtes« Verhalten gegenüber Ahnen und Mitmenschen Garantie für das eigene Wohlergehen. Sogar Sündenbekenntnisse helfen, wenn es darum geht, Schmerz und Krankheit zu vertreiben. So kommt es, dass alle traditionell-chinesischen Medizin- und Heilsysteme auch prophylaktisch ausgerichtet sind. Die Empfehlung, auf sich selbst zu achten, begünstigt früh in der Geschichte die Hinwendung zu Körperund Leibtechniken, die langes Leben versprechen. Von dieser Art Lebensbewahrung, die mit Tàijí 太極 und Qìgōng 氣功 auch bei uns angekommen ist, soll im zweiten Abschnitt die Rede sein (II.2).

II.1 Alterszeichen der Medizin Seit den Anfängen chinesischer Zivilisation im zweiten vorchristlichen Jahrtausend herrscht der Glaube an eine Seinsgemeinschaft, die Lebende und Verstorbene gleichermaßen umfasst. Aus der Sorge, von gut- und böswilligen Geistern abhängig zu sein, entstehen nacheinander die altchinesische Ahnen- und Dämonenmedizin. Ein Jahrtausend später formiert sich eine Heilkunde etwas anderer Art, die kosmische Korrespondenzen und Resonanzen in Rechnung stellt, ohne Geister 51 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung

und Götter zu bemühen: eine nüchterne und doch auch komplexe Sicht auf Mensch und Welt. 34 Die dämonologischen und magisch-sympathetischen Vorstellungen hat sie nie ganz verdrängen können, gewinnt aber in der aufgeklärten Bildungselite zunehmend an Überzeugungskraft. Noch die heute sogenannte Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) führt darauf zurück. Ob in den frühen Heilsystemen der alte Mensch besondere Beachtung verdient, darüber lässt sich nur spekulieren. Am ehesten passiv aufgrund der Nähe zu den Ahnen oder aktiv in Gestalt erfahrener Priester und Schamaninnen. Die Resonanzmedizin aber nimmt von der zeitgenössischen Philosophie die Hochschätzung des Alters (siehe V). Auch die Vorstellung vom »rechten Zeitpunkt« (shí 時), der über Gesundheit und Krankheit, Diagnose und Therapie entscheidet, ist ein Erbe altchinesischer Philosophie. Damit kommen zwangsläufig Eigenheiten der unterschiedlichen Lebensalter in den Blick. Tausend Jahre früher als in Europa entsteht in China eine eigenständige Kindermedizin, die dem Interesse der Ahnen an zahlreichem Nachwuchs entgegenkommt. Für die Lebenszeit an der Schwelle des Todes gilt »sowohl Thematisierung als auch De-Thematisierung« (siehe V). Das heißt Alter ist einerseits relevant, andererseits auch wieder nicht, denn – aller Besonderheiten zum Trotz: die Symptom- und Erklärungsmuster sind dieselben! Zunächst geht es um den natürlichen Alterungsprozess (II.1.a), gefolgt von der Diagnose altersbedingter Kümmernisse (II.1.b), zuletzt um altersspezifische Therapieverfahren (II.1.c).

II.1.a) Natürliches Altern Den eigenen Vorfahren verdankt der Mensch die »vorgeburtliche Essenz« (xiān-tiān-jīng 先天精), ererbter Vorrat an Lebenskraft. Im Verlauf des Alterns erschöpft sie sich, ohne dass sie sattsam zu regenerieren wäre – über Atmung oder Ernährung 52 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Alterszeichen der Medizin

als Wege der Zufuhr »nachgeburtlicher« Vitalität (hòu-tiān 後 天). Bei diesem ersten Befund sind bereits drei Organsysteme unterstellt, die am Vorgang natürlicher Alterung entscheidend beteiligt sind: die Niere als Sitz der Essenz, der vor- und nachgeburtlichen; die Lunge als Speicher der lebenserhaltenden und -verlängernden Atemzüge; Magen und Milz als Organsysteme der Nahrungsverteilung, des Ausgleichs und der Mitte. Gleich zweimal versteht die Resonanzmedizin den Menschen als Mikrokosmos. Zum einen sind im menschlichen Körperleib die kosmischen Kräfte Yīn-qì 陰氣 und Yáng-qì 陽氣 am Werk; zum anderen laufen hier Austauschprozesse ab, vergleichbar dem Transport- und Konsumgeschehen in einem Staat. Nicht von ungefähr entsteht die Resonanzmedizin zeitgleich mit der Entwicklung des zentralisierten Kaiserreiches. Mensch wie Staat durchzieht ein Netz aus Flüssen und Seen, medizinisch: Leitbahnen und deren Verästelungen, auf denen sich Lebensgüter resp. Lebenskräfte Blut und Qì hin- und herbewegen zwischen Konsum und Vorratshaltung in den »Palast- und Speicherorganen«. Dem Herzen als Herrscher in diesem »Staat« stehen andere Organsysteme hilfreich zur Seite, unmittelbar benachbart die Lunge als »Minister zur Rechten und Linken«, die Leber als »General«, der Dickdarm als der für den Transport zuständige »Beamte«. Gefühle und Emotionen, zunächst atmosphärisch als von außen andrängend wahrgenommen, sind zu dieser Zeit ins Innere des Menschen verlegt und als Prozesse der Lebenskraft Qì auf verschiedene Organsysteme verteilt. Dem Speicherorgan Herz, der Freude zugeordnet, unterliegt zugleich die Entscheidung über das, was angemessen ist, damit das feine Zusammenspiel von Körper, Leib und Geist gewahrt bleibt. So gesehen ist das Herz zwar Sitz der Freude, zugleich aber auch Sitz des Bewusstseins, der Intelligenz, der Moral und Kontrollinstanz für alle Gefühle. »Herzlos« ist der Mensch, wenn er Urteilskraft und Kontrollvermögen aussetzt und in der Absichtslosigkeit verweilt (siehe I.2.b). Der Geist shén 神, das Feinste vom Feinsten 53 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung

der kosmischen Lebenskraft, der im Körperleib seine Kreise zieht, hält sich mit Vorliebe im Herzen auf, doch nur wenn es leer ist von aufwühlenden Gedanken und Emotionen (siehe III.1.b). Resonanzmedizinisch gesehen ist Altern ein Prozess zunehmender Schwächung (shuāi 衰) und Austrocknung (gǎo 槁) und so gesehen ein Verlust an Harmonie. Beim Mann, der kosmischen Kategorie Yáng zugeordnet, beginnt er mit 5 � 8, das heißt mit vierzig Jahren, relativ früh im Vergleich zu der in den meisten Textgattungen genannten Alterszeit (siehe I.1.a): Das Nieren-Qì nimmt ab, die Haare gehen verloren, die Zähne trocknen aus. Mit 6 � 8 Jahren nimmt das Yáng-Qì ab, der obere Bereich trocknet aus, das Gesicht schlägt Falten (jiāo 焦), Haare und Schläfen werden grau oder weiß (bīn-bái 頒白). Mit 7 � 8 Jahren nimmt das Leber-Qì ab, die Muskeln verlieren an Bewegungskraft. Mit 8 � 8 Jahren erschöpft sich die Fruchtbarkeit, denn Samenkraft und Nierenspeicher sind gänzlich leer. Der ganze Körperleib (xíng-tǐ 形 體) nähert sich dem Ende. 35

Beim weiblichen Geschlecht, der kosmischen Kategorie Yīn zugeordnet, setzt er bereits mit 5 � 7, das heißt mit 35 Jahren ein: »Mit 6 � 7 Jahren ist das Gesicht von Runzeln durchfurcht, die Haare färben sich weiß; mit 7 � 7 Jahren versiegt die Fruchtbarkeit; nichts geht mehr den Weg der Erde (Uterus). Der Körper verfällt, die Frau bekommt keine Kinder mehr.« Neben den genannten Alterszeichen an Zähnen, Haaren, Muskeln und Haut lassen wie bei den Dichtern die Sinne zu wünschen übrig: »Mit Fünfzig wird der Körper schwerfällig, die Ohren und Augen verlieren an Hör- und Sehkraft und Konzentrationsfähigkeit.« Zu allem Übel beeinträchtigt die schwindende Lebenskraft auch den Lebensmut, eine Funktion des Herzens: »Ab Sechzig beginnt das Herz-Qì abzunehmen; man neigt dazu, traurig und bekümmert zu sein (yōu-bēi 憂悲).« Auch von altersbedingter Sprechnot ist die Rede – als Atemgeschehen 54 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Alterszeichen der Medizin

eine Lungenfunktion: »Mit Achtzig nimmt das Lungen-Qì ab, und das Sprechen fällt schwer.« Schlafstörungen, die auch den Dichtern (I.1.b) zu schaffen machen, erklärt die Resonanzmedizin aus der geschwächten Lebensessenz: Beim alten Menschen nimmt die Lebenskraft von Blut und Qì ab. Das Fleisch trocknet aus. Nur mit Mühe halten die Leitbahnen die Qì-Zirkulation aufrecht. Die Qì der Fünf Speicherorgansysteme liegen im Streit, das Nähr-Qì wird schwächer, das Abwehr-Qì greift das Innere an. So mangelt es tagsüber an essenzieller Lebenskraft (bù-jīng 不精), und in der Nacht findet man keinen Schlaf. 36

Die in den Medizinklassikern wiederkehrende Zahl »Hundert« als Lebensziel scheint hochgegriffen: »Die Menschen heutzutage erreichen meist nur die Hälfte.« Im Unterschied zu den »vorbildlichen Menschen« im hohen Altertum, die noch wussten, beim Essen und Trinken maßvoll zu sein (yǒu jié 有節), zwischen Zeiten der Arbeit und Ruhe zu wechseln und die Kräfte nicht übermäßig zu strapazieren (zuò-láo 作勞). So nährten sie beides: Körperleib und Geist (xíng yǔ shén 形與神) und vollendeten die vom Himmel zugedachte Lebensspanne. Der Mitte verbunden, kannten sie kein Altern. Die Ohren blieben hellhörig, die Augen klarsichtig, die Poren dicht geschlossen, die Muskeln weich, Qì und Blut im Fluss. Jenseits der Acht Weltgegenden wandernd zwischen Himmel und Erde, tragen sie Yīn und Yáng auf ihren Händen (bǎ–wò yīn-yáng 把握陰陽) und leben zeitlos im Dào. 37

Den Wunsch, über die Hundert hinaus zu leben, greift ein traditionelles Witzbuch auf: Ein alter Mann (lǎo-wēng 老翁) feiert seinen hundertsten Geburtstag. Einer der Gäste wünscht ihm »ein langes Leben (shòu 壽) von 120 Jahren«. Der Alte daraufhin sichtlich erzürnt: »Du musst mich nicht ernähren, nicht für mich sorgen! Warum setzt du ein Limit auf meine Lebenszeit und gönnst mir nicht ein paar Hunderter mehr?« 38

55 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung

II.1.b) Altersbeschwerden Demnach finden sich im Alterskatalog der Resonanzmedizin an typischen Beschwerden: Sehschwäche, Schwerhörigkeit und Sprechstörung, Schlaflosigkeit, Verdauungsprobleme, Gliederschmerzen, Trübsal, allgemeine Schwäche und Austrocknung. Mit Gedächtnisverlust und Verwirrtheit sind alle auch in den Altersgedichten genannt, mit Ausnahme der Sprachstörung, denn nach wie vor sind die Dichter Meister im Selbstausdruck. Kommt Krankheit hinzu, kann das im Alter zum Tode führen. Besonders gefürchtet: Infektionskrankheiten, wie Pocken, Cholera, Influenza und Typhus, die im vormodernen China epidemisch grassieren. Seit der Tangzeit (618–905) nimmt die Resonanzmedizin die Umweltbedingtheit bestimmter Leiden wahr: Malaria, die Du Fu zu schaffen macht, Wurmkrankheiten und die an sich harmlosen Sandflöhe in Sichuan, die Liu Zongyuan (773–819) zusetzen, da aus den Bissen böse Furunkel entstanden: »… seltsame Geschwüre wie Nägel in meinen Knochen, wie Pfeile in meinem Fleisch«. Berufsbedingte Krankheiten diagnostiziert die Resonanzmedizin seit der Mittleren Kaiserzeit (9.–13. Jahrhundert), das heißt Gesundheitsschäden bei Arbeitern im Steinbruch und Silberschmieden, die sich im fortgeschrittenen Alter zu schweren Gefährdungen auswachsen. Berufsbedingt auch die Sehschwäche der alternden Dichter. Von Kindesbeinen an, wenn ein Beamter oder Gelehrter daraus werden soll, sind die Augen übermäßig beansprucht – immer wieder forciert in Phasen der Vorbereitung auf die staatlichen Prüfungen: »Ohne Lampe, ohne Kerze, meine Bücher erleuchtet der helle Mond«, klagt Meng Jiao (751–814). Andere teilen durch ein Loch in der Wand mit dem Nachbarn das trübe Kerzenlicht oder haben, über die Bücher gebeugt, neben sich den Sack voll Glühwürmchen. Wen wundert’s, dass China die Brille erfunden hat, wenn auch erst im 15. Jahrhundert. An diagnostischen Verfahren (zhěn 診) hält die Resonanz56 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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medizin mehrere Methoden bereit: zu allererst das »Fragen« (wèn 問) nach der Befindlichkeit, einschließlich der ausführlichen Lebensgeschichte; das »Betrachten« (wàng 望), zum Beispiel der Zunge sowie charakteristischer Gesichtslinien, ein Erbe der alten Physiognomik; das »Riechen und Hören« (beides: wén 聞) als Aufmerken auf Körpergeruch und Stimme. Und nicht zuletzt das »Tasten« (qiè 切). So lässt sich am Punkt tài-xī 太溪 (Großer Bergbach), nah der Achillessehne am Innenfuß gelegen, auf Nierenschwäche schließen, wenn der Punkt muldenförmig eingesunken ist. Er kann sich auch überwärmt anfühlen, weich oder gespannt, fest oder teigig – mit jeweils unterschiedlicher diagnostischer Aussagekraft. Bei aller Differenzierung gründet die anfängliche Diagnose weniger auf isolierten Sinnesdaten als auf Gesamteindrücken und beansprucht die ungeteilte Aufmerksamkeit des Arztes, der auf seine Erfahrungen zurückgreift oder »seiner spontanen Eingebung vertraut« (xìn-wù 信悟). Oft ist der erste Eindruck von der Vitalität (shén-zhì 神志) des Patienten entscheidend. Die schwierigste und zugleich am meisten aussagekräftige Tastmethode ist die Pulsdiagnose, die beim Tasten feinfühliges Spüren verlangt: Ob der Puls oberflächlich oder tief liegt, ob er rast oder gemächlich schlägt, regelmäßig oder unregelmäßig (Rhythmus), ob er »leer« (xū 虛) ist oder »voll« (shí 實) (Intensität) – das so erspürte Pulsbild gibt differenzierten Aufschluss über krankhafte Veränderungen von Blut und Qí. Allein beim älteren Menschen lassen sich mehr als zwanzig verschiedene Pulsarten unterscheiden, allesamt bildkräftig und in ganzen Eindrücken umschrieben: Ein oberflächlicher Puls fühlt sich an wie »eine Holzstange, die auf dem Wasser treibt«, ein tiefliegender wie »ein Stein, der ganz unten im Wasser liegt«. Ein schneller und unregelmäßiger erinnert an »Vögel, die Nahrung aufpicken« oder an »Sesamkörner, die durcheinanderpurzeln«; ein leerer Puls ist »fein wie Spinnfäden«, ein straff gespannter wie »ein stark verdrehtes Seil«. Nach den ersten Untersuchungen sind im nächsten diagnos57 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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tischen Schritt typische Störmuster ausfindig zu machen (biànzhèng 辯證): Stagnation von Qì, Blut oder anderer Körpersäfte, die schon erwähnten Zustände von Schwäche, Leere, Fülle, Hitze, Kälte von Yīn-Qì oder Yáng-Qì – sei es in den Leitbahnen oder in den Organsystemen. Beim alten Menschen sind dies vorrangig Niere und Lunge, Magen und Milz (siehe oben). Das ganze Bild ist hochkomplex, auch in sich widersprüchlich: eine chaotisch-mannigfaltige Situation, aus der sich, anhand bestimmter Kriterien, Probleme und Sachverhalte explizieren lassen. Diese hat der Arzt in die eine oder andere Richtung auszuloten und auszudeuten, je nach Wissen und Gespür. Beschwerden in den Altersgedichten der Männer. Du Fu – in seinem letzten Lebensjahrzehnt mehr geplagt als alle anderen hier versammelten Dichtergreise – leidet an Sehschwäche, Schwerhörigkeit, Atemnot und einer Lähmung im Arm. Kurz vor seinem Tod erwähnt er die »Windkrankheit« (fēngbìng 風病), vermutlich eine Art Glieder deformierender Rheumatismus. Er stirbt an einem Hirnschlag oder Fieber unbekannter Herkunft. Aus seinen Altersgedichten spricht eine Melancholie, die in ganz ungewöhnlichen Bildern nach Ausdruck verlangt: »Im schmalen Kahn nutzlos treibend – fort ins Greisenalter.« »Zur vierten Stunde spucken die Berge den Mond hinaus in die Nacht.« Auch spricht er nur sehr zurückgenommen über sein mehrfältiges Leid: »Zum zweiten Mal blüh’n die Chrysanthemen. Krank im Bett. Kein Bote aus dem Norden. Nur die Wildgänse – ohne Mitgefühl.« Anders Bo Juyi, der sich fast lustvoll über seine Zipperlein verbreitet. Allein zwei seiner Gedichtserien sind überschrieben mit: »Gedichte während meiner Krankheit verfasst«, im ersten Fall fünf, im zweiten fünfzehn, ohne die Einzelgedichte zu zählen, die ganz oder teilweise seinen Nöten gewidmet sind, allen voran der ausgeprägten Sehschwäche:

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Alterszeichen der Medizin

散亂空中千片雪 蒙籠物上一重紗 縱逢暗景如看霧 不是春天亦見花

sàn luàn kōngzhōng qiānpiàn xuě ménglóng wùshàng yīchóngshā zòngféng ànjǐng rú kàn wù bú shì chūntiān yì jiàn huā

Als wirbelten tausend Schneeflocken in der Luft. Als wär’ ein Schleier über die Dinge gebreitet und wie von Nebel verdüstert das Land. Noch ist nicht Frühling, und doch sind da Blumen zu seh’n. 39

Altersprobleme von Su Shi haben mit dem letzten Exil auf Hainan zu tun, einer abgelegenen Insel im südchinesischen Meer: »Die Malaria-Dämpfe der vergangenen drei Jahre stören mich schon nicht mehr. Was ich fürchte, ist der Nordwind, der meinen Körper entzündet und mit Frostbeulen überzieht.« Die extreme Lebensweise in der Verbannung nimmt ihn so sehr mit, dass er sich – nach der Amnestie schon auf dem Weg in die Heimat – von einer Darminfektion nicht mehr erholt: »Esse ich, ist mein Bauch wie aufgebläht; esse ich nicht, fühl’ ich mich außerordentlich schwach. Die ganze letzte Nacht bis zum Morgengrauen kein Auge zugetan, aufrecht im Bett, von Stechmücken geplagt.« Auch Yuan Mei kommt in den Gedichten wiederholt auf seine Magen- und Darmbeschwerden zu sprechen und schildert in immer neuen Bildern das leidige Auf und Ab: 一病經年矣 周流總不除 升沉似飛鳥 來往類游魚 未泊先催棹 將行又卸車 小兒真造化 戲我欲何如

yī bìng jīng nián yǐ zhōuliú zǒng bù chú shēngchén sì fēiniǎo láiwǎng lèi yóuyú wèi bó xiān cuī zhào jiāng xíng yòu xiè chē xiǎoér zhēn zàohuà xìwǒ yù hé rú

Ein Jahr schon mit dieser Krankheit befasst die sich im Kreise dreht, steigt und fällt wie ein Vogel, der fliegt, kommt und geht wie ein Fisch hin und her.

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Als ob man, kurz vorm Ankern, hastig die Ruder ergreife oder kurz vor der Abfahrt den Wagen wieder entlädt. Wahrlich, die Schöpfung – ein launisches Kind, spielt mit mir und weiß nicht, wie oder was! 40

Angesichts dieser vielseitigen Beeinträchtigung glaubt man den alternden Dichtern, die sich immer wieder einmal matt, mutund kraftlos fühlen, traurig (yōu 憂) und bedrückt (mēn 悶). In einem solchen Zustand vermerkt Lu You dankbar: »Alles, was noch geht, ist ein Wunder!«

II.1.c) Therapeutisches An Therapieformen kommen in der Resonanzmedizin – neben Kräuterheilkunde – von Anfang an Akupunktur zhēn 針 und Moxibustion jiǔ 灸 zum Einsatz, letzteres das Abbrennen von Heilkräutern auf der Haut. Im Alter als Prozess zunehmender Schwächung und Austrocknung empfehlen sich Erwärmung und Bewegung bei Nieren-Yáng-Schwäche, umgekehrt Befeuchtung und Kühlung bei Nieren-Yīn-Schwäche. Verdauungsproblemen – infolge von Yīn-Mangel im Magen oder in der Niere – rückt man mit Kräuterabkochungen auf den Leib. Gelobt wird auch die schlichte Bauchmassage. Bei altersbedingten Gliederschmerzen – als Qì-Stagnation infolge von Windund Kälteeinwirkung oder Feuchtigkeit – helfen Akupunktur und die eine oder andere Abkochung. Über die Namen der für Nadel- und Moxabehandlung empfohlenen »Punkte« – in Wirklichkeit »Vertiefungen« (chin. xué 穴, Höhle, Loch) – erschließt sich häufig die erwartete Wirkkraft: So soll die Nadelung und Erwärmung des Punktes yǎng-lǎo 養老, wörtlich »das Alter nähren«, Nähe Handgelenk auf der Außenseite des Armes gelegen, die Dünndarm-Leitbahn durchgängig machen. Die Behandlung verspricht sogar Abhilfe bei altersbedingter Hör- und Sehschwäche, da der Dünndarm-Meridian zu Ohren und Augen zieht. Auch bei 60 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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der im Alter erhöhten Kälteempfindlichkeit bietet sich der yǎng-lǎo an. 41 Wenn es weiter heißt, dieser Punkt unterstütze den Reifungsprozess, so spricht auch dies für die Ganzheit des resonanzmedizinischen Menschenbildes: Alle Reifungsprozesse sind mit der Wandlungsphase Feuer verknüpft: Nun ist der Dünndarm als Yáng-Organ dem Herzen (Yīn) beigeordnet und damit der Wandlungsphase »Feuer« und der Gefühlsregung »Freude«. Der alte Mensch tut also gut daran, sich an der Wandlung zu erfreuen, statt über Vergangenes zu grübeln. Heitere Gelassenheit, den männlichen Dichtern auf den Leib geschrieben, lautet also auch resonanzmedizinisch die Indikation bei Alterstrübsal und -melancholie. Heitere Gelassenheit als Ausdruck menschlicher Reifung! Für den yǎng-lǎo steht damit fest, wie für alle anderen nadelbaren Vertiefungen, dass die Aktivierung nicht nur bei »körperlichen« Beschwerden hilft, wie Hör- und Sehschwäche, sondern auch gespürtes Leidbefinden zu lindern vermag bis hin zur Altersdepression. Auch die Kräutermedizin ist nicht auf rein körperliche Wirkung beschränkt. Mensch und Heilkraut gehören denselben kosmischen Dimensionen an: Arzneien, die das Schicksal nähren, sind dem Himmel zugeordnet, Arzneien, die Krankheit vertreiben, der Erde. Wenn vom Schwinden der Lebenskraft, von Schwäche- und Leere-Zuständen die Rede ist, von Hitze, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit und Wind, dann handelt es sich um Phänomene, die beide, Patient und Arzt, spürend wahrnehmen – ersterer als etwas vom eigenen Leib, letzterer als etwas am eigenen Leib. Auf diese Weise bleiben die Muster medizinischer Deutung an die Alltagserfahrung zurückgebunden. Daran ändern auch abstraktere Zahl- und Analogiestrukturen, Zyklen- und Symbolfiguren nichts: Immer schimmert durch die diagnostizierten Phänomene der Boden der Erfahrungswelt. Mit anderen Worten: Lebensnähe bleibt gewahrt – bei allem Anspruch auf universale und kosmische Geltung resonanzmedizinischer Erkenntnis. 61 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung

An den bildhaft umschriebenen Eindrücken der Pulsdiagnose (siehe oben) zeigt sich, wie wenig dieser Medizin an messbaren Befunden gelegen ist. Arzt und Patient haben in der gemeinsamen Situation vielmehr leiblich mit einander zu tun. Dabei begegnen auch Qualitäten, die über die Sinnesorgane vermittelt sind. Entscheidend am gespürten Puls aber ist das blitzartige Gewahrwerden, »was los ist« – an Sachverhalten und Problemen. Aus allem ergibt sich das jeweilige therapeutische Programm. Den Altersgedichten nach greifen einige der Dichter sehr wohl auf die Errungenschaften der Resonanzmedizin zurück, ja, sind sich bewusst, eine ganze Profession in Atem zu halten: »Der Hund bellt nicht einmal mehr, wenn der Doktor (yī-rén 醫 人) durchs Hoftor tritt.« Gleichzeitig verraten die Gedichte ein tiefes Misstrauen gegenüber Ärzten, Heilern und deren Arzneien, die teuer sind und womöglich mehr Schaden anrichten als helfen. Du Fu klagt, dass er um ein Haar an einer Akupunktur- und Moxa-Behandlung gestorben wäre, und Lu You weiß: »Die Medizin ist keine Wunderkunst. Fühl ich mich krank, warte ich, ob sich mein Zustand nicht von selbst beruhigt, auch ohne Arznei!« Uneingeschränktes Vertrauen der Dichter verdient allein die Kräutermedizin, zumal Du Fu, Su Shi und Lu You selbst Kräuter im Umland sammeln, trocknen und lagern, an Bedürftige verteilen oder wie Du Fu für den Lebensunterhalt verkaufen. Über Namen und Heilwirkung der verwendeten Arzneien ist aus den Gedichten selbst nichts zu erfahren. Doch riecht man geradezu beim Lesen und Rezitieren die zum Trocknen ausgelegten Kräuter, »deren Duft sich mit dem Duft von Tee und Räucherstäbchen mischt«. Um wieviel ergiebiger Briefe sein können, wenn es um Kommunikation von Beschwerden und Therapien geht, zeigt die in Fragmenten erhaltene private Korrespondenz des Wang Xizhi (303–361), der kein Dichter war, aber ein, ja der Meister der Kalligraphie und Teil der Gelehrtenkultur. Wie ernst die Aus62 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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sage über sein Alter zu bewerten ist: »Ich befinde mich bereits in meinen Dämmerjahren« (mín-nián yǐ xī–xī 民年以西夕), sei hier dahingestellt. Wang Xizhi war offenbar von kränklicher Konstitution. Nur einmal lautet die frohe Botschaft, er sei »bei ausgezeichneter Gesundheit« (tǐ-qì jí-jiā 體氣極佳). Meistens fühlt er sich »schwach« (liè 劣), »miserabel« (wú-lài 無賴) und »siech« (léi-fá 羸乏). An Beschwerden sind durchgängig Appetitund Schlaflosigkeit genannt, Müdigkeit, Erbrechen und Durchfall, vermutlich Symptome eines chronischen Magen-Darmleidens, hier xīn-tòng 心痛 genannt, wörtlich: »Herz/Brustschmerzen«. Hinzu kommen Schmerzen all-überall von den Zähnen über Schulter und Nacken bis in die Hüften und Beine. Seine Kenntnis von medizinischen Zusammenhängen, die er in den Briefen ausbreitet, ist kein Expertenwissen. Wohl ist neben Qì-Mangel (fá-qì 乏汽) die Rede von klimatischen, das heißt jahreszeitlich bedingten Einflüssen, die in der Resonanzmedizin als die »Sechs extremen Einflüsse« (liù-yín 六淫) geführt sind. Diese werden aber in jedem Alltag von jedem erfahren und gegebenenfalls als beschwerlich empfunden: Wind (fēng 風), schneidende Kälte (hán-qiē 寒切/lěng 冷), Sommerhitze (dà-rè 大熱/shǔ 暑) und Feuchtigkeit (shī 濕/zhēng-shī 蒸濕) bzw. anhaltender Regen, der ihm die Beine schwellen lässt (zhǒng 腫/zhǒng-shuǐ 腫 水). Auch den Dichtern setzen Frost und Winterkälte zu und im Alter vor allem die feuchte Sommerhitze. Und wie die Dichter zeigt Wang Xizhi wenig Vertrauen in Akupunktur und Moxibustion. Letztere erwähnt er nur, wenn sie hilfreich war. Umso häufiger nennt er Kräuter, aber auch mineralische Stoffe wie das inzwischen hinlänglich erforschte »Fünf-Steine-Pulver« (wǔ-shí-sàn 五石散) oder »Kaltes-Essen-Pulver« (hán-shí-sàn 寒食散), ein Stimulans, das Spuren von Arsen enthält. Wang Xizhi’s Briefwechsel, so fragmentarisch er auch sein mag, bestätigt die Vorliebe der Gelehrtenkultur für die Medizin der Kräuter und ein medizinisches Grundwissen, das beim Phänomen als subjektiver und situativer Befindlichkeit verbleibt. 42 63 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung

II.2 Lebenspflege und Alterspflege Altern als Verlust von Mitte und Harmonie, zusätzlich gefährdet durch Leere- und Schwächezustände, am Ende Krankheit gar! So der Befund der Resonanzmedizin. Hier setzt vorsorglich die Kultur der Lebenspflege (yǎng-shēng 養生) an: ein bis ins hohe Alter fortgeführtes Bemühen, mit Hilfe von Körperleibtechniken das Leben zu verlängern, wenn nicht Unsterblichkeit zu erreichen oder wenigstens vital den Lebensabend zu genießen. Atemlenkung ist charakteristisch schon für die frühe Pflege des Lebens. Die Entwicklung hin zu einem umfassenden Lebenspflegesystem, einschließlich der Äußeren und Inneren Alchimie, ist im ersten Abschnitt zu betrachten (II.2.a). Dass Sexualität als Ausdruck von Lebenskraft der besonderen Art den Adepten der Lebenspflege am Herzen lag, versteht sich von selbst – ohnehin ein Muss in der auf Nachwuchs für die Ahnen bedachten Gesellschaft. So geht es im zweiten Abschnitt um die Lust zwischen »Mann und Frau« (nán-nǚ 男女) und die Frage, welche Bedeutung ihr im Alter beschieden ist, wenn sich die Fruchtbarkeit erschöpft (II.2.b). Zuletzt steht das Begehren von Essen und Trinken zur Diskussion und im Falle von Mäßigung deren Beitrag zur Leib- und Lebenspflege der Menschen in der fortgeschrittenen Lebenszeit (II.2.c).

II.2.a) Nähren von Atem- und Lebenskraft (yǎng-Qì 養氣) Das bisher älteste Zeugnis altchinesischer Lebenspflege, eine Inschrift aus dem vierten Jahrhundert vor Christus, ziert den aus Jade gefertigten Knauf von einem Wanderstock. Sie gibt Auskunft über das Sammeln und zirkuläre Führen von Qì durch Körper und Leib:

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Lebenspflege und Alterspflege

Wird die Lebenskraft (Qì) geführt, sammelt sie sich. Hat sie sich gesammelt, dehnt sie sich aus. Hat sie sich ausgedehnt, bewegt sie sich nach unten. Hat sie sich nach unten bewegt, kommt sie zur Ruhe. Ist sie zur Ruhe gekommen, festigt sie sich. Hat sie sich gefestigt, beginnt sie zu keimen: Hat sie gekeimt, wächst sie. Ist sie gewachsen, kehrt sie zurück. Ist sie zurück, gelangt sie zum Himmel (Kopf). Die Wurzel des Himmels ist oben, die Wurzel der Erde unten. Wer dem folgt, der lebt. Wer dem zuwiderhandelt, der stirbt. 43

Das »Führen von Qì« (xíng-qì 行氣), das »Ausspucken und Aufnehmen« (tǔ-nà 吐納) sind nur zwei einer Reihe von frühen Wortzeichen für jene Atempraxis, die damals schon – lange vor dem offiziellen Auftreten des Buddhismus in China im ersten nachchristlichen Jahrhundert – vom altindischen Yoga beeinflusst sein mag. Bei diesem Text geht es vermutlich um Atemlenkung während der Meditation. Dass Atemübung von gymnastischen Bewegungen begleitet sein kann, legt das Zhuangzi nahe. Neben mindestens drei »Meditationsanleitungen« über das Buch verstreut, beschreibt Kapitel 15 eine Bewegungsabfolge, bei der Tiere zu imitieren sind: hier Bär und Vogel, die uns im späteren Tierspiel wieder begegnen: Schnaubend ein- und ausatmen, altes Qì ausstoßen (tǔ 吐), um neues aufzunehmen (nà 納), tapsen wie ein Bär, flattern wie ein Vogel – und dies alles nur der Langlebigkeit wegen (shoù 壽)! So treiben es die Adepten, die das Leiten (dǎo 導) und Dehnen (yǐn 引) praktizieren, und alle jene, die ihren Körperleib nähren wollen (yǎng-xíng 養形), um so lange zu leben wie Pengzu. 44

Die Ironie zwischen den Zeilen ist kaum zu übersehen, war dem philosophischen Daoismus doch daran gelegen, nicht absichtsvoll einzugreifen in den Lauf der Dinge. Erleuchtung: Ja! Angestrengtes Bemühen um Langlebigkeit oder gar Unsterblichkeit: Nein! Wie eifrig der altchinesische Adel tatsächlich mit dieser Art Lebenspflege befasst war, bestätigten spektakuläre Grabfunde der 1970er und 1980er Jahre: Grab Nr. 3 von Mawangdui (Provinz Hunan), in das Jahr 168 vor Christus datiert, enthielt neben fünf medizinischen Texten auf Seide, Bambus und Holz 65 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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allein sechs zur Lebenspflege. Obwohl vorrangig mit Sexualtechnik befasst, ist auch von anderen Pfeilern der Lebenspflege die Rede: vom ausgewogenen Lebenswandel in Abstimmung mit den Jahres- und Tageszeiten, von Maß und Mitte beim Essen und Trinken, ausreichend Schlaf und nicht zuletzt: Bewegung. Die größte Überraschung aus diesem Grab war ein Seidenbild, im Nachhinein Daoyintu 導引圖 genannt: »Plan zum Leiten von Qì und zum Dehnen der Muskeln und Sehnen«. Darauf sind 22 weibliche und 22 männliche Gestalten in verschiedenen gymnastischen Positionen abgebildet, die zum Teil im heutigen Qigong wiederzuerkennen sind. Vereinzelte Zeichen neben den Figuren deuten auf eine damit verknüpfte Lautund Atemübung. Ein kaum jüngerer Text aus einem nördlich davon gelegenen Grab liest sich wie die Erläuterung zu dieser Illustration. In den Jahrhunderten nach der Zeitenwende erfuhr die Pflege des Lebens – von jetzt an auch so genannt: yǎng-shēng 養生 (das Leben nähren) – eine Systematisierung und Anreicherung unterschiedlicher Herkunft. Nunmehr umfasst das System komplexere Atem- und Bewegungsübungen, raffiniertere Sexualtechniken, verschiedene Formen meditativer Praxis, Selbstmassage, diätetische Maßnahmen, unter anderem Verzehr von Kräutern und Pilzen, die Rezitation von Zauberformeln und Mantren – Anreicherungen, die in der Terminologie oder im Repertoire des heutigen Qigong ihre Spuren hinterließen, sind die Alchimie, die Tierspiele und die Sechs-Laute-Praxis: Äußere und Innere Alchimie. Die alte Sehnsucht des Menschen, »diesseits der Zeit aus der Zeit und diesseits des Todes aus der Vergänglichkeit auszubrechen« (Hans Christoph Binswanger), führte auch in China nach der großen Zeitenwende um Christi Geburt zur fieberhaften Suche nach dem Lebenselixier, in Form der »Pille der Unsterblichkeit«. Dass Adepten der Lebenspflege bei ihren Experimenten mit Mineralien – vor allem Zinnober, eine rotfarbige Queck66 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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silberschwefelverbindung (HgS) – nicht selten ein vorzeitiges Ende fanden, ist die Ironie der Geschichte. Namhafte Vertreter der Gelehrtenkultur hatten sich bald der Äußeren Alchimie (wài-dān 外丹) verschrieben. Voran Xi Kang (223–262), begnadeter Dichter und Musiker, der kurz vor seiner Hinrichtung im jungen Alter von vierzig Jahren eine Abhandlung zur Lebenspflege verfasst; erst recht Ge Hong (280–340), dessen Lebenswerk Baopuzi bald zum Klassiker alchimistischer Lebenspflege avanciert. Seither zeugt der dreifüßige Kochkessel in traditionellen Körperleibschemata von der Spur der Alchimisten ebenso wie die auf Bauch, Brust und Kopf verteilten »Zinnoberfelder« (dāntián 丹田), die als intensiv gespürte Leibesinseln an die altindischen Chakren erinnern. In der Tang-Zeit (618–905) mehren sich die Warnungen vor den gesundheitsschädlichen Folgen der Äußeren Alchimie. Spricht Li Taibo (701–761) in den frühen Gedichten begeistert über den Verzehr von Zinnober und magischen Pilzen in Gesellschaft daoistischer Mönche, so zeigt sich zwei Generationen später ein anderes Bild: Bo Juyi (772–846) findet in einem seiner Gedichte nur bittere Worte über die lebensverkürzende Wirkung dieser Langlebigkeitspraxis – zumal zwei seiner Freunde schwer daran erkrankt und einen frühen Tod gestorben sind: Yuan Zhen (779–831), Gefährte der Nonne Xue Tao (siehe I.2.), und Han Yu (768–824), der Philosoph. Auch hatte sich herumgesprochen, dass einige Tang-Kaiser der Unsterblichkeitsdroge zum Opfer gefallen waren: »Am Morgen schlucken sie Sonnenessenzpillen, am Abend Herbststeinkraut.« Was der Alchimie die Spitze nahm, war die symbolische Umdeutung zur Inneren Alchimie (nèi-dān 內丹). Nun wird die Pille der Unsterblichkeit aus Zinnober, Schwefel und Quecksilber durch ein Lebenselixier aus reinem Qì ersetzt: aus der beim Atmen aufgenommenen kosmischen Energie. Bald war den Adepten auch das Atem-Qì nicht mehr rein genug. Allein das »ursprüngliche Qì« (yuán-Qì 元氣), die angeborene Lebenskraft, schien geeignet, den im Kopf lokalisierten »Embryo der 67 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Unsterblichkeit« optimal zu nähren (siehe II.2.b). Aber auch diese dem Embryo abgeschaute Atmung (tāi-xī 胎息), idealerweise ein geschlossener Atemkreis, erwies sich bald als problematisch. In der Folge setzte sich eine meditative Atempraxis durch, die der Betrachtung (guān 觀) und Lenkung der im Körperleib kreisenden Atem- und Lebenskraft dient. Auch die Verfeinerung geschieht auf meditative Weise. So kam es, dass der Mensch sich selbst nun Schmelztiegel und alchimistischer Ofen in einem war. Spätestens in der Songzeit (960–1279) hatte die Innere Alchimie die Äußere abgelöst und erfreute sich großer Beliebtheit innerhalb der Gelehrtenkultur. Umso mehr verwundert, dass in den Altersgedichten kaum davon die Rede ist. Lu You (1125– 1210) nennt immerhin den Grund, warum er der Inneren Alchimie abgeneigt ist: Mangel an Disziplin! Er greift zum Besen, zumal ohnehin gefegt werden muss: 亦以平氣血 按摩與 引導 雖善卻多事 不如掃地去延年

yì yǐ píng qì-xuè àn-mò yǔ yǐn-dǎo suī shàn què duō-shì bù rú sǎo-dì qù yán-nián

So bringt der Besen Blut und Qì in Harmonie! Massage, Gymnastik, Atemlenkung – gewiss nicht zu verachten, sie erfordern aber Disziplin! Nichts übertrifft das Fegen, will man die Jahre verlängern. 45

Auch Su Shi beklagt in Briefen sein mangelndes Durchhaltevermögen, bewundert Bruder und Freunde, die mit mehr Konsequenz bei der Sache sind. Tierspiele. Schon in vorchristlicher Zeit glaubte man, durch Imitation bestimmter Tiere mit Schritten und Tänzen sich deren Kraft und Geschmeidigkeit einzuverleiben. Daraus entwickelt im dritten nachchristlichen Jahrhundert der Arzt Hua Tuo eine Bewegungstherapie für den kranken Neffen: Mit Bär, Vogel, Tiger, 68 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Hirsch und Affen entspricht sein Repertoire dem heutigen »Spiel der Fünf Tiere« (wǔ-qín-xì 五禽戲) 46, nur dass der Vogel als Kranich spezifiziert ist: Symbol der Langlebigkeit wie die Schildkröte (siehe III.1.c). Auch bei den Adepten der Alchimie sind Tierimitationen beliebt. Ge Hong (siehe oben) empfiehlt über die genannten Tiere hinaus den Drachen, den Hasen und die Taube, die letzten beiden auch als Yoga-Asanas bekannt. Sechs Laute (liù-zì 六字). Das Tönen, schon im Zhuangzi und auf dem Seidenbild von Mawangdui präzisiert, mag ursprünglich dem indischen ŌmSingen nachempfunden sein. Es setzt die altchinesische Praxis des »Ausspuckens und Aufnehmens« (siehe oben) fort, wobei kräftiges Ausatmen schlechtes Qì ableitet, damit beim Einatmen frisches Qì aufgenommen werden kann. Die Integration von langsam und klar artikulierten Tönen in das chinesische Resonanzdenken bis hin zur Entwicklung des heutigen Sechs-LauteQigong erfolgt schrittweise: zunächst als Zuordnung zu den jahreszeitlichen Atmosphären, um ein Zuviel an Trockenheit, Feuchtigkeit, Hitze oder Wind abzuleiten. Seit dem fünften Jahrhundert sind die sechs Laute nicht nur den jahreszeitlichen Atmosphären zugeordnet, sondern auch Palast- und Speicherorganen. Zuletzt kommt im zehnten Jahrhundert die passende Bewegungsfolge hinzu. Alle Praxissysteme der Lebenspflege sind mit Blick auf gesundes Altern konzipiert und in besonderer Weise für alte Menschen geeignet, ob die Aufmerksamkeit nun bei der meditativen Atemlenkung verweilt, bei der Abfolge der Bewegungen im Stehen oder Sitzen, beim Tönen oder allem zusammen (siehe Anhang »Qigong am Brunnen«). Lob des Gehens. Auch wandernd unterwegs zu sein, ist Teil der Lebenspflege der Gelehrtenkultur. Das heißt mehr als tausend Jahre bevor Europa im Zuge von Aufklärung und Romantik die »Natur« entdeckte, 69 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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pflegten chinesische Männer der Oberschicht sich in der Landschaft zu ergehen und Qì zu atmen. Aus guten Gründen: Schon im Buch der Lieder korrelieren Erscheinungen der Natur mit menschlicher Empfindung, verschwimmen Gefühlsatmosphären und Emotionen. Spätestens mit dem Zhuangzi, Kultbuch der Dichter und Gelehrten, das mit dem Satz beginnt: »Frei und ungehindert umherschweifen« (xiāo-yáo-yóu 逍遥遊), wird Wandern über Berg und Tal programmatisch für die Suche nach der Einheit mit Kosmos und Natur. Auch unser Wort »Wandern« hat etymologisch mit Wandlung/Verwandlung zu tun. Die Aufforderung im Zhuangzi, »ohne Spuren zu wandern«, zielt auf die Absichtslosigkeit des wú-wéi (siehe I.2.b): Spuren verraten Richtung und Ziel. Wer aber nah den Dingen wandert (shén yǔ wù yóu 神與物遊), weil er »mit dem Wandern der Dinge Schritt hält« (Han Byung-Chul), bleibt in der »Herzlosigkeit«. Was die Buddhisten »hängen an« und »anhaften« nennen, ist diese Art Herzspur im Denken und Handeln, die es zu vermeiden gilt. Insbesondere die Berge sind Orte der Freiheit, Zurückgezogenheit und Erleuchtung: »Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler« (Goethe). Seit der Hanzeit (206 v.–220 n. Chr.) bis heute sind die sogenannten Fünf Berge (wǔ-yuè 五嶽) beliebte Pilger- und Opferstätten: der Taishan 泰山 im Osten (Provinz Shandong), der Huashan 华山 im Westen (Provinz Shenxi), der Songshan 嵩山 in der Mitte (Provinz Henan), ein Hengshān 衡山 im Süden und ein Hengshān 恆山 im Norden. Hinzu kommen die mit dem Buddhismus verknüpften Bergmassive: allen voran der Wutaishan 五臺山 in der Provinz Shenxi und der Emeishan 峨嵋山 in der Provinz Sichuan. Hier liegen verstreut in der Landschaft zahllose Klöster und Tempel, verborgener (yǐ 隱) noch: die strohbedeckten Hütten daoistischer und buddhistischer Einsiedler. Klöster und Tempel für eine Nacht der Meditation, Mönche und Äbte als Gesprächspartner sind in den Altersgedichten der Männer beliebter Anlass für Aufbruch und Wanderung. 70 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Ein Jahrhundert, bevor Tao Yuanming (365–428) den Rückzug aus dem Amt und die Heimkehr auf sein Landgut zelebriert (siehe I.2.c), hatte Pan Yue (247–300), damals fünzigjährig, denselben Schritt getan: seinen Abschied genommen, »um die alte kranke Mutter zu pflegen«. In der »Rhapsodie über das Wohnen in Muße« besingt er das Glück, wenn die Lebensumstände eins sind mit dem Herzenswunsch: »Bald speisen wir im Walde, bald feiern wir Feste am Ufer. Ich blicke auf zu den Wundern der Natur, lass’ alle ehrgeizigen Pläne fahren. Bis zu meinem Tode will ich umherschweifen und meine Dummheit pflegen.« Etwa zeitgleich mit Tao Yuanmings Gedicht »Oh, Heimkehr« (siehe I.2.c) schreibt Xie Lingyun (385–433) die »Rhapsodie vom Leben in den Bergen«. Ihm bedeutet Rückzug in die Natur: Rückkehr in die Kindheit und – zu seinem besseren Selbst: Als ich das Haar noch in Zöpfen trug, wünschte ich sehnlichst, mir treu zu bleiben. Doch von den Dingen dieser Welt verführt, wandelte sich mein Sinn … Beschmutzt und erschlagen bat ich nun die reine wilde Natur um Vergebung. Krank und erschöpft stand ich beschämt vor den altvertrauten redlichen Menschen. Bei meinen Wanderungen durch das Land den Bambusstock in der Hand erklomm ich auch den letzten Gipfel, durchquerte endlos Flüsse und Ströme. Mein Haus, an einer Flusskrümmung gelegen, wurde neu gedeckt, dazu ein Aussichtsturm errichtet, der auf einer Bergspitze aufragt. Dann winkte ich zum Abschied und versprach den Nachbarn, dass ich wiederkommen würde in drei Jahren von heut’. Und bat sie, Ulmen und Katalpen zu pflanzen, deren Holz taugt für einen Sarg, und mich mit diesem Wunsch ja nicht allein zu lassen, denn hier will ich meine letzte Ruhe finden. 47

Xie Lingyun soll sogar eine Art Wandersandalen erfunden haben mit abnehmbaren Stollen, um desto trittfester bergauf und bergab unterwegs zu sein. Einer der großen Wanderer der Tang-Zeit (618–905) war Lu Yu (733–804), Verfasser der klassischen Schrift vom Tee (Chajing) (siehe II.2.c). Als Findelkind in einem buddhistischen Kloster aufgewachsen, zieht es ihn auch später immer wieder in die Berge und Klöster zurück: 71 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Oft schweife ich allein durch unbewohnte Gegend, Sutras singend, alte Gedichte rezitierend, mit dem Stock an die Bäume schlagend, mit der Hand im fließenden Wasser spielend. Geruhsam wandere ich kreuz und quer vom ersten Sonnenstrahl bis zum Einbruch der Nacht. Wenn ich dann im Dunkeln heimkehre, weine ich Tränen vor lauter Glückseligkeit. 48

Wanderlust – in Wind und Wetter, bei Wolken oder Sonnenstrahl – zehrt von der eigenmächtig-atmosphärischen Wirkung von Landschaft und Natur. Beim Menschen löst das Umherschweifen eine Gestimmtheit leiblicher Weitung aus. Mit Sehen, Hören, Riechen und Tasten rundet sich das Spüren zur vollen Sinnlichkeit. Im Wechsel zwischen rhythmischem Ausschreiten und Innehalten, anders gesagt: zwischen Engepol (im Schatten der Bäume) und Weitepol (Ausblick) wächst das Glück, ein Teil des Ganzen und zugleich bei sich selbst zu sein. Künste als Lebenspflege. Wenn Qì als Lebenskraft in allem haust und west und wirkt, wenn meditatives Sein oder Tun Qì hegen und pflegen und mehren kann, sind Atem- und Bewegungspraxis zwar Lebenspflege im engeren Sinne. Im weiteren Sinne aber sind alle Künste der Gelehrtenkultur »Arbeit am Qì«, so die wörtliche Bedeutung von Qìgōng 氣功: Dichtung, Kalligraphie und Malerei, Musik, Wohn- und Gartenkunst. 49 Letztlich ist jedes »Verwirklichen von Freude« (xíng-lè 行樂) Pflege des Lebens – von der Gesunderhaltung von Körper und Leib bis hin zu meditativer und spiritueller Selbstkultivierung.

II.2.b) Sexualität und Alter Sexualität ist im Schrifttum des vormodernen China eher Mittel zum Zweck: Wollte der Konfuzianismus aus dem Kontext des Ahnenkultes heraus die Lust von Mann und Frau (niǎo-lè 嬲 樂) auf Ehe und Konkubinat beschränken, so hofften Adepten 72 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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der Lebenspflege auf Langlebigkeit und Unsterblichkeit dank geschlechtlicher Vereinigung. Sexualhandbücher. Aus den Anfängen chinesischer Liebeskunst im zweiten Jahrhundert vor Christus liegen allein drei Schriften zum Sexualleben vor, einschließlich der Rezepturen für Liebeszauber. Geschlechtsspezifisch differenziert gilt das höchste Lustgefühl auf Seiten der Frau als »große Beglückung« (dà-yùe 大悅), »salzige Süße« (yán-gān 鹽甘) oder auch »große Freude« (dá-xǐ 大喜), auf Seiten des Mannes als »höchstes Glücksgefühl« (zhìshán 至善), ein Geisteszustand »großer Leuchtkraft« (shén-míng 神 明), die den ganzen Menschen durchströmt, genauer gesagt: den Mann. Denn hier liegt die Asymmetrie der frühen und aller nachfolgenden Sexualtraktate. Aus der Perspektive des Mannes geschrieben und an den Mann adressiert, sind sie mit seiner Lebenskraft befasst und seiner Erleuchtung. 50 Im Ablauf detailreich und anschaulich geschildert, zeigt das Liebesspiel die in einander verschlungenen Körperleiber von Mann und Frau, die eins sind und zugleich zwei. Die ausgeprägte Metaphorik der frühen Texte wird gemeinhin mit der esoterischen Bestimmung erklärt, die sprachliche Verschlüsselung voraussetzt. Vor dem Hintergrund einer vorwiegend mündlichen Tradition leuchten auch die rhythmisierten Verse ein, die das Gedächtnis umso besser bewahrt. Für den Liebesakt selbst hat die poetische Sprache eine weitere Funktion, die sich phänomenologisch erschließt: Im Interesse des Mannes liegt es, den Verlauf des Sexualgeschehens zu steuern, um möglichst viel Yīn-Essenz der Frau aufzunehmen. So hat er jede spontane Äußerung von Erregung auf Seiten der Frau sorgfältig zu registrieren, vom sich verändernden Atemgeschehen über die »Fünf Seufzer« bis hin zum »Zähneklappern vor Lust«. Gleichzeitig muss ihm daran gelegen sein, im eigenen Erleben zu verweilen. Dann helfen bildhafte Eindrücke, den Spielraum zwischen Dabeisein »mit Haut und Haaren« auf der einen Seite und Distanz 73 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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auf der anderen zu nutzen: das Hin und Her zwischen personaler Emanzipation und Regression (siehe Anhang) im Sinne des »Sowohl-als-auch«, eines Pendelns um die Mitte. Dem Mann wird also Selbstbemeisterung zugemutet, wenn auch nicht distanzierte Selbstbeherrschung, während die Partnerin ganz und gar regredieren darf, ja muss, um den Partner optimal mit YīnEssenz zu versorgen. Die verschiedenen Aspekte im Genitalbereich der Frau sind ebenso differenziert geschildert wie die Zustandsqualitäten des männlichen Glieds im Geschehen. Dabei wechseln Eindrucksanalogien, die der natürlichen und menschlichen Umwelt entnommen sind (Jadetor, Mausfrau, Rote Perle), mit synästhetischen Anmutungsqualitäten (Geruch von weich gekochten Knochen): das Liebesspiel – Programm einer vollen Sinnlichkeit! Auch die einzelnen Etappen im Liebesakt, die sogenannten Zehn Situationen (shí-shì 十勢), sind phantasievoll ausgeschmückt. Die Anmutungen greifen vornehmlich auf die Tierwelt zurück, wenn »der Tiger streunt«, »die Zikade sich festhält«, »der Wasserhirsch mit den Hörnern stößt«, »die Heuschrecke ihre Flügel ausstreckt«, »der Affe klammert«, »die Kröte springt«, »der Hase hoppelt«, »die Libelle übers Wasser streicht« oder zuletzt »der Fisch sein Futter hinunterschluckt«. Die Texte aus der Zeit unmittelbar vor Christus sind nur die Anfänge einer immer raffinierteren chinesischen Liebeskunst. Zwar hat keines der Sexualhandbücher der Frühen und Mittleren Kaiserzeit 51 als Ganzes die Jahrhunderte überlebt. Der Zufall will aber, dass auf dem Umweg über Japan ein Kompendium chinesischer Medizin aus dem neunten Jahrhundert auf uns gekommen und das 28. Kapitel ausschließlich den »Techniken der inneren Gemächer« (fáng-shù/fáng-nèi 房術/房內) gewidmet ist. 52 Auch hier gilt der Sexualakt als Ritual, von dessen Bemeisterung Gesundheit, Krankheit, langes Leben abhängen sowie Unsterblichkeit oder früher Tod und nicht zuletzt Erleuchtung. Danach tut der Mann gut daran, mit jungen Mädchen zwi74 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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schen vierzehn und neunzehn Jahren zu verkehren, am besten mit Jungfrauen und möglichst mit verschiedenen in einer Nacht. In jedem Fall sei Geschlechtsverkehr mit nur einer Frau zu vermeiden, erst recht ein asketischer Lebenswandel, wenn der Mann jung und gesund ist: »Wird der Jadestock untätig, so muss der Mann sterben!« Als besonders lebensverlängernd empfiehlt die Schrift eine Art coitus reservatus: Analog zur Praxis der Inneren Alchimie (siehe II.2.a) ist der Samen des Mannes meditativ über das Rückenmark ins Hirn zu leiten, wo er in feinstofflicher Form gesammelt wird, um den hier angesiedelten »Embryo der Unsterblichkeit« zu nähren. Das setzt wiederum voraus, dass der Mann seine Yáng-Essenz nicht verausgabt und gleichzeitig möglichst viel Yīn-Essenz von der Partnerin aufnimmt. Auch hier hat er Sorge zu tragen, dass die Frau – im Unterschied zu ihm – den Orgasmus erlebt, möglichst mehrere Male, zur Mehrung seiner Lebenskraft und seiner Chancen auf Erleuchtung und Unsterblichkeit. Weibliche Sexualität. Ausdrücklich soll dafür gesorgt sein, dass die Inhalte der Sexualhandbücher Frauen nicht zugänglich sind, zumal Kapitel 28 einen Abschnitt enthält zur Lebensverlängerung beim weiblichen Geschlecht. Hier heißt es, dass die »Königinmutter des Westens« (xī-wáng-mǔ 西王母), die daoistische Himmelsgottheit, unsterblich wurde, nachdem sie zahllosen Jünglingen die Lebenskraft ausgesaugt hatte. Diese Art »sexueller Vampirismus« (Robert H. van Gulik) hat in China tatsächlich Schule gemacht: Der Fuchsgeist (hú-lí-jīng 狐狸精), der als Fabelmotiv in frühen Texten noch alles Mögliche symbolisiert, taucht in der Literatur der Mittleren und Späten Kaiserzeit vornehmlich in Gestalt schöner junger Frauen auf, die an verlassenen Orten Jünglinge aufspüren, verführen und ihnen durch Beischlaf die Lebenskraft entziehen, um die eigene Unsterblichkeit zu nähren: femme fatale im chinesischen Gewand. 75 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Dazu passt das zunehmend kriegerische Vokabular, so dass das einzige Sexualhandbuch, das Tabuisierung und Zensur der Mingzeit (1368–1644) überlebt, sich wie ein Kriegshandbuch liest: »Während ich ohne Eile bin, ist der Feind in Zeitnot und wirft seine ganze Kraft in die Schlacht. Während die Truppen aufeinanderprallen, stoße ich vor und ziehe mich zurück, ganz nach meinem Willen, brauche den Proviant des Feindes auf und erschöpfe seinen Vorrat.« Die Anweisung, in einer Nacht mit möglichst vielen Frauen sexuell zu verkehren, mag im Mehrfrauenhaushalt der chinesischen Oberschicht sinnvoll gewesen zu sein. Wie sie mit der Regel vereinbart wird, Maß und Mitte zu wahren, sei hier dahingestellt: Der Weg eines erfreulichen Lebens liegt im Nähren von Körperleib und Geist. Dieser Weg ist kein anderer als der Weg von Mitte und Maß. Die Mitte besteht im Nicht-zu-viel und Nicht-zu-wenig! Schädigungen, die durch Sexualverkehr verursacht sind, kommen in allen vier Jahreszeiten vor und sind oft Folge von Übertreibung. 53

Sexualität im Alter. Die Empfehlungen der Sexualhandbücher sind nicht frei von Widerspruch: sowohl-als-auch. Einerseits ist fortgesetztes Geschlechtsleben, zumindest auf Seiten des Mannes, selbstverständlich unterstellt: »Ein Mann mit Fünfzig hat noch nicht das Interesse am Sex verloren, während die Schönheit der Frau bereits mit Dreißig zu welken beginnt.« Andererseits ist auch beim Mann Vorsicht geboten, und zwar spätestens ab dem vierzigsten Lebensjahr, was der medizinischen Altersgrenze entspricht (siehe II.1.a): »Sobald der Mann das vierzigste Lebensjahr überschritten hat, spürt er, wie die Potenz erschlafft. Krankheiten kommen über ihn wie ein Schwarm von Bienen. Fährt er dann fort wie bisher, ist ihm nicht mehr zu helfen.« Was folgt, ist ein Zitat von Pengzu, dem chinesischen Methusalem, der, so will es die Legende, dank sexueller Meisterschaft 76 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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ein Alter von sieben- bis achthundert Jahren erlangte: »Menschliches Leben durch menschliches Leben zu heilen, ist wahre Medizin. Mit anderen Worten, hat ein Mann das 40. Lebensjahr erreicht, ist es an der Zeit, gründliche Kenntnisse in der Schlafzimmerkunst zu erwerben.« Für nicht Geübte gilt, sich ab dem sechzigsten Lebensjahr zu enthalten, denn Sexualkraft ist Nierenkraft, und Altern bedeutet Schwächung der Nieren (siehe II.1.a). Im Alter das Schlafzimmer zu meiden, kann so gesehen dem Leben dienlich sein. Dem Achtzigjährigen erlauben die Ritenbücher – neben Fleischgenuss, um bei Kräften zu bleiben – übrigens erneut eine Gefährtin im Bett, aber nur, um es schön warm zu haben! Dem Neunzigjährigen hilft auch das nicht mehr, es sei denn, er kann, wie Pengzu, aus einem langen und reichen Sexualleben schöpfen. Angesichts der konstatierten Geschlechterasymmetrie verwundert nicht, dass in Sexualtexten und Ritenbüchern vom Sexualleben der älteren Frau kaum die Rede ist, es sei denn mit Drohungen verknüpft. Wehe, die Frau versucht zu masturbieren: »Alle Machenschaften künstlicher Befriedigung sind Lebensräuber! Sie sorgen dafür, dass die Frau rasch altert, wenn nicht frühzeitig stirbt.« Hinzu kommt eine Reihe von Merkmalen auf Seiten der Frau, die für den Mann nichts Gutes verheißen: grobes Gesicht, Adamsapfel, unregelmäßige Zähne, lange Nase, Schnurrbart auf der Oberlippe, wenig Muskelfleisch, langes und steifes Schamhaar – und nicht zuletzt ein fortgeschrittenes Lebensalter: Trau keiner über Vierzig: »Ist die Frau doppelt so alt wie der Mann, mit dem sie schläft, dann schadet das dem Mann.« Auch hier ein Witz, denn die Wirklichkeit schert sich um Regeln nicht: Ein Mann entdeckt auf dem Hochzeitsbett unter dem Schleier ein Gesicht mit vielen Falten (zhòu-wén 皺紋). Nun will er genau wissen, wie alt die Angetraute wirklich ist. »45 bis 46!« erwidert sie. »In der Heiratsurkunde steht 38! Nun sag schon die Wahrheit!« – »Also, 54!«,

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lautet die Antwort. Noch immer nicht überzeugt, kommt dem Mann die Idee, sie auf die Probe zu stellen. Bevor das Liebesspiel beginnt, steht er auf, um das Salzgefäß zuzudecken, »damit die Ratten sich daran nicht gütlich tun!« Die Frau daraufhin: »Das ist ja zum Lachen! In meinen 68 Jahren hab’ ich noch nie gehört, dass sich Ratten am Salz gütlich tun!« 54

Für das männliche Geschlecht scheint es nie zu spät. Noch dem ungeübtesten Mann war zu helfen, auch jenseits der magischen Altersgrenze von Sechzig: Nadelung oder Moxa der Punkte auf Nieren- oder Blasenleitbahn versprechen Auffüllen mit Lebenskraft bei Nieren-Leere, Lenden-Schwäche, mangelndem Selbstvertrauen und Angst, Gefühl- und Ruhelosigkeit. Um das Nierenfeuer anzufachen, eignen sich in besonderer Weise die beiden Shù-Punkte der Nieren (shèn-shù 腎俞) sowie das »Schicksalstor« (mìng-mén 命門), auf der Mittelachse zwischen den Nieren gelegen, und nicht zuletzt der »Sprudelnde Quell« (yǒng-quán 湧泉), Ursprungsort der Nierenleitbahn in der Mitte der Fußsohlen. Unter den Arzneimitteln in Form von Pulver oder Pillen sind Nieren wärmende sowie Milz, Magen und Leber stabilisierende Wirkstoffe genannt, nicht zuletzt Ginseng. Die vormoderne Roman- und Novellenliteratur kennt zahlreiche und sonderbare Liebesverwicklungen, die sich in der Regel zu aller Zufriedenheit auflösen und auch frei sind von Sexualität und Schlüpfrigkeit. Erst in der Späten Kaiserzeit kursieren – als Reaktion auf die offiziell verordnete Prüderie und Zensur – im Untergrund erotische Romane und Erzählungen, die dem ausschweifenden Liebesleben ihrer Helden und Heldinnen gewidmet sind. Dem folgt im 18. Jahrhundert eine Literatur, die zarte Empfindsamkeit in den Mittelpunkt rückt und im besten Sinne romantisch genannt werden kann (siehe IV.2.c). Hier wie dort sind die Protagonisten jung! Alte Menschen kommen in der vormodernen Roman- und Novellenliteratur nur als Statisten vor: gern auch als Kupplerinnen, die Liebesabenteuer einfädeln, und bejahrte Magier, die allerlei Pillen und Wunder-

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Lebenspflege und Alterspflege

tränklein feilbieten, damit der Mann für den Potenzdruck gewappnet sei. Einblicke in das reale Sexualverhalten alter Menschen gewähren am ehesten, wenn auch zufällig und punktuell, die vor Gericht verhandelten Fälle von Sexualvergehen. In den Sammlungen authentischer Gerichtsfälle aus der Mittleren und Späten Kaiserzeit (siehe IV.2.b) treten regelmäßig Frauen auf als Opfer von Unzucht (jiān 姦), vor allem von Übergriffen seitens des Schwiegervaters. Die hohe Selbstmordrate junger Frauen in der Späten Kaiserzeit hat viel mit dieser Art Beschämung und Schande zu tun – als Folge von Missbrauch junger weiblicher Familienmitglieder durch ältere, sexuell aktive männliche Verwandte. Erotische Gedichte? Außerhalb der Familie standen dem potenten Mann in Bordellen Kurtisanen und Prostituierte zur Verfügung, bei geselligen Anlässen und Ausflügen auch Singmädchen. Li Taibo, Bo Juyi, Han Yu und Lu You spielen in den frühen Gedichten auf diese erotischen Abenteuer an und »die Freude am schönen Geschlecht« (siehe IV.2.c). In einem Gedicht aus seinem fünften Lebensjahrzehnt (!) sieht sich Lu You in Gesellschaft von Kurtisanen »in bestickter Robe und juwelenbesetztem Rock, die ihn zum Trinken animieren« und die ihn inspirieren zu einem Gedicht über »die alte Verrücktheit in mir, gedenk ich der weißen Haare auf meinem Kopf (bái-tóu 白頭)!« Bo Juyi äußert weniger Stolz als Skrupel, die er auch nicht, wie Lu You, auf sein Alter bezieht, sondern auf das Verwirklichen buddhistischer Gebote. Alle möglichen Bande hat er im vierten Lebensjahrzehnt schon abgeschüttelt: »Nur das Feuer der Liebe und des Begehrens quälen mich von Zeit zu Zeit.« Erst unter dem Eindruck von »Alter und Krankheit« (lǎobìng 老病) wird er sich 68-jährig von seiner langjährigen Gefährtin »Weidenzweig« (siehe I.1.c) trennen, einer begabten Musikerin und Kurtisane. Im Gedicht zu diesem Anlass heißt 79 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung

es ganz im Sinne der Vergänglichkeit: »Glanz und Niedergang, Freude und Kummer, Langlebigkeit und vorzeitiger Tod – all dies nur Augenblicke auf dem Spielfeld des Lebens.« Diesen Kurtisanengedichten geht jeder erotische Anflug ab, erst recht dem Gedicht des Yuan Hongdao (1568–1610), der nur noch ironisch seiner Konkubinen gedenkt und selbstironisch der im Alter »verkehrten Welt«. Wo Bo Juyi als Chanbuddhist reflektiert, endet Yuan Hongdaos Gedicht mit einer Verneigung vor dem daoistischen Mönch: 明月漸漸高 青山漸漸卑 花枝漸漸红 春色漸漸亏

míngyuè jiànjiàn gāo qíngshan jiànjiàn bēi huāzhī jiànjiàn hóng chūnsè jiànjiàn xī

禄食漸漸多 牙齒漸漸稀 姬妾漸漸廣 颜色漸漸衰

lùshí jiànjiàn duō yáchǐ jiànjiàn xī jīqiè jiànjiàn guǎng yánsè jiànjiàn shuāi

賤當狀盛日 歡非少年時 功德黑暗女 一步不相離

jiàn dāng zhuàng shèngrì huān fēi shàonián shí gōngdé hēiàn nǚ yībù bù xiāng lí

天地猶缺陷 人世總參差 何方尋至樂 稽首問仙師

tiāndì yóu quē xiàn rènshì zǒng cān chà hé fāng xún zhì lè jīshǒu wèn xiān shī

Der helle Mond steigt ganz allmählich höher, der blaue Berg wird ganz allmählich schmal, der Blütenzweig wird ganz allmählich röter, die Frühlingsfärbung ganz allmählich fahl, Gehalt und Essen ganz allmählich reicher, die Zähne werden ganz allmählich rar, mehr Konkubinen hab ich ganz allmählich, sind ihrer Anmut ganz allmählich bar.

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Lebenspflege und Alterspflege

Wir gelten nichts in unsren besten Tagen. Erst wenn wir nicht mehr jung sind, kommt das Glück. Die Fee des Heils und ihre schwarzen Schwestern begleiten sich in jedem Augenblick. Ja, Himmel ist und Erde voll von Lücken. Das Menschenleben zeigt sich kunterbunt. Wo könnten wir denn letzte Freude finden? Frag den Taoistenmönch, verneigt zum Grund! 55

Unter den Altersgedichten – weder der Männer noch der Frauen – ist meines Wissens keines, in dem aktuelles erotisches oder sexuelles Erleben als solches auch nur angedeutet sei.

II.2.c) Essen und Trinken Vor dem Hintergrund der Lebenspflege verwundert nicht, dass die vormoderne chinesische Diätetik die Wechselwirkung zwischen Nahrung und Sexualität unterstellt. Das Vokabular für beide Gelüste ist austauschbar: »Ich will Honig in meinen Händen«, und der Genuss alkoholischer Getränke belebt die inneren Gemächer sowie die in Literatur und Malerei geschilderten Beischlafszenen. Umgekehrt kann der Verzehr bestimmter Speisen die sexuelle Potenz herabsetzen, und »der Penis sinkt kraftlos herab«. Erst recht sind Medizin und Ernährung mit einander verknüpft: »Medizin und Nahrung haben denselben Ursprung« (yī shí tóng-yuán 醫食同源). Bis heute kommentieren chinesische Kochbücher den medizinischen Wert der verwendeten Nahrungsmittel; umgekehrt greifen Ärzte bei ihren Abkochungen auf Nahrungsmittel zurück, die in keiner Küche fehlen. Dem Zusammenhang von Nahrung und Gesundheit wird bereits in den Jahrhunderten vor Christus Aufmerksamkeit geschenkt. Spätestens seit der Tangzeit (618–905) ist auch begrifflich zwischen Diätetik (shí-liáo 食療) und Medizin (yào 藥) unterschie-

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Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung

den als zwei Weisen therapeutischer Behandlung. Grundsätzlich soll ärztliche Intervention immer diätetisch beginnen: Der Charakter von Arzneien ist heftig und hart, wie die Soldaten des Kaisers. Wie könnte man Soldaten, die sich wild und ungestüm gebärden, bedenkenlos agieren lassen? Wer Medizin praktiziert, muss zuerst wissen, woher die Krankheit rührt und welche Schädigung dafür infrage kommt. Dann ist durch Umstellung der Ernährung zu behandeln. Wenn diese Behandlung nicht fruchtet, erst dann sind Arzneien zu verordnen. 56

Chinesische Sprichwörter reden auffallend viel vom Essen, das alltäglich oder festlich begangen immer Grund zur Freude ist: vom rechten Zeitpunkt, von den Zutaten bis hin zur Ausgewogenheit der Geschmäcker. Schon im Ritenbuch der Zhou (Zhouli) sind sechzig Prozent des Personals im königlichen Palast mit Wein und Speisen befasst. Auch das Buch der Riten (Liji) nennt verschiedene Gerichte für bestimmte Anlässe: Um satt zu werden, soll jeder Mann täglich vier Schalen Reis oder Getreide (fàn 飯) zu sich nehmen. Über den jeweiligen Anteil an Gemüse-, Fisch- oder Fleischgerichten (cài 菜) entscheiden Rang und Lebensalter: Dem hohen Würdenträger stehen acht Gerichte zu, einem nachgeordneten sechs, einem sechzigjährigen Mann drei, einem siebzigjährigen vier und einem achtzigjährigen fünf. Neben dem fàn-cài-Prinzip sind Nahrungsmittel bis heute nach den thermischen Qualitäten »heiß und kalt« klassifiziert; zu ersteren gehören ölhaltige, fettige Speisen, aber auch die Sojabohne als Eiweißlieferant. Als thermisch kalt gelten: Krustentiere, Milch, stark wasserhaltige Pflanzen. Der kosmischen Einbettung der Nahrung entspricht die Einteilung nach Yīn oder Yáng und nach den Fünf Wandlungsphasen (wǔ-xíng 五行): Holz-Feuer-Erde-Metall-Wasser, denen wiederum die Fünf Geschmäcker (wǔ-wèi 五味) zugeordnet sind: Sauer-Bitter-Süß-Scharf und Salzig. Getränke, ob Quelloder Regenwasser, ob »geschmolzener Wintertau« oder Tau auf

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Lebenspflege und Alterspflege

den Blüten von Hibiskus und Lotus, sind, wie nicht anders zu erwarten, der Wandlungsphase »Wasser« zugeordnet, Getreide (fàn) der »Erde«, Gemüse, Fleisch und Fisch (cài) dem »Feuer«. Unabhängig vom Temperaturverhalten kann Braten und Kochen den Charakter der Speisen verändern: aus »kalt« »heiß« machen und umgekehrt. In seinem Hauptwerk Beiji qianjin yaofang widmet Sun Simiao (581–682?) ein ganzes Kapitel der Ernährungsmedizin. Er greift dabei auf vielfältiges Material zurück, wie die Klassiker der Resonanzmedizin, Lebenspflegetexte, Kräutermedizin und nicht zuletzt auf altüberlieferte Kochbücher. Altersspezifisches Essen. Eingedenk der Warnung, »den Leib von angestrebten hundert Jahren nicht über dem Geschmack eines einzigen Augenblicks zu vergessen«, treffen Nahrungsgebote und Nahrungsverbote vor allem den älteren Menschen, erst recht den älteren Patienten. In Abwandlung des dem Konfuzius zugeschriebenen Satzes: »Mit Siebzig konnte ich meines Herzens Wünschen folgen, ohne die Grenzen zu überschreiten« (siehe IV.1.c), lautet die diätetische Regel für die fortgeschrittene Lebenszeit: »Was dem Körper guttut, ist das, worauf ich Lust habe« (Barbara Temelie). Obwohl Ernährung von Anfang an Teil der Lebenspflegepraxis ist, fehlen in den frühen Texten von Mawangdui (2. Jahrhundert v. Chr.) Nahrungsanweisungen für ältere Menschen. Die Empfehlung, beim Essen und Trinken, Schlafen und Tun auf Maß und Mitte zu achten, ist nicht altersspezifisch. Wer aber alt werden will, der mache sich Selbstbeschränkung und Selbstgenügsamkeit umso mehr zur Tugend (siehe V.2) und – »der greife zu Bärlauch«, schon der Gleichlautung wegen von jiǔ 韭 (Bärlauch) und jiǔ 久 (lange Zeit): Früh im Jahr nimmt Bärlauch das Qì des Himmels und der Erde auf. Wer also kummervoll, ängstlich, verzagt und verschreckt ist, wird aufgerichtet, sobald er Bärlauch zu sich nimmt. Wessen Augen trüb sind, der esse Bärlauch, und er wird wieder klarsichtig! Wessen Ohren taub

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sind, der esse Bärlauch, und er wird wieder hellhörig! Wer in den drei Frühlingsmonaten Bärlauch zu sich nimmt, bleibt von Krankheit und Beschwerden verschont: Muskeln und Knochen gedeihen umso kräftiger. Aus all diesen Gründen nennt man Bärlauch den König der Gräser. 57

Weder das Huangdi neijing, Klassiker der Resonanzmedizin, noch das Baopuzi (siehe II.2.a), Klassiker der Lebenspflege, nehmen das späte Lebensalter gesondert in den Blick. Erst Sun Simiao widmet im Nachfolgewerk zur oben genannten Schrift dem alten Menschen ein eigenes Kapitel unter dem Titel »Der rechte Weg, das Alter zu nähren« (yǎng-lǎo zhī dào 養老之道). Dem altvertrauten Ausdruck yǎng-lǎo verleiht er eine etwas andere Bedeutung: Statt der von alten Menschen passiv erlebten Pflege, Zeichen kindlicher Pietät (siehe IV.2.a), fordert Sun Simiao als Buddhist (siehe V.2.c) jeden auf, eigenverantwortlich »Sorge zu tragen für sein Altern« (yǎng-lǎo), und warnt vor dem leichten Sinn der Jugend: Hat der Mensch die Fünfzig erreicht, wird sein Yáng-Qì schwächer, der Schaden nimmt täglich zu, und allmählich schwindet die Kraft des Herzens; man vergisst das naheliegend Vergangene und wird träge. In jungen Jahren aber schweift man freudig umher, schätzt vom eigenen Zustand nur Ausgelassenheit und Müßiggang. Plötzlich sind die Haare grau! Und jetzt erst merkt man, dass das Leben sich erschöpft. Von einem solchen Wandel hat man keinen Nutzen. 58

Mehr als in anderen Lebensphasen verlangt das Alter Ausgewogenheit in der Lebensweise: Mitte und Maß! Ausdrücklich warnt Sun Simiao davor, angestrengt zu arbeiten, Augen und Ohren übertrieben zu beanspruchen, sich übermäßig zu bewegen, sich Stimmungsschwankungen hinzugeben. Kommt er auf die dem Alter angemessene Ernährung zu sprechen, so rät er zu warmen Lebensmitteln. Du Fu hätte ihm zugestimmt. Im Gedicht an den Spender der Frühlingszwiebeln heißt es: »Deren Duft und Wärme entheben mich der Sorgen um den kalten Greisenbauch« (Raffael Keller, siehe I.2.c). Auch Rohes und Fet-

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Lebenspflege und Alterspflege

tes sind im Alter zu vermeiden, umso mehr ist darauf zu achten, regelmäßig und langsam zu essen. Bei Verdauungsproblemen empfiehlt er alten Menschen Spinat, Ingwer oder Bärlauch. Weitere fünfhundert Jahre sollte es dauern, bis mit dem Buch Yanglao fengqin shu (Zur Pflege der Alten und Sorge für die Eltern) ein Werk vorliegt, das sich ausschließlich mit altersspezifischen Problemen und mit der für alte Menschen geeigneten Nahrung befasst. Im Vorwort heißt es, übereinstimmend mit Sun Simiao: »Wenn eine ältere Person erkrankt, ist zunächst die Ernährung umzustellen. Erst wenn dies fehlschlägt, setze man Arzneimittel ein.« Chen Zhi (1078–1085?), Autor dieser ersten eigenständigen chinesischen Altersdiätetik, zählt sechzehn Leiden auf, die in einer vorgerückten Lebenszeit an der Tagesordnung sind: Taubheit, Ohrgeräusche, Sehschwäche, trockener Mund, Hämorrhoiden und die allseits bekannten (siehe II.1.b). Im Unterschied zu Sun Simiao, der mit nur sieben Rezepten aufwartet, sind hier 232 Rezepte zusammengestellt, davon allein 162 für leicht verdauliche Speisen in Form von Suppen, Getreidebrei, gedünstetem Gemüse und Mehlkuchen. Wie Sun Simiao empfiehlt auch Chen Zhi dem alten Menschen Speisen, die in Geschmacksrichtung und Temperaturverhalten ausgleichend sind oder neutral. Alle Nahrungsempfehlungen sollen – dem medizinischen Altersbefund entsprechend (siehe II.1.a) – die Mitte stützen, das heißt Magen und Milz, und das Organsystem der Niere füllen, Sitz der Lebenskraft. Dazu eignen sich: gedünstetes Lammoder Hühnerfleisch, Milch und Eier oder Meeresfrüchte, Sesam, Walnüsse oder Lotossamen. Immer wieder lautet die Aufforderung, im Alter vor Extremen auf der Hut zu sein, also regelmäßig zu essen und nie zu viel: Über die Stränge schlagen ist das Privileg der Jugend (siehe IV.2.c). Auch die Altersdiätetik aus dem heutigen China erklärt Altersbeschwerden – häufiges Wasserlassen, Durchfall, Austrocknung und innere Kälte – mit chronischer Milz-Qì-Schwäche und Nieren-Yáng-Mangel (siehe II.1.a). Zur Abhilfe wird 85 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung

hochwertige, vor allem pflanzliche Eiweißnahrung empfohlen. Unter den Wandlungsphasen gebührt der »Erde« als der Mitte mit ihren mild-süßen Grundnährstoffen ein Vorrang: Pflanzenöle, geklärte Butter, Nüsse, Samen, Fleisch und Fisch, Eier und Hülsenfrüchte sowie Vollkorngetreide, Kartoffeln und stärkehaltiges Gemüse. Die anderen Vier Wandlungsphasen bzw. Geschmacksrichtungen »tanzen förmlich um die Mitte herum« (Barbara Temelie). Dem Trinken ist in den altersdiätetischen Empfehlungen wenig Raum gewidmet, so selbstverständlich und unkompliziert war und ist der Genuss von warmem Wasser. Nicht für jeden und jederzeit erschwinglich war grüner Tee, dessen erste Verkostung dem Göttlichen Landmann (shén-nóng 神農) zugeschrieben wird. Lange Zeit zählt Tee zur Gattung der Heilkräuter. Seit dem achten Jahrhundert begleitet er als Bewusstsein schärfendes Getränk die Meditation und alle anderen Künste der Gelehrtenkultur: Dichtung, Kalligraphie, Malerei. Essen und Trinken in den Gedichten der Männer. Nicht nur der – wegen Trunksucht früh pensionierte – Lu You leidet immer wieder Hunger. Liest man seine Verse nach Stichworten, scheinen die aufs Essen bezogenen Zeilen alle anderen zu überbieten: »Die Mönche, die sich mit einer Schale Reis begnügen, lachen über mich, der ich ständig beschäftigt bin, meinen Mund zu stopfen.« Auch Su Shi bangt in Zeiten des Exils um ein täglich’ Mahl: »Der Hut zu groß, der Gürtel zu weit. Der Küchenknabe in Sorge! Der Sohn und ich: zwei magere Unsterbliche – leicht genug, um rittlings auf dem gelben Kranich in die Heimat zu entfliehen.« Erst recht scheint die Armut Du Fu auf den Fersen zu sein und im Gefolge: Hunger. Ihm »fällt der Löffel aus der Hand«, wenn er nur an die Hirse denkt auf dem Acker seines Neffen, »die inzwischen herangereift sein muss«. Und Tao Yuanming ist sich nicht zu stolz, in einem Gedicht seinen Bettelgang ins Dorf zu schildern und wie daraus Freundschaft entstand. 86 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Lebenspflege und Alterspflege

So mag die für die späte Lebensphase empfohlene Vereinfachung der Dinge: »täglich nur eine Mahlzeit und zwei Tassen Tee« auch einer gewissen Altersarmut geschuldet sein, nicht nur der Einsicht in die Tugend der Genügsamkeit oder religiösen Gründen. Lu You ist jedenfalls unendlich dankbar für eine Suppe aus schlichtem Reis und Taro: »… satt davon wärme ich mich in der Frühlingssonne, verwundert: Womit habe ich das verdient?« Nur beim Genuss von Alkohol scheint Selbstbeschränkung fehl am Platz. Von Li Taibo »ein guter Rat: Verweigere den Becher nie!« »Dich hier zurückzunehmen! Worauf wartest Du!« Auch Su Shi ist den Gedichten zufolge mehr als einmal tief im Wein, »als ob meine Seele verloren wär’ (jiǔ luò hún 酒落魂)«. Von Bo Juyi stammt die Losung »Lebensbewahrung durch den Wein« (yǐ jiǔ yǎng-shēng 以酒養生) – zumal Reiswein oder Hirseschnaps im Winter die Kälte vertreibt, zu allen Jahreszeiten die Lebensfreude steigert und aus dem »vom Wein durchtränkten Zinnoberfeld« umso reichlicher die Verse sprudeln: »Wie diesen trägen Tag verbringen? In der bleichen Wintersonne einen Becher warmen Wein, einen Beutel voller Reime.« Geselligkeit mit Nachbarn oder Freunden, daheim oder draußen am Fluss, zumal unter Bäumen im Wald oder auf freiem Feld, ist stets Anlass für volle Krüge, volle Becher, zumal die feuchtfröhliche Runde den daoistisch-chanbuddhistischen Tugenden Natürlichkeit, Spontaneität, Witz und Kreativität nur zuträglich sein kann. Auch als Vorwegnahme seliger Erleuchtung kommt Weingenuss gerade recht. Zuweilen lesen sich die Gedichte wie Trinklieder, wenn auch auf hohem Niveau. Neben Wein ist auch Genuss von grünem Tee Anlass für Verse oder ein ganzes Gedicht, zumal Tee als Bewusstsein schärfendes Getränk auch im Nachhinein den Rausch vertreibt. Kaum löst sich unterm Bambusbesen das Pulver im Wasser, steigt zartgelber oder sattgrüner Blütenschaum auf: »Sein Duft erfüllt den Raum, dringt tief in Mark und Bein, vertreibt den Kummer von der Brust.« 87 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung

Dass man sich am Tee ebenso wie am Wein berauschen kann, führt erstmals der Dichter Lu Tong (790–835) vor: Die erste Schale feuchtet mir Lippen und Kehle; die zweite löst meine Einsamkeit und Melancholie; bei der fünften Schale ist die Reinigung von Fleisch und Knochen vollzogen; die sechste ruft mich zu den Unsterblichen. Die siebente – ach, ich kann nicht weitertrinken. Ich liebe den kühlen Windhauch, der meine Ärmel hebt. Wo ist Penglai – die Insel der Seligen? Lasst mich auf diesem lieblichen Winde fahren. 59

Auch Li Qingzhao (1084–1155?) scheint – beim Ratespiel mit ihrem Mann über Zitate aus den Klassikern – allein vom Tee in Ekstase zu geraten: »Ob die Angaben richtig waren oder falsch, entschied über Gewinnen und Verlieren und darüber, wer zuerst die Schale Tee zum Mund führen durfte. Hatte ich gewonnen, brach ich jedes Mal schon beim Heben der Schale in ein Gelächter aus, so dass sich der Tee über unsere Kleider ergoss.« 60 Das erste Gedicht über den »nephritfarbenen Schaum« wird Li Taibo (701–762) zugeschrieben. Darin dankt er seinem Neffen, einem Chan-Mönch, für die kostbare Gabe von Sichuan-Tee – mit dem vielversprechenden Namen »Die Hand des Unsterblichen«. Im Vorspann zu diesem Gedicht heißt es ganz im Sinne der Lebenspflege: Am Ufer des Wasserlaufs gedeiht ein Teestrauch. Niemand kommt hier vorbei außer einem alten Mann, dem Meister der Jadequelle, der hier verweilt, um die Blätter zu pflücken. Er ist über achtzig Jahre alt, doch sein Gesicht ist zart wie Pfirsich und Pflaume. Denn darin ist dieser ungewöhnliche Tee von anderen Sorten verschieden: Er bringt die Jugend zurück, vertreibt die Schwäche und verspricht langes Leben. 61

Schon das sprudelnde Geräusch sà-sà 颯颯 kurz vorm Kochen, das an Wind und Regen erinnert, weckt die Lebensgeister: »Kaum, dass unter bedächtigem Rühren die duftgrüne Wolke himmelwärts verweht, ist die Brust geklärt und erfüllt von Poesie.« Die raffinierte Ästhetik der chinesischen Teekultur, die verändert in der japanischen Teezeremonie bewahrt ist, verlangt ein 88 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Lebenspflege und Alterspflege

feines Gespür für Teesorten, Zeitpunkt der Ernte, Teewasser und Teegeschirr: Ich liebe den früh, ich liebe den spät gepflückten Tee. Am Fuße des Inselblick-Berges habe ich eine Teeplantage angelegt. Über zehn Rechnungsblöcke füllen die jährlichen Pachteinnahmen, die ich verwende für Teekannen und Teeschalen. Auch habe ich ein Buch über die verschiedenen Teesorten verfasst. In einer Studie über Teewasser sind sieben Güteklassen unterschieden: an zweiter Stelle ist die Felsenquelle vom Hui-Bergkloster genannt, an dritter der Felsbrunnen vom Tigerhügelkloster und an sechster der Wusong-Fluss. Alle drei Gewässer und Wasserqualitäten sind für mich in einer Entfernung von weniger als hundert Meilen erreichbar. So besuchen mich denn immer wieder Äbte und Eremiten und teilen meine Liebe zum Tee. 62

Wie alle chinesischen Künste ist der Tee-Weg (chá-dào 茶道) 63 zuallererst eine Körper-Leibesübung, wo alle Sinne und in der Gestaltung der Teeräume alle anderen Künste beteiligt sind. Er mag allein, zu zweit oder in größerer Gesellschaft »begangen« werden. Als meditativer Akt ist er, wie der Vollzug einer TàijíForm, ein vom Menschen rituell nachkomponiertes kosmisches Geschehen. 64 Nur weil er Teil davon ist, gelingt ihm diese »leibhaftige« Resonanz. Was Lu Guimeng (gest. 881) seinen teespezifischen Ausführungen folgen lässt, ist aufschlussreich für eine Entwicklung, in deren Verlauf sich verstärkt seit der Mittleren Kaiserzeit (10.– 13. Jahrhundert) die Trink-Kultur der chinesischen Oberschicht radikal verändern wird: Früher freilich war es der Wein gewesen, dem ich freudig zugesprochen, bis ich schließlich krank darniederlag: Mein Blut war verdorben und die Lebenskraft erschöpft. Zwei volle Jahre brauchte es, ehe ich wieder das Bett verlassen konnte. Seitdem habe ich, wenn Gäste kommen, zwar die Becher gereinigt, die Krüge mit Wein bereitgestellt, ich selbst aber lasse mich nicht mehr verleiten, den Becher zum Munde zu führen. 65

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Nähren von Innen und Außen: Altern und Lebensbewahrung

Glaubt man den Altersversen, so sind die Dichter und Dichterinnen von derlei asketischer Anwandlung unberührt. Doch Su Shi (1037–1101) scheint schon weniger trinkfest zu sein als Li Taibo (701–761), und Yuan Mei (1716–1797) lässt sich nur noch seinen Freunden, Nachbarn und Pächtern zuliebe auf einen Becher ein und auch nur auf das für ihn erträgliche Maß.

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III Der Leere gewachsen sein: Alter und Spiritualität

Die philosophischen Schulen übergreifend gilt im vormodernen China: Die Welt ist im Fluss und alles ununterbrochen im Wandel. Ein »Carpe diem« als Genuss des Augenblicks, koste es, was es wolle, kennt das vormoderne China aber nicht. Auch hier gilt »sowohl-als-auch«: Gegenwart um ihrer selbst willen zelebrieren, Veränderung akzeptieren! Doch »wen ängstigt’s nicht« (Rilke), wenn das Leben Stück für Stück entgleitet. Davon – vom Umgang mit Vergänglichkeit und Endlichkeit wird im ersten Teil die Rede sein (III.1), im zweiten von letzten Augenblicken vor dem Sprung zurück ins chaotisch-mannigfaltige Dào (III.2).

III.1 Umgang mit der Endlichkeit Der Wechsel der Jahreszeiten im Rhythmus von Sonne, Mond und Sternen bestimmt nicht nur das bäuerliche Leben. Auch in den Künsten der Gelehrtenkultur begegnet ausnahmslos das Credo Alles ist Wandlung (III.1.a). Daher das Gespür für das ununterbrochene Schwanken der Welt, für den Augenblick, den es schon zu vergessen gilt, »um in den nächsten hineinzuwachsen« (Shunryu Suzuki). Früh in der Geschichte scheiden aufgeklärte Philosophen die Wege der Götter von denen der Menschen. Und doch hält – bei aller Entzauberung – die Gelehrtenkultur bis weit in die Späte Kaiserzeit an einer numinosen Grundwirklichkeit fest. Im Unterschied zum Volksglauben, den daoistischen und buddhistischen Varianten einer barocken Welt von Göttern, Geistern und Dämonen, steht im Mittelpunkt ihrer spirituellen Praxis 91 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Der Leere gewachsen sein: Alter und Spiritualität

die Meditation (III.1.b): Einübung von Gleichmut und heiterer Gelassenheit angesichts der Kümmernisse der Welt und in Erwartung der letzten großen Wandlung. Herzenswunsch der Dichter und Gelehrten ist es, der conditio humana den eigenen Lebenslauf, die eigene Lebensessenz zur Seite zu stellen. Zumindest die Männer machen im vorgerückten Alter ausgiebig Gebrauch von autobiographischer Reflexion (III.1.c), aber auch Frauen, wie die Dichterin Li Qingzhao (1084– 1155?).

III.1.a) Alles ist Wandlung Die Wandlungen des Qì. Konfuzius stand an einem Fluss und sprach: »So fließt alles dahin wie dieser Fluss ohne Aufhalten Tag und Nacht.« Was fließt und sich wandelt, ist letztlich die Lebenskraft Qì, die alle Wesen und Dinge hervor- und vorantreibt, sich tausend- und abertausendfach darin manifestiert und jedes zu seiner Zeit dahin schickt, woher es kam: in die Ganzheit des undifferenzierten Dào. Auch des Menschen Leben und Sterben sind nichts weiter als Wandlung von Qì: »Sammelt sich Qì, tritt er ins Leben; zerstreut es sich, ist das sein Tod«, so das Zhuangzi, das die Dauer menschlichen Lebens mit dem »Hauch eines Seufzers« vergleicht, mit »einem weißen Fohlen, das über den Graben setzt – erblickt durch einen Spalt: Husch und schon vorbei!« Mit einem »Rappen in höchster Eile, wie ein Zugpferd unter der Peitsche« (Wolfgang Kubin). Hier wird eine Ontologie der Wandlung (siehe III.2.c) präsentiert und zugleich vorgeführt, wie damit umzugehen sei: Es ist, wie es ist (rú cǐ zhǐ rú cǐ 如此只如此) (siehe IV.2.c). Wer sich dem widersetzt, hat vom Leben nichts begriffen: Als Zhuangzis Frau starb und Huizi kam, dem Freund sein Beileid auszuspre-

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Umgang mit der Endlichkeit

chen, fand er ihn zu seinem Befremden »auf der Matte sitzen, singend und trommelnd« und sprach zu ihm: »Mit einem Menschen zusammenzuwohnen, gemeinsam ein Kind großzuziehen, gemeinsam alt zu werden, und wenn der Mensch dann stirbt, nicht zu weinen – das ist schon viel! Du aber trommelst auf einem Topf und singst dazu! Geht das nicht zu weit?« Zhuang Zhou: »So ist das nicht! Als sie gerade gestorben war und ich allein zurückgeblieben, wie hätte ich da nicht traurig sein können? Dann aber bedachte ich, dass sie anfangs ohne Leben war! Und nicht nur ohne Leben, sondern auch ohne Gestalt! Und nicht nur ohne Gestalt, sondern auch ohne Atem (Qì)! Undifferenzierbar (zá 雜) und Teil des chaotisch-vielartigen Dào (huāng-hú-dào 荒糊道), wandelte es sich und wurde zu Qì; Qì wandelte sich und wurde zu einer Form; die Form wandelte sich und gewann Leben; und nun wandelte sie sich erneut und starb. Das ist wie der Gang der vier Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Da liegt sie nun in der großen Weite (jù-shì 巨室)! Ginge ich seufzend einher und beweinte sie, dann müsste ich mir selber sagen, ich hätte das kosmische Gesetz (mìng 命) nicht verstanden. Also hörte ich auf damit!« 66

Seufzer über Werden und Vergehen. »So rinnt Wasser um Wasser durch die Wasseruhr, so rückt Zoll um Zoll der Schatten auf der Sonnenuhr voran.« »Wie Frühlingsträume vergehen die Dinge ohne eine Spur.« »Wie ein Wimpernschlag wechseln die Farben.« »So blicke ich auf zum göttlichen Himmel, wo die weiße Sonne rastlos dahineilt.« Vor allem in der späteren Lebenszeit fühlen die Dichter sich dieser Wahrheit unerbittlich ausgesetzt. Eine Gattung der Literatur schien besonders geeignet, die Kürze des Lebens zu beseufzen, die lange Nacht des Todes in der Erde zu beweinen: die alten Klagelieder (wǎn-gē-cí 挽歌 辭), von Sargträgern gesungen bei der Bestattung des Zhouzeitlichen Adels. Trotz ihrer Düsterkeit: »Am Morgen tret’ ich aus der Hohen Halle. Am Abend lieg ich bei den Gelben Quellen« kursieren sie bald wie Volkslieder, ja Trinklieder. Auch vom

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Der Leere gewachsen sein: Alter und Spiritualität

»Tau auf dem Lauch« (xiè-lù 薤露) ist die Rede, ausgerechnet Bärlauch, der langes Leben verspricht (siehe II.2.c): 薤上露何易晞 露晞明朝更復落 人死一去何時歸

xièshàng lù, hé yì xī lù xī míngcháo gèng fù luò rén sǐ yī qù héshí guī

Tau auf dem Lauch – wie rasch er trocknet. Kaum getrocknet, fällt er morgen früh erneut. Ist der Mensch einmal tot und gegangen, wann kehrt er wieder? 67

Die ursprünglich dreistrophige Gliederung korrespondiert mit den Etappen der Bestattung: Erklang die erste Strophe auf dem Weg zum Friedhof, so die zweite auf dem Weg zum Grab, die letzte bei der Sarglegung. Noch Tao Yuanming (365–427) hält sich an die Dreiteilung, stellt seinem »Klagelied« aber im Titel schon ein nǐ 擬 (imitieren) voran: nǐ wǎn-gē-cí 擬挽歌辭. So scheint es nur »eine Art Klagelied« zu sein, mit dem er seinem Seufzer über die Endlichkeit des Lebens eine klassische Form verleiht. Wenn auch zwei Monate vor seinem Tod geschrieben, spricht nichts dafür, dass das Lied bei seinem Begräbnis tatsächlich gesungen wurde. Die nüchterne, im Vergleich zum Christentum wenig tröstliche Sicht auf das Schicksal des Menschen nach dem Tod zeigt sich auch in Tao Yuanmings »Gespräch zwischen Körper, Schatten und Geist«. Der Körper (xíng 形), der das Vergehen symbolisiert, plädiert aus eben diesem Grunde für den Genuss des Augenblicks: 必爾不復疑 願君取吾言 得酒莫苟辭

bì ěr bù fù yí yuàn jūn qǔ wú yán dé jiǔ mò gǒu cí

Dass es so sein muss [und ich hinunter zu den Neun Quellen], daran zweifle ich nicht. Ich wünschte nur, ihr nähmet meine Worte ernst: Gibt es Wein, schlagt ihn nicht aus!

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Umgang mit der Endlichkeit

Der Schatten (yǐng 影) – hier das bessere Selbst der Person – hält dagegen: Gutes tun angesichts der Endlichkeit, um liebevoll in Erinnerung zu bleiben: 身沒名亦盡 念之五情熟 立善有遺愛 酒云能消憂 方此詎不劣

shēn mò míng yì jìn niànzhī wǔqíng shú lì shàn yǒu yí ài jiǔ yún néng xiāo yōu fāng cǐ jù bú liè

Ist die Person vergangen, ist auch der Ruf dahin! Bedenk’ ich dies, brennt mir das Innere. Tust Du Gutes, wird die Liebe überdauern. Der Wein, sagt man, kann Kummer zwar vertreiben. Doch Gutes tun um der Liebe willen, ist dies nicht der bessere Weg?!

Zuletzt fordert der Geist (shén 神) beide auf, sich »in Tapferkeit und ohne Trauern« (Hermann Hesse) der letzten großen Wandlung zu überlassen: 老少同一死 愚賢無復數 日醉或能忘 將非促齡具 立善常所欣 誰當為汝譽 正宜委運去 縱浪大化中 不喜亦不懼 應盡便須盡 無復獨多慮

lǎo shǎo tóng yī sǐ xián yú wú fù shù rì zuì huò néng wàng jiāng fēi cù líng jù lì shàn cháng suǒ xīn shuí dāng wèi rǔ yù zhèng yí wěi yùnqù zònglàng dàhuà zhōng bù xǐ yì bú jù yīng jìn biàn xū jìn wú fù dú duō lü`

Ob alt oder jung – im Tode eins! Ob dumm oder klug – was zählt das schon! Tag um Tag beim Wein mag fürs Vergessen hilfreich sein. Doch heißt das nicht: die Jahre zu beschleunigen? Gutes tun, mag ja erfreulich sein. Doch wer wird dich dafür loben? Sich dem Lauf der Dinge fügen, der Flut der Großen Wandlung folgen,

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frei von Freude, frei von Kummer: So ist’s recht! Hat es ein Ende, lass es das Ende sein! Kein Grund, sich groß zu grämen. 68

Nun hält das Leben Schicksale bereit, die schwerer wiegen mögen als der Tod. Und doch kann der Einspruch: »Was beklagst du dich über die Welt? Sie hält dich nicht!« 69 kein chinesischer Gedanke sein. Fahnenflüchtig zu werden, um der Welt und ihrer Lebenslast zu entfliehen, ist hier nicht vorgesehen: erstens ist der Ahnenkult fortzuführen (siehe IV.1.a); zweitens hindert einen die Formel wú-wéi, mit Absicht oder gar gewaltsam einzugreifen in den Lauf der Dinge (siehe I.2.b); drittens gemahnt der Glaube an Karma und Seelenwanderung an die Eigenverantwortung für das in der Welt erlebte Leid (siehe V.2.c).

III.1.b) Grenzgänge der Meditation Die in der Geschichte Chinas maßgeblichen Meditationstechniken stammen aus dem alten Indien, zum Teil aus der vorbuddhistischen Yoga-Praxis: Atem- und Körperleibübungen, Konzentration auf Holz- und Bronzefiguren in Gestalt von Göttern, Buddhas und Bodhisattvas oder auf Aspekte der überlieferten Lehre. Dies alles geht schweigend vor sich, während Mantren- bzw. Sutrenmeditation sich der Sprache und Töne bedient. Meditation im Daoismus. Grundworte für meditative Versenkung im Zhuangzi und Daodejing sind »Stilles Sitzen« (jìng-zuò 靜坐), »Sitzen und sein Ich Vergessen« (zuò-wàng 坐忘/wàng-wǒ 忘我), »Herz-Leeren« (xū-xīn 虛心) und »Herz-Fasten« (xīn-zhāi 心齋). Im Zhuangzi ist Meditation zuallererst eine Atemübung: Mit dem Einen verbinde deinen Willen. Höre es nicht mit den Ohren, sondern höre es mit dem Herzen (xīn 心). Höre es auch nicht mit dem Herzen, sondern höre es mit dem Atem (Qì 氣). Die Ohren bleiben

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beim bloßen Hören stehen, das Herz beim Prüfen. Der Atem aber ist leer und so empfänglich für alle Dinge. Nur in der Leere sammelt sich das Dào. Die Leere ist das Fasten des Herzens (xīn-zhāi 心齋). 70

Demnach sind stilles Sitzen und Vergessen, Herzleeren und Herzfasten Voraussetzung für Erleuchtung (míng 明) im Dào. Wenn zwischen dem »Weltmenschen« (shì-rén 世人) und dem »Höchsten Menschen« (zhì-rén 至人) zwei Stufen der Vervollkommnung vorgesehen sind, dann ist damit unterstellt, dass der erwünschte Ort nicht auf Anhieb zugänglich ist. Dem entspricht die in Jahren und Jahrzehnten gemessene Praxis der Versenkung und die Umschreibung von Dào als xuán 玄: »dunkel, geheimnisvoll, tief, mystisch«. Meditation im Chan (jap. Zen). Das chanbuddhistische Grundwort für Meditation ist zuò-chán 坐禪 (jap. zazen), Zusammensetzung aus dem daoistischen »Sitzen« (zuò, jap. za) und dem Sanskritwort dhyana (Meditation), chinesisch zunächst als chán-na (禪那) transliteriert, dann verkürzt zu chán (jap. zen). Weitere Begriffe sind zhī 禔 bzw. jìng 靜 (stilles Verweilen) für Sanskrit: shamata sowie dìng 定 (Fixieren, Festmachen) für Sanskrit: samadhi. Meditative Achtsamkeit ist nicht auf das Sitzen beschränkt, gilt Augenblick für Augenblick, ob »gehend, sitzend, liegend oder stehend«. Zeitweise erwecken die Patriarchen den Eindruck, als sei »Sitzen in Meditation« nicht der Rede oder der Übung wert, ja kontraproduktiv – wie jedes Hilfsmittel, wenn man sich darauf verlässt oder gar versteift: Da hockt Ihr nun, gegen die Wand, wie erstarrt, die Zunge am Gaumen klebend, um einzutauchen in die Ruhe, und haltet das für die Methode der Patriarchen und für das Gesetz des Buddha. Was für ein Irrtum! Bewegung ist auch nicht die Lösung. Der wahre Mensch stützt sich auf nichts. Er ist frei von Bewegung, frei von Stille. Er macht Gebrauch davon, wie es sich fügt. 71

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Wo Meditation als Leibesübung präzisiert ist, gilt auch hier der Atem als bewährtes Mittel, den quecksilbrigen Streune-Geist zur Ruhe zu bringen. Ist erst einmal der Wechsel zwischen Alltagsbewusstsein und gesammelter Aufmerksamkeit einverleibt, geschieht der meditative Grenzgang mühelos – überall und jederzeit. Als markant wird er empfunden, wenn der Fluss der drei Zeiten (sān-shí 三時) aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einem Kontinuum aus Weite und Dauer (Schmitz) weicht, chin. cháng 常, in dem einzelne Raum- und Zeitstellen nicht mehr auszumachen sind (wú gǔ-jīn 無古今). Die Übung ist dann, darin zu verweilen. Beim Ausstieg aus meditativer Versunkenheit zurück ins Alltagsbewusstsein sondern sich erneut Raum und Zeit: Reine Weite wird zum fünffach gegliederten Raum der Vier Richtungen und ihrer Mitte. Reine Dauer wandelt sich zum dreifach gegliederten Fluss der Zeit. Analog entfalten sich Identität und Verschiedenheit der Wesen und Dinge und mit ihnen die Subjektivität eines je besonderen Ich. Als Grenzgang zwischen Zeit und Dauer, als Vorraum zur Erleuchtung scheint meditative Versunkenheit geeignet, die letzte große Wandlung quasi »vorwegzunehmen«: Ist der Tod »Schlafes Bruder«, so ist Meditation beider »kleine Schwester« – mit dem Unterschied, dass der Schlaf uns übermannt, Meditation aber waches Bewusstsein ist, um die Mitte pendelnd zwischen Dämmern auf der einen Seite und Distanz auf der anderen. Wenn Tao Yuanming »an der Quelle sitzend die Wolken betrachtet« (siehe I.2.a), wenn in Gedichten von Li Taibo, Wang Wei, Bo Juyi, Su Shi, Lu You und Yuan Mei das »Sitzen in Stille« bzw. »Sitzen und Vergessen« nicht bloß beiläufig Erwähnung findet, so scheint meditative Versunkenheit als Praxis der späteren Lebenszeit sowohl geeignet als auch geboten zu sein – geeignet, weil Zeit in Hülle und Fülle; geboten: wenn nicht jetzt, wann dann? 98 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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III.1.c)Lebenssinn Ob als Vor- oder Nachwort zu einem Lebenswerk, als Beichte, Eigenlob, Grabinschrift oder Nachruf – narrative Selbstdarstellung kann humorvoll sein oder ernst, originell oder in Klischees erstarrt, Selbstverteidigung oder Selbstlob, auch Selbstbeschuldigung. Immer geht es darum, das eigene Leben als Ganzes zu betrachten, um im Nachhinein zu bedenken, ob es recht gewesen ist. Darin unterscheidet sie sich von der Ichbeschreibung in Gedichten als einem Feuerwerk aus Augenblicksstimmungen und -atmosphären (siehe I.2.b). Autobiographisches Schreiben – bei aller kreativen Gestaltungslust – hält sich am Pol kritischer Distanz auf, während Dichtung – bei allem Feilen – mehr aus der Intuition und dem Augenblick schöpft. Optimaler Zeitpunkt, sein Leben zu betrachten, ist das sechzigste Lebensjahr, kosmologisch errechnete Zahl aus der Kombination der Zehn Himmelsstämme und Zwölf Erdzweige (siehe I.1.a). Demnach ist narrative Selbstdarstellung ein Alterswerk. Vor dem Hintergrund alternativer Lebensentwürfe schillert sie zwischen einem idealen und realen Verständnis der Person. Zwischen Amt und Zurückgezogenheit. Durch die Geschichte chinesischer Selbstbeschreibung zieht sich in allen Varianten die Alternative: gesellschaftspolitisches Engagement versus Zuflucht in die Abgeschiedenheit. Sie spiegelt die alte Kontroverse zwischen Einsatz für Gemeinschaft und Gesellschaft à la Konfuzius auf der einen und daoistischem Leben im Einklang mit Kosmos und Natur auf der anderen Seite (siehe V). Letzteres, den Rückzug aus Politik und Gesellschaft vorausgesetzt, empfahl dem Konfuzius schon der Narr von Chu, als dieser ihm sein Lied sang von der Nutzlosigkeit. In immer neuen Anekdoten hat das Zhuangzi den »Nutzen der Nutzlosigkeit«, die »Brauchbarkeit der Unbrauchbarkeit« (bú yòng zhī yong 不用之用) versinnbildlicht, so auch in der schönen Ge-

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schichte von der Schildkröte, Symbol der Langlebigkeit (siehe Anhang »Qigong am Brunnen« 3. Geschichte). In politisch verfänglichen Zeiten, so vom dritten zum sechsten Jahrhundert oder während der Ming-Dynastie (1368–1644), nahmen die Rückzugsbewegungen der Beamtengelehrten geradezu Massencharakter an, um sich gesellschaftspolitischer Gefährdung zu entziehen. Aber auch das Bedürfnis, das Leben behaglicher anzugehen, kommt als Beweggrund für Rückzug infrage. Abgeschiedenheit findet nicht zwangsläufig in einer Erdhöhle oder zwischen Felsklüften statt, gegürtet mit einem Strick um das härene Gewand. Über dieses Extrem hatte sich schon Zhuang Zhou mokiert und für den Mittelweg plädiert: Im Staate Lu lebte ein gewisser Shan Bao, der hauste in Felsklüften und trank Wasser und hielt sich fern von allem Streben nach weltlichem Gewinn. So war er siebzig Jahre alt geworden, und sein Antlitz war frisch wie das eines Kindes. Unglücklicherweise begegnete er einem hungrigen Tiger. Der tötete ihn und fraß ihn auf. Da war aber auch ein gewisser Zhang Yi, der war reich und mischte überall mit. In seinem vierzigsten Lebensjahr bekam er ein inneres Fieber, an dem er starb. Bao hat sein Inneres genährt, doch der Tiger fraß sein Äußeres. Yi hat sein Äußeres genährt, doch die Krankheit packte ihn innerlich an. Beide hatten es nicht verstanden, die vernachlässigte Seite anzutreiben und die Mitte zu wahren (lì qí zhōng-yāng 立其中央). 72

Was Tao Yuanming bewog, dem öffentlichen Leben und damit Lohn und Gehalt abzuschwören und »heimzukehren, um zu wohnen in Garten und Feld«, war die Erfahrung, dass das Amt, ob man will oder nicht, Selbstverleugnung mit sich bringt, so dass er ganz krank davon geworden sei. Das zu diesem Anlass, 42-jährig, verfasste Langgedicht mit dem Titel »Heimkehr« (Guiqulai 歸去來) gehört zu den bekanntesten Stücken der chinesischen Literatur: Oh, Heimkehr! Ich bitte darum, allen Verkehr beenden zu dürfen und nicht länger auf den Straßen laufen zu müssen. Wollte jemand mir hier von Aufbruch reden, wohin sollte ich wohl streben? Ich habe meine Freude an der Zuneigung und Unterhaltung im Kreis der Familie und

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liebe es, mit Griffbrettzither und Büchern mir die Sorgen zu vertreiben … Es ist gut zu sehen, wie alle Lebewesen ihre Zeit zu finden wissen, wenngleich es mich wehmütig berührt, dass auch mein eigenes Leben der letzten Ruhe zustrebt. Alles wird dann zu Ende sein … 73

AlIe späteren »Aussteiger« konnten – auf Tao Yuanming verweisend – noch den unfreiwilligen Rückzug in Würde vollziehen, explizit Du Fu, der im Staatsdienst nie richtig Fuß fasst, Su Shi im Exil, Lu You angesichts wiederholter Karrierebrüche und nicht zuletzt die Dichterin Li Qingzhao. Die Gegenposition »am verlorenen Amt wie an der verlorenen Heimat hängen« (Wolfgang Bauer) wird Yan Zhitui (531–590) nachgesagt: Vier aufeinander folgenden Dynastien hatte er als Beamter gedient, darunter Fremdherrschaften – Inbegriff mangelnder Loyalität. Erst als ihm keine Wahl mehr blieb, zog er sich vom Amt zurück. In seiner Selbstdarstellung wimmelt es von Metaphern der Enge – Ausdruck von Selbstzweifel und Scham: Ein einziges Leben war mir bloß gegeben, aber drei Umstürze habe ich in ihm erfahren, in denen mir die Bitternis der Saudistel und die Schärfe des Knöterichs zuteilwurden. Ein Vogel bin ich, dem man seinen Wald verbrannt hat und dessen Flügel man gestutzt, ein Fisch, dem man das Wasser genommen hat und dessen Schuppen nun in der Sonne dörren. Ach, so wild und weit ist die Welt! Ich schäme mich, keinen Ort gefunden zu haben, um meinen Körper zu bergen. Das könnte mich beinahe dazu bringen, mich unter Gras und Schilf zu verstecken und Gefallen daran zu finden, als Landmann zu leben, keine Bücher mehr zu lesen, sondern die Schwertkunst zu erlernen, nie mehr in gelehrten Disputen gestikulierend die Arme zu bewegen, sondern lieber meinen Körper fett werden zu lassen. Von jetzt an will ich dem Himmel nicht weiter zürnen, nur noch Tränen vergießen, weil das Einhorn zu meinen Lebzeiten nicht auftrat, um das goldene Zeitalter zu verkünden. 74

Verlockender als Ausschließlichkeit nach der einen oder anderen Seite war der Kompromiss, »Einsiedler bei Hofe« oder in der Stadt zu sein (shì-yǐn 市隱), ein »Sowohl-als-auch«, dem Bo Juyi noch vor seiner Pensionierung ein Gedicht gewidmet hat: Plädoyer für den »Rückzug der Mitte« (zhōng-yǐn 中隱). 101 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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大隱住朝市 小隱入丘樊 丘樊太冷落 朝市太囂喧 不如作中隱 隱在留司官 非忙亦非閑 不勞心與力 又免飢與寒 終歲無公事 隨月有俸錢

dàyǐn zhù cháoshì xiǎoyǐn rù qiūfán qiūfán tài lěng luò cháoshì tài xiāoxuān bù rú zuò zhōngyǐn yǐn zài liú sīguān fēi máng yì fēi xián bù láo xīn yǔ lì yòu miǎn jī yǔ hán zhōng suì wú gōngshì suì yuè yǒu fèngqián

Die große Zuflucht findet am Hofe statt oder auf dem Markt, die kleine Zuflucht in Wald und Gebirge. Wald und Gebirge: öde und den Menschen fern. Stadt und Hof: betriebsam und laut. Besser scheint mir, der Rückzug der Mitte zu sein: verborgen in einem entlegenen Amt, ohne Müßiggang, ohne Geschäftigkeit, ohne körperliche, ohne geistige Qual, weder Hunger noch Kälte leidend. Das ganze Jahr kein öffentliches Treiben, doch Geld und Lohn, Mond für Mond. 75

Wem die Gleichzeitigkeit der Mitte nicht glückt, kann auf ein Nacheinander hoffen, das heißt seiner Amtspflicht genügen, um sich dann aufs Land zurückzuziehen, sei es für den Ruhestand oder auch vorzeitig: »um die alte Mutter zu pflegen« oder einer Krankheit wegen, und sei sie nur vorgetäuscht. Yuan Hongdao (1568–1610) nimmt im Brief an den Freund für den Rückzug sogar Krankheit in Kauf: Kranksein ist bitter. Doch einer Krankheit wegen seinen Beamtenposten aufgeben zu dürfen, ist im höchsten Maße erfreulich. Die Ursache der Krankheit ist der Beamtenposten, der Mittler zum Erfreulichen die Bitterkeit der Krankheit. Meine Wenigkeit ist äußerst zufrieden mit dieser Krankheit und bedauert nur, nicht schon früher erkrankt zu sein. 76

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Das Nacheinander von Geschäft im Amt und Zurückgezogenheit ist jedem vergönnt, wenn er nur lang genug lebt. Im Unterschied zu Tao Yuanming verraten Wang Weis Gedichte das Hin- und Hergerissensein zwischen Amt und Rückzugsphantasien, ohne dass er sich ein für alle Mal entscheiden kann. Die Verpflichtung, für die Familie zu sorgen, lässt ihm offenbar keine Wahl. Auf Dauer gelingt es aber, die Aufenthalte auf dem Landgut auszudehnen, so dass er die Möwen daheim mit den Worten beruhigen kann: »Der alte Bauer streitet nicht mehr um den Platz auf der Matte. Warum so misstrauisch, ihr Möwen?!« Personsein zwischen Ideal und Realität. Rückschau zu halten auf das eigene Leben, ist mehr als der Blick in den Spiegel. Aus der Distanz heraus wird die Wechselfälligkeit des Schicksals geschildert, das eigene Scheitern bedacht und das Bemühen, Würde zu wahren den Schlägen zum Trotz: »Wer kann das Leben noch in Würde meistern?« (Raffael Keller). Exemplarisch für diese Form der Selbstfindung sei hier Wang Ji (1498–1583) zitiert, der äußerst kritisch mit sich ins Gericht geht: Dem Namen nach praktizierte ich die Losgelöstheit des Heiligen, in Wirklichkeit aber war ich mein gewöhnliches an die Welt gefesseltes Ich nie losgeworden. Viele meiner Genossen in der Welt vertrauten mir, machten meine Auffassung zu der ihren, liebten mich und liefen mir zu. Heute, gegen Ende meines Lebens, vermag mich das kaum mehr zu trösten. Die mich kennen sagen, ich habe Trauer um mein Herz gehängt! Die mich nicht kennen fragen, was das Klagen soll. So will ich diesen lang geratenen Text meinen Söhnen zu lesen geben. Damit sie einen Weg finden, meine Fehler wiedergutzumachen und die von mir verschuldete Katastrophe in Glück zu verwandeln. 77

Das Gegenteil von Gewissenserforschung und Reue: das Selbstlob hat seinen Platz in einer Beamtenkultur, in der nur auf Empfehlung die Teilnahme an den staatlichen Prüfungen erlaubt ist und oft nur auf diesem Wege Beamtenposten zu verteilen sind. 103 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Die reine Selbstempfehlung stammt folgerichtig aus der Zeit der aktiven Lebensphase und interessiert im Kontext des Alters und Alterns eher nicht. Besinnung über Ideal und Wirklichkeit führt, wenn von Buddhisten vorgetragen, zu einem Gedankenspiel über die »Unkenntlichkeit der Person«, das mit Vorliebe die Porträtmalerei zhēn 真 ziert: Wenn zhēn ursprünglich »wahr/wahrhaftig« bedeutet, wird vom Porträtmaler verlangt, dass er ein »wahres Abbild« schafft. Genau dies bestreitet aber, wer die Leere der Wesen und Dinge unterstellt (siehe III.2.a): Oh weh! Nachdem das Bild schon so missraten ist, wird wohl meine Würdigung noch weniger gelingen. Diese eine Rolle aus weißer Seide mit roten und blauen Strichen und Linien soll also, wie man mir sagt, ein zhen (ein Wahres, ein Porträt) von mir sein. Dabei ist das doch eher der Räuber meiner selbst! Mein wahres Aussehen lässt sich nicht in Formen fassen, meine Gestalt sich so nicht offenbaren. So habe ich nur Folgendes zu sagen: Blitzartig wie im Traum verrann mir die Zeit, und schon war ich 51 Jahre alt! Die Bäume meiner Heimat stehen am Jade-Berg, und mein Familienname ist Zhang. 78

Aus demselben Impuls heraus treibt Hanshan Deqing (1546– 1623) die Entpersönlichung auf die Spitze. Was ihn nicht daran hindert, als erster buddhistischer Mönch eine annalistisch ausgeführte Autobiographie zu schreiben und weitere 31 (!) gereimte Selbstbetrachtungen wie die folgende – sowohl-als-auch: Wie ein Spiegel bin ich, der die Formen bloß reflektiert, wie eine Wolke, die über den leeren Himmel treibt, wie ein leeres Tal, in dem die Echos hallen, ein stilles Wasser, in dem die Fische spielen. Augen habe ich ohne zu sehen, Ohren, um taub zu sein. Ich weiß von nichts mehr, was zu preisen oder zu beseufzen wär’. Selbst wenn man mich bloß noch »ein Ding« hieße, würde man mein Wesen nicht treffen. Das ist’s, warum ich mich Hānwēng 憨翁 nenne: den tumben Greis. 79

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Zurück zum Ursprung

III.2 Zurück zum Ursprung Wenn das Leben mehr rückwärts als vorwärts geht, der Abschied von der Welt näher rückt, reagieren die Menschen auf verschiedene Weisen. Stellt der eine mit Sechzig den Sarg bereit, so hebt der andere vorsorglich schon die Grube aus. Hat ein Dritter seinen Dienerknaben mit der Schaufel dabei, falls der Tod ihn unterwegs ereilt, so gibt ein Vierter Anweisung, was danach zu tun und zu lassen sei. Viele verfassen in Erwartung des Todes für sich selbst Nachruf und Grabinschrift. Religiöse Erfahrung (III.2.a) als »Erwachen«, »Erleuchtung« oder »Befreiung« mag hilfreich sein, das letzte Stückchen Weg in aller Bewusstheit zu gehen, im besten Falle ohne Furcht. Wobei zunächst einmal zu klären ist, was »religiös« im chinesischen Kontext bedeutet. Denn das, worum es geht, ist der Welt immanent und kein radikales Anderswo! Nie war religiöse Praxis hier auf Transzendenz gepolt: Die »Anderwelt« ist stets präsent und nach beiden Seiten passierbar. Das Sterben bedarf in jedem Fall der Vorkehrung und wird so vorwegnehmend zelebriert (III.2.b). Zuletzt interessieren die Räume der Toten (III.2.c).

III.2.a) Religiöse Erfahrung Das große Ziel von Daoisten, Buddhisten und Neokonfuzianern (siehe IV.2.c) war, Erleuchtung zu erfahren – ein spirituelles Erleben der besonderen Art. Eindrücklicher und nachhaltiger als meditative Versunkenheit (siehe III.1.b) nimmt Erleuchtung die Heimkehr ins Dào vorweg. Angst und Ungewissheit lösen sich auf in Weite und Licht. Die folgenden Texte sind Parabeln und Fabeln, dem Zhuangzi entnommen, alte Spruchweisheit aus dem Daodejing und Lehrgespräche chanbuddhistischer Patriarchen, aus denen die Dichter und Dichterinnen schöpfen. Zuletzt kommen vier Gelehrtenpersönlichkeiten zu Wort mit ihrem je105 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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weiligen Erleuchtungsbekenntnis in gebundener und ungebundener Form. Der Seins-Ort der Leere. Wie immer das Wort »Religion« vom Ursprung her zu deuten ist, im allgemeinen Sprachgebrauch meint es ein »überweltlich Heiliges«. Da ist aber nichts Überweltliches – etwa in Gestalt von Gott oder Göttern –, weder im Daoismus noch im Chan, noch im Neokonfuzianismus. Da ist auch nichts Heiliges! Bodhidharma selbst, Begründer des Chan, soll auf die Frage des chinesischen Kaisers, was denn nun der Sinn der heiligen Wahrheit sei, geantwortet haben: »Offene Weite! Nichts Heiliges!« Nichts Überweltliches? Nichts Heiliges? Was dann? Um diesen Seins-Ort zu deuten, gibt es am Konzept der »Leere« und deren Umschreibungen kein Vorbei: – Schon graphisch verweist das Wortzeichen kōng 空 auf die Leere, wenn es im oberen Bildteil die »Höhle« xué 穴 enthält. – Analog: xū 虛, das graphisch-etymologisch »einen – der Tiger (hǔ 虎) wegen – von Menschen verlassenen Hügel«, einen menschenleeren Hügel zeigt. Der paradoxen »Fülle in der Leere« wird xū gerecht, indem es mit seinem Gegenteil shí 實 paarweise auftritt: xū-shí 虛實, wobei shí seit den frühesten Texten die Fülle der Frucht bedeutet, die aus dem undifferenzierten Samen entsteht. – Auch im dritten Wortzeichen wú 無 ist das Gegenteil yǒu 有 immer mitgedacht. Ist wú mit »nicht-seiend« übersetzt und yǒu mit »seiend«, liegt das Missverständnis nahe, wú bezeichne das reine »Nichts« – zumindest aus substanzlogischer Sicht. Substanzlogisch kann es nämlich nur entweder »Etwas« geben, ein Substanzielles, oder eben »Nichts«. Substanzlogisch gilt kein Sowohl-als-auch! Das alte Piktogramm für wú 無 zeigt einen tanzenden Menschen mit Federn in der Hand: den Schamanen, der in ekstatischer Bewegung Zugang sucht zur Anderwelt, die immer auch von dieser Welt ist. 106 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Zurück zum Ursprung

Im kosmischen Zusammenspiel von wú 無 und yǒu 有 enthält wú das Potential alles Seienden, das heißt alle Dinge, die undifferenziert ruhen im Grund der Welt (tiān-dì-gēn 天地根). Nicht-seiend bedeutet dann »nicht-differenziert vorhanden seiend« – im Sinne der chaotischen Mannigfaltigkeit des Dào. Durch Aktivierung einer Möglichkeit tritt etwas hervor und in die Welt als differenzierte Gestalt: yǒu. Die alte Frage: Wo ist der Wind, wenn er nicht weht? Die Leere als reines Potential ist zeitlos in ihrer Dauer (cháng 常/jiǔ 久). Sobald aber etwas konkret in Erscheinung tritt, unterliegt es dem Wandel (huà 化), dem Werden und Vergehen, und »kehrt«, wenn die Zeit gekommen ist – entdifferenziert –, »zu seinem Ursprung zurück« (fù-guī qí-gēn 复歸其根). Demnach ist die Leere nicht Nichts, sondern der alle Dinge durchdringende Grund der Welt – ist im Grunde die Welt und im Daoismus identisch mit dem »einheitlichen Dào«: »Wohin man auch geht, wo fände man nicht das wahre Dào?« Leere und Buddha-Natur. Auch in den Anfängen des chinesischen Buddhismus steht Dào für die absolute Realität – identisch mit dem menschlichen Bewusstsein im Zustand des Erwachens, das heißt im Zustand der Erkenntnis der Wahrheit. Diese Wahrheit nennt das Zhuangzi das Große Wissen (dà–zhī 大知), im Buddhismus, einschließlich des Chan, ist es prajña – die Weisheit im Sinne der höchsten Wissensstufe, in der alle Dinge als unterschiedslos gewusst sind: »Bei prajña ist nicht gegeben, dass etwas gewusst wird. Jenes prajña, das leer ist und dunkel (bō-ruò xū–xuán-zhě 般若虛玄 者), … das ist wahrhaftig das, wo ein Unterscheiden nicht gegeben ist, das wahre Eine.« Das menschliche Herz als Sitz des Bewusstseins partizipiert an der Leere, anders gesagt: an der Buddha-Natur, und ist im erwachten Schauen der Wahrheit eins mit dem Grund der Welt – oder, was das Gleiche ist – eins mit der Weite von Himmel und Fluss: 107 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Der Leere gewachsen sein: Alter und Spiritualität

Boot auf einem Fluß. Anonym, 15. Jahrhundert

Das Herz dieses Menschen, bäuchlings im Boot, das Kinn auf die verschränkten Arme gestützt, ist kein Organ der Innerlichkeit: Es schlägt gleichsam draußen. Seine Weite ist der Weite der Landschaft koextensiv. Fluss und Himmel gehen in einander über und strömen in das entinnerlichte, ent-leerte, niemandige Herz. 80

Was für das menschliche Herz gilt, trifft alle Dinge der Welt: Auch deren wahre Natur ist es, leer zu sein. Die Leere der Dinge wird im Daoismus mit dem Schatten verglichen: »Ich sehe aus wie etwas, bin es aber nicht«, im Chan mit »dem Spiegelbild des Mondes im Wasser«, mit »dem Echo im Tale« oder »dem Flim108 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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mern der Atmosphäre an einem heißen Sommertag«. Mit anderen Worten: Bei aller Fülle des konkret Seienden sind die Dinge leer, das heißt leer von Substanz, leer von Wesenhaftigkeit. Leere als Substanz- und Wesenlosigkeit. Schon im Zhuangzi ist Leere als »Losigkeit« von Wesen und Substanz hergeleitet vom Faktum der Vergänglichkeit: Wie will man etwas erfassen, was sich ununterbrochen ändert? »Einmal leer (xū 虛), einmal voll (màn 漫)! Einmal Potenz, einmal Erfüllung! Nichts verbleibt in seiner festen Gestalt (bù wèi hū qí xíng 不位乎其形).« 81 Wem die Dinge der Welt substantiell erscheinen, der hält sie auch für unabhängig und einzeln. Verbundenheit aber behauptet das Gegenteil: »Fährt der Wind über den Fluss, vermindert (sǔn 損) er ihn. Scheint die Sonne auf den Fluss, vermindert sie ihn … Jedes Ding steht also mit jedem andern in fester Beziehung.« Genauer gesagt, jedes Ding ist einzeln und doch auch verbunden, sowohl … als auch. Auch in der Welt des Chan fließt alles ineinander über: »Schnee auf den Schilfrispen am Ufer! Schwer zu entscheiden: Wo fängt das eine an, wo hört das andere auf?!« So schweben die Dinge der Welt zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, sie sind und sind auch nicht: wie der Schatten, das Echo, das Spiegelbild des Mondes im Wasser – im Wortlaut des Herz-Sutra (Xinjing 心經): »Form ist Leere, Leere ist Form« (sè jíshì kōng, kōng jíshì sè 色即是空,空即是色). Die Leere auf der einen Seite, die Fülle der formhaft differenzierten Welt auf der anderen sind nicht grundsätzlich verschiedene Orte des Seins. Das »Heraus aus der Leere und wieder hinein« überwindet keinen »ontologischen Bruch« (Han, ByungChul), denn noch im Unscheinbarsten ist das Dào gegenwärtig: »in der Ameise, im Unkraut, im Ziegelstein …« (Zhuang Zhou), und – »nirvana lässt sich erreichen, ohne die Welt zu verlassen«. Auch kann grundsätzlich jeder ans »andere Ufer gelangen« (Sanskrit: paramita), daoistisch: »das dunkle Tor durchdringen« 109 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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(tōng xuán-mén 通玄門), chanbuddhistisch: »das torlose Tor durchbrechen (tōng wú-mén-guān 通無門關). Und doch ist Erleuchtung nicht der Willkür anheimgestellt, bleibt Erwachen unverfügbar und unberechenbar. In diesem Sinne gibt Daodejing Vers 62 zu bedenken: »Man kann doch nicht sagen: Man strebt danach und bekommt es!« Umso mehr als jede Absicht, jedes Wollen, Greifen, Anhaften zum Gegenteil führt: Buddha zu suchen, heißt, Buddha zu verlieren, den Weg zu suchen, heißt, den Weg zu verlieren! … Das Wissen über Wahr und Falsch bekommt niemand mit der Geburt geschenkt. Man muss selber prüfen, sich selbst läutern wie ein Stück Erz, sich selbst auf Glanz bringen wie einen Bronzespiegel. Und dann, eines schönen Morgens, ist man erleuchtet. 82

Spirituell oder religiös? Zurück zur Frage, was »religiös« bedeutet im chinesischen Kontext. Auch für ein westliches Verständnis scheinen folgende Bestimmungen von Religion gültig zu sein: – erlebte Einbindung in ein überindividuelles kosmisches Sein, – Unverfügbarkeit und Unberechenbarkeit des Erwachens, – der absolute Geltungsanspruch, denn der Wunsch nach Erleuchtung – als »Verhalten aus Betroffenheit von Göttlichem« (Schmitz) – durchdringt das Leben des Betreffenden an jedem Ort, in jedem Augenblick. Das Göttliche ist dann als »ergreifende Macht« eine Atmosphäre, die für den Ergriffenen letzte Autorität besitzt, unbedingten Ernst: »Es ist die fesselnde Kraft des Göttlichen selbst, die den Ergriffenen nicht von sich loskommen lässt und ihm keine Chance gibt, sich redlich auch nur partiell in seiner Eigenschaft als erwachsener mündiger Mensch darüber zu stellen.« 83 Wer mit Religion nach wie vor den »ontologischen Bruch« (siehe oben) verknüpft, mag das Wort »religiös« durch »spirituell« ersetzen.

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Eins wäre allerdings noch nachzutragen: Im Zhuangzi ist mehrfach die Rede vom zào-wù-zhě 造物者, »demjenigen (zhě 者), der/die/das »die Wesen und Dinge hervorbringt« (zào-wù 造物)«. R. Wilhelm übersetzt zào-wù-zhě mit »der Schöpfer« oder »die Schöpfung«. Tatsächlich fragt Zhuang Zhou nach einem Urheber, plädiert aber für das »Von-selbst« (zì 自): »Die Flöten der Erde sind also alle möglichen Höhlungen, die Flöten der Menschen verschiedene Bambusrohre. Darf ich auch nach den Flöten des Himmels fragen.« Ziqi: »Deren Spiel ist mannigfaltig; sie erklingen von sich aus, stimmen ihre Töne von selber (zì 自) an. Wer sollte da der Urheber (nǔ-zhě 努者) sein?« 84

Auch die Rede vom »Schicksal« (mìng 命) zielt auf keinen transzendenten Himmelsgott. Außerdem, so fährt Zhuang Zhou fort: »Ob man der Dinge (letzte) Wirklichkeit versteht oder nicht, bringt weder Gewinn noch Verlust« (wú yì-sǔn hū qí-zhēn 無 益損乎其真). Erleuchtung wird im Daoismus mit dem Wortzeichen míng 明 (Licht) umschrieben oder mit shén-míng 神明 (Leuchten des Geistes) oder mit dà-jué 大覺 (Großes Erwachen). Vertraut man der metaphorischen Umschreibung, wird Erleuchtung leiblich als Weitung gespürt: als »Umherschweifen – frei und ungehindert« (xiāo-yáo–yóu 逍遥遊), »Wandern« yóu 遊 auf den höchsten Höhen, »am Anfang der Welt« (yú wù-zhī-chū 於物 之初), dort wo »man die Wahrheit pflückt« (cǎi-zhēn-zhī-yóu 采真之遊). Das Dào als Seinsort der Erleuchtung ist in den Texten wie folgt qualifiziert: als Ort – der Leere (liáo 寥) – der Weite und Grenzenlosigkeit (míng 溟/jù-shì 巨室/wú jìng 無竟) – der Tiefe (yuān 淵/shēn 深) – der Stille (jì 寂/jìng 靜) – der reinen Dauer (cháng常) – geheimnisvoller Verbundenheit (xuán-tóng 玄同) 111 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Der Leere gewachsen sein: Alter und Spiritualität

– geheimnisvoller Durchdringung (xuán-tōng 玄通) – geheimnisvoller Wirkkraft (xuán-dé 玄德) Das Daodejing listet in Vers 15 auf, wodurch sich die Menschen auszeichneten, die in alter Zeit in der Lage waren, im Dào zu verweilen, aus dem Dào heraus zu leben: Wenn ich sie nun beschreiben soll: Vorsichtig waren sie, wie einer, der im Winter den gefrorenen Fluss überquert; achtsam wie im Umgang mit Nachbarn; ernsthaft wie ein Wanderer in der Fremde unterwegs; willig zu schmelzen wie das Schmelzwasser; aus echtem Holz wie ein unbearbeitetes Scheit; weit-und-offen wie ein Tal, ungeschieden wie trübes Wasser. Wer kann schon trüb sein und durch Stille (jìng 靜) allmählich zur Klarheit (qīng 清) gelangen?! 85

Im Zhuangzi »wohnen« die Dào-Erfahrenen »im Grenzenlosen« (yù-zhū-wú-jìng 寓諸無竟), wissen, »ihr Selbst zu wahren« (cún-shēn 存身) und – dass daraus Freude erwächst, der nichts mehr hinzugefügt werden kann (zhì-lè 至樂). Ihr Geist ist so verfeinert, dass sie aufgehen im Atmosphärischen: »Sie schlürfen vom Wind, trinken vom Tau, reiten auf Wolken und zügeln fliegende Drachen.« Höchste Freude und befiederte Leichtigkeit sind dann kein Schweben, losgelöst und über den Dingen, sondern »da sein, mitten unter ihnen«. Und bei allem Humor ist da eine Ernsthaftigkeit jiè 戒, die dem Leben im Einklang mit dem Dào entspricht: Das alte Piktogramm für jiè 戒 zeigt zwei Hände, die ein Kriegsbeil oder eine Streitaxt halten. Die frühen Texte verwenden das Zeichen in der Bedeutung von »sich hüten/unbedingte Vorsicht walten lassen«. Substantivisch steht es für die Gebote, »denen man sich nicht entziehen kann, wo immer man hinlaufen mag in der Welt«. Licht als räumlich ergossene Atmosphäre im Zustand des Erwachens ist im Zhuangzi wie im Daodejing allgegenwärtig, schon im Wortzeichen für Erleuchtung míng 明, zusammengesetzt aus »Sonne« 日 und »Mond« 月. Für Erleuchtung im Chan steht wie im Daoismus: jué 覺 (Er112 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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wachen), spezifisch buddhistisch: shì 释(Befreiung) und wù 悟; die Zusammensetzungen wù-kōng 悟空 und wù-dào 悟道 bedeuten dann Erwachen in die Leere/in das Dào hinein. Das Wortzeichen guān 觀 (wörtl.: betrachten) kommt dem »intuitiven Schauen« der Dinge nahe, »so, wie sie sind« (skrt.: vipasyana), chin.: »Schauen der »Wahrheit, so wie sie ist« (zhēn-rú 真 如). Auch das »Sehen der eigenen wahren Natur« (jiàn-xìng 見 性) ist Erleuchtung. Im Wortzeichen tōng 通 – im Chan gern mit »Durchbrechen« übersetzt – sind die Hindernisse angedeutet auf dem Weg, auch wenn sie nur in dir selbst zu finden sind. Unübersehbar auch hier – die Rhetorik des Lichtes: in den Wortzusammensetzungen shén-míng 神明 (Leuchten des Geistes), míng-wù 明悟 (erleuchtetes Erwachen) und zhào-zhī 照知 (leuchtendes Wissen). Nicht nur die Wahrheit leuchtet aus sich selbst heraus, auch der große Weg durch den leeren Raum. Als Vertreter des Chan typisch chinesischer Prägung soll zum Thema Erleuchtung Yunmen (864–949) 86 zu Wort kommen, ergänzt durch Aussagen von Bodhidharma (5.–6. Jahrhundert), Huineng (638–763) und Linji (gest. 867). Wie andere Meister seiner Zeit gibt Yunmen den Schülern ein sogenanntes Kōan zur Hand, eine Art Rätsel, das nicht intellektuell zu lösen ist. Darüber hinaus greift er zu drastischen Maßnahmen, als da sind Fußtritte, Pfiffe in die Ohren, Verdrehen der Nase, plötzliches Anschreien, Anspringen und nicht zuletzt Schläge mit dem Stock oder Fliegenwedel, um die Schüler blitzartig ans »andere Ufer« (paramita, siehe oben) zu befördern. In solchen Fällen ist es leibliche Engung im Schreck, die in extreme Weitung umschlagen und so unvermittelt Befreiung bewirken kann. So gesehen kann auch ein Knallfrosch (bào-zhú 爆竹) Symbol für plötzliche Erleuchtung sein: 紙裹麻纏解不開 因緣時至出頭來 一聲霹靂驚天地

zhǐguǒ máchán jiě bù kāi yīnyuánshí zhì chū tóu lái yìshēng pīlì jīng tiāndì

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Papier und Hanffaden umwickelt, hält er dem Öffnen stand. Ist es aber an der Zeit, löst er sich, und die Welt erschrickt von seinem Donnerschlag. 87

In seinen Lehrreden weist Yunmen immer wieder darauf hin, dass derjenige, der sich an Worte und Sätze klammert, »Fragen und Probleme konstruiert«, nur scheitern kann: »Was bringt euch das außer einem gut geölten Mundwerk?« Und auch hier die Rhetorik des Lichts: »Ihr müsst begreifen, dass das, worum es geht, sich nicht in Worten und Sätzen findet. Es gleicht dem von einem Feuerstein sprühenden Funken oder dem Zucken eines Blitzstrahls.« Vor allem schärft er den Schülern ein, dass es auf dem Weg keine Autoritäten geben kann, dass allein das eigene Bemühen zählt und die selbst gelebte Erfahrung. So kommt es vor, dass Yunmen, kaum hat er die Lehrhalle betreten, kehrt macht mit den Worten: »Jeder Mensch hat im Grunde immer schon das leuchtende Licht. Nur wenn er hinschaut, sieht er es nicht; dunkel ist’s und verborgen.« Auch im Chan wird der Stufenweg zur Erleuchtung empfohlen: Von der »Beruhigung des Geistes« bis zur »Erkenntnis der Wahrheit« sieht Bodhidharma insgesamt sieben Stufen vor. Seit Huineng, der über Nacht vom Küchenjungen zum sechsten Patriarchen avancierte, beflügelt das »plötzliche« Erwachen (duàn 斷) mehr als das »allmähliche« (jiàn 漸) die meditative Praxis. Die in Chan-Texten umschriebenen Phänomene von Erleuchtung sind identisch mit den im Daoismus genannten Atmosphären der Stille und Leichtigkeit, Verbundenheit, Klarheit und Licht. Auch mit Duft als räumlich ergossener Atmosphäre wird Erwachen assoziiert. So steigt die Wahrheit auf »wie Rauch aus dem Räuchergefäß« oder in Yunmens Antwort auf die Frage: »Was ist der Kern der richtigen Lehre?« – »Der Duft von Reisbrei!« Linji erinnert die Stockschläge des Meisters, die zu seiner Erleuchtung führten, als »ein Streicheln mit einem Zweig von duftendem Beifuß«.

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Persönliches Erleuchtungserleben. Ob den Gedichten oder Selbstbeschreibungen, die als Erleuchtungstexte überliefert sind, ein unmittelbar erfahrenes, ein längst vergangenes oder wiederholtes Erleben zugrunde liegt oder auch nur die Hoffnung auf Erleuchtung, ist hier nicht zu entscheiden. Die folgende Auswahl, beschränkt auf je ein Gedicht aus der Tang- und Songzeit und zwei autobiographische Texte der Späten Kaiserzeit, gehorcht allein dem subjektiven Kriterium innerer Stimmigkeit. Das Gedicht der Tangzeit (618–905), überschrieben mit »Hirschgehege« (lù-zhài 鹿寨), hat Wang Wei (siehe I.1.b) geschrieben, Dichter, Maler und Laienbuddhist: 空山不見人 但聞人語響 ßeinrß反景入深林 復照青苔上

kōngshān bú jiàn rén dàn wén rényǔ xiǎng fǎnjǐng rù shēnlín fù zhào qīngtái shàng

Leere Berge, kein Mensch zu sehen. Nur das Echo von Menschenstimmen zu hören. Der Abendsonne Widerschein dringt in den tiefen Wald, leuchtet abermals auf dem grünen Moos. 88

Eine Landschaft im Gebirge? Nur auf den ersten Blick! Die Atmosphäre aus – Weite (leere Berge, kein Mensch zu sehen) – Stille (durch das Echo xiǎng 響 der entfernten Stimmen noch verstärkt) – Abendlicht (mehrfach gebrochen und reflektiert) sorgt für die alles durchdringende Wechselseitigkeit der Dinge: die chaotisch-mannigfaltige Verbundenheit der Einheitserfahrung. Noch das »Hirschgehege« verweist auf Erleuchtung, hielt Buddha die erste Lehrrede doch im »Gazellenhain« von Benares. Für die Songzeit sei Wumen Huikai (1183–1260) zitiert, Verfasser der Kōan-Sammlung Wumenguan (Das torlose Tor). Auch hier – All-Einheit und Freudentanz im plötzlichen Erwachen: 115 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Der Leere gewachsen sein: Alter und Spiritualität

Aus blauem Himmel im hellen Sonnenschein ein Donnerschlag! Alle Wesen der Welt öffnen die Augen weit. Alle Dinge im All neigen in gleicher Weise ihr Haupt. Auf hüpft zum Tanz der Weltenberg. 89

Die beiden Erleuchtungsberichte aus dem 16. Jahrhundert sind den autobiographischen Texten von Hanshan Deqing (1546– 1623) (siehe III.1.c) und Gao Panlong (1562–1626) entnommen, ersterer, wenn man so will: Buddhist mit konfuzianischem Einschlag, letzterer: Konfuzianer mit buddhistischem Einschlag. Hanshan Deqings Erleuchtungsbericht ist ebenso kurz wie bildkräftig: Eines Tages, als ich gerade meinen Reisbrei gegessen hatte und einen kleinen Spaziergang machte, blieb ich mit einem Mal wie angewurzelt stehen: Plötzlich spürte ich weder meinen Körper noch meinen Geist, sondern nur eine gewaltige Ansammlung von blendendem Licht, Erfülltheit und tiefgründige Ruhe, als sei ich ein riesiger runder Spiegel, in dem sich Berge und Flüsse und die ganze große Erde spiegeln. Als ich wieder zu mir kam, fühlte ich mich völlig durchlichtet. Ich bemühte mich, meinen Körper und Geist in ihrer alten Form wieder zusammenzubringen, und fand sie nicht. 90

Gao Panlong erlebt seine Erleuchtung während einer längeren Reise am Ende einer Tageswanderung. Sie ist Teil der Reisebeschreibung und seines »philosophischen Journals«: Bei meiner Selbstbeobachtung wurde mir klar, dass in meiner Brust zwischen Ordnungsprinzip (lǐ 理) und leidenschaftlichem Verlangen (yù 欲) eine Schlacht nach der anderen geschlagen wurde, ohne dass es zu einer Versöhnung kam … Hinter dem Ort Tingzhou reiste ich zu Fuß weiter und kam zu einem Gasthaus mit einem kleinen Turm. Von dort aus sollte man vor sich die Berge sehen und hinter sich den nahen Gießbach plätschern hören können. Ich stieg hinauf und spürte plötzlich intensive Freude. In den Händen das Buch der Brüder Cheng, fiel mein Blick auf eine Stelle … Und mit einem Mal überkam mich die Erkenntnis, und ich rief: »Ja, so ist es! Nicht ein einziges Geschehnis besitzt wirkliche Existenz.« Unter diesem alles beherrschenden Gedanken lösten sich in mir sämtliche Verwicklungen des Daseins. Es erschien mir, als fiele unver-

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sehens eine Last von hundert Pfund von meinen Schultern, und es war, als ob ein leuchtender Blitz meinen Körper und meinen Geist durchzuckte. Danach verschmolz ich mit der Großen Wandlung, wurde eins mit dem Grenzenlosen, empfand nicht mehr Trennung zwischen Himmel und Mensch, zwischen Innen und Außen. In diesem Augenblick erfuhr ich, dass das All aus den Sechs Himmelsrichtungen 91 ganz und gar mit meinem Geist und mein Körper mit deren Ausdehnung übereinstimmt und dass mein Quadratzoll großes Herz in der Mitte deren Ursprung ist … Wie hatte ich von jeher die Gelehrten verachtet, die sich … über ihre Erleuchtung verbreiteten. Jetzt merkte ich, dass es tatsächlich etwas ganz Normales, Selbstverständliches ist. 92

Nicht jedem war, auch bei regelmäßigem Üben und über lange Zeit, Erleuchtung beschieden, nicht einmal die Gemütsruhe, die man sich allein schon vom »Sitzen und Vergessen« erhofft. Bo Juyi geht kritisch mit sich ins Gericht, weil er fürchtet, Maß und Mitte zu verfehlen – vor lauter Hingabe an den Wein und das schöne Geschlecht. Su Shi kommt das »Sitzen in Stille« zuweilen wie eine »Ausflucht für Faulheit« vor und die sogenannte Befreiung wie »Selbstbefriedigung«.

III.2.b) Letzte Vorkehrung Ob meditative Versunkenheit und Erleuchtung helfen, den rechten Abgang einzuüben, davon reden die Betreffenden nicht. Eher vom Gegenteil, dass der »Fluss der Zeit« sie immer wieder einholt: »Ich weiß um mein begrenztes Leben«, um die Zehntausend Dinge, die noch zu regeln sind, bevor es hinab geht zu den »Neun Quellen« (jiǔ-quán 九泉), »zur Terrasse der Nacht« (yè-tái 夜臺). »Es ist – wie beim Schachspiel: Am Ende räumt man die Schachfiguren auf für die, die nach uns kommen.« Herzensanliegen der Dichter ist es, die eigenen Manuskripte zu ordnen. Bo Juyi hat zur Aufbewahrung seiner Briefe und Gedichte eine Truhe »aus widerstandsfähigem Zypressenholz«

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bereitgestellt. Den Schlüssel dazu wird die Tochter verwahren, die ihn dem Enkel überlässt, wenn ihre Zeit gekommen … Söhne und Töchter sollten längst verheiratet sein, die Söhne und Neffen im Amt. Neben dem Testament, das die Güterverteilung regelt, können Grabinschrift und Nachruf Anweisungen enthalten für die Nachgeborenen. Ein frühes Beispiel für eine letzte Vorkehrung, wenn nicht bewusstes Absehen von Vorkehrung, ist im Zhuangzi zitiert: »Himmel und Erde sind mein Sarg. Sonne und Mond leuchten mir als Totenlampen 93, die Sterne sind meine Perlen und Edelsteine, die Zehntausend Wesen und Dinge geben mir das Totengeleit. So habe ich doch ein prächtiges Begräbnis. Was wollt Ihr da noch hinzufügen?« Die Jünger aber »fürchten, die Krähen und Geier möchten den Meister fressen!« Zhuangzi widerspricht: »Unbeerdigt diene ich Krähen und Geier zur Nahrung, beerdigt den Würmern und Ameisen. Den einen es nehmen, um es den anderen zu geben – warum so parteiisch sein?!« 94

Ganz im Sinne der trinkfreudigen Dichter dürfte es gewesen sein, wenn Zheng Quan, ein hoher Würdenträger, der im dritten Jahrhundert lebte, als letzten Wunsch äußert, in der Nähe einer Töpferwerkstatt begraben zu sein: »In hundert Jahren wäre ich in Erde verwandelt, und wenn ich Glück habe, macht der Töpfer aus mir einen Weinkrug. Das würde mein Herz erfreuen!« Greifbarer die Bitte des Yuan Mei, auf keinen Fall Mönche zu seinem Begräbnis zuzulassen: »Beim ersten Klappern ihrer Holzsandalen würde meine Seele (hún 魂) sich die Ohren verstopfen und auf und davon sein! Das ist sicher nicht in eurem Sinne.« Die Gedichte der allerletzten Lebensphase enthalten autobiographische Passagen, um noch einmal Bilanz zu ziehen: – selbstkritisch wie Tao Yuanming, der Söhne und Neffen um Nachsicht bittet für ein Leben in Armut; – klagend wie Du Fu, der noch in einem der letzten Gedichte das eigene Schicksal mit dem der Dynastie verknüpft:

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xuānyuán xiū zhì lü` yushun bà tán qín xiàng cuò xióng míng guǎn yóu shāng bàn sǐ xīn zhànxuè liú yī jiù jūnshēng dòng zhì jīn

軒轅休制律 澞舜罷彈琴 向錯雄鳴管 猶傷半死心 戰血流依舊 軍聲動至今

Huangdi! Lass’ das Stimmen der Flöten! Shun! Lass’ dein Saitenspiel! Falsch tönt die Flöte des männlichen Phönix, 95 und das Herz der Griffbrettzither ist zur Hälfte tot! 96 Wie eh und je fließt das Blut der Krieger und bis heute tobt der Lärm der Schlacht. 97

– verbittert, wie Su Shi, der drei Wochen vor seinem Tod sein altes Porträt betrachtet: »Mein Herz gleicht schon der Asche, mein Leib einem Boot ohne Halt. Ich frage dich, was hast du aus deinem Leben gemacht?« Statt einer Antwort folgen die Namen der Orte seines dreifachen Exils: »Huangzhou, Huizhou, Danzhou!« – fürsorglich wie Yuan Mei, der Sohn und Neffen zur Beherzigung folgende Zeilen hinterlässt: »A-Dong neigt zu Ungeduld. Mit dem Kopf eines Tigers und dem Schwanz einer Schlange fängst du die Dinge an, bringst sie aber nicht zu Ende! A-Zhi neigt zu Schüchternheit. So wirkst du kalt und distanziert! Es ist gut, wenn ihr beide euch eurer Unzulänglichkeit bewusst seid, bevor niemand mehr da ist, euch dabei zu helfen.« – Nicht zuletzt schmunzelnd wie immer: Lu You, der zu Du Fus Lebensthema, dem Schicksal des Staates, auch etwas zu sagen hat: 死去元知萬事空 但悲不見九州同 王師北定中原日 家祭無忘告乃翁

sǐqù yuán zhī wànshì kōng dàn bēi bú jiàn jiǔzhōu tóng wángshī běi dìng zhōngyuán rì jiājì wú wàng gào nǎiwēng

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Der Leere gewachsen sein: Alter und Spiritualität

Wohl ist mir bekannt: Bin ich erst einmal tot, ist alles nichtig und leer. Doch grämt es mich, die Neun Provinzen nicht vereint zu sehen. An jenem Tag, an dem das kaiserliche Heer die Ebene im Norden zurückgewinnt, vergesst nicht, eurem Kranichflaumengreis Bescheid zu geben beim Familienopfer! 98

Mit der Sterbesituation unmittelbar verknüpft scheint Bo Juyis Grabinschrift zu sein. Nach chan-buddhistischen Allgemeinheiten kommt er im letzten Satz darauf zu sprechen, was er daran findet, da er nun »von dannen ziehen soll«: 75 Jahre zwischen Himmel und Erde verbracht! In meinem Leben wie eine ziehende Wolke, im Sterben einer, der seinen Abschied nimmt. Aus welchen Ursachen heraus bin ich gekommen? Mit welchen Wirkungen ziehe ich von dannen? Meine Natur hat sich niemals gewandelt, nur im Tun habe ich mich immer wieder bewegt. Das also ist das Ende! Das also ist das Ende! Wie soll ich bloß von dannen ziehen, da ich es doch gar nicht kann? Und wie soll ich es bloß fertigbringen, meines Lebensantriebs überdrüssig zu sein in diesem Augenblick? 99

Auch Tao Yuanming schildert eindrücklich sein Empfinden, und sei es nur vorweggenommen: 親舊哭我旁 欲語口無音 欲視眼無光

qīnjiù kū wǒpáng yù yǔ kǒu wú yīn yù shì yǎn wú guāng

An meiner Seite weinend die Familie, die alten Freunde. Ich möchte sprechen, doch kein Laut verlässt den Mund. Mein Blick will ihrem Blick begegnen, doch meinem Auge fehlt das Licht. 100

Sogar die Zeit nach seiner Bestattung hat er mit einem Gedicht bedacht, schwankend zwischen Resignation und Bejahung dessen, was geschieht: 向來相送人 各自還其家 親戚或餘悲

xiànglái xiāng sòngrén gèzì huán qí jiā qīnqī hùo yú bēi

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他人亦已歌 死去何所道 托體同山啊

tārén yì yǐ gē sǐqù hé suǒ dào tuō tǐ tóng shān a!

Gleich wird ein jeder vom Geleitzug für sich nach Hause gehen. Die Verwandtschaft wird noch eine Weile traurig sein. Die anderen singen schon wieder. Ich bin nun tot. Was soll man mehr noch dazu sagen? Und vertraue meinen Körper dem Lu-Berg an, auf dass er bald eins sei mit ihm, ach! 101

III.2.c)Räume der Toten Auf den ersten Blick sind die Räume, wo die Toten verweilen, ganz unterschiedlich gedacht. 102 Da ist zum einen die gewaltige Grabanlage des ersten Qin-Kaisers (221–209 v. Chr.) und der nachfolgenden Kaiser der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.). Da sind ebenso kunstvoll ausgestattet, wenn auch weniger imposant, die Grabkammern der chinesischen Beamtengelehrten. Und – da ist die Geschichte im Zhuangzi von den vier Freunden, die den Tod mit lachendem Gesicht erwarten und zueinander sprachen: »Wer die Leere (wú 無) als seinen Kopf, das Leben als sein Rückgrat und das Sterben als seinen Steiß ansehen kann; wer versteht, dass Leben und Sterben, Sein und Vergehen ein und dasselbe sind, mit dem wollen wir Freund sein!« Die vier sahen einander an und lachten. In ihrem Geist gab es keine Unstimmigkeit. So wurden sie Freunde … Bald darauf wurde Zi Lai krank. Er atmete schwer (chuǎn-chuǎn 喘喘) und lag im Sterben. Frau und Kinder standen um ihn herum und beweinten ihn. Als Zi Li kam, ihn zu besuchen, sprach er zu jenen: »Husch, fort mit euch! Stört nicht die Verwandlung.« Und an die Tür gelehnt zu Zi Lai: »Wie großartig ist doch die schöpferische Verwandlung (zào-huà 造化)! Was hat sie wohl mit dir vor? Wohin wird sie dich führen? Macht sie dich vielleicht zu einer Mäuseleber oder einem Insektenbein?« Zi Lai erwiderte: »Als Kinder folgten wir Vater und Mutter nach

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Osten, Westen, Süden oder Norden, einfach so, wie man uns hieß. Yīn und Yáng, die größer sind als Vater und Mutter, folgen wir als Erwachsene. Wenn sie mich jetzt dem Tod nahebringen und ich nicht auf sie hörte, wäre ich widerspenstig. Was können sie dafür? Der Erdball hat mir einen Körper (xíng 形) verliehen und mühte mich mit dem Leben. Das Alter brachte Muße. Der Tod gewährt mir eine Atempause. Wenn ich das Leben für gut befinde, muss auch der Tod mir willkommen sein …« 103

Drei grundverschiedene Vorstellungen vom Tod und vom Sterben! Darum geht es im Folgenden: um den Zusammenhang zwischen Ontologien und Praktiken als Riten des Übergangs. Zunächst zur Situationsontologie und deren Reinform in den Grabkammern der Beamtengelehrten, während Substanzontologie hinter dem Wunsch der Kaiser steht, an Körper und Leib unsterblich zu sein. Zuletzt die Wandlungsontologie, die mit der Stimme der vier Freunde spricht. Situationsontologie. Wenn das alte Piktogramm für »Tod« sǐ 死 einen Menschen zeigt, der niederkniet vor einem Skelett, dann ist hier der fortgesetzte Zusammenhang zwischen den Lebenden und den Toten unterstellt: eine gemeinsame Situation. Ausführlich beschreibt das Buch Xunzi die Etappen zwischen Feststellung des Todes und der Grablegung: von der Atemprobe über das »Zurückrufen der Seele« (zhāo-hún 招魂) (siehe unten), die Körperwaschung, das Verschließen der Sinnesöffnungen mit Seidenwatte, die Sarglegung, das rituelle Klagen, Opfergaben, wiederholtes Wechseln der Gewänder bis zur letztendlichen Bestattung nach spätestens sieben Wochen, in Begleitung eines Trauerzugs. Der Sinn dieser abgestuften Übergangsriten besteht Xunzi zufolge darin, bei aller fortgesetzt gedachten Seinsgemeinschaft den Unterschied zwischen Leben und Tod deutlich zu machen, den Toten in Kummer und Leid wegzuschicken, ihn immer wieder ehrfürchtig zu schmücken und zugleich immer weiter zu entfernen, um allmählich selbst in den Alltag zurückzukehren. 122 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Voraussetzung ist, dass sich die Wunde schließt, die der Tote hinterlassen hat, und auf neue Weise eine heile gemeinsame Situation entsteht: Warum drei Jahre Trauerzeit? Ich meine, es handelt sich um qíng 情, eine mit Gefühlen aufgeladene zwischenmenschliche Situation, die rituell begangen wird … Eine klaffende Wunde braucht Zeit zum Heilen. Ein großer Schmerz währt lange … Trauerkleidung, Trauerstock, Trauerhütte, Trauerbrei, die Liegematte aus Zweigen und das Kopfkissen aus gestampfter Erde – dies alles ist Ausdruck intensiver Trauer. 104

Wenn es heißt: Dem Toten soll es wie im Leben an nichts fehlen, so bedeutet das, die den Einzelnen übergreifenden Lebenssituationen in die Grabkammer hinein zu verlängern: Grabziegel, Steinplatten und Wandmalerei tragen glücksbringende Ornamente und kosmische Symbole, zeigen Küchen- und Bankettszenen, akrobatische und musikalische Vorführungen und nicht zuletzt Wagen- und Reiterprozessionen auf dem Weg zur Audienz. Gleichzeitig ist in der Art der Grabbeigaben, die durchweg »unnütz« sind, angedeutet, dass der Tote dies alles nicht mehr wirklich braucht. Substanzontologie. Die ausgedehnten kaiserlichen Mausoleen aus der Zeitenwende um Christi Geburt teilen mit den Grabkammern der Beamtengelehrten die Überzeugung, dass die Toten in der Unterwelt des Grabes zuhause sind und dass es dort an nichts fehlen soll. Darüber hinaus steht dem Kaiser alles zur Verfügung, um unbegrenzt Objekt der Verehrung zu sein. Im zentralen Kultgebäude, den intimen Wohngemächern des Palastes nachempfunden, bringen Tempeldienerinnen viermal täglich Speiseopfer dar, als ob der Kaiser noch lebte. Auch das kaiserliche »Sterbehemd« aus zweitausend mit Golddraht verbundenen Jadeplättchen ist ein Requisit der Substanzontologie, das den Körper vor der Zersetzung bewahren soll. Beispiel für eine solcherart gelungene Mumifizierung ist der Leichnam der Marquise von Dai, die 168 vor Christus in Mawangdui (siehe II.2.a) begraben wurde. 123 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Nach der Zeitenwende setzt die Äußere Alchimie die Versuche fort, der nach dem Tod drohenden körperlichen Vernichtung zu entgehen (siehe II.2.a). Substanzontologisches Denken beherrscht auch die daoistischen und buddhistischen Höllenvorstellungen im chinesischen Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein: Die grausigen Strafen, etwa »zehnmal den Messerberg der Hölle besteigen«, lassen keinen Zweifel daran, dass die armen Sünder hier ganz körperlichen Qualen ausgesetzt sind. Wandlungsontologie. Von den Wandlungen des Qì, dem Sterben als Übergang – wenn man will: von einem »Qì-Aggregatzustand« in den anderen– war mehrfach die Rede (siehe III.1.a). Hier sei noch einmal Tao Yuanming zitiert, der sich wie kaum einer vor ihm die Wandlungsontologie des Zhuangzi (siehe oben) zu eigen macht und auch in dieser Hinsicht Vorbild ist für die Gelehrtenkultur: 登東皋以舒嘯 臨清流而賦詩 聊乘化以歸盡 樂夫天命復奚疑

dēng dōng gāo yǐ shū xiào lín qīngliú ér fùshī liáo chénghuà yǐ guījìn lè fū tiānmìng fù xī

Zum Ostmoor hinaufsteigen und meine Pfeiftöne erklingen lassen, am Rande des Wassers Gedichte und Lieder singen, mich tragen lassen von der Verwandlung und heimkehren ganz und gar. Hab’ ich Freude am Geschick des Himmels, welcher Zweifel kann mich dann noch rühren?! 105

Leibliches Spüren. Wenn die Wandlung einsetzt, kann leibliches Spüren für eine Weile noch gelingen. In der Vorstellung vorweggenommen, ist es dann folgerichtig auf die drei Ontologien verteilt: Die Wandlungsontologie, dem Kreislauf des Qì verbunden, greift auf den Atemvorgang zurück. Steht Engung am Ende des tiefen Einatmens und Weitung, wenn der Atem wieder den Leib verlässt, 124 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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so heißt das auf Leben und Tod übertragen: Hineintreten ins Leben ist Verdichtung zur Enge des Körpers; Sterben ist Weitung und Zerstreuung: »Sammelt sich Qì, tritt er ins Leben, zerstreut es sich, ist das sein Tod« (siehe III.1.a); oder wie Zhuang Zhou im Gespräch mit Huizi: »Da liegt sie nun in der großen Weite« (jù-shì 巨室), wörtlich: »das große Haus« zwischen Himmel und Erde. Auch Situationsontologie baut auf Erleben von Weite, wenn der soeben Verstorbene vom Dach aus zurückgerufen werden soll. Das »Zurückrufen der Seele« (zhāo-hún 招魂), ausführlich im Buch Xunzi beschrieben, ist eindrücklicher in einem Gedicht aus der Hanzeit (206 v. Chr.–220 n. Chr.) geschildert und als weit verbreitete Sitte noch für das China des 19. Jahrhunderts belegt. Was hier gerufen wird, ist nicht die Seele im christlichen Sinn. Die Vorstellung zweier Wirkkräfte im Menschen ist schamanischen Ursprungs und seit der großen Zeitenwende mit der Yīnyáng-Polarität verknüpft: hún 魂 als leibliche Wirkkraft ist ein Yáng-Aspekt der jeweiligen Persönlichkeit, der sich nach dem Tode himmelwärts verflüchtigt; pò 魄 verweilt als YīnAspekt beim tast- und sichtbaren Körper in der Erde, wo er sich mit ihm zersetzt. Da unten ist ein Mensch, dem wünsche ich zu helfen: sein hún und pò sind dabei sich zu zerstreuen … Oh, hún, kehre zurück! Du hast deinen gewohnten Stamm verlassen. Was treibst du dich in den Vier Weltengegenden herum?! Du hast deine heitere Heimstatt aufgegeben um anderer nur vermeintlich glückverheißender Orte willen. 106

Es folgt die Schilderung der schrecklichen Ungeheuer und Gefahren, die in der Weite der verschiedenen Himmelsrichtungen auf hún lauern. Und jedes Mal ertönt die Aufforderung »Kehre zurück!«: »Unsicher umherirrend hast du nichts, worauf du dich stützen kannst. Die große Weite hat keine Begrenzung! Kehre zurück! Kehre zurück! Steige nicht zum Himmel empor!« Die Angst, um die es hier geht, ist stellvertretend für den Sterbenden: Weite-Angst, das heißt, Weitung droht, sich maßlos zu ent125 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Der Leere gewachsen sein: Alter und Spiritualität

grenzen, so dass eine Rückkehr in die Enge des Körpers, die erneute Einleibung, nicht mehr möglich ist. Zuletzt der Glaube an die Folterqualen, die in der Vielzahl der Höllen auf die Sünder warten. Hier ist das Gegenteil von Weitung unterstellt: unhintergehbare Enge-Angst vor der körperlichen Vernichtung. Hier herrscht Substanzontologie pur! Um zusammenzufassen, was Endlichkeit den Dichtern und Gelehrten bedeutet: Der Tod begegnet nicht als Sensenmann oder Feind. Er gehört zum Spiel des Lebens: eine Regel, die es zu beherzigen gilt. Da der letzte Seufzer ein Ausatmen ist, erwartet den Sterbenden: Weite. Als Heimkehr in das chaotischmannigfaltige Dào erwartet ihn »Leere bei aller Fülle«, »Fülle bei aller Leere«! Meditation und Erleuchtung mögen helfen, über den Riss im Lebensfaden hinaus zu spüren, um dem Tod ein Stück weit Unergründlichkeit zu nehmen, wenn nicht sogar in sein Gegenteil zu kehren: in Klarheit, Freude und Licht. Zwei Extreme flankieren diese nüchterne und doch auch zentrierte Haltung gegenüber dem Tod. Auf der einen Seite die alten Klagelieder und Tao Yuanmings Anflug von Grauen: »Trüb schreit ich einher, düster das Tor des Grabes … Versunken schon Farben und Formen und alle Seufzer weit …« »Ist die dunkle Kammer erst einmal verschlossen: Tausend Jahre kein Morgenrot! Tausend Jahre kein Morgenrot!« Auf der anderen Seite humorvoll-verspielter Umgang mit einer Art Wiedergeburt in welcher Form auch immer, in Gestalt einer Mäuseleber, eines Insektenbeins oder in Gestalt eines Weinkrugs (siehe oben). Die den Dichtern und Dichterinnen darüber hinaus eigene Strategie »Schreiben gegen das Vergessen« geht in jedem Fall auf: Ihre Texte – die poetischen, damit der Augenblick verweile, die autobiographischen, um der gelebten Zeit Wert und Sinn zu verleihen – haben die Autoren und Autorinnen und die Jahrhunderte überlebt. Was bleibt an Unheimlichkeit, wird teilweise »weg-bestattet«: Zumindest die räumliche Ausgestaltung der Mausoleen und 126 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Zurück zum Ursprung

Grabkammern bietet die Fortsetzung der vertrauten gemeinsamen Situationen, damit es den Verstorbenen an nichts fehle, im Tode wie im Leben.

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IV Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten

Fließend ist der Wandel von Yīn und Yáng, und alles Lebendige pendelt zwischen beiden Kräften hin und her. Das Leben vom Säugling, dem »reinen Yáng« (chún-yáng 純陽), zum Greis an der Schwelle des Todes, dem »Haus des Yīn« (yīn-zhái 陰宅), ist nur eine der Bewegungen, denen der Mensch mit Körper und Leib, Haut und Haar, Geist und Gefühl unterliegt. Zeit erlebt er in ihrem linearen und zyklischen Verlauf. Auf den ersten Blick: eine Abwärtsspirale, denn Yáng ist oben und Yīn unten. Noch im heutigen China ist die letzte Woche die »obere« (shàng 上), die kommende die »untere« (xià 下) – ein Trost, dass der »morgige Tag« (míngtiān 明天) für alle Fälle ein »lichter Tag« (míngtiān 明天) ist. Sinnfällig auch: die Knoten am Bambus (zhú 竹), die im Zeichen für »Feste« (jié 節) an die rituell markierte Abfolge der Jahreszeiten erinnern. So kann das Bild der Bambusknoten auch für jene Übergänge stehen, die ein Menschendasein gliedern von der Geburt bis zum Tod: Lebensknoten als Lebensstufen (IV.1), auf denen das Kind zum Erwachsenen fortschreitet. Sie versprechen Zugewinn an Fähigkeiten, aber auch Verlust. Davon soll zunächst die Rede sein. Der zweite Abschnitt ist dem Zusammenspiel von Jung und Alt gewidmet, das dem Prinzip der Gegenseitigkeit (IV.2) gehorcht – trotz wechselnder Asymmetrie.

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Lebensstufen

IV.1 Lebensstufen Wenn im Folgenden kultisch-rituelle Altersphasen (IV.1.a), staatsbürgerliche Zäsuren (IV.1.b) und die abgestufte Entfaltung der Persönlichkeit (IV.1.c) herausgegriffen sind, so kommen drei elementare Dimensionen im Leben des Einzelnen in den Blick: Religion, Gesellschaft und Individualität.

IV.1.a)Altersstufen in Kult und Ritus In allen Stufenmodellen der Volkskulte oder des Ahnenkultes, im Zivil- oder Strafrecht geht es um die altersspezifisch bedingte Teilhabe an gemeinsamen Situationen. Volkskulte. Es beginnt schon im Säuglingsalter: Die Lebenskraft des Neugeborenen wächst im Zuge der »Überwindung der Pässe« (guòguān 過關), die dem Kind als Herausforderung im Wege stehen. An dreißig Entwicklungsschwellen scheint es besonders gefährdet, so dass bei jeder Hürde magisch-kultische Vorkehrungen zu treffen sind. Jeder »Pass«, der genommen wird, verspricht Zugewinn an Lebenskraft. Wenn die letzte Barriere, der »Pass von Wasser und Feuer« (shuǐ-huǒ-guān 水火關), mit dem 16. Lebensjahr zusammenfällt, dem kosmologisch errechneten Termin männlicher Geschlechtsreife, zeigt sich hier, neben dem Vorrang des männlichen Geschlechts, die Einbettung in den kosmischen Zusammenhang. 107 Mehr noch als mit Zugewinn an Lebenskraft sind die Volkskulte mit dem Verlust kultischer Wirkkraft befasst. Dank der Yáng-Korrespondenz schöpft kindliche Lebenszeit aus einer spirituellen Reinheit, die abrupt endet, wenn die Geschlechtsreife beginnt. Kindliche Reinheit (chún 純) rechtfertigt im vormodernen Denken die Opferung von Mädchen und Knaben im zarten Kindesalter, um Götter und Geister zu besänftigen. Und sie hält 129 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten

lokale Beamte auf Trab, weil »Kinderverse« (tóng-yáo 童謠) aus dem Umland als Orakelsprüche zu sammeln und bei wichtigen Maßnahmen mit zu bedenken sind: »Kindermund tut Wahrheit kund«. Auch beim Regenzauber kommt es darauf an, dass die neben dem Schamanen involvierten Akteure noch nicht geschlechtsreif sind: Das sind die sieben- bis achtjährigen Knaben (tóng 童), die Tänze aufführen, während der Schamane stundstündlich der Sonne ausgesetzt bleibt. So gelingt es, mit vereinten (Yáng-) Kräften den Regen (Yīn) herbeizuzwingen. Austreibungsriten am Vorabend des Neujahrsfestes, um die Winterdämonen zu verjagen, folgen derselben Logik. Noch im 19. Jahrhundert beobachten europäische Reisende im Südosten Chinas elf- bis fünfzehnjährige Knaben, die Altersgruppe unmittelbar vor der Geschlechtsreife, die rituell in Erscheinung tritt, um die Gefahr von Seuchen zu bannen. Mädchen im vorpubertären Alter sind als Tempeltänzerinnen lokalen Gottheiten geweiht. Auch hier ist kindliche Reinheit im Spiel, galt die geschlechtsreife Frau doch als »rituell unrein« – potenziert in bestimmten Phasen wie Menstruation und Geburt. Eine Verletzung der damit verknüpften Tabus war umso mehr zu befürchten, als der Zorn der Götter und Geister sich womöglich über die gesamte Gemeinschaft ergoss. Ahnenkult. Wie die Volkskulte rechnet der konfuzianische Ahnenkult mit Zugewinn und Verlust, und auch hier ist der Wendepunkt die Geschlechtsreife. Beim jungen Mädchen findet der Übergang im vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahr statt, in Form der »Haarspangenzeremonie«, dem Hochstecken der Haare mit einer Spange. Zugewinn bedeutet hier Ehefähigkeit. Beim jungen Mann kann der Ritus der Großjährigkeit, das Hochstecken der Haare mit Verleihung einer Kappe, um ein bis zwei Jahre nach der Geschlechtsreife verschoben sein. Die Ritenbücher der Hanzeit verlegen die Zeremonie sogar ins zwanzigste Lebens130 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Lebensstufen

jahr und trennen markant die biologische von der sozialen Reife. Über Ehefähigkeit und Legitimation zur Zeugung hinaus bestätigt die »Bekappung« dem jungen Mann, dass er nunmehr reif sei für den Ahnenkult, den fortzuführen eine seiner vornehmsten Aufgaben ist. Aufwachsen als Zugewinn an Prestige zeigt sich paradoxerweise auch in den Bestattungsriten für die »früh verstorbenen« (yāo 夭) Mitglieder der Gemeinschaft. Wer seinen Posten in der Welt vorzeitig aufgibt, verhält sich prinzipiell pietätlos gegenüber den Ahnen. So steht dem vor dem siebten Lebensjahr verstorbenen Kind gar kein Trauerritus zu, allenfalls so viele Seufzer, wie es Tage alt geworden ist. Für die folgende Altersgruppe zwischen dem siebten und zwanzigsten Lebensjahr sehen die Ritenbücher dann doch den reduzierten Trauerritus vor. Einschränkungen betreffen dann, jeweils abgestuft, Art der Trauerkleidung, Dauer der Trauerzeit und weitere »Ansprüche«, wie ein Grab auf dem Familienfriedhof, eine Tafel auf dem Ahnenaltar und regelmäßige Opfer. Verlust ritueller Wirkkraft ist auch im konfuzianischen Ahnenkult mit der Idee kindlicher Reinheit verknüpft. Und so sind es auch hier die sieben- bis achtjährigen Knaben (tóng), die beim jahreszeitlichen Ahnenopfer, in die Festgewänder der Ahnen gekleidet, deren spirituelle Anwesenheit samt Segen »erzwingen« können. Alte Menschen trifft kein Reinheitsgebot, mögen sie als »drittes Geschlecht« auch »jenseits von Gut und Böse« sein und vor Rückfällen in kindliches Verhalten nicht gefeit. Ebenso wenig sind – über allgemeine Wertschätzung und Alltagsrituale hinaus (siehe unten) – im vorgeschrittenen Lebensalter gemeinschaftstragende Riten vorgesehen, weder aktiv noch passiv. Umso mehr für die im Alter Verstorbenen, denen ein streng geregelter Übergang vom Leben ins »Land der Toten« beschieden ist: Abschied und Trennung als behutsames Hinausgeleiten aus den im Leben mit anderen geteilten Situationen (siehe III.2.c).

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Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten

IV.1.b)Die für den Staatsbürger relevanten Zäsuren Im gesellschaftspolitischen Leben bedeutet Zugewinn vorrangig die Übernahme von Pflichten, die der Einzelne dem Kaiser oder Staat gegenüber schuldet. Ein Zugewinn an Rechten ist im Zivilrecht als Zugangsrecht zu Grund und Boden vorgesehen und im Strafrecht in Form von Schutzrechten. Zivilrecht. Zivilrechtlich sind drei Altersstufen vorrangig von Bedeutung, von denen die mittlere, die der aktiven Bevölkerung, den Staat am meisten interessiert. Der staatsbürgerlich Erwachsene wird nach dem vierten der Zehn Himmelsstämme dīng 丁 genannt. Dem Süden und der Wandlungsphase Feuer zugeordnet, symbolisiert dīng die höchste Blüte, die volle Entfaltung der Lebenskraft. Im Unterschied zu den Heranwachsenden (shǎo 少/yòu 幼) auf der einen Seite, den Alten (lǎo 老) auf der anderen sind dīng zur Kopf- und Bodensteuer veranschlagt, haben öffentliche Arbeit zu leisten und bis ins achte Jahrhundert Dienst im kaiserlichen Heer. Von da an sorgt ein Berufsheer für die staatliche Sicherheit. Zwar musste dem Kaiser, seinem Hofstaat wie der gesamten Beamtenschaft daran gelegen sein, möglichst zahlreiche Staatsbürger zu verpflichten. Doch in Notzeiten, Kriegen oder sonstigen Katastrophen schien es ratsam, den Zeitpunkt staatsbürgerlicher »Mündigkeit« (chéng-dīng 成丁) hinauszuzögern. Das war unter den Dynastien Sui (605–618), Tang (618–905) und Song (960–1278) immer wieder der Fall. Im Allgemeinen liegt die Zäsur im sechzehnten Lebensjahr, was wiederum der männlichen Geschlechtsreife entspricht. In der Frühen Kaiserzeit sind den »ordentlichen dīng« (zhèng-dīng 正丁) die Dreizehn- bis Fünfzehnjährigen vorangestellt mit Steuerpflichten und Landrechten, jeweils die Hälfte im Vergleich zum vollgültig Erwachsenen. Geht es darum, die Gesamtbevölkerung zu erfassen, so ist 132 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Lebensstufen

innerhalb der Heranwachsenden weiter differenziert: nach Kleinkindern bis drei oder vier Jahre (huáng 黃 »die Gelben«), Kindern zwischen Fünf und Fünfzehn (xiǎo 小»die Kleinen«) und der bereits volljährigen Altersgruppe zwischen Sechzehn und Zwanzig (zhōng 中»die Mittleren«) (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Zivilrechtliche Altersstufen Landrechte/fiskalische Pflichten Demographisch relevante Altersdifferenzierung shǎo 少/yòu 幼 Heranwachsende huáng 黃 die Gelben, 3–4 J. xiǎo 小 die Kleinen, 5–15 J. dīng 丁 Mündige ab 16 J. zhōng 中 die Mittleren, 16–20 J. dīng 丁 vollgültig Erwachsene ab 16 J. lǎo 老 Alte ab 60 J. lǎo 老 Alte ab 60 J.

Auch die Altersgrenze, ab der ein Erwachsener als lǎo 老 (alt) eingestuft und damit seiner staatsbürgerlichen Pflichten ledig ist, variiert vor dem Hintergrund bevölkerungspolitischer Interessen. So wurde nach der tibetischen Invasion (763), als das Land infolge der Rebellion des An Lushan (755–757) ohnehin verwüstet und ausgeblutet war, die Altersgrenze von Sechzig auf 55 herabgesetzt. Wie labil in dieser Epoche nicht abreißender Wirren die Altersabstufung war, zeigen Bevölkerungslisten aus den westlichen Regionen, wo sogar unmündige Knaben vorzeitig als dīng registriert sind, sofern sie als einzige männliche Person im Haushalt verblieben. Strafrecht. Im Vergleich zum Zivilrecht stell sich die Altersdifferenzierung im Strafrecht sehr viel stabiler dar. Der Gedanke eingeschränkter Strafverfolgung, im Falle minderjähriger und älterer Menschen, findet sich schon im Liji: »Ein Kind bis zu sieben Jahren nennt man tiáo 齠; ein tiáo und ein mào 耄, ein Achtzig- bis 133 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten

Neunzigjähriger, erleiden keine Körperstrafe, selbst im Falle eines Vergehens.« Den Grund dafür liefert Jahrhunderte später der Codex der Tang-Dynastie (618–905): »Junge und Alte verfügen über weniger Verständnis (zhì 智) als der durchschnittliche Erwachsene. Hier muss man besondere Güte und Milde walten lassen.« Auf die Alten bezogen fällt dann im QingCodex, dem Gesetzbuch der Mandschu- und letzten Kaiserdynastie (1644–1911/12), die Begründung sehr viel pragmatischer aus: »Ihre Kräfte neigen sich dem Ende zu. Sie sind nicht in der Lage, das Verbrechen zu wiederholen. Deshalb ist besondere Milde am Platz.« Der Grad der Strafmilderung, die allen Kindern bis zur Volljährigkeit zusteht und alten Menschen jenseits der Siebzig hängt selbstverständlich von der Schwere des zur Last gelegten Vergehens ab. Grundsätzlich gliedert der Codex der Tang-Dynastie, an dem sich alle nachfolgenden Codices grob orientieren, die Jungen bis zur Geschlechtsreife und die Alten über Siebzig in drei verschiedene Kategorien, die einander analog zugeordnet sind. Die erste fasst die jeweils Jüngsten und Ältesten zusammen, das heißt Kinder unter Sieben und alte Menschen über Neunzig; die zweite die Acht- bis Zehnjährigen und Achtzigbis 89jährigen, die dritte die Elf- bis Fünfzehnjährigen und Siebzig- bis 79jährigen (siehe Tabelle 2). Für alle drei Kategorien gilt: Verbot der Folter, um ein Geständnis zu erzwingen; auch ist bei ausbleibendem Schuldbekenntnis die verhängte Fastenzeit auf 1½ Tage beschränkt – statt der zehn Tage beim strafrechtlich vollgültig Erwachsenen; in allen Fällen hat der Richter vor einer Verurteilung mindestens drei Zeugen zu befragen; an Strafen kann er weder die Tätowierung anordnen noch das Tragen des Holzkragens. Im Falle der Jüngsten und Ältesten, das heißt Angeklagten unter Sieben und über Neunzig, ist darüber hinaus grundsätzlich von der Todesstrafe abzusehen. In der zweiten Kategorie (8– 10 und 80–89) können die Todesurteile und in der dritten Kategorie (11–15 und 70–79) die Stockschläge sowie Verbannungs134 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Lebensstufen

urteile jeweils durch Geld abgelöst werden. Bei geringeren Delikten gehen Angeklagte der ersten und zweiten Kategorie ohnehin straffrei aus. Tabelle 2: Strafrechtliche Altersstufen Junge

Alte

bis 7 J.

über 90 J.

Strafen

Verbot der Todesstrafe bei geringfüg. Delikten straffrei 8 bis 10 J. 80 bis 89 J. Lösegeld b. Todesstrafe bei geringfüg. Delikten straffrei 11 bis 15 J. 70 bis 79 J. Lösegeld b. Stock- u. Exilstrafe

Schutzrechte für alle 3 Kategorien Verbot der Geständnisfolter reduzierte Fastenzeit 3 Zeugenbefragungen Verbot von Tätowierung Verbot von Holzkragen

IV.1.c) Die abgestufte Entfaltung der Persönlichkeit Die nachweislich älteste Stufeneinteilung in der Entwicklung der Persönlichkeit wird Konfuzius nachgesagt. In den Gesprächen mit den Schülern unterscheidet er drei Phasen: shào 少 den jungen Mann, zhuàng 壯 den Mann im besten Mannesalter und lǎo 老 den alten Mann. Hinter diesen drei Begriffen verbirgt sich ein ganzes Programm abgestufter (Selbst)Vervollkommnung, die Konfuzius als »Heranreifen von Menschlichkeit« (rén-shóu 仁熟) begreift. Ordnet er dem jungen Mann die Dichtkunst (shī 詩) zu und deren zum Lernen und Sich-Bilden stimulierende Wirkung, so dem mittleren Lebensalter das Ritual (lǐ 禮), das allein moralische Festigkeit garantiert; dem alten Mann aber gehört die Musik (yuè 樂), die zur Vollendung chéng 成 führt. Von chéng (werden/vollenden) leitet sich dann auch die Bezeichnung für den »Erwachsenen« ab: chéng-rén 成人, was dann 135 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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weniger den einmal erreichten Status des Erwachsenen meint als vielmehr das »Auf-dem-Weg-Sein«: Der chéng-rén ist mehr ein werdender als ein fertiger Mensch. Den drei Altersstufen (Jugend-Mann-Alter) und beigeordneten Inhalten der Beschäftigung (Dichtkunst-Ritual-Musik) entsprechen drei Weisen des Lernens: Beginnt der junge Mann mit der bloßen Anhäufung von »Kenntnissen« (zhì 智), so folgt dem im besten Mannesalter ein Suchen und Forschen aus »innerem Antrieb« (hào 好), bis er sich schließlich im Alter als »heiter (Erkennender)« (lè 樂) erweist. Die Parallelität der Stufenmodelle zeigt sich nicht zuletzt im Schriftzeichen, das in beiden Fällen für die höchste Stufe steht: Die Zeichen für Musik (yuè 樂) und Freude/gelassene Heiterkeit (lè 樂) sind identisch, nur die Aussprache ist verschieden (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Bildung der Persönlichkeit Alter Jugend shào 少 Mann zhuàng 壯 Alter lǎo 老

Beschäftigung Dichtkunst shī 詩 Ritual lǐ 禮 Musik yuè 樂

Art des Lernens Kenntniserwerb zhì 智 innerer Antrieb hào 好 heitere Erkenntnis lè 樂

Die eigene Entwicklung hat Konfuzius in zehn Stufen dargestellt, wobei er mit dem fünfzehnten Lebensjahr beginnt: Mit Fünfzehn war mein Sinn aufs Lernen gerichtet; mit Dreißig stand ich fest; mit Vierzig vermochte mich nichts mehr zu verwirren (huò 惑); mit Fünfzig wusste ich um die Anordnungen des Himmels (tiānmìng 天命); mit Sechzig gehorchten mir meine Ohren (ěr-shùn 耳順); mit Siebzig konnte ich meines Herzens Wünschen folgen, ohne die Grenzen zu überschreiten. 108

Auf die von Konfuzius vorgelegten Altersstufen rekurrieren spätere Modelle, ergänzt um die Erweiterung sozialen Verhaltens. Grundsätzlich konnte Erziehung demnach nicht früh genug beginnen. Während das Kind noch im Schoß der Mutter weilt, soll sie sich ausschließlich mit »schönen Dingen« befassen. Bis ins dritte Lebensjahr wird das Kind gestillt und immer 136 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Lebensstufen

wieder liebevoll auf den Arm genommen. Die intensive dreijährige Zuwendung in der frühen Kindheit ist dann auch der Grund für die dreijährige Trauerpflicht nach dem Tod von Vater und Mutter. Sobald es selbständig essen kann, lernt das Kind, mit Essstäbchen umzugehen. Von nun an hat – in Anwesenheit von Erwachsenen – die Rede der Knaben »klar und stolz«, die der Mädchen »scheu und leise« zu sein. Letztere machen sich bald nützlich beim Fegen und Putzen. Einschneidende Veränderung vor der Geschlechtsreife bringt das siebte Lebensjahr. In diesem Alter »kennt ein Kind die Scham und verbirgt sein Geschlecht«. Knaben und Mädchen sitzen von nun an nicht mehr auf derselben Matte und nehmen die Mahlzeiten nicht mehr gemeinsam ein. Beide wissen, »den Älteren den Vortritt zu lassen« (ràng 讓), und haben beim Ahnenopfer zugegen zu sein. Lernt der Knabe von nun an Lesen, Schreiben, Rechnen und das Buch der Lieder auswendig, widmen sich die Mädchen dem Spinnen und Weben, Nähen und Sticken, Kochen und der Aufzucht der Seidenraupen – kurz, allen »weiblichen Fertigkeiten« der inneren Gemächer. So schreiben es die Ritenbücher vor, teilweise auch spätere »Familienregeln« (家訓 jiā-xùn). In der Oberschicht war es Töchtern des Hauses jedoch erlaubt, schreiben, lesen und rechnen zu lernen, sich in Dichtkunst, Kalligraphie und Malerei und den anderen Künsten und Wissenschaften zu bilden und fortzubilden. Die für Familie und Gesellschaft verantwortungsvollste Lebenszeit fällt ins zweite, dritte und vierte Jahrzehnt. Mit Fünfzig hat es der Mann möglichst zum Beamten gebracht; mit Sechzig »gibt er Anweisungen und sorgt für deren Umsetzung«; mit Siebzig »überträgt« (zhuǎn 轉) er die Familienbelange dem ältesten Sohn. Dann spätestens ist es an der Zeit, vom tätigen Leben Abschied zu nehmen: tuì-mù 退暮 lautet der Ausdruck für den »Rückzug in den Lebensabend«: Verzicht auf »Gedränge am Hof« und »Plackerei im Amt«, um sich in der Abgeschiedenheit eines kleineren oder größeren Landguts behaglich einzurichten, zufrieden mit dem, was zugegen ist: »Man braucht 137 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten

die vergänglichen Freuden nicht zu verlachen und Glück und Lachen nicht zu vermeiden. Man ruhe aber im Wandel und überlasse sich der Veränderung. So dringt man in die Stille ein und vereinigt sich mit dem Himmel.« 109 Heitere Gelassenheit (lè 樂/shì-rán 釋然/cōng-róng 從容), den bejahrten Dichtern auf den Leib geschrieben, hat für einen Mann folgende Gründe: Oh! Meiner Freuden sind viele! Unter allen Geschöpfen, die der Himmel erzeugt, ist der Mensch das edelste. Und mir ist es zuteil geworden, ein Mensch zu sein: Das ist meine erste Freude. Der Unterschied zwischen Mann und Frau ist, dass der Mann geehrt wird (zūn 尊) und die Frau geringgeachtet (bēi 卑). Nun ist mir zuteil geworden, dass ich ein Mann bin: Das ist meine zweite Freude. Unter den Menschen, die geboren werden, gibt es solche, die nicht Sonne oder Mond erblicken oder den Arm der Amme nie verlassen. Nun wandere ich schon 90 Jahre umher: Das ist meine dritte Freude. Armut ist das beständige Los des Gelehrten (shì 士), der Tod das Ende aller Menschen. Wenn man in dieser Lage verweilend das Ende erreicht: Worüber sollte man da traurig (yōu 憂) sein? 110

Die Aufforderung, heiter und gelassen zu sein, verbirgt sich auch hinter der heute noch üblichen Redensart: Sài-wēng shīmǎ 塞翁失馬 (Der Greis von der Grenze, der sein Pferd verlor), salopp übertragen: »Wer weiß, wofür’s gut ist?!« Die Geschichte dazu aus dem Huainanzi lautet wie folgt: Nahe der nördlichen Grenze lebte ein rechtschaffener Mann. Eines Tages verschwand sein Pferd … im Land der Hu. Da bedauerten ihn alle. Der Alte (fù 父) aber sprach: »Woher wollt ihr wissen, ob das nicht vielleicht ein Glück ist (bù wéi fú hū 不為福乎)?« Nach ein paar Monaten kehrte das Pferd aus der Steppe zurück, mit edlen Pferden im Gefolge. Jetzt beglückwünschten ihn alle. Der Alte aber sprach: »Woher wollt ihr wissen, ob das nicht vielleicht ein Unglück ist? (bù wéi huò hū 不為禍乎)« … Sein Sohn, ein guter Reiter, ritt die Pferde zu, verletzte sich aber bei einem Sturz die Hüfte (bì 骳). Und wieder bedauerte man den Alten, und wieder stellte er die Frage: »Woher wollt ihr wissen, ob das nicht vielleicht ein Glück ist?« Nach einem weiteren Jahr fielen die Hu ins Grenzland ein; alle volljährigen jungen Männer (dīng-zhuàng-zhě 丁壯者) wurden einge-

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Lebensstufen

zogen … Nur dieser eine nicht, weil er lahmte (bǒ 跛). Vater und Sohn kümmerten sich um einander. So war aus einem Glück ein Unglück geworden und aus einem Unglück ein Glück (gù fú zhī wéi huò, huò zhī wéi fú 故福之為禍,禍之為福). 111

Ohne zu werten, dem zugewandt, was gerade ist und geschieht und wie eins aus dem andern folgt – ist der Alte im Einklang mit den Wandlungen von Yīn und Yáng. Beim Vergleich der drei Stufenmodelle im Kultus, im Recht und in der Entwicklung der Persönlichkeit fällt auf, wie fein differenziert die Altersabschnitte sind. Die Anlehnung an körperlich-biologische Zäsuren schließt kulturelle Überprägung nicht aus, so dass tendenziell beim männlichen Geschlecht Ehefähigkeit von der biologischen Reife abgekoppelt, das heißt eine Art Jugendphase eingeschoben ist (siehe IV.2.c). Das Kapitel abschließend, sei eine Stufenfolge zitiert, frei von rituellen, gesetzlichen und moralischen Vorgaben. Sie kommt beschwingt in Zehnerschritten daher – im Lied des trinkfreudigen Lu You, dessen Refrain bis ins sechste Lebensjahrzehnt (!) nach jeder Strophe lautet: »Was sind dagegen die Weingelage der Alten?« Erst danach meldet sich, Lu You zufolge, dem 85 Lebensjahre vergönnt waren (siehe I.1.a), die Unbequemlichkeit des Alters: 1. Lebensjahrzehnt: Vom Morgen an draußen beim Spiel, bei Dämmerung erst kehren sie heim. Die sechs Gefühle im Überschwang, im Einklang das Herz. Was sind dagegen die Weingelage der Alten? 2. Lebensjahrzehnt: Leuchtend die Augen, Antlitz aus satt-feuchtem Glanz. Großspurig die Reden und stolz der Schritt. Was sind dagegen die Weingelage der Alten? 3. Lebensjahrzehnt: Kraft genug, den bronzenen Tripod zu heben. Durst, als ob der Weinkrug leckt. Überschäumend die Lebenskraft. Was sind dagegen die Weingelage der Alten! 4. Lebensjahrzehnt: Unterwegs im ganzen Land und kehrt doch zurück an den Hof. Was sind dagegen die Weingelage der Alten? 5. Lebensjahrzehnt: Er schlägt die Glocken und Trommeln, übertrifft an Wohlklang der Singmädchen Lied. Gefällig sein Lachen und

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Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten

seiner Rede Fluss, unübertroffen im Tanz. Was sind dagegen die Weingelage der Alten? 6. Lebensjahrzehnt: An Jahren alt und erfahren (nián yì lǎo-ài 年亦 老艾), auf dem Höhepunkt im Amt und Geschäft. Enkelkinder in großer Schar, das Haus auf begütertem Grund. Was sind dagegen die Weingelage der Alten? 7. Lebensjahrzehnt: Entspannt der Geist, gedämpft der Übermut, geschwächt die Kraft. Man meidet sein Spiegelbild in klarem Wasser und glanzpolierten Metall. 8. Lebensjahrzehnt: Vermindert das Augenlicht, die Ohren lassen zu wünschen übrig, schon wieder vergessen die Worte von eben. 9. Lebensjahrzehnt: täglich – Meldung von Hinfälligkeit, monatlich – Meldung von Schwäche; ist der Körper (xíng-tǐ 形體) auch intakt, fehlt es an Klarheit im Geist oder am Willen; verwirrt die Rede, Trübsal im Sinn. Hundertjährig: Schon zeigt sich die Fülle der Jahre in Sehnen und Muskeln, in Haut und Fleisch. Unkoordiniert Glieder und Gelenke; Augen wie trübe Spiegel; der Mund hängt schlaff herab. Beim Atmen (hū-xī 呼吸) schnappt man nach Luft, selbst auf dem Bett findet man keine Ruhe mehr. 112

IV.2 Das Prinzip der Gegenseitigkeit Das Schriftzeichen für »alt« (lǎo 老), kombiniert mit dem Zeichen für »Kind« (zǐ 子), ergibt das Zeichen für »kindliche Pietät« xiào 孝. Indem das »Kind« im Bildzeichen unten erscheint und »alt« oben, versinnbildlicht es den Wunsch, die Jungen mögen die Alten stützen. Doch ist auch Gegenseitigkeit (xiāng 相) unterstellt: »Jedem das Seine«. Dafür steht die Formel des Konfuzius fù-fù zǐ-zǐ 父父子子: »Den Vater wie einen Vater behandeln, den Sohn wie einen Sohn«. Das heißt kindliche Pietät im Tausch gegen elterliche Fürsorge; drei Jahre Trauerzeit im Tausch gegen die ersten drei Lebensjahre (siehe oben). »Jedem das Seine« bedeutet nicht Gleichheit, »jedem das Seine« verträgt sich mit Asymmetrie. Nachweisbar am Siegeszug der Kindlichen Pietät (IV.2.a), die bald zur Tugend par excellence gerät. 140 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Das Prinzip der Gegenseitigkeit

Sogar Goethe war davon beeindruckt, als er »Wilhelm Meisters Lehrjahre« schrieb. Auf Seiten der jüngeren Generation umfasst xiào 孝: Vater und Mutter ein Leben lang dankbar zu sein, ihnen zu folgen, sie im Alter zu versorgen und nach dem Tod in aller Ehrfurcht zu bestatten. Auch die Opferriten für Eltern und Ahnen fallen unter xiào und nicht zuletzt der achtsame Umgang mit Familienbesitz. Auf Seiten der Eltern und Großeltern lautet der Auftrag ebenso umfassend: die Kinder »zu hegen und zu versorgen« (fǔ-yǎng 撫養), zu belehren und zu führen (jiāo-dǎo 教導), nicht zuletzt zu verheiraten. Versagt die ältere Generation, gilt auch das als mangelnde Kindespietät bú-xiào 不孝, und zwar den Ahnen gegenüber. So kommt es, dass bú-xiào für Ungehorsam stehen kann (IV.2.b) und schließlich für alles ungebührliche und ruchlose Benehmen. Zuletzt geht es um Bewertungen von Jung und Alt in der Geschichte (IV.2.c). Hier zeigt sich auf den ersten Blick, dass »Gegenseitigkeit« nicht bedeutet, »Gleiches mit Gleichem zu vergelten«. Der ursprüngliche Sinn des Wortes kommt dann zum Vorschein, wenn Hoch- und Geringschätzung sich als gegen-läufig erweisen, das heißt Hochschätzung der Alten Geringschätzung der Jungen bedeutet und umgekehrt.

IV.2.a)Kindliche Pietät Kindliche Pietät xiào 孝 hat ihren Ursprung im Ahnenkult des Zhou-zeitlichen Adels. Viermal im Jahr traf die Abstammungsgemeinschaft in der väterlichen Linie zusammen, um gemeinsam den Ahnen zu opfern. Auf den Ritus der Opfergaben folgte ein Umtrunk, bei dem alle Anwesenden in die Kommunion mit den Geistern der Ahnen einbezogen sind. Zuletzt verblieben die männlichen Nachfahren des Urahns zum gemeinsamen Mahl, bei dem das Alter den Vorsitz führte: 141 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten

Beim Mahl entbietet die jüngere Generation der älteren Generation den Trunk, um für deren Huld zu danken. Die Bewirtung der Alten dient dazu, die Reihenfolge des Alters zu bestimmen, die Stellung der Verstorbenen zu beachten, Riten und Sitten der Alten zu befolgen, deren Musik aufzuführen, zu ehren, was sie wert gehalten, zu lieben, an was sie anhänglich waren, den Toten zu dienen, wie man den Lebenden dient, den Hingegangenen zu dienen, wie man den Anwesenden dient: Das ist die höchste Art kindlicher Pietät. 113

Der Dienst an Vater und Mutter (shì fù-mǔ 事父母) beginnt beim Essen und Trinken, wobei den Eltern selbstverständlich der Vortritt gebührt. Solange die Eltern leben, nehmen die Kinder willig die Mühen der Arbeit auf sich und zügeln auch den Impuls, in die Ferne zu schweifen: »Die Jahre von Vater und Mutter darf man nie vergessen: erstens, um sich darüber zu freuen, zweitens, um sich darüber zu sorgen.« Ausgiebiger als Konfuzius verweilt das Liji bei den täglichen »Regeln für den Inneren Bereich« (nèi-zé 內則). Es lohnt, dieses buntgescheckte »Sitten-Soll-Gemälde« genauer zu betrachten, wenn auch die Liebe zum Detail ausschließt, es könnte – Hand aufs Herz – jemals so gewesen sein. Nicht einmal in der Oberschicht, an deren Adresse diese Verhaltensgebote gerichtet sind. Gewiss aber spiegeln sie den Wunsch der Älteren, vorsorglich die Weichen zu stellen für den Rückzug am Lebensabend, um es dann möglichst gut zu haben und rundum geborgen zu sein. Über die Konditionierung der Kinder und Kindeskinder hinaus zeigen die Regeln für den Inneren Bereich ganz nebenbei das »Sowohl-als-auch« von Körper und Leib in ihrer Wechselwirkung, wenn Körper-Hygiene Voraussetzung ist für Wohlbefinden (hier im Falle der Alten) und ein gepflegtes Äußeres Ausdruck der inneren Haltung (hier im Falle der jüngeren Generation): Ein Sohn soll wie folgt seinen Eltern dienen (zǐ shì fù-mǔ 子事父母): Beim ersten Hahnenruf wäscht er die Hände, spült den Mund, kämmt sich …, setzt die Kappe auf und bindet sie fest … Er kleidet sich an und legt den Gürtel um … Links und rechts am Gürtel hängen zu seinem

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Das Prinzip der Gegenseitigkeit

Gebrauch: links ein Wischtuch, Handtuch, Messer und Wetzstein, die kleine Ahle, ein metallener Spiegel …, rechts Daumenring und Armring für das Bogenspannen, eine Röhre mit Schreibgeräten, die große Ahle und der Feuerbohrer. Dann umwickelt er die Beine und knüpft die Schuhbänder. Eine Schwiegertochter soll den Schwiegereltern wie ihren eigenen Eltern dienen. Beim ersten Hahnenruf wäscht sie die Hände, spült den Mund, kämmt sich …, kleidet sich an und legt den Gürtel um. Links am Gürtel hängen ein Wischtuch, Handtuch, Messer und Wetzstein, die kleine Ahle, ein metallener Spiegel; rechts am Gürtel eine Nadeldose, Faden und Seide …, eine große Ahle, ein Feuerbohrer, ein Riechkissen. Dann schnürt sie die Schuhe und begibt sich zum Ort der Schwiegereltern. Dort angekommen, fragen die beiden mit verhaltenem Atem (xià qì 下氣) und freundlicher Stimme (yí-shēng 怡聲), ob die Kleider der Eltern warm genug sind und ob ihnen auch sonst nichts fehlt. Juckt es oder schmerzt es die Eltern, so reiben und kratzen sie an der betreffenden Stelle mit allem Respekt (jìng 敬). Beim Eintreten oder Verlassen der Räume gehen die Jungen den Alten voran oder folgen ihnen und stützen sie mit allem Respekt. Beim Waschen der Eltern hält die jüngere Tochter die Waschschüssel, während die ältere mit dem Wasser hantiert. Zuvor bitten sie die Eltern um Erlaubnis, sie waschen zu dürfen. Nach dem Waschen reichen sie den Eltern das Tuch und fragen, was sie zu essen wünschen. All dies bringen sie freundlich herbei, um Vater und Mutter an Leib und Herz zu erwärmen: Grütze oder Suppe, Wein oder Süßwein, Fleisch- und Gemüsebrühe … Datteln …, Honig, um die Speisen zu versüßen; Petersilie, Sellerie …, Samen, roh und getrocknet, damit die alte Haut sich glättet; Fett und Speck, um die Eltern zu kräftigen. Vater und Mutter müssen von den Speisen gekostet haben, dann erst ziehen sich die Jungen zurück … In den Räumen der Eltern wird jeder Befehl mit einem »Ja« (wéi 唯) befolgt und respektvoll geantwortet. Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen sowie Drehungen und Wendungen haben achtsam und gemäßigt zu geschehen. Beim Auf- und Niedersteigen der Stufen, beim Hinausgehen und Eintreten, beim Begrüßen oder Weggehen wagen die Jungen weder zu husten noch zu gähnen, sich zu recken noch zu strecken, sich anzulehnen oder umherzuspähen. Sie wagen auch nicht zu spucken oder sich zu schneuzen. Bei Kälte wagen sie nicht, sich über-

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Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten

mäßig warm anzuziehen; wenn es sie juckt, wagen sie nicht, sich zu kratzen … Wenn die Eltern aber spucken oder sich schneuzen müssen, entfernen sie die Spuren. Bei Schmutz an Kopfbedeckung, Gürtel oder deren Gewand mischen sie Kalkwasser und bitten darum, die Kleider säubern zu dürfen. Sind die Kleider gerissen, nehmen sie Nadel und Faden und bitten darum, sie flicken zu dürfen. Alle fünf Tage bereiten sie heißes Wasser und bitten die Eltern zu baden. Alle drei Tage bereiten sie eine Kopfwäsche vor. Ist das Gesicht unterdessen schmutzig geworden, holen sie Reiswasser und bitten darum, das Gesicht waschen zu dürfen; sind die Füße schmutzig, halten sie warmes Wasser bereit und bitten, die Füße waschen zu dürfen … So dienen die Jungen den Alten, die Geringen den Geehrten, auf genau diese Weise! 114

Wie es zugeht, dass im Verlauf der Kaiserzeit die Tugend der Kindespietät umso heller erstrahlt, nachdem alle anderen Werte der Feudalordnung abgewirtschaftet sind, ist leicht zu ersehen: Den Anfang macht ein gewisser Yang Xiong (52 v. Chr.–18 n. Chr.). Sein Hauptwerk Der Klassiker vom Großen Dunklen (Taixuanjing), formal dem Buch der Wandlungen (Yijing) nachgebildet, hält inhaltlich entscheidende Neuerungen bereit: Zeigt Hexagramm Vier im Yijing, überschrieben mit méng 蒙 (Kindliche Torheit), bei allem Erziehungsauftrag noch großes Vertrauen in die junge Generation: »Jugendliche Torheit hat Gelingen, kindliche Torheit bringt Heil«. So lässt Yang Xiong nur noch die Hälfte gelten. In Hexagramm Zwölf, überschrieben mit tóng (Knaben, siehe IV.1.a), heißt es nunmehr, dass der Heranwachsende nicht nur der Führung bedarf, sondern einer harten Zucht, ohne die er auf Abwege gerät. In eben diese Richtung weist der Klassiker der kindlichen Pietät (Xiaojing), zeitgleich niedergelegt und ein halbes Jahrtausend später in den konfuzianischen Kanon aufgenommen. Hier ist die Tugend xiào 孝 im wahrsten Sinne des Wortes auf den Begriff gebracht. Höhepunkt der Entwicklung sind die 24 Beispiele kindlicher Pietät (Ershisi-xiao), zusammengestellt unter der Yuan-Dynastie (1278–1368), ohne Witz und ohne Humor 144 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Das Prinzip der Gegenseitigkeit

und heute noch jedem älteren Chinesen so vertraut wie uns die Märchen der Brüder Grimm: eine Sammlung rührseliger Geschichten, in denen die kindliche Pietät Räuber und Banditen, Pflanzen und Tiere, ja den Himmel (tiān 天) zu Tränen und Mitleid bewegt. Stellvertretend für diese Wundergeschichten, die damals das Reich der Mitte überschwemmten, sei hier das 13. Beispiel zitiert mit der Überschrift: »Der Mutter zuliebe den Sohn begraben«: Guo Ju lebte in Armut und hatte einen drei Jahre alten Sohn und eine Mutter, die sich vom Essen absparte, um es dem Enkel zu geben. Da sprach Ju eines Tages zu seiner Frau: »Wir sind so arm, dass wir die Mutter nicht einmal versorgen können, und nun bekommt der Sohn noch einen Teil von ihrem Essen ab. Warum begraben wir nicht diesen Sohn? Einen Sohn können wir wiederhaben, eine Mutter aber nicht.« Seine Frau wagte nicht zu widersprechen. So hob Ju die Grube aus, und als er mehr als drei Fuß tief gelangt war, stieß er auf einen goldenen Topf. Darauf stand geschrieben: ›Der Himmel schenkt das Gold dem Guo Ju, dem Kindespflicht übenden Sohn. Kein Beamter soll es ihm entreißen, niemand aus dem Volk soll es ihm nehmen.‹ So wurde dem Knaben das Leben gerettet. 115

Während der gesamten Kaiserzeit war die Tugend der Kindespietät nie ernsthaft infrage gestellt. Im Gegenteil, die VaterSohn-Beziehung erschien geeignet, quasi naturwüchsig die Loyalität dem Herrscher, den Ministern und Beamten gegenüber zu untermauern. Die oben zitierte Formel des Konfuzius lautet nämlich vollständig: fù-fù zǐ-zǐ jūn-jūn chén-chén 父父 子子君君臣臣 (Den Vater wie einen Vater, den Sohn wie einen Sohn, den Fürsten wie einen Fürsten und den Minister wie einen Minister behandeln). Hier hatte die Familie als Ordnungsmodell für die hierarchisch gestufte Gesellschaft ihren ursprünglichen Ort. Das Liji war gewiss kein Kultbuch, als Pflichtlektüre für jeden Beamtenanwärter aber durch die Jahrhunderte ein Tugendbrevier für kindliche Pietät. Erst im 20. Jahrhundert bricht die Vierte-Mai-Bewegung (1919), erste Jugendrebellion in der Geschichte Chinas, radikal 145 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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mit der längst erstarrten konfuzianischen Moral samt ihrer Kindespflicht. Diese kulturpolitische Bewegung war nicht vom Himmel gefallen: In Novellen und Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts stand vorauslaufend der junge Mensch an der Schwelle zum Erwachsensein, entschlossen, der »Vergreisung der Welt« (siehe IV.2.c) jugendliche Frische entgegenzuhalten, Unerschrockenheit und Witz.

IV.2.b)Ungehorsam Sich der Kindes- und Gehorsamspflicht (xiào 孝) zu verweigern, wird seit Mengzi mit der Negation bù xiào 不孝 benannt. Ihm bedeutet Kinderlosigkeit Ungehorsam, weil der Ahnenkult dann nicht fortgeführt werden kann und die Familie »stirbt«. Hand in Hand mit dem Siegeszug der Kindespietät erlebt die Negation eine analoge Karriere: in der Gesetzgebung, die sich bald auch innerfamiliärer Vergehen annehmen wird. Ungehorsam in Gesetz und Recht. Sämtliche kaiserzeitlichen Codices werten bu-xiao als eines der zehn todeswürdigen Vergehen. Und doch liegt kein Urteil vor, das die Todesstrafe allein aus diesem Grunde belegt. Denkbar ist, dass Strafandrohung für ein nicht amnestierbares Verbrechen jederzeit zu aktivieren war – wie ein »Knüppel aus dem Sack« –, falls es einer Strafjustiz opportun erschien. Auch im Minggong shupan qingming ji, einer Zusammenstellung von familienrechtlichen Urteilen (pàn-duàn 判斷) aus dem 13. Jahrhundert, wird Verletzung von Kindespflicht verhandelt, ein Todesurteil aber nicht erwähnt. Gleichwohl nimmt kindliche Pietät im Wertekanon der betreffenden Richter den dritten Rang ein: nach Gesetz (fǎ 法) und Moral (lǐ 禮) an erster Stelle, Pflicht (yì 義) und Gemeinsinn (gōng 公) an zweiter. Damit steht sie noch vor Zwischenmenschlichkeit (rén 仁), Milde (ēn 恩), Loyalität (zhōng 忠) und Ehrerbietung (jìng 敬). 146 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Das Prinzip der Gegenseitigkeit

Die songzeitlichen Gerichtsurteile, dreizehn Richtern unterschiedlicher Instanzen zugeschrieben, sind vorrangig mit Erbund Vermögenshändel befasst, aber auch mit Familienstreit infolge von Heirat, Wiederheirat, Scheidung und Adoption. Sie spiegeln die Rechtspraxis einer bestimmten Region, Mittelchina, an einer Nahtstelle der Geschichte, der Mittleren Kaiserzeit (10.–13. Jahrhundert). Als solche dokumentieren sie die gesteigerte Wertschätzung der Kindespietät, aber auch den, im Vergleich zur Späten Kaiserzeit, milderen Umgang der Richter mit Mensch, Gesetz und Moral: Offensichtlich bemüht, ausgleichend im Sinne des Familienfriedens zu schlichten, plädieren sie für strafrechtliche Verfolgung nur bei schwerwiegenden Vergehen gegen die Kindespflicht. Demnach reicht anhaltender Ungehorsam gegen Vater und Mutter aus, um einen Sohn zu enterben. Schon gegen Vater oder Mutter vor Gericht zu erscheinen, gilt als »ungehorsam« und ist dem Vater gegenüber erst nach dessen Tod erlaubt. Als besonders konfliktträchtig erweist sich das Verhältnis zwischen Vater und Adoptivsohn sowie zwischen Vater und Stiefsohn, dem Sohn aus erster Ehe der Frau. Zwar sind Adoptiv- und Stiefsöhne mit den Söhnen der Haupt- und Nebenfrauen in die Gegenseitigkeit der Pflichten und Rechte eingebunden: »Groß ist die Beziehung zwischen Vater und Sohn (fù zǐ rén-lún dà 父 子人倫大).« Und doch hat ein Stiefsohn kein Recht, das Erbteil einzufordern, und der Adoptivsohn kann, bei hartnäckigem Ungehorsam, in die Herkunftsfamilie zurückgeschickt werden. Gleichzeitig sind alle Söhne vor Übergriffen anderer Mitglieder der Abstammungsgemeinschaft geschützt, mit denen »unter einem Dach« gelebt und gewirtschaftet wird. Das heißt, ein Bruder des verstorbenen Vaters mag als kollaterales Oberhaupt den Familienvorsitz führen, kann aber nur eingeschränkt über die Neffen und deren Besitz verfügen. Eine solche Familienkonstellation war den Richtern aus Prinzip verdächtig und aus gutem Grund: In mehreren Fällen hatte der Onkel, auf Kosten der halbwüchsigen Neffen, die eigenen Söhne bevorzugt. Anschaulich 147 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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nährt ein Richterkommentar den Topos der schutzbedürftigen Waisen und Witwen und zeigt, wie wenig »bürokratisch« hier argumentiert wird: »In seinem Haus verblieben nur noch … eine besorgte Witwe und ein verängstigtes Kind wie einsame Schatten in tiefer Trauer zurück.« Nach Ausweis besagter Fallsammlung verstießen Ältere wie Jüngere gegen das »zwischenmenschliche Empfinden« (rén-qíng 人情) und damit gegen das Prinzip der Gegenseitigkeit. Dann hatten sich Ältere wie Jüngere dem Vorwurf des Ungehorsams (bù-xiào) zu stellen und entsprechende Strafen hinzunehmen, von Stockschlägen bis zur Verbannung. Ein Recht auf Ungehorsam? Nicht wirklich bei Konfuzius. Nur sehr vorsichtig spricht er dem Sohn das Recht zu, die Eltern zu ermahnen: »Den Eltern dienend darf man ihnen in zarter Weise Vorhaltungen (jiàn 諫) machen. Sieht man aber, dass sie nicht gewillt sind zu folgen, soll man fortfahren, sich ehrerbietig und ohne Murren zu fügen.« Statt direkter Konfrontation mag Konfuzius der Ansteckungskraft exemplarischen Verhaltens vertraut haben. Das legt zumindest eine Textstelle in den Gesprächen nahe, die mit dem Namen Min Ziqian verknüpft ist, einem von der Stiefmutter misshandelten jungen Mann, der sich fortgesetzt pietätvoll verhält und sie tatsächlich zur Umkehr bewegt. Die Geschichte wurde aufgenommen in die 24 Beispiele kindlicher Pietät. Der Zurückhaltung des Konfuzius entgegengesetzt argumentiert Han Fei Zi (233 v. Chr.), Begründer der legistischen Schule, die das Gesetz über alles stellt. Dem Weg zu folgen, heißt hier dem Herrscher zu folgen. Von Kindespietät will Han Fei Zi schon gar nichts wissen, wenn sie der Staatsraison widerspricht: Da war ein Mann im Staate Lu, der seinem Fürsten viele Male in den Krieg gefolgt war. Ebenso viele Male lief er davon. Von Konfuzius nach seinen Gründen gefragt, war die Antwort: »Ich habe einen alten Vater, und wenn ich sterbe, ist niemand mehr, der für ihn sorgt (yǎng 養).« Konfuzius hielt den Mann für pietätvoll und empfahl ihn für ein Amt.

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Das Prinzip der Gegenseitigkeit

So gesehen ist ein Mann, der dem Vater gegenüber Kindespflicht übt, dem Herrscher gegenüber ein verräterischer (bèi 背) Untertan. 116

Mit dem Buch Xunzi (siehe V.1.b) liegt die vermutlich erste ausführliche Begründung des Rechts auf Ungehorsam vor: Der Mensch ist von Natur aus schlecht (xìng è 性惡). Aus diesem Misstrauen folgt, dass Ungehorsam nicht nur sein darf, sondern unter Umständen sein muss, weil sich damit erst die wahre Kindespietät erfüllt: Drei Fälle gibt es, in denen der pietätvolle Sohn den Befehlen seiner Eltern nicht zu gehorchen hat (bù cóng mìng 不從命): erstens, wenn die Eltern in Gefahr (wēi 危) geraten, falls er ihrem Befehl gehorcht, sie aber Frieden haben, falls er ihrem Befehl nicht gehorcht; zweitens, wenn die Eltern in Schande (rǔ 辱) geraten, falls er ihrem Befehl gehorcht, sie aber Ruhm ernten, falls er ihrem Befehl nicht gehorcht; wenn seine Eltern tierhaftes Betragen (qín-shòu 禽獸) zeigen, falls er ihrem Befehl gehorcht, sie aber kultiviertes Betragen zeigen, wenn er ihrem Befehl nicht gehorcht … Erst wenn sich der Sohn über die jeweiligen Folgen und Nicht-Folgen im Klaren ist; erst wenn er vermag, Vorsicht in seinen Handlungen zu üben, indem er sich an Respekt und Ehrfurcht, Loyalität und Aufrichtigkeit, Riten und Benehmen hält, dann lässt sich von ihm sagen, dass er die Große Pietät (dà-xiào 大孝) verwirklicht. Das ist gemeint, wenn es in der Überlieferung heißt: ›Dem Weg folgen (cóng-dào 從道) und nicht dem Fürsten, der Pflicht folgen (cóng yì 從義) und nicht dem Vater‹. 117

Das Liji nimmt den Faden von Konfuzius wieder auf, nicht ohne seine »zarten Ermahnungen« desto mehr zu relativieren: Falls die Eltern sich falsch verhalten (yǒu-guò 有過), soll der Sohn sie mit angehaltenem Atem, freundlicher Miene und sanfter Stimme ermahnen. Nützt dies nichts, soll er umso ehrerbietiger und pietätvoller sein. War es dem Vater aber recht, so mag er ihn bei Gelegenheit wieder ermahnen. War es ihm jedoch zuwider, so soll der Sohn, falls es zu einem Verbrechen (zuì 罪) gegen Nachbarn oder Dorfgenossen käme, ihn eindringlicher ermahnen. Zeigen sich die Eltern deswegen ungehalten und ungnädig und züchtigen ihn, bis das Blut fließt (tà zhī liú xuě 撻之流血), so darf er dennoch nicht böse oder nachtragend sein, soll

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Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten

sich vielmehr umso ehrerbietiger und pietätvoller verhalten (qǐ jìng qǐ xiào 起敬起孝). 118

Umgekehrt proportional zum Siegeszug der Kindespietät blieb für die gesamte Kaiserzeit vom Recht auf Ungehorsam nicht viel übrig. Wenn das Minggong shupan qingming ji (siehe oben) von 117 Fallberichten nur einen enthält, wo bù-xiào tatsächlich stattgegeben wird, so ist das ein schwacher Abglanz von Xunzis differenzierter Argumentation: Hier gewähren die Song-zeitlichen Richter dem 21-jährigen jungen Mann, der auf Befehl des Vaters ein Verbrechen begangen hatte, mildernde Umstände – mit der Begründung in aller Kürze: »Wie hätte er wissen sollen, dass er nicht der Kindespietät entspricht, wenn er unter diesen Umständen dem Befehl des Vaters gehorcht?«

IV.2.c) Das wechselnde Verhältnis von Alt und Jung 119 Eine Familie mit einem alten Mann im Haus besitzt einen Edelstein. Bei den Menschen sind die alten gut, bei den Kleidern die neuen. Willst Du erfolgreich sein, hole Rat bei drei alten Leuten. Je älter Ingwer und Zimt, desto würziger. Wer keinen Bart trägt, taugt nichts. Ein alter Mann und eine alte Perle sind nichts mehr wert. Alte Leute sind gerissen und verräterisch. Alte Leute können ihre Kriegskunst nicht mehr verwenden. Helden sind jung. Auf dem Yangzi drängt die hintere Welle die vordere, die Jungen ersetzen die Alten. 120

Sprichwörter spiegeln Lebens- und Altersbilder von Gesellschaft und Kultur und sind in der Bewertung von Jung und Alt aufeinander bezogen. Allein die Gewichtung wechselt, und der Gesinnungswandel hat viel mit gesamtgesellschaftlicher Entwicklung zu tun.

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Das Prinzip der Gegenseitigkeit

Altchinesisches Gedankengut. Ein durch und durch positives Bild vom jungen Menschen – in seiner kindlichen Existenz – zeichnet das Daodejing. Hier ist das Neugeborene Inbegriff von Lebenskraft: Schwach sind die Knochen des Kindes (gǔ-ruò 骨弱), zart seine Sehnen, doch voll Kraft ist sein Griff. Nichts weiß es von der Geschlechter Paarung, doch steift sich sein Glied. Angefüllt mit höchster Lebenskraft (jīng 精), schreit es den ganzen Tag und wird doch nicht heiser … 121

Der Gedanke der »Stärke in der Schwäche« zieht sich durch die fünftausend Zeichen umfassende Schrift. Daoistische Wertschätzung des Kindes, Symbol von Unverdorbenheit und Einklang im Dào, wird als gesellschaftliche Utopie relevant, wenn die Menschen sind »wie die Kinder«: Die Menschen dort sind von sanfter Art und folgen der Natur (cóng wù 從物) … Weich das Herz (róu-xīn 柔心) und schwach die Knochen (ruò-gǔ 弱骨), weder stolz noch angstbeladen. Alt und Jung leben gleichberechtigt zusammen, ohne Unterschied zwischen Herrscher und Untertan. Männer und Frauen mischen sich, wie sie wollen … 122

Konfuzius selbst hält »Jedem das Seine« hoch bei aller Asymmetrie und will »den Alten Frieden geben, mit Freunden in Treue verkehren und die Kleinen herzen«. Auch die herangewachsenen Schüler schätzt er und die guten Eigenschaften, die in ihnen schlummern: »Ich muss heim, ich muss heim. Meine jungen Leute zuhause sind großartig und voller Begeisterung. Nur wissen sie noch nicht sich zu mäßigen.« Frühe Kaiserzeit. Wie unentschieden das Denken zu Beginn der Kaiserzeit war, zeigt das Bohutong aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert am Beispiel der Namensgebung: Im Kapitel »Xingming« (Namen) wird die Zeremonie der ersten Namensgebung im dritten Lebensmonat diskutiert. Diejenigen, die für das Werk verant151 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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wortlich zeichnen, halten den Ritus für den potentiellen Ahnen, so jung dieser sein mag, für wichtig genug, um das Fest in der Ahnenhalle zu begehen. Die Gegner behaupten eher geringschätzig: »Der persönliche Name dient der Benennung eines unwichtigen Kindes. Er ist ungehobelt und nicht endgültig; deshalb findet diese Namensgebung im kleinen Zimmer statt.« Lange zieht sich die Unsicherheit der Werte und Normen hin – bis weit in die Tangzeit (618 bis 905) hinein. Inzwischen war dem Konfuzianismus als Doktrin des Staates auch Konkurrenz erwachsen: im Daoismus, der eine zweite Blütezeit erlebte, und im Buddhismus, der seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert nach und nach alle Schichten der Gesellschaft durchdringt. So kam es, dass die kindliche Lebenswelt fürs Erste ungebrochen ihren Wert behielt. Im Shishuoxinyu, einer Sammlung von Anekdoten aus dem 3./4. Jahrhundert, vergnüglich und lehrreich zugleich, ist ein ganzes Kapitel kindlichem Witz und kindlicher Schlagfertigkeit gewidmet. Auch Bo Juyi (772–846) – als alter Mensch durchaus kein Kind von Traurigkeit (siehe I.1) – setzt dem unbekümmerten Spiel der Kleinen die Melancholie des Alters entgegen: 髫龀七八歲 綺紈三四兒 弄塵復鬥草 盡日樂嘻嘻

tiáochèn qī bā suì qǐwán sān sì ér nòng chén fù dǒu cǎo jìnrì lè xīxī

堂上長年客 鬢間新有絲 看竹馬戲 每憶童騃時

tángshàng chángnián kè bìnjiān xīn yǒu sī kàn zhúmǎ xì měi yì tóngsì shí

童騃饒戲樂 老大多憂悲 靜念彼與此 不知誰是癡

tóngsì ráo xì lè lǎodà duō yōu bēi jìng nìan bǐ yǔ cǐ bù zhī shuí shì chī

Drei, vier Knaben, sieben, acht Jahre alt, wie aus Samt und Brokat.

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Bald spielend im Schlamm, bald raufend im Gras, den ganzen Tag jauchzend vor Freude! In der Halle der alte Mann, die Schläfen neuerdings seidenweiß. Das Bambuspferdchenspiel vor Augen gedenk ich der Zeit kindlicher Torheit. Kindliche Torheit: Freude und Spiel! Das Alter: Kummer und Leid! Wenn ich beide so betrachte, möcht’ ich nicht wissen, wer wirklich der Tor! 123

Hat Bo Juyi die Kindheit im Blick, besingt Li Taibo jugendliche Schönheit und Sinnenlust: 春風東來忽相過,金樽淥酒生微波 chūnfēng dōng lái hū xiāng guò, jīnzūn lùjiǔ shēng wēibō 落花紛紛稍覺多,美人欲醉朱顏酡 luòhuā fēnfēn shāo jué duō, měirén yù zuì zhū yántuó 青軒桃李能幾何,流光期人忽蹉跎 qīngxuān táo lǐ néng jǐ hé, liúguāng qī rén hū cuōtuó 君起舞, 日西夕 jūn qǐ wǔ, rì xī xī 當年意氣不肯傾, 白髮如絲嘆何益 dāngnián yìqì bù kěn qīng, báifà rú sī tàn hé yì Von Osten streift ein Frühlingswind uns im Vorübergehen, dass im Pokal auf dem grünen Wein winzige Wellen entstehen. Da sind Blüten, von Wirbelgewalt entführt, zu Boden gegangen Mein schönes Mädchen ist trunken bald mit ihren geröteten Wangen. Am blauen Gaden der Pfirsichbaum, weißt du, wie lange der blüht? Ein zitterndes Leuchten ist es, ein Traum, er täuscht uns nur und entflieht. Komm, auf zum Tanz! Die Sonne verglüht! Wer nie voll drängenden Lebens und toll war in jungen Jahren, der wird vergebens, wenn erst das Haar weiß ist, seufzen und klagen. 124

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Auch in Erzählungen der Tangzeit (618–905) steht der junge Mann im Mittelpunkt: nach der Mode gekleidet, dem Wein und der Liebe zugetan, vernarrt in Polo, Hahnenkampf und Pferderennen, hochnäsig gegenüber den Alten – bringt er es am Ende gar zum Minister! Mittlere Kaiserzeit. Nach dem Niedergang der Tangzeit melden sich immer wieder Dichter und Gelehrte zu Wort – wie Su Shi, Shao Yong und Lu You, die das kindlich Verspielte und jugendlich Ungezähmte zu loben, ja selbst noch im Alter zu leben wissen. Doch die Zeichen der Zeit stehen anders. Die Mittlere Kaiserzeit, in der sich diese Werteverschiebung vollzieht, ist eine Epoche tiefgreifender wirtschaftlicher Veränderung und sozialer Umschichtung. Die entschiedene Aufwertung des Alters wächst aus einem Lebensgefühl, das Vorbilder sucht und sie im Altertum findet. Hinzu kommt, dass die Familie als tragende Instanz der Gesellschaft in den vorangegangenen Jahrhunderten stark gelitten hatte – durch Kriege, Fremdherrschaften, daoistisches Einsiedlertum und das buddhistische Mönchsideal. Mit einer Wiederaufwertung der nach Alter und Generation hierarchisch gestuften Familie hofften die Neokonfuzianer, Staat und Gesellschaft zu stabilisieren. Auch zum Verhältnis von Alt und Jung äußern sie sich. Hatte Konfuzius sich noch gewünscht, »den Alten Frieden zu geben« und »die Kleinen zu herzen« (siehe oben), so kommt es Zhu Xi (1130–1200) gerade auf den distanzierten und ritualisierten Umgang zwischen den Generationen und Altersgruppen an. Haben die Dichter der Frühen Kaiserzeit am ausgelassenen Spiel der Kinder ihre Freude, so hält er die Hingabe ans Spiel für verderblich: »Die meisten Dinge, an denen junge Menschen ihre Freude haben, bringen sie ab vom eigentlichen Ziel.« Die Neubewertung des Alters in der Mittleren Kaiserzeit ist nicht allein dem Neokonfuzianismus zuzuschreiben. Auch Daoismus und Buddhismus haben ihren Anteil daran: 154 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Das Prinzip der Gegenseitigkeit

老來可喜 是歷遍人間 諳知物外 看透虛空 將恨海愁山 一時挼碎 免被花迷 不為酒困 飽來覓睡 也不蘄仙 不佞佛 不學棲棲孔子 懶共賢爭 從數他笑 如此只如此 雜戲打了 戲衫脫 與呆底

lǎo lái kě xǐ shì lìbiàn rénjiān ānzhī wùwài kàntòu xūkōng jiāng hènhǎi chóushān yīshí ruósuì miǎn bèi huāmí bù wéi jiǔkùn bǎo lái mìshuì yě bù qí xiàn bù nìng fó bù xué xīxī kǒngzǐ lǎn gòng xián zhēng cóng shù tā xiào rú cǐ zhǐ rú cǐ záxì dǎ liǎo xìshān tuō yǔ dāi dǐ

Welche Freude, wenn das Alter kommt! Mit der Reise durch die Welt der Menschen beginnt ein Verstehen hinter den Dingen bis auf den Grund der Leere, die alle Meere der Trauer zum Trocknen und alle Kummerberge im Nu zum Einsturz bringt. Ich meide die Verwirrung beim Betrachten von Blumen, meide die Folgen der Weingelage, suche nur satt zu essen, satt zu schlafen. Will kein Unsterblicher und auch kein Buddha sein, mich nicht mit Kongzi quälen und nicht um Klugheit streiten. Möget ihr lachen, so viel ihr wollt! Es ist, wie es ist! Und ist das Spiel zu Ende Und abgestreifgt das Kostüm, will ich es dem Narren überlassen. 125

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In der bildenden Kunst, insbesondere der Malerei, zeichnete sich bereits seit dem neunten Jahrhundert die analoge Entwicklung ab. Die Verschiebung kündigt sich in der Verdrängung der Farbe an und in einem neuen ästhetischen Sinn. Hier mischt sich daoistisch-(chan)buddhistisches Weltverstehen, in dem das »Blasse«, »Reizlose«, »Fade« (dàn 淡) zum Ideal erhoben wird, Hand in Hand mit der schon bei Konfuzius und Xunzi angesprochenen Skepsis gegenüber der »Farbe« (sè 色), ein Wortzeichen, das zugleich Sinnenlust und Frauenschönheit bedeutet. Seit der Mittleren Kaiserzeit dominieren in der Malerei das reine Schwarz der Tusche in der Form und das »Alte und Altertümliche« im Inhalt: … die Ehrfurcht vor dem alten Menschen, dem alten Naturwesen überhaupt. Beliebte Gegenstände der Kunst sind der verwitterte Fels, der vom Alter gebeugte, rissige Baum. Runzeln (ts‘un/cūn 皴) heißen in der Malerei jene Striche, mit denen die Textur des Gesteins oder der Bäume wiedergegeben wird. In der Kunstkritik schließlich begegnen wir einer Reihe von Termini, die dem Reiz des Alten und Altertümlichen Rechnung tragen, wie vertrocknet (k‘u/kū 枯), winterlich erstarrt (hán 寒), verhärmt (sǒu 叟), schütter (sù 宿), eisgrau (ts‘ang/ cāng 滄) und anderen. 126

Späte Kaiserzeit. Die Töne der Maßregelung, die Zhu Xi und seine Schule angeschlagen hatten, hallten durch die nachfolgenden Jahrhunderte: Wenn dich die Leute loben, so hüte dich, darüber Freude zu empfinden. Denn die Freude über das Lob macht dich hochnäsig und deine Tugendkraft geringer … Wodurch entsteht Freude? Durch Freisein im Herzen von Gewissensbissen und Scham. Wodurch entsteht Kummer? Durch leichtfertiges Beginnen und viele Wünsche … Freust du dich in Deinem Herzen, so sollst du doch darum nicht lachen und die Zähne entblößen. Erregst du dich durch Händeklatschen und Hutbandlösen, so bist Du wie ein Schauspieler und Possenreißer. 127

Als Fang Xiaoru (1357–1402) dies niederschrieb, saßen andere über den 24 Beispielen kindlicher Pietät (siehe IV.2.a). Die skep156 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Das Prinzip der Gegenseitigkeit

tische, ja verächtliche Einstellung zu Körper, Leib und Sexualität (siehe II.2.b) spiegelt die Geringschätzung der Lebensphase des jungen Menschen, Jahre der Vorbereitung für das gereifte Lebensalter, in dem sich wahres Menschsein erst erfüllt. Spätestens im 19. Jahrhundert regt sich immer stärker Widerstand gegen solcherart »Vergreisung der Welt« (siehe oben): Die drei Geschäfte (Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus; G. L.) stellen Gemischtwarenläden dar, wo jeder Brennholz, Reis, Öl und Salz kaufen kann … Zhu Xi kam aus seinem engen Denkschema nicht mehr heraus …; vollbrachte die glorreiche Tat, … Konfuzius’ Lehrgespräche bis zur Unkenntlichkeit zu verdrehen … Hatte Konfuzius einmal gesagt …, die Menschen sollten die Tugend lieben, wie sie die Frauen lieben, so predigten die Konfuzianer der Songzeit allein die Liebe zur Tugend, von der anderen, so scheint es, sollen wir lassen. Ist das nicht ein himmelsschreiender Selbstbetrug? Konfuzius hatte zwar Gefühle und die guten Sitten einander gegenübergestellt. Aber einen solchen Gegensatz der Begriffe »Prinzip« (lǐ 理) und »Begehren« (yù 欲) finden wir bei ihm nicht. 128

Lange vor Liu E (1857–1909) hatte eine Welle der Kommerzialisierung und Monetarisierung China erfasst, die vor allem Mittel- und Südchina seit dem 17. Jahrhundert unaufhaltsam veränderte. Von nun an richtete sich Ehrerbietung nicht mehr zwangsläufig nach Rang und Alter, sondern nach Reichtum und Geld, und nicht mehr der Ältere, sondern der fähige Jüngere sah sich zunehmend mit wichtigen Aufgaben betraut. Unter allen literarischen Erzeugnissen der Späten Kaiserzeit, die für das Verhältnis von Alt und Jung aufschlussreich sind, ragt ein Roman hervor, der noch Mitte des letzten Jahrhunderts als Lebensbrevier der chinesischen Jugend galt: Der Traum der Roten Kammer (Hongloumeng) aus dem 18. Jahrhundert. Zum ersten Mal steht hier Jugend – im Sinne einer eigenständigen Altersstufe zwischen Geschlechtsreife und Legitimation zur Zeugung – im Mittelpunkt eines Romans, der zudem autobiographische Züge trägt. Alle wichtigen Personen des Romans sind zwischen zwölf und neunzehn Jahre alt. Baoyu, Sohn einer 157 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Alt und Jung: Rituale sind wie Bambusknoten

heruntergekommenen Adelsfamilie, liebt nicht, wie die Helden der vorangehenden erotischen Romane, Jinpingmei oder Roubuduan, die reife sinnliche Frau und femme fatale, sondern das reine junge Mädchen in Gestalt der Basen und Zofen, die ihn umgeben. Auch das Lebensgefühl dieser jungen Menschen rechtfertigt die Bezeichnung »Jugend«. Unvertraut mit Belangen des praktischen Lebens, fließen ihre Tage dahin. Wie zarte Pflanzen sind sie der Sonnenseite des Lebens zugewandt und doch unglücklich, in Missverständnisse verstrickt, haben ihre Not sich mitzuteilen und fürchten sich vor dem Erwachsensein. Das Aufbegehren gegen die verhasste Welt der Älteren und Alten ist so intensiv und ohnmächtig zugleich, dass einige der Schlüsselfiguren des Romans diese Welt nie betreten werden. Was bleibt, ist eine Sentimentalität: la tristesse du monde, der Schmerz des Erwachsenwerdens, das Zweifeln und Verzagen an einer Welt, mit der sich der junge Mensch nicht zu identifizieren vermag. So schwach diese Neuansätze ausgeprägt und so wenig sie zu ihrer Zeit für die Gesamtgesellschaft ausschlaggebend sind, zeichnen sie doch eine städtische Lebenswelt, die sich von den Idealen der Alten zu emanzipieren beginnt und gerade in Südchina das Ende der Kaiserzeit beschleunigt. Befragen wir abschließend noch einmal die Dichter und Dichterinnen nach ihrem Verhältnis zur jüngeren Generation, so scheint im Alter der Verkehr zwischen Jung und Alt auf die erweiterte Familie beschränkt zu sein: »Der Verkehr mit der Jugend (shào-nián 少年) wird rar«, konstatiert der siebzigjährige Bo Juyi in einem Gedicht. Drei Jahre zuvor hieß es noch: »… wir mischen uns unter die Jugend und profitieren von ihrer Lebenslust …«

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V Leben in wachsenden Ringen: Altersutopien der chinesischen Philosophie

Das Buch beginnt im ersten Kapitel mit subjektiven Empfindungen alter Männer und Frauen. Es endet in diesem Kapitel mit Altersutopien der Philosophie. In beiden Fällen ist der Einzelne eingebettet in Situationen, in die hineinzuwachsen Aufgabe von Erziehung und Selbsterziehung ist. Die großen Geistesströme – Konfuzianismus (V.1), Daoismus (V.2.) und Buddhismus (V.2.c Exkurs) – stehen nicht wirklich im Wettstreit. Alle drei setzen auf die Pflege des Selbst und ein »Leben in wachsenden Ringen« (Rilke). In der Gewichtung der Werte und Ringe liegt der feine Unterschied. Warum von »Utopien« reden, unterstellt das Wort doch (von griechisch: ou »nicht« und topos »Ort«) ein »Nirgendwo«, ein Wunschland, ein Phantasiegebilde, eine Schwärmerei? Dem widerspricht aber schon der lebenspraktische Anspruch der chinesischen Philosophie. Utopisch sind die verhandelten Altersbilder dann auch nur, weil ein Ende des Bemühens, ein Verwirklichen »ein für alle Mal« nicht absehbar ist. Man ist immer »strebend bemüht« auf dem Weg – bis zum letzten Atemzug.

V.1 Alter als Verpflichtung und Privileg: Konfuzius und Nachfolge Die dem alten Menschen zugedachte Ehrerbietung hatte Konfuzius (V.1.a) in den Gesprächen mit seinen Schülern so entschieden reklamiert, dass sich alles Reden darüber auf ihn bezog. Seine Nachfolger (V.1.b), Mengzi (371–289 v. Chr.) und Xunzi (298?–238? v. Chr.), und für lange Zeit danach die Beamten-

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Leben in wachsenden Ringen: Altersutopien der chinesischen Philosophie

gelehrten als Vertreter von Kaiser und Staat (V.1.c) zitieren ihn und passen seine Lehren den Umständen an.

V.1.a) Die Reden des Konfuzius Konfuzius, chin. Kongzi (551–479), schon fortgeschritten an Jahren, soll sich über den alten Yuan mokiert haben, als er ihn mit ausgestreckten Beinen am Boden sitzen sah: »›In der Jugend weder folgsam noch bescheiden. Erwachsen nichts Bedeutendes geleistet. Und jetzt da er alt ist, stirbt er nicht einmal! Wahrhaftig ein Tagedieb!‹ Nahm seinen Stock und schlug ihn auf den Schenkel.« So viel Missachtung vor dem Alter hätten wir Konfuzius gar nicht zugetraut! Schließlich ist er es, der die Altersstufung im Schoß der Familie zum Modell gesellschaftspolitischer Ordnung erklärt. Relativierung des Alters. Wie immer die Beziehung zwischen Konfuzius und dem alten Yuan gewesen sein mag: Die Anekdote macht anschaulich, dass im vormodernen China Regeln des Verhaltens nie absolut, nur situativ zu verstehen sind. Wenn alles sich ununterbrochen wandelt, dann ist keine Situation der andern gleich. So irritiert auch nur auf den ersten Blick das Paradoxe: »sowohl Achtung vor dem Alter als auch Nicht-Achtung«, im Jargon der aktuellen Altersforschung: sowohl »Thematisierung als auch De-Thematisierung«. Entscheidend ist, was jeweils auf dem Spiel steht: »Wenn der Meister jemand in Trauerkleidung sah, jemand im Hofgewand oder einen Blinden, so erhob er sich bei ihrem Anblick, selbst wenn sie jünger waren als er. Musste er an ihnen vorbei, tat er es mit raschen Schritten.« Konfuzianische Tugenden. Über Rang und persönliches Unglück hinaus hält Konfuzius einen ganzen Katalog von Tugenden bereit, vor denen die »Ehr160 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Alter als Verpflichtung und Privileg: Konfuzius und Nachfolge

erbietung vor dem Alter« (gōng 恭) unter Umständen zurückzustehen hat. Denn Alter schützt vor Torheit, Grobheit, Bosheit nicht. Und jeder kann und soll zu jeder (Lebens-)Zeit auf seine Weise um diese Werte bemüht sein: Großzügigkeit, Genügsamkeit, Vorsicht als Aufmerksamkeit, auch im Umgang mit dem eigenen Körper; Ausdauer als Aufforderung, »nicht müde zu werden« (wú-juàn 無倦), ja »fortzumachen, auch wenn man weiß, dass es nicht geht«. Der Ausdauer verwandt: Selbstüberwindung (ke-jǐ 克己) und der unbedingte Ernst bei der Suche nach der Wahrheit, so dass Konfuzius von sich sagen kann, er sei ein Mensch, »der in seinem Eifer das Essen und in seiner Freude den Kummer vergisst und nicht merkt, wie das Alter herankommt«. Arbeit am eigenen Selbst – täglich neu auf dem Prüfstein – ist in den Gesprächen des Konfuzius (Lunyu) nie gelöst vom Zusammenleben in den einbettenden Situationen von Verwandtschaft und Gesellschaft. So kommt zu den Individualtugenden eine ebenso lange Reihe »mitmenschlicher« (rén 仁) Werte hinzu: Bescheidenheit und Zurückhaltung, Respekt und Ehrerbietung, Treue und Loyalität, Zuverlässigkeit, Güte und Nachsicht, ein Gefühl für das, was man anderen schuldig, was situativ angemessen und taktvoll ist, sowie Liebe und Mitgefühl, was mehr ist als das Gebot der Goldenen Regel: »Was du selbst nicht wünschest, das tue auch nicht andern an«. Alle hier genannten Weisen des Verhaltens sorgen dafür, dass der Einzelne in der Gemeinschaft aufgehoben ist und dass umgekehrt auch die anderen seiner nicht überdrüssig werden. Mitmenschlichkeit geschieht nicht zuletzt über das Reden: So gilt es, langsam in seinen Worten zu sein, »damit das Tun nicht dahinter zurückbleibt«, oder seine Worte zu hüten, denn »was einmal die Zunge geäußert hat, können vier Pferde nicht mehr einholen«.

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Leben in wachsenden Ringen: Altersutopien der chinesischen Philosophie

Gemeinsame Situationen. In konzentrischen Kreisen übergreifend, reichen die gemeinschaftlich erfahrenen Situationen von Familie und Verwandtschaft über das Dorf hinaus hin zu Verwaltungsbezirk, Region und Staat, denn »Leben in wachsenden Ringen« ist bei Konfuzius auch politisch gemeint und Loyalität dem Herrscher und seinen Würdenträgern gegenüber nichts anderes als die im Schoß der Familie geborene kindliche Pietät (siehe IV.2.a). Über der Welt der Menschen wölbt sich der Himmel (tiān 天), numinose Schicksalsmacht, die Ehrfurcht (jìng 敬) gebietet vor dem, was größer ist als menschliche Fassungskraft. Teil dieser Ehrfurcht ist die Bereitschaft, sich den »Anordnungen des Himmels« (tiān-mìng 天命) zu fügen, und sei es wie Yan Hui, Lieblingsschüler des Konfuzius, als »Fröhlichkeit in Armut mit einer Holzschüssel voll Reis in der einen, einer Kürbisschale voll Wasser in der anderen Hand und Wohnen in einer elenden Gasse«. Wie den Himmel schätzt Konfuzius das übergreifende Wirken der Ahnen und vertraut der Abstammungsgemeinschaft die Erfüllung der Ahnenopfer an (siehe IV.1.a). Nicht zuletzt konkretisiert sich »der rechte Weg« (dào 道) in der Achtung vor den »Menschen des Altertums« (gǔ-zhě 古者), die als moralische Vorbilder in konfuzianischen Texten explizit oder implizit immer anwesend sind. Altern als Verpflichtung. Wenn Konfuzius den alten Yuan als Tagedieb bezeichnet, so belehrt die Geschichte auch darüber, dass fortgeschrittenes Alter verpflichtet: »Was mir Sorgen macht, ist dies: seine Wirkkraft (dé 德) nicht pflegen, das Erlernte nicht weitergeben, von Verpflichtung gehört haben, ohne Konsequenzen zu ziehen und ohne all das Ungute an sich zu ändern.« Ob die genannten Werte nun der Selbstachtung, der Mitmenschlichkeit oder dem Respekt vor numinosen Mächten geschuldet sind – Konfuzius versteht sie kaum als festes Gefüge 162 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Alter als Verpflichtung und Privileg: Konfuzius und Nachfolge

ein für alle Mal erworbener Eigenschaften eines sogenannten Edlen (jūn-zi 君子): »Beim Lernen ist es so, dass man nie zu erreichen vermeint, was man sich anzueignen bemüht. Und ständig ist zu befürchten, dass man es wieder verliert.« Was angemessenes Verhalten auf Dauer garantiert, ist allein, sich lebenslang zu bemühen, nicht nachzulassen in der Aufmerksamkeit! Selbsterziehung/Selbstkultivierung (xiū-jǐ 修己/xiū-shēn 修身) heißt das konfuzianische Zauberwort: kein »Werden zu sich« im Sinne moderner oder postmoderner Selbstverwirklichung, sehr wohl aber Individualität eingedenk einer mehrfach »beringten« Einbettung und Abhängigkeit. In der Nachfolge des Konfuzius wird Jahrhunderte später das Liji das Leben des Einzelnen, der Ring um Ring über sich hinauswächst, auf folgende Formel bringen: Ist die Persönlichkeit (shēn 身) gebildet (xiū 修), dann wird das Haus (jiā 家) geregelt sein (qí 齊); ist das Haus geregelt, dann wird das Land/ der Staat (guó 國) in Ordnung sein (zhì 治); ist das Land/der Staat) in Ordnung, dann herrscht Frieden (píng 平) in der Welt (tiān-xià 天下). 129

Spätestens die Aufforderung, bis zum letzten Atemzug zu lernen »treu bis in den Tod« (shǒu-sǐ 守死), rückt die Lebensstufe des alternden Menschen in den Vordergrund. Konfuzius selbst soll im hohen Alter noch so intensiv mit der Lektüre des Buchs der Wandlungen (Yijing) befasst gewesen sein, dass der Einband dreimal erneuert werden muss. Auch dass er Gebrauch macht von der Lebenserfahrung (duō-wén 多聞), erst recht sein selbst verfasster Lebensrückblick (siehe IV.1.c) lassen Selbstbildung als stufenweise Reifung erwarten. So kommt es, dass Konfuzius im Alter von siebzig Jahren endlich »seines Herzens Wünschen folgen kann, ohne die Grenzen zu überschreiten«. Das heißt mit Siebzig war sein Handeln intuitiv-spontan im Einklang mit dem, was er situativ für richtig und ethisch-moralisch für angemessen hielt. 163 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Bildung und Selbstbildung lebt Konfuzius den Schülern vor und greift darüber hinaus auf die alten Lieder und Gedichte zurück, Musik und Riten und die Lehren aus der Geschichte. Wenn der Meister Schüler um sich scharte, gewiss nicht nur, weil keiner der Fürsten ihn auf Dauer beschäftigen wollte. Das MeisterSchüler-Verhältnis steht in der Fürsorge (ài 愛) für die kommende Generation paradigmatisch für das Alter, das verpflichtet. Das schließt Freude am Umgang mit der Jugend nicht aus (siehe IV.2.c). Gleichzeitig stellt Konfuzius hohe Ansprüche an deren Bemühen, das Gelernte umzusetzen: »Bin ich etwa ein Bitterkürbis, den man sich um die Hüfte hängt, aber nicht essen kann?« Umgekehrt versteht sich auch die Hochachtung der jungen Menschen, die sich diesem Meister anvertrauen. Wenn sie den Zöllner Yi vom Stein zitieren, der Konfuzius als Werkzeug des Himmels begreift, mag er ihnen aus dem Herzen gesprochen haben: »Euren Meister wird der Himmel zum Holzklöppel seiner eisernen Glocke machen.« Alter als Privileg. Die Tugend der Kindespietät (xiào 孝) kann und soll dafür sorgen, dass alte Menschen in besonderem Maße geachtet sind. Höflichkeit gegenüber den »Dorfgenossen mit dem Stock« (zhàng-zhě 杖者) sind, dem Lunyu zufolge, nicht leere Form, bloße Etikette, sondern Ausdruck von Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Anteilnahme. Aus den Aufzeichnungen von Konfuzius’ Schülern ist nichts zu erfahren über Lebensumstände oder gar Beschwernisse alter Menschen jener Zeit. Erst bei Konfuzius’ Nachfolgern nehmen Glück und Unglück der späteren Lebensphase deutlichere Konturen an, wenn auch gebrochen durch die Soll-Perspektive und nicht, wie sie erlebt und erfahren wird. In den folgenden Jahrhunderten und während der gesamten Kaiserzeit bleibt die Wertschätzung des Alters eines der wichtigsten Themen im konfuzianischen Wertesystem. Gleichzeitig 164 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Alter als Verpflichtung und Privileg: Konfuzius und Nachfolge

ist nicht zu übersehen, dass spätere Generationen die Gebote dogmatischer handhabten, als es in den Gesprächen des Konfuzius vorgesehen war. Die einseitige Auslegung der Lehren ist dem Meister selbst nicht anzulasten, der das Paradoxe, das »Sowohl-als-auch« im jeweiligen Kontext immer mitbedachte: als feines Abwägen und Ringen um die Mitte (zhōng-xíng 中 行), ohne den Extremen ein Gesicht zu geben: fröhlich sein ohne Ausgelassenheit; beharrlich sein ohne Hartnäckigkeit; ehrfurchtgebietend ohne Heftigkeit; begeisterungsfähig und doch auch kritisch; bescheiden und doch selbstbewusst; ehrerbietig, ohne Duckmäuser zu sein; Milde walten lassen, ohne an Würde zu verlieren, und nicht zuletzt die Relativierung der kindlichen Pietät, denn den Eltern zu dienen, schließt nicht aus, ihnen Vorhaltungen zu machen (siehe IV.2.b), und dem Fürsten zu dienen, soll keinen daran hindern, wenn nötig auch Widerstand zu leisten.

V.1.b) Philosophen in der Nachfolge des Konfuzius Mengzi (371–289 v. Chr.) und der um zwei Generationen jüngere Xunzi (298?–238? v. Chr.) erhofften sich von den Lehren des Meisters Heilung der gesellschaftspolitischen Zustände in ihrer ganz aus den Fugen geratenen Zeit (tiān–xià luàn 天下亂), der Zeit der »Kämpfenden Staaten« (zhàn-guó 戰國475–221 v. Chr.). Dass Mengzi und Xunzi je eigene, ja konträre Positionen zur Natur des Menschen vertreten, ist hier nur beiläufig von Belang. Beide halten am lebenslangen Lernen fest. Nicht von ungefähr beginnt das Buch Xunzi mit der »Aufforderung zum Lernen« im Sinne einer Nachahmung der Alten aus früherer Zeit. Auch das zweite Kapitel, mit »Selbstkultivierung« (xiū-shēn 修身) überschrieben, kreist um Bildung und Selbstbildung, zumal der Mensch nach Xunzi von Natur aus nicht zum guten, das heißt sozial verträglichen Handeln neigt. Selbst Mengzi, der auf 165 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Leben in wachsenden Ringen: Altersutopien der chinesischen Philosophie

das Gute im menschlichen Herzen vertraut, fordert vom Edlen ununterbrochene Selbstüberprüfung (fǎn-shēn 反身). Dass Selbstkultivierung kein Zweck an sich und für sich ist, vielmehr dem Leben »in wachsenden Ringen« dient, zeigt sich in der Analogie der Wortbildungen: xiū-shēn 修身 (Selbstkultivierung) und xiū–dào 修道 (das Dào kultivieren). Wem beides glückt, den nennt Xunzi einen »Hüter des Dào« (shǒu–dào 守道). Ehrerbietung vor dem Alter in und außerhalb der Familie ist beiden Philosophen ebenso wichtig wie deren Relativierung im Kontext anderer Werte: »In der Freundschaft darf man sich nichts einbilden auf Alter (zhǎng 長), nichts einbilden auf Rang, nichts einbilden auf seine Verwandtschaft. Begehrt man einen zum Freund, so ist es seine Wirkkraft (dé 德), die man schätzt und sucht.« Auch das ordnungspolitische Denken des Meisters schreiben beide Philosophen fort. Ihre Ansprüche an den Edlen sind damit in erster Linie an den König adressiert, den potentiellen Herrscher der Welt. Einer der Prüfsteine für den guten Herrscher ist der Umgang mit den »vier Elendigsten unter dem Himmel« (tiān-xià zhī qióng–mín 天下之窮民), darunter die Alten ohne Familie: Ein alter Mann, der keine Gattin mehr hat, ist ein Witwer; eine alte Frau, die keinen Gatten mehr hat, ist eine Witwe; alte Leute ohne Kinder sind Einsame, junge Kinder ohne Vater und Mutter sind Waise. Diese vier sind die Elendigsten unter dem Himmel, denn sie haben niemand, bei dem sie Hilfe suchen könnten. Bei der Ausübung seiner Herrschaft ließ König Wen Milde (rén 仁) walten. Darum sorgte er zuerst für diese vier. 130

Mengzi wusste, wovon er sprach, hatte ihn die verwitwete Mutter doch unter großen Entbehrungen aufgezogen. So erlaubt sein Buch, wenn auch indirekt, Einblicke in die Lebensumstände alter Menschen jener Zeit: Er selbst weigerte sich, die alte Mutter zu verlassen, obwohl dies zu einem bestimmten Zeitpunkt

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Alter als Verpflichtung und Privileg: Konfuzius und Nachfolge

geboten schien – und obwohl diese selbst ihn an seine Pflicht gemahnte. Wenn Mengzi in diesem Kontext aus dem Buch der Lieder zitiert, klingen sogar schichtspezifische Unterschiede an: »Und halten es noch die Reichen aus! Weh aber dem, der arm ist, allein und verlassen!« Konkret bedeutet bei Mengzi Fürsorge für die Alten (yǎng-lǎo 養老): Wenn auf jedem Gut von fünf Morgen unterhalb der Hofmauern Maulbeerbäume gepflanzt werden, die die Frau für die Seidenzucht nutzt, so reicht es für die Alten, seidengefütterte Kleidung zu tragen. Wenn fünf Hühner und zwei Mutterschweine vorhanden sind, denen man Zeit zum Wachsen und Gedeihen lässt, so reicht es für die Alten, dass sie des Fleisches nicht entbehren … Wenn es heißt, der Markgraf des Westens verstand es, die Alten zu pflegen, dann weil er Feld und Hof seiner Leute in Ordnung brachte, weil er sie im Pflanzen und in der Viehzucht unterwies und weil er Frauen und Kinder anhielt, für die Alten in der Familie zu sorgen: Ein Fünfzigjähriger wird nicht warm, wenn er nicht seidengefütterte Kleidung trägt, ein Siebzigjähriger wird nicht satt, wenn er kein Fleisch isst. Nicht warm und nicht satt sein, nennt man frieren und hungern. Unter dem Volk des Königs Wen gab es keinen alten Mann, der fror und Hunger litt. 131

Fürsorge heißt für Mengzi auch, die Alten und Schwachen (lǎoruò 老弱) mit leichten Aufgaben zu betrauen, das heißt darauf zu achten, dass »die Grauköpfe« (bān-bái-zhě 頒白者) auf den Straßen keine schweren Lasten tragen«. Demnach sind Hege und Pflege der Alten und anderer sozial benachteiligter Personen nicht nur selbstverständlich im Schoß der Familien. Auch der Herrscher und seine Repräsentanten im Land sind in der Verantwortung. Seit Mengzi und Xunzi ist ein chinesischer Staat ohne soziale Fürsorge undenkbar (siehe V.1.c). Die Hoffnung auf den idealen Zustand, wenn auch in die Vergangenheit projiziert, hält sich über die Jahrhunderte im Bild von der »großen Gemeinschaft« (dà-tóng 大同), einer Idealgesellschaft, in der für alle gesorgt ist, einschließlich der Alten und Kranken:

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Leben in wachsenden Ringen: Altersutopien der chinesischen Philosophie

Als der große Weg (dà-dào 大道) noch herrschte, war die Welt gemeinsamer Besitz. Man wählte die Klügsten und Fähigsten; man sprach die Wahrheit und pflegte die Eintracht. Darum liebten die Menschen nicht nur ihre eigenen Verwandten und eigenen Kinder. Die Alten konnten in Ruhe ihrem Ende entgegensehen, die Kräftigen fanden ihre Verwendung, die Kinder wuchsen heran. Die Witwer und Witwen, die Waisen und Kinderlosen, die Behinderten und Kranken – alle waren versorgt (yǎng 養). 132

V.1.c) Die Alten und Schwachen in der Philosophie des Staates Schon in den Staatsutopien der frühen Philosophen aus vorchristlicher Zeit war der Auftrag an den Herrscher formuliert, für das Wohlsein der Untertanen zu sorgen, insbesondere für die Waisen und Verwitweten, die kinderlosen Alten, die Armen und Kranken (siehe oben). Sei es aus Gründen der Staatsraison wie in den Büchern Guanzi und Hanfeizi, sei es als Erbe der vorbildlichen Könige in alter Zeit wie bei Konfuzius und seinen Nachfolgern. Wenn in den Texten vor der Zeitenwende über allgemeine Beschwörungen hinaus Fürsorgemaßnahmen aufgeführt sind, dann Bau und Instandhaltung der Dämme und Deiche, um Dürre- oder Überschwemmungskatastrophen zu vermeiden, und die Öffnung der Kornspeicher in Zeiten der Not, um ausgleichend einzugreifen. Nach dem Ende der für die frühe Zeit charakteristischen Lehensordnung mit einem König an der Spitze durch das geeinte und nunmehr bürokratisch verwaltete Kaiserreich (221 v. Chr.) setzt sich die Vorstellung durch, wonach Phänomene der kosmischen und menschlichen Welt miteinander korrespondieren (siehe II.1). Katastrophen, welcher Art auch immer, sind dann unmissverständlich Zeichen dafür, dass der jeweilige Kaiser den »Auftrag des Himmels« (tiān–mìng 天命) verwirkt hat und nicht mehr in der Lage ist, Harmonie im Kosmos aufrechtzuerhalten. So gesehen konnte das Denken in Korrespondenzen und 168 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Alter als Verpflichtung und Privileg: Konfuzius und Nachfolge

Resonanzen eine Stütze für das Fürsorgesystem des Staates sein – zusammen mit dem im Mengzi formulierten Gedanken, dass bei Unfähigkeit des Herrschers dem »Volk« das Recht auf Rebellion zusteht, was den Kaiser an der Spitze umso mehr das Fürchten lehrte. Dass der Konfuzianismus zu Beginn der Kaiserzeit zur philosophischen Grundlage des Zentralstaates erhoben wird, war der Einrichtung von Fürsorgeinstitutionen höchst zuträglich. Zwar glaubte man seit der Tangzeit (618–905) nicht mehr wirklich an Katastrophen als Ausdruck »himmlischen Zorns« (tiānnù 天怒). Doch Missernten, Überschwemmungen, Dürre, Hagel oder Frost, Heuschreckenplagen oder Erdbeben und im Gefolge: Hungersnot wurden nach wie vor aufmerksam beobachtet und schriftlich vermerkt. Mit dem Unterschied, dass immer weniger die Astrologen dafür zuständig sind, sondern lokale Beamte, die ihre Eingaben dem Finanzministerium unterbreiten, konkret und um praktische Abhilfe besorgt. Konkret und um praktische Abhilfe besorgt sind in umgekehrter Richtung auch die kaiserlichen Dekrete. Als im Jahre 832 in Zhexi (heute: Provinz Zhejiang) eine Seuche ausbrach, wurde auf allerhöchsten Befehl ein Bündel an Hilfsmaßnahmen angeordnet – vom Öffnen der Kornspeicher und Aussetzen der Steuer- und Arbeitspflicht über die Verteilung von Medikamenten, Unterbringung verwaister Kinder in intakten Familien bis hin zu Sparmaßnahmen in der Verwaltung und Verhängung von Trauer am Hof. Eine Neuerung im Agrarsystem schon zu Beginn der Tangzeit sollte unmittelbar den Alten, Witwern und Witwen, Kranken und Behinderten zugutekommen: das sogenannte kǒu-fēntián 口分田, das heißt auf Lebenszeit zugeteiltes unveräußerliches Land, das erst beim Tod der Betreffenden an den Staat zurückfiel. Die Songzeit (960–1279) kann den Höhepunkt vormoderner staatlicher Fürsorge für sich verbuchen. Wichtigste Errungenschaft war die getrennte Unterbringung der Waisen, Kranken 169 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Leben in wachsenden Ringen: Altersutopien der chinesischen Philosophie

und Alten. Alleinstehende Sechzigjährige, vorübergehend auch Fünfzigjährige, durften in Altersheimen – sogenannten »Höfen der Sicherheit und Heiterkeit« (ān-lè-yuàn 安樂院) bzw. »Höfen durchsickernder Milde« (lòu-zé-yuàn 漏澤院) – auf Verpflegung und dauerhafte Unterkunft hoffen. In der Späteren Kaiserzeit zieht sich der Staat mehr und mehr aus der Fürsorge zurück, so dass sogar Palastbeamte der niederen Ränge in buddhistischen Altersstationen (siehe IV.2.c) oder karitativen Einrichtungen (yì-zhuāng 義莊) der Abstammungsverbände untergebracht sind. Trotz der Song-zeitlichen Tendenz, nach der jeweiligen Bedürftigkeit zu differenzieren und »die Alten und Kranken, die Waisen, Witwer und Witwen« getrennt zu versorgen, beherrschten während der gesamten Kaiserzeit die allgemeinen Versorgungsanstalten das Bild. Nun war die Geschichtsschreibung im vormodernen China, unbekümmert um postmoderne Theorien sozialer und kultureller Konstruktion, nicht einmal daran interessiert festzuhalten, wie es gewesen ist, sondern wie es sein sollte. Weil aber geschichtlich überlieferte »Deutungsmuster in die alltägliche Praxis« der Beamtengelehrten »greifen« und auf diese Weise »gleichsam Wirklichkeit erzeugen« (Schroeter), verwundert nicht, dass in deren Denken und Handeln – zumal philosophisch vorgeprägt – die Gruppe der alten Menschen mit ihren spezifischen Nöten eine feste Bezugsgröße war.

V.2 Selbstbeschränkung und Selbsterweiterung im frühen philosophischen Daoismus 133 Weder Selbstbeschränkung als Ökonomie der Mitte (V.2.a) noch Selbsterweiterung als Leben in wachsenden Ringen (V.2. b) ist spezifisch allein für den frühen philosophischen Daoismus. Der lebenspraktische Anspruch aller großen Schulen im alten China und die unterschiedlichen Wege dahin überschneiden sich in großen Teilen. Im Zhuangzi und Daodejing muten Selbst170 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Selbstbeschränkung und Selbsterweiterung im frühen philosophischen Daoismus

beschränkung und Selbsterweiterung radikaler an, zumal daoistische Gemeinschaften, jeder staatlichen Ordnung abhold, in Abgeschiedenheit siedelten. Unterschiedlich sind darüber hinaus Begründung und Gewichtung der Ringe: Stellt Konfuzius den Staat in den Vordergrund, so ist dem Zhuangzi und Daodejing vor allem an Natur und Kosmos gelegen. Auch daoistische Lebenskunst ist an kein Alter gebunden, Selbstbeschränkung in der fortgeschrittenen Lebenszeit aber umso dringlicher. Schon der Lauf der Dinge sorgt dafür, dass alte Menschen gezwungen sind sich zurückzunehmen. Und man tut gut daran, darauf vorbereitet zu sein: Wenn die Gliedmaßen erschlaffen, Hör- und Sehvermögen versagen, die eine oder andere Krankheit den Körper zusätzlich schwächt, dann können Selbstbeschränkung und Selbsterweiterung Option sein im Sinne einer Kunst des guten Lebens. Selbsterweiterung aus der Selbstbeschränkung heraus ist nur eine der zahlreichen Paradoxien aus dem alten China: Selbsterweiterung gelingt nämlich nur, wenn das Selbst als Ego zurückgenommen wird. Beides – ein Übungsweg.

V.2.a) Selbstbeschränkung als Ökonomie der Mitte Selbstbeschränkung ist ein Sich-Einschwingen auf die Mitte zwischen Leben im Überfluss und Leben im Mangel, zwischen zu viel und zu wenig. Explizit gilt die Sorge mehr dem Überfluss als dem Mangel, sind diese Texte doch an den Adel der Epoche gerichtet, eine Art Fürstenspiegel, wenn man so will. Im Daodejing findet sich eine Reihe von Synonymen für Überfluss, und jedes Mal lautet die Botschaft: Bei Übermaß tritt Erschöpfung ein! Was ist nun diese Mitte, die es zu wahren bzw. immer wieder zu finden gilt? Und wie kommt es, dass Ökonomie der Mitte nicht laue Mittelmäßigkeit ist, sondern – wie das Zhuangzi behauptet – »Freude, der nichts mehr hinzugefügt werden kann (zhì-lè 至樂)«?! 171 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Leben in wachsenden Ringen: Altersutopien der chinesischen Philosophie

Daoistische Mitte ist die Mitte zwischen zwei Abgründen, denn jede Übertreibung bringt Gefahr: »Wenn das Trübe und das Lichte heillos durcheinanderwirken, so kommt die Welt in Aufruhr. So entsteht des Donners Krachen, und inmitten von Wasserströmen zuckt Feuer auf, das die alten Eichen verzehrt.« Sind Himmel und Erde aber in ihrer Mitte, dann fällt »süßer Tau«. Wie in der Natur verhält es sich beim Menschen: Sie stehen bekümmert zwischen zwei Abgründen, denen sie nicht entfliehen können, zappeln sich müde, ohne etwas fertig zu bringen, das Herz wie hängend zwischen Himmel und Erde, zwischen Trost und Trauer, in Schwierigkeiten verstrickt. Gewinn und Schaden reiben aneinander und erzeugen ein großes Feuer, das den inneren Frieden der Menschen verzehrt. Das stille Mondlicht kommt nicht auf gegen das Flackern des Feuers; die Menschen brechen zusammen, und es endet ihr Weg. 134

Positiv gewendet, ist die Mitte also ein Haushalten (sè 嗇) mit allen verfügbaren Ressourcen. So wird Ökonomie der Mitte unversehens zu einer Ökologie der Mitte als Schonung von Umwelt und Natur: Über das Buch Zhuangzi verteilt häufen sich die Geschichten zur Nützlichkeit des Nutzlosen (siehe III.1.c): »Der Zimtbaum ist essbar, drum wird er gefällt, der Lackbaum ist nützlich, drum wird er zerspellt.« Gewarnt wird hier vor dem ausschließlich zweckbestimmten Umgang mit der Natur, einschließlich der »Natur, die wir selber sind« (Gernot Böhme). Im Alltag beginnt Ökonomie der Mitte als Schonung der eigenen Kräfte beim Essen und Trinken, Kleiden und Wohnen. Dabei klingen im Daodejing sozialkritische Töne an: »Die Paläste sind weitläufig«, heißt es in Vers 53, »die Kleider gemustert und bunt; man trägt scharfe Schwerter am Gurt und hat Speisen im Überfluss … Die Kornspeicher für das Volk aber sind leer.« Mit anderen Worten, und so endet die Textstelle: »Diebe sind an der Macht. Ihr Weg ist nicht der Weg des Dào.« Im Zhuangzi ist die Rede von der Mitte als Feld der Wunschlosigkeit und Garten der Bedürfnislosigkeit, ohne dass hier Verzicht und Mangel das Wort geredet wird: »Man sorge dafür, dass 172 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Selbstbeschränkung und Selbsterweiterung im frühen philosophischen Daoismus

dem Volk die Speisen munden, dass es angenehme Kleidung trägt, dass die Wohnungen friedlich und die Gewohnheiten freudvoll sind.« Wünschen ist nur dann gefährlich, wenn es das rechte Maß übersteigt, und Genügsamkeit bedeutet nicht mehr und nicht weniger als zu »wissen, wann es genug ist« (zhī-zú 知足). Eine friedliche Wohnstatt will bewohnt sein, also hüte man sich auch vor übertriebener Reiselust: »Je weiter man weggeht, desto weniger erkennt man!« Und wenn es im Zhuangzi heißt, der Atem sei tief, dann ist hier auch die Mitte eingefordert: zwischen Reden und Schweigen. Denn ein heilsamer Lebensrhythmus drückt sich in einem gleichmäßigen Atmen aus: Wer aber redet ohn’ Unterlass, der atmet zwangsläufig »aus der Kehle statt aus der Ferse«, der wird atemlos und vergeudet Lebenskraft. »Sparet der Worte!« lautet dann auch die Aufforderung im Daodejing. Dies gilt erst recht, wenn es um Mitteilungen gegenseitiger Verstimmung geht. Dann fallen Worte, so das Zhuangzi: »dem Winde gleich, der die Wellen erregt! Was dabei herauskommt, ist Verlust an Sachlichkeit.« Hier sind es die wahren Menschen (zhēn-rén 真人), die mit Worten sparen und gesenkten Blickes sogar das Reden vergessen. Das paradoxe »Reden ohne Worte« ist dann auch eine Art Mitte: Wer sich darauf versteht, »der kann sein Leben lang reden, ohne Worte gemacht zu haben; der kann zeit seines Lebens schweigen und hat doch geredet«. Auch uns ist das beredte Schweigen vertraut. Wenn Übereinstimmung herrscht jenseits der Worte – dann bedeutet das umgekehrt, dass derjenige, der viel Worte macht, womöglich Anlass gibt zu Streit, denn jede Rede fordert gewöhnlich eine Widerrede heraus: Auch dabei hält sich das Zhuangzi kritisch auf: »Unsere Worte schnellen davon wie Pfeile von der Armbrust, als wüssten wir, was richtig und falsch ist.« Streiten aber ist der Abgrund der Selbstbehauptung – sei es um Meinungen, um Gewinn oder Schaden, sei es aus Abneigung oder Zuneigung, als Streben nach Geschicklichkeit oder als 173 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Kleben am Ruhm, sei es um die Menschen an sich zu ketten oder ihnen zu schmeicheln, sei es aus purer Selbstgefälligkeit, als ginge man »mit Sonne und Mond unterm Arm spazieren«. Wer streitet, wer sich ritzt und reibt mit der Außenwelt, der beschäftigt seinen Geist mit Dingen, die außer ihm liegen, der schädigt sein Inneres und verliert sein Selbst! »Du lehnst an einem Baum« – so Zhuang Zhou zu seinem Freund Huizi – »und stammelst deine Sprüche … Der Himmel hat dir eine Persönlichkeit (shēn 身) verliehen, und du weißt nichts Besseres damit anzufangen, als immer wieder deine Spitzfindigkeiten herzuleiern.« Die Schelte über Spitzfindigkeit gilt auch für die Anhäufung von Einzelwissen, das ihr vorausgeht: Durch Kenntnisse und Argumente – »wie ineinander geschobene Dachziegel« – mag man die Zeitgenossen beeindrucken, doch wird man davon nicht weise. Im Gegenteil, Bücherwissen ist tot und ebenso überflüssig wie beim Menschen »ein sechster Finger« oder »Schwimmhäute zwischen den Zehen«. Zu den überflüssigen Spitzfindigkeiten der Zeit zählt auch der zügellose Moralbetrieb, der starre Grundsätze verbreitet und bittere Urteile, mit denen man das Volk zu vergewaltigen sucht. So hält das Zhuangzi nicht sonderlich viel von konfuzianischen Tugenden wie Güte und Pflicht: »Eine Nacht mag man wohl darin verweilen, aber nicht dauernd darin wohnen.« Anfechtungen soll man nicht Meister werden wollen durch Bekämpfung und Unterdrückung aus Prinzip; man kann sich aber abwenden von der Versuchung … Wer aber frei ist von oberflächlichen Spitzfindigkeiten und selbstgefälligen Hintergedanken, wer »im Herzen keinen Platz hat für Erfolg und Gewinn«, weil er alle Dinge gleich betrachtet, wem langes Leben, früher Tod weder Grund zur Freude noch zur Trauer sind, »wer dem Vergangenen nicht nachhängt und die Gegenwart genießt, ohne sich ungeduldig auf die Zehenspitzen zu stellen – der und nur der kann zu sich selber kommen und bei sich selber sein. 174 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Der kann auch die anderen in Ruhe lassen – im Fordern wie im Entgegenkommen, denn Abweichung von der Mitte ist es auch, den Bedürfnissen der anderen entgegenzukommen und sich selbst dabei zu vergessen. Dem hält das Zhuangzi die Art der wahren Menschen entgegen, die »sich recht verhalten gegenüber andern, ohne sich auf allzu große Nähe einzulassen; die demütig sind ohne zu schmeicheln; ausgeprägt in ihrer Eigenheit, ohne eigensinnig zu sein; erhaben über jede Kleinlichkeit, ohne sich damit zu brüsten.« So wahrt die Mitte als Haushalten mit Ressourcen und Kräften: Genügsamkeit und Biegsamkeit, Zurückhaltung und Unparteilichkeit! Als Gelassenheit weiß sie auch um die Gefahr verstrickender Emotionen, denn: »Lust und Zorn, Trauer und Freude, Sorgen und Seufzer, Unbeständigkeit und Zögern, Genusssucht und Unmäßigkeit, Hingabe an die Welt und Hochmut entstehen …, so wie feuchte Wärme Pilze erzeugt.« Ein Mensch der Mitte ist demnach auch ein Mensch ohne Launen und Leidenschaften und gleichmäßig im Gemüt wie stilles Wasser: »Ablassen von extremen Gefühlen sorgt für Harmonie und Leichtigkeit. … Da können Schmerz und Leid nicht hinein, und üble Einflüsse können nicht überwältigen.« Dann ist das Herz fest und das Antlitz unbewegt, was nicht Kaltblütigkeit bedeutet, denn Abstand gewinnen ohne gleichgültig zu sein; sich betreffen lassen ohne verstrickt zu sein – so lautet die Devise des Menschen der Mitte: »Ist er kühl, so ist es die Kühle des Herbstes; ist er warm, so ist es die Wärme des Frühlings.« Alle bisher genannten Merkmale der Mitte zielen auf ein zweites Paradoxon neben Selbsterweiterung in der Selbstbeschränkung, nämlich im Alter das zu tun, wofür vorher keine Zeit war: nichts zu tun, sich zu üben in der selbstvergessenen langen Weile (siehe I.2.b). Um die Gedanken zur Ökonomie der Mitte bildlich zusammenzufassen, bietet sich in Vers 11 des Daodejing das Wagenrad an, eines der zahlreichen Gleichnisse für das Dào: »Dreißig Speichen hat das Rad und die allen gemeinsame Nabe.« Die eine 175 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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Nabe, welche die Vielheit der Speichen zusammenhält, versinnbildlicht das eine Dào, welches die Vielfalt der Welt trägt und durchdringt. Die Radnabe als Mitte des Rades, die von allen Punkten der Peripherie gleich weit entfernt ist, entspricht dem Dào, das ohne Vorlieben und ohne Abneigung »alle Dinge gleich betrachtet«. Wie die Radnabe steht auch die Radachse für die Mitte des Rades. Im Unterschied zur Radnabe und den Speichen ist sie unbewegt und gleicht so der Ruhe des Dào, das aus sich heraus alles in Bewegung versetzt, ohne sich selbst abzunutzen. Ein weiterer Aspekt des Dào, neben Einheit, Mitte und Ruhe, ist die Leere (siehe III.1.b) – konkret erneut im Bild des Wagenrades: die Leere der Radnabe, damit sie die Radachse in sich aufnehmen kann. Oder auch als Leere zwischen den Speichen. Der oben zitierte Vers 11: »Dreißig Speichen hat das Rad und die allen gemeinsame Nabe« fährt fort: »Wo die Leere ist, liegt der Nutzen des Wagens.« Anders gesagt: Wo Selbstbeschränkung ist, liegt die Bedingung für Selbsterweiterung – zum eigenen Nutzen und zu dem der anderen Wesen und Dinge.

V.2.b) Selbsterweiterung als Leben in wachsenden Ringen Der erste Ring ist die eigene Familie, wo es, auch dem Daodejing zufolge, darum geht, die Beziehungen harmonisch zu gestalten; Familien bilden ein Dorf, Dörfer ein Land; die Länder zusammen mit der nichtmenschlichen Natur machen die Welt aus, chinesisch: »alles, was unter dem Himmel ist« (tiān-xià 天下), die Welt aus den Zehntausend Wesen und Dingen. So heißt es im Zhuangzi: In der Welt der Menschen sei vorsichtig, hüte dich, sei aufrecht in deinem Verhalten. Findest du Einlass, so singe dein Lied; findest du keinen, so halte ein: Nicht von außen durch die Tür, nicht mit Gewalt und Giften kommst du zu den Menschen. Du bist ihr Hausgenosse und wohnst mitten unter ihnen. Und es kann gar nicht anders sein. 135

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Damit Menschen und Dinge eine Heimat haben, musst du, so heißt es weiter, »Grenzen und Verschiedenheiten überwinden, die Menschen lieben und den Wesen nützlich sein«. Ein daoistisches Sinnbild für die Verbundenheit in der Welt ist das Arrangement zweier Saiteninstrumente, die auf den gleichen Grundton gestimmt und in zwei angrenzenden Räumen platziert sind. Schlägt man auf der einen Zither die gōng-Saite (宮) an, erklingt auch die gōng-Saite auf der Zither im Nebenraum, denn gleiche Töne schwingen miteinander: Auch hier ist die Welt: Klang. Der äußerste Ring – im Zhuangzi wie im Daodejing – ist die Ganzheit des vielfältig Wirkenden: der Lebensgrund, der alles Seiende trägt und umfasst, Dào. Ist man im Einklang mit dem Dào, dann sind der äußerste Ring der Welt und der innerste Ring des Selbst identisch: Dann kann man »den Wagen der Sonne besteigen und umherschweifen in den Steppen am Rande der Welt« – und doch bei sich sein: »Da ist kein Tor, da ist kein Haus, da wohnt man im Grenzenlosen, da vergessen die Menschen einander und sind doch verbunden wie die Fische in Strömen und Seen.« Um teilzuhaben am stets gegenwärtigen Dào, braucht man nur still zu sitzen, um sein Ich, die Zeit und die Meinungen zu vergessen: »Lass deine Gedanken nicht geschäftig werden« und siehe, »wie ruhig der Atem durch deine Nase geht«. Wenn dann »der Flimmerglanz der Ahnung« (Richard Wilhelm) überspringt ins große Leuchten, dann wird Selbstbeschränkung zu grenzenloser Selbsterweiterung, dann – so verspricht das Zhuangzi – ist da »Freude, der nichts mehr hinzugefügt werden kann« (siehe oben). Um zusammenfassen: Im Laufe des Alterns wird Selbstbeschränkung unumgänglich. Der Not gehorchend gilt es, das Beste daraus zu machen! Dies gelingt, wenn Genügsamkeit die Mitte findet zwischen Mangel und Überfluss. Als Gelassenheit ist die Mitte ein Haushalten mit allen dem Menschen verfügbaren Ressourcen, einschließlich seiner eigenen Lebenskraft. Ökonomie der Mitte beginnt beim Essen und Trinken, setzt sich 177 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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fort beim Kleiden und Wohnen, pendelt sich ein zwischen Reden und Schweigen, vermeidet Abneigung oder Zuneigung sowie Selbstbehauptung und Selbstgerechtigkeit, vermeidet auch den Kampf um Wissen oder Meinung, Ruhm oder Gewinn. Wer streitet, worum auch immer, der müht sich nur ab. Ökonomie der Mitte führt zu Harmonie im eigenen Innern und zu Freundlichkeit bei aller Zurückhaltung nach außen, gegenüber den Menschen und anderen Wesen und Dingen. Damit verknüpft ist die Erfahrung von Verbundenheit, so dass der Selbstbeschränkung unmittelbar die Fähigkeit zur Selbsterweiterung entspringt. Der äußerste Ring – Dào genannt – ist in einem so gelebten Leben identisch mit dem innersten Ring eines Ego-fernen Selbst. Das Glück, das aus dem Weg der Mitte erwächst, ist »nicht das Glück von Wein und Fleisch«. Es gleicht der Musik des Dào, die »nicht mit Saiten hervorgebracht«. Umspielt von einer solchen Musik könnte man seiner Jahre Zahl vollenden, und dabei … Muße finden, ein hohes Alter erreichen ohne angestrengte Atemübung, alles vergessen und doch alles besitzen in unendlicher Gelassenheit – und alles Schöne im Gefolge haben … Man könnte licht sein ohne Gefunkel, wahrhaftig sein ohne Beteuerung, schlafen ohne zu träumen, wachen ohne zu leiden – mit klarem Geist, ohne müde zu sein. 136

V.2.c) Exkurs: Buddhismus, Mitgefühl und Alter Ein »Exkurs« steht gewiss in keinem Verhältnis zur Bedeutung des Buddhismus im vormodernen China, scheint mir hier aber gerechtfertigt zu sein: Positionen des philosophischen Buddhismus zu Alter und Altern, erst recht des Chan-Buddhismus, unterscheiden sich kaum von daoistischen und mit der Grundannahme von Relevanz und Irrelevanz der letzten Lebensphase nicht einmal von konfuzianischen. Einer der augenfälligen Un178 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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terschiede zeigt sich aber schon in der Lebensgeschichte des historischen Buddha: Siddharta (ca. 563–ca. 483 v. Chr.), der spätere Buddha Shakyamuni, soll bei seinen heimlichen Ausfahrten als junger Prinz nacheinander einem Alten, einem Kranken und einem Toten begegnet sein. So will es die Überlieferung, und so kam der Gedanke in die Welt, menschliches Leben sei ein Kreislauf aus Leid, die erste der Vier Edlen Wahrheiten: Alles Dasein ist Leid (Sanskrit: dukha). Das schließt Freude, Glück und Lust nicht aus, allein die Erfahrung, dass alles vergänglich ist (samsara), verursacht Leid! Die zweite der Vier Edlen Wahrheiten antwortet auf die Frage nach dem Ursprung des Leids: Kein irdisches Jammertal, kein Teufel, kein Gott sind verantwortlich, allein der menschliche Lebensdurst und verknüpft damit: Anhaften, Festhalten, Neid, Konkurrenz und Gier. Die dritte Edle Wahrheit weiß um den Weg zur Auflösung des Leids, und die vierte zeigt diesen Weg: den Achtfachen Pfad, die buddhistische Ethik, die auf rechte Ansicht, rechtes Wollen, rechte Rede, rechtes Handeln, rechten Lebensunterhalt, rechtes Bemühen, rechte Achtsamkeit und rechte Versenkung zielt. Dass Menschen altern und sterben, Krankheit im Verlauf eines Lebens kaum zu vermeiden ist und am Ende der Tod winkt, aktiviert nach buddhistischer Vorstellung spontan Mitgefühl und Nächstenliebe und die seither alle Buddhisten umtreibende Frage, wie mit diesen Gewissheiten umzugehen sei. In der Lehre des Mahayana-Buddhismus (dà-chéng 大乘, Großes Fahrzeug), offiziell seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert für China nachgewiesen, herrscht neben dem Vorbild des historischen Buddha der Glaube an Bodhisattvas, zahlreiche Helferfiguren, die ihre eigene Erlösung zurückstellen, um möglichst vielen Menschen den Weg zur Befreiung zu weisen. Dass auch der Einzelne in der Verantwortung steht, dafür sorgt schon der Glaube an karmische Verstrickung, wonach alles Denken, Sagen und Tun nicht ohne Folgen bleibt, in diesem oder einem anderen Leben. Der Kosmos urteilt und verurteilt nicht, 179 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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er belehrt nur – anhand der Folgen meines Tuns. So kommt es, dass ein aus Mit-Leid agierender Wohltäter nicht nur seinem Mitmenschen hilft, sondern zugleich sich selbst – verspricht die mitleidvolle Tat doch eine Abkürzung der leidvollen Wanderung der Seelen. Hier spricht eine Ethik, die anknüpft an der Ichzentriertheit des Menschen: Das eigene Glück braucht den Umweg über das Glück der andern. Anders gesagt: Die Verbundenheit in der Welt sorgt dafür, dass ich nicht glücklich sein kann, wenn die andern in meiner Umgebung nicht glücklich sind. Mitgefühl als »Ungeduld des Herzens« (Stefan Zweig) trifft den Kern der Sache nicht. Mitgefühl bedarf der Übung ein Leben lang. Ursprünglich vorbuddhistisch gelangt der Karmagedanke mit den Lehren und Mönchen des Buddhismus ins Reich der Mitte und fällt in einer Zeit gesellschaftspolitischer Wirren auf fruchtbaren Boden. Vor allem in den unteren Schichten, während sich die Bildungselite Erleuchtung und Befreiung mehr von meditativer Versenkung verspricht (siehe III.2.a). Dabei versteht sich die Bodhisattva-Haltung umfassenden Mitgefühls (bēi 悲) von selbst. Ist doch die mitleidvolle Tat der erste Schritt aus der Vereinzelung, die erste kleine Schwimmbewegung hinaus ins offene Meer, diese »durchsichtige, immer lebendige Gegenwart«. Trotz des hohen Symbolcharakters der Gestalten, denen Siddharta begegnet, gehören auch in der buddhistischen Praxis alte Menschen zur Personengruppe, die besonderer Zuwendung bedarf. Praktizierten zunächst einzelne Mönche die buddhistische Sozialethik, so nimmt Ende des sechsten Jahrhunderts die barmherzige Hilfe auch in China institutionelle Formen an: Buddhistische Klöster errichteten »Glücksbringende Orte« (zào-fú-chú 造福處) (siehe V.1.c), zu denen nicht nur Glaubensbrüder Zugang haben, sondern alle – ohne Unterschied: Pilger, Arme, Alte, Kranke, Bettler und die bedürftigen Tiere. 137 Aus dafür ausgewiesenen Ländereien, sogenannten Feldern des Mitgefühls (bēi–tián 悲田), oder mit Hilfe der aus dem klösterlichen Pfandgeschäft gewonnenen Zinsen werden die buddhistischen Sozialstationen finanziert. Als im achten und neunten Jahrhun180 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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dert der chinesische Staat die wirtschaftliche Macht der Klöster einzudämmen sucht, orientieren sich die Behörden an dieser Art »Fürsorge von unten« bis hin zur Finanzierung. Die staatliche Vereinnahmung der religiös motivierten Sozialfürsorge setzt sich unter der Song-Dynastie (960–1279) fort, bis in der Späten Kaiserzeit vor allem die Abstammungsverbände dafür zuständig sind (siehe V.1.c). Wie alle Bedürftigen, ja alle Menschen, ist demnach der alte Mensch auch in der buddhistischen Praxis Objekt des Mitgefühls. Ob er auch als Subjekt seines Tuns besondere Aufmerksamkeit verdient, scheint fragwürdig. Wie im Daoismus und Konfuzianismus spielt im Buddhismus das Lebensalter keine Rolle für den Zeitpunkt von Erkenntnis der Wahrheit und Erleuchtung – schon gar nicht, wenn man wie in der Schule des Chan (siehe III.2.a) auf plötzliches Erwachen hofft. Andererseits sind die namhaften buddhistischen Meister immer fortgeschritten an Jahren, und der Übungsweg endet nie. So haben denn, wie im Konfuzianismus und Daoismus, Reife und Weisheit auch hier tendenziell mit dem Altern zu tun. Und auch im Buddhismus scheint beim alten Menschen heilige Eile geboten, verspricht Erleuchtung zu Lebzeiten doch endgültigen Ausstieg aus dem Rad der Zeit (kalachacra). Diesen Exkurs abschließend soll die Nonne Haiyin zu Wort kommen, von der wir nichts wissen, außer dass sie um die Wende vom neunten zum zehnten Jahrhundert in einem buddhistischen Kloster in der südwestchinesischen Provinz Sichuan lebte: 水色連天色 風聲益浪聲 旅人歸思苦 魚叟夢魂驚 舉棹雲先到 移舟月遂行 旋吟詩句罷 猶見遠山横

shuǐsè lián tiānsè fēngshēng yì làngshēng lǚrén guīsī kǔ yúsǒu mèng hún jīng jǔ zhào yún xiān dào yí zhōu yuè suì xíng xuányín shījù bà yóu jiàn yuǎnshān héng

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Leben in wachsenden Ringen: Altersutopien der chinesischen Philosophie

Die Farben des Wassers verfließen mit den Farben des Himmels. Der Ton des Windes verstärkt der Wellen Ton. Der Wanderer: Heimweh – Bitternis der Gänsedistel. Der alte Fischer: Sein Traum-Ich erschrickt. Hebt er die Ruder, sind die Wolken schon vor ihm da. Bewegt er sein Boot, jagt der Mond hinterher. Die Verse zu Ende rezitiert, verweilt der Blick bei den Bergen – fern und doch nah. 138

Hier klingt der Gedanke: »Wenn nicht jetzt, wann dann!« zumindest an – in der Gestalt des alten (!) Fischers (yú-sǒu 魚叟). Drei der insgesamt acht Zeilen sind allein seiner Not und Beklemmung gewidmet, die sich in extremer leiblicher Engung äußert: »Sein Traum-Ich erschrickt: Hebt er die Ruder, sind die Wolken schon vor ihm da. Bewegt er sein Boot, jagt der Mond hinterher« – leibliche Engung, die nur noch nach Weitung verlangt, ein Bedürfnis, dem im letzten Vers endlich Raum gegeben wird im offenen Blick auf die in der Ferne horizontal erstreckten (héng 横) Berge. Wirken Berge schon beruhigend als Monumente einer im Vergleich zum menschlichen Leben kraftvolleren Beständigkeit, so sorgt auch die rhythmisch nachhallende Sutren-Rezitation für Beruhigung und Entspannung. Demnach auch im buddhistischen Altersbild: Thematisierung und De-Thematisierung; das spätere Lebensalter ist sowohl von Belang als auch nicht. Übereinstimmend darüber hinaus in allen drei Welthaltungen die Überzeugung: Ein guter Lebenswandel lohnt sich, sei es im Schoß von Familie und Gesellschaft, im Einklang mit Natur und Kosmos oder auf den Wogen des Mitgefühls bei aller »Hauslosigkeit«. Übereinstimmend auch im Vergleich zur europäischen Kultur zunehmender Rationalität: keine Selbstbemächtigung, die eine Vernunft gegen leibliche Regungen durchzusetzen hätte. Dem leiblichen Spüren, wenn auch nicht den Extremen, wird entschieden Raum gegeben in Form von Meditation, Zuwendung, Mitgefühl, Freude, gelassener Heiterkeit … Statt der Vernunft als ratio tritt im Verlauf der Jahrhunderte zunehmend das Herz als Instanz der Moral auf 182 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Selbstbeschränkung und Selbsterweiterung im frühen philosophischen Daoismus

den Plan, um affektives Betroffensein, Gefühl und Sexualität zugunsten von Schuld und Scham in die Schranken von Sitte und Konvention zu weisen. Auch hier sind alle drei Geistesströmungen mehr oder weniger mit von der Partie. Immerhin, am vorherrschenden Altersbild, bei Siddharta ein Leidensbild, scheiden sich die Geister. »Das Alter bringt Mühe und Schwierigkeit« (lǎo lái nán 老來難) – so eine Redewendung und ein buddhistisches Fazit: Wird der Kopf alt, ergrauen die Haare; ist die Nase alt, sind die Gerüche nicht mehr zu unterscheiden; sind die Ohren alt, versteht man nicht, was andere sagen; sind die Zähne alt, fällt das Essen schwer …, sind die Hände alt, macht das Greifen Mühe …, ist das Gesicht alt, wird es ausdruckslos; die alten Augen sind trübe und tränen; wird der Mund alt, plappert er ohn’ Unterlaß; ist der Körper alt, sind Brust und Arme knöchern; sind Beine und Füße alt, fällt das Gehen schwer, und am Ende ist auch ein Held nur ein Strich auf dem Papier. 139

Diesem nüchtern-resignativen Altersbild hatte China dreierlei entgegenzusetzen: die konfuzianische Ehrerbietung vor dem Alter als Hochschätzung von Lebenserfahrung und womöglich Weisheit; die heitere Gelassenheit des philosophischen Daoismus und Chanbuddhismus im Leben und Sterben als Wandlung über Wandlung: »Das Alter bringt Freude« (lǎo lái lè 老來 樂). Und nicht zuletzt die Pflege des Lebens, die jedem Einzelnen einen Schatz an Regeln an die Hand gibt, um so lange wie möglich zu leben und gesund zu sein. Aus diesen verschiedenen Einstellungen kristallisierte sich eine kulturspezifische Weise, die Freuden des Alters zu genießen, ohne die Zipperlein zu unterschlagen: Der Rücken schmerzt, die Beine tun weh, die Bewegung wird langsam, die Ohren taub, die Augen trüb, die Hände zittern, das Gedächtnis lässt nach, man ist verwirrt, Hände und Füße gehorchen nicht mehr … Und doch: Nicht wirklich krank zu sein, ist ein Glücksfall. Dessen eingedenk mache man sich auf die Suche nach den Freuden … 140

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Leben in wachsenden Ringen: Altersutopien der chinesischen Philosophie

Dieser Text, in der seit den 1950er Jahren in der VR China gültigen Schrift der Kurzzeichen, ist graphisch so angeordnet, dass er einen alten Menschen zeigt, der Taijiquan oder Qigong praktiziert. Was folgt, sind konkrete Ratschläge für eine ausgeglichene Lebensführung: angefangen bei Ernährung, Hygiene und Bewegung über emotionale Gelassenheit, die Sorge für den rechten Zeitpunkt, die Beschäftigung mit Malerei, Kalligraphie und Dichtung bis hin zur Auseinandersetzung mit der nachkommenden Generation und – der Freude an den »Enkeln auf dem Schoß«.

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Zusammenfassung und Ausblick: Zur Kunst geglückten Alterns

Die poetischen Befunde zu Beginn des Buches, die philosophischen Utopien am Ende umspielen drei Kapitel, in denen beides abwechselnd zur Sprache kommt: subjektive Befindlichkeit von Dichtern und Dichterinnen sowie der schweifende Blick von Medizin und Recht, Religion und Ritus über Räume und Rollen alter Menschen im vormodernen China. Der Unterschied in der Lebenswelt von Mann und Frau im vorgeschrittenen Alter ist in allen Kapiteln ersichtlich. Wenn Frauen seltener zu Wort kommen, hängt das damit zusammen, dass den männlichen Hütern der Tradition deren Selbstzeugnisse nicht zwingend erhaltenswert gewesen sind. I Befinden und poetische Reflexion. Bei aller Lückenhaftigkeit der Überlieferung, bei allem Vorwissen über die Asymmetrie der Geschlechter überrascht doch, wie diametral entgegengesetzt Mann und Frau sich finden und fühlen. Die Altersgedichte der Männer sind voller Humor und Lebensgenuss, ohne dass die Beschwerden der späteren Jahre unterschlagen sind – ebenso wenig die Angst vor dem endgültigen Abschied: »Das Leben kann schon schwierig sein! Sterben aber, ach!« Verspricht der Rückzug in den Ruhestand auf Seiten der Männer Freiräume, so tun Frauen auch im Alter das, was sie immer schon taten: das was getan werden muss und darf, und – seufzen und klagen! Ihr künstlerisches Tun scheint weniger Folge ihres Erlebens zu sein als das Erleben selbst. Mündet Nichtstun der Frauen in Trägheit, Langeweile, ennui, so sind die Männer in ihrem Nichtstun begeistert dem Augenblick zugewandt, dem, was gerade geschieht. 185 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Zusammenfassung und Ausblick: Zur Kunst geglückten Alterns

Den Zustand »tief im Wein« suchen beide Geschlechter – die Männer, um desto berauschter kreativ zu sein, die Frauen und der Dichter Du Fu, um Einsamkeit und Leid zu vergessen. Eine übergreifend spirituelle Dimension, Dào oder die Leere, ist bei beiden Geschlechtern vorausgesetzt, die Poesie der Männer aber trifft Vorsorge, »den Zugang zum ursprünglichen Einst neu zu gewinnen« (Rainer Marten). II Nähren von Innen und Außen: Alter und Lebensbewahrung. Über jeden Zweifel erhaben ist die vorsorgende Beschäftigung mit Gesundheit und Langlebigkeit eines der eigentümlichsten Merkmale chinesischer Zivilisation: Eine Medizin, die dem Menschen nahelegt, sich einzufügen in die Rhythmen von Kosmos und Natur, bei jeder Lebensregung und Lebensbewegung die Mitte zu wahren, erzieht zur Selbstverantwortung. So kommt es, dass Praktiken systematischer Lebenspflege – vom Essen und Trinken über Atem- und gymnastische Übungen bis hin zur Sexualität – den Alterungsprozess verlangsamen und beschwichtigen. Offiziell-medizinische Diagnosen und Selbstdiagnosen der Dichter und Gelehrten überschneiden sich: In beiden Fällen bleibt der Befund nah am Boden der gespürten Phänomene. III Der Leere gewachsen sein. Alter und Spiritualität. Wer die banale Beobachtung, dass alles ununterbrochen im Wandel, dass keine Situation der anderen gleicht, dass »die Jugend dem Alter weicht« (Hesse), in ihrem Ausmaß begreift, dem liegt Melancholie näher als Optimismus und Tatendrang. Unhintergehbar auch der Glaube, dass hinter alledem ein Kosmos steht, der »von selbst geschieht«: Da ist kein Gott, »der dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält« (Rilke). Vor diesem Hintergrund sind Meditation und Erleuchtung mehr als religiöse Praxis mit unbedingtem Ernst. Als spürende Vorwegnahme der Heimkehr ins chaotisch-mannigfaltige Dào sind sie Vorbereitung auf den Augenblick, wenn die Welt des Einzel186 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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nen ein Ende hat und er sich mitnehmen lässt von den Wellen der Wandlung. IV Alt und Jung. Rituale sind wie Bambusknoten. Ritualisiert oder spontan erweist sich die Begegnung von Alt und Jung in und außerhalb der Familien als ein »Feld elastischer Beziehung« (Klaus E. Müller). Das komplementäre Verhältnis variiert im Verlauf der Geschichte, durch gesellschaftspolitische Umstände bedingt, bevorzugt einmal die Jungen, einmal die Alten, zugespitzt formuliert: eine vormoderne Art von »Jugendwahn« und »Methusalemkomplott«. V Leben in wachsenden Ringen. Philosophische Altersutopien. Wie die moderne Altersforschung kennt auch die chinesische Philosophie: Thematisierung und De-Thematisierung der späteren Lebenszeit. In allen drei Systemen – Konfuzianismus, einschließlich des Neokonfuzianismus, Daoismus und Buddhismus – ist die vorgeschrittene Lebenszeit sowohl relevant: »Wenn nicht jetzt, wann dann!« als auch irrelevant, wenn Arbeit am eigenen Selbst, am »guten« Kern der Person (Herz, Geist, Buddhanatur) möglichst früh beginnt und nicht aufhört ein Leben lang. Weisheit mag dem Alter zustattenkommen, zwangsläufig ist sie nicht, schon gar nicht Erwachen, Befreiung oder Erleuchtung. Schön und gut! Wo aber ist, jenseits des Staunens querfeldein, der lebenspraktische Bezug zu dem, was alte Menschen hier und heute umtreibt? Fangen wir noch einmal von vorne an. Aus Kapitel I ist in Erinnerung: Humor und Lebensgenuss, der Wechsel zwischen Tun und Nichtstun, die Leichtigkeit des Seins bei aller Schwere, die das Altern mit sich bringen kann: das »Dennoch«! Kapitel II rührt an Selbstverantwortung und gibt Methoden an die Hand, das Leben bewusst zu pflegen. Kapitel III zeigt Religion ohne persönlichen Gott, spirituell und poetisch zugleich. Kapitel IV entnehmen wir das Miteinander von Jung und Alt und »Jedem das Seine«. Kapitel V entfaltet Phi187 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

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losophien, deren Begründer – Konfuzius, Zhuang Zhou und der historische Buddha – vorlebten, was sie lehrten. Es ihnen gleichzutun, zu leben, was man für richtig befunden hat, und das, was man für richtig befunden hat, täglich neu zu prüfen, um »sich selbst zu läutern wie ein Stück Erz, sich selbst auf Glanz zu bringen wie einen Bronzespiegel« (Linji) – mit dieser Aufforderung ist man auch im Alter nicht allein. Bei aller Individualität ist jeder/jede eingebettet in mehr als eine übergreifende Situation. Man muss nur »cultiver notre jardin – der Garten muss bestellt werden« (Candide, Voltaire).

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Endnoten

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Xiao Yi (508–555), Kaiser Yuan der Liang-Dynastie (502–556); zit. in Bauer 1990, 143. 2 (S. 13) Huang Fuyong (gest. 1501); zit. in: H. Wilhelm 1963, 183. Die letzten beiden Verse gehen auf einen Ausspruch des Shao Yong zurück: huā jiàn bái-tóu-rén mò xiào, bái-tóu-rén jiàn hào huā duō 花見白頭人莫 笑,白頭人見好花多(Lache nicht über die Blumen am Schopf alter Leute, alte Leute haben mehr davon gesehen und sich daran erfreut); vgl. https://zh.wikipedia.org/wiki/%E9%82%B5%E9%9B%8D. Gleichzeitig nimmt Huang Fuyong ein Gedicht des Su Shi ins Visier: »Ein Greis – und ich steckte mir Blumen ins Haar und schämte mich selber nicht/Aber die Blumen mussten sich schämen über dem greisen Gesicht/Die Leute haben den Trunknen gestützt und gaben ihm lachend Geleit. Ein Perlenvorgang nach dem andern ging auf, zehn Meilen weit.« Übs. von Debon 1988, 132. 3 (S. 18) Auf eine erste Auswahl von Altersgedichten chinesischer Männer stieß ich in dem Taschenbuch L’art de bien vieillir dans l’esprit du tao von Collet/Cheng 2011. Von beiden Autoren liegt eine ganze Bibliothek an Übersetzungen vor von chinesischer und japanischer Poesie. Solche »Vorleistung« war im Falle der Männergedichte für dieses Buch von unschätzbarem Wert. 4 (S. 20) Aus dem Gedicht »Ershunyin« (Lied der versöhnlichen Ohren); chin. Original und frz. Übs. in Cheng/Collet 2011, 61–62; ěr-shùn 耳順, wörtlich: »Die Ohren gehorchen«, Anleihe aus Konfuzius’ Lebensrückblick (s. IV.1.c). 5 (S. 21) Aus dem Gedicht »Yinzhong baxian ge« (Lied von den Acht Unsterblichen beim Trinken); chin. Original und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2014b, 9–10; engl. Übs. in: Young 2015, 29. 6 (S. 23) Der Weg zu den hier zitierten Gedichten von Frauen führte über die zwei Jahrtausende umfassende Anthologie Women Writers of Traditional China, hrsg. von Chang/Saussy 1999, bevor die Originale gesichtet werden konnten. Hilfreich von Anfang an die Dissertationen von Redies 1992 über Frauengedichte aus der Tangzeit (618–905) sowie Dauber 2000 über Li Qingzhao (1084–1155?). Hanne Redies/Hanne Chen, Pionierin der auf China bezogenen Frauenforschung, war eine begnadete Übersetzerin. Sie starb im Februar 2017. Für Hanne (2017): »Dein letz(S. 11)

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tes Lied, honiggelb auf augenblauem Grund. Leben war Dir lieb und wund zugleich und – pappellaubweich das Licht in den Pfützen für später. All das ist nicht mehr. Später ist nicht mehr.« 7 (S. 24) Chen 1996, 26. 8 (S. 25) Cui Shi 催氏 (Tangzeit, 618–905), genaue Lebensdaten unbekannt; übs. in Anlehnung an Chen 1996, 52 (chin. Original u. dtsch. Übs. ebd.). 9 (S. 26) Aus einem Gedicht der Zhang Yan (Tangzeit, 618–905), genaue Lebensdaten unbekannt; chin. Original u. dtsch. Übs. in: Chen 1996, 50. 10 (S. 27) Aus dem Gedicht »Guyu« (Saatregen), einer der 24 Jahreseinteilungstage Ende des 4. Monats. Chin. Original in: http://www.barbaramaag.de/Frauenlyrik/, zur engl. Übs vgl. »Spring Rains for the Crops«, Chang/Saussy 1999, 408. 11 (S. 28) Hou Cheng’en (?1722), Gedicht auf die Melodie »Yijian mei« (Ein Zweig mit Pflaumenblüten); chin. Original in: https://sou-yun.com/ Query.aspx?type=poem1&id=699768; engl. Übs. in: Chang/Saussy 1999, 432–433. 12 (S. 28) Gedicht der Yu Xuanji (844–868); chin. Original und dtsch. Übs. in: Chen 1996, 60. 13 (S. 29) Aus dem Gedicht »Chunwang« (Im Frühling Ausschau halten) der Xue Tao (768–831?); chin. Original und dtsch. Übs. in: Chen 1996, 30. 14 (S. 30) Das zweite Gedicht auf die Melodie »Dianjiangchun«; übs. in Anlehnung an Dauber 2000, 139 (chin. Original und dtsch. Übs. ebd.). »Die Straße der Heimkehr«: womöglich eine Anspielung auf Tao Yuanmings Gedicht »Heimkehr« (siehe III.1.c). 15 (S. 31) Gedicht der Huang Yuanjie (Mitte 17. Jahrhundert), »Geschrieben als Begleittext zu einer kleinen Malerei«; chin. Original in: https:// books.google.de/books?id=do-XCgAAQBAJ; engl. Übers. in: Chang/ Saussy 1999, 359. 16 (S. 31) Aus dem Gedicht »Shanshuizhang ge« (Lied auf einen Wandschirm mit Landschaft) der Zheng Yunduan (?1327–1356); engl. Übers. in: Chang/Saussy 1999, 132, chin. Original in: http://www.barbaramaag. de/Frauenlyrik. 17 (S. 32) Aus dem Gedicht »Yueye mingqin« (In einer Mondnacht Zither spielen) der Yang Wenli (16. Jahrhundert); chin. Original in: http:// chinesischegedichte.bogspot.com/2010/11/yang-wen-li; engl. Übers. in: Chang/ Saussy 1999, 195. 18 (S. 32) Übs. in Anlehnung an Chen 1996, 54; chin. Original ebd. 19 (S. 34) »Huazhu« (Bild mit Bambus); chin. Original in: http://www.en84. com/dianji/shi/201007/00002955.html; engl. Übs. in: Chang/Saussy 1999, 127 sowie Idema/Grant 2004, 284. 20 (S. 35) »Qiumu shuhuai« (An einem Herbstabend geschrieben, was mich beschäftigt); chin. Original zit. in: Li Yin xuan 2003, 63; engl. Übs. in: Chang/Saussy 1999, 370.

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»Zweites Gedicht auf die Melodie Tān pòhuàn xīshā«, übs. in Anlehnung an Dauber 2000, 212; chin. Original ebd. 22 (S. 37) yōu 幽, wörtlich: tief, dunkel, subtil. 23 (S. 40) Vgl. Dahmer 2003 und 2007. 24 (S. 40) »Tingge« (Beim Hören von Liedern); chin. Original und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2011, 87. 25 (S. 41) »Zhongnan bieyi« (Landsitz am Zhongnan-Berg); chin. Original und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2016, 16; übs. in Anlehnung an Redies, persönlicher Brief vom 22. 6. 1983; vgl. auch Schumacher 1982, 139. 26 (S. 43) »Menwai duli« (Allein stehend vorm Tor), chin. Original und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2015, 246. 27 (S. 44) Einzelne Verszeilen aus ganz unterschiedlichen Gedichten. 28 (S. 46) In Anlehnung an Bauer 1990, 169; chin. Original und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2014a, 22–25. 29 (S. 46) Aus dem Gedicht »Meng Li Bo, er shou« (Von Li Po geträumt, Zwei Verse); chin. Original und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2014b, 49–50; dtsch. Übs. in: Keller 2009, 73. 30 (S. 47) Auszug aus dem Gedicht »Zum Neuen Mond beten«; übs. in Anlehnung an Chen 1996, 53; chin. Original ebd. Es geht um den Vollmond am Mittherbstfest (am 15. 8. nach dem Mondkalender), wenn die Familie zusammentrifft, um den Mond zu betrachten. Darüber hinaus gilt Chang E als »Mondgöttin«, die den Frauen Liebe und Familienglück schenkt. Diesen Hinweis verdanke ich Pan Lixin. 31 (S. 48) Vgl. Cheng/Collet 2009. 32 (S. 48) Aus dem Gedicht »Shiyiyue siri feng yu dazuo« (Am 4. Tag des 11. Monats großer Sturm und Regen); chin. Original und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2015, 100. 33 (S. 50) Yuan Mei »Hualuo shushang ji jia shuzhong« (Blüten fallen auf mein Buch, die ich zu pressen gedenke), chin. Original und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2000, 147. 34 (S. 52) Zum makro-mikrokosmischen Resonanzbild von Alter und Langlebigkeit vgl. Frühauf 2006. 35 (S. 54) Huangdi neijing, suwen, Kap. 1; zit. in: Rochat la Vallée/Larre 1993, 29–30. 36 (S. 55) Ebd. Kap. 18, 43–46; vgl. analog die »45. Schwierigkeit« im Nanjing, in: Unschuld 1986, 44; zum Lebensziel, hundert Jahre alt zu werden, vgl. auch Magel/Prinz 2006. 37 (S. 55) Huangdi neijing, suwen, Kap. 1; zit. in: Rochat la Vallée/Larre 1993, 32–39 sowie 92. 38 (S. 55) Lu Yunzhong 1987, 178–179. 39 (S. 59) Bo Juyi’s Gedicht »Yanbing« (Augenkrank); chin. Original und frz. Übs. in: Hu-Sterk 1995, 61. (S. 36)

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Yuan Mei’s Gedicht »Jiuyue ershiri ye ji you zuo« (In der Nacht vom 20. Tag des 9. Monats bricht die Krankheit wieder aus); chin. Original und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2000, 152. 41 (S. 61) Zu weiteren altersrelevanten Akupunkturpunkten vgl. Magel/ Prinz 2006, 44. 42 (S. 63) Richter/Chace 2017. 43 (S. 65) Zit. in: Harper 1998, 126 sowie Stein 1998, 32; vgl. die früheste Erwähnung in H. Wilhelm 1948. 44 (S. 65) Kap. 15.1 »Keyi«, Huang, Jinhong 1974, 191–192; vgl. R. Wilhelm 2008, 180–181. Pengzu ist der chinesische Methusalem. 45 (S. 68) Aus dem Gedicht »Saodishi« (Gedicht vom Fegen des Bodens), frz. Übs. in: Cheng/Collet 2015, 15; chin. Original in: http://www.shici mingju.com/chaxun/list/368852.html. 46 (S. 69) Zhao Guorui 2001; vgl. Linck 2013a. 47 (S. 71) Shanjufu, in Anlehnung an Bauer 1990, 168. 48 (S. 72) In Anlehnung an Bauer 1990, 246. 49 (S. 72) Vgl. Linck 2013a. 50 (S. 73) Vgl. Harper 1998, van Gulik 2003 und Pfister 2003. 51 (S. 74) Vgl. van Gulik 2003. 52 (S. 74) Das Ishimpo, übs. von Ishihara/Levy 1968. 53 (S. 76) Zit. in: van Gulik 2003, 258. 54 (S. 78) Chin. Original u. engl Übs. in: Lu Yunzhong 1987, 216–217. 55 (S. 81) Gedicht des Hong Yuandao »Jianjianshi, xiti bishang« (Ganz allmählich. Zum Scherz an eine Mauer geschrieben); übs. von Debon 1988, 264. 56 (S. 82) Engelhard 1998b, 75. 57 (S. 84) »Shiwen« (Zehn Fragen), Mawangdui yixue wenhua 1994, 339; vgl. Harper 1998, 407. 58 (S. 84) Beiji qianjin yifang, in Anlehnung an Engelhard, Manuskript einer Powerpoint-Präsentation 2005. 59 (S. 88) Aus dem »Gedicht über sieben Schalen Tee«, zit. nach Okakura 1988, 25; chin. Original und weitere deutsche Übersetzung in: Dahmer 2012, 46–47. 60 (S. 88) Dauber 2000, 261. 61 (S. 88) Cheng/Collet 2002, 2. 62 (S. 89) Lu Guimeng, in Anlehnung an Bauer 1990, 252. 63 (S. 89) Vgl. Heubel 2014. 64 (S. 89) Vgl. Linck 2013a, 140. 65 (S. 89) Ebd. 66 (S. 93) Kap. 18.2 »Zhile« (Höchstes Glück); Huang, Jinhong 1974, 212; vgl. R. Wilhelm 2008, 204–205. 67 (S. 94) Unbekannter Autor; zit. in: https://baike.baidu.com/item/薤露/ 10885345; vgl. Davis 1983, Vol. I, 166. (S. 60)

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Chin. Original und engl. Text in: Fang 1980, 168–173. Boiocatus, zit. in Michel de Montaigne, Essais. Zürich (Manesse) 2000, II.3, 338. 70 (S. 97) Herz als Sitz des Denkens und der Emotionen; Zhuangzi, Kap. 4.1 »Renjianshi« (In der Welt der Menschen), Huang, Jinhong 1974, 83; vgl. Aumann 2018, 61 sowie R. Wilhelm 2008, 75. 71 (S. 97) Linji, zit. nach Demiéville 1985, 243. 72 (S. 100) Kap. 19 »Dasheng« (Das Leben verstehen); Huang, Jinhong 1974, 220; vgl. R. Wilhelm 2008, 210. 73 (S. 101) »Guiqulai …«; übs. in Anlehnung an Bauer 1990, 169–170; chin. und frz. Text in: Cheng/Collet 2014a, 22 ff.; chin. und engl. Text in: Fang 1980, 160 ff. Siehe auch I.2.c. 74 (S. 101) In Anlehnung an Bauer 1990, 178. 75 (S. 102) Chin. Original und frz. Text in: Cheng/Collet 2011, 56–57. 76 (S. 102) Zit. in: Schwarz 1988, 478. 77 (S. 103) In Anlehnung an Bauer 1990, 473–474. 78 (S. 104) Mönch Huinan (1002–1069); in Anlehnung an Bauer 1990, 342. 79 (S. 104) In Anlehnung an Bauer 1990, 417. 80 (S. 108) Han, Byung-Chul 2006, 74. 81 (S. 109) Die Übersetzung »Potenz und Erfüllung« für »Leere und Fülle« übernehme ich von Kubin 2013, 48. 82 (S. 110) Linji, zit. in: Demiéville 1985, 247. 83 (S. 110) Schmitz 1995, 92. 84 (S. 111) Kap. 2 »Qiwulun« (Über die Gleichheit der Dinge); chin. Text in: Huang, Jinhong 1974, 60; übs. in Anlehnung an Aumann 2018, 36–37; vgl. R. Wilhelm 2008, 53. 85 (S. 112) Chin. und dtsch. in: Simon 2009, 48–49 sowie Kubin 2011b, 34– 35. 86 (S. 113) Zitate von Yunmen, übs. in Anlehnung an App 1994. Zu Bodhidharma vgl. Bruno/Mala 1985; zu Huineng Bruno/C. 1985; zu Linji vgl. Demiéville 1985. 87 (S. 114) Aus dem Gedicht »Baozhu« (Der Knallfrosch) des Chan-Mönches Min Shengnian (?); chin. Original und dtsch. Übs. in: Dörn 1993, 162. 88 (S. 115) Chin. Original und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2016, 120. 89 (S. 116) Das chin. Original war mir nicht zugänglich; übs. in Anlehnung an Dörn 1993, 163. 90 (S. 116) In Anlehnung an Bauer 1990, 413. 91 (S. 117) Vier Himmelrichtungen + Oben und Unten. Nimmt man die Diagonalen hinzu, sind es 8 + Oben und Unten = Zehn Himmelsrichtungen. 92 (S. 117) In Anlehnung an Bauer 1990, 457–458. 93 (S. 118) Wörtlich: »blanke Jadescheibchen«, Grabbeigabe für den Herrscher. R. Wilhelm wählt die Übersetzung mit »Totenlampen« im Rück69

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griff auf Heinrich Heines Gedicht »Wo?«: »… Immerhin, mich wird umgeben Gotteshimmel, dort wie hier. Und als Totenlampen schweben nachts die Sterne über mir.« 94 (S. 118) Vorletzte Geschichte aus Kap. 32 »Lie Yukou«; Huang, Jinhong 1974, 364; übs. in Anlehnung an R. Wilhelm 2008, 299. 95 (S. 119) Der Legende nach ließ der Gelbe Kaiser aus Bambus zwölf tönende Rohre herstellen, von denen sechs dem Gesang des männlichen und sechs dem Gesang des weiblichen Phönix nachempfunden sein sollten. 96 (S. 119) Dem Holz der Paulownia (ostasiatische Variante des Blauglockenbaums), aus dem die Zither hergestellt wird, fehlt die Wurzel, um ganz lebendig zu sein. 97 (S. 119) Chin. Original und frz. Übs. in: Hu-Sterk 1995, 71. 98 (S. 120) Das Gedicht »Shi er« (Testament für die Söhne); chin. Text und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2015, 56. 99 (S. 120) In Anlehnung an Bauer 1990, 266. 100 (S. 120) Aus den »Bestattungsliedern« des Tao Yuanming; chin. Original und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2014a, 156–157; chin. Text und engl. Übs. in Davis 1983, Vol. I, 168–170 bzw. Vol. II, 130. 101 (S. 121) Ebd. 102 (S. 121) Die folgenden Ausführungen rekurrieren auf meinen Aufsatz in Schottenhammer 2003. 103 (S. 122) Zhuangzi Kap. 6 »Dazongshi« (Der große ehrwürdige Meister), Huang, Jinhong 1974, 108–109; übs. in Anlehnung an Aumann 2018, 91–91; vgl. R. Wilhelm 2008, Kap. 6.3, 100–102 sowie Kubin 2013, 154– 155. 104 (S. 123) Xunzi jijie 1988, 372; vgl. Watson 1967, 105–106. 105 (S. 124) Chin. und frz. Übs. in: Cheng/Collet 2014a, 23–26; übs. in Anlehnung an Bauer 1990, 170. 106 (S. 125) Zit. in: Erkes 1914, 14. 107 (S. 129) Dieser Abschnitt und die folgenden zehren von früheren Publikationen: Linck-Kesting 1981, Linck 1986a und 1986b, Linck 1988; zur kindlichen Entwicklung vgl. Volkmar 1982. 108 (S. 136) Lunyu 2.4, 12; vgl. R. Wilhelm 1985, 42 sowie Kubin 2011a, 86. 109 (S. 138) Zhuangzi, Kap. 6.5 »Dazongshi« (Der große ehrwürdige Meister), Huang, Jinhong 1974, 110–111; übs. in Anlehnung an Aumann 2018, Kap. 6.7, 95; vgl. R. Wilhelm 2008, 104. 110 (S. 138) Liezi zhuzi suoyin Kap. I »Tianrui« (Gute Himmelsomen), 3, 1996, 6; übs. in Anlehnung an R. Wilhelm 1974, 38–39. 111 (S. 139) Huainanzi zhuzi suoyin 1992, Kap. 18 »Renjianxun« (Aus der Welt der Menschen), 190; zu einer modernen Version vgl. Frisch/Zhou 2013, 26–27. 112 (S. 140) Aus dem »Lied der hundert Jahre« (Bainiange), in: http://www. shicimingju.com/chaxun/list/1118848.html.

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Liji, Kap. »Zhongyong« (Maß und Mitte); übs. in Anlehnung an Kubin 2014, 104–105; vgl. R. Wilhelm 1981, 34. 114 (S. 144) Liji zhuzi suoyin 1992, Kapitel »Neize« (Regeln für den inneren Bereich), 12.2–12.3 sowie 12.11, 73–74; übs. in Anlehnung an R. Wilhelm 1981, 318–320. 115 (S. 145) In Anlehnung an die etwas freie Übersetzung von Hauer 1928, 66. Zum chin. Orginaltext, ursprünglich aus dem Soushenji von Gan Bao (ca. 300), vgl. https://baike.baidu.com/item, Shǐ-liào jìzài. 116 (S. 149) Han Fei Zi, XLIX.9; chin. Original und dtsch. Text zit. in: Kubin 2018, 160–161; vgl. Bauer 1974, 99; engl. Übs. in: Watson 1968, 106. 117 (S. 149) Xunzi jijie 1988, Kap. 29 »Zidao« (Der Weg des Kindes), 529–530; übs. in Anlehnung an Bauer 1974, 90. 118 (S. 150) Liji zhuzi suoyin 1992, Kap. 12.12 »Neize«, 74; übs. in Anlehnung an Huang Jacobs 1973, 45; die Stelle fehlt bei R. Wilhelm 1981, 148. 119 (S. 150) Die folgenden Ausführungen entstanden in Anlehnung an den Artikel Linck-Kesting 1981. 120 (S. 150) Zit. in: Eberhard/Ho 1941, 23 u. 39 sowie Hart 1937, 35. 121 (S. 151) Vers 55; vgl. Simon 2009, 168 sowie Schwarz 1980, 126; übs. in Anlehnung an Schwarz; vgl. ebd. Vers 76. 122 (S. 151) Liezi 5. Kap. »Tangwen« (Fragen des Tang); übs. in Anlehnung an Bauer 1974, 141–142; vgl. R. Wilhelm 1974, 104. 123 (S. 153) »Guan er xi« (Kinder beim Spielen betrachtend), Quan Tang shi (Sämtliche Gedichte der Tangzeit) Bd. 13; 433–15,4784; vgl. H. Wilhelm 1963, 182. 124 (S. 153) Li Taibo’s Gedicht »Qian you yizun« (Vor uns den Becher Wein, 1. Gedicht); übs. Debon 2009, 21; chin. Original zit. in: https://baike. baidu.com. 125 (S. 155) Zhu Dunru (?1080 bis 1175), vgl. deutsch Übs. in H. Wilhelm 1963, 183; chin. Original zit. in: http://www.shicimingju.com. 126 (S. 156) Debon 1970, 58; Ergänzung der Pinyin-Umschrift, Töne und Zeichen Linck. 127 (S. 156) Fang Xiaoru, übs. Epping-von-Franz 1983, 76, 24,15. 128 (S. 157) Aus Liu E’s Roman Die Reise des Lao Can; übs. Kühner 1989, 128–133. 129 (S. 163) Liji zhuzi suoyin, 1992, 2. Kap. »Daxue« (Das große Lernen) 164; vgl. R. Wilhelm 1981, 47 sowie Kubin 2014, 37. 130 (S. 166) Mengzi yizhu, Kap. 2.5 »Liang Huiwang«, Yang, Boling 1981, 36; übs. in Anlehnung an R. Wilhelm 1982, I.B.5, 56. 131 (S. 167) Mengzi yizhu, Kap. 13.22 »Jinxin«, Yang, Boling 1981, 310; übs. in Anlehnung an R. Wilhelm 1982, VII.A.22, 189. 132 (S. 168) Liji zhuzi suoyyin 1992, Kap. 9.1 »Liyun«, 59; übs. in Anlehnung an R. Wilhelm 1981, Kap. 3, 56. (S. 142)

195 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Endnoten 133

(S. 170) Die folgenden Ausführungen beruhen auf meinem Artikel »Selbstbeschränkung …«, Linck 2017a. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Böhlau. Dort finden sich auch die Nachweise zu den Kurzzitaten. 134 (S. 172) Zhuangzi, Kap. 26.1 »Waiwu«, Huang, Jinhong 1974, 309–310; übs. in Anlehnung an R. Wilhelm 2008, 282–283. 135 (S. 176) Zhuangzi, Kap. 4.1 »Renjianshi«, Huang, Jinhong 1974, 83; übs. in Anlehnung an R. Wilhelm 2008, 75. 136 (S. 178) Zhuangzi, Kap. 15 »Keyi«, Huang, Jinhong 1974, 192; übs. in Anlehnung an R. Wilhelm 2008, 181. 137 (S. 180) Die hier folgenden Ausführungen wurden von mir 1985 in meinem Aufsatz »Bürokratisierung und soziale Fürsorge …« ausgeführt. 138 (S. 182) Chin. Original und engl. Übs. in Grant 2003, 28. Ausführliche Interpretation in: Linck 2013a, 150–151. 139 (S. 183) Steinabreibung aus einem buddhistischen Kloster auf dem heiligen Berg Emeishan in der Provinz Sichuan; Autor und Entstehungszeit sind unbekannt; zit. in Anlehnung an Hemm 2006, 19. 140 (S. 183) Steinabreibung aus einem daoistischen Kloster auf dem heiligen Berg Qingshan, Provinz Sichuan; zit. in Anlehnung an Hemm 2006, 20– 21. 141 (S. 219) Zhuangzi, Kap. 22.8 »Zhibeiyou«, Huang, Jinhong 1974, 258. 142 (S. 223) Aus dem »49er Qigong« des Kontaktstudiums an der Uni Oldenburg. 143 (S. 224) Zhuangzi, Kap. 12.11 »Tiandi« (Himmel und Erde); Huang, Jinhong 1974, 157; vgl. R. Wilhelm 2008, 147–148; zur Interpretation vgl. Jäger 2003, 86 sowie Kubin 2013, 140. 144 (S. 224) Pablo Neruda, zit. in Linck 2013a, 84. 145 (S. 225) Zhuangzi, Kap. 17.12 »Qiushui« (Herbstfluten); Huang, Jinhong 1974, 204; vgl. R. Wilhelm 2008, 201; zur Interpretation vgl. Jäger 2003, 63 bzw. 2018 sowie Kubin 2013, 58–60. 146 (S. 226) Zhuangzi Kap. 17 »Qiushui« (Herbstfluten); Huang, Jinhong 1974, 203–204; vgl. R. Wilhelm 2008, 200. 147 (S. 227) Zhuangzi, Kap. 1.1 »Xiaoyaoyou« (Frei und ungehindert umherschweifen); Huang, Jinhong 1974, 51; vgl. R. Wilhelm 2008, 44, übs. in Anlehnung ab Kubin 2013, 107–110 sowie Aumann 2018, 27–28. 148 (S. 229) Zhuangzi, Kap. 4.4 »Renjianshi« (In der Welt der Menschen); Huang, Jinhong 1974, 85–86; vgl. R. Wilhelm 2008, 80–81; Jäger 2003, 77–79 bzw. 2018; übs. in Anlehnung an Aumann 2018, 66–68.

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Anhang

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Zeittafel Personenverzeichnis Verzeichnis der Werke Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Sachindex Zum Gebrauch des Buches Qigong am Brunnen, Geschichten und Übungen

207 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

1. Zeittafel

Vor- und Frühgeschichte Peking-Mensch 500 000 v. Chr. Paläolithikum 200 000 v. Chr. Neolithikum 6. Jahrtausend v. Chr. Der erste Staat Shang/Yin ca. 16. – 11. Jh. v. Chr. Lehensordnung Zhou ca. 1045 – 221 v. Chr. Zeit der Frühlings- und Herbstannalen 770–464 v. Chr. Zeit der Kämpfenden Staaten 463–221 v. Chr. Frühe Kaiserzeit Qin 221 – 207 v. Chr. Han 206 v. Chr. – 220 n. Chr. Drei Reiche 220 – 265 Jin 265 – 420 Süd-Nord-Dynastien 420 – 581 Sui 581 – 617 Tang 618 – 907 Mittlere Kaiserzeit Fünf-Dynastien-Zehn-Staaten 907 – 960 Song 960 – 1278 Nördliche Song 960 – 1127 Südliche Song 1127 – 1278 Yuan (Mongolen) 1279 – 1368 Späte Kaiserzeit Ming 1368 – 1644 Qing (Mandschu) 1644 – 1911 Republik China 1911 – Volksrepublik China 1949 – 208 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

2. Personenverzeichnis

An Lushan 安祿山 (693–757) Binswanger, Hans Christoph Baoyu 寶玉, Romanfigur Bo Juyi 白居易 (772–846) Bodhidharma (?470–543?) Boiocatus (Römerzeit) Brunozzi, Philippe Buddha (?566–646?) Chen Zhi 陳直 (1078–1085?) Chu, der Narr von Chu, König von Cui Shi 催氏 (Tangzeit, 618–906) Du Fu 杜甫 (712–770) Fang Xiaoru 方孝儒 (1357–1402) Ge Hong 葛洪 (ca. 280–340) Gao Panlong 高攀籠 (1562–1626) Guan Daosheng 管道升 (1262–1319) Guan Panpan 關盼盼 (8./9. Jh.) Guanzi 管子 (gest. 645 v. Chr.) Han, Byung-Chul (geb. 1959) Han Fei Zi 韓非子 (?280–234 v. Chr.) Han Yu 韓愈 (768–824) Hanshan Deqing 寒山德清 (1546–1623) Heine, Heinrich (1797–1856 Hesse, Hermann (1877–1962) Hou Cheng’en 侯承恩(ca. 1722) Hua Tuo 華佗 (110–207) Huang Fuyong 黃甫庸 (gest. 1501) Huang Yuanjie 黃媛介 (Mitte 17. Jh.) Huinan 慧南 (1002–1069), Mönch Hui, König von Wei (3. Jh. v. Chr.) Huizi 惠子 (4./3. Jh. v. Chr.) Kongzi 孔子 (Konfuzius) (551–479) Laozi 老子(legendär) Li Taibo 李太白 (701–761)

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Personenverzeichnis

Li Qingzhao 李清照 (1084–1155?) Li Yin 李因 (1616–1685) Linji (jap. Rinzai) 臨濟 (gest. 867) Lin Yining 林以寧 (1655–1730?) Liu E 劉鶚 (1857–1909) Liu Yao 劉瑤 (ca. 8. Jh.) Liu Yuxi 劉禹錫 (772–842) Liu Zongyuan劉宗元 (773–819) Lu Guimeng 陸龜蒙 (gest. 881) Lu Tong 盧仝 (790–835) Lu You 陸游 (1125–1210) Lu Yu 陸羽 (733–804) Ma Shouzhen 馬守真 (1548–1604) Meng Jiao 孟郊 (751–814) Mengzi 孟子 (371–289 v. Chr.) Min Shengyuan (?) 愍生念 Min Ziqian 閔子騫 (6. Jh. v. Chr.) Müller, Klaus E. (1925–2013) Ouyang Xiu 歐陽修 (1017–1072) Pan Yue 潘岳 (247–300) Bauer Pengzu 彭祖, der chin. Methusalem Schmitz, Hermann (geb. 1928) Shakyamuni, s. Buddha Shan Bao 單豹 (fiktive Gestalt) Shao Yong 邵雍 (1011–1177) Shunryū Suzuki (1904–1971) Sima Xiangru 司馬相如 (179–117 v. Chr.) Su Shi 蘇軾 (1036–1101) Sun Simiao 孫思邈 (581–682?) Tao Yuanming 陶淵明 (365–427) Wang Hui (spätes 17. Jh.) Wang Ji 王幾 (1498–1583) Wang Wei 王維 (701–761) Wang Xizhi 王羲之 (303–361) Wumen Huikai (1183–1260) Xi Kang 嵇康 (223–262) Xiwangmu 西王母 Xie Lingyun 謝靈運 (385–433) Xue Tao 薛濤 (768–831?) Xunzi 荀子 (?298–238? v. Chr.) Yan Hui, Schüler des Kongzi Yan Zhitui 顏之推 (531–590) Yang Wanli 楊萬里 (1127–1206)

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Personenverzeichnis

Yang Wenli 楊文儷 (16. Jh.) Yang Xiong 楊雄 (52 v. Chr.–18 n. Chr.) Yu Xuanji 魚玄機 (844–868) Yuan, der alte, Zeitgenosse des Kongzi Yuan Hongdao 袁宏道 (1568–1610) Yuan Mei 袁枚 (1716–1797) Yuan Zhen 元楨 (779–831) Yunmen (jap. Ummon) 雲門 (864–949) Zhang Furen 張夫人 (8. Jh.) Zhang Xuedian 張學典 (18. Jh.) Zhang Yan 張琰 (Tangzeit, 618–906) Zhang Yi 長毅 (fiktive Gestalt) Zheng Quan 鄭泉 (3. Jh.) Zhao Mengfu 趙孟頫 (1254–1322) Zheng Yunduan 鄭允端 (?1327–1356) Zhu Dunru 朱敦儒 (?1080–1175) Zhu Shuzhen朱淑真 (?1063–1106) Zhu Xi 朱熹 (1130–1200) Zhuang Zhou 莊周 (?350–280 v. Chr.), auch Zhuangzi (Meister Zhuang) Zhuo Wenjun 桌文君 (–2. Jh.) Zi Lai 子來 Zi Li 子犁 Zweig, Stefan (1881–1942)

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3. Verzeichnis der Werke

Baopuzi 抱樸子 (Der Meister, der das Schlichte umarmt), Lehrwerk der Äußeren Alchimie von Ge Hong (ca. 280–340). Beiji qianjin yaofang 備急千金要方 (Wichtige Notfallrezepte, tausend Goldstücke wert) um 650–652, von Sun Simiao (s. Personenverzeichnis). Beiji qianjin yifang 備急千金翼方 (Ergänzende Notfallrezepte, tausend Goldstücke wert) um 680; Nachfolgewerk zu dem vorgenannten. Bohutong 百虎通 (Durchdringende Gespräche im Weißen Tigersaal), hanzeitliches Kompendium der Resonanzphilosophie, aus dem 1. Jh. n. Chr.; Streitgespräch über die richtige Auslegung der Klassiker. Buch der Lieder, s. Shijing. Buch der Riten, s. Liji. Buch zur Pflege des Alters und Sorge für die Eltern, s. Yanglao fengqin shu. Chajing 茶經 (Klassiker vom Tee) von Lu Yu (733–804), nicht nur das erste Buch Chinas über den Tee, sondern auch das einzige bis heute überlieferte Werk des Lu Yu. Daodejing 道德經 (Das Buch vom Dao und seiner Wirkung), dem legendären Laozi zugeschrieben; zusammen mit dem Zhuangzi Klassiker des frühen philosophischen Daoismus. Daoyintu 導引圖 (Plan zum Leiten von Qì und zum Dehnen der Muskeln und Sehnen), Illustration aus den Gräbern von Mawangdui. Das Große Lernen, s. Daxue. Daxue 大學 (Das Große Lernen), Kapitel aus dem Liji. Von Zhu Xi (1130– 1200), im Zuge der neokonfuzianischen Ausrichtung, mit dem Lunyu und Mengzi sowie einem weiteren Kapitel aus dem Liji, dem Zhongyong (Maß und Mitte), zu den Vier Büchern (Sishu) zusammengestellt. Ershisi xiao 二十四孝 (24 Beispiele Kindlicher Pietät), Anekdotensammlung aus der Yuanzeit (1279–1368) Gespräche (des Konfuzius) s. Lunyu. Guanzi 管子, ein Text unbekannter Datierung, dem Philosophen Guanzi zugeschrieben; s. Personenverzeichnis. Hanfeizi 韓非子, legistisch interpretierte Fabeln und Anekdoten des gleichnamigen Prinzen Han Fei, s. Personenverzeichnis. Herzsutra; s. Xinjing.

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Verzeichnis der Werke

Hongloumeng 紅樓夢 (Traum der Roten Kammer) (1791), Roman des Cao Xueqin (1715–1763), Geschichte des Niedergangs der Familie Jia, erstmals 1791 gedruckt. Huangdi neijing 黃帝內經 (Klassiker des Inneren des Gelben Kaisers), Klassiker der Resonanzmedizin, im Kern bereits existent im 2. Jh. v. Chr., s. Literaturverzeichnis. Huainanzi 淮南子 (Meister von südlich des Huai-Flusses), daoistisch inspiriertes Werk des Prinzen Liu An (?175–122 v. Chr.); s. Literaturverzeichnis. Klassiker der Kindlichen Pietät, s. Xiaojing Ishimpoo 醫心方 (chin. Yi-xin-fang) Medizinklassiker aus dem 9. Jh.; s. Literaturverzeichnis Ishihara/Levy. Jinpingmei 金瓶梅 (Pflaumenblüten in goldener Vase), erotischer Sittenroman eines unbekannten Autors über das Leben der städtischen Mittelklasse um 1600, erstmals 1610/11 gedruckt. Klassiker vom Tee, s. Chajing. Laozi 老子 s. Daodejing. Liezi 列子(Meister Lie), Sammlung daoistisch inspirierter Geschichten aus dem 5. Jh. n. Chr. Liji 禮記 (Aufzeichnungen der Riten), eines der Ritenbücher in der Tradition des Konfuzius, zur großen Zeitenwende um Chr. Geb. verfasst. Lunyu 論語 (Gespräche des Konfuzius), von seinen Schülern zusammengestellt. Maß und Mitte, wörtl. Mitte und Maß, s. Zhongyong. Mengzi 孟子, das Buch des Mengzi (s. o.), Philosoph in der Tradition des Konfuzius. Von Zhu Xi (s. o.), im Zuge der neokonfuzianischen Ausrichtung, mit dem Lunyu und zwei Kapiteln aus dem Liji (Maß und Mitte und Das Große Lernen) zu den Vier Büchern (Sishu) zusammengestellt. Minggong shupan qingming ji 明公書判清明記 (Sammlung von Reinheit und Klarheit in Form schriftlicher Entscheidungen berühmter Richter), erste authentische Sammlung von Gerichtsfällen aus dem 13. Jh. Nanjing 難經 (Klassiker der Schwierigkeiten), Medizinklassiker aus dem 1. Jh. n. Chr. Ritenbuch, s. Liji Rouputuan 肉蒲團 (Gebetmatten aus Fleisch), erotischer Roman des Li Yu (1610–1680), erstmals 1693 gedruckt. Shijing 詩經 (Buch der Lieder), Sammlung von frühen Liedern und Gedichten aus dem 10. bis 6. Jh. v. Chr., Beginn der literarischen Tradition. Shishuoxinyu 世說新語 (Neues zeitgenössisches Gerede) Sammlung humorvoller Anekdoten, zusammengestellt von Liu Yiqing (403–444). Shiwen 十問 (Zehn Fragen), Mawangdui-Text. Soushenji 搜神記 (Gesammelte Geschichten), Sammlung von Geister- und Gespenstergeschichten, zusammengestellt von Gan Bao (ca. 300).

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Verzeichnis der Werke

Traum der Roten Kammer, s. Hongloumeng. Xiaojing 孝經 (Klassiker der Kindlichen Pietät), dem Zeng Sen (505–436 v. Chr.) zugeschrieben, zusammengestellt im 2. Jh. v. Chr. Xinjing 心經 (Herzsutra), Herzstück und kürzeste der 40 Sutras des Prajñāpāramitā-Sutra, eines der bedeutendsten Texte des MahayanaBuddhismus. Yanglao fengqin shu 養老奉親書 (Buch zur Pflege des Alters und Sorge für die Eltern) von Chen Zhi 陳直 (1078–1085?). Yinshan chengyao (Wichtiges über Trinken und Essen), eine medizinische Schrift über Hygieneverhalten, aus dem 14. Jahrhundert; s. van Gulik. Zhongyong 中庸 (Maß und Mitte), Kapitel aus dem Liji. Von Zhu Xi (s. o.), im Zuge der neokonfuzianischen Ausrichtung, mit dem Lunyu und dem Daxue zu den Vier Büchern (Sishu) zusammengefasst und in den konfuzianischen Kanon der 13 Klassiker aufgenommen. Zhouli 周禮 (Riten der Zhou), mit dem Liji (s. o.) eines der hanzeitlichen Ritenbücher. Zhuangzi 莊子, zusammen mit dem Daodejing (s. o.) Klassiker des frühen philosophischen Daoismus. Bisher neigte man dazu, die ersten 7 (Inneren) Kapitel des über 30 Kapitel umfassenden Werkes dem Zhuang Zhou 莊周 (4./3. Jh. v. Chr.) zuzuschreiben bzw. Zhuangzi (Meister Zhuang) und den Rest unterschiedlichen Autoren seiner philosophischen Richtung. Inzwischen geht man davon aus, dass alle Kapitel mehr oder weniger durch mehrere Hände gegangen und über einen Zeitraum von ca. 200 Jahren entstanden sind (Aumann 2018, 15).

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4. Verzeichnis und Nachweis der Abbildungen und Tabellen

Abb.: Boot auf einem Fluß. Anonym, 15. Jahrhundert, Seite 108, aus: Holmes/Horioka 1994, 54. Tabelle 1: Zivilrechtliche Altersstufen, Seite 133 Tabelle 2: Strafrechtliche Altersstufen, Seite 135 Tabelle 3: Bildung der Persönlichkeit, Seite 136

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5. Sachindex

Ahnenkult 130–131 Alchimie, Äußere und Innere 66– 68 Altersdepression 61, 152 Altersmelancholie, s. Altersdepression Autobiographie 99 Befreiung, s. Erleuchtung Bekappungszeremonie 130 Bestattung 93, 120–121 Bewegungssuggestion 15 Bodhisattva 179 Briefe 62–63 Bruch, ontologischer 109 Buddha 107, 179 Buddha-Natur 107 Buddhismus 106, 178–183 Carpe diem 91 Chan (Chan-Buddhismus) 97, 105– 106 Chrysanthemen 23

Femme fatale 75 Feste 32–33, 71, 128, 130 Fische 48, 104, 224 Fleischverbot 42 Fluss der Zeit, s. Zeit Freundschaft 46–47 Frühlingzwiebeln 84 Fürsorge, soziale 168–170 Gelassenheit, heitere 42, 61, 136, 138, 175 Gemeinsame Situationen 44, 162, 218–219 Gewissen 103 Glühwürmchen 56 Greis 58, 104, 128, 138 Griffbrettzither 27, 39, 101, 119 Haarspangenzeremonie 130 Heimkehr 100 Höllenvorstellungen 124 Hygiene 142–144 Infektionskrankheiten 56

Dauer, s. Zeit Diätetik 85 Einsiedler 100 Enge 29–30 Enge-Angst 126 Erleuchtung 111–117 Ernährung s. Diätetik Ernst, unbedingter 110 Erwachen, s. Erleuchtung

Kaiser 49, 132–134, s. Staat Karma 96, 179–180 Kinderlosigkeit 146 Konkubine 45, 80 Kranich 18, 48 Kräutermedizin 62–63 Kurtisanen 24, 26, 79 Liebeskunst 72–74

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Sachindex

Malaria 56, 59 Mawangdui 65 Meditation 65, 96–98 Mitgefühl 178 Mitte, s. Ökonomie der Mitte, s. Rückzug Namensgebung 151–152 Naturkatastrophen 169 Neokonfuzianismus 106, 156 Nichtstun 27, 42–43 Nonnen 26 Ökonomie der Mitte 171–176 Papagei 26, 29 Prostituierte 24 Rad der Zeit 181 Reinheitsgebot 129–131 Rückzug 37, 71, 99–101, 226 Rückzug der Mitte 101 Säugling 129 Schamane 106, 125 Scheidung 35, 147 Schmetterling 32 Seele 125, 180 Selbstkultivierung 160–183 Sexualität 72–79 Singmädchen 24, 34, 79, 139 Situationsontologie 122 Sozialethik, buddhistische 181

Staat 168–170, s. Kaiser Staatsphilosophie 168 Strafrecht 133 Substanzontologie 123 Tee 62, 87–90 Thematisierung vs. De-Thematisierung 52, 160 Tiger 100 Trauerpflicht 131 Tugenden 161–162 Vierte-Mai-Bewegung 145 Volkskulte 129–130 Wagenrad 175–176 Wandern 40, 69–72 Wandlung, Ontologie der 92, 124– 125 Wein 87–90 Weite, Entkommen in 22, 30 Weite-Angst 125 Wiedergeburt, s. Karma Wildgänse 23, 32, 35, 58 Würde 101 Yoga 65 Zahl Sechzig 16, 99 Zeit 98, 117 Zeitpunkt, der rechte 52 Zinnober 66 Zivilrecht 132

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6. Zum Gebrauch des Buches

6.1 Begriffe aus der Neuen Phänomenologie Körper und Leib. Durchgängig war chinesischen Philosophen mehr am lebendig-gespürten Leib gelegen, ohne den tast- und sichtbaren Körper zu unterschlagen. In eben dieser Bedeutung finden beide Begriffe Verwendung. Enge und Weite: Verleihen Knochen, Gelenke und Muskeln dem Körper die sichtbare Struktur (Gliedmaßen und Rumpf), so nimmt der spürende Leib Inseln unterschiedlicher Intensität und Rhythmen wahr (Herzklopfen, Hunger, Schmerz) – und schon beim tiefen Ein- und Ausatmen: Engung und Weitung. Dann bedeutet leibliche Ökonomie ein Ringen um die Mitte zwischen gegenläufigen Tendenzen, sei es des Wohlseins oder der Selbstschonung wegen. Daher die Anziehungskraft von »Mitte und Maß« (zhōng-yōng 中庸) im chinesischen Denken. Solange bewusstes Erleben dauert, kann Weitung oder Engung überwiegen, doch keins sich vom andern lösen: Bei Überwiegen von Enge spüren wir Spannung, wenn unvermittelt, dann Schreck. Das chinesische Zeichen mēn 悶 (Beklemmung) zeigt ein Herz 心 zwischen zwei Türflügeln 門 eingezwängt. Umgekehrt sorgt Dominanz von Weitung für Entspannung und Erleichterung, wie wenn einem vor Freude das Herz aufgeht; oder wenn Zorn die Weite sucht, wie wenn man »Dampf ablässt«, chin.: »Vor Wut geht mir die Kappe hoch«. Situation und Atmosphäre. Spüren ist nicht auf das Spüren vom eigenen Leib beschränkt und endet nicht an der Körpergrenze der Haut. Spüren reicht in die Umgebung hinein, erfasst Stimmungen zwischen den 218 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Begriffe aus der Neuen Phänomenologie

Menschen sowie Atmosphären klimatischer, tages- und jahreszeitlicher Art. Räumlich ergossen – lassen auch diese sich spüren am eigenen Leib. Jede Situation, die den Einzelnen mit Umgebung und Mitwelt verbindet, ist solcherart atmosphärisch getönt: die dicke Luft, die Schwüle vor dem Gewitter, der laue Sommerabend, die ehrfürchtige Nacht … Das chinesische Wort für die umgreifende atmosphärisch mehr oder weniger aufgeladene Situation ist qíng 情, das je nach Kontext mit »Situation« oder »Gefühl« und »Emotion« zu übersetzen ist. Im vormodernen China ist das Miteinander in atmosphärisch aufgeladenen Situationen nicht nur offenes Zusammenspiel von Wesen, Dingen und Ereignissen, sondern Teil einer »guten« kosmischen Ordnung. Das sinnlich Wahrgenommene ist immer auch sinnhaft präsent. Jede Situation ist zunächst chaotische Mannigfaltigkeit, das heißt beeindruckt als atmosphärisch-diffuse Ganzheit, bevor ein distanziertes Bewusstsein daraus Sachverhalte, Probleme und Programme isoliert und expliziert – unverzichtbar bei der Orientierung in der Welt. Personsein und Selbstkultivierung. Das chinesische Zeichen für Dào 道, aus »Gehen« 辶 und »Kopf« 首 zusammengesetzt, bedeutet »Weg«. Womöglich ist Laozi, dem die Tradition das Daodejing zuschreibt, ein Sternendeuter gewesen. Fasziniert von der Bahn der Gestirne deutet er den Kosmos als Großen Weg. Dazu passt, dass Philosophen im alten China kaum für Einzelwissen zu begeistern sind: »Alles wissen zu wollen, was man wissen könnte, ist das nicht ein oberflächliches Unterfangen?« 142 Was sie an- und umtreibt, ist vielmehr die Frage, wie man sich einfügt in die Ordnung der Welt, die Suche nach einem Lebensweg im Einklang mit dem Dào. Schon in vorchristlicher Zeit nimmt das Wortzeichen Dào umfassendere Bedeutung an: als anfänglich-namenlose Kraft, das Urchaos, aus dem alles Leben stammt. Kommen die Dinge zur Welt, treten sie differenziert und individualisiert in Erscheinung als die »Zehntausend Wesen und Dinge« (wàn-wù 萬物). Bis ein 219 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Zum Gebrauch des Buches

jedes zu seiner Zeit – ent-differenziert – dahin zurückkehrt, woher es gekommen ist. Das Zeichen für »sterben« (guī 歸) bedeutet »heimkehren«. Im Konfuzianismus steht Dào synonym für Himmel tiān 天 als moralisch gestimmter Weltengrund. Davon hergeleitet kann Dào auch schlicht »Prinzip«, »Methode«, »Kunst« bedeuten. Selbst dann ist das Geschehende, Fließende in der Wortbedeutung präsent, auch dann ist Dào ein Übungsweg. Alle materielle und geistige Nahrung stammt letztlich von diesem Himmel oder aus dem Dào, und jede Selbstsorge der Person, chin. xiū-shēn 修身 (Selbstkultivierung), schöpft daraus. Dann ist tiān/Dào nur die äußerste, um-und-umfassendste Situation für ein »Leben in wachsenden Ringen« (Rilke). Wie konzentrische Kreise lagern latent alle möglichen Situationen um die Person herum, beeinflussen und prägen sie. Auch untereinander bilden die Ringe ein Ensemble von Wirkung und Wechselseitigkeit. Personale Emanzipation und Regression. Wer alle Ringe im Blick hat, beginnt mit der eigenen Person: Im Hin und Her zwischen hellwachem Geist (Emanzipation) und dämmersüchtig-diffusem Bewusstsein (Regression), anders gesagt: Im Spielraum zwischen objektivierender Distanz auf der einen und affektiv-verstrickter Betroffenheit auf der anderen Seite ereignet sich das Sosein der Person. Stile und Niveaus des Hin und Her, die Neigung mehr zum einen oder mehr zum anderen können verschieden sein: von Person zu Person, von Kultur zu Kultur, von Epoche zu Epoche, auch in den verschiedenen Lebensaltern. Weisheit gegen Ende des Lebens heißt dann, souverän die Register der Mitte zu ziehen, um den Extremen kein Gesicht zu geben. Fluss der Zeit und Dauer des Augenblicks. »Beringte« Einbettung des Einzelnen verträgt sich mit der Wegund Flussgestalt der Zeit. Im Alter, wenn Vergangenheit zu220 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Hinweise zur Lektüre

nimmt und Zukunft schrumpft, wird der Lauf des Lebens als unaufhaltsam erfahren. Dann kann Gegenwart tröstlich sein, was aber Langsamkeit voraussetzt und Achtsamkeit. Dann heißt es, den Wesen und Dingen nah zu sein (chù-wù 處物), sie ohne Zutun geschehen zu lassen (wú-wéi 無為) und selbst absichtslos, chin. »herzlos« (wú-xīn 無心), zu verweilen in der gleitenden Dauer des Augenblicks.

6.2 Hinweise zur Lektüre Um den Text nicht zu überladen, sind Dichter und Dichterinnen, Gelehrte und Philosophen im Allgemeinen nur bei der ersten Nennung mit ihren Lebensdaten aufgeführt. Zum Nachschlagen ist auf das Personenverzeichnis im Anhang verwiesen. Der Einordnung der im Text genannten Werke dient das Werkverzeichnis. Auch die entsprechenden chinesischen Zeichen sind im Personen- und Werkverzeichnis nachzulesen. Es wird so großzügig zitiert, dass nur längere Zitate belegt sind. Wer an der Herkunft der kürzeren Textpassagen interessiert ist, wende sich über den Verlag an die Autorin. Wann immer möglich, wurden Zitate im Original überprüft und falls nicht anders angegeben auch von mir übersetzt. Chinesische Gedichte zu übertragen ohne Verluste an musikalischer, metrischer, graphischer Schönheit und Eigenart, ist bekanntlich ein Ding der Unmöglichkeit. Das Resultat kann im besten Fall grobe Annäherung sein. Für alle Fälle steht der Übersetzung – nach dem Prinzip »so nah wie möglich am Text, so frei wie nötig« – das chinesische Original in Zeichen und Umschrift gegenüber. Auf Auslassungszeichen und Klammern für Zusätze und Wortumstellungen wurde der Lesbarkeit halber verzichtet. Im Unterschied zum Haupttext, der grammatikalisch zusammengehörende Wortzeichen durch Bindestrich trennt, sind diese in den Gedichten miteinander verbunden. Die Umschrift chinesischer Wortzeichen entspricht dem in 221 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Zum Gebrauch des Buches

der VR China üblichen Pīnyīn 拼音. Die philosophischen Begriffe Dào 道, Qì 氣, Yīn 阴 und Yáng 阳, auch bei uns als Substantive im Umlauf, verwende ich großgeschrieben.

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7. Qigong am Brunnen: Geschichten und Übungen

Zu fünf Geschichten aus dem Zhuangzi habe ich fünf leichte Übungen 143 zusammengestellt, im schulterbreiten Stand zu üben oder im Sitzen: Sitzbeinhöcker auf der Vorderkante des Stuhles, Beine lotrecht, Füße parallel. Der Atem folgt spontan der Wirkkraft des vorgestellten Bildes, geht aber der sichtbaren Bewegung voran, d. h., die Bewegung schwingt sich auf den Atem ein: Bild – Atem – Bewegung. Dabei initiiert das Einatmen die Aufwärtsbewegung der Arme (Weiten des Brustkorbs) und umgekehrt das Ausatmen die Abwärtsbewegung der Arme (Zusammensinken des Brustkorbs). Zu Beginn weniger dem Atem als der Bewegung Aufmerksamkeit schenken. Später umgekehrt: auf dem Atem reiten, ohne ihn zu lenken. Gesamtszene: Eine alte Frau sitzt auf dem Brunnenrand und erzählt die Geschichten.

1. Der Brunnen oder das Maschinenherz Geschichte. Zi Gong kam auf seiner Reise in den Süden nach Chu auf dem Rückweg über Jin. Da sah er nördlich des Han-Flusses einen alten Mann, der sein Feld bestellte. In den Tunnel des Brunnens hatte er Stufen geschlagen, um hinabzusteigen. Einen Krug Wasser tragend kam er herauf und bewässerte sein Feld. Unter Einsatz all seiner Kräfte verausgabte er sich sehr und war doch wenig effektiv. Zi Gong wandte sich an ihn: »Dafür gibt es eine Technik, mit der sich an einem Tag hundert Felder bewässern lassen – mit wenig Kraftaufwand und viel Erfolg. Würdet Ihr so etwas haben wollen?« Der Bauer, sich aufrichtend, sah Zi 223 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Qigong am Brunnen: Geschichten und Übungen

Gong an und fragte zurück: »Was soll das sein?« »Eine HebelVorrichtung aus Holz, hinten schwer und vorne leicht. Sie holt das Wasser so schnell herauf, als ob es überkoche. Ziehbrunnen nennt man das!« Der Bauer wirkte zunächst zornig erregt, dann aber sagte er lachend: »Ich habe von meinem Meister erfahren, dass dort, wo eine Mechanik ist, die Dinge auf mechanische Weise erledigt werden; und wenn Dinge auf mechanische Weise erledigt werden, dann bekommt man unweigerlich ein Maschinenherz. Hast du aber ein Maschinenherz in der Brust, dann ist da kein Raum mehr für das Reine und Schlichte. Ist das Reine und Schlichte verloren, verliert auch der Lebensgeist seinen Halt. Verliert der Lebensgeist seinen Halt, dann kann auch der Weg (Dào) nicht mehr gegangen werden. Nicht, dass ich solche Mechanik nicht kenne, ich schäme mich aber, sie anzuwenden.« 144 Übung. Diese erste Übung dient zugleich dem meditativen Einstieg. Beide Arme bilden vor der Mitte des Bauches einen Kreis, den Brunnenrand, wobei die Finger, nah beieinander sind, ohne sich zu berühren. 1–2 Minuten halten (je länger, je lieber); dabei in den Brunnen hineinspüren, eines der Symbole für das Dào: »Am Rande des Brunnens der Dunkelheit müssen wir sitzen und fischen nach dem hinabgestürzten Licht – voller Geduld«. 145

2. Die Freude der Fische – Resonanz und Spitzfindigkeit Geschichte. Als Zhuangzi, unterwegs mit seinem Freund Huizi, über die Brücke am Hao-Fluss wanderte (yóu 遊), sprach er: »Schau, wie die Elritzen aus dem Wasser springen und sorglos hin- und herschwimmen (yóu 游). Das ist die Freude der Fische!« Huizi widersprach: »Du bist kein Fisch. Woher weißt du von der Freude der Fische?« Zhuangzi daraufhin: »Du bist nicht Ich. Woher 224 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Die Freude der Fische – Resonanz und Spitzfindigkeit

weißt du, dass ich die Freude der Fische nicht kenne?« Huizi: »Ich bin nicht du und weiß also nicht, was du weißt oder nicht weißt. Du bist aber sicher kein Fisch. Also weißt Du auch nicht, was die Freude der Fische ist.« Zhuangzi: »Lass uns zum Anfang zurückkehren. Du fragtest, woher ich von der Freude der Fische weiß. Indem du so fragtest, wusstest du bereits, dass ich von der Freude der Fische weiß. Ich weiß es von der Brücke über den Hao-Fluß. 146 Übung. Den rechten seitlich hängenden Arm schräg rechts vorbewegen mit langen Fingern, wobei die Handinnenfläche nach links zeigt (ohne angespannt, ohne lasch zu sein: Mittelspannung), noch bei weich gebogenem Arm (also nicht durchgestreckt) kurz innehalten; Hand nach links drehen, so dass die Handinnenfläche nach unten zeigt. Dann Handgelenk horizontal nach rechts drehen und Finger nach rechts zeigen; in dieser Haltung zieht das Handgelenk den Arm vor dem Körper auf Brusthöhe (etwa im Abstand einer Unterarmlänge) nach links (langsam gegen Luftwiderstand, wie durch Wasser) (5 �). Jenseits der linken Brust angelangt, die Hand unterhalb der Schulter ablegen, so dass die Finger schräg zum Schultergelenk zeigen. Die Handinnenfläche verweilt somit (für einen Atemzug) auf dem Akupunkturpunkt Yunmen (雲門 yún-men »Wolkentor«). Für die Rückkehr: Hand lösen und mit der Handinnenfläche nach unten (Finger nach links weisend) wieder im selben Abstand vom Körper nach rechts zurückführen. Danach Arm zur Körperseite rechts in die Ausgangsposition zurückführen. Analog mit dem linken Arm.

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Qigong am Brunnen: Geschichten und Übungen

3. Die Schildkröte oder Lob des Rückzugs Geschichte. Zhuangzi angelte einst am Fluss Pu. Da kamen zwei hohe Beamte des Königs von Chu zu ihm, der ihm sagen ließ, dass er ihn mit der Ordnung des Reiches beauftragen möchte. Zhuangzi, die Angelrute in der Hand, sprach, ohne sich umzudrehen: »Ich habe gehört, dass der Staat Chu als Orakel eine göttliche Schildkröte hat. Die ist nun schon dreitausend Jahre tot, und der König hält sie in einem Schrein unter einem Tuch in der Halle eines Tempels verborgen. Was meint ihr nun, was dieser Schildkröte lieber wäre: dass sie tot ist und ihr hinterbliebener Panzer also geehrt wird oder dass sie noch lebte und ihren Schwanz im Schlamme nach sich zöge?« Die beiden Gesandten sprachen: »Ihr wäre wohl lieber zu leben und ihren Schwanz im Schlamme nach sich zu ziehen.« Darauf Zhuangzi: »Geht hin! Auch ich will lieber meinen Schwanz im Schlamme nach mir ziehen.« 147 Übung. 1. Teilübung: Die beiden Schultern anheben (Bild der Schildkröte) eine Weile halten, Schultern senken (5 �). 2. Teilübung: Dasselbe als Kreisbewegung nach vorne (5 �) und nach hinten (5 �); 3. Teilübung die beiden Schultern versetzt nach vorne kreisend und dann auch nach hinten kreisen lassen (jeweils 5 �).

4. Der Riesenvogel Peng oder Großes Wissen – Kleines Wissen Geschichte. Jenseits des Ödlandes im Norden gibt es ein dunkles Meer. Dort lebt ein Fisch. Sein Name ist Kun. Er ist so groß, dass niemand weiß, wie viele tausend Meilen man abschreiten müsste. Er weiß sich zu wandeln und zum Vogel zu werden. Dann ist sein Name 226 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Der Riesenvogel Peng oder Großes Wissen – Kleines Wissen

Peng. Sein Rücken ist so groß, dass niemand weiß, wie viele tausend Meilen man abschreiten müsste. Schwingt er sich dann auf und beginnt zu fliegen, so gleichen die Schwingen den Wolken, die vom Himmel herabhängen. Kommt Sturm auf über dem Nordmeer, macht Peng sich auf den Weg zum dunklen Südmeer, dem Himmelsweiher … Dann peitscht er das Wasser 3000 Meilen auf, erhebt sich in einem Wirbelsturm 90 000 Meilen in die Höhe und segelt sechs Monate lang. Wilden Pferden gleich wird die flimmernde Luft umhergeblasen, so dass die Lebewesen den Atem miteinander tauschen … Das Firmament wirkt so blau, so blau! Ist das seine wahre Farbe. Oder erscheint es uns nur so, weil es sich so weit erstreckt und kein Ende hat? Wenn Peng nach unten schaut, dürfte es für ihn ebenso sein … Die Zikade und das Täubchen pflegen, über ihn zu lachen: »Wenn wir uns erheben und losfliegen, landen wir auf den Zweigen von Ulme und Spindelstrauch, und manchmal erreichen wir sie nicht einmal und fallen zu Boden. Wozu muss der 90 000 Meilen hinauf und nach Süden?!« 148 Übung. Die Arme unmittelbar vor dem Unterbauch wie einen Ball halten, Finger zeigen zueinander, nah, ohne sich zu berühren, Handinnenflächen nach oben; 1. Teilübung »Peng breitet seine Schwingen aus«: Hände zur Seite auseinanderziehen (nicht ganz durchgestreckt) bis nach außen, so dass die Handinnenflächen nunmehr nach unten schauen wie die Schwingen eines Vogels. Für den Flügelschlag bis auf Schulterhöhe heben, dann langsam absenken und zurück in die Ball tragende Ausgangsposition. (3 �) 2. Teilübung »Peng fliegt auf und davon«: die Ball tragende Hand- und Armbewegung führt nunmehr nach vorne außen und oben bis über den Kopf; Hände wenden, so daß die Handinnenflächen nach oben zeigen, kurz innehaltend einatmen und ausatmend langsam die Arme wieder vor dem Körper in die Ball

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Qigong am Brunnen: Geschichten und Übungen

tragende Ausgangshaltung vor dem Unterbauch zurückführen. 3. Teilübung wie 1 »Peng lässt sich am Himmelsweiher nieder«.

5. Der alte Eichbaum oder Der Nutzen der Nutzlosigkeit Geschichte. Als Zimmermann Shi unterwegs war nach Qi, kam er über den Ort Quyuan. Da sah er eine Eiche, die als Schrein dem Erdgott diente. Sie war so groß, dass sie mehrere tausend Rinder beschirmte, ihr Stamm maß wohl 100 Armlängen. Sie war fast so hoch wie ein Berg, und erst in einer Höhe von 10 Klaftern fingen die Äste an … Meister Zimmermann beachtete sie weiter nicht und ging vorüber, ohne auch nur seinen Schritt zu verlangsamen. Sein Geselle aber sah sich satt daran, rannte ihm nach und sprach: »Seit ich Axt und Beil zur Hand genommen und Euch nachgefolgt bin, habe ich noch nie so schönes Holz gesehen. Ihr aber, Meister, schaut nicht einmal hin und geht vorbei, ohne den Schritt zu verlangsamen. Warum?« Der Zimmermann antwortete: »Es reicht! Kein Wort mehr darüber! Das ist ein hinfälliger Baum. Macht man daraus Boote, werden sie sinken. Macht man daraus Särge, werden sie bald modern. Macht man daraus Gefäße, werden sie bald zerbrechen. Macht man daraus Türen, werden sie harzen. Macht man daraus Balken, Pfeiler, Pfosten, werden sie wurmstichig. Das Holz dieses Baumes ist nicht als Material zu gebrauchen. Deshalb ist er auch so alt geworden.« Nachdem Zimmermann Shi in seine Heimat zurückgekehrt war, erschien ihm der Baum des Erdgottschreins im Traum: »Womit vergleichst du mich eigentlich? Vergleichst du mich etwa mit Nutzhölzern wie Weißdorn, Birne, Mandarine, Zitrone und anderen fruchttragenden Sorten, die abgepflückt und misshandelt werden, sobald die Früchte reif sind, die großen Äste liegen abgebrochen, die kleinen abgerissen?! So leben sie ein bitteres Leben und kommen nicht auf die volle Zahl ihrer Jahre. 228 https://doi.org/10.5771/9783495820742 .

Der alte Eichbaum oder Der Nutzen der Nutzlosigkeit

Sie zerstören sich selbst durch ihre Weltlichkeit und Nützlichkeit. Und so ist es mit allen Lebewesen. Nun habe ich lange danach gestrebt, bis nichts an mir mehr ist, was nützlich wäre. Schon nah dem Tod, habe ich es endlich erreicht. Das aber war von Nutzen, hätte ich sonst diese Größe erreicht?! Außerdem, du und ich, wir sind doch beide Wesen dieser Welt. Wie dürfte ein Wesen über ein anderes so abschätzig urteilen? Und ein dem Tod geweihter hinfälliger Mensch wie du, wie könnte der wissen, dass ich ein hinfälliger Baum bin?« Als Zimmermann Shi erwachte, erzählte er dem Gesellen seinen Traum. Dieser fragte: »Wenn es sein Anliegen ist, nutzlos zu sein, warum dient er dann als Schrein?« Zimmermann Shi aber sagte: »Schweigen wir lieber! Das duldet er nur und findet, dass die, die ihn verächtlich machen, sich nicht einmal selber kennen. Auch wenn er nicht als Schrein diente, würde er nicht von der Axt gefällt. Was er sich bewahrt, unterscheidet ihn von der Menge. Ihn mit herkömmlichen Maßstäben zu bewerten, geht an seiner Wahrheit vorbei.« 149 Übung. Die fünfte und letzte Übung dient zugleich dem meditativen Ausstieg, stehend oder sitzend: in uns ruhend wie ein Baum: die Augen geschlossen, allein die Vorstellungskraft wandert (außen Ruhe, innen Bewegung) spürend von den Füßen/Wurzeln, die tief in die Erde hineinreichen, zum Stamm/Rumpf (Becken und Oberkörper), schwingt seitwärts in die Äste/Arme bis hinein in die feinsten Verzweigungen und zuletzt hinauf in die Baumspitze: Wo hört der Baum auf? Wo fängt der Himmel an?

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