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German Pages 472 Year 2020
Julia Maria Pollich Mensch ohne Gott, vergöttlichter Mensch
Lettre
Meinen Eltern und Großeltern in Dankbarkeit und den in diesem Werk genannten Denkern und Autoren, die in den Jahren mühsamer Textarbeit zu meinen stillen Begleitern geworden sind.
Julia Maria Pollich studierte Romanische Philologie mit Schwerpunkt französische und italienische Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo sie 2019 promovierte.
Julia Maria Pollich
Mensch ohne Gott, vergöttlichter Mensch Nietzsches Denken in philosophischer Reflexion und narrativer Praxis des 20. Jahrhunderts: Pirandello, Unamuno, Bataille und Sollers
Zugelassene Dissertation der Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät 13, Department II in Romanischer Philologie, 2019.
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Inhalt
1.
Historischer Kontext, Werkausgaben, Übersetzungen und Einordnung des Projekts .............................................. 9
2. 2.1
Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien .......................... 29 Nietzsches Verabschiedung der abendländischen Metaphysik ................................. 29 2.1.1 Nietzsches Metaphysikverständnis: Die platonisch-christliche Tradition, Dekadenz und Nihilismus ...................... 29 2.1.2 Nietzsche als paradoxer Aufklärer: Die ›genealogische‹ Methode und die Destruktion der absoluten Wahrheiten ........................................... 57 2.1.3 Tragik und Leiden ................................................................................. 81 2.2 NietzschesBeschwörungeines mythisch-vorsokratischen Zeitalters und die Rückkehr in die Metaphysik.......................................................................... 85 2.2.1 Der apollinisch-dionysische Lebensmythos und die Überwindung der Dekadenz ..................................................................................... 85 2.2.2 Die ›Metaphysik der ewigen Wiederkehr‹ ...................................................98 2.2.3 Der ›Übermensch‹ und das Glück............................................................ 118 2.3 Nietzsches Ausdrucksformen und seine Bedeutung für Strukturalismus und Poststrukturalismus...................................................... 154 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Luigi Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926) und die ›humoristische‹ Zersetzung der ›Monomythen‹ zugunsten des ›Polymythos‹ Natur ................... 187 Die Bewusstwerdung: Vitangelo Moscardas Körper und die Entdeckung der doppelten/unendlichen Wahrheit ....................................190 Logik, Gesellschaft, Form und Leiden ................................................................198 Die Auflehnung gegen die ›Form‹ und ihre Zerstörung ......................................... 208 Vitangelo Moscarda als tragikomischer Held ....................................................... 215 Lösung von der Form und dionysisches Verschmelzen mit der Natur ...................... 217 ›Humoristisches‹ Schreiben und die Zersetzung des Romans: Illusionsbrechung und Sprachskepsis zwischen Fiktion und Wirklichkeit ................. 221
4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8
Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹ ............................................................ 227 Der Mensch als ›krankes Tier‹ und die implizite Vernunftkritik .............................. 232 Augusto Pérez im Zustand des ›Nebelhaften‹: Sinnleere, Fatalismus und Leiden....... 239 Augusto als agonista/luchador: Versuche der Sinngebung in der Liebe.................... 244 Das Element des Tragikomischen .................................................................... 252 Die ›Poetik‹ der nivola zwischen Fiktion und Wirklichkeit: Die Technik der mise en abyme ....................................................................... 257 Das Intervenieren der Autor-Figur ›Unamuno‹ und die Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit .......................................................................................... 263 Die Auflehnung des intrahombre Augusto angesichts des Todes und die Verkehrung der Instanzen Figur-Autor, Mensch-Gott in der Welt der Fiktion ............................. 268 Die Implikationen für den Leser und Unamunos Konzeption des ›hacer novela‹: ›Lo eterno universal‹ ......................................................... 276
5.
Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit ........................................... 287 5.1 Batailles Kritik an der ›homogenen‹ Welt: Utilitaristische Ökonomie und Monotheismus..................................................... 294 5.2 Die ›Verschwendung‹ und das ›Heilige‹ ............................................................. 311 5.2.1 Verbot und Transgression: Henri Troppmann und der unproduktive Exzess...... 311 5.2.2 Die Ambivalenz des ›Heiligen‹: Anziehung und Abstoßung........................... 323 5.2.3 Lazare und Dirty: Revolution und der faschistische Mythos ......................... 332 5.2.4 Kosmische Energieentladungen und die Verschmelzung der Gegensätze in der Natur ................................................................. 342 5.3 Was ist Schreiben? ........................................................................................351
6. 6.1 6.2 6.3 6.4
Philippe Sollers’ Paradis (1981) und die Welt als vergöttlichter Text .................. 361 ›Le monde tel quel‹: Der Verzicht auf die ›Metaphysik der Anwesenheit‹ ..................361 Das Subjekt im polylogue extérieur .................................................................. 394 Écriture, Intertextualität und Spiel .................................................................... 410 Totalität und Göttlichkeit ................................................................................ 431
7.
Schluss......................................................................................... 441
Literaturverzeichnis ............................................................................... 455 Nietzsche-Ausgaben ............................................................................................ 455 Behandelte Erzähltexte (chronologisch) ................................................................... 456 Weitere Primärliteratur (alphabetisch) ..................................................................... 456 Sekundärliteratur ................................................................................................ 462 Internetquellen ................................................................................................... 470
Die Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich sind... (Friedrich Nietzsche, Je nse its vo n Gut und Bö se 279)
1. Historischer Kontext, Werkausgaben, Übersetzungen und Einordnung des Projekts Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent [Herv. i.O.]: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen. (WA: Vorwort, KSA 6, 11)1
Friedrich Nietzsche (1844-1900) fasst in diesem kurzen Abschnitt die Grundbewegung seines philosophisch-literarischen Schaffens zusammen. Wie kein anderer vor und nach ihm, drückt er die Befindlichkeit einer Epoche aus, die durch soziale und politische Veränderungen gekennzeichnet ist und in der sich europaweit einerseits ein Bruch mit vertrauten Traditionen, Wehmut und Endzeitstimmung, andererseits eine gewisse Aufbruchsstimmung zu Neuem und eine ungekannte Zukunftseuphorie bemerkbar machen. Nietzsche unterzieht seine Zeit einer scharfen Kritik, entlarvt in ihr Symptome der Dekadenz und des Nihilismus, entwickelt aber gleichzeitig ein Modell der Überwindung des modernen Befindens. Wie Andreas Sommer in einem Aufsatz zusammenfasst, hat Nietzsche damit »wesentliche historische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts vorhergesehen, vorhergesagt und vorweggenommen«. »Wer die europäische Kultur des 20. Jahrhunderts verstehen wolle, müsse sich, ob er möchte oder nicht, mit Friedrich Nietzsche auseinandersetzen«, denn Nietzsche bleibe »in sämtlichen Feldern des kulturellen […] Lebens 1
Nietzsches Schriften werden zitiert nach Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München: dtv, 2., durchgesehene Auflage 1988). Zitatnachweise erfolgen im laufenden Text nach dem Schema: Textsigle (Siglenverzeichnis im Anhang), ggfs. Kapitelüberschrift und Abschnittsnummer, KSA-Bandzahl, Seitenzahl. Nietzsches Briefe werden zitiert nach Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden (KSB), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München: dtv 1986). Zitatnachweise erfolgen im laufenden Text nach dem Schema: Briefnummer, Datum, KSB-Bandzahl, Seitenzahl. Kursivsetzungen in Zitaten stellen ausnahmslos Hervorhebungen im Original dar und werden angesichts der Fülle von Textstellen mit Betonungen (durch welche sich insbesondere Nietzsches Schreiben kennzeichnet) im Folgenden nicht mehr mit dem Hinweis [Herv. i.O.] versehen.
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im 20. Jahrhundert eine, wenn nicht die bestimmende Bezugsgröße.«2 Es waren Literaten wie Paul Verlaine, die aus der Stimmung um die Jahrhundertwende heraus 1886 die Zeitschrift Le Décadent gründeten und damit die Begriffe ›Dekadenz‹ und ›Fin de siècle‹ prägten, welche sich über die Grenzen Frankreichs hinaus durchsetzten.3 Als Nietzsche 1871 als Baseler Professor mit seinem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie den Rahmen der Altphilologie sprengte, hatten Preußen und Frankreich soeben den deutsch-französischen Krieg ausgefochten, Frankreich hatte dabei die Gebiete Elsass-Lothringen abtreten müssen4 und das Second Empire mündete in die Dritte Republik ein, welche durch Krisen wie etwa die Dreyfus-Affäre und die Konfrontation des »alten, aristokratisch-autoritären« mit dem »bürgerlich-demokratischen« Frankreich gekennzeichnet war. Dabei rückte auch das Verhältnis von Staat und Kirche erstmals in den Blickpunkt.5 Wie Deutschland, das infolge des Krieges 1871 zum geeinten Reich wurde, war auch Italien ein junger Nationalstaat. Die Bestrebungen des Risorgimento hatten 1861 zur italienischen Einheit geführt, welche jedoch nicht die gehegten Erwartungen erfüllte. Das »sozioökonomische Ungleichgewicht« zwischen Norden und Süden führte zu großer Enttäuschung innerhalb der Bevölkerung.6 Spanien dagegen war nach dem kläglichen Versuch einer ersten Republik, die, als sie 1874 endete, kaum ein Jahr bestanden hatte, in die Restauration übergegangen und wurde durch den Verlust der beiden letzten bedeutenden Kolonien Kuba und der Philippinen im Krieg gegen die USA in eine tiefe Identitätskrise gestürzt, in der der Wunsch nach Erneuerung laut wurde.7 Gleichzeitig waren in ganz Europa Wissenschaft und Fortschrittsdenken auf dem Vormarsch, was die sozialen Veränderungen weiter verstärkte. In diesem Kontext also entstanden die Schriften Friedrich Nietzsches und stellten für die meisten Leser ein Faszinosum dar. Mancher meinte, sich in Nietz2
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Andreas Urs Sommer: »Nietzsche katalytisch. Philosophische Nietzsche-Lektüren im 20. Jahrhundert«, in: Einige werden posthum geboren. Friedrich Nietzsches Wirkungen, hg. (u.a.) von Renate Reschke (Berlin [u.a.]: De Gruyter 2012), S. 21. S. Rücker: »Dekadenz«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2: D-F, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972), S. 47. Vgl. Bernhard Schmidt (u.a.): »Troisième République«, in: ders. (u.a.), Frankreich-Lexikon: Schlüsselbegriffe zu Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Geschichte, Kultur, Presse- u. Bildungswesen, II. (Berlin: E. Schmidt 1983), S. 384. Nietzsche selbst bezieht sich in der 1. »Unzeitgemäßen Betrachtung« so etwa auf die Lage nach dem deutsch-französischen Krieg, s. UB I 1, KSA 1, S. 159ff. Bernhard Schmidt (u.a.): »Affaire Dreyfus«, in: ders. (u.a.), Frankreich-Lexikon: Schlüsselbegriffe zu Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Geschichte, Kultur, Presse- u. Bildungswesen, I. (Berlin: E. Schmidt 1981), S. 35. Zur Lage in Italien um die Jahrhundertwende s. Eduard Sturm: Die Nietzsche-Renaissance in Italien (Wien: VWGÖ 1991), S. 6f. S. Gonzalo Sobejano: Nietzsche en España (Madrid: Editorial Gredos 1967), S. 21-25; bzw. Udo Rukser: Nietzsche in der Hispania. Ein Beitrag zur Hispanischen Kultur- und Geistesgeschichte (Bern [u.a.]: Francke 1962), S. 31 u. S. 269.
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sches Denken wiederzuerkennen, praktischen Nutzen für das jeweilige soziale oder politische Leben zu ziehen,8 andere erschraken angesichts der Radikalität seiner Ideen. »Nietzsche-Rezeption« sei stets »Nietzsche-Begeisterung« oder »Nietzsche-Feindschaft« gewesen und habe seit jeher eine »starke emotionale Färbung« aufgewiesen:9 »An Nietzsche kam (und kommt) keiner vorbei«, so Theo Meyer in seinem Aufsatz »Nietzsche als Paradigma der Moderne«.10 Eine Eigenart der Nietzsche-Rezeption ist dabei, dass Nietzsche von Anfang an politisch gelesen wurde,11 Inhalte und Rhetorik ließen sich problemlos sowohl durch linke als auch durch rechte Leser vereinnahmen oder verdammen. Prominente (literarisch wirkende) Vertreter der rechten Interpretation waren beispielsweise Gabriele D’Annunzio (1863-1938) und Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944), der Begründer des Futurismus, welche zusammen die frühe Nietzsche-Rezeption in Italien bestimmten.12 Wie bei späteren rechten Nietzsche-Lektüren, werden hier Einzelmotive aus Nietzsches Denken herausgegriffen und weiterentwickelt, so etwa die Vorstellung des ›Übermenschen‹, des ›Willens zur Macht‹ (interpretiert als Gewalt), der Unterschied zwischen Herren- und Sklavenmoral und seine Kritik an Tradition und Kultur.13 Jede wissenschaftliche Arbeit, die sich im weitesten Sinne mit Nietzsche-Rezeption beschäftigt, muss sich zwangsläufig mit deren Kehrseite auseinandersetzen, dem faschistischen und präfaschistischem Zugriff auf Nietzsche, welcher stark mit seiner Publikationsgeschichte verbunden ist und sein Bild mitprägte. Kulminationspunkt dieses Negativbildes Nietzsches ist seine Nennung am 17. Januar 1946 durch François de Menthon, den französischen der vier Hauptankläger während der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher: […] Sur un peuple en cet état de crise spirituelle et de négation des valeurs traditionnelles, la dernière philosophie de Nietzsche devait exercer une influence do8
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So wandte beispielsweise Pasquale Villari, einer der ersten, der Nietzsche in Italien verbreitete, in seinem Aufsatz »La storia è una scienza« Nietzsches Sozialkritik in der 2. »Unzeitgemäßen Betrachtung« auf die Nord-Süd-Problematik in Italien an, s. Domenico Fazio: Il caso Nietzsche. La cultura italiana di fronte a Nietzsche. 1872-1940 (Mailand: Marzorati 1988), v.a. S. 24. Theo Meyer: »Nietzsche als Paradigma der Moderne«, in: Die literarische Moderne in Europa, Bd.1, hg. von Hans Joachim Piechotta (Opladen: Westdeutscher Verlag 1994), S. 146. Ebd., S. 145. Auf diesen Sachverhalt weisen die meisten Autoren hin, s. z.B. Theo Meyer, »Nietzsche als Paradigma der Moderne«, S. 145; Domenico Fazio, Il caso Nietzsche, S. 24f u. 36-42; bzw. Angelika Schober: »Man findet bei Nietzsche, was man sucht«, in: Nietzsche und Frankreich, hg. (u.a.) von Clemens Pornschlegel (Berlin : De Gruyter 2009), 117-133; Jacques Le Rider : »Un siècle de réception française de Nietzsche«, in : 1900-2000. Cent ans de regards français sur l’Allemagne, hg. von François Genton (Grenoble : Université Stendhal 2002), S. 46. S. Domenico Fazio: »Nietzsche in Italien«, in: Nietzsche Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Nr. 22 (1993), S. 310-313. Vgl. Eduard Sturm, Die Nietzsche-Renaissance in Italien, S. 9.
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minante. En prenant comme point de départ la volonté de puissance, Nietzsche a prêché […] la surhumanité. S’il n’y a pas de cause finale dans l’univers, l’homme […] peut pétrir le monde à sa guise en choisissant pour guide une biologie combative. […] Sans doute ne saurait-on confondre la dernière philosophie de Nietzsche avec le simplisme brutal du national-socialisme. Mais Nietzsche n’en compte pas moins parmi les ancêtres que revendiquait le national-socialisme et à juste titre, parce que, d’une part, il a été le premier à formuler de manière cohérente la critique des valeurs traditionnelles de l’humanisme et parce que, d’autre part, sa vision du gouvernement des masses par des maîtres agissant sans aucune entrave annonce déjà le regime nazi. […]14 François de Menthon zeichnet hier die Linie aller bis heute wirksamen NietzscheVerurteilungen vor. Diese verläuft nach folgendem Schema: Nietzsche, wenn auch selbst noch nicht als faschistisch zu betrachten, habe durch die Verkündung des ›Todes Gottes‹ und die damit verbundene Verwerfung moralischer Grundsätze dem Verbrechen und der Gewalt Tür und Tor geöffnet. Der atheistische ›Übermensch‹ eigne sich in egoistischen Willensakten (›Wille zur Macht‹) die Welt an und unterwerfe entsprechend einem kruden Biologismus alle schwächeren Individuen. Den Weg zur protofaschistischen Lektüre Nietzsches ebnete seine zwei Jahre jüngere Schwester Elisabeth, die nach Nietzsches geistigem Zusammenbruch 1889, dessen Nachlass nach eigenem Gutdünken publizierte und dabei nicht vor Fälschungen zurückschreckte. Elisabeth hatte 1885 den Antisemiten und Wagnerianer Bernhard Förster15 geheiratet, mit dem sie etwa ein Jahr später nach Paraguay auswanderte, wo dieser »eine an rassistischen Prinzipien orientierte deutsche Kolonie in Südamerika zu gründen«16 beabsichtigte. Als »das Projekt einer deutschen Kolonie in Paraguay« ungefähr drei Jahre später »finanziell scheiterte«,17 nahm sich Dr. Förster das Leben und Elisabeth Förster-Nietzsche kehrte im Dezember 1890 aus Paraguay zurück. Nietzsche zog nach dem Tod seiner Mutter, die sich seit 1890 um ihn gekümmert hatte, 1897 zu seiner Schwester nach Weimar, wo er bis zu seinem Tod 1900 lebte. Elisabeth veranlasste unterdessen bereits 1893 die Gründung des Nietzsche-Archivs in Naumburg, welches 1897 nach Weimar verlegt wurde. Unter ihrer Leitung (in Zusammenarbeit mit Nietzsches altem Freund Heinrich Köselitz, der unter dem Namen Peter Gast bekannt war) ent14
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»Extraits du réquisitoire présenté par le procureur français François de Menthon devant le tribunal de Nuremberg, 17 janvier 1946«, zitiert nach Laurent-Michel Vacher : Le crépuscule d’une idole. Nietzsche et la pensée fasciste (Montréal: Liber 2004), »Annexe« S. 101-103. Nietzsche soll Bernhard Förster gerade wegen dessen Antisemitismus abgelehnt haben, er erschien nicht einmal zur Hochzeit seiner Schwester, s. Ivo Frenzel: Friedrich Nietzsche in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1966), S. 115.; bzw. Gianni Vattimo: Nietzsche. Eine Einführung (Stuttgart: Metzler 1992), S. 106. Gianni Vattimo, Nietzsche. Eine Einführung, ebd. Ebd., S. 108.
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stand die sogenannte ›Grossoktavausgabe‹,18 in der sie Fragmente zu Nietzsches langjährigem Projekt »Der Wille zur Macht« willkürlich nach ideologischen Gesichtspunkten zusammenstellte und als sein Hauptwerk herausgab.19 Auch Briefe und Textstellen aus anderen Werken wurden unterschlagen oder abgeändert, wie z.B. ein Abschnitt aus Ecce homo, in dem sich Nietzsche kritisch über Mutter und Schwester und schließlich auch über Deutschland äußert.20 Annähernd dreißig Jahre später ist mit Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts (München 1930) und Alfred Bäumlers Nietzsche, der Philosoph und Politiker (Leipzig 1931) der Höhepunkt der faschistischen Nietzsche-Rezeption erreicht.21 1933 empfängt Elisabeth Förster-Nietzsche Hitler in Weimar. Ein Foto zeigt sie neben einem Hakenkreuz, wie sie Hitler feierlich Nietzsches Spazierstock überreicht, ein anderes Hitler vor der Nietzsche-Skulptur des Nietzsche-Archivs.22 Zum Tode Elisabeths 1935 wird ein Staatsbegräbnis angeordnet. 1943 lässt Hitler Mussolini zu dessen Geburtstag die Gesamtausgabe der Werke Nietzsches zukommen.23 Dieser hatte sich bereits früh für Nietzsche begeistert (erste Lektüren ab 1902) und 1908, mit Mitte zwanzig, den Aufsatz »La filosofia della forza« verfasst.24 Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zur Nietzsche-Rezeption, sowie damit verbunden zur Geschichte dieser Rezeption, und schließt sich methodisch an eine populäre Form der literaturwissenschaftlichen Abhandlung an, welche der Übernahme von Denkströmungen zunächst fremden Ursprungs in literarischen oder philosophischen Werken nachgeht.25 Hierbei konzentriert sie sich auf phi18 19
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S. Domenico Fazio, Il caso Nietzsche, S. 47f. S. dazu Mazzino Montinari: Friedrich Nietzsche. Eine Einführung (Berlin: De Gruyter 1991), S. 99123. Nietzsche habe sich erstmals im Spätsommer 1885 mit dem Gedanken getragen, ein Werk mit dem Titel »Der Wille zur Macht« zu verfassen, für welches er ein Jahr später den Untertitel »Versuch einer Umwerthung aller Werthe. In vier Büchern« vorsah. Der Werkaufbau änderte sich mehrmals, bis schließlich Der Antichrist, dem der Untertitel des ursprünglich vierbändig geplanten Werks »Umwerthung aller Werte« beigefügt wurde (dieser wurde in der Folge durch den Titel »Fluch auf das Christenthum« ersetzt), als erster und einziger Band des Buchprojekts veröffentlicht wurde. Elisabeth Förster-Nietzsche habe jedoch nichtsdestoweniger die verbliebenen Fragmente unter dem Titel »Der Wille zur Macht« veröffentlicht. Rüdiger Schmidt: Nietzsche für Anfänger. Ecce homo (München: dtv 2000), S. 15-19. Zur faschistischen Nietzsche-Interpretation, s. Arno Münster: Nietzsche et le nazisme (Paris: Éditions Kimé 1995), S. 13-27. Ebd. S. 14f u. S. 27. Ebd. S. 27 u. S. 15. Benito Mussolini: »La filosofia della forza«, in: Il pensiero romagnolo, Nr. 48-50 (Nov./Dez. 1908); zitiert nach Eduard Sturm, Die Nietzsche-Renaissance in Italien, S. 12. Einen ähnlichen Ansatz verraten beispielsweise die folgenden Arbeitstitel: Francisco-Javier Insausti-Ugarriza: Miguel de Unamunos und José Ortega y Gassets Philosophie im Zusammenhang mit ihrer Hegel-Rezeption (Donostia: Zorroaga liburudenda 1993); bzw. Karin Spranzel: Der Grundgedanke Schopenhauers bei Melville: Entwicklung und Dynamik der ontologisch-metaphysischen und epistemologischen Thematik (Heidelberg: Winter 1998).
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losophisch-literarische Nietzsche-Rezeption, welche sich nicht in oberflächlichen, politisch-ideologischen Lektüren erschöpft. Die Auswahl der Autoren und Werke, welche Nietzsches Denken direkt oder indirekt reflektieren, ist nicht dem Zufall geschuldet, sondern dient der Veranschaulichung einer philosophisch-ästhetischen Deutung Nietzsches, welche der Arbeit in Form einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung seines Werks, vorangestellt ist und ihr gedanklich zugrunde liegt. Die nachfolgenden Textanalysen sollen dabei erkennbar machen, dass die durch Nietzsche vollzogene, im ersten Großkapitel zutage geförderte Denkbewegung auf ähnliche Weise bei den ausgewählten Autoren wiederkehrt. Sich dem Thema der Nietzsche-Rezeption gerade aus romanistischer Perspektive zu nähern, hat aus drei, im Folgenden näher ausgeführten Gründen seine Berechtigung: Wie seine Werke zeigen, war Nietzsche erstens den romanischsprachigen Ländern, mehr als seinem Heimatland Deutschland, welchem er kritisch gegenüberstand, persönlich zugetan. Seine Schriften sind gespickt mit Fremdwörtern und Namen vor allem französischer und italienischer Herkunft,26 und die Ortschaften, an denen sich Nietzsche während seiner letzten bewusst erlebten zehn Jahre größtenteils aufhielt (vor allem Nizza, Menton, Venedig, Genua, Rapallo und Turin, wo er 1889 seinen geistigen Zusammenbruch erlitt) scheinen »atmosphärisch« besonders seine letzten Schriften zu beeinflussen.27 So fühlt sich der Leser von Also sprach Zarathustra, das bezeichnenderweise unter anderem in Rapallo und Nizza entstand, durch die Naturbeschreibungen in eine Mittelmeerlandschaft aus Sonne, Felsen, Meer und der ihr typischen Vegetation versetzt: Eines Tages war Zarathustra unter einem Feigenbaum eingeschlafen, da es heiss war, und hatte seine Arme über das Gesicht gelegt. Da kam eine Natter und biss ihn in den Hals […]. (Za: Vom Biss der Natter, KSA 4, 87) Gern liege ich hier, wo die Kinder spielen, an der zerbrochenen Mauer, unter Disteln und rothen Mohnblumen. (Za: Von den Gelehrten, KSA 4, 160) Es giebt eine Insel im Meere – unweit den glückseligen Inselns Zarathustra’s – auf welcher beständig ein Feuerberg raucht […]. (Za: Von grossen Ereignissen, KSA 4, 167) 26
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S. dazu z.B. Hans-Martin Gauger: »›Es ist nichts mit Schriftstellerei‹. Zu Nietzsches Stil«, in: Im Namen des Dionysos. Friedrich Nietzsche – Philosophie als Kunst, hg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (Waakirchen: Oreos-Verlag 1995), S. 61. Vgl. Hans-Martin Gauger: »Nietzsches Stil am Beispiel von Ecce homo«, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 13 (1984), S. 351.
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[…] also dass Zarathustra endlich unter gelben und rothen Beeren, Trauben, Rosenäpfeln, wohlriechendem Krautwerke und Pinien-Zapfen lag. Zu seinen Füssen aber waren zwei Lämmer gebreitet […]. (Za: Der Genesende, KSA 4, 271) Eines Tages, als er auf einem Steine vor seiner Höhle sass und still hinausschaute, – man schaut aber dort auf das Meer hinaus, und hinweg über gewundene Abgründe […]. (Za: Das Honig-Opfer, KSA 4, 295) Um die Stunde des Mittags aber, als die Sonne gerade über Zarathustra’s Haupte stand, kam er an einem alten krummen und knorrichten Baume vorbei, der von der reichen Liebe eines Weinstocks rings umarmt […] war: von dem hiengen gelbe Trauben in Fülle dem Wandernden entgegen. (Za: Mittags, KSA 4, 342) Dass Nietzsche Frankreich als Erben der antiken Kultur betrachtet habe, welche er – dies soll sich im Laufe der vorliegenden Arbeit herausstellen – als Heilmittel gegen die europäische Dekadenz einsetzen wollte, hat Philippe Sollers in einem Aufsatz behauptet.28 Auch wenn sich Nietzsche dazu nicht explizit äußert, so steht doch außer Zweifel, dass er den ›südlichen‹ Völkern bereits aufgrund spezifisch klimatischer und physiologischer Bedingungen mehr ›Kulturpotential‹ zuspricht als einem Land wie Deutschland: Man stelle sich die Orte zusammen, wo es geistreiche Menschen giebt und gab […]: sie haben alle eine ausgezeichnet trockne Luft. Paris, die Provence, Florenz, Jerusalem, Athen – diese Namen beweisen Etwas: das Genie ist bedingt durch trockne Luft, durch reinen Himmel, – das heisst durch rapiden Stoffwechsel […]. Jetzt, wo ich die Wirkungen klimatischen und meteorologischen Ursprungs aus langer Übung an mir als an einem sehr feinen und zuverlässigen Instrumente ablese und bei einer kurzen Reise schon, etwa von Turin nach Mailand, den Wechsel in den Graden der Luftfeuchtigkeit physiologisch bei mir nachrechne, denke ich mit Schrecken an die unheimliche Thatsache, dass mein Leben bis auf die letzten 10 Jahre […] immer sich nur in falschen und mir geradezu verbotenen Orten abgespielt hat. […] (EH: Warum ich so klug bin 2, KSA 6, 282f) Französische und italienische Orte nennt er hier in einem Atemzug mit Athen, welches für die griechische, und mit Jerusalem, das seinerseits für die jüdische Kultur steht. Nietzsche räumt Frankreich unzweideutig eine Sonderstellung im dekadenten Europa ein, da es, begünstigt durch seine geografische Lage, im Gegensatz zu Deutschland seine Kultureinheit bewahrt habe: 28
Philippe Sollers: »Nietzsche et l’esprit français«, in: Magazine littéraire, numéro 298 (April 1992), S. 26.
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Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffinirtesten Cultur Europas’s […] Es ist […] dreierlei, was auch heute noch die Franzosen mit Stolz als ihr Erb und Eigen und als unverlornes Merkmal einer alten Cultur-Überlegenheit über Europa aufweisen können, trotz aller freiwilligen oder unfreiwilligen Germanisirung [sic!] und Verpöbelung des Geschmacks […] im Wesen der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und Südens gegeben, welche sie viele Dinge begreifen macht […] die ein Engländer nie begreifen wird, ihr dem Süden periodisch zugewandtes und abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu Zeit das provençalische und ligurische Blut überschäumt, bewahrt sie vor dem schauerlichen nordischen Grau in Grau und der sonnenlosen Begriffs-Gespensterei und Blutarmuth, – unsrer deutschen Krankheit des Geschmacks […]. (JGB: Völker und Vaterländer, KSA 5, 198ff) Die deutsche Kultur wird dagegen weiter abgewertet: Gewiss, wer unter Deutschen zu leben hat, leidet sehr an der berüchtigten Grauheit ihres Lebens und ihrer Sinne, an der Formlosigkeit, dem Stumpf- und Dumpfsinne […]. (UB I 6, KSA 1, 392) […] dass die Deutschen bis jetzt keine Cultur haben, so sehr sie auch reden und stolziren mögen. […] (UB II 10, KSA 1, 325) Gegen Ende seines Schaffens, d.h. in den letzten Zeugnissen seines bewussten Lebens, wie etwa Ecce homo, Nietzsche contra Wagner und in den Briefen, die kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch entstanden, steigert sich die Polemik gegen Deutschland bis zu dem Grade, dass er immer mehr auch die eigene deutsche Identität, sein Schreiben für ein deutsches Publikum, ja sogar die Verwendung der deutschen Sprache infrage stellt: Deutsch denken, deutsch fühlen – ich kann Alles, aber das geht über meine Kräfte. (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 2, KSA 6, 301) Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich deutsch schriebe: nirgendswo würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 51, KSA 6, 153) […] ich bin unglücklich, deutsch zu schreiben, obgleich es vielleicht besser schreibe, als je es ein Deutscher schrieb. (1179, 08.12.1888, KSB 8, 511 […] denn die Deutschen sind zu dumm und zu gemein für die Höhe meines Geistes und haben sich immer an mir blamirt […]. (1204, 21.12.1888, KSB 8, 543)
1 Historischer Kontext, Werkausgaben, Übersetzungen und Einordnung des Projekts
Nicht zufällig lebte Nietzsche seit seiner Entlassung aus dem Universitätsdienst 1879, daher vorwiegend in der Schweiz, Frankreich und Italien, wo ihm nicht nur das mildere Klima zuträglich war. Zur Zeit der Entstehung von Ecce homo und Nietzsche contra Wagner hatte Nietzsche in der Stadt Turin ein neues Zuhause gefunden: Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr mir hier Alles wohl thut – ich habe keinen Ort gesehen, der meinen innersten Instinkten so entgegen käme. Großstadt, und dabei still, vornehm, mit einem ausgezeichneten Schlag von Menschen in jeder Classe der Gesellschaft. (1175, 06.12.1888, KSB 8, 506) Neulich sagte ich mir: einen Ort zu haben, wo man nicht heraus will, nicht einmal in die Landschaft, wo man sich freut, in den Straßen zu gehen! – früher hätte ich’s für unmöglich gehalten. – (1192, 16.12.1888, KSB 8, 529) Seine letzten Briefe zeigen Nietzsche nahezu fanatisch bei dem Versuch, von Turin aus, über entsprechende Übersetzungen, wenn nicht in Deutschland, so doch im Ausland eine geeignete Leserschaft zu finden. Besonders vom französischen Publikum versprach er sich die ihm angemessene Anerkennung. Seine FrankreichAdoration geht so weit, dass er schließlich die Frage in den Raum stellt, ob sein eigenes Denken und Schreiben nicht vielleicht selbst französisch seien: In Paris hat mein »Fall Wagner« Aufsehn gemacht; man sagt mir, ich müsse ein geborner Pariser sein: – noch nie habe ein Ausländer so französisch gedacht wie ich im »Fall«. (1194, 17.12.1888, KSB 8, 531) Ich wünsche, in Frankreich gelesen zu werden; mehr noch, ich habe es nöthig. […] Und ich bekenne es gern: ich suche sie vor Allem in Frankreich. Es ist mir nichts fremd, was sich in der geistigen Welt Frankreichs begiebt: man sagt mir, ich schreibe im Grunde französisch, obschon ich vielleicht mit der deutschen Sprache besonders in meinem Zarathustra, etwas in Deutschland selbst Unerreichtes erreicht habe. (1196, 17.12.1888, KSB 8, 532f) Wenn Sie Lust haben, so sende ich Ihnen meine Schrift. Sie ist über alle Maaßen boshaft und könnte eher schon von einem Pariser geschrieben sein. (An Helen Zimmern über Nietzsche contra Wagner, 1197, 17.12.1888, KSB 8, 537) Es überrascht nicht, dass die Sympathie, die Nietzsche der französischen Kultur entgegenbrachte, nicht zuletzt dazu beitrug, dass Nietzsches Schriften ihrerseits positiv in Frankreich aufgenommen wurden.29 Frankreich war das Land nach 29
S. zum Verhältnis Nietzsche-Frankreich: Angelika Schober, »Man findet bei Nietzsche, was man sucht«, S. 126.
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Deutschland – und hier gelangen wir zu einem zweiten Anreiz für eine romanistische Perspektive –, in dem Nietzsche am meisten rezipiert und verbreitet wurde,30 und das, wie noch zu zeigen sein wird, am meisten zu seiner bis heute anhaltenden Wirkung und Schätzung beitrug. Noch vor dem Erscheinen der ›Grossoktavausgabe‹ übersetzte die Elsässerin Marie Baumgartner-Köchlin, Mutter eines Studenten von Nietzsche, 1877 den vierten Teil der Unzeitgemäßen Betrachtungen »Richard Wagner in Bayreuth« ins Französische.31 Nietzsche war ab 1872 Teil des deutsch-französisch-italienischen Kreises um Malwida von Meysenbug, einer engen Freundin von Richard Wagner, die seit Anfang der 1870er Jahre in Italien lebte, so dass Nietzsches frühe Gedanken bereits zu diesem Zeitpunkt in Frankreich und Italien (wenn auch in begrenztem Umfang) in Umlauf waren.32 1872 soll bereits eine italienische Rezension (anonym) zu Nietzsches Geburt der Tragödie in der Rivista Europea (Florenz April 1872) erschienen sein.33 Daniel Halévy, der ebenfalls mit Malwida von Meysenbug vertraut war,34 übersetzte 1892 den Fall Wagner ins Französische, und 1893 folgte eine Textsammlung von Paul Lauterbach und Adolphe Wagnon À travers l’œuvre de Nietzsche, welche zusammen mit den bereits vorhandenen Übersetzungen und einem Aufsatz von Jean de Néthy »Nietzsche-Zarathoustra«35 , Gabriele D’Annunzio als Grundlage für seine Nietzsche-Aufsätze ab 1892 diente. D’Annunzio ist als der erste zu bezeichnen, der Nietzsche in Italien über Aufsätze und literarische Werke (vor allem die Romane Il trionfo della morte und Le vergini delle rocce) Öffentlichkeitswirkung verschaffte.36 In Frankreich bestimmte André Gide die frühe literarische Nietzsche-Rezeption, sein Schaffen war, wie das des jüngeren André Malraux, mit dem ihn eine intellektuelle Freundschaft verband, stark durch Nietzsches Denken beeinflusst.37 Während sich in Frankreich die ›Société du Mercure de France‹ unter der Leitung von Henri Albert, ab 1898 an die Veröffentlichung der Œuvres complètes de Frédéric Nietzsche in 16 Bänden machte (als Übersetzung der ›Grossoktavausgabe‹), so dass Nietzsches Werk in Frankreich bis 1909 fast vollständig übersetzt war, wurden in Italien zwischen 1898 und 1909 nur einzelne Werke übersetzt (1898 Al di là del bene e del male, preludio di una filosofia dell’avvenire und Così parlò Zarathustra, un libro per tutti e nessuno, übersetzt von E. Weisel).38 Erst 1926 erschien im Verlag Monanni (Mailand) die erste Ausgabe der Opere complete, wobei jeder Band mit einer 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Jacques Le Rider, »Un siècle de réception française de Nietzsche«, S. 47. Ebd., S. 44. Domenico Fazio, Il caso Nietzsche, S. 17. Ebd., S. 15. Jacques Le Rider, »Un siècle de réception française de Nietzsche«, S. 44. In: La Revue Blanche (April 1892), 206-212; zitiert nach Guy Tosi: »D’Annunzio découvre Nietzsche (1892-1894)«, in: Italianistica. Rivista di letteratura italiana (Sept./Dez. 1973), S. 502. S. ebd., S. 491-495. Zur Nietzsche-Rezeption Gides und Malrauxs, s. Bruno Hillebrand: Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000), S. 112-123. Domenico Fazio, Il caso Nietzsche, S. 48f.
1 Historischer Kontext, Werkausgaben, Übersetzungen und Einordnung des Projekts
Einführung von Elisabeth Förster-Nietzsche versehen war.39 Auch nach Spanien gelangten Nietzsches Gedanken durch die Vermittlung Frankreichs. Einblicke in sein Werk waren lange Zeit nur über die ersten französischen Übersetzungen und Rezensionen möglich. Die erste erwähnenswerte öffentliche Auseinandersetzung mit Nietzsche ging von katalanischer Seite aus: Joan Maragall veröffentlichte 1893 einen Nietzsche-Aufsatz und übersetzte Fragmente aus allen Teilen von Also sprach Zarathustra ins Katalanische.40 Unter Vertretern der Generación del 98, einer losen Gruppierung von Autoren, welche angesichts des bereits erwähnten Desasters von 1898 nach Möglichkeiten der Erneuerung für Spanien suchten, und welchen Nietzsches Denken vor diesem Hintergrund äußerst attraktiv erschien, erlangte Nietzsche in Spanien seine bislang größte Wirkung. Pío Baroja, der mit Miguel de Unamuno, Azorín (eigentlich José Martínez Ruiz) und Ramiro de Maeztu zu den bekanntesten Autoren der Generacion del 98 zählt, verfasste schon 1897 den Aufsatz »El éxito de Nietzsche« und 1899 »Nietzsche y su filosofía«.41 Die erste spanische Übersetzung Así hablaba Zaratustra folgte 1900 unter dem Pseudonym Juan Fernández, der sich später als José de Caso herausstellte.42 In den folgenden Jahren erschienen weitere Übersetzungen, bis es 1932 auch in Spanien, nach Frankreich und Italien, eine große Gesamtausgabe der Werke Nietzsches (bei Aguilar) geben sollte.43 Mit den Nietzsche-Werken von Karl Löwith (Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, erstmals 1935), Karl Jaspers (Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, 1936) und Martin Heidegger (Nietzsche I und II, veröffentlicht 1961; die Bände gehen auf Seminare ab 1936 zurück) begann eine vertiefte Auseinandersetzung mit Nietzsche.44 Nach den Schrecken des zweiten Weltkrieges und der Schließung des Nietzsche-Archivs in Weimar, hatte sich Karl Schlechta in den 1950er Jahren um eine von groben Fälschungen bereinigte Neuausgabe des Gesamtwerkes Nietzsches bemüht. Diese erschien 1956 im Carl Hanser Verlag (München) in drei Bänden. Bald wurde jedoch auch Schlechtas Ausgabe aufgrund der immer noch willkürlich zusammengestellten Nachlassfragmente kritisiert.45 Wenn auch Löwiths, Jaspers und Heideggers Werke entscheidende Anstöße gaben, so ist Nietzsches Rehabilitation nach der Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus und den italienischen Faschismus – hier gelangen wir zum dritten und letzten Punkt – doch französischen und italienischen Denkern geschuldet. Sich mit Nietzsche aus der Perspektive romanischsprachiger Autoren zu befassen, scheint 39 40 41 42 43 44 45
Domenico Fazio, »Nietzsche in Italien«, S. 315f. Gonzalo Sobejano, Nietzsche en España, S. 37f. Udo Rukser, Nietzsche in der Hispania, S. 34f. Gonzalo Sobejano, Nietzsche en España, S. 67-73. Udo Rukser, Nietzsche in der Hispania, S. 38. Vgl. Eduard Sturm, Die Nietzsche-Renaissance in Italien, S. 36f. Ebd., S. 50.
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demnach gewinnbringend für ein vertieftes Verständnis Nietzsches selbst. »Ohne die französische Gastfreundschaft […] hätte Nietzsche die deutsche Geschichte und das deutsche Denken wohl kaum überlebt«, schreiben Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin.46 Es waren unter anderem Georges Bataille (1897-1962) und Pierre Klossowski (1905-2001), die beiden großen Repräsentanten des französischen Nietzscheanismus und Vorbereiter des Poststrukturalismus, welche sich im Rahmen ihrer philosophisch-soziologischen Arbeit mit Nietzsche (und zwar über die Interpretationen Löwiths und Jaspers, in Abgrenzung zu den Veröffentlichungen Rosenbergs und Bäumlers)47 beschäftigten und 1937, d.h. noch vor Kriegsbeginn, die zweite Ausgabe der 1936 gegründeten Zeitschrift Acéphale der »Réparation à Nietzsche«, der »Wiedergutmachung an Nietzsche« widmeten. Bataille veröffentlicht darin seinen Aufsatz »Nietzsche et les fascistes« und stellt Jaspersʼ Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens vor, Klossowski dagegen rezensiert Löwiths Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen.48 Zweck der Ausgabe sollte es sein, Nietzsche gegen die faschistische und nationalsozialistische Diffamierung zu verteidigen und den systemsprengenden Charakter seiner Gedankenwelt herauszustellen.49 Gemeinsam mit der Methode des Strukturalismus (welche auf die Vorlesungen des Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure zwischen 1906 und 1911 zurückgeht),50 schufen die Hauptwerke Batailles (z.B. L’expérience intérieure, 1943; Sur Nietzsche. Volonté de chance, 1945; La Part maudite 1949; L’Érotisme, 1957) und Klossowskis (Nietzsche et le cercle vicieux, 1969) die Grundvoraussetzung für die Entwicklung der philosophischen Strömung des Poststrukturalismus in den 1960er Jahren, welche als das Kernstück der Postmoderne bezeichnet werden kann und deren impliziter Ahnherr kein anderer als Friedrich Nietzsche selbst ist. In allen poststrukturalistischen Werken ist Nietzsches Denken mitgedacht bzw. scheint durch sie hindurch, so dass behauptet werden kann, poststrukturalistisches oder allgemein, postmodernes Schreiben sei erst vor diesem Denken verstehbar. Vorbedingung einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Nietzsche war schließlich die längst überfällig gewordene Überarbeitung der vorhandenen Nietzsche-Ausgaben durch den Italiener Mazzino Montinari (1928-1986) und seinen nur wenig älteren Philosophielehrer Giorgio Colli (1917-1979), die auf der Suche nach einer geeigneten Vorlage für eine italienische Neuausgabe auf das Problem der Originaltexte selbst 46 47 48 49 50
Clemens Pornschlegel/Martin Stingelin: »Nietzsche ›und‹ Frankreich«, in: dies., Nietzsche und Frankreich (Berlin: De Gruyter 2009), S. 9. S. Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939) (Konstanz: VVK Verlagsgesellschaft 2006), S. 70. Georges Bataille (1937) : »Nietzsche et les fascistes«, in : ders., Œuvres complètes, I (Paris : Gallimard 1973), 447-465; vgl. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 289. Vgl. Georges Bataille, »Nietzsche et les fascistes«. S. Stefan Münker/Alexander Roesler: Poststrukturalismus (Stuttgart [u.a.]: Metzler 2000), S. 1.
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stießen. Montinari fuhr 1961 daher erstmals nach Weimar, um zusammen mit Colli, Nietzsches Originalmanuskripte zu prüfen, wobei vor allem die Fälschungen an Nietzsches angeblichem Werk »Der Wille zur Macht« zutage traten. Auf der Grundlage dieser Originalmanuskripte entstand die sogenannte Kritische Gesamtausgabe, deren erste Bände in Italien im Verlag Adelphi (Mailand) und in Frankreich bei Gallimard 1964 erschienen. Erst drei Jahre später, 1967, lagen die ersten Bände in deutscher Sprache bei De Gruyter (Berlin) vor.51 Montinari initiierte 1972 die sogenannten Nietzsche-Studien – Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, dem bis heute wichtige Impulse für die Nietzsche-Forschung zu verdanken sind. Die vorliegende Arbeit befasst sich nun nicht nur mit philosophisch-theoretischer Nietzsche-Rezeption, sondern stellt neben Nietzsches Werk, vier ›Romane‹ in den Mittelpunkt der Analyse, wobei der Begriff ›Roman‹ Philippe Sollersʼ Paradis nicht mehr gerecht wird. Nachdem im ersten großen Teil Nietzsches Schriften selbst in den Blick genommen und damit das Interpretationsmuster für die weiteren Kapitel vorgegeben wird, werden vier Autoren in folgender Reihenfolge behandelt: Luigi Pirandello (1867-1936), Miguel de Unamuno (1864-1936), Georges Bataille (1897-1962) und schließlich Philippe Sollers (*1936). Wie aus den Jahreszahlen hervorgeht, folgt die Reihenfolge, mit Ausnahme von Pirandello und Unamuno, den Lebensdaten der Autoren und dem Erscheinungsdatum ihrer Werke. Pirandello wird Unamuno vorangestellt, da zum einen Pirandellos theoretisches Hauptwerk L’umorismo (1908), in dem die Grundgedanken von Uno, nessuno e centomila (1926) bereits enthalten sind, vor Unamunos Schriften Del sentimiento trágico de la vida en los hombres y en los pueblos (1913), La agonía del cristianismo (1925) und Cómo se hace una novela (1927) erscheint, zum anderen, da Pirandellos Roman, an welchem er in Wirklichkeit bereits seit dem Jahr 1909 arbeitete, wie sich noch zeigen soll, verfahrenstechnisch einfacher gestaltet ist bzw. Unamunos religionsphilosophisch untermauerte Texttheorie in seiner Komplexität Pirandellos Werk übersteigt. Während Nietzsches Einfluss auf Bataille und Sollers in ihren vielfältigen Nietzsche-Nennungen bzw. -Veröffentlichungen ersichtlich ist, stellt sich das Nietzsche-Verhältnis Unamunos und Pirandellos als weniger eindeutig dar. Unamuno erwähnt und zitiert Nietzsche in seinen Schriften zwar mit einer gewissen Regelmäßigkeit, betont aber ebenso häufig die Verschiedenheit ihrer Ansätze und seine nur ausschnitthafte Kenntnis von Nietzsches Werk. Die Analyse wird im Gegenteil die geistige Verwandtschaft ihrer Gedankenwelt herausstellen, wobei sich auch noch einmal – diesem Sachverhalt hatte Unamuno selbst einen Aufsatz gewidmet–52 die Nähe zu dem etwa gleichaltrigen Pirandello, den er nie kennenge51 52
Zur Entstehung der Colli-Montinari-Ausgabe s. Eduard Sturm, Die Nietzsche-Renaissance in Italien, S. 49-78. Miguel de Unamuno (1923): »Pirandello y yo«, in: ders., Niebla. Nivola [darin: »Textos complementarios«], hg. von Armando F. Zubizarreta (Madrid: Castalia 1995), 305-309.
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lernt hatte, zeigen wird. Pirandello dagegen erwähnt Nietzsche, wie dies Michael Rössner nachgewiesen hat,53 nur ein einziges Mal in einem Interview kurz vor seinem Tod,54 wobei er implizit auf Nietzsches Geburt der Tragödie anspielt und indirekt eine mögliche Parallele zwischen seiner eigenen Methode und jener Nietzsches herstellt. Nichtsdestoweniger erinnern bereits Teile aus L’umorismo an Nietzsches Die Geburt der Tragödie oder an dessen frühe Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Bis heute wird Nietzsche politisch gelesen, so etwa von Bernhard Taureck, demzufolge Nietzsche »wie kein anderer Züge des Protofaschismus versammle« und der mokiert feststellt, »Montinari weigere sich, Nietzsches Öffnungen zum Faschismus wahrzunehmen«.55 Eine ähnliche Position vertritt Laurent-Michel Vacher, wenn er argumentiert, Nietzsches Denken kreise wie jede Art von Faschismus um die Themen »vitalisme«, »conception racialiste«, »conception élitiste«, »primat de la puissance/de la force« und »pratique, action, création«.56 Dass beide Autoren entgegen ihrer radikalen Gleichsetzung ›Nietzsche = Faschismus‹ doch immer wieder auch dem Faschismus fremde Züge an Nietzsche wahrnehmen57 oder zugestehen, Nietzsche sei persönlich nicht der Typ eines politisch engagierten Faschisten gewesen,58 zeigt, dass es ihnen nicht leichtfällt, Nietzsche derart zu kategorisieren. Autoren wie Giorgio Penzo oder Arno Münster bemühen sich im Gegenteil, den Mythos von Nietzsche als ›Protofaschisten‹ zu dekonstruieren, indem sie – zumindest dem Vorsatz nach – die Grenzen der rechten Interpretation aufzeigen: Nel mettere in luce i limiti di tale interpretazione […] si prepara indirettamente il terreno per una più serena interpretazione […].59 53
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S. Michael Rössner: »Nietzsche und Pirandello. Parallelen und Differenzen zweier DenkCharaktere«, in: Pirandello-Studien. Akten des I. Paderborner Pirandello Symposiums, hg. von Johannes Thomas (Paderborn [u.a.]: Schöningh 1984), 9-25, v.a. S. 11. Giovanni Cavicchioli: »Introduzione a Pirandello«, in: Termini, Bd. 1 (Fiume: Oktober 1936), 22-23. Bernhard H. F. Taureck: Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Leipzig: Reclam Verlag 2000), S. 12 u. 130. Laurent-Michel Vacher, Le crépuscule d’une idole, S. 33. S. z.B. Bernhard Taureck, Nietzsche und der Faschismus, S. 16. Taureck meint, »zwei Seelen« bei Nietzsche zu erkennen, wobei die zweite, Taureck zufolge, die unterlegene, »von der Instabilität der Welt und alles Menschlichen, vom Ja zum Leib, von natürlichen Tugenden, von einer politikfernen, aber zutiefst sozialen Individuation« »spreche«. S. Laurent-Michel Vacher, Le crépuscule d’une idole, S. 97 : »Nietzsche était un grand intellectuel solitaire et vaguement mégalomane. En général, ce type humain n’est guère porté vers l’engagement politique actif et direct au service d’un grand parti populiste.« Giorgio Penzo: Il superamento di Zarathustra. Nietzsche e il nazionalsocialismo (Rom: Armando 1987), S. 18.
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[…] nous voudrions ici nous limiter […] à déconstruire certaines interpretations dogmatiques (erronées) de Nietzsche […].60 Auch die häufig vorgebrachten Gegenargumente, Nietzsche habe sich dem deutschen Nationalstaat und dem Antisemitismus gegenüber kritisch geäußert, oder Nietzsche und Hitler hätten sich aus diametral verschiedenen Gründen gegen die Kirche gewandt (ersterer sah die Kirche, nicht anders als den Staat oder die Wissenschaft, als Ausformung der christlich-platonischen Dekadenz, letzterer fürchtete von kirchlicher Seite die Interessen des Staates gefährdet),61 treffen nicht den eigentlichen Kern der Problematik. Man muss Angelika Schober recht geben, wenn sie betont, dass »Nietzsches Besonderheit wahrscheinlich auch darin bestehe, dass sich sein Denken nicht eindeutig bestimmen lasse«, denn er »denke zugleich auch das Gegenteil mit«. »Seine ›Wahrheit‹ liege in der Pluralität und der Widersprüchlichkeit«.62 Nietzsche soll daher im Folgenden nicht politisch, sondern philosophisch-ästhetisch gelesen werden. Seine Philosophie stellt – dies ist die Grundidee der vorliegenden Arbeit – den Lebensentwurf, nicht eines überlegenen ›Machtmenschen‹, sondern eines am Leben Leidenden dar, welcher sich selbst überwindet und schließlich gerade im Sinnlosen einen Sinn erkennt. Insofern sich Nietzsche für ein Leben jenseits aller Gegensätze, Dogmatisierungen, d.h. jenseits aller Verfestigungen des Lebens ausspricht und damit auf mythische und vorsokratische Vorstellungen zurückgreift, scheint eine Anwendung seines Entwurfs auf die konkrete (politische) Lebenswirklichkeit, welche ohne feste Leitlinien nicht auskommt, in eine Utopie zu münden. Möchte man von Bildern der sozialen Lebenswelt nicht Abstand nehmen, so könnte man Nietzsches Ansatz am ehesten mit dem Zustand der absoluten Anarchie beschreiben. Nichtsdestoweniger soll im Blick behalten werden, dass Nietzsches Rhetorik – wie dies die faschistische und nationalsozialistische Rezeption Nietzsches zeigt – auf bestimmte ideologische Systeme attraktiv wirkte. Inhaltlich mag es einige Überschneidungen gegeben haben: So übten Nietzsches Schlagworte vom ›Willen zur Macht‹, vom ›Übermenschen‹ und ›Schaffen von Werten‹, sein Bruch mit der Tradition, sein Heraufbeschwören eines neuen Zeitalters und sein Zurückgehen auf den mythischen, irrationalen Urgrund des Menschengeschlechts eine große Anziehungskraft auf Vertreter der faschistischen Gesinnung aus. In diesem Zusammenhang ist es beispielsweise interessant, dass Luigi Pirandello, in dessen Werk nirgendwo der erbarmungslose, atheistische ›Nietzsche der Gewalt‹ aufscheint, 1924 der faschistischen Partei beitritt und in einer Erklärung von 60 61 62
Arno Münster, Nietzsche et le nazisme, S. 9. Ebd., S. 17f u. 29. Angelika Schober, »Man findet bei Nietzsche, was man sucht«, S. 131.
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192363 Mussolinis Tätigkeit in Zusammenhang mit seiner eigenen (derjenigen Nietzsches sehr ähnlichen) Lebenskonzeption bringt. Auch in der Analyse von Batailles Bleu du ciel, das größtenteils in Barcelona zur Zeit des ausbrechenden Bürgerkriegs und in Deutschland vor dem Hintergrund des sich formierenden Nationalsozialismus spielt, werden solche Gemeinsamkeiten noch einmal zutage treten, dabei jedoch zugleich die bestehenden Unterschiede sichtbar machen. Auf gewisse Nuancierungen des Verhältnisses Nietzsches Denken nahestehender Lebensformen zur faschistischen Ideologie hatte Bataille bereits in seinem Aufsatz von 1933 »La structure psychologique du fascisme« aufmerksam gemacht. Interpretationen, die Nietzsches Gedankenwelt schlichtweg als protofaschistisch abtun, erweisen sich meist als oberflächlich. Sie lösen bestimmte Formulierungen aus ihrem Zusammenhang und nehmen sie wörtlich, ohne ihrem eigentlichen Inhalt weiter nachzugehen. Das Philosophem vom ›Übermenschen‹ etwa beinhaltet bei genauerem Hinsehen eine ganz andere, tiefere Bedeutung im Vergleich zur typisch politischen Lesart eines überlegenen, rücksichtlosen ›Machtmenschen‹. Nietzsche darf nicht beim Wort genommen werden, er spricht in Bildern, welche nicht selten Gegensätzliches umschließen. Sein komplexer Stil ist untrennbar mit seinem Denken verbunden und verweist damit auf die Sprachformen des Poststrukturalismus im Sinne von Jacques Derridas différance. Eine Lebenskonzeption, die nach einer scharfen Vernunftkritik von keinem festen Sinn mehr ausgeht, sondern für die ein stetes ›Fließen‹ und ›Sich-Verschieben‹ ausschlaggebend wird, schließt zwangsläufig ein kritisches Nachdenken über die Möglichkeiten eines vernünftigen Sprechens und Schreibens ein. Schon bei Nietzsche, dessen Werk natürlich selbst keine im engeren Sinne narrativen Texte umfasst, machen sich daher Brüche bemerkbar, die Grenzen zwischen Gattungen, der Subjektund Objektebene verwischen und die mimetische Darstellung von Fakten weicht zunehmend einem heiteren Sprachspiel. Dieser Aspekt kommt nun in der von Nietzsche geprägten literarischen Produktion zum Tragen. Die vorliegende, vergleichende Studie untersucht anhand von vier zentralen Werken – Uno, nessuno e centomila (1926, Luigi Pirandello), Niebla (1914, Miguel de Unamuno), Le Bleu du ciel (1957, Georges Bataille) und Paradis (1981, Philippe Sollers) –, die natürlich im Kontext der philosophisch-theoretischen Arbeiten ihrer Autoren betrachtet werden, Nietzsches direkten oder indirekten Einfluss auf die Gestalt des ›Romans‹ bzw. Erzähltextes vom Fin de siècle bis zur Texttheorie Tel Quels der Jahre 19601980. Letztere steht bereits im Zentrum des Poststrukturalismus innerhalb der weit gefassten Postmoderne. Mit Philippe Sollersʼ im Umkreis der Tel Quelʼschen Bewegung entstandenem Werk Paradis wurde bewusst ein stilistisch extremes Beispiel postmodernen Schreibens gewählt, um Unterschiede zu modernen oder 63
Luigi Pirandello (1923): »La vita creata«, »Richiesta pubblica di iscrizione al partito nazionale fascista«, in: ders., Saggi e interventi (Mailand: Mondadori Meridiani 2006), S. 1249.
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spätmodernen Schreibweisen besser darzulegen. Zwischen Pirandellos Uno, nessuno e centomila und Sollersʼ Paradis wird so ein vergleichender Bogen geschlagen, in dessen Verlauf Entwicklungslinien hinsichtlich der verwendeten Verfahren und der literarischen ›Endprodukte‹ sichtbar werden. Am Ende des ersten Teils werden zu diesem Zweck auch bereits Nietzsches eigene Schriften unter sprachlich-verfahrenstechnischen Gesichtspunkten untersucht (siehe Punkt 2.3). Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass der deutsche Schriftsteller Rudolf Pannwitz den Begriff ›Postmoderne‹ 1917 im Sinne Nietzsches prägte, nämlich als »postmoderne Überwindung des Nihilismus und der Dekadenz durch den Übermenschen«.64 Während die Moderne die Konfrontation mit Pluralität und Ambivalenz65 noch als Krise wahrnimmt und Versuche anstellt, die »Autonomie« des Subjekts angesichts der Instabilität der Welt zu »retten«,66 scheint in der Postmoderne die Pluralität und Unbestimmbarkeit keine Angst mehr auszulösen, ganz im Gegenteil wird sie – und dies ist These der vorliegenden Arbeit – als ein neuer Sinn oder als ein neues ›Heiliges‹ gefeiert. Zima, dessen Charakterisierung der Postmoderne als Zeit der »Indifferenz« und »Austauschbarkeit« von Wert und Sinn eine gewisse Negativität anhaftet,67 soll hier also eine Position gegenübergestellt werden, die in der Postmoderne stattdessen einen paradiesischen Zustand der ›Erlösung‹ und der glücklich-heiteren Gelassenheit wahrnimmt. Dabei wird zugleich eine Brücke geschlagen zu Ansätzen, die in den postmodernen bzw. vor allem poststrukturalistischen Ausdrucksformen und Inhalten eine Analogie zur Mystik sehen.68 Dass Nietzsche, der Vorbereiter der Postmoderne, mit dem, was er in der Verkündung des ›Todes Gottes‹ verwirft, unlösbar verstrickt bleibt, hatte bereits Martin 64
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Peter Zima: Moderne/Postmoderne – Gesellschaft, Philosophie, Literatur (Tübingen [u.a.]: Francke 1997), S. 13; bzw. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne (Weinheim: Wiley-VCH Verlag 1987), S. 12f. Welsch erkennt im Übergang zwischen Moderne und Postmoderne eine Steigerung des Phänomens der »Pluralität«, s. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S. 77-84.; Zima dagegen charakterisiert die Moderne als Epoche der »Ambivalenz«, s. Peter Zima: Moderne/Postmoderne, S. 23. Vgl. Peter Zima: Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne (Tübingen [u.a.]: Francke 2001), »Vorwort«, vii. Peter Zima, Moderne/Postmoderne, S. 25f; s.a. ebd, S. 226, 232 u. 237. S. z.B. Alois Maria Haas: Wind des Absoluten. Mystische Weisheit der Postmoderne? (Freiburg: Johannes Verlag Einsiedeln 2010); bzw. darüber: Bernhard Teuber: »Fluktuierende Anzüglichkeit. Zu Alois M. Haasʼ Buch über Mystik und Postmoderne«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Bd. 52 (2011), 387-396; s.a. Bernhard Teuber: »Sacrificium auctoris. Die Anthropologie des Opfers und das postmoderne Konzept der Autorschaft«, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen, hg. von Heinrich Detering (Stuttgart [u.a.]: Metzler 2002), ab S. 137. Jacques Derrida hatte selbst eine mögliche Parallelsetzung seines Denkens zu Vorstellungen der negativen Theologie bzw. Mystik vorausgesehen und dazu Stellung genommen: Jacques Derrida: »Comment ne pas parler. Dénégations«, in: ders., Psyché. Inventions de l’autre (Paris: Galilée 1987), 535-595.
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Heidegger festgestellt und Nietzsches Philosophie daher nicht als Überwindung, sondern als »Endstadium der abendländischen Metaphysik« bezeichnet.69 In der Folge haben mehrere Autoren, traditionellen Ansätzen zum Trotz, welche Nietzsche als ›Antichristen‹ par excellence begreifen, die Nähe von Nietzsches Philosophie zur Mystik70 oder zu ursprünglichen Gedankenwelten des Christentums bzw. zu Jesus Christus71 herausgestellt. Bis auf die herausragende Studie von Heinrich Detering,72 der seine These mit einer eingehenden Analyse Nietzsches letzter Texte untermauert, stellen diese Arbeiten jedoch meist nur in Form von Aufsätzen oder kürzeren Monografien einige zentrale Ideen zusammen. Dieser Forschungslücke wird nachgegangen, wobei, anders als bei Detering, wie schon angekündigt, an die Paradigmen der Moderne und Postmoderne angeknüpft wird und zudem vier exemplarische Werke einbezogen werden, die den Zusammenhang Nietzsche-Mystik-Postmoderne weiter erläutern und dabei in ihrem Verlauf eine Entwicklung sichtbar machen. Nietzsche, Unamuno und Pirandello liegen zwar zeitlich vor der sogenannten Postmoderne, ihre Werke reichen jedoch über die Moderne und ihre Vernunftkritik73 hinaus, indem sie bereits neue Konzepte von Wahrheit, Subjektivität, Denken und Schreiben entwickeln. Nietzsche direkt oder indirekt folgend, vollziehen alle vier Werke nach einer mehr oder weniger expliziten Kritik an Metaphysik und Vernunft, welcher sich meist eine Thematisierung des Leidens anschließt, in einem Akt der Überwindung einen Schritt zu einer Lebenskonzeption, die eine extreme Pluralität nicht nur einschließt, sondern bejaht. In dieser Bejahung erlangt sie als alternative Seins- und Sinnbestimmung schließlich selbst metaphysischen Charakter, welcher von der platonisch-christlichen Metaphysik zu unterscheiden ist und mehr Ähnlichkeit zu mystischen 69 70
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Martin Heidegger: »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, in: ders., Holzwege (Frankfurt a.M. 1963), S. 193. S. z.B. Ursula Schneider: Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche (Berlin [u.a.]: De Gruyter 1983); Reinhard Margreiter: »Die Verwindung der Wahrheit und der Entzug des Göttlichen. Zur Rekonstruktion der Gottesbegriffe Nietzsches«, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 20 (1991), 48-67; Alois Maria Haas: Nietzsche zwischen Dionysos und Christus. Einblicke in einen Lebenskampf (Wald: Drei-Punkt-Verlag 2003). S. z.B. Uwe Kühneweg: »Nietzsche und Jesus – Jesus bei Nietzsche«, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 15 (1986), 382-397; Eugen Biser: Nietzsche. Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002). Heinrich Detering: Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte (Göttingen: Wallstein 2010). Zima spricht von der »Selbstkritik der Moderne«, denn sie schließe stets ein »kritisches Nachdenken über die Moderne« oder ein »Reflexivwerden der Moderne« ein, s. Peter Zima, Moderne/Postmoderne, S. 10f. Aller Wahrheitskritik zum Trotz bleiben klassisch moderne Autoren jedoch weiterhin eben jenen Strukturen verpflichtet, welche sie kritisieren oder problematisieren.
1 Historischer Kontext, Werkausgaben, Übersetzungen und Einordnung des Projekts
Vorstellungen aufweist. Diese doppelte Bewegung von der platonisch-christlichen Metaphysik weg, hin zu einer Ontologie anderer, aber im weitesten Sinne doch metaphysischer Art, versucht der Arbeitstitel »Mensch ohne Gott« – Gott stellvertretend für die traditionell abendländische Metaphysik –, »vergöttlichter Mensch« nachzuzeichnen. Erwartungsgemäß wird bei Nietzsche, Pirandello und Unamuno die Kritik an Vernunft, Wissenschaft und christlichem Gottesglauben noch ausführlicher ausfallen als bei den letzten Autoren, deren Werke diese Kritik bereits voraussetzen und nur noch am Rande aufscheinen lassen. Mit Le Bleu du ciel und Paradis werden dabei randständige Werke in den Blick genommen, welchen nur in wenigen Arbeiten, meist in Aufsätzen, Aufmerksamkeit geschenkt wurde und deren Analogie zu Nietzsches Denken bisher entweder völlig unbeachtet blieb oder sich auf Erwähnungen beschränkte, obgleich Nietzsches Einfluss auf die theoretischen Arbeiten der jeweiligen Autoren durchaus bekannt ist. Uno, nessuno e centomila und Niebla gehören zwar gewissermaßen zu Klassikern der italienischen bzw. spanischen Literatur und wurden dementsprechend häufiger zum Thema mehr oder weniger detaillierter Arbeiten, Textanalysen vor dem Hintergrund der Philosophie Nietzsches fehlen jedoch, wenn auch Michael Rössner in Bezug auf Uno, nessuno e centomila auf mögliche Parallelen in einem Aufsatz hinweist.74 Eine eindeutige Verbindung zwischen Unamuno und Nietzsche wird nur von Udo Rukser und Gonzalo Sobejano75 hergestellt, ohne jedoch sein literarisches Werk miteinzubeziehen. Arbeiten, die sich allgemein mit Nietzsche-Rezeption beschäftigen, begnügen sich meist mit historischen Überblicken zur Verbreitung Nietzsches im jeweiligen Sprachraum und seiner Aufnahme durch Persönlichkeiten des Geisteslebens. Theoretisch-philosophische und literarische Werke, die unter Nietzsches Einfluss entstanden, werden dabei gleichwertig behandelt und auf unsystematische Weise nebeneinandergestellt.76 Vergleichende Studien zwischen Nationalliteraturen und Epochen fehlen fast vollständig, und selbst wo Ansätze gegeben sind,77 erweisen sich die Darstellungen eher als oberflächlich, da Autoren und Werke nur knapp angeführt werden, ohne dass die Texte einer genauen Analyse unterzogen werden. An dieser Lücke setzt die vorliegende Arbeit an, so dass nun nach den vorangehenden Vorüberlegungen ein Blick auf Nietzsches Schriften selbst gerichtet werden kann.
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Michael Rössner, »Nietzsche und Pirandello. Parallelen und Differenzen zweier DenkCharaktere«, S. 15f. Udo Rukser, Nietzsche in der Hispania, S. 291-294; Gonzalo Sobejano, Nietzsche en España, S. 276318. S. z.B. Jacques Le Rider, »Un siècle de réception française de Nietzsche«. Bruno Hillebrand bezieht deutsche, französische, italienische und englische Autoren ein, s. Hugo Hillebrand, Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen.
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2. Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
2.1
Nietzsches Verabschiedung der abendländischen Metaphysik
2.1.1
Nietzsches Metaphysikverständnis: Die platonisch-christliche Tradition, Dekadenz und Nihilismus
Nietzsches weitreichender Kulturkritik liegt ein zentraler Gedanke zugrunde, der seine Schriften wie ein roter Faden durchzieht: Nicht allein der moderne Mensch christlicher Prägung ist erkrankt, nein, der Mensch ist grundsätzlich gegenüber allen anderen Gattungen ein krankes Lebewesen, ein durch sein Bewusstsein ›krankes Tier‹: – Ich fürchte, die Thiere betrachten den Menschen als ein Wesen Ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Thierverstand verloren hat, – […]. (FW: Drittes Buch 224, KSA 3, 510) […] der Mensch ist, relativ genommen, das missrathenste Thier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichste abgeirrte – freilich, mit alle dem, auch das interessanteste! – (AC 14, KSA 6, 180) Das Bewusstsein, der »helle«, »blitzende« »Lichtschein« »innerhalb« der »Dunstwolke« des Seins (UB II 1, KSA 1, 253), habe, so Nietzsche, das Erkennen und das Erinnerungsvermögen des Menschen (UB II 1, KSA 1, 248f; bzw. GM: Zweite Abhandlung 1, KSA 5, 291f) hervorgebracht. Sein tierischer Gegenpart sei dagegen fast vollständig auf die unbewussten Bereiche des Traums und des Wahnsinns zurückgedrängt worden: In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. (WL 1, KSA 1, 875)
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– Die Bewusstheit ist die letzte und späteste Entwicklung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewusstheit stammen unzählige Fehlgriffe […]. (FW: Erstes Buch 11, KSA 3, 382) In den Ausbrüchen der Leidenschaft und im Phantasiren [sic!] des Traumes und des Irrsinns entdeckt der Mensch seine und der Menschheit Vorgeschichte wieder: die Thierheit mit Ihren wilden Grimassen […]. (M: Viertes Buch 312, KSA 3, 226) Der zu Bewusstsein gekommene Mensch habe begonnen, sich selbst und die Welt in Beziehung zu setzen, wobei er zur Deutung des Kosmos anthropomorphe Bilder heranzog, die sich immer mehr zu Begriffen verdichteten: Erst haben die Menschen sich in die Natur hineingedichtet: sie sahen überall sich und Ihresgleichen, nämlich ihre böse und launenhafte Gesinnung, gleichsam versteckt unter Wolken, Gewittern, Raubthieren, Bäumen und Kräutern […]. (M: Erstes Buch 17, KSA 3, 29) Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft […]. (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 19, KSA 6, 123) Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen […]. (WL 1, KSA 1, 881) Während der Mensch seit jeher versucht habe, sich vom Tier abzuheben (»Der Stolz des Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung von Thieren sträubt und zwischen Natur und Mensch die große Kluft legt […]«, M: Erstes Buch 31, KSA 3, 41), um sich als »Krone der Schöpfung« zu fühlen (AC 14, KSA 6, 180), habe es im Laufe seiner Geschichte angesichts des durch das Bewusstsein verursachten Leidens immer wieder die Sehnsucht nach einer tierischen Ursprünglichkeit gegeben: Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Thiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben […]. (UB II 1, KSA 1, 248) Aus diesem Grund möchte der ›freiwillige Bettler‹ in Also sprach Zarathustra sein »Glück auf Erden« bei den Kühen finden: [Zu Zarathustra] »Was ich hier suche? antwortete er: das Selbe, was du suchst, du Störenfried! nämlich das Glück auf Erden. Dazu aber möchte ich von diesen Kühen lernen. […] So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich. […] Am weitesten freilich brachten es diese Kühe: die erfanden sich das Wiederkäuen und In-der-Sonne-Liegen. Auch enthalten sie sich
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
aller schweren Gedanken, welche das Herz blähn.« (Za IV: Der freiwillige Bettler, KSA 4, 334, 336f.) Da sich der sich selbst bewusste Mensch in der Welt, so Nietzsche, fürchtete und nach Sicherheit verlangte, habe er Erklärungen, Gesetze und Verbote erfunden: Denn der Grad der Furchtsamkeit ist ein Gradmesser der Intelligenz […]. (M: Viertes Buch 241, KSA 3, 202) Furcht nämlich – das ist des Menschen Erb- und Grundgefühl; aus der Furcht erklärt sich Jegliches, Erbsünde und Erbtugend. Aus der Furcht wuchs auch […] [die] Wissenschaft. (Za IV: Von der Wissenschaft, KSA 4, 376f) Jedoch außerstande, die eigenen Gebote zu befolgen, schämte er sich seiner selbst (»die Scham des Menschen vor dem Menschen«, GM: Zweite Abhandlung 7, KSA 5, 302) und führte die ›Strafe‹ als Selbstkasteiung ein. Die Schuld, die er einer höheren Ordnung gegenüber empfand, vergegenständlichte sich im menschlichen ›Gewissen‹, welches ihn von nun an maßgebend vom Tierreich abhob: […] dieser Narr […] wurde der Erfinder des »schlechten Gewissens«. Mit ihm aber war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich: als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit […] wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden […] (GM: Zweite Abhandlung 16 u. 24, KSA 5, 323 u. 335) Ab diesem frühen Zeitpunkt, so lässt Nietzsche durchblicken, entwickelte der Mensch, in einer der Tierwelt völlig fremden Form, ein Gefühl für ökonomische Tauschgesetze, indem er das ›Abzahlen‹ der ›Schuld‹ für möglich hielt: […] der Mensch bezeichnete sich […] als das »abschätzende Thier an sich«. Kauf und Verkauf, sammt ihrem psychologischen Zubehör, sind älter als selbst die Anfänge irgend welcher gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände: aus der rudimentärsten Form des Personen-Rechts hat sich vielmehr das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Complexe […] übertragen […]. (GM: Zweite Abhandlung 8, KSA 5, 306) Das menschliche Angstgefühl in der Welt führt Nietzsche auf die mit dem Bewusstsein einhergehende Sinnfrage zurück: Der Mensch hinterfrage, anders als das Tier, den Sinn und Zweck seines Daseins, vor allem aber seines Leidens: […] der Mensch muss von Zeit zu Zeit glauben, zu wissen, warum er existirt, seine Gattung kann nicht gedeihen ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben! (FW: Erstes Buch 1, KSA 3, 372)
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[der Mensch] litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Thier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern dass die Antwort fehlte für den Schrei der Frage »wozu leiden?« (GM: Dritte Abhandlung 28, KSA 5, 411) Die ›Krankheit‹ des Menschen gegenüber dem Tier stellt sich somit als eine durch das Bewusstsein hervorgerufene Leidensfähigkeit dar. Nietzsche geht, wie sich noch zeigen soll in erstaunlicher Übereinstimmung mit Ansätzen der modernen Mythentheorie, davon aus, dass der griechische Mythos, nicht anders als später die Wissenschaft, den Zweck erfüllt habe, die Angst des in das Dasein geworfenen Menschen zu bändigen: Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. […] Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. (GT 3, KSA 1, 35f) Wenn auch die Etymologie des Wortes ›Mythos‹ ungeklärt ist,1 so verweist seine Grundbedeutung ›Wort‹ oder ›Gedanke‹2 bereits auf einen Zustand der Bewusstheit und der einsetzenden Begrifflichkeit. Obgleich der Mythos seit der Antike in polemischer Weise dem Logos bzw. der Wissenschaft gegenübergestellt wurde,3 lassen die beiden Weltmodelle einen gemeinsamen Urgrund erkennen. Der Mythos stelle, so Horkheimer und Adorno, eine ursprüngliche Welterklärung dar, die in ihrer »Totalität« derjenigen der »Aufklärung« in nichts nachstehe.4 Moderne Mythentheoretiker weichen auf diese Weise, ähnlich wie Nietzsche, die starre Grenze zwischen Mythos und Aufklärung auf:5 1
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Bei Assmann wird das Wort Mythos entweder von griech. myó (dt. ›die Augen schließen‹), myéo (dt. ›belehren‹, ›einweihen‹) oder von indogermanisch meudh (dt. ›sich erinnern‹, ›sich sehnen‹, ›Sorge‹, ›Gedanke‹) abgeleitet, s. Aleida Assmann/Jan Assmann: »Mythos«, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 4, hg. (u.a.) von Hubert Cancik (Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1998), S. 181. Ebd. Vgl. Axel Horstmann: »Mythos, Mythologie«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo-O, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984), 281-318. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung [Auszug], in: Texte zur modernen Mythentheorie, hg. von (u.a.) Wilfried Barner (Stuttgart: Reclam 2003), S. 31. Vgl. Axel Horstmann, »Mythos, Mythologie«, S. 312.
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Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit darstellen, festhalten, erklären. […] Die Mythologie selbst hat den endlosen Prozess der Aufklärung ins Spiel gesetzt. […].6 Auch Cassirer betrachtet den Mythos als ein Mittel der »Objektivierung«, mit welchem der Mensch »Furcht, Instinkte, Hoffnungen« »organisiere«.7 Den Zusammenhang zwischen der menschlichen Furcht und der Entstehung des Mythos erläutert Blumenberg folgendermaßen: Die Welt verliert an Ungeheuern. Sie wird […] ›freundlicher‹. Sie nähert sich dem Bedürfnis des dem Mythos zuhörenden Menschen an, in der Welt heimisch zu sein.8 Odo Marquard generalisiert schließlich sogar den Mythos-Begriff9 und verwendet ihn für alle Formen der Welterklärung, da es sich sowohl im Mythos als auch in der Wissenschaft um das Erzählen von Geschichten handle,10 ohne welche der Mensch nicht leben könne: »[N]arrare necesse est«.11 Nietzsche selbst lässt keinen Zweifel daran, welches der beiden Welterklärungsmodelle er präferiert und für das heilsamere hält. Ganz im Sinne der ursprünglichen Begriffsbedeutung12 versteht er ›Dekadenz‹ als einen ›Abfall‹ von der antiken Kultur, als »die décadence des griechischen Instinkts« (GD: Was ich den Alten verdanke 2, KSA 6, 156). Einen Bruch stellt er bereits unter den sogenannten Vorsokratikern fest, welchen er, ohne den Begriff ›Vorsokratiker‹ selbst zu verwenden, den Aufsatz »Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen« widmet. Die Kosmologien der Vorsokratiker als die ersten (natur-)philosophischen Ansätze, stehen zeitlich zwischen dem Mythos und dem Einsetzen des Rationalismus in der Sophistik bzw. im Sokratismus13 und werden üblicherweise mit dem »Anfang der abendländischen Kultur« identifiziert.14 Indem die vorsokratischen Denker, deren Werke nicht im Original überliefert sind, 6 7 8 9 10 11 12
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Ebd., S. 30f. Ernst Cassirer: Der Mythus des Staates [Auszug], in: Texte zur modernen Mythentheorie, hg. von (u.a.) Wilfried Barner (Stuttgart: Reclam 2003), S. 44f u. 46. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos [Auszug], in: Texte zur modernen Mythentheorie, hg. von (u.a.) Wilfried Barner (Stuttgart: Reclam 2003), S. 195. S. Axel Horstmann, »Mythos, Mythologie«, S. 314. Odo Marquard : »Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie«, in: Texte zur modernen Mythentheorie, hg. von (u.a.) Wilfried Barner (Stuttgart: Reclam 2003), S. 223f. Ebd., S. 225. S. z.B. Montesquieus Werk Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1774) oder Rousseaus Kritik der Zivilisation, welche er der »Naturmäßigkeit der Antike« gegenüberstellt, s. S. Rücker, »Dekadenz«, S. 47. Carl-Friedrich Geyer: Philosophie der Antike. Eine Einführung (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996), S. 5-55. Hans-Georg Gadamer: Der Anfang der Philosophie (Stuttgart: Reclam 1996), S. 9.
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sondern nur bei späteren antiken Philosophen und Schriftstellern erwähnt und zitiert werden,15 in ihrer Auseinandersetzung mit den Ursprüngen (archaí) des kosmischen Seins, dieses nach »räumlich-zeitlichen« Prinzipien und nicht mehr nach Theogonien erklärten, distanzierten sie sich erstmals von mythischen Erklärungsmodellen.16 Nach den Geburtsorten der Hauptvertreter Thales von Milet (Ionien) und Parmenides von Elea werden sie gewöhnlich in zwei Gruppen unterteilt, so dass allgemein von der milesischen oder ionischen und der eleatischen Naturphilosophie gesprochen wird. In allen vorsokratischen Entwürfen zeigen sich dabei Versuche, die Erfahrung des steten Wandels innerhalb des Kreislaufs des Werdens und Vergehens mit dem Phänomen konstanter, dauerhafter Größen in Einklang zu bringen. So vertritt Thales die These, der »Ursprung und das Endziel des Alls sei das Wasser«, »alle Dinge« seien nur »verfestigtes Wasser«, welches sich schließlich wieder »verflüssige«.17 Anaximander dagegen behauptet, alles Werden und Vergehen entspringe und münde in das ápeiron, das »Grenzenlose, Unbeschränkte«, das in sich Gegensätze vereine.18 Anaximenes hält die Luft (aér) für das Urprinzip des Seins, denn allen Wandel erklärt er durch deren »Verfeinerung« und »Verfestigung«.19 Radikaler zeigt sich Heraklit aus Ephesos, der jede Identität, alles Beharrende als Schein entlarvt und in allem die »Einheit der Gegensätze« zu erkennen meint. Heraklit zufolge, befinde sich die Welt in stetem Fluss. Das sich entflammende und erlöschende Feuer wird für ihn zum Urprinzip der Seinsbewegung.20 Ganz anders fällt die Deutung bei Parmenides aus: Statt wie die Milesier den Kosmos als ein einheitliches, immanentes Gebilde zu betrachten, nimmt er erstmals eine Scheidung der Sphären ›Sein‹ und ›Nicht-Sein‹ vor. Kurzerhand identifiziert er alles Werden und Gewordene mit dem ›Nicht-Sein‹ und dem ›Schein‹, alles Sein dagegen definiert er als »ganz«, »homogen«, »unbeweglich«, »unteilbar« und »ohne Anfang und Ende«.21 Vorweggenommen wird hier Aristotelesʼ Satz vom Widerspruch, dass ein und dieselbe Sache nicht zugleich sein und nicht sein, bzw. gegensätzliche Eigenschaften umfassen könne.22 Anaxagoras von Klazomenai und die Atomisten Leukipp und Demokrit versuchen schließlich, die milesische und die eleatische Auffassung von den gleichbleibenden Substanzen zu versöhnen, indem 15
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Aristoteles widmet »seinen Vorgängern« mehrere Kapitel im ersten Buch der Metaphysik. Nach Christus dagegen gibt es zahlreiche Erwähnungen u.a. bei Plutarch, dem Doxographen Diogenes Laertios und dem Neuplatoniker Simplikios, s. Christof Rapp: Vorsokratiker (München: Beck 1997), S. 15 u. 22f. Carl-Friedrich Geyer, Philosophie der Antike, S. 12f. Carl-Friedrich Geyer: Die Vorsokratiker zur Einführung (Hamburg: Junius 1995), S. 53. Ebd., S. 56f u. 61. Ebd., S. 58f. Christof Rapp, Vorsokratiker, S. 73-83, v.a. S. 73, 75 u. 83. Ebd., S. 106-137, v.a. S. 106. Ebd., S. 105.
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sie von festen Teilchen (bei Anaxagoras ›Homoiomerien‹, bei Leukipp und Demokrit ›Atome‹) ausgehen, die sich durch eine willkürliche, aber vielleicht notwendige Bewegung (bei Anaxagoras ausgelöst durch den nous, bei den Atomisten durch die ›Leere‹ zwischen den Teilchen) vermischen und wieder trennen und so das Entstehen und Vergehen hervorrufen.23 In erwähntem Aufsatz, aber gelegentlich auch im Laufe anderer Schriften, beschäftigt sich Nietzsche vor allem mit Thales, Anaxagoras, besonders aber mit Heraklit und Parmenides, deren Anschauungen er stark gegeneinander abgrenzt. Während er auf unmissverständliche Weise mit der milesischen Strömung und ihren den ganzheitlich-immanenten Weltentwürfen des Mythos verwandten Kosmologien sympathisiert, sieht er in Parmenidesʼ Denken das Ende des mythisch-vorsokratischen Zeitalters vorweggenommen: Einem Griechen war es damals möglich, aus der überreichen Wirklichkeit, wie aus einem bloßen gauklerischen Schematismus der Einbildungskräfte zu flüchten […] in die starre Todesruhe des kältesten, Nichts sagenden Begriffs, des Seins. […] Jene Flucht war nicht eine Weltflucht im Sinne indischer Philosophen, zu ihr forderte nicht die tiefe religiöse Überzeugung […] auf […]. […] gerade das Duftlose Farblose Seelenlose Ungeformte, der gänzliche Mangel an Blut, Religiosität, und ethischer Wärme, das Abstrakt-Schematische – bei einem Griechen! – vor Allem aber die furchtbare Energie des Strebens nach Gewißheit, in einem mythisch denkenden und höchst beweglich-phantastischen Zeitalter. […] In der Philosophie des Parmenides präludirt das Thema der Ontologie. […] (PHG 11, KSA 1, 844f) Nietzsche verwendet den Begriff der ›Ontologie‹ hier in der platonischen Bedeutung und präsentiert Parmenides damit als den Urvater des Sokratismus bzw. Platonismus. In der Tat stellt Parmenides eine nicht unbedeutende Bezugsgröße für Platon dar: In einem Dialog schildert er ein (wahrscheinlich erfundenes) Zusammentreffen zwischen Parmenides und Sokrates, Platons Lehrmeister. Aller Wahrscheinlichkeit nach beabsichtigte er auf diese Weise, eine »Genealogie« zwischen Parmenides, Sokrates und sich selbst zu »begründen«.24 Noch Thales und Heraklit hatten die Welt, wie im Mythos, einem unentwirrbaren Kreislauf ewiger Verwandlungen gleichgesetzt, in welchem jedes einzelne Element Teil des Ganzen war: Thales hat in der Darstellung dieser Einheits-Vorstellung durch die Hypothese vom Wasser den niedrigen Stand der physikalischen Einsichten seiner Zeit […] übersprungen […]: der Satz »Alles ist Eins«. (PHG 3, KSA 1, 813) Der Honig ist, nach Heraklit, zugleich bitter und süß, und die Welt selbst ist ein 23 24
Carl-Friedrich Geyer, Die Vorsokratiker zur Einführung, S. 125ff u. 133f. Ebd., S. 83f.
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Mischkrug, der beständig umgerührt werden muss. Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden: die bestimmten, als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort.(PHG 5, KSA 1, 825) Und so, wie das Kind […] spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld […]. (PHG 7, KSA 1, 830) Mit Parmenides und seinen Ausführungen zum Sein und Nicht-Sein kündigte sich dagegen, so Nietzsche, etwas Neues, bis dahin Unbekanntes, an. Dem Übergang zum abstrakt-logischen Denken, der Suche nach ›Wahrheit‹ und der Scheidung zwischen ›Wahrheit‹ (als das ungewordene ›Sein‹) und ›Schein‹ (das ›Nicht-Sein‹, Werden), ›Körper‹ und ›Geist‹, ›positiven‹ und ›negativen‹ Eigenschaften war der Weg geebnet: Nahm er etwa das Schwere und das Leichte, so fiel das Leichte auf die Seite des Lichten, das Schwere auf die Seite des Dunklen: und so galt ihm das Schwere nur als die Negation des Leichten, das Leichte aber als eine positive Eigenschaft. Schon aus dieser Methode ergiebt sich eine trotzende, gegen die Einflüsterungen der Sinne verschlossene Befähigung zur abstrakt-logischen Prozedur. […] Statt der Ausdrücke »positiv« und »negativ« gebrauchte er den festen Terminus »seiend« und »nicht seiend« […]. (PHG 9, KSA 1, 837f) Nun tauchte er in das kalte Bad seiner furchtbaren Abstraktionen. Das, was wahrhaft ist, muß in ewiger Gegenwart sein […] Das Seiende kann nicht geworden sein: denn woraus hätte es werden können? Aus dem Nichtseienden? […] [D]adurch dass er die Sinne und die Befähigung, Abstraktionen zu denken, also die Vernunft jäh auseinander riß […] hat er […] zu jener gänzlich irrthümlichen Scheidung von »Geist« und »Körper« aufgemuntert, die besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt. (PHG 10, KSA 1, 842f) Die Entwicklung des Rationalismus habe von da an ihren Ausgang genommen. Parmenidesʼ Wahrheits- und Seinsbegriff wurde zunächst Anknüpfungspunkt für die Sophisten. Der vernunftbegabte Mensch rückte in den Mittelpunkt und wurde zur »letzten Instanz in der Beurteilung«. Statt auf das Lenken der Götter zu vertrauen, musste er nun selbst Verantwortung übernehmen.25 Sokrates schließlich habe, Nietzsche zufolge, das Ende des Mythos restlos besiegelt. Indem er dem mythischen Menschen den theoretischen entgegensetzte, trage er die Schuld am Verschwinden der antiken, aus dem Dionysoskult geborenen Tragödie. Euripides 25
Carl-Friedrich Geyer, Philosophie der Antike, S. 27-29, v.a. S. 28.
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als der Nachahmer der sokratischen Lehre habe die Tragödie sich selbst entfremdet: Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysos, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde. (GT 12, KSA 1, 83) Wenn die alte Tragödie durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise gedrängt wurde, so wäre aus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung zu schliessen […]. (GT 17, KSA 1, 111) Neu im Sokratismus war nicht nur der optimistische, ausnahmslose Glaube an das menschliche Wissen, sondern die Gleichsetzung des Wissens mit Tugend und Glück,26 so dass selbst das Nicht-Wissen noch als Wissen betrachtet wurde:27 Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte Hochschätzung des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates, als er sich als den Einzigen vorfand, der sich eingestehe, nichts zu wissen […]. (GT 13, KSA 1, 89) »Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche«: in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. (GT 14, KSA 1, 94) Ich suche zu begreifen, aus welcher Idiosynkrasie jene sokratische Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück stammt […]. (GD: Das Problem des Sokrates 4, KSA 6, S. 69) Der Sokratismus geht davon aus, dass jeder Mensch unterschiedslos »das Gute« wolle, weshalb »nur über die Mittel, nicht über die Zwecke« »Uneinigkeit« »unter den Menschen bestehen« könne.28 Nietzsche, der bereits den deutlich moralischen Gehalt der sokratischen Lehre ins Auge fasst, beschreibt dies folgendermaßen: 26 27
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Sokratesʼ »Morallehre« sei »eudämonistisch« »begründet«, ebd., S. 33. Sokratesʼ Dialoge, in denen »Begriffe« einer »logischen Prüfung« »unterzogen« wurden, brachen typischerweise an einem bestimmten Punkt ab, wenn auf bestimmte Fragen keine Antworten mehr gefunden werden konnten. Diesen Gesprächsabbrüchen kam die Aufgabe zu, »diese Fragen« »als Fragen« »wachzuhalten«, da auch »Nicht-Wissen« »Wissen« sei; ebd., S. 35-37. Ebd., S. 33.
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»Keiner will sich selbst Schaden thun, daher geschieht alles Schlechte unfreiwillig. […] Demgemäss ist der Schlechte nur aus einem Irrtum schlecht; nimmt man ihm seinen Irrthum, so macht man ihn notwendig – gut.« (JGB: Fünftes Hauptstück 190, KSA 5, 111) Die Ausrichtung auf Zwecke bzw. die Nützlichkeit29 von allem und jedem (der Mensch als Funktion), wird dabei zum Grundmuster des sokratisch-wissenschaftlichen Denkens und prägt bis heute das Verständnis von Arbeit und Wirtschaft: […] die Menschen sollen zu den Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand anzulegen; sie sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten […]. (UB II 7, KSA 1, 299) […] ihnen allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; wesshalb sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind, vorausgesetzt, dass sie einen reichlichen Gewinn abwirft. (FW: Erstes Buch 42, KSA 3, 408) Ich sehe an vielen Menschen eine überschüssige Kraft und Lust, Function sein zu wollen […]. (FW: Drittes Buch 119, KSA 3, 476) Auf die optimistische Grundhaltung des Sokratismus führt Nietzsche auch den Glauben an »solche flausenhaften Begriffe wie ›Fortschritt‹, ›allgemeine Bildung‹, ›National‹, ›moderner Staat‹, ›Culturkampf‹« (UB II 7, KSA 1, 407) oder »demokratische Bewegung Europa’s« (JGB: Achtes Hauptstück 242, KSA 5, 182) zurück. Typischer Repräsentant der so gearteten Kultur ist »der möglichst früh nutzbare, wissenschaftliche Mensch«, »der historisch-aesthetische Bildungsphilister, der altkluge und neuweise Schwätzer über Staat, Kirche und Kunst« (UB II 10, KSA 1, 326), »[der] Gelehrte, der im Grunde nur noch Bücher ›wälzt‹« (EH: Warum ich so klug bin 8, KSA 6, 292). Der sich über das Tierreich erhebende sokratische Mensch (»er [fühlte] sich in einer falschen Rangordnung zu Thier und Natur«, FW: Drittes Buch 115, KSA 3, 474) glaubt in seiner Vermessenheit, die Welt ›objektiv‹ erklären zu können: Ihr nüchternen Menschen […], ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen: vor euch allein stehe die Wirklichkeit entschleiert, und ihr selber wäret vielleicht der beste Theil davon […]. (FW: Zweites Buch 57, KSA 3, 421) Nietzsche beschreibt die Ausbreitung der sokratischen Rationalität, entgegen ihrem optimistischen Selbstverständnis, in den Bildern von Krankheit und Siechtum: 29
Ebd., S. 34f.
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
[…] das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral […] könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden Instinkte sein? (GT: Versuch einer Selbstkritik 1, KSA 1, 12) Wie? könnte vielleicht, allen »modernen Ideen« und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der praktische und theoretische Utilitarismus […] ein Symptom der absinkenden Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein? (GT Versuch einer Selbstkritik 4, KSA 1, 16f) Der Sokratismus habe durch die Verdrängung des Mythos und die zunehmende Abstrahierung und Zergliederung der Welt, die ursprüngliche Kultureinheit als die »Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen« (UB I 1, KSA 1, 163) auseinandergerissen, das Leben unnatürlich gemacht und den Menschen sich selbst entfremdet: […] [M]an denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat […] das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd […] und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln […]. (GT 23, KSA 1, 146) […] wir sind zum Leben […] zum glücklichen Ergreifen des Nächsten und Natürlichen verdorben und haben bis jetzt noch nicht einmal das Fundament einer Cultur […]. Zerbröckelt und auseinandergefallen, im Ganzen in ein Inneres und Aeusseres halb mechanisch zerlegt, mit Begriffen wie mit Drachenzähnen übersäet […]. (UB II 10, KSA 1, 328f) Nietzsche überspitzt mit Ironie Descartesʼ Grundsatz Cogito, ergo sum, wenn er folgert, der Mensch könne tatsächlich das eigene Sein nur mehr aus dem Denken ableiten – »cogito, ergo sum«–, statt das Denken aus dem Sein – »vivo, ergo cogito« (UB II 10, KSA 1, 329). Mit dem Mythos sei auch ein ursprünglich religiöses oder metaphysisches (man beachte hier Nietzsches positive, dem platonisch-christlichen Verständnis entgegengesetzte Verwendung des Begriffs) Gefühl im Menschen verschwunden: […] so dass der Mythus, die notwendige Voraussetzung jeder Religion, bereits überall gelähmt ist, und selbst auf diesem Bereich jener optimistische Geist zur Herrschaft gekommen ist, den wir als den Vernichtungskeim unserer Gesellschaft […] bezeichnet haben. (GT 18, KSA 1, 117) […] wenn ein Volk anfängt, […] die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern: womit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch
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mit der unbewussten Metaphysik seines früheren Daseins, in allen ethischen Consequenzen, verbunden ist. (GT 23, KSA 1, 148) Immer wieder verleiht Nietzsche seinem Erstaunen darüber Ausdruck, wie ein so verhängnisvoller Gesinnungswandel inmitten der griechischen Antike möglich sein konnte. Sokrates und seinen Nachfolger Platon charakterisiert er folglich als erste Ausformungen der ›Dekadenz‹, des krankhaften Abfalls von einem ursprünglichen Zustand der Harmonie und Gesundheit: […] ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch […]. […] War Sokrates überhaupt ein Grieche? […] Auf décadence bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandne Wüstheit und Anarchie in den Instinkten: eben dahin deutet auch die Superfötation des Logischen […]. (GD: Das Problem des Sokrates 2-4, KSA 1, 68f) […] Sokrates als Werkzeug der griechischen Auflösung, als typischer décadent zum ersten Male erkannt. »Vernünftigkeit gegen Instinkt«. Die »Vernünftigkeit« […] als gefährliche, als leben-untergrabende Gewalt! […] (EH: Die Geburt der Tragödie 1, KSA 6, 310) […] ja man darf, als Arzt, fragen: »woher eine solche Krankheit am schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato? hat ihn doch der böse Sokrates verdorben? […].« (JGB: Vorrede, KSA 5, 12) Mit Platon und der Verabsolutierung des eleatischen Dualismus betrachtet Nietzsche das abendländische Denken schließlich als besiegelt. Platon unterscheidet die Welt der ›Ideen‹ als das ›wahre‹ Sein von der ›scheinbaren‹ Sphäre der Sinneswahrnehmungen. Diese verhielten sich, Platon zufolge, wie das ›Abbild‹ zum ›Urbild‹ der ›Ideen‹.30 Eine solche Trennung zwischen der sinnlich wahrnehmbaren Welt und einer jenseitigen ›Hinterwelt‹, sowie die Abwertung der ersteren, begreift Nietzsche als Zeichen der ›Dekadenz‹: Diese Welt, die ewig unvollkommene, eines ewigen Widerspruches Abbild und unvollkommnes Abbild – eine trunkne Lust ihrem unvollkommnen Schöpfer […]. Also warf auch ich [Zarathustra] einst meinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern. (Za I: Von den Hinterweltlern, KSA 4, 35) Die Welt scheiden in eine »wahre« und eine »scheinbare« […] ist nur eine Suggestion der décadence, – ein Symptom niedergehenden Lebens… (GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 6, KSA 6, 79) 30
Vgl. ebd., S. 56-64.
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen […] [sie] meinten, durch die Sinne aus ihrer Welt, dem kalten Reiche der »Ideen«, auf ein gefährliches südlicheres Eiland weggelockt zu werden […]. (FW: Fünftes Buch 372, KSA 3, 623) Schon das letzte Beispiel zeigt, dass Nietzsche das abstrakt-rationale Denken, wie es im Platonismus und später im christlichen Glauben maßgeblich wird, mit ›Kälte‹, ›Blutleere‹ und ›Tod‹ identifiziert: Philosophiren war immer eine Art Vampyrismus […] das beständige Blässer-werden – die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung […] Ahnt ihr nicht im Hintergrunde irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig behält […]? – ich meine Kategorien, Formeln, Worte […]. (FW: Fünftes Buch 372, KSA 3, 624)31 Über die begriffliche Erörterung oder Dialektik32 könne der Mensch, so lehrt Platon, stufenweise zu den Wesenheiten, dem »Unüberschreitbaren« und »Absoluten« aufsteigen:33 Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie. (Älteste Form der Idee […] Umschreibung des Satzes »ich, Plato, bin die Wahrheit«.) (GD: Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde, KSA 6, 80) Unzweideutig ist in der platonischen Philosophie der durch Augustinus der PlotinÜbersetzung des Marius Victorinus entnommene Begriff der ›Transzendenz‹34 als das graduelle »Übersteigen der einander in strenger Hierarchie subordinierten Stufen des Seins« vorweggenommen. Platons aus der Mysterienlehre stammende Bezeichnung ›Epoptie‹ für die ›Schau‹ der »vollkommenen, einfachen, unbewegten Erscheinungen« und »des göttlich Schönen« stellt den »Ziel- und Endpunkt« seiner »dialektischen Wissenschaft«35 dar und ist heute mit (platonischer) ›Metaphysik‹ synonym. Die bei genauerer Überlegung erstaunliche Engführung von logischem Denken und Göttlichkeit in der platonischen Lehre, betrachtet Nietzsche als den Grundpfeiler der christlich-platonischen Metaphysik, welcher er auch die moderne Wissenschaft zurechnet: 31 32 33
34 35
S. zum sog. »Vampyrismus« auch folgende Textstellen: AC 49, KSA 6, 228; AC 59, KSA 6, 248; AC 62, KSA 6, 253. Carl-Friedrich Geyer, Philosophie der Antike, S. 41ff. J. Halfwassen/M. Enders: »Transzendenz, Transzendieren«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10: St-T, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998), S. 1443. Ebd., S. 1442f. L. Oeing-Hanhoff/Th. Kobusch/T. Borsche (u.a.): »Metaphysik«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5: L-Mn, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980), S. 1196.
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Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese »andre Welt« bejaht, wie? muss er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen? … Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich dass es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht […] jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist… (FW: Fünftes Buch 344, KSA 3, 577) Nietzsche wendet sich – das soll hier ausdrücklich unterstrichen werden – gegen die Metaphysik der christlich-platonischen Richtung, wie sie später erneut bei Descartes aufscheint. Damit steht er in der Tradition einer seit der Neuzeit wirksamen ›Metaphysikkritik‹,36 mit dem Unterschied, dass er anders als die meisten Autoren vor und nach ihm – dies soll sich im nächsten Kapitel zeigen –, das wissenschaftliche Denken als notwendiges Mittel der Kritik aus dieser nicht ausnimmt. Der Begriff der ›Metaphysik‹ geht nicht eigentlich auf Platon, sondern auf Schriften des Aristoteles zurück, der allerdings selbst nicht von ›Metaphysik‹, sondern von »Erster Philosophie« oder »Weisheit« spricht.37 Der im ersten Jahrhundert v. Chr. lebende Andronikus von Rhodos soll selbige Schriften ›hinter‹ Aristoteles’ Physik eingeordnet haben, wodurch die Bezeichnung ›Metaphysik‹ (dt. ›hinter‹, ›neben‹ der Physik) entstand, welche angesichts des dargestellten »Erkenntniswegs von den physischen, sinnfälligen Gegenständen zu den übersinnlichen« auch thematische Bezüge aufwies.38 Im Unterschied zu Platon untersucht Aristoteles die Welt der ›Ideen‹ nicht als eine »für sich bestehende ›Über-Welt‹«39 , sondern nimmt die Gesamtheit alles Seienden, einschließlich der »Ursachen und Gründe des Seienden«40 in den Blick, wobei er letztere »im Bereich der Sinnesdinge« selbst »sucht«.41 Nikolaos von Damaskus unterscheidet daher im Anschluss an eine von Aristoteles’ Schüler Theophrast verfasste Schrift zwischen einer ›allgemeinen‹ (= Seinswissenschaft) und einer ›speziellen‹ Metaphysik (= eigentliche ›Theologie‹), wodurch der Begriff ›Metaphysik‹ erstmals eindeutig belegt wird.42 Der im 16. Jahrhundert aufkommende Begriff der ›Ontologie‹ nimmt im Laufe seiner Geschichte unterschiedliche 36
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H. J. Cloeren/Th. Rentsch: »Metaphysikkritik«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5: L-Mn, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980), 1280-1294. L. Oeing-Hanhoff/Th. Kobusch/T. Borsche (u.a.), »Metaphysik«, S. 1188. Ebd. Carl-Friedrich Geyer, Philosophie der Antike, S. 68. Vgl. L. Oeing-Hanhoff/Th. Kobusch/T. Borsche (u.a.), »Metaphysik«, S. 1189. Carl-Friedrich Geyer, Philosophie der Antike, S. 68. L. Oeing-Hanhoff/Th. Kobusch/T. Borsche (u.a.), »Metaphysik«, S. 1188 u. 1194.
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
Bedeutungen an: Teils wird er wie bei Pererius, Micraelius und später bei Christian Wolff (17. und 18. Jahrhundert) verengt zu der von der ›besonderen Metaphysik‹ getrennten Wissenschaft von allem Seienden, teils bleibt in ihm, wie bei J. Clauberg (17. Jahrhundert), die bei Aristoteles gegebene »innere Einheit von Metaphysik als Seins- und Gotteswissenschaft« erhalten.43 Anders als im Platonismus und im Laufe verschiedener Aristoteles-kritischer »Entontologisierungstendenzen«44 , nimmt der aristotelische Metaphysikbegriff keine Scheidung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem (als dem Transzendenten) vor, sondern untersucht das Übersinnliche als Teil des Ganzen. In dieser Hinsicht steht Nietzsche, wie sich noch zeigen wird, der aristotelischen Metaphysik näher als der platonischen, obgleich Aristoteles mit seinem ›Satz vom Widerspruch‹45 dem vernünftigen Erkennen verpflichtet bleibt: [über Heraklit] »Alles hat jederzeit das Entgegengesetzte an sich« so ungescheut, dass Aristoteles ihn des höchsten Verbrechens vor dem Tribunale der Vernunft zeiht, gegen den Satz vom Widerspruch gesündigt zu haben. (PHG 5, KSA 1, 823) […] zwei so grundverschiedene Menschen, wie Plato und Aristoteles, kamen in dem überein, was das höchste Glück ausmache […]: sie fanden es im Erkennnen, in der Thätigkeit eines wohlgeübten findenden und erfindenden Verstandes […]. (M: Fünftes Buch 550, KSA 3, 320f) Seit Augustinus wird der Begriff der ›Metaphysik‹ schließlich mit christlichen Inhalten gefüllt, wobei erwartungsgemäß an die platonische Linie angeknüpft wird.46 Descartes dagegen prägt das bis heute nicht restlos verdrängte, neuzeitliche Ideal einer gleichsam metaphysisch begründeten Wissenschaft. Er definiert ›Metaphysik‹ als jene »Erkenntnistheorie«, welche alles infrage stelle, dabei jedoch folgende Axiome als unanzweifelbaren »Erkenntnisgrund« unangetastet lasse: Gott und das Subjekt.47 Auch bei Descartes lässt sich also eine Verknüpfung von Wissenschaft und Übersinnlichem feststellen. In seinem Bild vom ›Baum der Philosophie‹ bildet die ›Metaphysik‹ die Wurzeln, die ›Physik‹ den Stamm und alle übrigen Wissenschaften die Äste des Baums.48 Somit beruft sich die Wissenschaft in letzter Instanz auf die Metaphysik, welche selbst wiederum wissenschaftlich bestimmt ist. Nietzsche definiert in unverkennbarem Rekurs auf 43 44 45 46 47 48
K. Kremer/U. Wolf: »Ontologie«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo-O, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984), S. 1189ff. L. Oeing-Hanhoff/Th. Kobusch/T. Borsche (u.a.), »Metaphysik«, S. 1202. S. Aristoteles’ »Prinzipien zur Erkenntnis des Seienden« ebd., S. 1190. Vgl. ebd., ab S. 1204. Ebd., S. 1240f. Ebd., S. 1242.
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Platon, ›Metaphysik‹ als den Glauben an natürlich gegebene Gegensätze, welchen in Werturteilen Ausdruck verliehen wird: Alle oberen Werthe sind ersten Ranges, alle höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne – das Alles kann nicht geworden sein, muss folglich causa sui sein. (GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 4, KSA 6, 76) […] die Dinge höchsten Werthes müssen einen anderen, eigenen Ursprung haben, – aus dieser vergänglichen verführerischen täuschenden geringen Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie unableitbar! Vielmehr im Schoosse des Sein’s, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im »Ding an sich« – da muss ihr Grund liegen […]. Diese Art zu urtheilen macht das typische Vorurtheil aus, an dem sich die Metaphysiker aller Zeiten wieder erkennen lassen […] aus diesem ihrem »Glauben« heraus bemühn sie sich um ihr »Wissen«, um Etwas, das feierlich am Ende als »die Wahrheit« getauft wird. Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werthe. (JGB: Erstes Hauptstück 2, KSA 5, 16) Im Platonismus erkennt Nietzsche die Wiege des religiös-ideologischen Dogmas, welches er im christlichen Gottglauben in vollem Umfang entfaltet sieht: Die Philosophie der Dogmatiker […] – man verdankt ihr und ihren »überirdischen« Ansprüchen in Asien und Ägypten den grossen Stil der Baukunst. […] eine solche Fratze war die dogmatische Philosophie, zum Beispiel […] der Platonismus in Europa. Seien wir nicht undankbar gegen sie, so gewiss es auch zugestanden werden muss, dass der schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein Dogmatiker-Irrthum gewesen ist, nämlich Plato’s Erfindung vom reinen Geist und vom Guten an sich. (JGB: Vorrede, KSA 5, 12) Den Begriff ›Dogma‹ verwendet Nietzsche daher meist in der Bedeutung der ›platonischen Metaphysik‹. Dabei ist interessant, dass auch Hans Blumenberg dem mythischen Denken das platonisch-christliche Dogma gegenüberstellt.49 Bei Odo Marquard, der alle Formen der Welterklärung unter dem Begriff ›Mythos‹ zusammenfasst, erscheint das Dogma als »Monomythos«, während der Mythos selbst dem »Polymythos« gleichgesetzt wird.50 Nietzsche drückt das Gegensatzpaar Dogma-Mythos in der Formel ›Plato gegen Homer‹ aus: Plato gegen Homer: das ist der ganze, der ächte Antagonismus – dort der »Jenseitige« besten Willens, der grosse Verleumder des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die goldene Natur. (GM: Dritte Abhandlung 25, KSA 5, 402f) 49 50
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos [Auszug], S. 208-218. Odo Marquard, »Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie«, S. 226-238.
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
Das gesellschaftlich wirksame Dogma gebe dem Einzelnen starre Gesetze vor, welche bereits im Kindesalter eingeübt würden und bei Nichteinhaltung Strafen nach sich zögen: Die Sitte repräsentirt die Erfahrungen früherer Menschen über das vermeintlich Nützliche und Schädliche, – aber das Gefühl für die Sitte (Sittlichkeit) bezieht sich nicht auf jene Erfahrungen als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die Indiscutabilität der Sitte. […] Jeder, der das bestehende Sittengesetz umwarf, hat bisher zuerst immer als schlechter Mensch gegolten […]. (M: Erstes Buch 19-20, KSA 3, 32f) Ersichtlich werden moralische Gefühle so übertragen, dass die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und dass sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen nachmachen […]. (M: ebd. 34, KSA 3, 43) Das Setzen von gültigen Werten, Richtlinien und Gesetzen vergleicht Nietzsche mit der Tätigkeit des konkreten Bauens und Konstruierens, denn hier wie dort schaffe sich der Mensch Sicherheit. In eindeutiger Anspielung auf Heraklit und Parmenides heißt es daher in Also sprach Zarathustra: […] »Wie? sagen die Tölpel, Alles wäre im Flusse? Balken und Geländer sind doch über dem Flusse!« »Über dem Flusse ist Alles fest, alle Werthe der Dinge, die Brücken, Begriffe, alles »Gut« und »Böse«: das ist Alles fest!« […] (Za III: Von alten und neuen Tafeln 8, KSA 4, 252) Ein gesteigertes Bedürfnis nach festen Richtlinien führt er auf eine Erkrankung der Willenskraft zurück, welche mit einem Zustand der Schwäche und Lähmung einhergehe. Dem willensschwachen, ›dekadenten‹, sich an Gebote klammernden Menschen sei die Fähigkeit abhandengekommen, sich selbst zu »befehlen«: Metaphysik haben Einige noch nöthig; aber auch jenes ungestüme Verlangen nach Gewissheit, welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet, das Verlangen, durchaus etwas fest haben zu wollen […] auch das ist noch das Verlangen nach Halt, Stütze, kurz, jener Instinkt der Schwäche […] Der Glaube ist immer dort am meisten begehrt, am dringlichsten nöthig, wo es an Willen fehlt: denn der Wille ist, als Affekt des Befehls, das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft. Das heisst, je weniger Einer zu befehlen weiss, um so dringlicher begehrt er nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott,
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Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen. (FW: Fünftes Buch 347, KSA 3, 582)51 Vor diesem Hintergrund verwendet Nietzsche den Begriff der ›Dekadenz‹ synonym zu einem physischen Zustand, welcher sich durch »die Verarmung des Lebens« (FW: Fünftes Buch 370, KSA 3, 620), durch »Schwächung«, »Ermüdung«, »Alter«, »absinkende Kraft« (FW: Ebd. 377, KSA 3, 629), »Willenslähmung« (JGB: Sechstes Hauptstück 208, KSA 5, 139), »Nicht-mehr-wollen«, »Nicht-mehr schätzen«, »Nicht-mehr-schaffen« (Za II: Auf den glückseligen Inseln, KSA 4, 111), »die grosse Müdigkeit« (ebd. bzw. WA: Vorwort, KSA 6, 12), »das verarmte Leben« und »den Willen zum Ende« (WA, ebd.) kennzeichne. Damit bleibt die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs als »Geschmacksverfall« oder »Auflösung der Gesamtkultur« mitsamt ihrem kulturkritischen Gestus52 erhalten. Als Resultat der ›Dekadenz‹ kann dagegen der Zustand des ›Nihilismus‹ bezeichnet werden, obgleich der seit dem 18. Jahrhundert existierende Begriff, welcher das mit einer Glaubenskrise einhergehende Gefühl der »Indifferenz« beschreibt,53 bei Nietzsche auch als Synonym zu ›Dekadenz‹ erscheint. Nietzsche definiert ›Nihilismus‹ als den »letzten Willen des Menschen«, »seinen Willen zum Nichts« (GM: Dritte Abhandlung 14, KSA 5, 368), denn der Mensch wolle »eher noch das Nichts wollen, als nicht wollen« (GM: ebd 1, KSA 5, 339, bzw. GM: ebd. 28, KSA 5, 412). Das Nichts gebe ihm, »faute de mieux«, einen »Sinn« vor (ebd., 411). Mehr als im Platonismus sieht Nietzsche ein solches »asketisches Ideal« (GM: Dritte Abhandlung 1, KSA 5, 339) im Christentum verkörpert, welches grundsätzlich – nicht erst in seiner Verneinung, dem Glaubensschwund – die Zeichen des Nihilismus trage. Die Voraussetzung für die Entstehung des christlichen Glaubens sei eine Grunderkrankung, eine ›Dekadenz‹ der Kultur gewesen, welche das Christentum für sich nutzte und förderte: Das Christenthum hat die Krankheit nöthig, ungefähr wie das Griechenthum einen Überschuss von Gesundheit nöthig hat, – krank-machen ist die eigentliche Hinterabsicht des ganzen Heilsprozeduren-System’s der Kirche. […] Die christliche Bewegung, als eine europäische Bewegung, ist von vornherein eine GesammtBewegung der Ausschuss- und Abfalls-Elemente aller Art: – diese will mit dem Christenthum zur Macht. (AC 51, KSA 6, 230f) 51
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S.a. AC 54, KSA 6, 236: »[…] das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etws Unbedingtem von Ja und Nein […] ist ein Bedürfnis der Schwäche. Der Mensch des Glaubens […] ist nothwendig ein abhängiger Mensch […].« S. Rücker, »Dekadenz«, S. 47. W. Müller-Lauter/W. Goerdt: »Nihilismus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo-O, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984), S. 848f. Bei Mercier (1801) bezeichnen die Begriffe »nihiliste« und »rienniste« so z.B. einen Menschen, »qui ne croit à rien, qui ne s’intéresse à rien«.
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
Die christliche Moral sei nirgendwo anders als im Platonismus vorweggenommen, mit welchem sie die »metaphysische« »Vorstellung einer ›anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt‹« teile (FW: Drittes Buch 151, KSA 3, 494). »Christenthum« sei daher »Platonismus für’s ›Volk‹« (JGB: Vorrede, KSA 5, 12): Zuletzt geht mein Misstrauen bei Plato in die Tiefe: ich finde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so präexistent-christlich – er hat bereits den Begriff »gut« als obersten Begriff […]. Im grossen Verhängnis des Christenthums ist Plato jene »Ideal« genannte Zweideutigkeit und Fascination […] die zum »Kreuz« führte…Und wie viel Plato ist noch im Begriff »Kirche«, in Bau, System, Praxis der Kirche! (GD: Was ich den Alten verdanke 2, KSA 6, 155f) Nietzsche betrachtet das »zugleich im Jüdischen und im Hellenischen« »wurzelnde« (M: Erstes Buch 70, KSA 3, 68) Christentum als das Werk und die Auslegung der ersten Jünger. Vor allem Paulus habe durch die Betonung des Kreuzestodes Inhalte an den ursprünglichen Glauben herangetragen, welche dem Hellenischen gänzlich fremd waren. So löst er das Problem des Christus-Todes, indem er diesen als »Opfertod« zur »Vergebung der Sünden« und zur Erlösung der Glaubenden (AC 41, KSA 6, 214f) interpretiert und dadurch den Akzent nicht auf das diesseitige Leben, sondern auf ein transzendentes Jenseits legt: Paulus verlegte einfach das Schwergewicht jenes ganzen Daseins hinter dies Dasein, – in die Lüge vom »wiederauferstandenen« Jesus. […] Wenn man das Schwergewicht des Lebens nicht in’s Leben, sondern in’s »Jenseits« verlegt – in’s Nichts –, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen. (AC 42-43, KSA 6, 216f) Die daraus resultierende Entwertung des Diesseits versteht Nietzsche als ›Nihilismus‹ (»Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich nicht bloss…«; AC 58, KSA 6, 247). Paulus wird dabei nicht nur als »erster Christ« und »Erfinder der Christlichkeit« präsentiert (M: Erstes Buch 67, KSA 3, 68), sondern als »grösster aller Apostel der Rache« (AC 45, KSA 6, 223), da mit ihm der im Judentum begonnene »Sklaven-Aufstand in der Moral« (JGB: Fünftes Hauptstück 195, KSA 5, 116f) seinen Höhepunkt erreicht habe. Letzteren beschreibt Nietzsche wie folgt: Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflössenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses […] festgehalten haben, nämlich »die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten […] für sie allein giebt es Seligkeit, – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, […] die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!« (GM: Erste Abhandlung 7, KSA 5, 267)
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Durch die Darstellung des leidenden Jesu und die daran geknüpfte Lehre von dessen Auferstehung und Erlösung nach dem Tod, avancierte das Christentum zur Anlaufstelle für alle an der Wirklichkeit Leidenden (»Wer allein hat Gründe sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. […]«; AC 15, KSA 6, 182), welchen über die Einfühlung in die Figur Christi und die Hoffnung auf ein jenseitiges Heil, ein neues Selbstwertgefühl zuteilwurde: Diese Schwachen – irgendwann einmal nämlich wollen auch sie die Starken sein, es ist kein Zweifel, irgendwann soll auch ihr »Reich« kommen – »das Reich Gottes« […]. (GM: Erste Abhandlung 15, KSA 5, 283) Als skandalös am Christentum erscheint Nietzsche die der Antike gänzlich fremde Vorstellung des leidenden »Gott[es] am Kreuze«, welche das Verhältnis MenschGott auf ein neues Fundament stellte: Gott am Kreuze – versteht man immer noch die furchtbare Hintergedanklichkeit dieses Symbols nicht? – Alles, was leidet, Alles, was am Kreuze hängt, ist göttlich…Wir alle hängen am Kreuze, folglich sind wir göttlich… (AC 51, KSA 6, 232) Auch Olof Gigon betont in seiner der Entstehung des Urchristentums gewidmeten Studie die Neuheit einer »Menschwerdung« Gottes, »in der von göttlicher Würde und Erhabenheit nichts mehr übriggeblieben zu sein scheint« und die im Gegenteil von »körperlichem Schmerz und seelischem Kummer berührt« sei.54 Während der antiken Welt »Götter in Menschengestalt durchaus bekannt waren«, handelte es sich, so Gigon, meist doch nur um »flüchtige« »Epiphanien«.55 Die Menschwerdung Gottes in der Gestalt des einfachen und bescheiden lebenden Wanderpredigers Jesus von Nazareth, sowie dessen grausamer Tod (der Tod eines ›Gottes‹) musste dem antiken Menschen daher zunächst den Eindruck einer »Selbsterniedrigung Gottes« vermitteln.56 Nietzsche formuliert dazu: Die modernen Menschen […] fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach, das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel »Gott am Kreuze« lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendswo eine gleiche Kühnheit im Umkehren […] gegeben wie diese Formel: sie verhiess eine Umwerthung aller antiken Werthe. (JGB: Drittes Hauptstück 46, KSA 5, 67)57 Und doch, so fasst Nietzsche nicht ohne Bedauern zusammen, »siegte« das Jüdisch-Christliche über »Rom« und seine antiken Werte (GM: Erste Abhandlung 16, KSA 5, 287): 54 55 56 57
Olof Gigon: Die antike Kultur und das Christentum (Gütersloh: G. Mohn 1966), S. 161f. Ebd., S. 144. Ebd., S. 162. Zur Deutung des Kreuzessymbols, s.a. GM: Erste Abhandlung 8, KSA 5, 269. bzw. AC 58, KSA 6, 247.
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
Die ganze Arbeit der antiken Welt umsonst: ich habe kein Wort dafür, das mein Gefühl über etwas so Ungeheures ausdrückt. […] der ganze Sinn der antiken Welt umsonst!…Wozu Griechen? wozu Römer? […] Das Christenthum hat uns um die Ernte der antiken Cultur gebracht […]. (AC 59-60, KSA 6, 247ff) Typisch christlich sei, Nietzsche zufolge, die Hinwendung zu Leid, Mitleid, Tod und Jenseits, während das Diesseits und die Welt der Sinne58 abgewertet würden. Im Kreuzessymbol sieht Nietzsche daher die ›düstere‹ Grundausrichtung des Christentums versinnbildlicht: Ja, welche entsetzliche Stätte hat das Christenthum schon dadurch aus der Erde zu machen gewusst, dass es überall das Crucifix aufrichtete und dergestalt die Erde als den Ort bezeichnete, »wo der gerechte zu Tode gemartert wird«! (M: Erstes Buch 77, KSA 3, 75) Überall ertönt die Stimme Derer, welche den Tod predigen […]. Oder das »ewige Leben«: das gilt mir gleich […]. (Za I: Von den Predigern des Todes, KSA 4, 57) Sie nannten Gott, was ihnen widersprach und wehe that […]. Und nicht anders wussten sie ihren Gott zu lieben, als indem sie den Menschen an’s Kreuz schlugen! Als Leichname gedachten sie zu leben […] auch aus ihren Reden rieche ich noch die üble Würze von Todtenkammern. (Za II: Von den Priestern, KSA 4, 118) Der christliche Gott erweise sich bei genauerem Hinsehen als »Krankengott«, als »Widerspruch des Lebens« (AC 18, KSA 6, 185) und als »grösster Einwand gegen das Dasein« (GD: Die vier grossen Irrthümer 8, KSA 6, 97; EH: Warum ich so klug bin 3, KSA 6, 286). Das Christentum selbst als Religion für Leidende und Schwache, erfülle eine ›tröstende‹ und ›narkotisierende‹ Funktion, indem es Gleichmut und Zügelung der Leidenschaften lehre und zum Gefühl der Nächstenliebe und des Mitleids aufrufe: Das Christenthum in Sonderheit dürfte man eine grosse Schatzkammer geistreichster Trostmittel nennen, so viel Erquickliches, Milderndes, Narkotisierendes ist in ihm gehäuft, […] so raffinirt […] ist von ihm insbesondere errathen worden, mit was für Stimulanz-Affekten die tiefe Depression, die bleierne Ermüdung, die schwarze Traurigkeit der Physiologisch-Gehemmten wenigstens für Zeiten besiegt werden kann. […] Man bekämpft erstens jene dominierende Unlust durch 58
So z.B. die »Leidenschaften« (GD: Moral als Widernatur 6, KSA 6, 83), die »Geschlechtlichkeit« (GD: Was ich den Alten verdanke 4, KSA 6, 160; AC: Gesetz wider das Christenthum, KSA 6, 254) und die »Instinkte des Lebens« (GD: Moral als Widernatur 6, KSA 6, 85; JGB: Viertes Hauptstück 168, KSA 5, 102).
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Mittel, welche das Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen. […] Allem, was Affekt macht, was »Blut« macht, ausweichen […]; nicht lieben; nicht hassen; Gleichmuth […]. (GM: Dritte Abhandlung 17, KSA 5, 377ff)59 Im Mitleiden meint Nietzsche, die eigentliche »Praxis des Nihilismus« (AC 7, KSA 6, 173) zu erkennen. Statt »die Energie des Lebensgefühls zu erhöhn [sic!]« (ebd., 172), führe das Mitleiden, ebenso wie das Leiden, zu einer »Einbusse an Kraft« (ebd.) und lenke, nicht anders als die Nächstenliebe, von einer gesunden Ich-Bezogenheit ab: Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus eine Tugend machen […]. Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht genug: nun wollt ihr den Nächsten zur Liebe verführen […]. (Za I: Von der Nächstenliebe, KSA 4, 77) Äußerst kritisch betrachtet Nietzsche außerdem die durch das Mitleid und den Glauben an die Gleichheit vor Gott (Vgl. Za IV: Vom höheren Menschen, KSA 4, 356; JGB: Drittes Hauptstück 62, KSA 5, 83) verursachte Überschreitung des »Ehrfurchts- und Distanz-Gefühls zwischen Mensch und Mensch« (AC 43, KSA 6, 217f). Auf interpersoneller Ebene werde das natürliche Schamgefühl verletzt,60 was zu einer Schwächung der Person führe. Auf gesellschaftlicher Ebene resultiere der Verlust des Distanz-Gefühls dagegen (wie z.B. im ›Demokratismus‹) in der allgemeinen »Nivellirung« (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 38, KSA 6, 139; vgl. JGB: Zweites Hauptstück 44, KSA 5, 61) und »Vermittelmässigung« (FW: Fünftes Buch 377, KSA 3, 629; JGB: Achtes Hauptstück 242, KSA 5, 183), wodurch langfristig die Kultur geschwächt werde (das Christentum wende sich gegen »jede Erhöhung«, »jedes Wachsthum der Cultur«, AC 43, KSA 6, 218). Da im Mitleiden »alles Elende« (AC 7, KSA 6, 173) und damit das Leiden selbst erhalten bleibe, erweise es sich als Praktik des christlichen, auf das ›Nichts‹ ausgerichteten ›Nihilismus‹: Mitleiden überredet zum Nichts!…Man sagt nicht »Nichts«: man sagt dafür »Jenseits«; oder »Gott«; oder »das wahre Leben«; oder Nirvana, Erlösung, Seligkeit…(ebd.) Weit mehr als der Platonismus weise das Christentum, so Nietzsche, dogmatische Züge auf. Im Unterschied zu antik-mythischen Vorstellungen wird von einem ein59 60
Zum Christentum als ›Narkotikum‹, s.a. GM: Erste Abhandlung 10, KSA 5, 272; GM: Dritte Abhandlung 18, KSA 5, 382-385; GD: Was den Deutschen abgeht 2, KSA 6, 104. »[…] Mitleiden geht gegen die Scham. Und nicht-helfen-wollen kann vornehmer sein als jene Tugend, die zuspringt. Das aber heisst heute Tugend selber bei allen kleinen Leuten, das Mitleiden: – die haben keine Ehrfurcht vor grossem Unglück, vor grosser Hässlichkeit, vor grossem Missrathen.« (Za IV: Der hässlichste Mensch, KSA 4, 330).
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
zigen Gott61 im »Vollbesitz des Wissens«62 ausgegangen, welcher als »die Wahrheit« (M: Erstes Buch 93, KSA 3, 86), das Interpretationsschema für Mensch und Natur bildet: […] der lange geistige Wille, Alles, was geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott noch in jedem Zufalle wieder zu entdecken und zu rechtfertigen […]. (JGB: Fünftes Hauptstück 188, KSA 5, 109) Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft […] die eigenen Erlebnisse auslegen […], wie als ob Alles Fügung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei […]. (GM: Dritte Abhandlung 27, KSA 5, 410) Was herkömmlicherweise als ›Sinn‹, ›Wahrheit‹ oder ›Gesetz‹ gilt, wird erst im Glauben an den einen Gott greifbar. Als Dogma schließt das ›Glaubenssystem‹ folglich jeden Zweifel an diesem ›Sinn‹ aus: Das Christenthum ist ein System, eine zusammengedachte und ganze Ansicht der Dinge. […] Die christliche Moral ist ein Befehl; ihr Ursprung ist transcendent; sie ist jenseits aller Kritik, alles Rechts auf Kritik; sie hat nur Wahrheit […], – sie steht und fällt mit dem Glauben an Gott. (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 5, KSA 6, 114) Verstärkt wird der dogmatische Aspekt des Christentums durch die besonders seit dem Protestantismus wirksame Konzentration auf die Heilige Schrift, wodurch der christliche Glaube zur abstrakten Buchreligion wurde. Nietzsche beschuldigt Martin Luther, das Wiederaufleben der Antike in der Renaissance zunichtegemacht und das Christentum auf diese Weise um den letzten Rest von Leben und gefühltem Glauben gebracht zu haben: Dieser Mönch, mit allen rachsüchtigen Instinkten eines verunglückten Priesters im Leibe, empörte sich in Rom gegen die Renaissance […]. (AC 61, KSA 6, 251) Luther, dies Verhängnis von Mönch, hat die Kirche, und, was tausend Mal schlimmer ist, das Christenthum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag […]. (EH: Der Fall Wagner 2, KSA 6, 359) 61
62
Nietzsche spricht abwertend vom »Monotono-Theismus« (GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 1, KSA 6, 75; AC 19, KSA 6, 185). S.a. FW: Drittes Buch 143, KSA 3, 490: Monotheimus als »der Glaube an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter giebt«. Olof Gigon, Die antike Kultur und das Christentum, S. 147.
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Er [Luther] lieferte die heiligen Bücher an Jedermann aus, – damit geriethen sie endlich in die Hände der Philologen, das heisst der Vernichter jeden Glaubens, der auf Büchern ruht. (FW: Fünftes Buch 358, KSA 3, 603) Während bereits in der platonischen Metaphysik ein innerer Zusammenhang zwischen Vernunft, Weisheit und göttlichem Sein gegeben ist, wird auch in der jüdisch-christlichen Tradition, Gott als oberste Ratio gedacht, welche, wie die Genesis berichtet, die alleinige Entscheidungsmacht in Bezug auf Gut und Böse innehat (»Hat man eigentlich die berühmte Geschichte verstanden, die am Anfang der Bibel steht, – von der Höllenangst Gottes vor der Wissenschaft?«, AC 48, KSA 6, 226). Während das Kosten vom Baum der Erkenntnis im Buch Genesis dem menschlichen Sündenfall gleichgesetzt wird, stellt sich der alttestamentliche Gott selbst als rationaler Gott dar und die biblischen Schriften enthüllen ihren eigentlich wissenschaftlichen Ursprung (»Das Verbrecherische im Christ-sein nimmt in dem Maasse zu, als man sich der Wissenschaft nähert.«, AC: Gesetz wider das Christenthum, KSA 6, 254). Mit der Wissenschaft teilt der jüdisch-christliche Glaube auch die Betonung von Zeitlichkeit, Chronologie, Kausalität und Teleologie.63 Die Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiung eines Gottessohnes in Jesus von Nazareth (man beachte die Zeitorientierung auf die Zukunft hin)64 stelle, so Gigon, einen zeitlich und »örtlich« »genau« lokalisierbaren »Eingriff in die Geschichte« dar, welcher in ein »Davor« und »Danach« »teile«.65 Eine Zukunftsorientierung des Christentums zeigt sich außerdem in den »Versprechungen« (AC 41, KSA 6, 215) eines »Reichs Gottes« oder »Himmelreichs« (AC 34, KSA 6, S. 206). Nietzsche betrachtet die christliche Hervorhebung der Zeit unter anderem als Ursache für die Entfremdung und Schwächung des Menschen: »Je mehr wir an Alles, was war und sein wird, denken, um so bleicher wird uns Das, was gerade jetzt ist« (M: Fünftes Buch, KSA 3, 269). Gott als Ursache und Ziel von allem,66 wird zum Muster für jede Form von Teleologie67 und »Ursachentrieb« (GD: Die vier grossen Irrthümer 4, KSA 6, 92).68 Dabei ist bedeutend, dass das Christentum, anders als der 63 64
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68
Vgl. Blumenbergs Gegenüberstellung von ›Mythos‹ und ›Dogma‹, s. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos [Auszug], S. 208-218. Vgl. zur Zeitlichkeit des Christentums, Wolfhart Pannenberg: »Die weltgründende Funktion des Mythos und der christliche Offenbarungsglaube« [Auszug], in: Texte zur modernen Mythentheorie, hg. von (u.a.) Wilfried Barner (Stuttgart: Reclam 2003), S. 267-270. Olof Gigon, Die antike Kultur und das Christentum, S. 143-145. Vgl. AC 15, KSA 6, 181: Das Christentum gehe von Ursachen, Wirkungen und teleologischen Entwicklungen aus, deren Grundpfeiler Gott sei. S. z.B. das christliche Ideal zielgerichteten Handelns, s. GD: Die vier grossen Irrthümer 2, KSA 6, 89: »Die allgemeinste Formel, die jeder Religion und Moral zu Grunde liegt, heisst: ›Thue das und das, lass das und das – so wirst du glücklich! […]‹.« Vgl. M: Erstes Buch 44, KSA 3, 51: »[…] dass man stets voraussetzte, von der Einsicht in den Ursprung der Dinge müsse des Menschen Heil abhängen […].«
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
griechische Mythos, wo göttliche Wesen die »ungeordnete Materie« nur »ordnen«, eine »Schöpfung« »der Welt aus dem Nichts« durch Gott annimmt,69 so dass die Welt ausschließlich auf Ihn zurückzuführen ist. Die Verkörperung Gottes in Jesus Christus verändert schließlich auch die »Stellung des Menschen«.70 Während die Antike eher »die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens« aufzeigte, verleiht Christus, welchem das »göttliche Allwissen« durch Gott »mitgeteilt« wurde,71 dem Menschen die Fähigkeit, die Wahrheit und das Gute zu erkennen.72 Eine »Sonderstellung innerhalb des Kosmos« wird dem Menschen, anders als in der Antike, schon im Alten Testament zugesprochen, wenn erzählt wird, wie ihn Gott nach seinem Abbild schuf.73 So lässt sich im Christentum, ähnlich wie in den Wissenschaften, eine verstärkte Hinwendung zum Einzelsubjekt feststellen. Wie bereits das erste Buch Mose deutlich macht, wird nicht nur Gott als »Subjekt« und »Ursache« der Schöpfung (diese als »Wirkung« eines »Willens«) gedacht,74 sondern auch dessen Abbild, der Mensch, ist Träger einer persönlichen Seele (Nietzsche spricht von der christlichen »Seelen-Atomistik«, JGB: Erstes Hauptstück 12, KSA 5, 27).75 Somit steigt in Jesu Nachfolge die individuelle Verantwortung76 und das Ich-Bewusstsein. Der Mensch steht außerdem in einem persönlichen Verhältnis zu einem Gott, der zugleich »Vater« und »Richter« ist.77 Nietzsche beschreibt das christliche Verhältnis von Gott und Mensch nicht ohne Ironie: Und dieses beständige Auf-du-und-du mit Gott des schlechtesten Geschmacks! Diese jüdische, nicht bloss jüdische Zudringlichkeit gegen Gott mit Maul und Tatze! […] (GM: Dritte Abhandlung 22, KSA 5, 394) Diesem Gott gegenüber fühlt sich der Mensch schuldig, bekennt seine Sünden und bittet um Vergebung.78 Nietzsche betrachtet die Pervertierung des natürlichen Schuldgefühls, das nun unter dem Begriff der ›Sünde‹ erscheint (diese als die »priesterliche Umdeutung des thierischen ›schlechten Gewissens‹«, GM: Dritte 69 70 71 72 73 74
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Olof Gigon, Die antike Kultur und das Christentum, S. 164. Ebd., S. 143. Ebd., S. 147. Vgl. ebd., S. 153. Ebd., S. 170. S. GM: Erste Abhandlung 13, KSA 5, 279; GD: Die vier grossen Irrthümer 3, KSA 6, 91; JGB: Drittes Hauptstück 54, KSA 5, 73. Obgleich Nietzsche das Denken in Subjekt-Objekt-Kategorien bzw. nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung sehr wohl auf die platonisch-christliche Tradition zurückführt, fehlt eine explizite Anwendung auf den alttestamentarischen Schöpfergott. JGB: Erstes Hauptstück 12, KSA 5, 27: »[…] die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon«. Vgl. Olof Gigon, Die antike Kultur und das Christentum, S. 143, 153 bzw. 157. Ebd., S. 155. Vgl. ebd., 154.
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Abhandlung 20, KSA 5, 389), als Resultat der christlichen Betonung der Verantwortung und des ›freien Willens‹ und sieht darin das »verhängnisvollste« Kunststück der religiösen Interpretation« (ebd.): Das stolze Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich […] ist zum Instinkt geworden […]: – wie wird er ihn heissen […]? Aber es ist kein Zweifel: dieser souveraine Mensch heisst ihn sein Gewissen… (GM: Zweite Abhandlung 2, KSA 5, 294) Die Menschen wurden »frei« gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, – um schuldig werden zu können: folglich musste jede Handlung als gewollt […] gedacht werden […]. (GD: Die vier grossen Irrthümer 7, KSA 6, 95) »Ich leide: daran muss irgend Jemand schuld sein« – also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm: »Recht so, mein Schaf! irgend wer muss daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer […] du selbst bist an dir allein schuld!« (GM: Dritte Abhandlung 15, KSA 5, 375) Der christliche »Seelen-Begriff« bzw. der Glaube an das freie, willentlich handelnde Ich, sei Nietzsche zufolge, bis in unsere sprachlich-grammatischen Gewohnheiten, wie etwa im Denken in den Kategorien Subjekt, Prädikat und Objekt erkennbar (JGB: Drittes Hauptstück 54, KSA 5, 73). Folgt man Nietzsches Ausführungen zum ›Nihilismus‹, der »Verdüsterung und Verhässlichung Europa’s« (JGB: Siebentes Hauptstück 222, KSA 5, 156), verbunden mit einer »krankhaften Empfindlichkeit und Reizbarkeit für Schmerz« (JGB: Neuntes Hauptstück 293, KSA 5, 236), so erscheint das Christentum als das letzte Glied einer Entwicklung, im Laufe derer sich die abendländische Kultur schrittweise von der Welt des Mythos und der vorsokratischen Kosmologien entfernt habe. Das Ergebnis sei das monotone, formlose Leben des »Herdenmenschen« (JGB: Fünftes Hauptstück 199, KSA 5, 120) oder »letzten Menschen« (Za I: Zarathustra’s Vorrede 5, KSA 4, 19), der nach nichts anderem mehr strebe, als zwischen den kleinen Dingen des modernen Alltags in Sicherheit und Behaglichkeit zu leben: Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann. […] Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. […] »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. […] (ebd.)
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
[…] zum Tiktak des kleinen Glücks möchten sie meinen Fuss überreden. Ich gehe durch diess Volk und halte die Augen offen: sie sind kleiner geworden und werden immer kleiner: – das aber macht ihre Lehre von Glück und Tugend. Sie sind nämlich auch in der Tugend bescheiden – denn sie wollen Behagen. […] (Za III: Von der verkleinernden Tugend 2, KSA 4, 213) Als oberste Tugend gelte ihm, durch »Gemeinsinn […] Rücksicht, Fleiss, Mässigkeit, Bescheidenheit« und »Nachsicht« (JGB: Fünftes Hauptstück 199, KSA 5, 120) zur Erhaltung der ›Heerde‹ beizutragen (ebd. bzw. FW: Erstes Buch 1, KSA 3, 369). Übrig bleibe angesichts der zunehmenden »Anähnlichung« der Menschen (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 37, KSA 6, 138) »eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges« (JGB: Drittes Hauptstück 62, KSA 5, 83). Den herrschenden Prinzipien des Gemeinwesens, der Nützlichkeit und der christlichen Nächstenliebe sei es geschuldet, so Nietzsche, dass »der moderne Mensch an einer geschwächten Persönlichkeit leide« (UB II 5, KSA 3, 279).79 In Sorge um seine Ruhe und vermeintliche Sicherheit versuche der ›Mensch der Herde‹, jede Art von Skepsis und Furcht auszublenden und sich stattdessen an Regeln von außen zu klammern: […] [der] Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit: »wir wollen, dass es irgendwann einmal Nichts mehr zu füchten giebt!« […] (JGB: Fünftes Buch 201, KSA 5, 123) Sein innerlicher Kanon nämlich lautet: »Ich will Nichts sehen, was der üblichen Meinung über die Dinge widerspricht! Bin ich dazu gemacht, neue Wahrheiten zu entdecken? Es giebt schon der alten zu viele.« (FW: Erstes Buch 25, KSA 3, 399) Die Tragik dabei sei, dass der Mensch die gewohnten Gebote zwar einhalte und befolge, sie im Innersten jedoch weder verstehe, noch an sie glaube: Nietzsche stellt einen »Niedergang des europäischen Theismus« (JGB: Drittes Hauptstück 53, KSA 5, 72), »des Glaubens an den christlichen Gott« fest. Das Christentum sei »unnatürlich geworden«, es habe restlos an Leben verloren (UB II 7, KSA 3, 297). Mit dieser Entwicklung betrachtet Nietzsche die abendländische, in den ›Nihilismus‹ mündende Dekadenz als abgeschlossen: Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde – was ist heute Nihilismus, wenn er nicht das ist?… Wir sind des Menschen müde… (GM: Erste Abhandlung 13, KSA 5, 278) Er selbst nimmt sich aus dieser Kulturkritik nicht aus, auch er sei »in Fragen der décadence erfahren« (EC: Warum ich so weise bin 1, KSA 6, 265), sei »nicht völlig 79
S.a. der »objektive« Mensch als »ein Werkzeug, ein Stück Sklave« (JGB: Sechstes Hauptstück 207, KSA 5, 135f) bzw. der »Mangel an Person« als Preis der »Selbstlosigkeit« (FW: Fünftes Buch 345, KSA 3, 577; FW: Viertes Buch 328, KSA 3, 555).
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von der Krankheit verschont« (JGB: Achtes Hauptstück 251, KSA 5, 192f), habe das entfremdende Leben eines Philologen gelebt (EH: Warum ich so klug bin 2, KSA 6, 283; EH: Menschliches, Allzumenschliches 3, KSA 6, 325) und körperliches Leiden kennengelernt (EC: Warum ich so weise bin 1, KSA 6, 264f), doch zugleich sei er »das Gegenstück eines décadent« (ebd. 2, KSA 6, 267). Symptomatisch für ein solches Gegengewicht zur Dekadenz der Kultur sei, sich ihres Nihilismus bewusst zu werden und bis zum »Ekel« unter ihm zu leiden: Was macht heute unsern Widerwillen gegen »den Menschen«? – denn wir leiden am Menschen, es ist kein Zweifel. (GM: Erste Abhandlung 11, KSA 5, 277) Wer nicht im Verkehr mit Menschen gelegentlich in allen Farben der Noth, grün und grau vor Ekel, Überdruss, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung schillert, der ist gewiss kein Mensch höheren Geschmacks […]. (JGB: Zweites Hauptstück 26, KSA 5, 44) Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse, was ich verachte, wen ich verachte: der Mensch von heute ist es, der Mensch, mit dem ich verhängnisvoll gleichzeitig bin. Der Mensch von heute – ich ersticke an seinem unreinen Athem… (AC 38, KSA 6, 209) Deutschland gilt Nietzsche dabei als das Land des ›Nihilismus‹ schlechthin: Deutschland gilt immer mehr als Europa’s Flachland. – Ich suche noch nach einem Deutschen, mit dem ich auf meine Weise ernst sein könnte […]. (GD: Was den Deutschen abgeht 3, KSA 6, 105) Der »deutsche Geist« ist meine schlechte Luft: ich athme schwer in der Nähe dieser Instinkt gewordnen Unsauberkeit in psychologicis […]. (EH: Der Fall Wagner 3, KSA 6, 361) Gegen Ende seines bewussten Lebens steigert sich Nietzsche daher, in Abgrenzung zu seiner eigentlichen Kulturheimat Deutschland, in die Familienlegende80 hinein, nach welcher die Familie von einem »polnischen Edelmann« (EH: Warum ich so weise bin 3, KSA 6, 268) abstamme.81 80 81
S. Ivo Frenzel, Friedrich Nietzsche in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 11. S.a. EH: Warum ich so klug bin 7, KSA 6, 291; EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 2, KSA 6, 301; bzw. 1223, 29.12.1888, KSB 8, 561: »Ich halte ernsthaft die Deutschen für eine hundsgemeine Art Mensch und danke dem Himmel, daß ich in allen meinen Instinkten Pole und nichts Andres bin.«
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
Mit Nietzsches Diagnose und Analyse des abendländischen Nihilismus ist schließlich der Hintergrund gezeichnet, vor welchem er die Destruktion der absoluten Wahrheiten in Angriff nimmt.
2.1.2
Nietzsche als paradoxer Aufklärer: Die ›genealogische‹ Methode und die Destruktion der absoluten Wahrheiten
Bereits bis zu diesem Punkt lässt Nietzsches Diskurs eine Eigenart erkennen, welche sich im Laufe seiner Wahrheitskritik als maßgebend herausstellen soll: Im selben Gestus, mit dem er den gesamteuropäischen Schwächezustand auf das Erstarken des rationalen, begrifflichen Denkens zurückführt, bedient er sich selbst rationaler Muster, um seinen Standpunkt argumentativ und in Form von Schriften darzulegen, die eindeutig an ein Publikum gerichtet sind. Damit stellt sich Nietzsche von Anfang an das Problem einer selbstbezüglichen Vernunftkritik, welchem er häufig selbst Ausdruck verleiht. Wie Josef Simon in einem Aufsatz feststellt, ist er sich bei all seiner Kritik, »des [eigenen] Befangenseins in tradierte Strukturen« »bewusst«.82 Seine Wahrheits- und Sprachkritik tut seinem Denken somit keinen Abbruch, es ist vielmehr die Bedingung jener extremen Skepsis, mit welcher er die abendländische Metaphysik schrittweise verabschiedet. Seine ausgeprägte Denktätigkeit führt Nietzsche auf die frühe Erfahrung von Krankheit und Einsamkeit zurück, welche aus seinen »Gedanken« »die grössten Ereignisse« (JGB: Neuntes Hauptstück 285, KSA 5, 232) machte:83 In einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wusste ich bereits, dass mich nie ein menschliches Wort erreichen würde: hat man mich je darüber betrübt gesehn? (EH: Warum ich so klug bin 10, KSA 6, 297) [Die Krankheit] beschenkte mich mit der Nöthigung zum Stillliegen, zum Müssiggang, zum Warten und Geduldigsein…Aber das heisst ja denken!… (EH: Menschliches, Allzumenschliches 4, KSA 6, 326) »Zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit« zählt Nietzsche daher nicht nur »ein[en] gewisse[n] Ascetismus«, »eine harte und heitere Entsagsamkeit« (GM: 82
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Josef Simon: »Grammatik und Wahrheit. Über das Verhältnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der metaphysischen Tradition«, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 1 (1972), S. 1f. Zu diesem Schluss führt auch die Lektüre seiner ›Autobiografie‹ Ecce homo, in der auf die im zweiten Vorwort geäußerte Autorabsicht »Und so erzähle ich mir mein Leben« (EH: Vorwort, KSA 6, 263) eine Übersicht über die Entstehung und die Inhalte seiner Werke folgt; vgl. dazu Rüdiger Schmidt: Nietzsche für Anfänger. Ecce homo (München: dtv 2000), S. 32 u. 39: Ecce homo habe wenig mit einer Autobiografie zu tun, die eigentlichen »Hauptereignisse« von Nietzsches »Leben« seien seine Gedanken.
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Dritte Abhandlung 9, KSA 5, 356), sondern auch das »bei Seite gehen, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden«, das »langsam […] lesen« (M: Vorrede 5, KSA 3, 17). Der skeptische Geist begnügt sich nicht mit dem scheinbar Gegebenen, der »Oberfläche« oder dem »Mantel« der Dinge (JGB: Siebentes Hauptstück 230, KSA 5, 168), er »steigt in die Tiefe«, »bohrt […] in den Grund« (M: Vorrede 2, KSA 3, 12) und wirft überall dort »jene Fragen nach dem Warum, Woher, Wohin« (UB I 8, KSA 1, 203) auf, wo andere sich in Sicherheit wiegen. Die Bilder, mit denen Nietzsche die Tätigkeit des Hinterfragens und Entlarvens umschreibt, sind vielfältig, drücken jedoch meist einen Akt der Gewalt und der Zerstörung aus (»die Lust am Vernichten«, EH: Warum ich ein Schicksal bin 2, KSA 6, 366; vgl. EH: Also sprach Zarathustra 8, KSA 6, 349). Der Skeptiker erscheint nicht nur als derjenige, der dem »Gewohnten, Ueberlieferten, Geheiligten« »widersprechen« »kann«, »welcher in einem unerhörten Grade Nein sagt, Nein thut, zu Allem, wozu man bisher Ja sagte« (EH: Also sprach Zarathustra 6, KSA 6, 345), sondern als »Zerstöre[r]«, »Zerbreche[r]« (UB III 4, KSA 1, 372), als »Thauwind«, der »Eis und andre allzudünne ›Realitäten‹ aufbricht« (FW: Fünftes Buch 377, KSA 3, 629), als »wüthender Stier«, »der mit zornigen Hörnern Eis bricht« (Za III: Von alten und neuen Tafeln 8, KSA 4, 252), als der »Zerbrecher« »alter Tafeln« (ebd u.a. 7, KSA 4, 251), als derjenige, der »Götzen« »aushorcht«, »mit dem Hammer Fragen« »stellt« (GD: Vorwort, KSA 6, 57), um schließlich selbige »Götzen« »umzuwerfen« (EH: Vorwort 2, KSA 6, 258). Den Dogmatikern mangele es, so der gelernte Altphilologe, an »Philologie«, der »Kunst, gut zu lesen […], ohne […] durch Interpretation[en] zu [ver]fälschen« (AC 52, KSA 6, 233). Die philologische Textanalyse assoziiert er mit der Tätigkeit des Arztes (AC 47, KSA 6, 226), welche den Dingen auf den Grund geht, »das Messer« »führt« (AC 7, KSA 6, 174) und auf diese Weise Ungeahntes zutage fördert. So erklären sich Formulierungen, in denen das Hinterfragen des ›Wahren‹ bzw. das Bloßlegen von Irrtümern mit dem chirurgischen Arbeiten verglichen wird: Bisher haben alle diese [Philosophen] […] die Grösse ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tugenden der Zeit das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten, verriethen sie, was ihr eignes Geheimnis war […]. (JGB: Sechstes Hauptstück 212, KSA 5, 145) […] ja, sie gestehen bei sich eine Lust am Neinsagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu führen weiss […] (JGB: Sechstes Hauptstück 210, KSA 5, 143) In einem weiteren Bild wird der Skeptiker als »Nordwind«, die verabschiedeten ›Wahrheiten‹ als ›reife Früchte‹, und der ›Herbst‹ folglich als Stunde der eigentlichen Wahrheit dargestellt:
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Die Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süss; und indem sie fallen, reisst ihnen die rothe Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen. (Za II: Auf den glückseligen Inseln, KSA 4, 109) Ein grosser Wind bläst zwischen den Bäumen, und überall fallen Früchte nieder – Wahrheiten. Es ist die Verschwendung eines allzureichen Herbstes darin: man stolpert über Wahrheiten, man tritt selbst einige todt […] (EH: GötzenDämmerung 2, KSA 6, 354) Der Skeptiker sei »ein unbarmherziger Geist«, »der alle Schlupfwinkel kenne, wo das Ideal heimisch [sei], – wo es seine Burgverliesse und gleichsam seine letzte Sicherheit [habe]« (EH: Menschliches, Allzumenschliches 1, KSA 6, 322f). Das kritische Hinterfragen beschreibt Nietzsche mit dem aufklärerischen Symbol des Lichts, womit er sich indirekt als Nachfolger der Aufklärung bekennt: Eine Fackel in den Händen, die durchaus kein »fackelndes« Licht giebt, mit einer schneidenden Helle wird in diese Unterwelt des Ideals hineingeleuchtet. […] Ein Irrthum nach dem anderen wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt – es erfriert… (EH: Menschliches, Allzumenschliches ebd.) Vor dem Hintergrund, dass Nietzsche, während er inhaltlich die Grundpfeiler der Aufklärung, so vor allem das rationale Subjekt, die moderne Wissenschaft und deren Wahrheitsanspruch angreift, dies selbst nur rational, durch eine vernunftgesteuerte Wahrheitskritik, zu Wege bringt, kann er tatsächlich, wie im Titel der von Renate Reschke herausgegebenen Aufsatzsammlung, zugleich als »radikaler Gegenaufklärer« und »Radikalaufklärer«84 bezeichnet werden. Das Vorgehen Nietzsches besteht darin, »das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen«, »um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen« (GT 18, KSA 1, 118). Nietzsche ist sich darüber im Klaren, dass auch er als skeptischer Kritiker einem gewissen moralischen Imperativ verpflichtet bleibt, denn bei aller Wahrheitskritik geht es selbst ihm noch um ein Richtigstellen im Sinne einer letzten Wahrheit, »Redlichkeit« (z.B. FW: Zweites Buch, KSA 3, 464f) oder »Rechtschaffenheit« (z.B. GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 16, KSA 6, 121), welche jedoch in die Einsicht mündet, dass es eben die Wahrheit nicht gebe: 84
Renate Reschke (Hg.): Nietzsche. Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer (Berlin: Akademie Verlag 2004).
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Aber es ist kein Zweifel, auch zu uns noch redet ein »du sollst«, auch wir noch gehorchen einem strengen Gesetze über uns, – und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hörbar macht, die auch wir noch zu leben wissen, hier, wenn irgend worin, sind auch wir noch Menschen des Gewissens […]. (M: Vorrede 4, KSA 3, 16) […] dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat […]. (FW: Fünftes buch 344, KSA 3, 577) Die Überwindung des Gottglaubens und der christlichen Moral führt Nietzsche auf ein Gefühl der »Moralität« und der »intellektuellen Sauberkeit« zurück, während er den christlichen Glauben an Gott der ›Unaufrichtigkeit‹ gleichsetzt: Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelicatesse gegen uns Denker –, im Grunde sogar bloss ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken!… (EH: Warum ich so klug bin 1, KSA 6, 279) Man sieht, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. (FW: Fünftes Buch 357, KSA 3, 600) Als Leser begegnet man in Nietzsches Schriften daher zwei unterschiedlichen Wissenschaftsbegriffen. Negativ konnotiert ist der Begriff in der Bedeutung der modernen, sich auf metaphysische Prinzipien, wie etwa den Glauben an feste Richtlinien und Wesenheiten, berufenden ›Wissenschaft‹. Als solche sei sie ›unredlich‹ und eigentlich ›unwissenschaftlich‹, wobei das Attribut ›unwissenschaftlich‹ bereits einen positiven Wissenschaftsbegriff impliziert: Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Nothwehr gegen – die Wahrheit? (GT: Versuch einer Selbstkritik 1, KSA 1, 12f) Man beachte doch, dass weder unter den sokratischen, noch unter den christlichen Tugenden die Redlichkeit vorkommt: diese ist eine der jüngsten Tugenden […]. (M: Fünftes Buch 456, KSA 3, 275) Kritisiert wird somit die dogmatische Wissenschaft, welche mit dem Christentum die Grundvoraussetzungen teile. Eine Infragestellung des Christentums beinhalte daher auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgläubigkeit: […] ein starker Glaube, der selig macht, ist ein Verdacht gegen Das, woran er
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glaubt, er begründet nicht »Wahrheit«, er begründet eine gewisse Wahrscheinlichkeit – der Täuschung. (GM: Dritte Abhandlung 24, KSA 5, 399) Nein! Man komme mir nicht mit der Wissenschaft, wenn ich nach dem natürlichen Antagonisten des asketischen Ideals suche […]. Dazu steht die Wissenschaft lange nicht genug auf sich selber […]. Diese Beiden, Wissenschaft und asketisches Ideal, sie stehen ja auf Einem Boden […] nämlich auf der gleichen Überschätzung der Wahrheit (richtiger: auf dem gleichen Glauben an die Unabschätzbarkeit, Unkritisierbarkeit der Wahrheit), eben damit sind sie sich nothwendig Bundesgenossen, – so dass sie, gesetzt, dass sie bekämpft werden, auch immer nur gemeinsam bekämpft und in Frage gestellt werden können. (GM: Dritte Abhandlung 25, KSA 5, 402) Insofern Nietzsche jede Art der Dogmatik durchschaut und sie als ›Lüge‹ entlarvt, kann er von sich behaupten, »der erste anständige Mensch« zu sein (EH: Warum ich ein Schicksal bin 1, KSA 6, 365). Aus ihm spreche das eigentlich »wissenschaftliche Gewissen« (GM: Dritte Abhandlung 23, KSA 5, 396), die »Redlichkeit« (FW: Zweites Buch 107, KSA 3, 464) und »jene Instinkt und Leidenschaft gewordene Rechtschaffenheit, welche der ›heiligen Lüge‹ noch mehr als jeder andren Lüge den Krieg mach[e]« (AC 36, KSA 6, 208). Voraussetzung seiner Wissenschaftskritik ist daher eine ›reinere‹ Form von ›Wissenschaft‹, welche im Dienst einer umfassenden, neuartigen ›Aufklärung‹ stehe, und Wissenschaftsbereichen wie etwa der Geschichtswissenschaft eine neue Richtung gebe: […] die Historie, das Verständniss des Ursprungs und der Entwickelung […], nachdem sie alle eine Zeit lang hülfreiche Gesellen des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes schienen, haben eines Tages eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien eben jener Aufklärung, wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen […]. (M: Drittes Buch 197, KSA 3, 172) Dies erklärt schließlich auch, warum Nietzsche, der Wissenschaftskritiker, selbst ein Buch unter dem Titel Die fröhliche Wissenschaft herausgibt. Sein Ideal ist die ›Wissenschaft‹ des »freien Geistes«, welcher »jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können« (FW: Fünftes Buch 347, KSA 3, 583). Der ›freie Geist‹ zeichne sich somit durch eine extreme Skepsis aus, welche selbst vor letzten Überzeugungen oder Sicherheiten nicht haltmache: Man lasse sich nicht irreführen: grosse Geister sind Skeptiker. Zarathustra ist ein Skeptiker. Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Überkraft des Geistes beweist sich durch Skepsis. […] Ein Geist, der Grosses will […] ist mit Nothwendigkeit Skep-
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tiker. Die Freiheit von jeder Art Überzeugungen gehört zur Stärke, das Frei-Blickenkönnen… (AC 54, KSA 6, 236) Er weise einen »Spür- und Spieltrieb« auf, eine »jägerische Lust an verschmitzten Fuchsgängen des Gedankens, so dass nicht eigentlich die Wahrheit gesucht, sondern das Suchen gesucht [werde]« (UB III 6, KSA 1, 394). Sein stetes Umherschweifen wird eingefangen im Bild des »Wanderers« (FW: Fünftes Buch 380, KSA 3, 632), des »Heimatlosen«, des »guten Europäers« (ebd. 377, KSA 3, 631f) oder des »Argonauten« (ebd. 382, KSA 3, 636). Nur derjenige, so wird hier deutlich, der Abstand zu seinem gewohnten Umfeld, den eigenen Sitten und Normen nimmt, kann diese in ihrer absoluten Gültigkeit relativieren. Als ›Wanderer‹ wird auch der ›Schatten‹ Zarathustras bezeichnet, womit bereits die tragische Seite der skeptischen Tätigkeit anklingt: [Der Schatten:] Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen [Zarathustras] Fersen her gieng: immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim […]. »Wo ist – mein Heim?« Darnach frage und suche und suchte ich […]. Also sprach der Schatten, und Zarathustra’s Gesicht verlängerte sich bei seinen Worten. »Du bist mein Schatten! sagte er endlich, mit Traurigkeit. Deine Gefahr ist keine kleine, du freier Geist und Wanderer! […].« (Za IV: Der Schatten, KSA 4, 339ff) Ohne Halt zu leben, alles immer wieder aufs Neue zu hinterfragen und jede neu erlangte Wahrheit abermals umzustoßen, verlangt dem ›freien Geist‹ »Muth und Härte gegen sich« ab: Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der Werthmesser. (EH: Vorwort 3, KSA 6, 259) Möchte er die »Probe der Unabhängigkeit« bestehen, darf er nicht der Versuchung nachgeben, sich, entgegen seinen Prinzipien, in eine Scheinwirklichkeit zu flüchten, sei dies »eine Person«, »ein Vaterland«, »ein Mitleiden«, »eine Wissenschaft« oder die »eignen Tugenden«. Man dürfe nicht »hängen bleiben«, so Nietzsche, ja man »müsse wissen«, »sich zu bewahren« (JGB: Zweites Hauptstück 41, KSA 5, 59). Die ›höheren Menschen‹, in welche Zarathustra zunächst große Hoffnungen setzt, da sie, wie er, den Nihilismus ihrer Zeit erkennen und dem alten Glauben abgeschworen haben, bestehen gerade diese Probe nicht. Anders als er, etragen sie das Leben ohne Gewissheiten nicht und verfallen einem neuen Ideal. Als Zarathustra seine Höhle betritt, ertappt er sie, wie sie den Esel der ›Könige‹ anbeten: Und, fürwahr!, alle diese höheren Menschen, die zwei Könige, der Papst ausser Dienst, der schlimme Zauberer, der freiwillige Bettler, der Wanderer und Schatten, der alte Wahrsager, der Gewissenhafte des Geistes und der hässlichste Mensch: sie lagen Alle gleich Kindern und gläubigen alten Weibchen auf den Knien und beteten den Esel an. Und eben begann der hässlichste Mensch zu gur-
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geln und zu schnauben […] als er es aber wirklich bis zu Worten gebracht hatte, siehe, da war es eine fromme seltsame Litanei zur Lobpreisung des angebeteten und angeräucherten Esels. (Za IV: Die Erweckung, KSA 4, 388) Die große Gefahr des ›freien Geistes‹ besteht somit darin, am Ende allen Zweifelns und Kritisierens in das ›Dogma‹ zurückzufallen. So habe beispielsweise die »Niederlage der theologischen Astronomie« durch Kopernikus, Nietzsche zufolge, den Menschen nicht »weniger bedürftig nach einer Jenseitigkeits-Lösung« gemacht (GM: Dritte Abhandlung 25, KSA 5, 404) und der Atheismus als »Abstinenz« von jedem »Ideal«, münde mitunter in den »Rest von Ideal«, in die »Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet« (ebd. 27, KSA 5, 409). Es ist nicht zu übersehen, dass Nietzsche auch den Wissenschafts- und Wahrheitstrieb des ›freien Geistes‹ kritisch betrachtet. Dieser dürfe die eigene Wahrheitssuche nicht verabsolutieren, da sie sonst – wie Helmut Reinalter Nietzsches Gedanken treffend zusammenfasst – »zur Pseudoaufklärung oder Ideologie« »degeneriere« und sich selbst »zerstöre«:85 Unsere Redlichkeit, wir freien Geister, – sorgen wir dafür, dass sie nicht unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit werde! […] – sorgen wir dafür, dass wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu Heiligen und Langweiligen werden! (JGB: Siebentes Hauptstück 227, KSA 5, 163) Was Nietzsche anstrebt, ist mit Jürgen Habermas’ Worten, eine »Vernunftkritik, die sich außerhalb der Vernunft stellt« und »zum ersten Mal auf die Einbehaltung ihres emanzipatorischen Gehaltes« »verzichtet«,86 eine Vernunftkritik also, die keiner Wahrheit mehr untersteht und zum Selbstzweck wird. »Aufklärung als ›wahre Aufklärung‹ oder ›neue Aufklärung‹«, so Hans-Martin Gerlach, »will bewusst nicht ans Ende, sie relativiert die festen letzten Gründe, aus denen heraus gedacht und gehandelt wird.«87 Es versteht sich von selbst, dass der ›freie Geist‹, der sich bewusst von der ›Herde‹ und deren Normen abgrenzt, ein Fremder innerhalb der Gesellschaft – ein ›Unzeitgemäßer‹ – ist, der »gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit« »wirkt« (UB II: Vorwort, KSA 1, 247). Er macht sich zum »Feind« und zur »Gefahr« der »Guten und Gerechten« (Za I: Zarathustra’s Vorrede 8, KSA 4, 23), die um ihre »alten Grenzsteine« und »Pietäten« fürchten und in jedem Erneuerer den »Bösen« erkennen (FW: Erstes Buch 4, KSA 3, 376). Indem er dem Althergebrachten 85
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Helmut Reinalter: »Aufklärung als Kritik und Kritik an der Aufklärung«, in: Nietzsche. Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer, hg. von Renate Reschke (Berlin: Akademie Verlag 2004), S. 39. Jürgen Habermas: »Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe«, in: ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985), S. 117ff. Hans-Martin Gerlach: »Friedrich Nietzsche und die Aufklärung«, in: Nietzsche. Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer, hg. von Renate Reschke (Berlin: Akademie Verlag 2004), S. 27.
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widerspreche und vom Gewohnten abweiche, erscheint er der übrigen Gesellschaft zwangsläufig als ›Verbrecher‹ oder ›Wahnsinniger‹: Jeder, der das bestehende Sittengesetz umwarf, hat bisher zuerst immer als schlechter Mensch gegolten […] (M: Erstes Buch 20, KSA 3, 33) […] [die] Einsicht, dass zwischen Verbrechern und Geisteskranken kein wesentlicher Unterschied besteht: vorausgesetzt, dass man glaubt, die übliche moralische Denkweise sei die Denkweise der geistigen Gesundheit. (M: Drittes Buch 202, KSA 3, 176) Der ›freie Geist‹ ist sich jedoch auch selbst ein Fremder, sein skeptisches Hinterfragen macht auch vor seinem eigenen Denken, Fühlen und Handeln keinen Halt, so dass er sich zum »Experiment« (M: Fünftes Buch 453, KSA 3, 274) und »Opfer« (ebd. 4, KSA 3, 291) wird. Seine gewohnte Daseinsform ist die Einsamkeit, welche ihm nicht selten zur Last und Schwere wird. Nietzsche beschreibt die Einsamkeit des ›freien Geistes‹ in den Bildern extremer Naturzustände: »Gebirge« (GM: Zweite Abhandlung, KSA 5, 336), »Abgründe« (EC: Warum ich so gute Bücher schreibe 3, KSA 6, 302), »Kälte« (z.B. AC 57, KSA 6, 244), »Eis« (z.B. Za II: Das Nachtlied, KSA 4, 138), »Wüste« (z.B. Za II: Von den berühmten Weisen, KSA 4, 133) und Hitze (die Rede ist von »Durst«, s. Za II: Das Nachtlied ebd.) – sind, metaphorisch gesprochen, die lebenswidrigen Bedingungen, welchen der ›freie Geist‹ ausgesetzt ist: – Wer die Luft meiner Schriften zu athmen weiss, weiss, dass es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft. Man muss für sie geschaffen sein, sonst ist die Gefahr keine kleine, sich in ihr zu erkälten. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer […] – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann gethan war. (EH: Vorwort 3, KSA 6, 258) […] denn ich komme aus Höhen, die kein Vogel je erflog, ich kenne Abgründe, in die noch kein Fuss sich verirrt hat. (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 3, KSA 6, 302) Diese Art von Leben, statt den bequemen Weg der ›Herdenmenschen‹ zu gehen, erfordere »Muth« (GD: Sprüche und Pfeile 2, KSA 3, 59), »Härte« (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 3, KSA 6, 303), »Tapferkeit« und »Männlichkeit« (M: Drittes Buch 172, KSA 3, 153). Nietzsche erweitert die bereits zur Bezeichnung des ›freien Geistes‹ eingeführte Metapher des ›Argonauten‹, wenn er dessen Bewusstwerdung und Reflexion mit dem Ausfahren des Schiffes, dem Verlassen des ›vertrauten Hafens‹ und dem Aufbrechen zu ›neuen Ufern‹ assoziiert.
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– Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! siehʼ dich vor! […] (FW: Drittes Buch 124, KSA 3, 480) […] ist man einmal mit seinem Schiff hierhin verschlagen, nun! wohlan! jetzt tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen aufgemacht! die Hand fest am Steuer! – wir fahren geradewegs über die Moral weg […]. (JGB: Erstes Hauptstück 23, KSA 5, 38) Das ›Neue‹ sei jedoch zugleich das Ungewisse, welches »Gefahren« und »Abenteuer« (FW: Fünftes Buch 377, KSA 3, 629) berge. Nietzsche stellt dem Fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft nicht umsonst das überlieferte Zitat des französischen Feldherrn Henri de La Tour D’Auvergne, Vicomte de Turenne (kurz Turenne) voran: »Carcasse, tu trembles? Tu tremblerais bien davantage, si tu savais, où je te mène.« (FW: Fünftes Buch, KSA 3, 573). Turennes Worte, die Furcht und Unheil im Ausblick auf eine seiner zu bestehenden Schlachten ausdrücken, leiten symbolisch die Auseinandersetzung mit dem bereits im Dritten Buch verkündeten ›Tod Gottes‹ ein. Zugleich trägt das Fünfte Buch jedoch die Überschrift »Wir Furchtlosen«, womit Nietzsche indirekt bereits die Überwindung von Angst und Verzweiflung vorwegnimmt. Der ›freie Geist‹ müsse, so Nietzsche, ein Mutiger, »Abenteurer«, »Forscher« und »Entdecker« (M: Fünftes Buch 432, KSA 3, 266; bzw. EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 3, KSA 6, 303) sein, welchem das Ungewisse keine Angst mache und welchem dergestalt eine große Experimentierfreude zu eigen sei. Nietzsches Methode der Wahrheitsdestruktion nimmt von der Überzeugung ihren Ausgang, dass alles, was als ›wahr‹ eingestuft werde, seinen Ursprung und Zweck nicht eigentlich in der Wahrheit und Vernunft habe, sondern vom Menschen willkürlich gesetzt sei und damit auf irrationale, zufällige, ja sogar physiologische Faktoren zurückgehe. Er bedient sich dabei einer Vorgehensweise, welche Michel Foucault, in Anlehnung an Nietzsches Werk Zur Genealogie der Moral, als ›genealogisch‹ bezeichnet.88 Während sich Nietzsche, Foucault zufolge, von der modernen, im Dienst der platonisch-christlichen Metaphysik stehenden Geschichtswissenschaft abgrenze, verfahre er selbst historisch, wenn er »der Herkunft«89 der moralischen Urteile und des Gott- und Ich-Glaubens nachspüre. In der Tat unterscheidet Nietzsche nicht nur zwischen zwei verschiedenen Arten von ›Wissenschaft‹ und ›Aufklärung‹, sondern auch zwischen einer »wirklichen Historie«90 und einer ›Historie‹ im Dienst der metaphysischen Verschleierung. Aufgabe der ›wirklichen‹ Historie sei 88 89 90
Michel Foucault (1971) : »Nietzsche, la généalogie, l’histoire«, in : ders., Dits et Écrits 1954-1988, II 1970-1975 (Paris : Gallimard 1994), 136-156. Ebd., S. 138. Dem metaphysisch besetzten Begriff ›Ursprung‹ ziehe Nietzsche, Foucault zufolge, den Begriff ›Herkunft‹ vor. Ebd., S. 146f.
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es, letztere als Lüge zu entlarven und dabei ihren inneren Mechanismus bloßzulegen, welcher darin bestehe, lineare Abläufe, Teleologien, Ursprünge und kohärente Gebilde91 zu entwerfen, wo diese in Wirklichkeit nicht gegeben seien. Nietzsche, so Foucault, breche daher Identitäten, Realitäten und Kontinuitäten auf92 und stelle die sogenannte ›Wahrheit‹ als das Ergebnis eines komplexen, zufälligen Zusammenwirkens physischer Kräfte dar: […] cet héritage n’est point un acquis, un avoir qui s’accumule et se solidifie; plutôt un ensemble de failles, de fissures, de couches hétérogènes […] le vrai sens historique reconnaît que nous vivons […] dans des myriades d’événements perdus. […] L’histoire effective […] porte ses regards au plus près, sur le corps, le système nerveux, les aliments et la digestion […] [elle] est beaucoup plus proche de la médicine que de la philosophie.93 Die ›genealogische‹ Methode wende sich daher nicht eigentlich gegen die Geschichte, sondern gegen das »déploiement métahistorique des significations idéales et des indéfinies téléologies« und gegen die »recherche de l’origine«.94 Nietzsches vertritt die grundsätzliche These, dass »Wahrheiten« »Illusionen« »sind«, »von denen man vergessen [habe], dass sie welche sind« (WL 1, KSA 1, 881). Der Mensch habe die »Verstellung«, die »Täuschung« und das »Maskirtsein« zur Erhaltung (WL 1, KSA 1, 876) nötig. Sein Intellekt oder Bewusstsein ertrage die Beliebigkeit nicht und schaffe sich Scheinrealitäten. Diese erfüllten die Aufgabe, »Sicherheit und Vertrauen« »einzuflößen« (M: Viertes Buch 248, KSA 3, 204). »Gründe«, »Absichten«, Werte und Identitäten seien folglich nur »hinzugelogen« (FW: Erstes Buch 29, KSA 3, 401). Das Leben sei eine »Maskerade« (FW: Fünftes Buch 352, KSA 3, 588) oder ein ›Rollenspiel‹, welches mit der ›Wirklichkeit‹ verwechselt werde: […] fast alle Europäer verwechseln sich in einem vorgerückteren Alter mit ihrer Rolle, sie selbst sind die Opfer ihres »guten Spiels«, sie selbst haben vergessen, wie sehr Zufall, Laune, Willkür damals über sie verfügt haben, als sich ihr »Beruf« entschied – und wie viele andre Rollen sie vielleicht hätten spielen können […]. (FW: Fünftes Buch 356, KSA 3, 595) Das Problem des Schauspielers hat mich am längsten beunruhigt […]. Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung als Macht herausbrechend […]; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein […]. (FW: Fünftes Buch 361, KSA 3, 608) 91 92 93 94
Vgl. ebd., S. 136-142. Ebd., S. 152-155. Ebd., S. 141 u. 149. Ebd., S. 136f.
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In seiner Funktion, Schein hervorzubringen, unterscheide sich das Wachleben deshalb nur unwesentlich vom Traum: Wir machen es auch im Wachen wie im Traume: wir erfinden und erdichten erst den Menschen, mit dem wir verkehren – und vergessen es sofort. (JGB: Viertes Hauptstück 138, KSA 5, 97) Nietzsche konzentriert sich bei seiner Wahrheitsdestruktion zunächst auf die herrschenden, meist christlich geprägten Werte, Normen und Sitten. Angesichts der Erfahrung, dass Werte zum einen wandelbar sind (Nietzsche spricht von den »moralischen Moden«, M: Zweites Buch 131, KSA 3, 122), zum anderen von Land zu Land verschieden sind (»Vieles, das diesem Volke gut hiess, hiess einem andern Hohn und Schmach: also fand ich’s«; Za I: Von tausend und Einem Ziele, KSA 4, 74), schließt er zügig, dass es unverrückbare, heilige Werte an sich nicht gebe. ›Werte‹ seien, so Nietzsche, eine Übereinkunft, welche Mitglieder einer Gemeinschaft passiv und damit unbewusst erwerben. Die eigentliche Konvention werde dabei vergessen: […] Sitten aber sind die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen. In Dingen, wo kein Herkommen befiehlt, giebt es keine Sittlichkeit […]. (M: Erstes Buch 9, KSA 3, 22) Die Sitte repräsentirt die Erfahrungen früherer Menschen über das vermeintlich Nützliche und Schädliche, – aber das Gefühl für die Sitte (Sittlichkeit) bezieht sich nicht auf jene Erfahrungen als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die Indiscutabilität der Sitte. (ebd. 19, KSA 3, 32) Ersichtlich werden moralische Gefühle so übertragen, dass die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und dass sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen nachmachen […]. (ebd. 34, KSA 3, 43) Nur durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen: er besitze eine Wahrheit […]. (WL 1, KSA 1, 878)
Wer gegen die Sitte verstoße, gelte zunächst als »Verbrecher« bzw. als »schlechter Mensch« (M: Erstes Buch 20, KSA 3, 33), nicht selten jedoch wandle sich das ehemals ›Schlechte‹ zum neuen ›Guten‹, die Sitte selbst wandle sich also: […] Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das giebt es nicht! Aus sich selber muss es sich immer wieder überwinden. (Za II: Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4, 149)
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Wandel der Moral. – Es giebt ein fortwährendes Umwandeln und Arbeiten an der Moral, – das bewirken die Verbrechen mit glücklichem Ausgange […]. (M: Zweites Buch 98, KSA 3, 89) Was eine Zeit als böse empfindet, ist gewöhnlich ein unzeitgemässer Nachschlag dessen, was ehemals als gut empfunden wurde, – der Atavismus eines älteren Ideals. (JGB: Viertes Hauptstück 149, KSA 5, 99) Um moralische Grundsätze als »moralische Vorurtheile« zu enttarnen, geht Nietzsche ihrer »Herkunft« (GM: Vorrede 2, KSA 5, 248) oder »Geschichte« (FW: Erstes Buch 7, KSA 3, 378f) nach: […] die Einsicht darüber, wie überhaupt jemals moralische Urtheile entstanden sind, würde dir diese pathetischen Worte verleiden […]. (FW: Viertes Buch 335, KSA 3, 562) Da die Natur, so Nietzsche, keine Werturteile kenne, könne es keine naturgegebenen ›Werte‹ geben. Erst der Mensch, »der Schätzende«, habe »in die Dinge« »Werthe« »gelegt«, ihnen einen »Menschen-Sinn« »geschaffen« (Za I: Von tausend und Einem Ziele, KSA 4, 75): Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben […]. (JGB: Erstes Hauptstück 9, KSA 5, 22) Werturteile seien somit nichts anderes als subjektive, egoistische, physiologisch bedingte Regungen (Nietzsche spricht von der »Selbstsucht« des »moralischen Urtheils«95 , FW: Viertes Buch 335, KSA 3, 562), welche dem Schutz des Einzelindividuums dienten (vgl. M: Erstes Buch 26, KSA 3, 37): […] und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständniss des Leibes gewesen ist. Hinter den höchsten Werthurtheilen, von denen bisher die Geschichte des Gedankens geleitet wurde, liegen Missverständnisse der leiblichen Beschaffenheit verborgen […]. (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 2, KSA 3, 348) 95
›Selbstsüchtig‹ sei v.a. der Anspruch, die subjektiven Empfindungen und Urteile müssten auch für andere Menschen gelten, s. FW: Viertes Buch 335, KSA 3, 562.: »Selbstsucht nämlich ist, sein Urtheil als Allgemeingesetz zu empfinden […].« Stattdessen solle der Mensch anerkennen, dass es sich um ein subjektives Gefühl handle, welches nicht zwingend von anderen geteilt werde, s. Za I: Von den Freuden- und Leidenschaften, KSA 4, 42: »Mein Bruder, wenn du eine Tugend hast, und es deine Tugend ist, so hast du sie mit Niemandem gemeinsam. […] So sprich und stammle: ›Das ist mein Gutes, das liebe ich, so gefällt es mir ganz, so allein will ich das Gute.‹«
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[…] die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte. (JGB: Fünftes Hauptstück 187, KSA 5, 107) Welche Gruppen von Empfindungen innerhalb einer Seele am schnellsten wach werden […] das bestimmt zuletzt ihre Gütertafel. Die Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas vom Aufbau seiner Seele […]. (JGB: Neuntes Hauptstück 268, KSA 5, 222) Was wir als »gut«, »schön«, »erhaben« oder »böse« bezeichnen, entspreche daher letztendlich unterschiedlichen »Seelenzuständen« (M: Viertes Buch 210, KSA 3, 190), nach denen wir »Phänomene« »moralisch« »ausdeuten« (JGB: Viertes Hauptstück 108, KSA 5, 92). Dass sich subjektive Wertschätzungen schließlich als gültige ›Moral‹ für ganze Gesellschaften durchsetzten, sei nicht auf ihre Nützlichkeit oder Ausnahmestellung zurückzuführen, sondern auf die Vorherrschaft der wertgebenden Einzelindividuen: […] das Urtheil »gut« rührt nicht von Denen her, welchen »Güte« erwiesen wird! Vielmehr sind es »die Guten« selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. […] [W]as ging sie die Nützlichkeit an! (GM: Erste Abhandlung 2, KSA 5, 259)96 Eine etymologische Untersuchung der Begriffe ›gut‹ und ›schlecht‹ führt Nietzsche zu der These, dass ›das Gute‹ eine Verwandtschaft mit den Begriffen »›vornehm‹, ›edel‹ im ständischen Sinne« aufweise, während ›das Schlechte‹ auf die Begriffe »gemein«, »pöbelhaft«, »niedrig« zurückgehe (ebd. 4, KSA 5, 261). Entgegen christlichen Vorstellungen meint er so z.B. das lateinische bonus von duonus in der Bedeutung eines »Mann[es] des Zwistes, der Entzweiung (duo)«, eines »Kriegsmann[es]« ableiten zu können (ebd. 5, KSA 5, 264). Dieser Zusammenhang sei im Christentum jedoch zugunsten einer anderen Bedeutung eliminiert worden. Der Begriff habe sich in der Folgezeit zum Attribut des »Elenden«, »Armen« und »Niedrigen« gewandelt (ebd. 7, KSA 5, 267). Die Einsicht in die Relativität von moralischen Wertmaßstäben löse, so Nietzsche, den Gegensatz zwischen ›moralischen‹ und ›unmoralischen‹ Verhaltensweisen, ›Moralität‹ und ›Unmoralität‹ auf: Sich seiner Unmoralität schämen: das ist eine Stufe auf der Treppe, an deren Ende man sich auch seiner Moralität schämt. (JGB: Viertes Hauptstück 95, KSA 5, 90) 96
Vgl. a. M: Zweites Buch 107, KSA 3, 95: »Gewöhnlich ist es eigentlich nicht die Gefahr des Handelnden, welche die Inhaber der autoritativen Moral im Auge haben, sondern ihre Gefahr, ihre mögliche Einbusse an Macht und Geltung […].«
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Nietzsche betrachtet den allein auf Sitte und Konvention beruhenden Glauben als »unredlich« (M: Zweites Buch 101, KSA 3, 90) und als Grund, »sich« vor sich selbst zu »schämen« (s. Zitat oben). Die ›Unredlichkeit‹ entspringe daher eigentlich der sogenannten ›Sittlichkeit‹: Einen Glauben annehmen, blos [sic!] weil er Sitte ist, – das heisst doch: unredlich sein, feige sein, faul sein! – Und so wären Unredlichkeit, Feigheit und Faulheit die Voraussetzungen der Sittlichkeit? (M: Zweites Buch 101, KSA 3, 90) Nietzsches Vorgehen besteht somit darin, bisher unhinterfragte ›Wahrheiten‹ logisch-klug auf Schwachstellen oder Unstimmigkeiten hin zu prüfen, um schließlich ihre Inkonsistenz aufzuzeigen. Positiv besetzte Begriffe werden in Nietzsches Argumentation dabei in ihr Gegenteil verkehrt und negative aufgewertet. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht unbegründet, dass Karl Pestalozzi, ausgehend von einigen Nachlassnotizen Nietzsches, in denen dieser eine Parallele zwischen sich und Sokrates herstellt (und damit noch einmal sein zwiespältiges Verhältnis zur Wissenschaft darlegt), Nietzsches Methode mit den sokratischen Dialogen in Zusammenhang bringt.97 Wie Sokrates widerlege und hinterfrage Nietzsche gängige Meinungen oder konfrontiere sie mit einer »Gegenbehauptung«, wodurch der Leser zum Nachdenken angeregt werde. Dies sei vor allem der Fall, wenn Gedanken, nicht anders als in den sokratischen Dialogen, plötzlich abbrächen.98 Was Nietzsche als das Grundmuster der abendländischen Metaphysik auswies – das Denken in gegensätzlichen Wertkategorien –, hebt er so kurzerhand aus den Angeln, wenn er zusammenfassend behauptet, Gegensätze seien menschlich-rationale Konstruktionen in einer in Wirklichkeit bunt gemischten Welt: Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven […]. Es wäre sogar noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. (JGB: Erstes Hauptstück 2, KSA 5, 16f) 97
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Karl Pestalozzi: »Der Aphorismus – Nietzsches sokratische Schreibweise?«, in: Nietzsche. Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer, hg. von Renate Reschke (Berlin: Akademie Verlag 2004), 81-92. In Bezug auf das Verhältnis Nietzsches zu Sokrates beachte man, dass letzterer Nietzsche in der Geburt der Tragödie noch als Prototyp des wissenschaftlich-dekadenten Menschen galt. Ebd., S. 88.
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Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von »wahr« und »falsch« giebt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins […]? Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht –, nicht eine Fiktion sein? (JGB: Zweites Hauptstück 34, KSA 5, 53f) Seine These demonstriert Nietzsche anhand von konkreten Beispielen. Im christlichen Mitleid deckt er unbewusste, egoistische Motive auf: Ursprünglich habe das Mitgefühl, so Nietzsche, die Aufgabe erfüllt, durch Einfühlung das Fremde und Gefährliche des jeweiligen Gegenübers zu mindern (»der Mensch […] hat in seiner Furchtsamkeit die Lehrmeisterin jener Mitempfindung, jenes schnellen Verständnisses für das Gefühl des Andern […] gehabt.«, M: Zweites Buch 142, KSA 3, 134). Außerdem »liege im Unfalle und Leiden eines Anderen ein Fingerzeig der Gefahr für uns«, weshalb »uns« »der Unfall des Andern« in Wirklichkeit nicht seinet-, sondern unseretwegen »beleidige« (ebd. 133, KSA 3, 125). Da somit auch der Mitleidige »im Grunde« nur »stark an [sich] denke« (ebd.), bestehe kein wesentlicher Unterschied zum »Menschen ohne Mitleid«: Es ist eine andere Art von Egoisten, als die Mitleidigen; – sie aber im ausgezeichneten Sinne böse, und die Mitleidigen gut zu nennen, ist Nichts, als eine moralische Mode, welche ihre Zeit hat […]! (ebd., KSA 3, 127) In einem Aphorismus unter dem ironischen Titel »Der mitleidige Christ« wirft Nietzsche indirekt die Frage auf, wie das »Mitleid am Leiden des Nächsten«, mit der »tiefen Beargwöhnung aller Freude des Nächsten« zu vereinbaren sei (M: Erstes Buch 80, KSA 3, 78). Nietzsche stellt die Behauptung auf, dass der Mensch nur so lange mit seinem Nächsten fühle, wie es diesem schlecht gehe. Das Glück des Nächsten verletze dagegen sein Selbstwertgefühl. Auch die Liebe führt Nietzsche auf egoistische Wirkmechanismen zurück. Der Liebende benutze sein Gegenüber, um selbst Liebe zu empfangen oder um sich von überschüssiger Liebe zu befreien: »Liebe, – wie? die Liebe sollte etwas Unegoistisches sein?« (M: Zweites Buch 145, KSA 3, 137). In erster Linie sei die Liebe ein »Drang nach Eigenthum: der Liebende will den unbedingten Alleinbesitz der von ihm ersehnten Person, er will eine ebenso unbedingte Macht über ihre Seele wie ihren Leib […]« (FW: Erstes Buch 14, KSA 3, 387). Außerdem trage die ›Liebe‹ nicht selten ein verstecktes Gefühl von Feindschaft oder Hass in sich, wohingegen ein zur Schau gestellter ›Hass‹ bisweilen eine starke Liebe verberge. Die scheinbar gegensätzlichen Empfindungen Zuneigung und Abneigung vermengen sich in Nietzsches Argumentation zu einem unentwirrbaren Geflecht: Unser Glaube an Andre verräth, worin wir gerne an uns selber glauben möchten. […] Und oft will man mit der Liebe nur den Neid überspringen. Und oft greift man an und macht sich einen Feind, um zu verbergen, dass man angreifbar ist. »Sei we-
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nigstens mein Feind!« – so spricht die wahre Ehrfurcht, die nicht um Freundschaft zu bitten wagt. (Za I: Vom Freunde, KSA 4, 71) Den schwärmerischen Satz »liebet eure Feinde!« haben Juden erfinden müssen, die besten Hasser, die es gegeben hat […]. (M: Viertes Buch 377, KSA 3, 246) Misanthropie und Liebe. – […] Misanthropie ist die Folge einer allzubegehrlichen Menschenliebe […]. (FW: Drittes Buch 167, KSA 3, 499) Auf dieselbe Art und Weise führt Nietzsche die sogenannte »Gastfreundschaft« indirekt auf eine ursprüngliche ›Gastfeindschaft‹ zurück, denn ihr eigentlicher Zweck sei es, »das Feindliche im Fremden zu lähmen« (M: Viertes Buch 319, KSA 3, 228). Das strenge Gebot der ›Keuschheit‹ verweise wiederum auf einen starken, inneren Drang nach Freizügigkeit (»die schönste Verherrlichung der Keuschheit ist von solchen gedichtet worden, die in ihrer Jugend wüst und abscheulich gelebt haben.«, ebd. 377, KSA 3, 246). Nietzsche stellt daher die Frage in den Raum, ob nicht allen Geboten der unbewusste Drang nach ihrer Überschreitung zugrunde liege, d.h. ob der in einer Gemeinschaft geltende Wertekanon nicht gerade Aufschluss über die geheimen Impulse dieser Gemeinschaft gebe (vgl. ebd. »Worauf phantastische Ideale rathen lassen«): Sieh dir Jeden genau an, der anklagt und inquirirt, – er enthüllt dabei seinen Charakter: und zwar nicht selten einen schlechteren Charakter, als das Opfer hat, hinter dessen Verbrecher er her ist. (ebd. 413, KSA 3, 255) Indem es Nietzsche gelingt, ›Werte‹ nicht nur als willkürlich und wandelbar darzustellen, sondern sie auf ihr jeweiliges Gegenteil zurückzuführen, entzieht er dem metaphysischen Glauben an die Absolutheit der Werte jede Grundlage. Wer, wenn nicht Gott als höchste Vernunft, bürgt herkömmlicherweise für den gültigen Wertekanon? Nietzsche registriert einen »Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott«, eine »Erschütterung« der »religiösen Gesellschaft des Christenthums« (FW: Fünftes Buch 357 u. 358, KSA 3, 599 u. 602). Seine Konstatierung des ›Gottestodes‹ beschreibt das Ende eines Prozesses, in dessen Verlauf der christliche Gottglaube kontinuierlich abgenommen hat, bis er buchstäblich ›abgestorben‹ ist. Nietzsche betrachtet sich daher nicht als ›Mörder‹ Gottes, sondern nur als Verkünder einer allseits bekannten, aber nicht eingestandenen Realität. Denn obgleich jeder, Nietzsche zufolge, um diesen ›Tod‹ wisse (»Auch der Priester weiss, so gut es Jedermann weiss, dass es keinen ›Gott‹ mehr giebt, keinen ›Sünder, keinen ›Erlöser‹ […].«, AC 38, KSA 6, 210)99 , halte man an den »ungeheuren schauerlichen Schatten« des ›toten‹ Gottes (FW: Drittes Buch 108, KSA 3, 467), an den 99
S.a. Za I: Zarathustra’s Vorrede 2, KSA 4, 14: »Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts davon gehört, dass Gott todt ist!«
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platonisch-christlichen Denkmustern fest: »Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln?« (ebd. 109, KSA 3, 469). Als ›Täter‹ dieses ›Mordes‹ überführt der ›tolle Mensch‹ im 125. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft die Menschheit: »Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! […] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!« (ebd. 125, KSA 3, 481). Zurückgeblieben seien, als Überreste des toten Glaubens, die Werte und die leeren Kirchen bzw. – in den Worten des ›tollen Menschen‹ – die »Grüfte und Grabmäler Gottes« (ebd., 482). Wie die Normen, Werte und Sitten unterzieht Nietzsche auch den Gottglauben einer kritischen Prüfung. Ins Wanken bringt er ihn bereits durch die Frage nach seiner Entstehung: Ehemals suchte man zu beweisen, dass es keinen Gott gebe, – heute zeigt man, wie der Glaube, dass es einen Gott gebe, – entstehen konnte und wodurch dieser Glaube seine Schwere und Wichtigkeit erhalten hat: dadurch wird ein Gegenbeweis, dass es keinen Gott gebe, überflüssig. (M: Erstes Buch 95, KSA 3, 86) Wenn Gott, wie die Werte, nur vom Menschen geschaffen, »Menschen-Werk und -Wahnsinn« sei (Za I: Von den Hinterweltlern, KSA 4, 35), wenn er nur das Produkt einer anthropomorphen Ausdeutung »zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen« (FW: Drittes Buch 143, KSA 3, 490) darstelle (»wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir Alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde!«, ebd. 112, KSA 3, 473), dann ist dem Gottglauben sein Fundament genommen. Den Grund für das Schaffen von Göttern bzw. Religionen sieht Nietzsche in »einer Verlegenheit des Intellects« (ebd. 151, KSA 3, 495). Der ängstliche und nach Sicherheit strebende Mensch erfinde ein höchstes Wesen, auf das er die Rätsel der Welt zurückführe.100 Der Gottglaube erfülle daher meist eine lebenserhaltende Funktion: Wie Viele schliessen immer noch: »es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn es keinen Gott gäbe!« […] folglich müsse es einen Gott […] geben! In Wahrheit steht es nur so, dass, wer sich an diese Vorstellungen gewöhnt hat, ein Leben ohne sie nicht wünscht: dass es also für ihn und seine Erhaltung nothwendige Vorstellungen sein mögen […]. (M: Erstes Buch 90, KSA 3, 83) Nietzsche gibt zu bedenken, dass Religionen im Grunde immer nur die subjektive Ansicht ihrer Gründer widerspiegeln:101 100 S. dazu M: Erstes Buch 67, KSA 3, 64: Ein starker Glaube verrate einen »furchtbaren Zweifel«; bzw. ebd. 91, KSA 3, 85: »Über den ›verborgenen Gott‹« sei »Niemand beredter gewesen« »als Pascal« »zum Zeichen, dass er sich nie darüber hat beruhigen können […] und so redete er, wie Einer, der sich fürchtet, so laut als er konnte.« 101 Das Christentum, wie es sich bis heute durchgesetzt hat, führt Nietzsche so beispielsweise allein auf die Paulus-Interpretation zurück, s. z.B. AC 41-43, KSA 6, 214-218.
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Vom Ursprunge der Religionen. – Wie kann Einer seine eigene Meinung über die Dinge als eine Offenbarung empfinden? Diess ist das Problem von der Entstehung der Religionen […]. (ebd. 62, KSA 3, 62) Allem Anschein zum Trotz lehnt Nietzsche religiöse Praxen jedoch nicht grundsätzlich ab, – gerade dem Judentum und dem Islam zollt er den ihnen gebührenden Respekt.102 Eine lebendige Religion betrachtet er als Teil einer starken, gesunden Kultur, welche er als »Physis« »ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention« definiert, ja als »eine Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen« (UB II 10, KSA 1, 334). Wenn die Religion diesen Zweck nicht mehr erfülle, wenn kein Zusammenhang mehr zwischen ›innen‹, d.h. Leben, und ›außen‹, d.h. Religion bzw. Kultur bestehe,103 dann sei die Religion dem Leben nicht mehr förderlich und sie werde ›dekadent‹. Nietzsche veranschaulicht die Verschiebung des natürlichen Gleichgewichts am Beispiel des Judentums: Ursprünglich, vor allem in der Zeit des Königthums, stand auch Israel zu allen Dingen in der richtigen, das heisst der natürlichen Beziehung. Sein Javeh war der Ausdruck des Macht-Bewusstseins, der Freude an sich, der Hoffnung auf sich […]. – Aber jede Hoffnung blieb unerfüllt. Der alte Gott konnte nichts mehr von dem, was er ehemals konnte. […] Javeh der Gott der »Gerechtigkeit«, – nicht mehr eine Einheit mit Israel, ein Ausdruck des Volks-Selbstgefühls: nur noch ein Gott unter Bedingungen… (AC 25, KSA 6, 193f) Je abstrakter bzw. transzendenter eine Religion werde, desto mehr entferne sie sich vom Leben. Schrittweise büße sie ihre Glaubwürdigkeit ein und löse sich schließlich auf. Nietzsche beschreibt diese Entwicklung anschaulich im berühmten Abschnitt der Götzen-Dämmerung »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde.«, wo er darlegt, wie die seit Platon metaphysisch gedachte ›wahre Welt‹ kontinuierlich ihre Verbindlichkeit verloren habe: 1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften […]. 2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften […]. 3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht [sic!] ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ. […]. 102 S. dazu z.B. GM: Dritte Abhandlung 22, KSA 5, 393: »Das alte Testament – ja das ist ganz etwas Anderes: alle Achtung vor dem alten Testament! In ihm finde ich grosse Menschen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des starken Herzens […].«; bzw. AC 59, KSA 6, 249: »Wenn der Islam das Christenthum verachtet, so hat er tausend Mal Recht dazu: der Islam hat Männer zur Voraussetzung…«. 103 Vgl. dazu UB II 10, KSA 1, 326: »[D]as Charakteristische an der Bildung wahrer Culturvölker« sei, »dass die Cultur nur aus dem Leben hervorwachsen und herausblühen [könne] […].«
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4. Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten? […] (GD: Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde, KSA 6, 80) Die platonisch-christliche Unterscheidung104 zwischen einer übersinnlichen, transzendenten ›Welt der Wahrheit‹ und einer diesseitigen, sinnlichen ›Welt des Scheins‹ hebt Nietzsche kurzerhand auf und entzieht der abendländischen Metaphysik damit ihre Grundlage. Übrig bleibe die einzige dem Menschen zugängliche Welt, die Welt der Sinne: 5. Die ›wahre Welt‹ – eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab! […] 6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht?… Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! […] (ebd., 81) Für Heidegger, der aufgrund eines viel weiteren Metaphysikbegriffs, Nietzsche – wie sich im Weiteren herausstellen soll, nicht unbegründet – weiterhin im Bereich der Metaphysik ansiedelt, bedeutet das »Wort ›Gott ist tot‹«, dass »die übersinnliche Welt« »ohne Kraft« sei, ja dass »der übersinnliche Grund der übersinnlichen Welt« »unwirklich geworden« sei,105 so dass es keinen Unterschied mehr zwischen übersinnlicher und sinnlicher Welt gebe.106 Tatsächlich erkennt Nietzsche nur die diesseitige, immanente Welt an, theistische Vorstellungen eines persönlichen, transzendenten Gottes107 wie im Juden- und Christentum hält er schlichtweg für unglaubwürdig. Gemäß der engen Definition von ›Atheismus‹ als Negierung des Glaubens an einen persönlichen Gott,108 kann Nietzsches Ansatz folglich als ›atheistisch‹ beurteilt werden. Um den personalen Gottglauben infrage zu stellen, macht Nietzsche auf Unstimmigkeiten und Widersprüche der christlichen Gottesvorstellung aufmerksam. So deutet er beispielsweise an, dass die Allmacht Gottes nicht mit seiner Passivität gegenüber dem menschlichen Leiden zu vereinbaren sei: 104 105 106 107
Vgl. Nietzsches Definition von ›Metaphysik‹ als das ›Denken in Wertgegensätzen‹. Martin Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, S. 200 u. 234. Ebd., S. 193. »Theismus« als »der Sammelbegriff für die Überzeugung von der Existenz eines (persönlichen) Gottes«, s. U. Dierse: »Theismus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10: St-T, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998), S. 1054. 108 H.-W. Schütte: »Atheismus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1: A-C, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971), 595-599.
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Ein Gott, der allwissend und allmächtig ist und der nicht einmal dafür sorgt, dass seine Absicht von seinen Geschöpfen verstanden wird, – sollte das ein Gott der Güte sein? (M: Erstes Buch 91, KSA 3, 84)109 In den Mittelpunkt des Problems der Theodizee stellt Nietzsche dabei den Kreuzestod Jesu. Welche Überzeugungskraft habe ein Gott der Liebe und des Mitleids, der dem Tod seines ›Sohnes‹ tatenlos zusehe, bzw. der das Leid seiner Geschöpfe beobachte, aber nicht eingreife? Das »Mitleiden«, so der letzte Papst im Vierten Buch von Also sprach Zarathustra, habe Gott »erwürgt«: »[…] dass er es sah, wie der Mensch am Kreuze hieng, und es nicht ertrug, dass die Liebe zum Menschen seine Hölle und zuletzt sein Tod wurde […]« (Za IV: Ausser Dienst, KSA 4, 323). ›Gott‹ bzw. der Gottglaube sei an diesem Widerspruch gestorben. Nicht zufällig wird in der Darstellung des eigentlich abstrakten ›Gottesmordes‹ daher die Erinnerung an die barbarische Tötung Christi durch menschliche Hand wachgerufen.110 Wie der ›Sohn‹, so stirbt im übertragenen Sinn auch ›der Vater‹, welcher im Kreuzestod des Sohnes seine Glaubwürdigkeit eingebüßt hat: Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? (FW: Drittes Buch 125, KSA 3, 481) Als »Mörder Gottes« wird in Also sprach Zarathustra der ›hässlichste Mensch‹ überführt, welchem Zarathustra kurz nach seiner Unterredung mit dem ›letzten Papst‹ begegnet. Der ›Gottesmord‹ sei, so der ›hässlichste Mensch‹, welcher als die Verkörperung des Elends geschildert wird,111 die »Rache am Zeugen« (Za IV: Der hässlichste Mensch, KSA 4, 328), jenem stummen, tatenlosen, aber »zudringlichen« Zuschauer des menschlichen Leids: 109 S.a. Za III: Von den Abtrünnigen 2, KSA 4, 229: »Beweisen? Als ob Der je Etwas bewiesen hätte! Beweisen fällt ihm schwer; er hält grosse Stücke darauf, dass man ihm glaubt.« bzw. JGB: Drittes Hauptstück 53, KSA 5, 72f: »Das Schlimmste ist: er scheint unfähig, sich deutlich mitzutheilen: ist er unklar? – Dies ist es, was ich, als Ursache für den Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen, fragend, hinhorchend, ausfindig gemacht habe […].« 110 Vgl. Edith Düsing: »›Das Heiligste…ist unter unsern Messern verblutet‹ – Der Tod Gottes und das Ende der Ehrfurcht in Nietzsches Diagnose«, in: Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. (u.a.) von Héctor Canal (Bielefeld: transcript 2013), S. 13f u. S. 25f. Das »Heilige« und sein »Verlust« sei bei Nietzsche »christozentrisch gefasst«. 111 Im Nachsinnen über den ›hässlichsten Menschen‹ spricht Zarathustra zu sich: »Wie arm ist doch der Mensch! […] wie hässlich, wie röchelnd, wie voll verborgener Scham!«, s. Za IV: Der hässlichste Mensch, KSA 4, 332.
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Aber er – musste sterben: er sah mit Augen, welche Alles sahn, – er sah des Menschen Tiefen und Gründe, alle seine verhehlte Schmach und Hässlichkeit. Sein Mitleiden kannte keine Scham: er kroch in meine schmutzigsten Winkel. Dieser Neugierigste, Über-Zudringliche, Über-Mitleidige musste sterben. […] Der Gott, der Alles sah […]! Der Mensch erträgt es nicht, dass solch ein Zeuge lebt. (ebd., 331) Diese »Zudringlichkeit« (M: Fünftes Buch 464, KSA 3, 279) des christlichen Gottes, seine Allgegenwärtigkeit, erscheint Nietzsche schamlos (»Mitleiden geht gegen die Scham«, Za IV: Der hässlichste Mensch, KSA 4, 330) und »unanständig«: Niemals mit sich allein sein dürfen? Nie mehr unbewacht, unbehütet, ungegängelt, unbeschenkt? (M: Fünftes Buch 464, KSA 3, 279) »Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen ist?« fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: »aber ich finde das unanständig« […]. (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 4, KSA 3, 352) Außerdem lasse sich die Annahme eines richtenden, belohnenden und strafenden Gottes, somit eines Gottes, dessen Wohlwollen an Bedingungen geknüpft ist, Nietzsche zufolge, nicht mit der Vorstellung der reinen, göttlichen Liebe in Einklang bringen: Wenn Gott ein Gegenstand der Liebe werden wollte, so hätte er sich zuerst des Richtens und der Gerechtigkeit begeben müssen: – ein Richter, und selbst ein gnädiger Richter, ist kein Gegenstand der Liebe. […] Wie? Ein Gott, der die Menschen liebt, vorausgesetzt, dass sie an ihn glauben, und der fürchterliche Blicke und Drohungen gegen Den schleudert, der nicht an diese Liebe glaubt! Wie? eine verclausulierte Liebe als die Empfindung eines allmächtigen Gottes! […] (FW: Drittes Buch 140f, KSA 3, 489)112 Auch das Konzept der »göttlichen Vorsehung« stellt Nietzsche kritisch infrage. Ein Gott, welcher sich herablasse, in die kleinen, menschlichen Belange lenkend einzugreifen, sei kaum ernst zu nehmen: Mit einem noch so kleinen Maasse von Frömmigkeit im Leibe sollte uns ein Gott, der zur rechten Zeit vom Schnupfen kurirt oder der uns in einem Augenblick in die Kutsche steigen heisst, wo gerade ein grosser Regen losbricht, ein so absurder Gott sein, dass man ihn abschaffen müsste, selbst wenn er existirte. (AC 52, KSA 6, 234) 112
Vgl. a. Za IV: Ausser Dienst, KSA 4, 324: »Wollte dieser Gott nicht auch Richter sein? Aber der Liebende liebt jenseits von Lohn und Vergeltung.«
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Nietzsche weist vor diesem Hintergrund den Glauben an einen persönlichen Gott sowie an ein jenseitiges Leben nach dem Tod113 entschieden zurück. Zugleich setzt er im Aufkündigen des Gottglaubens, der ›Sünde‹ und ihrer moralischen Verurteilung114 ein Ende und lässt die Begriffe ›Schuld‹ und ›Strafe‹ in ihre ursprünglichen, unvermoralisierten Bedeutungen zurücktreten: ›Schuld‹ verweise auf das ›Verschulden‹ eines »Schadens«, welchen man abzuzahlen habe. ›Strafe‹ dagegen sei das instinktive Abreagieren eines »Zorns über einen erlittenen Schaden« (GM: Zweite Abhandlung 4, KSA 5, 297f). Indem der Mensch wieder »unter die Thiere zurückgestellt« (AC 14, KSA 6, 180) und von sämtlichen moralischen Verpflichtungen befreit werde, erlange er seine Unschuld zurück: Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zu einander. – (GM: Zweite Abhandlung 20, KSA 5, 330) Der Begriff »Gott« war bisher der grösste Einwand gegen das Dasein…Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt. – (GD: Die vier grossen Irrthümer 8, KSA 6, 97) Das »Christenthum« versteht Nietzsche als »System, eine zusammengedachte und ganze Ansicht der Dinge.« »[Breche] man aus ihm einen Hauptbegriff, den Glauben an Gott, heraus,« »so [zerbreche] man damit auch das Ganze« (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 5, KSA 6, 115). Im vorangehenden Kapitel war das Christentum als jener Glaube dargestellt worden, welcher durch die Verbreitung des Seelenbegriffs und der Vorstellung eines persönlichen Verhältnisses von Gott und Mensch das Subjektdenken in den Vordergrund rückt. Löst man aus diesem Glauben jedoch sein Kernstück, den Glauben an Gott, als dessen Spiegelbild der Mensch gedacht wird, so verliert auch der Glaube an das Subjekt, seinen freien Willen und sein vernünftiges Handeln seine Verbindlichkeit. Der Begriff ›Seele‹ oder das Wort ›Ich‹ seien, Nietzsche zufolge, nur nachträgliche Benennungen für leibliche Vorgänge. Nietzsche hebt die moralisch-wertende Scheidung von ›Leib‹ und ›Seele‹ auf, wenn er die ›Seele‹ als Produkt des Leibes definiert: 113
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Za I: Zarathustra’s Vorrede 6, KSA 4, 22: »Bei meiner Ehre, Freund, antwortete Zarathustra, das giebt es Alles nicht, wovon du sprichst: es giebt keinen Teufel und keine Hölle. Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib […].«; Za III: Der Genesende 2, KSA 4, 276: »Nun sterbe und schwinde ich, würdest du sprechen, und im Nu bin ich ein Nichts. Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber.« S. Za I: Zarathustra’s Vorrede 3, KSA 4, 15: »Einst war der Frevel an Gott der grösste Frevel, aber Gott starb, und damit starben auch diese Frevelhaften«; bzw. GD: Die vier grossen Irrthümer 7, KSA 6, 96: »Heute […], wo wir Immoralisten […] mit aller Kraft den Schuldbegriff und den Strafbegriff aus der Welt wieder herauszunehmen […] suchen […].«
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. […] »Ich« sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich. […] Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens. (Za I: Von den Verächtern des Leibes, KSA 4, 39) Was bleibe vom Selbstverständnis des Menschen übrig, wenn es keinen Gott gebe, der ihn nach seinem Abbild erschaffen habe? Gegenüber der kosmischen Unendlichkeit nehme sich der Mensch, so Nietzsche, winzig klein aus (WL 1, KSA 1, 875). Sein »Intellekt« sei nichts als ein »Mittel zur Erhaltung« (ebd., 876) der Spezies, und sein ›Wissen‹ ein »subjectives« Wahrnehmen bestimmter »Wirkungen« (ebd., 885). Nietzsche betrachtet das ›Ich‹ als das momentane Gleichgewicht eines »unbewussten« Kampfes widersprüchlicher Triebe, in welchem ein Trieb kurzzeitig die »Oberhand« »gewinne« (vgl. JGB: Neuntes Hauptstück 268, 221 u. M: Zweites Buch 129, 119). Das sogenannte ›Bewusstsein‹ unterscheide sich daher nicht grundsätzlich vom Unterbewussten, wie es sich etwa im Traum manifestiere: Die längsten Zeiten hindurch hat man bewusstes Denken als das Denken überhaupt betrachtet: jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, dass der allergrösste Theil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, ungefühlt verläuft. (FW: Viertes Buch 333, KSA 3, 559) […] muss ich aber ausführen, dass unsere Triebe im Wachen ebenfalls nichts Anderes thun, als die Nervenreize interpretiren […]? dass es zwischen Wachen und Träumen keinen wesentlichen Unterschied giebt? (M: Zweites Buch 119, KSA 3, 113) Auf diese Weise erklärt Nietzsche die Tatsache, dass sich der Mensch in seinen Handlungen häufig nicht wiedererkenne: Jetzt erscheint dir Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine Wahrheit […] geliebt hast […]. Aber vielleicht war jener Irrthum damals, als du noch ein Anderer warst – du bist immer ein Anderer –, dir ebenso nothwendig wie alle deine jetzigen »Wahrheiten« […]. (FW: Viertes Buch 307, KSA 3, 544) Die Handlungen sind niemals Das, als was sie uns erscheinen! […] – nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso! […]. (M: Zweites Buch 116, KSA 3, 109) Das ›Ich‹ erweist sich vor diesem Hintergrund als vielfach und heterogen. Statt von einer, müsse man von vielen, untereinander interagierenden ›Seelen‹ ausgehen (»Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche«, Za I: Vom Freunde, KSA 4, 71). Wenn es uns selbst schon nicht gelinge, uns eindeutig zu bestimmen, so gelte dies erst recht für die Einschätzung unserer Mitmenschen. Das ›Du‹ mit all seinen Attributen sei nichts anderes als eine Zuschreibung des ›Ichs‹ in Reaktion auf
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Handlungen des ›Du‹. Die Beurteilung des Nächsten spiegle somit nur die augenblickliche Befindlichkeit des Urteilenden wider, so dass ein ›Du‹ selbst von ein und derselben Person zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich bewertet werde: Was ist denn der Nächste! – Was begreifen wir denn von unserem Nächsten […]? Wir begreifen Nichts von ihm, als die Veränderungen an uns, deren Ursache er ist, – unser Wissen von ihm gleicht einem hohlen geformten Raume. Wir legen ihm die Empfindungen bei, die seine Handlungen in uns hervorrufen […]. Wir bilden ihn nach unserer Kenntnis von uns, zu einem Satelliten unseres eigenen Systems […]! (M: Zweites Buch 118, KSA 3, 111) Nietzsche zufolge, gehen »die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins« »Hand in Hand« (FW: Fünftes Buch 354, KSA 3, 592). In beiden Fällen handle es sich um »ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch«, welches dem Schutz und der Erhaltung des »gefährdetsten Thier« Mensch diene (ebd., 591). Sprachliche Operationen zum Zwecke der Verständigung oder Mitteilung, stellten Vereinfachungen unter Ausschluss anderer, wesensfremder Elemente (»das gänzlich Widersprechende zu übersehen oder wegzustossen«, JGB: Siebentes Hauptstück 230, KSA 5, 167) bzw. das Ergebnis eines »Abkürzungs-Prozesses« (JGB: Neuntes Hauptstück 268, KSA 5, 221) dar: Die Sprache, scheint es, ist nur für Durchschnittliches, Mittleres, Mittheilsames erfunden. Mit der Sprache vulgarisirt sich bereits der Sprechende. (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 26, KSA 6, 128) Nietzsche identifiziert in den Strukturen der Sprache, so z.B. in der Opposition grammatischer Kategorien, den metaphysischen Glauben an natürlich gegebene Gegensätze, weshalb er den Begriff der »Sprach-Metaphysik« prägt (GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 5, KSA 6, 77). Die dieser zugrunde liegende Unterscheidung und Klassifikation von Subjekt, Prädikat und Objekt stellt er nachdrücklich infrage, indem er demonstriert, dass sich das gewohnheitsmäßige Verhältnis von Subjekt und Prädikat sowie Subjekt und Objekt, in Wirklichkeit umgekehrt darstelle: […] – nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn »er« will, und nicht wenn »ich« will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt »ich« ist die Bedingung des Prädikats »denke«. Es denkt: aber dass dies »es« gerade jenes alte berühmte »Ich« sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme […]. (JGB: Erstes Hauptstück 17, KSA 5, 31) Sprachen seien unzureichende, auf Konvention beruhende, »anthropomorphische« Gebilde (WL 1, KSA 1, 880, 883), welche die sinnlich erfahrbare, fließende Welt zu verfestigen versuchten. Die Relativität sprachlicher Ausdrücke zeige sich darin, dass es einerseits für dieselben Inhalte und Bedeutungen auf der Welt verschiede-
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
ne Sprachen gebe (ebd., 879), und dass es andererseits auch innerhalb derselben Sprache regelmäßig zu Missverständnissen und Ausdrucksschwierigkeiten komme: Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander gemein haben. (JGB: Neuntes Hauptstück 268, KSA 5, 221) Gott, Moral, Sprache und Subjekt erkennt Nietzsche somit als Produkte der menschlich-rationalen Metaphysik. Was dem Menschen als ›Wahrheit‹ oder ›Sinn‹ gelte, existiere in der Natur nicht,115 sondern sei eine sprachlich ausgeformte, subjektive Ansicht, welche durch Übereinkunft und Gewohnheit allgemeine Gültigkeit erlangt habe (WL 1, KSA 1, 877-881). ›Wahrheit‹ und ›Sinn‹ ständen daher nicht fest, sondern seien wandel- und verschiebbar (vgl. GM: Zweite Abhandlung 12, KSA 5, 315). Am Ende seiner philosophischen Auseinandersetzung mit den Kernmythen oder »Götzen« des abendländischen Denkens betrachtet Nietzsche die Destruktion der metaphysischen ›Wahrheiten‹ als abgeschlossen: »Götzen-Dämmerung – auf deutsch: es geht zu Ende mit der alten Wahrheit…« (EH: Götzen-Dämmerung 1, KSA 6, 354; vgl. JGB: Vorrede, KSA 5, 11).
2.1.3
Tragik und Leiden
Nietzsche hatte die ›Erfindung‹ der ›Wahrheit‹ auf das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit zurückgeführt. Wer diese Sicherheit umstößt, indem er die ›Wahrheit‹ als Schein entlarvt, geht notwendigerweise durch Leid, Verzweiflung und Einsamkeit,116 wenn nicht durch Wahnsinn und Tod.117 Ohne jeden Halt zu leben, »eingekrümmt« zu sein »zwischen zwei Nichtse« (DD: Zwischen Raubvögeln, KSA 6, 392), während ein »düsteres Fragezeichen« (FW: Fünftes Buch 383, KSA 3, 637) den Blick verschleiert, kostet Kraft und Tapferkeit. Der »Geist der Schwere« mit den Fragen 115 116 117
Vgl. M: Zweites Buch 122f, KSA 3, 115f; FW: Viertes Buch 302, KSA 3, 540; GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 2, KSA 6, 75. Vgl. UB III 3, KSA 1, 355. Vgl. EH: Warum ich so klug bin 4, KSA 6, 287: »Versteht man den Hamlet? Nicht der Zweifel, die Gewissheit ist das, was wahnsinnig macht…«. Nietzsche zieht bereits in der Geburt der Tragödie (GT 7, KSA 1, 56f) eine Parallele zwischen der Figur des Hamlet und dem »dionysischen Menschen«. Beide hätten »einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan«, beide verfügten über die »Erkenntniss« der »grauenhaften Wahrheit«, für beide gebe es »keinen Trost mehr«. Immer wieder scheint in der Verzweiflung des Wahrheitssuchenden auch der Gedanke des Todes auf. Zum »Selbstmord«, s. FW: Zweites Buch 107, KSA 3, 464; JGB: Viertes Hauptstück 157, KSA 5, 100. Zum Gefühl des Todes, s. AC 1, KSA 6, 169: »Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes […]«. S.a. der Ausdruck »Selbsthenker« in: DD: Zwischen Raubvögeln, KSA 6, 390ff.
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»Warum? Wofür? Wodurch? Wohin? […] Ist es nicht Thorheit, noch zu leben?« (Za II: Das Tanzlied, KSA 4, 140f)118 bedränge den Menschen. Im Verlust jeden Glaubens und Vertrauens erfasse ihn die »grosse Traurigkeit« (Za II: Der Wahrsager, KSA 4, 172),119 so dass alles, was früher heilig und bedeutend war, nun seinen Wert verloren zu haben scheint: »Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!« (ebd.) […] Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, es hilft kein Suchen, es giebt auch keine glückseligen Inseln mehr! […] (Za IV: Der Nothschrei, KSA 4, 303) »Lebt Zarathustra noch? Es lohnt sich nicht mehr zu leben, Alles ist gleich, Alles ist umsonst: oder – wir müssen mit Zarathustra leben!« (Za IV: Die Begrüssung, KSA 4, 349) Das Leiden resultiere aus dem menschlichen Bewusstsein. Dieses betrachtet Nietzsche als das Zusammenspiel von ›Herz‹ im Sinne der menschlichen Ideale und Wünschbarkeiten, und ›Geist‹ als dem verstandesmäßigen Erkennen der natürlichen Gegebenheiten. Im Kontrast bzw. in der Unvereinbarkeit von ›Herz‹ und ›Verstand‹ erkennt Nietzsche die menschliche ›Tragödie‹. Während sich der Mensch ein sinnerfülltes, glückliches Leben wünscht, durchfährt ihn immer wieder die »tragische Erkenntniss« (GT 15, KSA 1, 101) der Sinnlosigkeit und Vergänglichkeit. Das Leben begreift Nietzsche nämlich eigentlich als ein kontinuierliches ›Absterben‹ und ›Töten‹: Bei einem Sterbefalle […] steigt ein Gedanke regelmässig auf […] dass der Sterbende im Leben wahrscheinlich wichtigere Dinge verloren habe, als er hier zu verlieren im Begriffe steht. (M: Viertes Buch 349, KSA 3, 238f) Was heisst Leben? – Leben – das heisst: fortwährend Etwas von sich abstossen, das sterben will; Leben – das heisst: grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. […] Immerfort Mörder sein? […] (FW: Erstes Buch 26, KSA 3, 400) Den auf den Dionysoskult zurückgehenden Begriff der ›Tragödie‹ (in der »Zusammensetzung« der griechischen Wörter ›Bock‹ und ›Gesang‹) definiert Loock als »jede hohe und ernste Dichtung mit feierlichem Stil«, in deren Verlauf das »Umschla118 119
Zum »Geist der Schwere« s.a.: Za I: Vom Lesen und Schreiben, KSA 4, 48; Za III: Vom Gesicht und Räthsel 1, KSA 4, 198 u. Za III: Vom Geist der Schwere, KSA 4, 240ff. Vgl. JGB: Neuntes Hauptstück 279, KSA 5, 229: »Die Menschen der tiefen Traurigkeit verraten sich, wenn sie glücklich sind […]!«
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
gen von Glück in Unglück« im Rezipienten »Furcht« und »Mitleid« hervorrufe.120 Das »tragische Geschehen« beinhalte, so Braak, stets einen »Gegensatz« bzw. einen »Konflikt, der keine Auflösung zulasse«. Zum »tragischen Bewusstsein« entwickle es sich dadurch, »dass der Träger des […] Geschehens dieses bewusst, wissend durchleide[…].«121 Was Camus viel später als das ›Absurde‹ bezeichnet, ist somit bereits im Begriff des ›Tragischen‹ ausgesagt.122 Bezeichnenderweise spricht Nietzsche selbst vom »Absurden des Seins« bzw. vom »Ekel des Absurden« (GT 7, KSA 1, 57). Alles Elende und Tragische des Lebens versinnbildlicht Nietzsche im ›Tal des hässlichsten Menschen‹, dem »Reich des Todes«: […] kein Gras, kein Baum, keine Vogelstimme. Es war nämlich ein Thal, welches alle Thiere mieden, auch die Raubthiere; nur dass eine Art hässlicher, dicker, grüner Schlangen, wenn sie alt wurden, hierher kamen, um zu sterben. […] Zarathustra aber versank in eine schwarze Erinnerung, denn ihm war, als habe er schon ein Mal in diesem Thal gestanden. Und vieles Schwere legte sich ihm über den Sinn […] Da aber sahe [sic!] er, als er die Augen aufthat, Etwas, das am Wege sass, gestaltet wie ein Mensch und kaum wie ein Mensch, etwas Unaussprechliches. […] (Za IV: Der hässlichste Mensch, KSA 4, 327f) Da der menschliche Geist »wider die Wünsche seines Herzens« agiere und dort »Nein sag[e]«, »wo« letzteres »bejahen, lieben, anbeten möchte« (JGB: Siebentes Hauptstück, 229, KSA 5, 167), dabei »das Messer sicher und fein zu führen w[isse], auch noch, wenn das Herz blute[…]« (JGB: Sechstes Hauptstück 210, KSA 5, 143),123 kann Nietzsche behaupten, dass sich der Mensch selbst der größte Feind sei: Aber der schlimmste Feind, dem du begegnen kannst, wirst du immer dir selber sein; du selber lauerst dir auf in Höhlen und Wäldern. (Za I: Vom Wege des Schaffenden, KSA 4, 82) 120 R. Loock: »Das Tragische«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10: St-T, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998), S. 1334f. 121 Ivo Braak: Poetik in Stichworten. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine Einführung (Kiel: Verlag Ferdinand Hirt 1969), S. 232f. 122 Vgl. R. Look, »Das Tragische«, S. 1342. 123 Vgl. a. Za II: Von den berühmten Weisen, KSA 4, 134: »Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen« (nach diesem Grundsatz Zarathustras lebt die Figur des ›Gewissenhaften des Geistes‹, s. Za IV: Der Blutegel, KSA 4, 312). S.a. GM: Erste Abhandlung 1, KSA 5, 258: Man »wisse« sein »Herz wie [seinen] Schmerz im Zaum zu halten« und habe »sich dazu erzogen«, »der Wahrheit alle Wünschbarkeit zu opfern«; bzw. GM: Dritte Abhandlung 9, KSA 5, 357 f: »[W]ir experimentiren [sic!] mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf […]. Wir vergewaltigen uns jetzt selbst, es ist kein Zweifel, wir Nussknacker der Seele […].«
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Nicht grundlos überschreibt Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft, d.h. jenes Werk, in welchem er maßgeblich die Verabschiedung der absoluten Wahrheiten vorantreibt, mit dem Motto »Incipit tragoedia«: ›Die Tragödie beginnt‹ (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 1, KSA 3, 346; FW: Viertes Buch 342, KSA 3, 571). Wenn er betont, dass »der Dienst der Wahrheit« »Grösse der Seele« erfordere, dass man »fast Alles« »preisgeben müsse[…]«, woran sonst das Herz, woran unsre Liebe, unser Vertrauen zum Leben häng[e]« (AC 50, KSA 6, 230), scheint er wie an anderen Stellen aus Erfahrung zu sprechen: Und was lag nunmehr Alles hinter mir! Dieses Stück Wüste, Erschöpfung, Unglaube, Vereisung mitten in der Jugend, dieses eingeschaltete Greisenthum an unrechter Stelle, diese Tyrannei des Schmerzes […] diese grundsätzliche Einschränkung auf das Bittere, Herbe, Wehethuende der Erkenntnis […] oh wer mir das Alles nachfühlen könnte! (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe, KSA 3, 346) Zum Sinnbild des skeptischen Denkers, der sämtliche Illusionen durchschaut und folglich ohne Sicherheiten zu leben hat, wird der ›Schatten‹ und ›Wanderer‹ (z.B. Za IV: Der Schatten, KSA 4, 338-341; Za IV: Die Erweckung 2, KSA 4, 388), der umherschweifende, nie ruhende Geist, welcher dem ›Herdenmenschen‹ zwar durch seine Erkenntnis überlegen ist, welcher in seinem Leiden jedoch noch immer Züge des nicht überwundenen Nihilismus aufweist: […] Muss ich immerdar unterwegs sein? Von jedem Winde gewirbelt, unstät, fortgetrieben? […] Nichts lebt mehr, das ich liebe, – wie sollte ich noch mich selber lieben? […] Habe ich – noch ein Ziel? Einen Hafen, nach dem mein Segel läuft? […] (Za IV: Der Schatten, KSA 4, 339f) […] Eines Tages warf der Wanderer eine Thür hinter sich zu, blieb stehen und weinte. Dann sagte er: »Dieser Hang und Drang zum Wahren […] Ich möchte ausruhen, aber er lässt es nicht zu. […] immer neue Losreissungen und neue Bitternisse des Herzens! Ich muss den Fuss weiter heben, diesen müden, verwundeten Fuss […]!« (FW: Viertes Buch 309, KSA 3, 545f) Trotz seines Beinamens ›freier Geist‹ (Za IV: Der Schatten, KSA 4, 341), enthüllt sich der ›Wanderer‹, wie die übrigen ›höheren Menschen‹,124 somit noch immer als Suchender einer letzten Wahrheit, welche er in Zarathustras Philosophie zu finden glaubt: »Gehe nicht davon! sagte da der Wanderer […] bleibe bei uns, es möchte uns sonst die alte Trübsal wieder anfallen. Schon gab uns jener alte Zauberer von seinem 124 Vgl. a. die Verfassung des ›alten Papstes‹ nach dem ›Tod Gottes‹, Za IV: Ausser Dienst, KSA 4, 322: »Nun aber bin ich ausser Dienst, ohne Herrn, und doch nicht frei, auch keine Stunde mehr lustig, es sei denn in Erinnerungen.«
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Schlimmsten zum Besten, und siehe doch, der gute fromme Papst da hat Thränen in den Augen […] bleibe bei uns, oh Zarathustra! Hier ist viel verborgenes Elend, das reden will, viel Abend, viel Wolke, viel dumpfe Luft! […]« (Za IV: Unter Töchtern der Wüste, KSA 4, 379) Die ganze Tragweite des Glaubensverlusts, die mit ihm einhergehende bis zum Wahnsinn reichende Verzweiflung, wird fassbar im wortwörtlich ›tollen Menschen‹, der in Anklang an den Kyniker Diogenes von Sinope (welcher am helllichten Tag mit einer Laterne in der Hand nach einem Menschen gesucht haben soll),125 »am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ›Ich suche Gott! Ich suche Gott!‹« (FW: Drittes Buch 125, KSA 3, 480). Der ›Gottesmord‹ wird dabei mit apokalyptischen, menschlich verursachten Naturkatastrophen verglichen: Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir die Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? […] Stürzen wir nicht fortwährend? […] Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? […] Ist es nicht kälter geworden? […] Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? (ebd., 481) Im Folgenden soll gezeigt werden, wie es Nietzsche durch eine geschickte Umdeutung gelingt, die mit dem ›Tod Gottes‹ einhergehende Tragik zu überwinden.
2.2 2.2.1
Nietzsches Beschwörung eines mythisch-vorsokratischen Zeitalters und die Rückkehr in die Metaphysik Der apollinisch-dionysische Lebensmythos und die Überwindung der Dekadenz
Ruft man sich in Erinnerung, dass Nietzsche den Begriff der ›Dekadenz‹ in der Grundbedeutung eines kulturellen ›Verfalls‹ infolge des Niedergangs der antiken Welt verwendet, und dass er den daraus resultierenden Zustand des ›Nihilismus‹ wiederum von der Warte des positiv gewerteten antiken Mythos aus analysiert, so ist es im Grunde nicht überraschend, dass er den Ausweg aus der modernen Befindlichkeit gerade in der Rückbesinnung auf die ›Welt des Mythos‹ zu erkennen meint. Während der ›Tod Gottes‹ als »Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz« vorrangig in den Bildern einer allgemeinen »Verdüsterung und Sonnenfinsterniss« 125
Überliefert durch Diogenes Laertios, s. Alois Maria Haas, Nietzsche zwischen Dionysos und Christus, S. 34.
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(FW: Fünftes Buch 343, KSA 3, 573) geschildert wurde, macht sich zu Beginn des Fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft ein erstaunlicher Gemütswandel bemerkbar. Mit dem ›Tod Gottes‹ breche ein neuer Abschnitt an, und die »Verdüsterung« werde durch eine »schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung« und »Erheiterung« (ebd., 574) ersetzt: In der That, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns bei der Nachricht, dass der »alte Gott todt« ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei […]. (ebd.) Nach der Phase des Verneinens, Widerlegens und Entlarvens beginne nun eine solche des Bejahens und des Gutheißens, mit anderen Worten, Nietzsche »widerspreche« und sei »trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes«, denn es gebe »neue Hoffnungen«, »Ziele« und »Aufgaben« (1171, Dezember 1888, KSB 8, 503). So macht sich in dem Maße, wie Nietzsche den alten Glauben verwirft, zugleich eine gewisse Aufbruchsstimmung zu Neuem bemerkbar (»Wo bleibt ihr Freunde? Kommt! ʼs ist Zeit! ʼs ist Zeit!«, JGB: Aus hohen Bergen. Nachgesang, KSA 5, 241). Schlagworte wie »Ziel«, »Hoffnung« (Za I: Zarathustra’s Vorrede 5, KSA 4, 19), »Brücke zur Zukunft« (Za II: Von der Erlösung, ebd., 179), »neuer Morgen« (Za I: Die Reden Zarathustra’s 3, ebd., 102) und »Kinder Land« der »Zukunft« (Za II: Vom Lande der Bildung, ebd., 155) stehen im Zusammenhang eines verstärkten Zukunftspathos. Nietzsche stilisiert den »Augenblick höchster Selbstbesinnung«, in dem der Mensch »zurückschaut und hinausschaut«, zum »grossen Mittag« (EH: Morgenröthe 2, KSA 6, 330)126 oder »Augenblick des kürzesten Schattens« (GD: Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde 6, KSA 6, 81), das Ergebnis der Besinnung dagegen zur ›Ernte‹ ›reifer Früchte‹ inmitten eines milden, »allzureichen Herbstes« (EH: Götzen-Dämmerung 2, KSA 6, 354): Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde: nun trinkt ihren Saft und ihr süsses Fleisch! Herbst ist es umher und reiner Himmel und Nachmittag. (Za II: Auf den glückseligen Inseln, KSA 4, 109) Noch einmal wird hier deutlich, dass Nietzsche den klimatischen Faktoren einen entscheidenden Wert in der Entwicklung von Kulturen beimisst. Sonne begreift er als Katalysator eines gesunden Stoffwechsels und folglich als förderlich für Geist 126
Das Schlagwort vom »grossen Mittag« in der Bedeutung eines Wendepunktes, hin zu einer neuen Lebenseinstellung, nimmt in Nietzsches Argumentation einen wichtigen Platz ein, s. z.B. folgende Stellen: Za I: Die Reden Zarathustra’s 3, KSA 4, 102; Za III: Von der verkleinernden Tugend 3, ebd., 217: »Er kommt, er ist nahe, der grosse Mittag!«; Za III: Von den Bösen 2, ebd., 240: »Aber denen Allen kommt nun der Tag, die Wandlung, das Richtschwert, der grosse Mittag […].«; bzw. Za IV: Das Zeichen, ebd., 408: »Dies ist mein Morgen, mein Tag hebt an: herauf nun, herauf, du grosser Mittag!«
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und Kultur (vgl. EH: Warum ich so klug bin 2, KSA 6, 282f). Seine sich an die antike Welt der Griechen und Römer anschließenden Zukunftsvisionen spielen sich daher im warmen Süden ab: […] – hinaus in ferne Zukünfte, die kein Traum noch sah, in heissere Süden, als je sich Bildner träumten: dorthin, wo Götter tanzend sich aller Kleider schämen […]. (Za III: Von alten und neuen Tafeln 2, KSA 4, 247) Nietzsche prophezeit »Menschen der Zukunft« oder »neue Philosophen« (JGB: Fünftes Hauptstück, KSA 5, 126), welchen es vorbehalten sei, als »Antichristen und Antinihilisten« Europa »vom grossen Ekel« und »Nihilismus« (GM: Zweite Abhandlung 24, KSA 5, 336) zu befreien. Dies gelinge durch die Wiederkunft des griechischen ›Geistes der Tragödie‹, welcher sich durch eine ursprüngliche Kultureinheit »ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention« (UB II, KSA 1, 334) kennzeichne. Erst eine Kultur, welche sich wie der Mythos, als Abbild des widersprüchlichen Lebens verstehe, könne sich ihrer Gesundheit und Größe rühmen.127 Nietzsche, der sich selbst als »Zögling« der Antike betrachtet (UB II, KSA 1, 247), verspricht sich von der Wiederkehr eines »tragischen Zeitalters« (EH: Die Geburt der Tragödie 4, KSA 6, 313)128 ein Heilen des »Risses zwischen dem Innen und dem Aussen« (UB II, KSA 1, 278), welcher die deutsche Kultur durchziehe. Lange Zeit hatte Nietzsche in Richard Wagner und seinen Musikdramen ein Heilmittel gegen die kranke Kultur Deutschlands zu erkennen geglaubt,129 schließlich aber sieht er auch in Wagner und seiner Kunst Ausformungen der ›Dekadenz‹.130 Sein letzter Bezugspunkt bleibt daher das mythische Denken der Antike, welches er vom christlich-wissenschaftlichen deutlich unterscheidet. Nietzsche bedient sich selbst im Rahmen seiner Wahrheitsdestruktion wissenschaftlich-rationaler Vorgehensweisen, mit Jürgen Habermas’ Worten »benützt [er] […] die Leiter der 127
Man erinnere sich an die Definition von Kultur als »Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes«, s. UB I 1, KSA 1, 163; bzw. UB II 4, ebd., 274. Der ›Mythos‹ bzw. das ›Leben‹ seien die Bedingung jeder Kultur, s. GT 23, KSA 1, 145: »Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab.«; bzw. UB II 10, KSA 1, 326: »[…] dass die Cultur nur aus dem Leben hervorwachsen und herausblühen kann […]«. 128 S.a. GT 19, KSA 1, 128; ebd., 129; bzw. GT 20, KSA 1, 132 (»die Wiedergeburt der Tragödie«); ebd. 19, 127 (»das allmähliche Erwachen des dionysischen Geistes«); ebd. 20, 131 (»eine noch bevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alterthums«). 129 S. z.B. UB IV 4, 447: »In Wagner erkenne ich einen solchen Gegen-Alexander: er bannt und schliesst zusammen, was vereinzelt, schwach und lässig war, er hat, wenn ein medicinischer Ausdruck erlaubt ist, eine adstringirende Kraft: in so fern gehört er zu den ganz grossen Culturgewalten.« 130 S. z.B. WA 5, KSA 6, 21: »Ich bin ferne davon, harmlos zuzuschauen, wenn dieser décadent uns die Gesundheit verdirbt – und die Musik dazu! Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt, – er hat die Musik krank gemacht –«.
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historischen Vernunft [jedoch], um sie am Ende wegzuwerfen und im Mythos, als dem Anderen der Vernunft, Fuß zu fassen«.131 Kurt Hübner zufolge, stellen ›Mythos‹ und ›Wissenschaft‹ zwei verschiedene »Denk- und Erfahrungssysteme« dar, welche auf »unterschiedlichen ontologischen Grundlagen« beruhen.132 Von einem Dualismus zwischen mythischem und wissenschaftlichem Denken geht auch Hans Blumenberg aus, wobei er den Begriff der ›Wissenschaft‹ durch den des ›Dogmas‹ ersetzt. Der ›Mythos‹ stehe für Polytheismus, Heiterkeit und Spiel, während sich das Dogma durch Ernsthaftigkeit und die »Insistenz auf Zeitrechnung, Datierbarkeit« und »Chronologie« auszeichne.133 Bei Odo Marquard, der alles Denken und Erfahren als eine Art des Mythologisierens begreift, entspricht Blumenbergs ›Dogma‹ dem Begriff des ›Monomythos‹, Blumenbergs ›Mythos‹ dagegen dem Begriff des ›Polymythos‹. Der ›Monomythos‹, wie etwa der »Monotheismus« oder die »Emanzipationsgeschichte«, »dulde keine anderen« Mythen »neben« sich, er bringe »Unfreiheit« und »Zwang« mit sich,134 der ›Polymythos‹ indessen beruhe auf »Gewaltenteilung« und schaffe Raum für die freie »Entfaltung des Individuums«.135 Den Gegensatz von mythischem und dogmatischem Denken führt Assmann auf die »Oralität« des Mythos zurück. Während das entscheidende Merkmal des ›Dogmas‹ gerade das »Eindringen der Schriftlichkeit«, seine »Festschreibung« und »Überlieferung« sei, »existiere« der Mythos nur »in« mündlichen »Varianten«136 und umfasse Gegensätzliches.137 Nietzsche selbst beschreibt den Kontrast zwischen Mythos und Dogma folgendermaßen, wobei noch einmal die Verwendung des Attributs ›südländisch‹ für das positiv gewertete, antike Denken hervorsticht: Griechen und Römer empfanden anders und würden über ein solches »es muss ein Wesen geben« – gespottet haben: es gehörte zu ihrer südländischen Freiheit des Gefühls, sich des »unbedingten Vertrauens« zu erwehren und im letzten Verschluss des Herzens eine kleine Skepsis gegen Alles und Jedes, sei es Gott oder Mensch oder Begriff, zurückzubehalten. (M: Drittes Buch 207, KSA 3, 188) Der Leichtigkeit und Heiterkeit des polytheistischen Mythos stellt Nietzsche den Ernst der christlichen Lehre138 und die auf dem Menschen lastende Bürde des 131 132 133 134 135 136 137 138
Jürgen Habermas, »Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe«, 107. Kurt Hübner: »Die nicht endende Geschichte des Mythischen« [Auszug], in: Texte zur modernen Mythentheorie, hg. von (u.a.) Wilfried Barner (Stuttgart: Reclam 2003), S. 256ff. Blumenberg, Hans, Arbeit am Mythos [Auszug], 208-214. Odo Marquard, »Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie«, S. 227-229. Ebd., S. 227f u. 235. Jan Assmann/Aleida Assmann, »Mythos«, S. 189. Assmann spricht von der »Ambivalenz« bzw. der »Totalisierung« des Mythos, s. ebd., S. 194. Nietzsche erzählt das Ende des Polytheismus folgendermaßen: Als »ein alter Grimm-Bart von Gott, ein eifersüchtiger«, das »gottloseste Wort« aussprach, »das Wort: ›Es ist Ein Gott! Du sollst keinen andern Gott haben neben mir!‹«, »lachte« sich die Schar der alten Götter »zu
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Sünden- und Strafbegriffs gegenüber. Während das christliche Gefühl des »Ressentiments« (z.B. GM: Erste Abhandlung 10, KSA 5, 270) in der Formel »Gott am Kreuze« kulminiere, widerspreche dem antiken Verständnis nach, nicht nur das Leiden eines Gottes seiner Erhabenheit (JGB: Drittes Hauptstück 46, KSA 5, 67), sondern auch die Empfindung des Ressentiments an sich, sei dem »vornehmen Menschen« wesensfremd: Das Ressentiment des vornehmen Menschen […] vollzieht und erschöpft sich […] in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet darum nicht: andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf […]. Seine Feinde, seine Unfälle, seine Unthaten selbst nicht lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker voller Naturen […]. (GM: Erste Abhandlung 10, KSA 5, 273) Die griechischen Götter stellten »Wiederspiegelungen [sic!] vornehmer und selbstherrlicher Menschen« (GM: Zweite Abhandlung 23, KSA 5, 333) dar, welche ihre »Lust an sich«, ihr »Machtgefühl« »in [höhere] Wesen« »projicirt[en]« (AC 16, KSA 6, 182). Schuld, Sünde und Reue,139 so Nietzsche, kannte der Mensch der Antike nicht. Richtete er etwas an oder stieß ihm etwas zu, so galt dies nicht als ›Sünde‹ oder ›Strafe‹, sondern als »Thorheit« (GM: Zweite Abhandlung 23, KSA 5, 334), Unbedachtheit, großes »Unglück« (M: Erstes Buch 78, KSA 3, 77) oder die Götter selbst wurden dafür verantwortlich gemacht (GM: Zweite Abhandlung 23, KSA 5, 334f). Den Rang der griechischen Kultur führt Nietzsche auf die »Gesundheit« (AC 51, KSA 6, 230) ihrer Einzelindividuen zurück. Gesundheit war dem Griechen dadurch zu eigen, dass er – anders als der christlich-moderne Mensch – in erster Linie auf die eigenen leiblich-physiologischen Vorgänge hörte (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 47, KSA 6, 149) und statt in Mitleid und Nächstenliebe aufzugehen, ein gesundes »Selbstgefühl« (ebd. 37, 138) nährte, welches sich in spontanen Willensakten äußerte (GD: Was ich den Alten verdanke 3, KSA 6, 157). Die Menschen wurden daher nicht wie im Christentum als gleich konzipiert, sondern das jeweilige Selbstgefühl schuf eine natürliche »Rangordnung zwischen Mensch und Mensch« (JGB: Siebentes Hauptstück 228, KSA 5, 165; vgl. GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 37, KSA 6, 138). Das griechische Selbstverständnis gründete sich jedoch vor allem auf die Gleichzeitigkeit von Freud und Leid, das Wissen um die »Schrecken« »des Daseins« (GT 3, KSA 1, 35) und deren Überwindung: »Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!« (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 4, KSA 3, 352). Den Widerspruch von Freud und Leid sieht Nietzsche im tragischen Mythos verkörpert,
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Tode« (Za III: Von den Abtrünnigen 2, KSA 4, 230). In Nietzsches Darstellung unterliegen die vielen Götter dem ›Gott des Dogmas‹ somit gerade als Folge ihres heiteren Übermuts, da sie die Anmaßung jenes Gottes nicht ernst nehmen können. Reue zu verlangen, habe in der Antike als eine Eigenschaft gegolten, welche einem Gott unwürdig sei, da einem wahren Gott kein Schaden zugefügt werden könne, s. FW: Drittes Buch 135, KSA 3, 486.
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wie er kunstvoll in den Tragödien des Aischylos zur Darstellung gebracht wurde. Dreh- und Angelpunkt jeder Tragödie sei im Grunde stets der Dionysos-Mythos von den Leiden des zerstückelten Gottes, so dass alle weiteren tragischen Helden als »Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysos« (GT 10, KSA 1, 71) betrachtet werden können: In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysos der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt werde […]. (GT 10, KSA 1, 72) Nietzsche bezieht sich in seinen Ausführungen auf den Dionysos-Zagreus-Mythos, welcher erst im 5. Jahrhundert n. Chr. in den Dionysiaka des Nonnos zusammenhängend wiedergegeben wurde, wohingegen Episoden des Mythos bereits bei Homer, in den nur fragmentarisch erhaltenen Schriften der Orphiker (ca. 500 v. Chr.), in den Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides, bei Platon, dem Geschichtsschreiber Diodor, Ovid, – und nach Christus – bei Plutarch oder in der später erwähnten Bibliotheke des Apollodor (1. Jahrhundert n. Chr.) zu finden sind.140 In den Dionysiaka des Nonnos wird berichtet, wie Zeus in der Gestalt eines Drachens um Persephone wirbt und schließlich mit ihr den gehörnten Zagreus141 zeugt, welcher mit Zeus in den Himmel steigt. Hera hetzt aus Eifersucht die Titanen auf ihn, welche ihm »mit dem Eisen« »die Glieder zerteilen«. »Sein Lebensende« wird jedoch »der Anfang neuer Entstehung«, Dionysos Zagreus »verwandelt« und »vertauscht« seine Erscheinung, so dass er sich in wechselnden Mensch- und Tiergestalten zeigt. Zeus wiederum rächt sich, indem er die Titanen in den Tartaros verbannt, und die Erde zunächst in Brand setzt und sie schließlich mit Wassermassen überschwemmt.142 An dieser Stelle erwähnt Karl Kerényi mehrere besonders in den Fragmenten der Orphiker überlieferte Fortsetzungen des Mythos: So hätten die Titanen den zerstückelten Dionysos gebraten und sich gerade daran gemacht, ihn zu verspeisen, als Zeus erschienen sei und sie in den Tartaros verstoßen habe. Die Glieder des Dionysos habe Zeus dem Apollon übergeben, der »sie am Parnaß bei seinem eigenen Dreifuß in Delphi« »beigesetzt« habe. Andere Fassungen stellen dar, wie aus der Asche der Titanen und des zuvor verspeisten Dionysos das Menschengeschlecht entstanden oder wie aus seinen Gliedern der erste Weinstock 140 Diese und noch weitere Autoren zitiert Karl Kerényi bei seiner Zusammenstellung aller Fassungen des Dionysos-Mythos, s. Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen, Bd. 1: Die Götterund Menschheitsgeschichten (München: dtv 1977), S. 197-215. 141 Bourquin leitet den Namen von griech. ›Jäger‹ ab, s. Christophe Bourquin: »Nietzsches Tragödie des Dionysos (Zagreus)«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Heft 4/Dezember (2008), S. 612. 142 Nonnos : Die Dionysiaka des Nonnos, 1. Bd., übersetzt von Thassilo von Scheffer (MünchenPlanegg: Barth 1929), S. 110-119.
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hervorgesprossen sei.143 Der siebte Gesang der Dionysiaka erzählt die Wiedergeburt des Dionysos als Sohn der Semele, Tochter von Kadmos und Harmonia und damit Nichte von Europa. Zeus erscheint Semele in Menschengestalt aber mit gehörntem Antlitz, schwängert sie und verspricht ihr Unsterblichkeit für sie und ihren Sohn. Hera jedoch, erneut von Eifersucht gepackt, nähert sich Semele in Gestalt ihrer alten Amme und flößt ihr Zweifel bezüglich ihres Freiers ein. Wenn es sich wirklich um Zeus handle, so solle er sich mit Blitz und Donner zu erkennen geben. Da Semele nicht anders als Zeusʼ Gemahlinnen im Olymp behandelt werden möchte, folgt sie dem Rat der Amme und bittet Zeus, ihr sein wahres Gesicht zu zeigen. Zeus rät ihr zunächst davon ab, gibt aber schließlich nach und erscheint ihr mit Blitz und Donner. Semele verbrennt zu Asche, fährt jedoch in den Himmel. Den ungeborenen, noch lebenden Dionysos dagegen näht sich Zeus in seinen Schenkel ein und trägt ihn auf diese Weise aus.144 Noch immer der Gefahr der Hera ausgesetzt, findet der kleine Dionysos zeitweise Unterschlupf bei den Nymphen des Flusses, bei seiner Tante Ino und deren Gatten Athamas und schließlich bei Zeusʼ Titanenmutter Rhea. Hera versetzt sowohl die Nymphen als auch Ino und Athamas in Wahnsinn.145 Letztere Version des Dionysos-Mythos – Dionysos als Sohn der Semele – findet sich bereits in Apollodors Mythensammlung aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.146 Sowohl Nonnos als auch Apollodor thematisieren Dionysosʼ Feldzüge und Wanderungen durch Ägypten, Syrien und Indien. Bei Apollodor flößt Hera auch Dionysos selbst Raserei ein. Dionysos, der »Erfinder der Rebe«, überträgt seine Raserei auf seine Gefolgschaft, welche daraufhin, zusammen mit Satyrn, bacchantische Kultfeiern begehen.147 Ausgehend von diesem in Varianten existierenden, jedoch stets um Tod, Auferstehung, Wahnsinn und Rausch kreisenden Mythos entwickelt Nietzsche den Begriff des ›Dionysischen‹, welchen er zunächst auf die antike Tragödie als den Ort seiner eigentlichen Entfaltung, schließlich jedoch auf das Leben im Allgemeinen anwendet. Das ›dionysische‹ Element der Tragödie werde, so Nietzsche, durch die »unbildliche Kunst der Musik« (GT 1, KSA 1, 25), den »tragischen Chor« (GT 7, ebd., 52) repräsentiert und beschreibe das zugleich »Grausen« und »wonnevolle Verzückung« hervorrufende »Zerbrechen des principii individuationis«148 (GT 1, ebd., 28) und das »Einswerden« des »Individuums« »mit dem Ursein« (GT 8, ebd., 62). In der Bedeutung des einbrechenden Leids und Verderbens nähert sich das ›Dionysische‹ dem Begriff der ›Tragik‹ an – 143 Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen, S. 200f. 144 Der Name Dionysos bedeute ›Zeuslahmheit‹ (gr. nysos als ›der Lahme‹), s. Nonnos, Die Dionysiaka des Nonnos, S. 148. 145 Ebd., S. 131-160. 146 Apollodor: Bibliotheke. Götter- und Heldensagen, übersetzt von Paul Dräger (Düsseldorf [u.a.]: Artemis & Winkler 2005), S. 161ff. 147 Ebd., S. 165f. 148 Nietzsche zitiert hier einen Begriff Schopenhauers.
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mit dem Unterschied jedoch, dass das schlechthin Tragische, die Auflösung, nun nicht mehr ausschließlich als grauenhaft, sondern sogar als befreiend und lustvoll empfunden wird. Den Gegenpart zu Dionysos und der »Kunstwelt des Rausches« nehme Apollon, der Gott der Weissagung und Künste, und die »Kunstwelt des Traumes« (GT 1, ebd., 26) ein. Nietzsche wandelt die bereits erwähnte Fassung des Dionysos-Zagreus-Mythos ab, nach welcher Apollon die Glieder des Dionysos begraben habe, wenn er schreibt: Der Mythus sagt, dass Apollo den zerrissenen Dionysos wieder zusammengefügt habe. Dies ist das Bild des durch Apollo neugeschaffenen, aus seiner asiatischen Zerreißung geretteten Dionysos. (DW 1, KSA 1, 559) Das ›Apollinische‹ meint somit im Gegensatz zum ›Dionysischen‹, die »maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes«, vor allem jedoch vertritt es das principium individuationis (GT 1, KSA 1, 28), das »Individuum […] mit allen seinen Grenzen und Maassen« (GT 4, ebd., 41) und den »schönen Schein« (GT 1, ebd., 27). Auf diese Weise schafft es einen Ausgleich zu den Schrecken des ›Dionysischen‹, während es zugleich durch dieses bedingt ist, denn »alle […] Schönheit und Mässigung ruht […] auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der [dionysischen] Erkenntnis« (GT 4, ebd., 40). Durch die Kunst »bändigt« es das »Entsetzliche« (GT 7, ebd., 57), es »erlöst« »durch den Schein« (GT 4, ebd., 39) und kann so als die glättende »Maske« (GT 9, ebd., 65) des ›Dionysischen‹ bezeichnet werden. Als Beispiel führt Nietzsche »die glänzende Traumgeburt der Olympischen« (GT 3, ebd., 35) an, welche dem antiken Menschen das Leben erträglich machte: So rechtfertigten die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein genügende Theodicee! (GT 3, ebd., 36) Zu Beginn seines philosophischen Schaffens betrachtet Nietzsche daher die Kunst »als die eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen«149 (GT Versuch einer Selbstkritik 5, ebd., 17), welche – insofern »das Dasein« »nur als aesthetisches Phänomen« »gerechtfertigt« (GT 5, ebd., 47) sei – erst ein würdiges Leben ermögliche. Dies erklärt Nietzsches langjährige Wagner-Begeisterung, welche schließlich, wie schon erwähnt, in eine dezidierte Wagner-Gegnerschaft einmündete. Obwohl Formulierungen wie »Metaphysik der Kunst« eher das apollinische Element wachrufen, implizieren sie zugleich das nicht minder ästhetisch gedachte ›Dionysische‹. Die Kunst erweist sich somit als das Zusammenspiel beider Kräfte: Wie kann das Hässliche und das Disharmonische, der Inhalt des tragischen Mythus, eine aesthetische Lust erregen? […] in welchem Sinne uns gerade der tragi149 Nietzsche verwendet auch den Begriff der »Artisten-Metaphysik« (GT 2, KSA 1, 13).
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sche Mythus zu überzeugen hat, dass selbst das Hässliche […] ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt. (GT 24, ebd., 152) Auch wenn Nietzsche in den Folgejahren, in Übereinstimmung mit seiner Ablehnung des Dogmas, dem Glauben an das Kulturpotenzial Wagners oder anderer Künstler abschwört, so bleibt er seinem am Mythos ausgerichteten Entwurf des ›Apollinischen‹ und ›Dionysischen‹ lebenslänglich treu. Diesem misst er als Ästhetik, den Stellenwert einer immanenten, die Gesamtheit alles Seienden umfassenden ›Metaphysik‹ bei: »Eine ›Idee‹ – der Gegensatz dionysisch und apollinisch – ins Metaphysische übersetzt […]« (EH: Die Geburt der Tragödie 1, KSA 6, 310). ›Dionysisches‹ und ›Apollinisches‹ bedingen sich gegenseitig. Während, so Peter Pütz, das Dionysische als »permanentes« »Chaos« und »Ausschweifung«, »des vereinfachenden, ordnenden und feststellenden Moments des Apollinischen« »bedarf«, würde das Apollinische als das »Eindeutige«, ohne die Wirkung des Dionysischen zur »Erstarrung des Lebens« führen.150 Die »Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen« (GT 1, KSA 1, 25) betrachtet Nietzsche folglich nicht nur als Voraussetzung hoher Kunst, sondern auch jeder gesunden Kultur. In der attischen Tragödie, vor allem des Aischylos, sieht er die Harmonie aus apollinischen und dionysischen Kräften zur Vollendung gebracht: Dionysos redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysos: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist. (GT 21, ebd., 140) Erst der Einfluss des sokratischen Geistes auf Euripides habe durch die Überbetonung des ›Apollinischen‹ und den Ausschluss des ›Dionysischen‹ (vgl. GT 12, ebd., 83) die Tragödie und damit die mythische Weltbetrachtung sich selbst entfremdet: Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärtsdringenden Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort vergegenwärtigen, wie durch ihn der Mythus vernichtet wurde und wie durch diese Vernichtung die Poesie aus ihrem natürlichen idealen Boden, als eine nunmehr heimathlose, verdrängt war. (GT 17, ebd., 111) Dieses Ungleichgewicht und die mit ihr einhergehende ›Dekadenz‹ der Kultur möchte Nietzsche als »Jünger eines noch ›unbekannten Gottes‹« (GT: Versuch einer Selbstkritik 3, ebd., 14), durch die Einführung eines »tragischen Pathos« (EH: Also sprach Zarathustra 1, KSA 6, 336) nivellieren. Sich selbst bezeichnet er daher als »ersten tragischen Philosophen«, denn als erster habe er das »Dionysische« »in ein 150 Peter Pütz: »Der Mythos bei Nietzsche«, in: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts, hg. von Helmut Koopmann (Frankfurt a.M.: Klostermann 1979), S. 261.
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philosophisches Pathos« »umgesetzt« (EH: Die Geburt der Tragödie 3, ebd., 312). Während er in der modernen Kultur der Wissenschaft einen Ausschluss bestimmter Lebensbereiche, wie etwa des Leidens oder der Grausamkeit feststellt, möchte er diesen Bereichen nicht nur den ihnen gebührenden Platz im Kreislauf des Werdens und Vergehens zuweisen, sondern auch ihre Bedeutung für Wachstum und Entwicklung herausstellen: Ihr wollt womöglich – und es giebt kein tolleres »womöglich« – das Leiden abschaffen; und wir? – es scheint gerade, wir wollen es lieber noch höher und schlimmer haben, als je es war! […] Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens – wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? […] (JGB: Siebentes Hauptstück 225, KSA 5, 161) Das Leben selbst, ist Nietzsche zufolge, »in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend« und »vernichtend« (GM: Zweite Abhandlung 11, KSA 5, 312), folglich begreift er Tod, Leiden und Grausamkeit,151 nicht anders als Glück, Lust und Heiterkeit, als feste Bestandteile des »[w]iderspruchsvollen« »Ur-Einen« (GT 4, KSA 1, 38) der »tiefen« »Welt« (Za III: Das andere Tanzlied 3, KSA 4, 286) als einer Mischung aus Lust und Leid: Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, dass, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst viel von der andern haben muss […]? (FW: Erstes Buch 12, KSA 3, 383) Im Schmerz ist soviel Weisheit wie in der Lust: er gehört gleich dieser zu den arterhaltenden Kräften ersten Ranges. (FW: Viertes Buch 318, ebd., 550) »[U]nter der Optik des Lebens gesehn« (GT: Versuch einer Selbstkritik 4, KSA 1, 17) erscheint Nietzsche die Annahme beständiger, unveränderlicher Größen als widersinnig. Vielmehr müsse von einem Lebenskreislauf ausgegangen werden, in welchem das Gute und Schöne zwar dem Tod geweiht sei, in welchem aus dem Tod jedoch wieder das Leben emporwachse. Daher schreibt Nietzsche, der selbst an periodisch auftretende und sich wieder verflüchtigende Krankheitsschübe gewöhnt war, dem Leiden und der Krankheit eine wichtige Bedeutung bei der Wiedererlangung der (nicht nur körperlichen) Gesundheit zu, denn »die grosse Gesundheit« müsse man »beständig« »erwerben«, »weil man sie immer wieder« »preisgeben« müsse (EH: Also sprach Zarathustra 2, KSA 6, 338): Und was die Krankheit angeht: würden wir nicht fast zu fragen versucht sein, ob sie uns überhaupt entbehrlich ist? […] Erst der grosse Schmerz, jener lange lang151
S. z.B. JGB: Siebentes Hauptstück 229, KSA 5, 165f: »Man soll über die Grausamkeit umlernen und die Augen aufmachen […]«.
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same Schmerz, der sich Zeit nimmt […] zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen […]. [M]an kommt aus solchen Abgründen, aus solchem schweren Siechthum […] neugeboren zurück, gehäutet, kitzlicher, boshafter, mit einem feineren Geschmacke für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge […]. (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 3-4, KSA 3, 350f) In der Überwindung des Leidens entfalte sich ein »Pessimismus der Stärke« (GT: Versuch einer Selbstkritik 1, KSA 1, 12), so dass sich Nietzsche, »abgerechnet nämlich, dass [er] ein décadent [sei]«, »auch« als »dessen Gegensatz« (EH: Warum ich so weise bin 2, KSA 6, 266) bezeichnen kann. In den dionysischen Mysterien erkennt Nietzsche das Zelebrieren einer Unsterblichkeitslehre152 , welche das »ewige« Werden »über Tod und Wandel hinaus« bejaht (»das triumphirende Ja zum Leben«) (GD: Was ich den Alten verdanke 4, KSA 6, 159) und dabei nicht nur vom Schmerz erlöst (vgl. Za II: Auf den glückseligen Inseln, KSA 4, 110), sondern ihn als Bedingung des Wachstums »heilig« »spricht« (GD ebd.). Vergleichbar mit dem wechselnden Sonnenstand auf der Erde, ist der Mensch im Laufe seines Lebens somit immer ein »Untergehender« und »Hinübergehender« (Za I: Von der schenkenden Tugend 3, KSA 4, 102). Es erübrigt sich zu erwähnen, dass Nietzsches apollinisch-dionysische Lebenskonzeption eine dezidiert diesseitsgerichtete ist. Statt seine Hoffnung auf ein transzendentes »Himmelreich« zu setzen, solle der Mensch sein Augenmerk auf das sinnlich erfahrbare »Erdenreich« (Za IV: Das Eselsfest 2, ebd., 393) richten. Zarathustra fordert aus diesem Grund dazu auf, sich auf das Wesentliche und Naheliegende zu konzentrieren und der Erde und dem Menschen nicht nur die wahre Aufmerksamkeit zu schenken, sondern in der Hinwendung zu den kleinen Dingen des Augenblicks153 dem Leben mit Liebe zu begegnen: Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! […] (Za: Zarathustra’s Vorrede 3, ebd., 15) […] nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern frei ihn zu tragen, einen Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft! (Za I: Von den Hinterweltlern, ebd., 37) 152
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Es handelt sich natürlich nicht um ›Unsterblichkeit‹ im christlichen Sinne einer transzendenten Auferstehung im Jenseits, sondern um den Glauben an die von der PersonalUnsterblichkeit unabhängigen, immanenten Ewigkeit des ›Lebens‹ als die Summe alles Seienden. Vgl. GT 11, KSA 1, 78: Der Hellene habe mit dem Verlust der dionysischen Tragödie auch den »Glauben an seine Unsterblichkeit« verloren. Vgl. Za I: Von den Predigern des Todes, KSA 4, 56f: »Wenn ihr mehr an das Leben glaubtet, würdet ihr weniger euch dem Augenblicke hinwerfen. Aber ihr habt zum Warten nicht Inhalt genug in euch – und selbst zur Faulheit nicht!«
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Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben […]. (Za II: Von der unbefleckten Erkenntnis, ebd., 159) Entgegen der christlichen Lehre der »Sinnenfeindlichkeit« und verordneten »Diätformen«, so etwa des »Fastens« und der »geschlechtlichen Enthaltsamkeit«154 (GM: Erste Abhandlung 6, KSA 5, 265), führt Nietzsche ein erfülltes Diesseits gerade auf ein »Nachgeben an die Instinkte« (GD: Das Problem des Sokrates 10, KSA 6, 72; vgl. a. S. 73) und »die ganze Casuistik der Selbstsucht«, »Ernährung, Ort, Clima, Erholung« zurück (EH: Warum ich so klug bin 10, KSA 6, 295), nach dem Motto »die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus…« (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 47, ebd., 149). Alles, was der Mensch vollbringe, solle allein dem Leben dienen und neues Leben zeugen. Ein zu hohes Maß an Abstraktion und Verstandestätigkeit dagegen schade ihm.155 In diesem Sinne verkehrt Nietzsche Descartesʼ Grundsatz Cogito, ergo sum in sein Gegenteil, wenn er behauptet »vivo, ergo cogito«, das Denken müsse aus dem Leben hervorgehen und nicht umgekehrt (UB II 10, KSA 1, 329). Nietzsche sehnt einen Zustand herbei, in welchem der Mensch die dionysischen Momente der Auflösung und des Schmerzes nur als Teil eines unschuldigen Spiels, gleich dem des Wellengangs wahrnimmt: Sie spielten am Meere, – da kam die Welle und riss ihnen ihr Spielwerk in die Tiefe: nun weinen sie. Aber die selbe Welle soll ihnen neue Spielwerke bringen und neue bunte Muscheln vor sie hin ausschütten! (Za II: Von den Tugendhaften, KSA 4, 123) Die harten, grausamen Seiten des Lebens sollen dabei mit Leichtigkeit – tanzend, lachend, schwebend,156 auf »Tauben-« (Za II: Die stillste Stunde, ebd., 189) oder »Mädchen-Füssen« (Za II: Das Tanzlied, ebd., 139) – überwunden werden. Zarathustra ist daher »ein Tänzer« (EH: Also sprach Zarathustra 6, KSA 6, 345), der selbst noch »an Abgründen« (FW: Fünftes Buch 347, KSA 3, 583) oder in »Schlachten« (DD: Letzter Wille, KSA 6, 388) das Tanzen nicht aufgibt. Die körperlich-seelische Verfassung eines mit sich und der Welt in Einklang und Harmonie lebenden 154 155 156
Nietzsche betrachtet die »Predigt der Keuschheit« als »öffentliche Aufreizung zur Widernatur«, s. AC: Gesetz wider das Christenthum, KSA 6, 254. Vgl. Nietzsches Bewertung der modernen Geschichtswissenschaften in »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, s. v.a. UB II: Vorwort, KSA 1, 245. u. UB II 3, ebd., 268. S. z.B. Za I: Vom Lesen und Schreiben, KSA 4, 49f: »Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste. […] Und auch mir, der ich dem Leben gut bin, scheinen Schmetterlinge und Seifenblasen und was ihrer Art unter Menschen ist, am meisten vom Glücke zu wissen. Diese leichten thörichten zierlichen beweglichen Seelchen flattern zu sehen – das verführt Zarathustra zu Thränen und Liedern. Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde. […] Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tödtet man. Auf, lasst uns den Geist der Schwere tödten! […] Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich.«
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
Menschen bezeichnet Nietzsche mit einem aus der griechischen Mythologie stammenden Begriff als »halkyonisch«. Er leitet sich ab von der mythischen Gestalt der Alkyone, welche um ihren auf See ums Leben gekommenen Gemahl Keyx trauert, durch die gnädigen Götter schließlich jedoch in einen Eisvogel verwandelt wird, in dessen Gestalt sie wieder mit ihrem Mann vereint ist. Ihr Vater, der Windgott Aiolos, sorgt während der Brutzeit für eine windstille Zeitspanne, die sogenannten »halkyonischen Tage«, welche ausgehend von diesem Mythos, zum Synonym »einer zeitweiligen beglückenden Entsprechung von Natur und Seele« und der »Windstille der Seele […] unter lichtdurchflutetem blauem Himmel« wurden.157 Nietzsche übernimmt die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, wenn er Gesundheit158 , Lebenskraft und Heiterkeit in Beziehung zu milden klimatischen Bedingungen setzt. Als maßgeblich für ein ›halkyonisches‹ Lebensgefühl gilt ihm der »Süden«, »das glatte Meer«, die Sonne, der blaue Himmel159 und die »goldene Natur«160 (GM: Dritte Abhandlung 25, KSA 5, 403): […] was wir Anderen, was wir Halkyonier bei Wagnern vermissen – la gaya scienza; die leichten Füsse; Witz, Feuer, Anmuth; die grosse Logik; den Tanz der Sterne; die übermüthige Geistigkeit; die Lichtschauder des Südens; das glatte Meer – Vollkommenheit… (WA 10, KSA 6, 37) […] das ist gerade das Vollkommene und Letzthin-Reife in jeder Cultur und Kunst, […] ihr Augenblick glatten Meers und halkyonischer Selbstgenugsamkeit [sic!], das Goldene und Kalte, welches alle Dinge zeigen, die sich vollendet haben. (JGB: Siebentes Hauptstück 224, KSA 5, 159) Nietzsches Bild des Südens ist stark durch die ihm vertrauten Mittelmeer-Orte Südfrankreichs und Norditaliens geprägt. Deren Klima, Küche und Musik161 preist er als Heilmittel der Genesung, während er die Vatikanstadt Rom als »unanständigsten Ort der Erde« aus diesem Lob ausnimmt (EH: Also sprach Zarathustra 4, KSA 6, 340). Er selbst sei ein »Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben nach«: G. Biller: »Halkyonisch«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3: G-H, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974), S. 988. 158 Nietzsche spricht von der »grossen Gesundheit« als der »physiologischen Voraussetzung« des »Typus« »Zarathustra«, EH: Also sprach Zarathustra 1-2, KSA 6, 337. 159 FW: Zweites Buch 105, KSA 3, 463: »[…] hinauszublicken – hin nach einer besseren, leichteren, südlicheren, sonnenhafteren Welt.«; bzw. EH: Also sprach Zarathustra 4, KSA 6, 341: »[…] unter dem halkyonischen Himmel Nizza’s […]«. 160 An einer anderen Stelle ist die Rede vom »goldnen Gelächter« der Philosophen, s. JGB: Neuntes Hauptstück 294, KSA 5, 236. 161 S. z.B. WA 2, KSA 6, 15; JGB: Achtes Hauptstück 254-255, KSA 5, 200f; EH: Warum ich so klug bin 1-2, KSA 6, 280-283; 1175, 06.12.1888, KSB 8, 506f. 157
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Gesetzt, dass Einer den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine grosse Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung, welche sich über ein selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet […]. (JGB: Achtes Hauptstück 255, KSA 5, 200) Der ›halkyonische Mensch‹ ist wie die Natur, als deren Spiegelbild er lebt, ein »Über-Reicher« (Za III: Von der grossen Sehnsucht, KSA 4, 279). Sinnbild seines inneren »Reichthums«, seiner »Üppigkeit« (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 14, KSA 6, 120) und »Fülle« (Za II: Das Kind mit dem Spiegel, KSA 4, 106) ist der »Honig« in der Bedeutung eines Zustands seelischer Ausgeglichenheit und Glückseligkeit: Wie mir geschieht, so geht es allen Früchten, die reif werden. Es ist der Honig in meinen Adern, der mein Blut dicker und auch meine Seele stiller macht. (Za IV: Das Honig-Opfer, ebd., 296)162 Wie die Natur, welche ihren Reichtum, so etwa jenen der Sonne,163 regelmäßig einer »absurden Verschwendung« (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 14, KSA 6, 120) preisgibt, ist auch der ›Halkyonier‹ ein »Schenkender« (Za II: Von den Mitleidigen, KSA 4, 114), ›Austeilender‹164 und ›Sich-selbst-Verschwendender‹, der dem Nützlichkeitsdenken seit Sokrates keine Rechnung mehr trägt:165 Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der Erde opfern […] Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben will und nicht zurückgiebt: denn er schenkt immer und will sich nicht bewahren. (Za I: Zarathustra’s Vorrede 4, ebd., 17)
2.2.2
Die ›Metaphysik der ewigen Wiederkehr‹
Nietzsches apollinisch-dionysischer Lebensentwurf gründet sich auf die Annahme des steten Wandels allen Seins. Welches Prinzip ist jedoch gleichermaßen verantwortlich für das Erschaffen und Zerstören von Realitäten? Bereits in der Geburt der Tragödie führt Nietzsche unter Bezugnahme auf Schopenhauer, dessen Hauptwerk 162
Über die sogenannten »Gerechten« heißt es aus Zarathustras Mund: »Wahrlich, ihren Seelen fehlt es nicht nur an Honig.« (Za II: Von den Taranteln, KSA 4, 129). 163 Vgl. Za I: Zarathustra’s Vorrede 1, KSA 4, 11f; Za III: Von alten und neuen Tafeln 3, ebd., 249; FW: Viertes Buch 337, KSA 3, 565. 164 Vgl. Za I: Zarathustra’s Vorrede 1, KSA 4, 11: »[…] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. Ich möchte verschenken und austheilen […].« 165 Vgl. a. Za I: Von der schenkenden Tugend 1, KSA 4, 97: Der Wert des Goldes beruhe darauf, dass es »unnützlich« sei und »sich immer schenke«.
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) er mehrmals zitiert,166 die apollinische ›Bändigung‹ des Dionysischen im Griechentum auf den »hellenischen ›Willen‹« zurück: Derselbe Trieb, der die Kunst in’s Leben ruft, […] liess auch die olympische Welt entstehn, in der sich der hellenische »Wille« einen verklärenden Spiegel vorhielt. […] So ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der »Wille« nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der homerische Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem Preisliede wird. […] In den Griechen wollte der »Wille« sich selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen […]. Mit dieser Schönheitsspiegelung kämpfte der hellenische »Wille« gegen das dem künstlerischen correlative Talent zum Leiden […]. (GT 3, KSA 1, 36ff) Auch die Verbindung der beiden Kunsttriebe in der attischen Tragödie sei nur »durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ›Willens‹« (GT 1, ebd., 25f) zustande gekommen. Nietzsche entwickelt ab dieser frühen Phase die Vorstellung eines alle Lebensäußerungen bestimmenden und nie stillstehenden ›Weltwillens‹, welchen er als ›Willen zur Macht‹ bezeichnet und ihn zum Lebensprinzip (vgl. Wa: Epilog, KSA 6, 51) bzw. zur »Essenz« der »Welt« (JGB: Fünftes Hauptstück 186, KSA 5, 107) erhebt: Was überredet das Lebendige, dass es gehorcht und befiehlt und befehlend noch Gehorsam übt? […] Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entrathen. […] Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht! (Za II: Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4, 147ff) Was wir ›Realität‹ nennen, sei nichts anderes als das zeitweilige Resultat eines Willens-Kampfes, bei dem »ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist«. Dieser ›Wille‹ werde in der Folge durch einen weiteren ›Willen‹ überwunden,167 wobei jedes »Überwältigen« und »Herrwerden« einem »Neu-Interpretieren« entspreche, durch welches sich »Sinn« und »Zweck« jeweils verschieben (GM: Zweite Abhandlung, KSA 5, 314f). Obwohl der ›Wille‹ in seinem Machtstreben Opfer fordere und nur durch Vernichten und ›Zerbrechen‹168 zu seinem Recht komme, betrachtet ihn Nietzsche als die eigentlich Leben spendende Kraft, ohne welche das Dasein erschlaffe: »[W]o der Wille zur Macht fehlt, giebt 166 S. z.B. GT 1, KSA 1, 28; GT 5, ebd., 46; GT 16, ebd., 104f. 167 Vgl. JGB: Viertes Hauptstück 117, KSA 5, 93: »Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille eines anderen oder mehrer [sic!] anderer Affekte.« 168 S. GM: Zweite Abhandlung 24, KSA 5, 335: »Damit ein Heiligthum aufgerichtet werden kann, muss ein Heiligthum zerbrochen werden: das ist das Gesetz […].«
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es Niedergang.« (AC 6, KSA 6, 172). Da in der Regel ein ›Wille‹ über kurz oder lang durch einen anderen abgelöst werde, sind »Rechtszustände«, Nietzsche zufolge, »Ausnahme-Zustände«, welche auf längere Sicht zur »Ermüdung« und zum »Nichts« führten (GM: Zweite Abhandlung 11, KSA 5, 312f). Nietzsche sieht einen solchen Zustand in der christlich geprägten modernen Gesellschaft erreicht. Verstärkt werde die ›Willensstagnation‹, wenn der herrschende ›Wille‹, wie im Christentum, ein »Wille zum Ende«, ein »nihilistischer Wille« sei (AC 9, KSA 6, 176): »Denn der Mensch«, so Nietzsche, »will lieber noch das Nichts wollen als nicht wollen« (EH: Genealogie der Moral, KSA 6, 353). Nietzsche, der in der Bewegung und im Wandel das Grundprinzip des Lebens erkennt, während er den Stillstand mit Ermüdung und Tod gleichsetzt, charakterisiert den ›Willen‹ in seinem Vermögen, das Leben zu überwinden, als »Befreier und Freudebringer« (Za II: Von der Erlösung, KSA 4, 179). In der Überwindung manifestiere sich eine »Zeuge- und Werde-Lust«, wobei der Wollende zugleich »Gebärerin« des Neuen und »neu geborenes« »Kind« sei (Za II: Auf den glückseligen Inseln, ebd., 111). Als »Schöpfer« sei er zwar immer auch »Vernichter« (Za II: Von der Selbst-Ueberwindung, ebd., 149), dem Akt der Zerstörung komme jedoch die Funktion bei, dort »vorüberzugehen«, »wo man nicht mehr lieben könne« (Za III: Vom Vorübergehen, ebd., 225), den »Ekel« am längst Überständigen zu »überwinden« (Za IV: Der freiwillige Bettler, ebd., 334) und somit zu einer allgemeinen »Genesung« (Za IV: Die Erweckung 1, ebd., 386f) beizutragen. Das Leben begreift Nietzsche daher als stete Selbstüberwindung: Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir. »Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss. […]« (Za II: Von der SelbstUeberwindung, ebd., 148) Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der nothwendigen »Selbstüberwindung« im Wesen des Lebens […]. (GM: Dritte Abhandlung 27, KSA 5, 410) Jeder ›Wille zur Macht‹ schlage sich in Werten nieder,169 so dass eine Selbstüberwindung des ›Willens‹ zugleich eine Umkehrung der Werte herbeiführe. Was als ›gut‹ und ›böse‹, ›recht‹ und ›unrecht‹ gelte, ist, Nietzsche zufolge, abhängig vom augenblicklich herrschenden ›Willen‹170 und ende, sobald ein neuer ›Wille‹ neue Werte durchsetze: 169 Vgl. GD: Moral als Widernatur 5, KSA 6, 86: »[D]as Leben selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, wenn wir Werthe ansetzen…«. 170 Vgl. GM: Zweite Abhandlung 11, KSA 5, 311f: »Überall, wo Gerechtigkeit geübt, Gerechtigkeit aufrecht erhalten wird, sieht man eine stärkere Macht in Bezug auf ihr unterstehende Schwächere […] nach Mitteln suchen, [zu herrschen].«
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das giebt es nicht! Aus sich selber muss es sich immer wieder überwinden. Mit euren Werthen und Worten von Gut und Böse übt ihr Gewalt, ihr Werthschätzenden […]. (Za II: Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4, 149) Wenn Nietzsche die absoluten Werte der christlichen Moral außer Kraft setzt, so leugnet er nur ihre Ausschließlichkeit und beständige Gültigkeit, hebt jedoch nicht das Wertedenken an sich auf. Das Schaffen von Werten und deren Überwindung begreift er vielmehr, wie den ›Willen‹ selbst, als charakteristisches Merkmal des Lebens. Insofern auch in Nietzsches »Überwindung des Nihilismus« »das Wertdenken zum Prinzip erhoben« werde,171 so Heidegger, bleibe Nietzsche, während er der abendländischen Metaphysik zu entkommen versuche, mit dieser aufs Engste verbunden.172 Metaphysische Weltentwürfe hätten nämlich schon immer, ausgehend von Werten, das »Seiende als das Seiende« gedacht,173 ohne »an das Sein selbst zu denken«.174 Jede Metaphysik nehme daher, Heidegger zufolge, ihren Ausgang in der »Vergessenheit des Seins« und verstelle durch das Wertdenken die Möglichkeit eines eigentlichen »Erfahren des Seins«.175 In »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«176 werde »Gott […] zum höchsten Wert herabgewürdigt«,177 was Heidegger als »Gotteslästerung schlechthin« betrachtet.178 Nietzsches Philosophie verharre daher als »Endstadium der abendländischen Metaphysik«179 , wie diese insgesamt, im »Nihilismus«, während Nietzsche davon überzeugt sei, gerade diesen zu überwinden.180 Tatsächlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Nietzsche, wie Heidegger dies von der Warte eines viel weiteren und radikaleren Metaphysikbegriffs aus darlegt, trotz seiner Ablehnung starrer Wertgegensätze, das metaphysische Wertedenken in gewisser Weise fortsetzt. Den »Erfinder von neuen Werthen« (Za I: Von den Fliegen des Marktes, KSA 4, 65) preist Nietzsche so etwa als einen »Schaffenden« (z.B. 171 172
Martin Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, S. 239. S. z.B. ebd., S. 214: Nietzsche halte die Bewusstwerdung des Prinzips der Wertsetzung für eine ›Umwertung aller Werte‹ und damit für eine Überwindung der Metaphysik: »Allein jede Umkehrung dieser Art bleibt nur die sich selbst blendende Verstrickung in das unkennbar gewordene Selbe.« 173 S. z.B. ebd., S. 233. 174 Ebd., S. 240. 175 Ebd., S. 243. 176 S. Titel von Heideggers Aufsatz. 177 Ebd., S. 239f. In der Tat wurde in Kapitel 2.1.2 gezeigt, dass Nietzsches Schlagwort vom ›Tod Gottes‹ im Grunde nichts über die tatsächliche Existenz oder Nicht-Existenz Gottes aussagt, sondern das Sich-Entwerten eines obersten ›Wertes‹ beschreibt. 178 Ebd., S. 240. 179 Ebd., S. 193. 180 Ebd., S. 239.
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Za II: Von den Mitleidigen, ebd., 116), der in einem Akt des Mutes und der Härte,181 sich selbst und die herrschende Wertordnung überwindet und dabei keine Opfer scheut: Und wenn dir nunmehr alle Leitern fehlen, so musst du verstehen, noch auf deinen eigenen Kopf zu steigen: wie wolltest du anders aufwärts steigen? Auf deinen eigenen Kopf und hinweg über dein eigenes Herz! […] Von sich absehn lernen ist nöthig, um Viel zu sehn […]. (Za III: Der Wanderer, ebd., 194) Der Schaffende erhebt sich zum »Richter«, stellt sein »Gesetz« auf (Za I: Vom Wege des Schaffenden, ebd., 81) und »erlöst« »vom Leiden« (Za II: Auf den glückseligen Inseln, ebd., 110), indem er »des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn giebt« (Za III: Von alten und neuen Tafeln 2, ebd., 247). Da Nietzsche jeden Wertekanon als Ausformung des ›Willens zur Macht‹ betrachtet, unterscheidet er zwischen der sogenannten »Herren-« und der »Sklaven-Moral«.182 Während die ›Herren-Moral‹ starke Individuen zur Voraussetzung habe, welche sich und das Leben bejahen, stehe die ›Sklaven-Moral‹, wie etwa jene des Christentums, im Zeichen der ›Dekadenz‹, denn hier wolle der ›Schwache‹ und ›Kranke‹ ›zur Macht‹: [D]ie Herren-Moral (»römisch«, »heidnisch«, »klassisch«, »Renaissance«) […] als die Zeichensprache der Wohlgerathenheit, des aufsteigenden Lebens, des Willens zur Macht als Princips [sic!] des Lebens. Die Herren-Moral bejaht ebenso instinktiv, wie die christliche verneint (»Gott«, »Jenseits«, »Entselbstung« lauter Negationen). Die erstere giebt aus ihrer Fülle an die Dinge ab […], die letztere verarmt, verblasst, verhässlicht den Werth der Dinge, sie verneint die Welt. (WA: Epilog, KSA 6, 50f) Nietzsches Darstellung des ›Schaffenden‹, welcher bei der Durchsetzung seines ›Willens‹ auch Opfer in Kauf nehme, sein Loblied auf die ›Herrenmoral‹, die Betonung der Ungleichheit der Menschen und die Aussicht auf ein kommendes Zeitalter des ›Übermenschen‹ hat besonders unter rechten Lesern eine große Breitenwirkung entfaltet und Nietzsches Bild maßgeblich geprägt. Es ist nicht zu leugnen, dass einige seiner Formulierungen, einzeln betrachtet, eine erstaunliche Radikalität aufweisen: Sagen wir es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Cultur auf Erden angefangen hat! Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren […] noch im Besitz 181
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Zum »Muth« des Schaffenden s. z.B. Za IV: Von der Wissenschaft, KSA 4, 377; zur Härte s. z.B. Za III: Von alten und neuen Tafeln 29, ebd., 268: »Die Schaffenden nämlich sind hart. […] Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch: werdet hart!« JGB: Neuntes Hauptstück 260, KSA 5, 208: »Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen […] fand ich gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt Herren-Moral und Sklaven-Moral […].«
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere […] Rassen, oder auf alte mürbe Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken verflackerte. […] [Auch jener Körper] wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, […] nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er lebt, und weil Leben eben Wille zur Macht ist. […] Die »Ausbeutung« gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und primitiven Gesellschaft an: sie gehört in’s Wesen des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. (JGB: Neuntes Hauptstück 257-259, KSA 5, 205-208) Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man noch stossen! Das Alles von Heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich will es noch stossen! […] Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir – schneller fallen! (Za III: Von alten und neuen Tafeln 20, KSA 4, 261f) Der Leser darf hier nicht außer Acht lassen, dass Nietzsches Ausführungen sich erstens nicht als Anleitung zu einer praktischen Lebensführung verstehen, und zweitens Teil eines Weltentwurfs sind, demzufolge das Leben »selbst« »wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte […], Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung« ist (JGB: Neuntes Hauptstück 259, KSA 5, 207). Nietzsche möchte das dergestalt ambivalente Leben frei von jeder der Sprache immer schon eingeschriebenen Wertung wissen: »[…] – aber wozu sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von Alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist?« (ebd.). Das ›Verletzen‹ und ›Ausbeuten‹ des Lebens entspricht in Nietzsches Terminologie dem Einbruch des ›Dionysischen‹ oder ›Tragischen‹, so dass zunächst gewalttätig anmutende Abschnitte abgemildert scheinen, sobald man sie als Selbstermahnungen eines durch das ›Dionysische‹ ›geschüttelten‹ Einzelindividuums liest, welches trotz seines Wissens um die Vergänglichkeit des Seins, sich immer wieder aufs Neue überwindet und den Mut zu neuem Schaffen aufbringt: Jetzt muss das Mildeste an dir noch zum Härtesten werden. Wer sich stets viel geschont hat, der kränkelt zuletzt an seiner vielen Schonung. Gelobt sei, was hart macht! Ich lobe das Land nicht, wo Butter und Honig – fliesst! […] Also sprach Zarathustra im Steigen zu sich, mit harten Sprüchlein sein Herz tröstend: denn er war wund am Herzen wie noch niemals zuvor. […] Vor meinem höchsten Berge stehe ich und vor meiner längsten Wanderung: darum muss ich erst tiefer hinab in den Schmerz als ich jemals stieg, bis hinein in seine schwärzeste Fluth! So will es mein Schicksal: Wohlan! Ich bin bereit. (Za III: Der Wanderer, KSA 4, 194f)
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Die Beteuerungen der ›Härte‹ und der ›Gewalt‹ richten sich, wie das Beispiel zeigt, nicht an ein Gegenüber – Nietzsches Philosophie ist ein Denken der Einsamkeit –, sondern an das eigene Ich, welches lernen muss, den grausamen Seiten des Lebens zum Trotz, sich aufzuraffen und dem Leben zuversichtlich entgegenzublicken. Auf diese Weise erschließt sich Nietzsches Begriff ›Übermensch‹: Nach dem ›Tod Gottes‹, dem Verlust aller Sicherheiten und der Bewusstwerdung des willkürlichen Kreislaufs aller Dinge solle sich der Mensch, statt zu verzweifeln, dem Werde- und Willensspiel fügen und gleich dem Leben, sich unzähligen Überwindungen überlassen, aus welchen er jedes Mal mit neuer Hoffnung hervorgehe: Müssen nicht um der Leichten, Leichtesten willen – Maulwürfe und schwere Zwerge dasein? – – Dort war’s auch, wo ich das Wort »Übermensch« vom Wege auflas, und dass der Mensch Etwas sei, das überwunden werden müsse […]. (Za III: Von alten und neuen Tafel 2-3, KSA 4, 248) Gott starb: nun wollen wir, – dass der Übermensch lebe. (Za IV: Vom höheren Menschen 2, ebd., 357) Einen Menschen, der so zu leben vermag, der sich nicht als »Zweck«, sondern als »Brücke« (Za III: Von alten und neuen Tafeln 3, ebd., 248), als »Über-« und »Untergang« (Za IV: Vom höheren Menschen 3, ebd., 357) versteht, bezeichnet Nietzsche als ›Übermenschen‹. Nach ihm zu streben, solle des Einzelnen höchstes Ziel sein: Durst dem Schaffenden, Pfeil und Sehnsucht zum Übermenschen: sprich, mein Bruder, ist diess dein Wille zur Ehe? Heilig heisst mir solch ein Wille und solche Ehe. (Za I: Vom Kind und Ehe, ebd., 92) Wohlan! Wohlauf! Ihr höheren Menschen! Nun erst kreisst [sic!] der Berg der Menschen-Zukunft. (Za IV: Vom höheren Menschen 2, ebd., 357) Die Vorstellung des ›Übermenschen‹ als Gegenteil des nihilistischen ›letzten Menschen‹, wird Nietzsche zum Ausgangspunkt seiner elitären Überzeugung von der ›Ungleichheit‹ der Menschen: Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht vermischt und verwechselt sein. Denn so redet mir die Gerechtigkeit: »die Menschen sind nicht gleich.« Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe zum Übermenschen, wenn ich anders spräche? (Za II: Von den Taranteln, KSA 4, 130) Das christliche Postulat der Gleichwertigkeit vor Gott, welche er durch den ›Tod‹ dieses Gottes als beendet betrachtet,183 weist er folglich energisch zurück: Zum 183
S. Za IV: Vom höheren Menschen 1, KSA 4, 356: »›Ihr höheren Menschen, – so blinzelt der Pöbel – es giebt keine höheren Menschen, wir sind Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott
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einen leugne sie die dem Leben inhärente Vielfalt, welche Nietzsche, statt sie »vermischt« und »versöhnt« (EH: Warum ich so klug bin 9, KSA 6, 294) zu wissen, durch ein »Pathos der Distanz« und ein »Finger[gefühl] für nuances«184 aufrechterhalten möchte. Zum anderen verhindere sie »jede Erhöhung«, »jedes Wachsthum der Cultur«, welches ein »Distanz-Gefühl zwischen Mensch und Mensch« voraussetze (AC 43, KSA 6, 218). Nietzsche steigert seine Übermenschen-Theorie zur Vision eines »fernen Menschen-Reichs« »von tausend Jahren« (Za IV: Das Honig-Opfer, KSA 4, 298) bzw. »einer neuen über Europa herrschenden Kaste« (JGB: Sechstes Hauptstück 208, KSA 5, 140). Mit der Vorstellung eines ›Tausendjährigen‹ oder auch ›Dritten Reichs‹ – heute fast ausschließlich mit der nationalsozialistischen Propaganda assoziiert – übernimmt er die seit dem zweiten Jahrhundert n. Chr. wirksame und um die Jahrhundertwende zwischen 19. und 20. Jahrhundert neu auflebende Erwartung einer Epoche der »Vollendung, Aufhebung und Versöhnung« von Gegensätzen. Während diese Erwartungshaltung ursprünglich an die Offenbarung des Johannes und die darin verkündete »Prophetie des Tausendjährigen Reiches Christi auf Erden« als das »Dritte Reich« des »Heiligen Geistes« (nach dem »Reich des Vaters« und demjenigen »des Sohnes«) anknüpfte, gewann sie zunehmend »politisch-utopische« Bedeutung, bis sie schließlich »durch den Nationalsozialismus« »vereinnahmt« wurde (das Deutsche Reich als das ›Dritte‹ oder ›Tausendjährige Reich‹ nach dem »Heiligen Römischen Reich« und dem »Bismarckreich«).185 Vor diesem Hintergrund erübrigt es sich zu erwähnen, dass Nietzsches Zukunftsvision eines ›Reichs‹ von ›Übermenschen‹ unter rechten Lesern, ungeachtet ihres tieferen philosophischen Gehalts, auf große Resonanz stieß. Eine ähnliche Wirkung erzielte seine Rede vom ›Krieg‹, welcher in Nietzsches Rhetorik zu einer Metapher des niemals stillstehenden Lebens wird, wobei er die diesem zugrunde liegende Bewegung auf das Spannungsverhältnis ›sich bekriegender‹ Kräfte zurückführt. Der Mensch oder ›Übermensch‹ erweist sich in der Allegorie des ›Krieges‹ als »Kämpfender« (Za I: Von der schenkenden Tugend 2, KSA 4, 100), welcher mithilfe seiner »Waffen« »Gut« und »Böse« (Za II: Von den Taranteln, ebd., 130) Widerstände überwinde und sich dabei »nicht« »schone«: Der freie Mensch ist Krieger. – Wonach misst sich die Freiheit, bei Einzelnen, wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der überwunden werden muss, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Den höchsten Typus freier Menschen hätte man – sind wir Alle gleich!« Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Pöbel aber wollen wir nicht gleich sein. Ihr höheren Menschen, geht weg vom Markt!« 184 Vgl. GM: Dritte Abhandlung 14, KSA 5, 371; GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 37, KSA 6, 138; AC 43, KSA 6, 218; GD: Was den Deutschen abgeht 7, KSA 6, 110; EH: Warum ich so weise bin 1, KSA 6, 266; EH: Der Fall Wagner 4, ebd., 362. 185 G. Gabriel: »Reich, Drittes«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8: R-Sc, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992), S. 496ff.
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dort zu suchen, wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird […]. (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 38, KSA 6, 140) Was liegt am Lang-Leben! Welcher Krieger will geschont sein! Ich schone euch nicht, ich liebe euch von Grund aus, meine Brüder im Kriege! (Za I: Vom Krieg und Kriegsvolke, KSA 4, 60) Da Nietzsche, der sich selbst »[s]einer Art nach« als »kriegerisch« bezeichnet (EH: Warum ich so weise bin 7, KSA 6, 274),186 Stillstand, d.h. den Zustand konkurrenzloser Macht, mit Monotonie und ›Tod‹ gleichsetzt, ermahnt er dazu, »stolz auf [seinen] Feind« zu »sein« (Za III: Von alten und neuen Tafeln 21, KSA 4, 262) und den »kurzen Frieden« »als Mittel zu neuen Kriegen« zu »lieben« (Za IV: Gespräch mit den Königen 2, ebd., 307). Auch hier zeigt sich also, dass Nietzsche nicht wörtlich genommen werden darf. Die Kriegsthematik steht vielmehr im Kontext eines Lebensentwurfs, welcher sich im Unterschied zu dogmatischen Modellen, auf das Prinzip des Wechsels und Wandels aller Erscheinungen, aller Wertsetzung und Wahrheit gründet: Gegen die Tyrannei des Wahren. – […] ich wüsste nicht, warum die Alleinherrschaft und Allmacht der Wahrheit zu wünschen wäre […] sie muss kämpfen können und eine Gegnerschaft haben, und man muss sich von ihr im Unwahren ab und zu erholen können, – sonst wird sie uns langweilig, kraft- und geschmacklos werden und uns eben dazu auch machen. (M: Fünftes Buch 507, KSA 3, 297) Was die Darstellung des dionysisch-apollinischen Lebenskreislaufes und des sich selbst überwindenden ›Willens zur Macht‹ bereits impliziert, vervollständigt Nietzsche im Dritten Buch von Also sprach Zarathustra mit der Verkündung der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹. Zum ersten Mal erscheint der ›Wiederkunftsgedanke‹ im Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, wo er als das »grösste Schwergewicht« präsentiert wird: Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: »Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!« (FW: Viertes Buch 341, KSA 3, 570) 186 S. ebd.: »Angreifen gehört zu meinen Instinkten. Feind sein können, Feind sein – das setzt vielleicht eine starke Natur voraus […].«
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In Ecce homo beschreibt Nietzsche, wie ihm der Gedanke im August des Jahres 1881, d.h. vor dem Erscheinen der Fröhlichen Wissenschaft, während eines Spaziergangs am See von Silvaplana im Schweizer Engadin, gleich einer ›Inspiration‹187 eingegeben wurde: »[B]ei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke.« (EH: Also sprach Zarathustra 1, KSA 6, 335). Er veranschaulicht die ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ in der Parabel vom »Gesicht und Räthsel«, welche der Figur Zarathustra in den Mund gelegt wird. Dieser selbst oder vielleicht eine ihm vertraute Person steigt darin schweren Herzens einen Bergpfad hinauf, während ihn ›der Geist der Schwere‹, »halb Zwerg, halb Maulwurf«, als Sinnbild aller trübsinnigen Gedanken und Befürchtungen, auf ihm sitzend, niederdrückt. An einem bestimmten Punkt des Weges überwindet er sich jedoch, gebietet dem ›Geist‹ Einhalt – »Halt! Zwerg! […] Ich! Oder du! Ich aber bin der Stärkere von uns Beiden […].« (Za III: Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4, 199) – und stellt sich der Wahrheit, welche in der Einsicht in die ›ewige Kreisbewegung‹ alles Seienden besteht: »Siehe diesen Thorweg! Zwerg! sprach ich weiter: der hat zwei Gesichter. Zwei Wege kommen hier zusammen […] Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus – das ist eine andre Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege […]. Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben: »Augenblick«. Aber wer Einen von Ihnen weiter gienge – […] glaubst du, Zwerg, dass diese Wege sich ewig widersprechen?« – »Alles Gerade lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.« (Za III: Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4, 199f) Das Erschreckende bzw. »Abgründliche« (Za III: Von der Seligkeit wider Willen, ebd., 205) des Gedankens ist die Vorstellung eines Lebens, welches nicht nur jeder Form von Dauerhaftigkeit und Beständigkeit entbehrt und sich daher als ein »Reich« des Zufalls (vgl. M: Zweites Buch 130, KSA 3, 120), des »Ohne-Sinns« (GM: Dritte Abhandlung 28, KSA 5, 412) und der »Fatalität« (GD: Die vier grossen Irrthümer 8, KSA 6, 96) darstellt, sondern in welchem sich das Ziel- und Sinnlose zudem ohne die Möglichkeit einer zweckgerichteten Entwicklung ewig wiederholt.188 Bereits in der Geburt der Tragödie hatte Nietzsche die »tragische Erkenntnis« der Einsicht gleichgesetzt, dass »sich« »die Logik« »um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst« (GT 15, KSA 1, 101). Später wird er das ziellose 187
Alois Maria Haas, der Nietzsches Gedanken der ›ewigen Wiederkehr‹ als mystische Eingebung beschreibt, nennt Nietzsche einen »Inspirierten«, s. Alois Maria Haas, Nietzsche zwischen Dionysos und Christus, S. 8f. 188 S. z.B. Za III: Der Genesende 2, KSA 4, 274: »›Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess [sic!] du müde bist, der kleine Mensch‹ […]. […] ›ach, der Mensch kehrt ewig wieder! Der kleine Mensch kehrt ewig wieder!‹ […] Und ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! – Das war mein Überdruss an allem Dasein!«
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Kreisen in Anlehnung an einen Begriff der Logik als »circulus vitiosus« (JGB: Drittes Hauptstück 56, KSA 5, 75) bezeichnen. Dieser verweist ursprünglich auf einen »Zirkelbeweis«, »in dem das zu Beweisende bereits vorausgesetzt wird« bzw. in dem das »definiendum bereits im definiens vorkommt«.189 Zirkelbeweise deuten meist auf ein Versagen logisch-rationaler Erklärungen hin, welches der verunsicherte Mensch durch ›Pseudobeweise‹ zu überspielen versucht. Nietzsche versteht die ›ewige Wiederkehr‹ demnach als eine Vorstellung, welche sich dem Verstand entzieht. Damit verdichtet sie das ganze Ausmaß dessen, was Nietzsche als das ›Tragische‹ bezeichnet. Selbst Zarathustra als der »Lehrer« der ›ewigen Wiederkehr‹ (ZA III: Der Genesende 2, KSA 4, 275), ist nicht vor ihrer tragischen Seite gefeit, auch in ihm löst sie Ängste und Widerstände aus, welche noch vor ihrer Verkündung im Dritten Buch, in leisen Anspielungen zutage treten: […] Aber an dieser Stelle seiner Rede geschah es, dass Zarathustra plötzlich innehielt und ganz einem Solchen gleich sah, der auf das Äusserste erschrickt. Mit erschrecktem Auge blickte er auf seine Jünger […]. (Za II: Von der Erlösung, ebd., 181) […] Dann sprach es ohne Stimme zu mir: »Du weisst es, Zarathustra?« – Und ich schrie vor Schrecken bei diesem Flüstern, und das Blut wich aus meinem Gesichte: aber ich schwieg. […] Und ich antwortete endlich gleich einem Trotzigen: »Ja, ich weiss es, aber ich will es nicht reden!« […] Ach meine Freunde! Ich hätte euch noch Etwas zu sagen, ich hätte euch noch Etwas zu geben! Warum gebe ich es nicht? […] (Za II: Die stillste Stunde, ebd., 188ff) Indem Zarathustra die ›ewige Wiederkehr‹ schließlich nicht nur als unveränderliche Gegebenheit akzeptiert, sondern sie als »Fürsprecher des Kreises« (Za III: Der Genesende, ebd., 271) sogar bejaht, gelingt es ihm, das Entsetzliche des Wiederkunftsgedankens zu überwinden.190 Durch die Einbindung des ›Willens‹ in das Wiederkunftsgeschehen, d.h. durch ein »Zurückwollen« des ehemals Gewollten, erlöse sich der ›Wille‹ bzw. der ›wollende‹ Mensch: Alles »Es war« ist ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall – bis der schaffende Wille dazu sagt: »aber so wollte ich es!« – Bis der schaffende Wille dazu sagt: »Aber so will ich es! So werde ich’s wollen!« (Za II: Von der Erlösung, ebd., 181) Die Bejahung oder, in Nietzsches Worten, die Liebe zum Schicksal, »amor fati« (FW: Viertes Buch 276, KSA 3, 521; EH: Der Fall Wagner 4, KSA 6, 363) solle so weit 189 J. Mau: »Circulus vitiosus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1: A-C, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971), S. 1018. 190 S. Za III: Von der Seligkeit wider Willen, KSA 4, 203: »[…] da hatte er allen seinen Schmerz überwunden –: siegreich und mit festen Füssen stand er wieder auf seinem Schicksal.«
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reichen, dass der Mensch das »Glück« und »Schmerz« (Za IV: Das NachtwandlerLied 11, KSA 4, 403) umfassende Leben mit dem »Stempel des Ewigen« (GT 23, KSA 1, 148) versehen möchte. Statt das Leben als Last zu empfinden und den Tod herbeizusehnen, heiße es nun im Gegenteil: »›War Das – das Leben?‹ will ich zum Tode sprechen. ›Wohlan! Noch Ein Mal!‹« (Za IV: Das Nachtwandler-Lied 1, KSA 4, 395f). Die zwölf Schläge der Mitternachtsglocke, die einerseits die Zeitlichkeit des Lebens aufzeigen und so für die allgemeine Vergänglichkeit stehen, versinnbildlichen andererseits den sich in alle Ewigkeit wiederholenden Augenblick, welcher Lust und Leid für immer vereint: Eins! Oh Mensch! Gieb Acht! Zwei! Was spricht die tiefe Mitternacht? […] Fünf! »Die Welt ist tief, Sechs! »Und tiefer als der Tag gedacht. Sieben! »Tief ist ihr Weh –, Acht! »Lust – tiefer noch als Herzeleid: Neun! »Weh spricht: vergeh! Zehn! »Doch alle Lust will Ewigkeit –, Elf! »– will tiefe, tiefe Ewigkeit! Zwölf! (Za III: Das andere Tanzlied 3, ebd., 285f)191 Dass die ›ewige Wiederkehr‹ bereits seit der Geburt der Tragödie in der bejahenden Vorstellung dionysisch-apollinischer Lebensverwandlungen mitgedacht ist, bringt Nietzsche in späteren Schriften selbst zum Ausdruck, wenn er so beispielsweise in den »dionysischen« »Mysterien« »[d]as ewige Leben«, »die ewige Wiederkehr des Lebens«, »die Zukunft in der Vergangenheit«, »das triumphirende [sic!] Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus« »verbürgt« sieht (GD: Was ich den Alten verdanke 4, KSA 6, 159). Die Wiederkunftsvorstellung impliziert selbstredend ein Denken »jenseits von Gut und Böse« (z.B. Za III: Vor Sonnen-Aufgang, KSA 4, 209).192 Feste Werte verlieren ihre Verbindlichkeit, sie erscheinen nur mehr als »Zwischenschatten«, »feuchte Trübsale und Zieh-Wolken« (ebd.) in einem »dunklen, treibenden, unersättlich sich selbst begehrenden« (UB II 3, KSA 1, 269) Lebensfluss.193 Da alles ewigen Verwandlungen unterworfen ist, verschmelzen im »Würz- und Mischkruge« des Seins selbst Gegensätze zu einer Einheit: »[D]enn es giebt ein Salz, das Gutes mit Bösem bindet […]« (Za III: Die sieben Siegel 4, KSA 4, 289). Symbol des rational nicht mehr einholbaren Zusammenfalls der ineinander verschlungenen und miteinander verworrenen Gegensätze ist das ›Labyrinth des Minotauros‹, welchem Theseus, dem Mythos nach,194 nur mithilfe des Wollknäuels der Ariadne Die ›Mitternachtsglocke‹ erscheint erneut im Vierten Buch von Also sprach Zarathustra, s. Za IV: Das Nachtwandler-Lied, KSA 4, 395-404. 192 S.a. Nietzsches ein bis zwei Jahre nach dem Erscheinen von Also sprach Zarathustra entstandenes Werk Jenseits von Gut und Böse. 193 Vgl. Za III: Von alten und neuen Tafeln 8, KSA 4, 252: »Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? Sind nicht alle Geländer und Stege in’s Wasser gefallen? Wer hielte sich noch an ›Gut‹ und ›Böse‹?« 194 In der Bibliotheke des Apollodor wird berichtet, wie Theseus den Minotaurus mithilfe der von Ariadne erdachten List bezwingt und daraufhin mit letzterer, die er zur Frau nehmen will, 191
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lebend entkam. Dem in Nietzsches Philosophie die ›ewige Wiederkehr‹ verkörpernden Gott Dionysos, welcher im Mythos, bald nach Theseusʼ Abenteuer, ausgerechnet zu Ariadnes Geliebtem wird, legt Nietzsche folgende Worte in den Mund: »Sei klug, Ariadne!… […] Muss man sich nicht erst hassen, wenn man sich lieben soll? …Ich bin dein Labyrinth…« (DD: Klage der Ariadne, KSA 6, 401).195 Die Textstelle verdeutlicht das dem Wiederkunftsgedanken typische Merkmal der Ambivalenz. Insofern die Erfahrung der ›ewigen Wiederkehr‹ nämlich einerseits Furcht und Entsetzen auslöst (versinnbildlicht durch das ›Labyrinth des Minotauros‹), andererseits in gewisser Weise verlockend-anziehend wirkt, kann sie in Anlehnung an einen Begriff von Rudolf Otto, als »Mysterium tremendum et fascinosum« bezeichnet werden.196 Darin scheint bereits der religiöse Gehalt der Wiederkunftserfahrung auf, denn Ottos Konzept beschreibt ein »ambivalentes«, »religiöses Erfahren«, welches der »rational begrifflichen Bestimmung weitestgehend entzogen« ist.197 Nietzsche ist sich darüber im Klaren, dass das Irrationale eines solchen Gedankens kaum mit der menschlichen Verstandestätigkeit zu vereinbaren ist, ja von dieser geradezu als Bedrohung empfunden wird. Entgegen seiner Überzeugung vom ewigen Wandel des Seins, betont er daher die »Nothwendigkeit« des »Scheins« bzw. des »Perspektivischen« (GT: Versuch einer Selbstkritik 5, KSA 1, 18), welches der Leser mühelos mit dem ›Apollinischen‹ identifizieren kann. Im Kreislauf des Lebens gebe es zeitweilige Zustände der Stabilität, welche dem Menschen inmitten des dionysischen Wandels als Erholung dienten: »[E]s bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten […]« (JGB: Zweites Hauptstück 34, KSA 5, 53). Diese seien jedoch keine absoluten ›Realitäten‹ oder ›Wahrheiten‹, sondern perspektivische – vom herrschenden ›Willen zur Macht‹ abhängige – Betrachtungen: Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal »unendlich« geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst. (FW: Fünftes Buch 374, KSA 3, 627) nach Naxos aufbricht. Dort verliebt sich der Gott Dionysos in die schöne Ariadne, raubt sie und zeugt mit ihr mehrere Söhne, darunter Oinopion, s. Apollodor, Bibliotheke, S. 242-245. 195 S.a. GM: Dritte Abhandlung 24, KSA 5, 399: »Hat wohl je schon ein europäischer, ein christlicher Freigeist sich in diesen Satz [›Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt‹] und seine labyrinthischen Folgerungen verirrt? kennt er den Minotauros dieser Höhle aus Erfahrung?… Ich zweifle daran, mehr noch, ich weiss es anders […].« 196 Otto entwickelt den Begriff in seinem Hauptwerk Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), s. A. Paus: »Mysterium tremendum et fascinosum«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo-O, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984), 267f. 197 Ebd.
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Die Ähnlichkeit zwischen Nietzsches ›ewiger Wiederkehr‹ und den milesisch-vorsokratischen Kosmologien ist unverkennbar. Versuchte bereits der antike Mythos mit seinen vielfältigen Götter- und Menschengestalten, das Leben ganzheitlich zu erfassen, so beruhten die kosmologischen Entwürfe der Vorsokratiker Thales, Anaximander und Heraklit, wie Nietzsche selbst feststellt, auf dem Grundgedanken »Alles ist Eins« (PHG 3, KSA 1, 813). Um die widersprüchlichen Erfahrungen Wandel und Dauerhaftigkeit in Einklang zu bringen, stellten sie sich die beiden Lebensbereiche, statt sie zu trennen, als Teil eines widersprüchlichen Ganzen vor, welches sie ›Kosmos‹ nannten. Im Gegensatz zu Modellen der platonisch-christlichen Tradition, welche, Nietzsche zufolge, mit dem Vorsokratiker Parmenides ihren Ausgang nahm, vertritt auch Nietzsche eine Lebensauffassung, welche von einer in sich geschlossenen, Gegensätze umfassenden Welt der Immanenz ausgeht. Anaximander hatte alles Seiende und seine Veränderungen auf das ›Unbegrenzte‹, das unveränderliche ápeiron, zurückgeführt. Jedes Entstehen gehe aus ihm hervor, um bei seinem Vergehen wieder in es zurückzufließen. Daher wiederhole sich der Vorgang, bei welchem das Entstehen eines Elements mit dem Absterben eines anderen bezahlt werde, in alle Ewigkeit. Der durch Theophrast und Simplikios überlieferte ›Satz des Anaximander‹, welcher diesen Gedanken ausführt, lautet in deutscher Übersetzung folgendermaßen: Woraus aber für das Seiende das Entstehen ist, dahinein erfolgt auch ihr Vergehen gemäß der Notwendigkeit; denn sie schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.198 Nietzsche scheint Anaximanders Satz von der Gesetzmäßigkeit des Werdens aus dem Gedächtnis zu zitieren, wenn er über den Wechsel von ›Apollinischem‹ und ›Dionysischem‹ schreibt: […] so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind. (GT 25, KSA 1, 155) In besonderer Weise spiegelt Nietzsches Lebenskonzeption jedoch die Kosmologie Heraklits und dessen Überzeugung wider, dass aufgrund eines steten Fließens und Werdens »alles eins« sei.199 Jede scheinbar feste Identität verwandle sich im nächsten Moment in ihr Gegenteil, so dass das Leben nichts als wechselnder Schein sei.200 Nietzsche macht keinen Hehl aus seiner Bewunderung für Heraklits ›Flusslehre‹, ja betont sogar die Verwandtschaft ihrer Denkansätze: 198 Zitiert nach Christof Rapp, Vorsokratiker, S. 45. Zum ápeiron, s.a. S. 38-44. 199 Ebd., S. 71. 200 Vgl. ebd., S. 73-83.
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Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen Heraklit’s bei Seite. Wenn das andre Philosophen-Volk das Zeugniss der Sinne verwarf, weil dieselben Vielheit und Veränderung zeigten, verwarf er deren Zeugniss, weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheit hätten. (GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 2, KSA 6, 75) Vor mir giebt es diese Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos nicht […]. Ein Zweifel blieb mir zurück bei Heraklit, in dessen Nähe überhaupt mir wärmer, mir wohler zu Muthe wird als irgendwo sonst. Die Bejahung des Vergehens und Vernichtens, das Entscheidende in einer dionysischen Philosophie, […] das Werden […] – darin muss ich unter allen Umständen das mir Verwandteste anerkennen, was bisher gedacht worden ist. (EH: Die Geburt der Tragödie 3, KSA 6, 312f) Bereits in der Geburt der Tragödie hatte er den Wechsel von ›Apollinischem‹ und ›Dionysischem‹ und das damit einhergehende »Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt«, unter Verwendung eines, wie Nietzsche angibt, von Heraklit stammenden Bildes, »einem Kinde verglichen«, »das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft« (GT 24, KSA 1, 153). Der Zustand des »Kindes«, in welchem der Mensch seine spielerische Unschuld und sein vorurteilsfreies, bejahendes Verhältnis zum Leben wiedererlangt, gilt Nietzsche als die höchste Stufe des menschlichen »Geistes« (Za I: Von den drei Verwandlungen, KSA 4, 29-31). Das »Werden« selbst möchte er als frei von jeder moralischen oder teleologischen Stigmatisierung und somit als »unschuldig« verstanden wissen (vgl. GD: Die vier grossen Irrthümer 8, KSA 6, 96f). Die größte Ehre jedoch erweist er Heraklit, wenn er einräumt, die Lehre von der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ als der Kern seines philosophischen Denkens, sei im Grunde durch ihn, Heraklit, vorweggenommen worden: Die Lehre von der »ewigen Wiederkunft«, das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustra’s könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. […] (EH: Die Geburt der Tragödie 3, KSA 6, 313) Als eingebunden in diesen »unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge« (ebd., s.o.) betrachtet Nietzsche erstaunlicherweise auch das ›Entstehen‹ und ›Absterben‹ von ›Göttern‹. Hier enthüllt sich noch einmal, dass Nietzsches Rede von ›Gott‹ oder ›Göttern‹ nicht eigentlich auf deren tatsächliche, vom Menschen unabhängige Existenz verweist, sondern impliziert, dass ›Götter‹, ebenso wie Wertmaßstäbe, Sitten und Anschauungen (Nietzsches eigene Philosophie eingeschlossen) Produkte des menschlichen ›Willens zur Macht‹ darstellen:
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Die wundervolle Kunst und Kraft, Götter zu schaffen […] Die Erfindung von Göttern, Heroen und Uebermenschen aller Art, sowie von Neben- und Untermenschen, von Zwergen, Feen, Centauren, Satyrn, Dämonen und Teufeln, war die unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen […]. (FW: Drittes Buch 143, KSA 3, 490) Da der ›Wille zur Macht‹ naturgemäß ein lebendiges, auf Bewegung und Wandel beruhendes Prinzip darstellt, sind, Nietzsche zufolge, auch ›Götter‹ keine beständigen Erscheinungen, sondern, dem natürlichen Wandel unterworfen. Dass ein Gottglaube, wie derjenige an den christlichen Gott, sich über so viele Jahrhunderte behauptet habe, betrachtet er, wie schon erwähnt, als Zeichen von Krankheit, als »die grösste Gefahr der bisherigen Menschheit« bzw. als »vorzeitigen Stillstand« (ebd.).201 Nietzsche verurteilt daher nicht das Erschaffen neuer Götter und Glaubensinhalte, sondern das Verharren in alten Schemen und Dogmen, welches, so Nietzsche, zur allgemeinen Erschlaffung und Schwächung der Kultur führe. Als Denker der Pluralität begrüßt er den »Polytheismus« als »die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen« und »die Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere: sodass es für den Menschen allein unter allen Thieren keine ewigen Horizonte und Perspectiven giebt.« (ebd., 491). Dass Nietzsche mit diesem Ansatz, entgegen seinem Vorhaben, die abendländische Metaphysik zu überwinden, selbst weiterhin in der Metaphysik verharrt bzw. in eine, wenn auch eigentümliche Form der Metaphysik zurückkehrt, haben Martin Heidegger und der durch letzteren stark beeinflusste, französische Philosoph Jean-Luc Marion behauptet und erläutert. Beide verstehen sich als die eigentlichen Überwinder der ontotheologischen Struktur der Metaphysik, indem sie sich außerhalb des »Seienden«202 (Heidegger) bzw. der »idolâtrie métaphysique« und »de 201 Nietzsche führt den ›Tod Gottes‹ auf einen Wandel des jüdisch-christlichen Gottesbegriffs zurück. Während der jüdische ›Gott‹ zunächst Ausdruck eines neuen ›Willens zur Macht‹ war und damit eine gewisse Stärke verkörperte, habe er sich gegen Ende seines ›Wirkens‹ zunehmend schwach und »willensmüde« gezeigt, s. Za IV: Ausser Dienst, KSA 4, 324: »Als er jung war, dieser Gott aus dem Morgenlande, da war er hart und rachsüchtig und erbaute sich eine Hölle zum Ergötzen seiner Lieblinge. Endlich aber wurde er alt und weich und mürbe und mitleidig, einem Grossvater ähnlicher als einem Vater, am ähnlichsten aber einer wackeligen alten Grossmutter. Da sass er, welk, in seinem Ofenwinkel, härmte sich ob seiner schwachen Beine, weltmüde, willensmüde, und erstickte eines Tags an seinem allzugrossen Mitleiden.« 202 Das Merkmal der ›Ontologie‹ bzw. ›Metaphysik‹ sei, »das Seiende als das Seiende« zu »denken«, s. Martin Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, S. 233 bzw. 194ff.
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l’Être«203 (Marion) positionieren, und stattdessen in die Erfahrung des »Seins«204 (Heidegger) bzw. die »distance« des »Dieu sans l’être«205 (Marion) ›eingehen‹. Heidegger und Marion verstehen das ›Sein‹ bzw. die ›Entfernung Gottes‹ dabei selbst wiederum als einen dem Menschen kaum zugänglichen, nur in Andeutungen beschreibbaren Urgrund des Göttlichen. Ausschlaggebend für beide ist paradoxerweise der Verzicht auf das wertende, ›anbetende‹ und ›Vorstellungen-generierende‹ Denken,206 welches sowohl in der traditionellen, platonisch-christlichen Metaphysik als auch in Nietzsches »Metaphysik des Willens zur Macht«207 , das Sein immer nur als das vom Menschen her gedachte »Seiende«208 begreife. Folglich trügen, so Marion, weder die klassische Metaphysik noch Nietzsches ›ewige Wiederkehr‹, der ›Distanz‹ (»la distance«) des »Dieu sans l’être« Rechnung,209 denn Gott sei vom Sein des Menschen völlig unabhängig: »Et si Dieu n’avait pas, d’abord à être, puiqu’il nous a aimé le premier, quand nous n’étions point?«210 Auch Heidegger beurteilt Nietzsches »Auslegung der übersinnlichen Welt« als »nicht aus dem Sein selbst gedacht«: »Der letzte Schlag gegen Gott und gegen die übersinnliche Welt besteht darin, dass Gott […] zum höchsten Wert herabgewürdigt wird.«211 Heidegger und Marion ist hier insofern recht zu geben, als Nietzsche ›Gott‹ oder das ›Heilige‹ sowohl in seiner bejahenden Form (als Glaube an ein oberstes Sein), als auch in jener des ›Gott ist tot‹ immer nur als menschliche Projektion und Wertsetzung betrachtet, nie jedoch der Frage nach einem außerhalb des menschlichen Bewusstseins existierenden höchsten Wesen nachgeht. Die beiden Interpreten kommen darin 203 Zur »idolâtrie«, s. Jean-Luc Marion: L’idole et la distance. Cinq études (Paris : Grasset 1977), v.a. S. 59. »[L]‹être« entspricht Heideggers »Seiendem«. In L’idole et la distance heißt es dazu z.B. : »Et donc ›Dieu‹ reste pensé à partir du nom de l’Être«, s. ebd., S. 101. Der Werktitel Dieu sans l’être beschreibt die der ›metaphysischen‹ entgegengesetzte Gotteskonzeption Marions, s. Jean-Luc Marion: Dieu sans l’être (Paris: Fayard 1982). 204 Martin Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, z.B. S. 194ff. 205 »[…]la distance de Dieu«, s. Jean-Luc Marion, L’idole et la distance, S. 103. Der Ausdruck »Dieu sans l’être« erscheint bereits im Titel von Marions Monografie, s. Jean-Luc Marion, Dieu sans l’être. 206 Heidegger hält jede Art des Wertens für ein »Töten«, s. Martin Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, S. 242f. Vgl. a. ebd., S. 247: Die »Vernunft« als die »hartnäckigste Widersacherin des Denkens«. Marion dagegen betrachtet das menschliche Denken als eine Form von ›Götzendienst‹, s.o. »idolâtrie métaphysique«. 207 Da Heidegger Nietzsche weiterhin der Metaphysik zuordnet, spricht er von der nietzscheanischen ›Metaphysik des Willens zur Macht‹, s. Martin Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, S. 215 u. 243. 208 Vgl. ebd., S. 196, 233. 209 S. Jean-Luc Marion, L’idole et la distance, S. 101 : »[…] détourne de considérer l’abîme qui s’ouvre […], où gît peut-être ce que nous appelons ›Dieu‹. L’écart que cet abîme ménage – la distance de Dieu […].«; vgl. a. ebd., S. 100-103 bzw. Jean-Luc Marion, Dieu sans l’être, S. 10f. 210 Jean-Luc Marion, Dieu sans l’être, S. 11. 211 Martin Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, S. 239f.
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überein, dass Nietzsche mit dem Lebensentwurf des ›Willens zur Macht‹ und der ›ewigen Wiederkehr‹, obgleich er die platonisch-christliche Transzendenz gewissermaßen in den Bereich des Sinnlichen integriert,212 dem metaphysischen Denken als dem menschlichen Ergründen von Sinn und Zweck und dem Aufzeigen heiliger Ursachen keinen Abbruch tut: Nietzsches Gegenbewegung gegen die Metaphysik ist als die bloße Umstülpung dieser die ausweglose Verstrickung in die Metaphysik. […] Weil das Denken nach Werten in der Metaphysik des Willens zur Macht gründet, ist Nietzsches Auslegung des Nihilismus eine metaphysische.213 [L]a »mort de Dieu« ne signifie pas que Dieu passe hors-jeu, mais indique le visage moderne de son insistante et éternelle fidélité. […] Nietzsche demeure idolâtre, parce que métaphysicien: la »mort de Dieu« […] énonce la mort du Dieu métaphysique (»Dieu moral«). Mais, comme demeure la structure onto-théologique de la métaphysique (volonté de puissance/ Éternel Retour), le divin, un autre divin réapparaît sous une forme encore métaphysique.214 Bei dieser Auslegung darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Heidegger und Marion mit einem so weiten Metaphysikbegriff arbeiten, dass auch ein konventioneller Atheismus, wie etwa jener des französischen Existenzialismus und seine Besinnung auf die Möglichkeiten irdisch-menschlicher Sinngebung und Entfaltung, ohne jeden im engeren Sinne metaphysischen Gehalt, unter die Kategorie ›Metaphysik‹ fallen würde, insofern auch hier das Setzen menschlicher Werte und das konkret-diesseitsgerichtete Handeln im Vordergrund steht. Zu Nietzsche zeichnet sich hier jedoch ein nicht unwesentlicher Unterschied ab, da dieser nämlich nicht nur jeder Form des religiösen Dogmas den Glauben aufkündigt, sondern auch dem vernünftigen, handlungsmächtigen Subjekt. Die Welt erscheint Nietzsche als ein sinnfreies Spiel des Zufalls, in dem alles, auch der Mensch selbst, der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ unterworfen ist. Der ›Unsinn‹ der Welt wird dabei selbst letztendlich zu einem gottgleichen Prinzip, in dessen Mitte der bejahende ›Übermensch‹ steht. »Und dies wäre nicht«, so fragt Nietzsche, »– circulus vitiosus deus?«, das ›lasterhafte‹, der Vernunft zuwiderlaufende ›Kreisen‹ als ›Gott‹, welches der Mensch »so wie es war und ist, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele […]« (JGB: Drittes Hauptstück 56, KSA 5, 75). Zwar lässt sich Nietzsches Entwurf als eindeutiger Gegensatz zur platonisch-christlichen Metaphysik Vgl. ebd., S. 193; s.a. Jean-Luc Marion, L’idole et la distance, S. 99: »Le divin […] Nietzsche l’attribue au monde.« 213 Martin Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, S. 200 u. 231. 214 Jean-Luc Marion, L’idole et la distance, S. 11 u. 100. 212
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und ihrer starren Trennung von Gott und Welt, Gut und Böse verstehen, zugleich scheint in ihm die Sphäre der Transzendenz jedoch in die Welt der Immanenz eingebettet. Die Vorstellung einer ›immanenten Transzendenz‹215 findet sich wiederum indirekt in der Aristotelischen Metaphysik bzw. ›Ontologie‹ als der Wissenschaft vom »göttlichen« »Sein«, welches sowohl das »Seiende« als auch die heiligen »Ursachen und Gründe des Seienden« umfasst.216 Erst unter den verschiedenen Aristoteles-Interpreten steigt die Tendenz der »Entontologisierung« der ›Metaphysik‹, welche zunehmend als die von der »Seinswissenschaft« (»metaphysica generalis«) abgetrennte Gotteswissenschaft (»metaphysica specialis«) verstanden wurde.217 Folglich ließe sich auch in Bezug auf Nietzsches Lebensentwurf von ›Metaphysik‹ oder ›Ontologie‹ sprechen. Reinhard Margreiter zufolge ist der »Grundzug« der nietzscheanischen »Ontologie« »herakliteisch«, es handle sich um »eine Ontologie des Werdens«.218 Nietzsche, der sich, wie bereits dargestellt, als Nachfolger der vorsokratischen Philosophie verstand, führt interessanterweise Thalesʼ Wasserkosmologie auf einen »metaphysischen Glaubenssatz«, »den Satz ›Alles ist Eins‹« zurück (PHG 3, KSA 1, 813). Dieser Satz verbirgt sich dabei nicht minder in Nietzsches eigener Philosophie. Da das Prinzip des ›Willens zur Macht‹ selbst in den Kreislauf der ›Wiederkehr‹ eingebunden ist, und diese als das Kernstück von Nietzsches Philosophie betrachtet werden kann, soll hier statt von der ›Metaphysik des Willens zur Macht‹ (Heidegger, s.o.), von der ›Metaphysik der ewigen Wiederkehr‹ die Rede sein. Diese ›Metaphysik‹ gründet auf der Vorstellung von der kosmischen Einheit der Widersprüche und weist so eine erstaunliche Ähnlichkeit zum Metaphysikverständnis des Renaissance-Philosophen Nikolaus von Kues (latinisiert ›Cusanus‹) auf, der in der »Aufhebung« des Aristotelischen »Satzes vom Widerspruch«, im rational nicht mehr zugänglichen »Zusammenfall der Gegensätze«, der coincidentia oppositorum, das eigentlich Metaphysische zu erkennen meinte und es mit ›Gott‹ identifizierte.219 Nietzsches Entwurf eines göttlichen Kosmos lässt darüber hinaus auch Züge des sogenannten ›Spinozismus‹ oder ›Pantheismus‹ erkennen. Während der Begriff des ›Pantheismus‹ erst 1705 durch J. Toland eingeführt wurde und sich nur schleppend durchsetzte, wurden »pantheistische Strömungen« seit der Antike lange Zeit schlichtweg als ›Spinozismus‹ bezeichnet, auch wenn jene zeitlich vor 215
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Aristoteles verwendet zur Bezeichnung seiner Philosophie natürlich weder den Begriff der ›Transzendenz‹, noch jenen der ›Immanenz‹, beide Begriffe wurden erst sehr viel später geprägt. Das Konzept einer ›immanenten Transzendenz‹ findet sich ausdrücklich erstmals um die Jahrhundertwende bei Simmel sowie Husserl, und wird bei Bloch wieder aufgenommen, s. J. Halfwassen/M. Enders: »Transzendenz, Transzendieren«, S. 1448f u. 1451. L. Oeing-Hanhoff/Th. Kobusch/T. Borsche (u.a.), »Metaphysik«, S. 1188f. Ebd., S. 1194 u. 1202. Reinhard Margreiter, »Die Verwindung der Wahrheit und der Entzug des Göttlichen. Zur Rekonstruktion der Gottesbegriffe Nietzsches«, S. 57. L. Oeing-Hanhoff/Th. Kobusch/T. Borsche (u.a.), »Metaphysik«, S. 1232.
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Spinozas Philosophie lagen (»Spinozismus ante Spinozam«).220 Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts »koexistieren die beiden Begriffe als Synonyme«. Spinoza (1632-1677) galt als der erste, der konsequent jene Anschauung vertrat, welche Toland später folgendermaßen als ›Pantheismus‹ charakterisiert: »[E]s gebe kein von der Materie und diesem Weltgebäude unterschiedenes göttliches Wesen, und die Natur selbst, d.i. die Gesamtheit der Dinge, sei der einzige und höchste Gott.«221 Der die herkömmliche Gottesvorstellung leugnende ›Spinozismus‹ bzw. ›Pantheismus‹ wurde im sogenannten ›Pantheismusstreit‹ des Atheismus beschuldigt, was die häufig polemische Konnotation des Begriffs begründete.222 Auf diesen Vorwurf reagierten Spinoza-Anhänger mit dem Argument, »Spinosa [sic!] leugne[…] eigentlich nicht die Existenz der Gottheit, sondern die Existenz der Welt«, sein Denken sei daher nicht als ›Atheismus‹, sondern vielmehr als ›Akosmismus‹ zu verstehen.223 Dass auch Nietzsche nur im strengen Sinne des Wortes als atheistischer Denker einzuordnen ist, wurde bereits festgehalten. Während er die Existenz eines persönlichen, der Welt transzendenten Gottes abstreitet, erkennt er dem irdischen Leben, verstanden als ewig kreisendem Willensspiel, zugleich den Stellenwert einer göttlichen Kraft zu. Nietzsche als ›Akosmisten‹ zu bezeichnen, scheint angesichts seiner Betonung des Sinnlich-Kosmischen jedoch natürlich als unangemessen. Allein in seinen veröffentlichten Schriften erwähnt Nietzsche Spinoza ungefähr dreißig Mal, fast ausschließlich jedoch, um sich – ungeachtet ihrer Gemeinsamkeiten –, von ihm als Vertreter der rationalistischen ›Dekadenz‹ abzugrenzen: Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinozas’s, etwas tief Änigmatisches und Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige Blässer-Werden –, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? (FW: Fünftes Buch 372, KSA 3, 624) Nichts ist weniger griechisch als die Begriffs-Spinneweberei eines Einsiedlers, amor intellectualis dei nach Art des Spinoza. (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 23, KSA 6, 126) 220 G. Gawlick: »Spinozismus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9: Se-Sp, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995), S. 1400; bzw. W. Schröder/G. Lanczkowski: »Pantheismus«: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7: P-Q, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989), S. 59. 221 W. Schröder/G. Lanczkowski, »Pantheismus«, S. 59. 222 Ebd., S. 60; bzw. G. Gawlick, »Spinozismus«, S. 1400. 223 H.-W. Schütte: »Akosmismus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1: A-C, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971), S. 128.
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Die Häufigkeit der Erwähnungen und einige weniger kritische Textstellen lassen jedoch auf eine eingehende Beschäftigung Nietzsches mit Spinoza und eine gewisse Wertschätzung seines Denkens schließen: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit diesen muss ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören, wenn sie sich dabei selber untereinander Recht und Unrecht geben. (MA II: Erste Abtheilung 408, KSA 2, 534) Ob Nietzsches ›Metaphysik der ewigen Wiederkehr‹ als im engeren Sinn mythisch, vorsokratisch-kosmologisch oder pantheistisch zu betrachten ist, soll dahingestellt bleiben. Mit jeder der genannten Strömungen teilt Nietzsche die Anschauung eines ganzheitlichen, in sich geschlossenen und göttlichen Kosmos, in welchem Sinnliches und Übersinnliches in eins fallen: Man ist nothwendig, man ist ein Stück Verhängniss, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen, – es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurtheilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten, messen, vergleichen, verurtheilen… Aber es giebt Nichts ausser dem Ganzen! (GD: Die vier grossen Irrthümer 8, KSA 6, 96)
2.2.3
Der ›Übermensch‹ und das Glück
Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch. Aber noch bin ich ihnen ferne, und mein Sinn redet nicht zu ihren Sinnen. (Za I: Zarathustra’s Vorrede 7, KSA 4, 23) Nietzsche entwirft in Also sprach Zarathustra ein neues Ziel des Menschen: Der Einzelne solle, indem er den Kreislauf der ›ewigen Wiederkehr‹ zum einen erkenne und zum anderen nicht nur ertrage, sondern bejahe, den ›Menschen der Dekadenz‹ überwinden und so zum ›Übermenschen‹ werden. Während in Nietzsches mittleren Werken die Vorstellung des ›Übermenschen‹ somit an das zentrale Philosophem der ›ewigen Wiederkehr‹ gekoppelt ist, verselbstständigt sie sich kontinuierlich bis zu Nietzsches geistigem Zusammenbruch, so dass schließlich der die ›ewige Wiederkehr‹ fühlende, lebende und seligsprechende ›Übermensch‹ in den Fokus rückt, welcher auf diese Weise in einen Zustand der Erlösung eingeht. Damit verbunden ist das langsame Zurücktreten anderer bisher betonter Züge des ›Übermenschen‹, wie jene des Verneinens, Leidens, der Überwindung, des Kampfes, und
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der Härte.224 Die ›ewige Wiederkehr‹ wurde bereits als ein metaphysisches, d.h. die Sphäre des Göttlichen berührendes Prinzip dargestellt. Den Menschen, dem sie zuteilwird, beschreibt Nietzsche – indirekt an Vorstellungen und Bilder der Mystik anknüpfend –, zunehmend als ›Inspirierten‹ oder ›Erleuchteten‹. Auf diese Weise erscheint der Hirt in Also sprach Zarathustra, der, als ihm die als Schlange versinnbildlichte ›ewige Wiederkehr‹ (s. Kreisform) in den Mund kriecht, dieser den ›Kopf‹ ›abbeißt‹ und so das Unheimliche des Wiederkunftsgedankens bändigt: Weit weg spie er den Kopf der Schlange –: und sprang empor. – Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, – ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte! Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie er lachte! (Za III: Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4, 202) Jenen zum Trotz, welche in Nietzsche allein den rücksichtslosen ›Atheisten‹ und ›Antichristen‹ sehen, nehme, so Alois Maria Haas, »das Mystikthema in der intellektuellen Existenz Nietzsches einen nicht unwichtigen Platz ein«.225 Die »Vereinigungstendenz« der Mystik erkennt er dabei sowohl in Nietzsches Vorstellung des ›Dionysischen‹, als auch in der daraus entwickelten ›ewigen Wiederkehr‹.226 Er macht darauf aufmerksam, dass Nietzsche in der Darstellung und Interpretation mythisch-vorsokratischer Konzeptionen die Begriffe »mystisch« bzw. »Mysterium« positiv und bereits im Dienst seiner eigenen Philosophie verwendet.227 Zugleich »begegne Nietzsche den Einheitserfahrungen« mit den »aus der christlich-mystischen Tradition bekannten Sprachformen«.228 In der Tat sind Nietzsches Erwähnungen zum Thema ›Mystik‹ zahlreich: In seinem nachträglichen Vorwort zur Geburt der Tragödie bezeichnet er die das ›Dionysische‹ verkündende Sprechinstanz als »mystische und beinahe mänadische Seele« (GT: Versuch einer Selbstkritik 3, KSA 1, 15). Er unterscheidet hier offensichtlich zwischen sich als außenstehendem Betrachter seines Werks und sich als Schreibinstanz, wobei das Mystische des Inhalts im Modus des Schreibens auf den Schreibenden übergegangen zu sein scheint, so dass Nietzsche sich selbst als ›mystisch‹ erfährt. Darüber hinaus spricht er besonders bezüglich des Zerbrechens des schopenhauerischen Individuationsprinzips von der »mystischen Einheitsempfindung«, der »mystischen Selbstentäusserung« (GT 2, KSA 1, 30f), dem »Einheitsmysterium« (GT 5, ebd., 42), der »Mysterienlehre der Tragödie« (GT 10, ebd., 73), den »mystischen Fluthen eines die ganze Welt allmählich überziehenden Geheimcultus« (GT 12, ebd., 88) und dem »mystischen 224 Auf diesen Sachverhalt weist auch Heinrich Detering hin, für ihn tritt mit diesen Zügen jedoch die Vorstellung des ›Übermenschen‹ an sich zurück, während sie einem endzeitlichten, verklärten Sein weicht, s. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, v.a. S. 53 u. 95. 225 Alois Maria Haas, Nietzsche zwischen Dionysos und Christus, S. 12. 226 Ebd., S. 11, 13 u. 23. 227 Ebd., S. 17-21. 228 Ebd., S. 12f.
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Klange der wiedererweckten Tragödienmusik« (GT 20, ebd., 131). Nicht nur das ›Dionysische‹ der Tragödie und darauf aufbauend, seinen Entwurf des apollinischdionysischen Lebenskreislaufs betrachtet Nietzsche als ›mystisch‹, auch die Kosmologie des Vorsokratikers Thales bzw. der ihr zugrunde liegende »metaphysische Glaubenssatz« »Alles ist Eins« habe »seinen Ursprung in einer mystischen Intuition« (PHG 3, KSA 1, 813). Dem Unsterblichkeitsglauben des Mysteriums (vgl. GT 11, KSA 1, 78), welchen Mythos und vorsokratische Lehren verkörperten, wurde in der Folge durch den »specifischen Nicht-Mystiker« Sokrates und seine »Superfötation« der »logischen Natur« ein Ende bereitet (GT 13, ebd., 90). Das abstrakt-rationale Denken trat dem Mystischen als einem Gefühl von Ganzheitlichkeit entgegen. Nietzsches intuitive Zuordnung des Mystischen zum Griechentum bestätigt sich insofern, als sich der Begriff der ›Mystik‹ tatsächlich vom altgriechischen Wort myein (dt. ›sich schließen‹) herleitet und so ursprünglich wohl auf das ›Schließen‹ »der Augen« während der antiken »Geheimriten« oder »Mysterien« hinwies.229 Das Mystische steht hierbei für die Erfahrung des Göttlichen, welches sich als das »Dunkle« und »Geheimnisvolle« dem vernünftigen Denken entzieht und sich kaum in Worte fassen lässt.230 Während sich die Begriffe ›Mystik‹ und ›Mysterium‹ zunächst auf die antiken Kultfeiern der Geheimreligionen bezogen (wie etwa den Dionysoskult) und stets um den »Glauben an das Wiedererwachen des Menschen nach dem Tod in gottähnlichem Zustand« kreisten, wurden sie bald auf Inhalte des Christentums übertragen.231 So entwickelte sich der Begriff des ›Mysteriums‹ zu einem Synonym des lateinischen sacramentum als »Annäherungsversuch[…] des Menschen gegenüber Gott« in den »liturgisch-kultischen Riten«, wie etwa der »Taufe« oder des »Abendmahls«.232 Wenn Nietzsche sich auf die mythisch-vorsokratische Welt zurückbesinnt, so deshalb, weil er in ihr eine ursprüngliche, alles umfassende ›Religiosität‹ wahrnimmt. Derselbe Denker, welcher den Tod des monotheistischen Gottes feststellt, betont im Laufe seines Werkes, begonnen mit der Geburt der Tragödie, die Wichtigkeit, ja die Notwendigkeit eines ›religiösen Gefühls‹, welches er durch den Glauben an Ewigkeit und Unsterblichkeit genährt sieht. Der Untergang des Mythos gilt Nietzsche daher als Ende der »Religion« (GT 10, KSA 1, 74; GT 18, ebd., 117) bzw. – man beachte die positive Verwendung des Begriffs –, der »unbewussten Metaphysik« des »Daseins«, welche auf alle Dinge »den Stempel des Ewigen« »zu drücken« »vermochte« (GT 23, ebd., 148). Der Monotheismus und die 229 P. Heidrich/H.-U. Lessing: »Mystik, mystisch«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo-O, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984), S. 268. 230 Ebd., S. 268f. 231 R. Stupperich: »Mysterium«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo-O, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984), S. 263f. 232 Ebd., S. 264.
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Wissenschaft mit ihrer Betonung von Zeit, Finalität und exakter Datierbarkeit haben, Nietzsche zufolge, »dem Menschen« »den Glauben an das Beharrliche und Ewige« genommen (UB II 10, KSA 1, 330). Dieses sei im »Überhistorischen« oder schlicht im »Vergessen« des Historischen bzw. der Zeit fassbar (ebd.; UB II 1, KSA 1, 256). Ursula Schneider, die Nietzsches ›Willen zur Macht‹, die ›ewige Wiederkehr‹, den ›Übermenschen‹ und sein Leitmotiv des amor fati in eine »Philosophie des Glücks« eingeschrieben sieht,233 führt das bei Nietzsche beschriebene Gefühl des Glücks nicht nur auf ein »Erlöstwerden« von jeglichem »Bedürfnis« nach Ordnung, Ziel und Zweck zurück, sondern explizit auch auf das »Vergessen« und somit auf ein Erlöstwerden von der Zeit.234 Nietzsches Glück schaffe das Leiden, auf dem es aufbaue und in das es »verschlungen« sei, nicht ab, sondern sei als jener Zustand zu verstehen, welcher auf die Erlösung von allem Leiden folge.235 Noch einmal greift Nietzsche auf das Bild des »Kindes« zurück, welches in seiner Unschuld, ähnlich wie das Tier, noch keinen Begriff von Zeit hat und so im ewigen Augenblick lebt (s. UB II 1, ebd., 249). Dieses Befreitsein von der Zeit, dem Gestern und Morgen, und den mit ihr verbundenen Empfindungen der Reue, Erwartung und Angst, betrachtet Nietzsche als die eigentliche Voraussetzung des Glücks: Eines, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessen-können […]. Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann […], der wird nie wissen, was Glück ist und noch schlimmer: er wird nie etwas thun, was Andere glücklich macht. (UB II 1, ebd., 250)236 Dass die ›ewige Wiederkehr‹ als Werdenskreislauf selbst an die Komponente der Zeit gebunden ist, stellt sich als Trugschluss heraus: Dadurch, dass in ihr das Heute über kurz oder lang mit dem Gestern und Morgen zusammenfällt, hebt sie den Zeitbegriff an sich auf, so dass sich der entzeitlichte ›Übermensch‹ als Teil der ›Unendlichkeit‹ fühlt. Somit zeigt sich gerade in der Flüchtigkeit des Werdens wieder die seit jeher metaphysische ›Gestalt‹ des Ewigen. Der durch Nietzsche geschilderte ›Erleuchtete‹ zeichnet sich durch die »grosse Liebe« (FW: Fünftes Buch 345, KSA 3, 577) und ›Allbejahung‹ aus, welche selbst das ehemals Feindliche umfasst (Za II: Das Kind mit dem Spiegel, KSA 4, 107; GM: Erste Abhandlung 10, KSA 5, 273). Nicht nur die Welt, die ihn umgibt, hat er gelernt, zu lieben, sondern in erster Linie auch sich selbst (FW: Viertes Buch 334, KSA 3, 560; Za I: Vom Wege des Schaffenden, KSA 4, 82; AC: Vorwort, KSA 6, 167). Von jeder Spur von Rachegefühl befreit,237 gilt Ursula Schneider, Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche, S. 2. Ebd., S. 37, 73, 77 u. 85. Ebd., S. 12, 18 u. 75. Vgl. GM: Zweite Abhandlung 1, KSA 5, 291f: »[…] inwiefern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben könnte ohne Vergesslichkeit.« 237 S. Za II: Von den Taranteln, KSA 4, 128: »Denn dass der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung […].« 233 234 235 236
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ihm »Alles« »im Ganzen« »erlöst« (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 49, KSA 6, 152), er ist ein Mensch des »menschlich-übermenschlichen Wohlseins« (FW: Fünftes Buch 382, KSA 3, 637), der »Dankbarkeit (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 1, ebd., 347) und Zufriedenheit (vgl. M: Vorrede, KSA 3, 11). Dieses mystische Einvernehmen zwischen Mensch und Welt begreift Nietzsche als das ›Heilige‹ bzw. die eigentliche ›Religion‹,238 so dass gerade er, der »die theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt«, behaupten kann, dass »der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen« sei, denn »antichristlich« meine »keineswegs antireligiös« (JGB: Drittes Hauptstück 53f, KSA 5, 73). Noch einige Jahre zuvor ordnet Nietzsche das, was er hier ›Religion‹ nennt, der philosophischen »vita contemplativa« zu und grenzt sie von der »vita religiosa« ab, wenn er jedoch hinzufügt, dass »die Zeit vorbei« sei, »wo die Kirche das Monopol des Nachdenkens besass« (FW: Viertes Buch 280, KSA 3, 524),239 formuliert er, nicht anders als im Zitat oben, die Idee einer unkonventionellen, nicht an äußere Formen gebundenen Religiosität. Das ›Heilige‹, nach dem Nietzsche strebt, besteht in einem Zustand, in dem das Ich so sehr mit der Welt verschmolzen ist, dass es sich nicht mehr als Individuum fühlt, es besteht somit im dionysischen Zerbrechen des Individuationsprinzips (principium individuationis), welches jedoch jede Spur von Tragik verloren hat und vielmehr als Erlösung empfunden wird: Und so bedarf die Natur zuletzt des Heiligen, an dem das Ich ganz zusammengeschmolzen ist und dessen leidendes Leben nicht oder fast nicht mehr individuell empfunden wird, sondern als tiefstes Gleich- Mit- und Eins-Gefühl in allem Lebendigen: des Heiligen, an dem jenes Wunder der Verwandlung eintritt […], jene endliche und höchste Menschwerdung, nach welcher alle Natur hindrängt und -treibt, zu ihrer Erlösung von sich selbst. (UB III 5, KSA 1, 382) Die eigene Auflösung stellt sich somit als eine gesteigerte Form von Subjektivität dar. Im Unterschied zu den Werten der modernen Industriegesellschaft und des Christentums, welche »gemeinnützige, unpersönliche« (M: Drittes Buch 173, KSA 3, 154)240 und »unegoistische« (M: Fünftes Buch 516, ebd., 299)241 , d.h. ›selbstlose‹ Handlungen anpreisen, betont Nietzsche die Bedeutung der »heilen, gesunden Selbstsucht« (Za III: Von den Bösen 2, KSA 4, 238) und der »Selbstbesinnung« (EH: Morgenröthe 2, KSA 6, 330). Da er den Menschen vor allem als Einzelwesen konzipiert, welches Leben, Krankheit und Tod allein zu bewältigen hat, kann er die Konzentration auf das eigene Ich als die eigentliche Voraussetzung für ein erfülltes Dasein nicht hoch genug einschätzen. Der Mensch müsse lernen, sich inmitten 238 Vgl. JGB: Drittes Buch 58, KSA 5, 76f; JGB: Drittes Buch 61, ebd., 79ff. 239 Vgl. M: Erstes Buch 88, KSA 3, 82: »[…] seitdem erst ist der Weg zu einer unchristlichen vita contemplativa in Europa wieder zugänglich geworden […].« 240 S.a. M: Drittes Buch 175, KSA 3, 155; M: Drittes Buch 206, ebd., 183. 241 S.a. FW: Viertes Buch 328, KSA 3, 555; GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 35, KSA 6, 133.
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des »Lärms« der Gesellschaft (vgl. FW: Viertes Buch 331, KSA 3, 558), der verschiedenen Meinungen und Gedanken,242 immer wieder auf sich selbst »zurückzubesinnen« (EH: Menschliches, Allzumenschliches 3, KSA 6, 324), indem er »[v]ieles nicht« »sieht«, »nicht« hört«, »nicht an sich herankommen« »lässt«, d.h. indem er »so selten als möglich reagirt« (EH: Warum ich so klug bin 8, ebd., 292): Jenes unterste Selbst, gleichsam verschüttet, gleichsam still geworden unter einem beständigen Hören-Müssen auf andre Selbste […] erwachte langsam, schüchtern, zweifelhaft, – aber endlich redete es wieder. Nie habe ich so viel Glück an mir gehabt, als in den kränksten und schmerzhaftesten Zeiten meines Lebens […]. (EH: Menschliches, Allzumenschliches 4, ebd., 326) Die »Rückkehr« zu sich selbst (vgl. ebd., 326), welche sich unvermeidlich im Zuge schwerer Krankheit einstellt, soll auch im Alltagsleben eingeübt werden. Voraussetzung dafür ist, mit sich – im wahrsten Sinne des Wortes – allein sein zu können, eine eigene »Geistigkeit« zu entwickeln, »sehen«, »denken« und sich mitteilen zu »lernen« (GD: Was den Deutschen abgeht 6-7, KSA 6, 108ff), ohne sich durch Mitmenschen und Umstände ablenken oder anleiten zu lassen. Zarathustra ist seinen ›Jüngern‹ daher ein unkonventioneller Lehrmeister, er »heißt« sie, ihn zu »verlieren« und sich zu »finden«, erst dann wolle er »wiederkehren« (Za I: Von der schenkenden Tugend 3, KSA 4, 101).243 Der wahre Glaube setze somit ein inneres Gefühl voraus, welches allein im Zwiegespräch mit sich selbst entstehe. Jede Philosophie oder Religion müsse daher den glaubenden Menschen dahinter erkennen lassen (vgl. UB III 7, 409f) und dürfe nicht zur abstrakten Lebensanleitung werden. Anders stehe es, Nietzsche zufolge, im meist ererbten Christentum, wo der Glaube ohne inneren Prozess übernommen und befolgt werde: Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben. (Za I: Von der schenkenen Tugend 3, KSA 4, 101) Nicht ohne Spott bezeichnet er so das christliche »Gebet« »als eine lange mechanische Arbeit der Lippen, verbunden mit Anstrengung des Gedächtnisses« »für solche«, »welche eigentlich nie von sich aus Gedanken [hätten] und denen eine Er242 Nietzsche betrachtet auch das Lesen als ein ›Einströmen‹ von fremden Gedanken, dem man bisweilen, um sich selbst zu schützen, Einhalt gebieten müsse, s. EH: Warum ich so klug bin 3, KSA 6, 284: »In tief arbeitsamen Zeiten sieht man keine Bücher bei mir: ich würde mich hüten, Jemanden in meiner Nähe reden oder gar denken zu lassen. Und dies hiesse ja lesen…«; bzw. EH: Menschliches, Allzumenschliches 4, ebd., 326: »Meine Augen allein machten ein Ende mit aller Bücherwürmerei, auf deutsch: Philologie: ich war vom »Buch« erlöst, ich las jahrelang Nichts mehr – die grösste Wohltat, die ich mir je erwiesen habe!« 243 S.a. M: Fünftes Buch 447, KSA 3, 271: »Meister und Schüler. – Zur Humanität eines Meisters gehört, seine Schüler vor sich zu warnen.«
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hebung der Seele unbekannt [sei]«. Damit sie »an heiligen Stätten« »wenigstens nicht [störten]«, habe man »ihnen die Formel des Gebets anbefohlen« (FW: Drittes Buch 128, KSA 3, 484f). Der ›Übermensch‹ dagegen folgt dem delphischen Orakelspruch ›Erkenne dich selbst‹ und wählt, indem er seine »ächten Bedürfnisse« zu Wort kommen lässt (UB II 10, KSA 1, 333), selbst seine »Richtung« (vgl. M: Drittes Buch 178, KSA 3, 157) oder seinen »Weg« (Za III: Vom Geist der Schwere 2, KSA 4, 245). Er hat gelernt, sich sogar in den Momenten des Leids zu lieben (vgl. M: Viertes Buch 343, KSA 3, 237), zu sich und seinen vergangenen Handlungen zu stehen (GD: Sprüche und Pfeile 10, KSA 6, 60; EH: Warum ich so klug bin 1, ebd., 278) sowie an seine Zukunft zu glauben (vgl. JGB: Neuntes Hauptstück 260, KSA 5, 210). Hier wird deutlich, dass das ›Sich- Erkennen‹ kein endgültiges Festschreiben des eigenen Ichs meint, sondern vielmehr die Einsicht in die prozessuale Weiterentwicklung dieses Ichs, in deren Verlauf sich der Mensch jedoch im Innersten treu bleibt. Ausgerechnet Nietzsche, der sich von der traditionellen Gottesvorstellung losgesagt hat, führt an dieser Stelle den metaphysisch anmutenden Begriff des ›Schicksals‹ wieder ein: Der Einzelne müsse sich als »ein Stück fatum« nehmen (GD: Moral als Widernatur 6, KSA 6, 87) und sich folglich so akzeptieren, wie er war, ist und sein wird. Dies ist auch die Lektion des von Pindar übernommenen, zweimal zitierten244 und schließlich als Untertitel von Ecce homo verwendeten Spruchs ›Werde, der du bist‹. Nicht nur zu mehr Akzeptanz gegenüber dem eigenen Selbst ruft der Spruch auf, vielmehr impliziert der Imperativ ›werde‹, ähnlich dem Sich-Erkennen des delphischen Orakels, dass gar nicht feststeht, wer und was man ist: Das Ich entstehe erst im Prozess des Werdens. Für seine Entwicklung sei dabei sogar ein gewisser Grad von Unbewusstheit förderlich: An dieser Stelle ist nicht mehr zu umgehn [sic!] die eigentliche Antwort auf die Frage, wie man wird, was man ist, zu geben. Und damit berühre ich das Meisterstück in der Kunst der Selbsterhaltung – der Selbstsucht […]. Dass man wird, was man ist, setzt voraus, dass man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist. (EH: Warum ich so klug bin 9, KSA 6, 293) Analog zur Sprachauffassung der Mystiker präsentiert Nietzsche das sich dergestalt mystisch darbietende Ich nicht nur als etwas Unbeschreibbares in Ermangelung ausreichender Sprachmittel (vgl. GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 26, KSA 6, 128), sondern auch als etwas ›Unbeschreibliches‹ im Sinne eines »Mysterium tremendum et fascinosum«245 , welchem man besser nur mit oberflächlichen, ›ver244 FW: Drittes Buch 270, KSA 3, 519: »Was sagt dein Gewissen? – ›Du sollst der werden, der du bist.‹«; Za IV: Das Honig-Opfer, KSA 4, 297: »Der nämlich bin ich von Grund und Anbeginn […], ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst einstmals zusprach: ›Werde, der du bist!‹« 245 A. Paus, »Mysterium tremendum et fascinosum«, S. 267f.
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engenden‹ bzw. »vermittelmässigenden« Ausdrücken beikomme (EH: Warum ich so klug bin 9, KSA 6, 293f). Textstellen, in denen eine Spaltung des Ichs in mehrere Instanzen vollzogen wird, entweder durch ein Durchspielen der verschiedenen grammatischen Funktionen der ersten Person Singular (z.B. »so erzähle ich mir mich selber«, Za III: Von alten und neuen Tafeln 1, KSA 4, 246; »Und so erzähle ich mir mein Leben«, EH, KSA 6, 263) oder durch das Benennen verschiedener Teilaspekte dieses Ichs, wie etwa das ›Ich‹ im Dialog mit seiner ›Seele‹ (Za III: Der Genesende 2, KSA 4, 277), seinem ›Leben‹ (Za III: Das andere Tanzlied 1, ebd., 282) oder seinem ›Herzen‹ (DD: Nur Narr, nur Dichter!, KSA 6, 380), machen deutlich, welche Art von Ich Nietzsche konzipiert: Es ist ein heterogenes, aus vielen Teilstimmen zusammengesetztes, widersprüchliches Ich, in welchem immer wieder auch scheinbar ichfremde Züge aufscheinen (vgl. M: Zweites Buch 137, KSA 3, 130), welches jedoch gerade in der Anerkennung und Bejahung dieser Vielstimmigkeit ausgesprochen stark ist. Mit den beiden nachgelassenen, nicht mehr von Nietzsche selbst veröffentlichten Schriften Der Antichrist und Ecce homo rückt eine neue Gestalt in den Mittelpunkt der Übermensch-Thematik: Diese ist kein Geringerer als der »Galiläer« (AC 24, KSA, 191) »Jesus von Nazareth« (AC 27, ebd., 197), der »Erlöser« (z.B. AC 31, ebd., 201) und »Gekreuzigte« (EH: Warum ich ein Schicksal bin 9, KSA 6, 374). Bereits die Anfangsworte des Antichristen, dessen Titel zunächst auf eine Gegenposition zum Christentum und dessen Gründerfigur schließen lässt, stehen im Zeichen eines nahenden oder schon anwesenden Glücks: Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer, – wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. »Weder zu Lande, noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden«: das hat schon Pindar von uns gewusst. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes – unser Leben, unser Glück…Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. […] Formel unsres Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel… (AC 1, KSA 6, 169) Das ›Wir‹ in Nietzsches Darstellung bezieht sich ganz offensichtlich auf ›unzeitgemäße‹ Menschen, welche ihre eigene Zeit infrage stellen und so abseits der Gesellschaft leben. Dass es sich um Menschen handelt, die viel gelitten haben, darauf machen die Eis-, Kälte- und Todesmetaphern (»Lieber im Eise leben als unter modernen Tugenden […]«, ebd., 169) aufmerksam. Dieses Leid scheinen sie nun aber überwunden zu haben, »wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths«. Die folgenden Sätze zeigen, dass dieses Labyrinth vor allem mit der (christlich geprägten) »Modernität« gleichzusetzen ist (»An dieser Modernität waren wir krank […].«, ebd., 169). Erinnert man sich jedoch an das ›Labyrinth‹ als Symbol der ›ewigen Wiederkehr‹, welche Nietzsche dem platonisch-christlichen Denken gegenüberstellt, so könnte das Überwundene auch dem Tragischen und
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Erschreckenden des Wahrheitsverlustes entsprechen. Das Glück bestünde dann in der von Tragik, Angst und Leiden befreiten Bejahung der ›ewigen Wiederkehr‹, welche in ihrer Ziellosigkeit zum neuen »Ziel« wird (»eine gerade Linie, ein Ziel«, ebd., 169). Als Identifikationsmodell dient Nietzsche das unter anderem bei Pindar erwähnte, sagenumwobene Volk der ›Hyperboreer‹, welches in einem weit nördlich gelegenen Land ›jenseits des Nordwindes‹ (aus gr. hyper und dem mythischen Gott Boreas, dem Gott des Nordwindes) unter glücklichen Bedingungen gelebt haben soll.246 Auch vor der Konzeption des Antichristen stellt Jesus als die zentrale Figur des Christentums einen bedeutenden Bezugspunkt in Nietzsches Werk dar. Während in den Veröffentlichungen vor dem Antichristen der ›Jesus der Moral und Rache‹ bzw. jener der ›Schwäche und Dekadenz‹ überwiegt, verweisen andere Textstellen bereits auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Figur Jesus. Damit verbunden ist der Ansatz zu einer gedanklichen Trennung zwischen Jesus und dem Christentum, bis hin zu einer, wenn nicht wertschätzenden, so doch neutralen Haltung Jesus gegenüber. Negative Äußerungen zu Jesus knüpfen an Nietzsches Kritik an Dogma und Moral an. So erscheint Jesus z.B. als Vollender der jüdischen Moral der »Rache«, indem durch seinen Kreuzestod auch die durch ihn verkörperten Werte der ›Sklavenmoral‹ mit »an’s Kreuz« »geschlagen« und somit dogmatisiert wurden (GM: Erste Abhandlung 8, KSA 5, 268f).247 Auch das im Neuen Testament überlieferte, in der lateinischen Übersetzung lautende Zitat »Ecce homo«, mit welchem Pilatus die Menge auf Jesus hingewiesen haben soll (Joh 19, 5 VUL)248 , löst 246 Michael Grant/John Hazel: »Hyperboreer«, in: dies., Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, übers. von Holger Fließbach (München: dtv 2001), S. 212f.; vgl. Michael Grant/John Hazel: »Boreas«, in: dies., Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, übers. von Holger Fließbach (München: dtv 2001), S. 90f. 247 GM: Erste Abhandlung 8, KSA 5, 268f: »Dieser Jesus von Nazareth […] war er nicht gerade […] die Verführung […] und der Umweg zu eben jenen jüdischen Werthen und Neuerungen des Ideals? Hat Israel nicht gerade auf dem Umwege dieses ›Erlösers‹, dieses scheinbaren Widersachers und Auflösers Israel’s, das letzte Ziel seiner sublimen Rachsucht erreicht? […].«; vgl. a. JGB: Fünftes Hauptstück 187, KSA 5, 107. 248 Wörtliche Bibelzitate werden folgenden Bibelübersetzungen entnommen, wobei die jeweiligen Übersetzungen im Fließtext durch die üblichen Kürzel kenntlich gemacht werden: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, hg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz, der Schweizer Bischofskonferenz, des Erzbischofs von Luxemburg, des Erzbischofs von Vaduz, des Erzbischofs von Straßburg, des Bischofs von Bozen-Brixen und des Bischofs von Lüttich (Stuttgart: Katholische Bibelanstalt GmbH 2016) [= EU]; Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel revidiert 2017. Taschenausgabe mit Apokryphen, hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2016) [= LUT]; Biblia sacra. Iuxta vulgatam versionem, hg. von Robert Weber und Roger Gryson (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 4 1994) [= VUL]. Dabei wird im Normalfall, wenn nicht im jeweiligen Kontext der Wortlaut anderer Übersetzungen sinnvoller erscheint, die Einheitsübersetzung herangezogen.
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Nietzsche in der Götzen-Dämmerung von seinem historisch-biblischen Kontext und betrachtet es als nachträgliche christlich-dogmatische Bestimmung des richtigen Menschseins durch die Kirche: Erwägen wir doch endlich noch, welche Naivetät [sic!] es überhaupt ist, zu sagen »so und so sollte der Mensch sein!« Die Wirklichkeit zeigt uns einen entzückenden Reichthum der Typen […] und irgend ein armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu: »nein! der Mensch sollte anders sein«?… Er weiss es sogar, wie er sein sollte, dieser Schlucker und Mucker, er malt sich an die Wand und sagt dazu »ecce homo!«… (GD: Moral als Widernatur 6, KSA 6, 86f) Jesus wird in Also sprach Zarathustra sogar als eine Art ideologischer Rädelsführer dargestellt, welcher sich zwar »Erlöser« nannte, die Gläubigen jedoch »in Banden« »schlug«, so dass diese bis heute mehr »Gefangenen« als selbstbestimmten Individuen gleichen. Zarathustra, dem diese Gläubigen leidtun, kann daher ausrufen: »Ach dass Einer sie noch von ihrem Erlöser erlöste!« (Za II: Von den Priestern, KSA 4, 117). Während Jesus hier beinahe gewalttätig anmutet, zeigen ihn andere Stellen als schwächlichen ›Menschen der Dekadenz‹, dessen Lehren nur in einer ebenso dekadenten, »düsteren« Gemeinschaft Verbreitung finden konnten (»Ein Jesus Christus war nur in einer jüdischen Landschaft möglich […].«, FW: Drittes Buch 137, KSA 3, 488). Erneut führt Nietzsche die psychophysische ›Dekadenz‹ auf ungünstige klimatische Faktoren zurück, welche in Opposition zur ›Sonne‹ und ›Gesundheit‹ der antiken Welt stehen: »Hier allein konnte Christus seinen Regenbogen und seine Himmelsleiter träumen […]; überall sonst galt das helle Wetter und die Sonne zu sehr als Regel und Alltäglichkeit.« (Ebd.). Ohne dass Jesus selbst genannt wird, erscheinen die mit Jesus verbundenen Werte der Sanftmut nach dem Grundsatz »[W]enn dich einer auf deine rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.« (Mt 5, 39 EU) als Antimodell des ›Übermenschen‹ und dessen »Selbst-Lust«: Verhasst ist ihr gar und ein Ekel, wer nie sich wehren will, wer giftigen Speichel und böse Blicke hinunterschluckt, der All-zu-Geduldige, Alles-Dulder, Allgenügsame: das nämlich ist die knechtische Art. (Za III: Von den drei Bösen 2, KSA 4, 238f) Die Anfangsabschnitte des Antichristen, die sich nach erwähnter Verheißung eines nahenden Glücks der Jesus-Kritik anschließen, ordnen das Merkmal der »InstinktAusschliessung aller Abneigung, aller Feindschaft« nun eindeutig Jesus zu, und leiten es von »einer extremen Leid- und Reizfähigkeit« ab (AC 30, KSA 6, 200f). Dieses »Leiden« und seine Erweiterung, das »Mitleid«, seien in Jesus besonders ausgeprägt gewesen. Nietzsche spricht von »einer Gesammt-Einbusse an Leben und Lebens-Energie«, »die in einem absurden Verhältnis zum Quantum der Ursache« stehe: »[…] – der Fall vom Tode des Nazareners […]« (AC 7, ebd., 173). Als Verkör-
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perung der Schwäche scheint Jesus bis hierhin das Feindbild des ›Antichristen‹ zu repräsentieren: Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt. […] Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. Was ist schädlicher als irgend ein Laster? – Das Mitleiden […] – das Christenthum… (AC 2, ebd., 170) Und trotzdem – oder gerade deswegen – erweist sich Jesus und das neutestamentliche Geschehen als die zentrale Vorlage zu Nietzsches Schreiben. Besonders auffällig wird dies in Also sprach Zarathustra, wo bestimmte Topoi des Neuen Testaments parodiert, d.h. in Übereinstimmung mit der etymologischen Bedeutung von ›Parodie‹ als eines ›Dagegen-Singens‹249 anzitiert werden, um dann im Sinne von Nietzsches Übermensch-Thematik verzerrt zu werden. Bereits die Figur Zarathustra selbst stellt sich bei genauerem Hinsehen als Jesus-Parodie dar. Wie Jesus beginnt Zarathustra sein Wirken im Alter von etwa dreißig Jahren: »Als Zarathustra dreissig Jahre alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit […].« (Za I: Zarathustra’s Vorrede 1, KSA 4, 11). Anders als Jesus sucht er zunächst nicht nach Anhängern, sondern sein (geistiges) Wirken besteht gerade in einer Besinnung auf sich selbst. Nach etwa zehn Jahren fühlt auch er sich bereit für »Gefährten«. Diese möchte er von der gemeinen ›Menschenherde‹ unterschieden wissen: Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest! (ebd.) Ein Licht ging mir auf: nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern zu Gefährten! Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden! (Za I: Zarathustra’s Vorrede 9, ebd., 25) Noch im Ersten Buch des Zarathustra wird das Wort ›Gefährte‹ durch den christlichen Begriff ›Jünger‹ (Za I: Von der schenkenden Tugend, KSA 4, 97, 99 u. 101) ersetzt. Sogar die aus dem Johannesevangelium bekannte Wendung »der Jünger, den Jesus liebte« (z.B. Joh 21, 7, EU) zur Bezeichnung eines angeblichen Lieblingsjüngers Jesu wird fast wörtlich übernommen: »Aber der Jünger, den er am meisten lieb hatte […]« (Za II: Der Wahrsager, KSA 4, 174). Das Abendessen, das Zarathustra für sich und die ›höheren Menschen‹ in seiner Höhle ausrichtet, sei, so der Erzähler, als »das Abendmahl« in die Geschichte eingegangen. Diesen Titel trägt auch das entsprechende, jene Mahlzeit thematisierende Kapitel (Za IV: Das Abendmahl, 249 A. Reckermann: »Parodie«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7: P-Q, hg. (u.a.) von Joachim Ritter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989), S. 122.
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ebd., v.a. 355). Ein anderer Abschnitt unter dem Namen »Auf dem Oelberge« – wobei der Berg symbolisch für Zarathustras ›sonnig-heiteres‹ Glück trotz der ›Kälte‹ des Wahrheitsverlustes steht –250 ruft Jesu Einzug in Jerusalem über den Ölberg (z.B. Mt 21, 1) und die Zusammenkunft mit seinen Jüngern am Fuße des Berges vor seiner Festnahme (z.B. Mt 26, 30) in Erinnerung. Auch die Möglichkeit, wie Jesus Wunderheilungen an Kranken durchzuführen, bietet sich Zarathustra: »Blinde kannst du heilen und Lahme laufen machen […] das meine ich, wäre die Art, die Krüppel an Zarathustra glauben zu machen!« (Za II: Von der Erlösung, KSA 4, 177). Zarathustra räumt jedoch ein, dass die wahre »Erlösung« – man beachte den Titel des Kapitels – nicht davon abhänge, keinen »Buckel« zu haben oder »sehen« oder »laufen« zu können (ebd.), sie sei vielmehr das Ergebnis eines gesunden Ichs und der Versöhnung mit der Zeit, welche an die Anerkennung des Kreisgeschehens geknüpft ist: »Die Vergangnen [sic!] zu erlösen und alles ›Es war‹ umzuschaffen in ein ›So wollte ich es!‹ – das hiesse mir erst Erlösung!« (ebd., 179). Schließlich scheint in der Rede von Zarathustras »Krone des Lachenden« oder »Rosenkranz-Krone« die Dornenkrone Jesu Christi auf, mit welcher er als ›König der Juden‹ verspottet und verlacht wurde. Im Gegensatz zu Jesus, »setzt« sich Zarathustra die Krone »selbst auf« und er selbst ist ein »Lachender«, der »[s]ein Gelächter« »heilig« »spricht« (Za IV: Vom höheren Menschen 18, ebd., 366). Wie das ›Tanzen‹ steht auch das ›Lachen‹ für die heitere Leichtigkeit, welche auf die Überwindung des Wahrheitsverlustes folgen soll. In diesem Zusammenhang steht auch die abgewandelte Form der aus der Liturgie der Heiligen Messe stammenden Akklamation »Erhebet die Herzen«, welche Nietzsche umformuliert zu »Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht!« (Za IV: Vom höheren Menschen 17, ebd., 366). Die in den Evangelien erwähnte Aufforderung Jesu an seine Jünger »Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach« (z.B. Mk 8, 34 EU)251 lautet aus Zarathustras Mund im Sinne des bereits erwähnten Nachdrucks auf Selbstfindung und -bestimmung »Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.« (Za I: Von der schenkenden Tugend 3, KSA 4, 101). Darüber hinaus modifiziert Nietzsche das aus der Bergpredigt stammende christliche Prinzip, Böses mit Gutem zu vergelten, indem er die Frage in den Raum stellt, ob dem Bösen nicht immer auch etwas Gutes abzugewinnen 250 S. Za III: Auf dem Oelberge, KSA 4, 220f: »Sie hören nur meine Winter-Stürme pfeifen: und nicht, dass ich auch über warme Meere fahre, gleich sehnsüchtigen, schweren, heissen Südwinden. […] Wie könnten sie mein Glück ertragen, wenn ich nicht Unfälle und Winter-Nöthe und Eisbären-Mützen und Schnee-himmel-Hüllen um mein Glück legte! […] Inzwischen laufe ich mit warmen Füssen kreuz und quer auf meinem Oelberge: im Sonnen-Winkel meines Oelberges singe und spotte ich alles Mitleids.« 251 Nietzsche erwähnt die Bibelstelle ironisch im Antichristen, s. AC 45, KSA 6, 221.
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sei:252 »So ihr aber einen Feind habt, so vergeltet ihm nicht Böses mit Gutem […] Sondern beweist, dass er euch etwas Gutes angethan hat.« (Za I: Vom Biss der Natter, ebd., 87). Auch das Jesus in den Mund gelegte, an Pilatus gerichtete Zitat des Johannes-Evangeliums »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (Joh 18, 36 LUT) steht in Also sprach Zarathustra im Zusammenhang der sich ausbreitenden Dekadenz und Sehnsucht nach einer neuen Menschheit: »Es wird mir wahrlich zu viel; diess Gebirge wimmelt, mein Reich ist nicht mehr von dieser Welt, ich brauche neue Berge.« (Za IV: Der Schatten, KSA 4, 338). Nachdem Zarathustra die ›höheren Menschen‹ beim Anbeten des Esels ertappt hat, ermahnt er sie, diesen Vorfall in Zukunft nicht zu vergessen. Dabei gebraucht er folgende, das letzte Abendmahl evozierende Worte: »[T]hut’s euch zu Liebe, thut’s auch mir zu Liebe! Und zu meinem Gedächtnis« (Za IV: Das Eselsfest, ebd., 394).253 Nietzsches Parodien stehen im Dienst einer Kritik, welche dem Kritisierten einen neuen Lebensentwurf entgegenstellt. Trotzdem – dies machen die vielen Textstellen deutlich – erweist sich das neutestamentliche Geschehen um Jesus Christus von Anfang an als ein oder der zentrale Bezugspunkt zu Nietzsches Arbeiten. Bereits lange vor dem Antichristen und parallel zu Jesus-kritischen Aussagen, lässt Nietzsche den Gedanken durchblicken, dass das Christentum an sich, »seine historische Macht«, von seinem »Gründer« zu trennen sei, dass »zwischen ihm und jenem historischen Erfolge« »eine sehr irdische und dunkle Schicht von Leidenschaft, Irrthum, Gier nach Macht und Ehre« »liege« (UB II 9, KSA 1, 320f). Einige Jahre später in der Morgenröthe erkennt Nietzsche den Urheber dieses »historischen Erfolgs« in Paulus von Tarsus, auf dessen Propagandaschriften und Interpretationen er das bis heute wirksame Christentum zurückführt: »[O]hne die Verwirrungen und Stürme eines solchen Kopfes, einer solchen Seele, gäbe es keine Christenheit; kaum würden wir von einer kleinen jüdischen Secte erfahren haben, deren Meister am Kreuze starb.« (M: Erstes Buch 68, KSA 3, 65). Kritischen Aussagen zum Trotz, zeugen auch andere Textstellen von einer Wertschätzung Jesu, die sich in Nietzsches späten Werken bis zu einer regelrechten Identifikation mit ihm steigern wird. Direkt oder indirekt wird so bereits vor dem Antichristen (dessen Anfangsabschnitte Jesus »Instinkt-Ausschliessung aller Abneigung, aller Feindschaft« noch als Zeichen der ›Dekadenz‹ beurteilen, s. AC 30, KSA 6, 200f) die allumfassende ›Liebe‹ Jesu mit der Lebenseinstellung des ›Übermenschen‹ in Verbindung gebracht. In Jenseits von Gut und Böse heißt es zunächst über Jesus: 252 Wie an anderen Stellen geht es Nietzsche hier darum, die Grenzen zwischen Gut und Böse aufzuweichen. 253 Die entsprechende Bibelstelle findet sich bei Lukas (Lk 22, 19 EU): »Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach es und reichte es ihnen mit den Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis!«
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Es ist möglich, dass unter der heiligen Fabel und Verkleidung von Jesu Leben einer der schmerzlichsten Fälle vom Martyrium des Wissens um die Liebe verborgen liegt: das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, das an keiner Menschen-Liebe je genug hatte, das Liebe, Geliebt-werden und Nichts ausserdem verlangte […] (JGB: Neuntes Hauptstück 269, KSA 5, 225) Nicht viel später, in der Genealogie der Moral, erklärt Nietzsche die Freiheit von »Ressentiment« und die »Liebe zu seinen Feinden« zum charakteristischen Merkmal des »vornehmen Menschen«: Seine Feinde, seine Unfälle […] nicht lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker voller Naturen […] hier allein ist auch das möglich, gesetzt, dass es überhaupt auf Erden möglich ist – die eigentliche »Liebe zu seinen Feinden«. (GM: Erste Abhandlung 10, KSA 5, 273) Endgültig aufgewertet erscheint die fast gleichzeitig als Symptom der ›Dekadenz‹ und Schwäche verurteilte jesuanische ›Alles-Liebe‹ in einem Absatz der Fröhlichen Wissenschaft, in welchem Nietzsche niemand Geringeren als sich selbst und sein Lebensprinzip ›amor fati‹ beschreibt: Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! […] (FW: Viertes Buch 276, KSA 3, 521) Ein kurzer Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse stellt außerdem eine Parallele zwischen Nietzsches Kritik an Dogma und Moral und der in den Evangelien überlieferten kritischen Haltung Jesu gegenüber dem jüdischen Gesetz her: »Jesus sagte zu seinen Juden: ›das Gesetz war für Knechte, – liebt Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die Moral an!‹« (JGB: Viertes Hauptstück 164, KSA 5, 101). Was Nietzsche Jesus hier in den Mund legt, spielt auf Jesus Konflikte mit den Pharisäern an (unter anderem bezüglich der Sabbatgesetze) und fasst überspitzt einzelne Jesus-Episoden der Evangelien zusammen (v.a. Mk 2-3 EU). In diesen lässt sich tatsächlich ein Glaube erkennen, der in Analogie zum Religionsverständnis des späten Nietzsche dem Menschen und dem Gefühl den Vorrang vor dem Gesetz gibt.254 Während der Pilatus-Ausspruch »Ecce homo« in der Götzendämmerung, wie bereits dargestellt, zum Symbol der christlichen Dogmatik wird, steht der mit »Ecce homo« überschriebene Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaft bereits im Zentrum von Nietzsches Mystik-Thema: »Ja! Ich weiss, woher ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme […] Licht wird Alles, was ich fasse […] Flamme bin 254 S. z.B. Mk 2, 27 EU: [Jesus] »Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.«; bzw. zur »Heilung« eines Mannes am »Sabbat«, welche die Pharisäer aus Gesetzestreue verhindern wollen, s. Mk 3, 4 EU:[Jesus] »Was ist am Sabbat erlaubt – Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten?«
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ich sicherlich.« (FW: »Scherz, List und Rache« 62, KSA 3, 367). Der Titel bezeichnet hier wahrscheinlich Jesus selbst, der als tiefer, in sich ruhender Mensch zum ›Erleuchteten‹ wird. Nach den beschriebenen Eingangskapiteln des Antichristen, welche sich als eine Zusammenfassung der christentumsfeindlichen Grundhaltung Nietzsches verstehen lassen und Jesus als Repräsentanten dieses Christentums noch mitverurteilen, kommt es schrittweise zu einer erstaunlichen, in Anbetracht früherer Aussagen aber nur folgerichtigen Wendung in Nietzsches Jesus-Bild. Bereits zu Beginn des 24. Abschnitts spricht Nietzsche bezüglich der »Entstehung des Christenthums« vom »psychologischen Typus des Galiläers«, welcher nur in »seiner vollständigen Entartung« durch »Verstümmelung und Überladung mit fremden Zügen« »erkennbar« sei (AC 24, KSA 6, 191). Einige Kapitel später wirft er dann die Frage auf, ob Jesus »einen solchen Gegensatz« – zwischen sich und der jüdischen Kirche, als deren Gegner man ihn verstand – »überhaupt im Bewusstsein hatte«, »ob er nicht bloss als dieser Gegensatz empfunden wurde.« (AC 28, ebd., 198). Daraufhin macht sich der Autor des mit Der Antichrist betitelten Werkes daran, dem »Typus des Erlösers« nachzugehen, der »ja in den Evangelien enthalten sein könnte trotz den Evangelien, wie sehr auch immer verstümmelt oder mit fremden Zügen überladen«. Ja er fragt sich sogar, »ob sein Typus überhaupt noch vorstellbar, ob er ›überliefert‹« sei (AC 29, ebd., 199). Rasch zeichnet sich somit eine Unterscheidung zwischen der wahren Person Jesus und dem ›Jesus des Neuen Testaments‹ und dessen christlicher Auslegung ab. Von nun an nähert sich Nietzsche dem ›Erlöser‹ nicht mit wissenschaftlich-historischen Mitteln, sondern auf der Grundlage einer intuitiven Einfühlung »durch« die Evangelien »hindurch«.255 Er glaubt so, einen Jesus zu erkennen, dem nichts ferner lag, als »Held« zu sein, der gerade den »Gegensatz zu allem Ringen, zu allem Sich-in-Kampf-fühlen« darstellte (ebd.). Zur Beschreibung dieses ›Erlösers‹ dient ihm stattdessen die ursprüngliche, nicht abwertende Bedeutung des griechischen Begriffs ›Idiot‹ als der »Sich-der-Gesellschaft-Entziehende« oder der »Ungebildete«.256 Detering macht darauf aufmerksam, dass Nietzsche diese Begriffsbedeutung – das »Idiotische« als das »Unschuldige« – bereits im Fall Wagner verwendet hatte (WA 5, KSA 6, 23).257 Wie Detering feststellt, »nimmt« Jesus »von Absatz zu Absatz« »deutlicher Züge des Antichristen« Nietzsche »selbst an«.258 Was noch fast als Zeichen der ›Dekadenz‹ anmutet, wie der von Nietzsche rekonstruierte »Instinkt-Hass« Jesu »gegen jede Realität«, stellt sich so etwa als ei255 Vgl. zur affektiv-intuitiven ›Jesus-Rekonstruktion‹: Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 36 u. 66. 256 Zur Etymologie des Wortes »Idiot« s. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 43. 257 Ebd. 258 Ebd., S. 52.
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ne (derjenigen Nietzsches sehr ähnliche) Abneigung gegen jede Form des Dogmas und als das Sehnen nach einer Welt ›jenseits von Gut und Böse‹ heraus: [Der] Widerwille gegen jede Formel, jeden Zeit- und Raumbegriff, gegen Alles, was fest, Sitte, Institution, Kirche ist, als Zu-Hause-sein in einer Welt, an die keine Art Realität mehr rührt, einer bloss noch »inneren« Welt, einer »wahren« Welt, einer »ewigen« Welt… »Das Reich Gottes ist in euch«… (AC 29, KSA 6, 200) Während Nietzsche vorgibt, den ›wahren‹ Jesus zu Wort kommen zu lassen und so möglichst aus seiner Perspektive zu sprechen, scheint, wie dies Detering gezeigt hat, Jesus »Rede« immer wieder in seine eigene »überzugehen«.259 Es ist wahrscheinlich, dass Nietzsche für seine ausführliche Interpretation des jesuanischen ›Reichs Gottes‹ folgende Bibelstelle als Quelle gedient hat:260 Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwortete er: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es! oder: Dort ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. (Lk 17, 20-21 EU) Die »frohe Botschaft« Jesu versteht Nietzsche schon bald im Sinne seiner eigenen, in der Vorstellung der ›ewigen Wiederkehr‹ fußenden Übermensch-Konzeption als eine Aufhebung der Zeit, aller Gegensätze (»›Die gute Botschaft‹ ist eben, dass es keine Gegensätze mehr giebt; das Himmelreich gehört den Kindern«, AC 32, KSA 6, 203) und »jedweden Distanz-Verhältnisses zwischen Gott und Mensch« (AC 33, ebd., 205). Das »wahre«, »ewige Leben« sei kein »verheissener« Zustand nach dem Tod, sondern – Nietzsche führt den Satz weiter – »es ist da, es ist in euch: als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz« (AC 29, ebd., 200). Als gelebter, lebendiger Glaube brauche dieser keine festen Formen, er sei nicht an eine »Schrift« (AC 32, ebd. 203), »Formeln«, »Gesetze« oder »Dogmen« (ebd., 204) gebunden: »Dieser Glaube formulirt [sic!] sich auch nicht – er lebt […].« (ebd., 203). Es ist erstaunlich zu beobachten, wie Nietzsche nach nicht einmal einem Drittel der Schrift, deren Titel und Einleitungskapitel eine ganz andere Erwartungshaltung im Leser wecken, immer mehr Jesus Partei ergreift, wie er gleichsam aus eigener Erfahrung seine Lehren erläutert und ihn in Schutz nimmt: »Ich wehre mich […] dagegen, dass man den Fanatiker in den Typus des Erlösers einträgt […].« (Ebd.). Was Jesus lehrte und vorlebte, habe nichts mit einem Aufstand einer religiösen Sekte zu tun, das »Himmelreich« oder das »Reich Gottes«261 259 Ebd., S. 42 u. 45. 260 Ohne als Zitat angeführt zu werden, wird die Bibelstelle auch bei Kühnweg genannt, s. Uwe Kühnweg, »Nietzsche und Jesus – Jesus bei Nietzsche«, S. 384. 261 Die Begriffe ›Himmelreich‹ und ›Reich Gottes‹ setzt Nietzsche selbst in Anführungszeichen und betont damit das ›Gleichnishafte‹ der Sprache Jesu (vgl. AC 32, KSA 6, 203f). Beide Begriffe müsse man, so Nietzsche, als Bilder für einen Seelenzustand verstehen.
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sei ein »Zustand des Herzens«, »es habe kein Gestern und kein Übermorgen, es komme nicht in ›tausend Jahren‹«. Nietzsche scheint zum Sprachrohr Jesu zu werden, wenn er schreibt: »[E]s ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da…« (AC 34, ebd., 207). Auffällig ist hier nicht zuletzt Nietzsches sprachliche Darstellung des jesuanischen Seins, in welcher die Dimension der Zeit fast vollständig ausgeblendet scheint. Detering hat bemerkt, dass Nietzsche auf »exemplarische Jesus-Szenen« verzichtet und Jesus »als den selig und zeitlos Seienden« präsentiert.262 Das entzeitlichte, bereits anwesende ›Glück‹ Jesu wird so im »Tempus des stehenden Jetzt« erzählt (statt etwa im Futur) und teilweise durch den Verzicht auf »finite Verben« und das »Auslaufen« des »Satzes« »in drei Punkten« intensiviert.263 Dies verdeutlicht sich noch einmal in den Passagen, welche Jesus als den ›großen Liebenden‹ beschreiben. Besonders sein Kreuzestod habe bewiesen, dass seine liebende Sanftmut selbst vor den eigenen Angreifern nicht haltmachte. Liest man den nächsten Abschnitt, so wird klar, wie weit sich Nietzsche von seinen ›Hasstiraden‹ gegen den »All-zu-Geduldigen, Alles-Dulder« des Zarathustra (Za III: Von den Bösen 2, KSA 4, 239) entfernt hat. Nicht mehr als ein Zeichen der Schwäche erscheint nun das ›Alles-Dulden‹, sondern als der Zustand eines Menschen, der mit sich und der Welt in einem Gefühl des tiefsten Glücks und der Harmonie, jede Art des Kämpfens und Leidens bereits hinter sich gelassen hat und welchen auch das schlimmste Unglück nicht mehr berühren kann: Er widersteht nicht, er vertheidigt nicht sein Recht, er thut keinen Schritt, der das Äusserste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus…Und er bittet, er leidet, er liebt, mit denen, in denen, die ihm Böses thun… […] Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen…Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen, – ihn lieben… (AC 35, KSA 6, 207f) Nietzsche scheint hier folgende, aus der Bergpredigt stammende Bibelstelle264 aus dem Kopf zitiert und weiterentwickelt zu haben: Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge, Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern, wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin! (Mt 5, 38-39 EU) Das Gefühl, über jedes ›Sich-Wehren‹ hinaus zu sein, identifiziert Nietzsche mit der »Überlegenheit über jedes Gefühl von ressentiment« (AC 40, KSA 6, 213). Es stehe damit dem historischen Christentum gegenüber, das »aus dem Ressentiment 262 Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 67. 263 Ebd., S. 77. 264 Auch Kühnweg nennt die Bibelstelle als mögliche Quelle für Nietzsches Ausführungen, s. Uwe Kühnweg, »Nietzsche und Jesus – Jesus bei Nietzsche«, S. 384.
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der Massen sich seine Hauptwaffe« »gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden« »geschmiedet« habe, und sich damit – Nietzsche scheint über Jesus, sich selbst und andere ›Übermenschen‹ in der ersten Person Plural zu sprechen – »gegen uns«, »gegen unser Glück auf Erden…« wende (AC 43, ebd., 218). In Ecce homo wird sich Nietzsche selbst als einen Menschen ohne Ressentiment darstellen und sich so indirekt zum ›Nachfolger Jesu‹ stilisieren: Die Freiheit vom Ressentiment, die Aufklärung über das Ressentiment – wer weiss, wie sehr ich zuletzt auch darin meiner langen Krankheit zu Dank verpflichtet bin! (EH: Warum ich so weise bin 6, KSA 6, 272) Die Jesus zuerkannten Eigenschaften und Besonderheiten, so etwa die Abneigung gegen das Dogma, die Freiheit von Ressentiment, die Sprachskepsis und Vorliebe für Gleichnisse und Symbole (AC 32, KSA 6, 203), sowie das spezifische Verständnis von Religiosität als Ausdruck des Lebens, scheinen immer mehr mit jenen Nietzsches selbst zu verschmelzen. In auffälliger Analogie zu wiederholten Selbstzuschreibungen,265 präsentiert er ihn nicht nur als »interessantesten décadent« »von einer eigenthümlichen Vielheit und Widersprüchlichkeit« aus »Sublimem« einerseits, und »Krankem« bzw. »Kindlichem« andererseits (AC 31, ebd., 202), sondern auch als »freien Geist«, d.h. als jene von Nietzsche angestrebte und angepriesene Stufe von Mensch, welcher unabhängig von allen Richtlinien und Moralgrundsätzen, ›jenseits von Gut und Böse‹ zu leben vermag: Man könnte, mit einiger Toleranz im Ausdruck, Jesus einen »freien Geist« nennen – er macht sich aus allem Festen nichts: das Wort tödtet, alles was fest ist, tödtet. Der Begriff, die Erfahrung »Leben«, wie er sie allein kennt, widerstrebt bei ihm jeder Art Wort, Formel, Gesetz, Glaube, Dogma. Er redet bloss vom Innersten: »Leben« oder »Wahrheit« oder »Licht« ist sein Wort für das Innerste […]. (AC 32, ebd., 204) Sein Leben und Glaube stünden außerhalb der »Cultur«, des »Staates« und »der ganzen bürgerlichen Ordnung«. Es handle sich um ein inneres Gefühl, dem nicht durch »dialektische« oder kausale Begründungen beizukommen sei. »Seine Beweise« stellten »innere ›Lichter‹, innere Lust-Gefühle und Selbstbejahungen« dar (AC 32, ebd., 204). In der Schilderung des jesuanischen Glaubens und Lebensgefühls evoziert Nietzsche die mystische Einheitsempfindung der ›ewigen Wiederkehr‹, in welcher Zeit, Logik, Kausalität und Finalität in sich zusammenstürzen. Dieses durch Jesus vorgelebte religiöse Gefühl führe zur eigentlich »evangelischen Praktik« (AC 33, ebd., 206), welche er der Menschheit, statt einer Lehre, hinterlassen habe 265 Nietzsche unterstreicht mehrfach seine eigene Widersprüchlichkeit aus krankhaft-dekadenten und ›übermenschlich‹-starken Zügen, s. z.B. WA: Vorwort, KSA 6, 11; EH: Warum ich so weise bin 1-2, KSA 6, 264-267; bzw. EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 4, ebd., 304: »[…] dass die Vielheit innerer Zustände bei mir ausserordentlich ist.«
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(AC 35, ebd., 207; vgl. AC 33, ebd., 205). Nietzsche erläutert diese Praktik nicht im Einzelnen, sie sei eine solche »des Lebens« (ebd.), welche darin bestehe – so könnte man Nietzsches Ausführungen knapp zusammenfassen –, wie Jesus dem Leben mit Liebe zu begegnen, keine Unterschiede und Gegensätze mehr zu empfinden und so das »thatsächliche« »Glück auf Erden« (AC 42, ebd., 215) kennenzulernen, in welchem Jesus, von allem Übel erlöst, lebte und liebte. Diese Praktik »allein« »führe zu Gott«, sie selbst, so Nietzsche, »ist ›Gott‹«, denn sie zeige, »wie man leben müsse, um sich ›im Himmel‹ zu fühlen, um sich ›ewig‹ zu fühlen« (ebd., 206). Und hier meint Nietzsche die eigentliche Bedeutung der nur gleichnishaften Begriffe ›Sohn‹ und ›Vater‹ zu durchschauen, »nicht eine concrete«, »in die Geschichte« »gehörende« Person und einen »Gott als Person« mit seinem »›Himmelreich‹ jenseits« bezeichneten die Begriffe (AC 34, ebd., 206), vielmehr stehe das »Wort« »Sohn« für den »Eintritt in das Gesammt-Verklärungs-Gefühl aller Dinge (die Seligkeit)« und das »Wort« »Vater« für »dieses Gefühl selbst, das Ewigkeits- [und] Vollendungs-Gefühl« (ebd., 207). In seiner Jesus-Interpretation verdeutlicht Nietzsche noch einmal, welche Art von ›Metaphysik‹ er für sich beansprucht, es ist eine solche des ›Hier und Jetzt‹, der immanenten Transzendenz, welche jedem einzelnen Menschen in einem mystischen Erleben zuteilwerden kann. Es mag verwunderlich sein, dass Nietzsche, der erklärte ›Antichrist‹, am Ende seines gedanklichen Weges nicht nur in metaphysische Denkmuster zurückfällt, sondern ausgerechnet in gewissermaßen traditionell christliche Vorstellungen, jene nämlich, welche Jesus als einen ›göttlichen Menschen‹ und ›Erlöser‹ betrachten. Natürlich ist Nietzsches ›Christentum‹ ein durch seine Interpretation und Lebenskonzeption überformtes Christentum, welches sich vom historischen in grundsätzlichen Dingen eindeutig unterscheidet, so etwa im Bestreiten eines persönlichen Gottes und eines transzendenten Himmelreichs. Und doch konzentriert sich auch Nietzsches Glaube auf den Gottmenschen Jesus, in Nietzsches Terminologie – ohne dass er es selbst ausspricht – den ›Übermenschen‹ par excellence, welcher »die Einheit vom Gott als Mensch als seine ›frohe Botschaft‹« vorlebte (AC 41, ebd., S. 215) und der Menschheit durch sein Leben und seinen Tod veranschaulichte, »wie man zu leben hat«, um erlöst zu sein, um sich »im Paradiese« zu fühlen. Nietzsche führt an dieser Stelle ein ungefähres Bibelzitat an, welches sich, wie Detering angemerkt hat,266 wohl aus zwei verschiedenen, aus dem Markus- und Lukasevangelium stammenden Bibelversen267 zusammensetzt. In Nietzsches Fassung verschmelzen die beiden Bibel266 Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 73. 267 Mk 15, 39 EU: »Als der Hauptmann, der Jesus gegenüberstand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.«; Lk 23, 42-43 EU: »Dann sagte er [der Schächer]: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst. Jesus antwortete ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.«
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stellen (in denen eigentlich unterschiedliche Sprecher auftreten) zu einem Dialog zwischen Jesus und dem Schächer: »Das ist wahrlich ein göttlicher Mensch gewesen, ein »Kind Gottes« sagt der Schächer. »Wenn du dies fühlst – antwortet der Erlöser – so bist du im Paradiese, so bist auch du ein Kind Gottes…« (AC 35, ebd., 207f) Ein im Diesseits erlebtes Paradies, welches weder das Leiden noch der Tod berührt – Nietzsche betont, dass im ›Evangelium‹ Jesu der Tod nicht als »Brücke« oder »Übergang« gedacht werde. Das ›Reich Gottes‹ versteht er deutend als ein »Erfülltsein«, welches im Leben wie im Tod gleichermaßen anwesend sei (»Gerade ein solcher Tod war eben dieses ›Reich Gottes‹…«, AC 40, ebd., 214). Nietzsche, der sich, wie sich noch zeigen wird, selbst immer mehr in die Rolle des ›jesuanischen Übermenschen‹ hineinspielt, berichtet später, dass auch ihm gewisse, mystisch anmutende, die Logik übersteigende Erfahrungen des Göttlichen nicht fremd seien. Diesen könne nur eine gleichnishafte Sprache (man beachte die Analogie zur ›Gleichnisrede‹ Jesu)268 Ausdruck verleihen: Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas sichtbar, hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft […]. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit […] – ich habe nie eine Wahl gehabt. […] [E]in vollkommnes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein […]; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt […] Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, […] von Macht, von Göttlichkeit… […] [M]an hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichnis ist, Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. (EH: Also sprach Zarathustra 3, KSA 6, 339f) Wem ein solches Gefühl zuteilwird, hat alles Weltliche hinter sich gelassen. Wie könnte gerade das allumfassend Göttliche sich zu einer persönlichen, menschlich anmutenden Richtinstanz erheben und Handlungen als ›sündhaft‹ oder ›tugendhaft‹ beurteilen und danach strafen oder belohnen? Die »frohe Botschaft« Jesu, so Nietzsche, bestand gerade in der Befreiung von den jüdischen ›RachemoralBegriffen‹, wie der »Sünde«, der »Strafe«, der »Vergebung« und des »Lohns« (AC 33, KSA 6, 205f; AC 40, ebd., 214). »Die Seligkeit« war von nun an »nicht« mehr »an Bedingungen geknüpft«, sie wurde nicht mehr »verheissen«: »sie« war »die einzige 268 Vgl. AC 32, KSA 6, 203: »Aber man hüte sich darin mehr als eine Zeichenrede, eine Semiotik, eine Gelegenheit zu Gleichnissen zu sehn. Gerade, dass kein Wort wörtlich genommen wird, ist diesem Anti-Realisten die Vorbedingung, um überhaupt reden zu können.«
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Realität […]« (AC 33, ebd., 205). Dass diese Begriffe genauso wie die Vorstellung eines transzendenten Himmelreichs oder eines ›Jüngsten Gerichts‹ (vgl. AC 31, ebd., 203) jedoch bis heute mit dem sogenannten ›Christentum‹ in Verbindung gebracht werden, führt Nietzsche auf ein Missverständnis in der Auslegung des Lebens und Sterbens Jesu zurück: [D]ie Geschichte des Christenthums – und zwar vom Tode am Kreuze an – ist die Geschichte des schrittweise immer gröberen Missverstehns eines ursprünglichen Symbolismus. (AC 37, ebd., 209) Missverstanden wurde Jesus, dieses »ganz in Symbolen und Unfasslichkeiten schwimmende Sein«, bereits durch seine »ersten Jünger«, welche ihn, »um überhaupt Etwas davon zu verstehen«, »in die eigne Crudität« »übersetzten«, d.h. ihn »in bekanntere Formen« einordneten (AC 31, ebd., 202). Das Missverständnis betrachtet Nietzsche somit vor allem als Folge der Besonderheit und der damit verbundenen Unmöglichkeit der Kategorisierung und Beschreibung Jesu. Im Ringen nach Worten für diesen jenseits aller Kategorien lebenden Menschen, greift Nietzsche selbst zu Ausdrücken, die in der Schwebe lassen, um was und wen es sich handelt. In seiner Rede von »diesem grossen Symbolisten« (AC 34, ebd., 206), diesem »ganz in Symbolen und Unfasslichkeiten schwimmenden Sein« (AC 31, ebd., 202) scheint der Unsagbarkeitstopos der Mystik und das Übersteigen rational-sprachlicher Möglichkeiten auf, welches zuerst in den Schriften des Pseudo-Dionysios Areopagita beschrieben wurde.269 Darüber hinaus habe es sich, so Nietzsche, wohl auch um ein mehr oder weniger bewusstes MissverstehenWollen zugunsten der eigenen jüdisch geprägten Ideologie gehandelt. Besonders die Auslegung des Paulus, durch welche »die Lehre vom Gericht« (zusammen mit der Vorstellung der ›Sünde‹), »vom Tod als einem Opfertode«, »von der Auferstehung« und »von der Wiederkunft« »in den Typus des Erlösers« »hineintrat« (AC 41, ebd., 215), stehe im Zeichen eines »Machtbedürfnisses«: »[M]it Paulus wollte nochmals der Priester zur Macht, – er konnte nur Begriffe, Lehren, Symbole brauchen, mit denen man Massen tyrannisirt [sic!], Heerden bildet.« (AC 42, ebd., 216). Das Skandalöse dieser Jesus-Interpretation sieht Nietzsche im Übertragen der jüdisch verwurzelten Kategorie der Zeit (vgl. AC 31, ebd., 203)270 und des Denkens in Wertgegensätzen auf das Zeit und alle Gegensätze transzendierende Glück Jesu. Statt sein Leben und Sein, standen nun sein Tod, das dem Diesseits gegenüberstehende ›Jenseits‹, seine ›Auferstehung‹ und die Erwartung seiner ›Wiederkunft‹ im ›Jüngsten Gericht‹ im Vordergrund: »[Paulus] konnte im Grunde 269 P. Heidrich/H.-U. Lessing, »Mystik, mystisch«, S. 269. 270 Auch Detering identifiziert den »Beginn des kirchlichen Christentums« mit dem »Eintreten« »eines Ereignisses« in die »ereignislose und zeitlos verklärte« »Welt« Jesu, s. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 82f.
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das Leben des Erlösers überhaupt nicht brauchen, – er hatte den Tod am Kreuz nöthig und etwas mehr noch…« (AC 42, ebd., 216). Als Verkörperung des »Hasses« und der »Rache« (AC 45, ebd., 223) stelle Paulus somit nichts anderes als den »Gegensatz-Typus zum ›frohen Botschafter‹« dar, er sei der leibhafte »Dysangelist« (AC 42, ebd., 215f). Was seit dem Tod Jesu als das sogenannte »Christentum« oder das »Evangelium« verehrt werde, sei nicht mehr als ein »Missverständniss«, ja es sei »der Gegensatz« der frohen Botschaft, »eine schlimme Botschaft«, ein »Dysangelium« (AC 39, ebd., 211): Dass die Menschheit vor dem Gegensatz dessen auf den Knien liegt, was der Ursprung, der Sinn, das Recht des Evangeliums war, dass sie in dem Begriff »Kirche« gerade das heilig gesprochen hat, was der »frohe Botschafter« als unter sich als hinter sich empfand – man sucht vergebens nach einer grösseren Form welthistorischer Ironie – – (AC 36, ebd., 208) Und hier scheint Nietzsche ans Ende seiner Argumentation zu gelangen. Er, der erklärte Feind des Christentums, dessen Gott und oberste Werte er außer Kraft setzt, spricht vom »echten, dem ursprünglichen Christenthum« (AC 39, ebd., 211). Dieses sei nur durch einen einzigen Menschen bisher vollständig verkörpert gewesen: »[I]m Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz. Das ›Evangelium‹ starb am Kreuz.« (Ebd.). Nietzsche kehrt zu seiner scheinbar nebensächlichen Ausgangsfrage zurück, »ob sein Typus überhaupt noch vorstellbar, ob er ›überliefert‹« sei (AC 29, ebd., 199) und kann nun voller Zuversicht, gleichsam aus eigener Erfahrung sprechend, darauf antworten: Heute noch ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar nothwendig: das echte, das ursprüngliche Christenthum wird zu allen Zeiten möglich sein… (AC 39, ebd., 211) Nicht mehr Jesus (wie noch in Also sprach Zarathustra) bildet jetzt den Gegensatz zu Nietzsches ›Übermensch‹, sondern das historische Christentum, welchem Nietzsche als der ›Antichrist‹ am Ende seiner Schrift sein Urteil ausspricht, und ihm im sieben »Sätze« umfassenden »Gesetz wider das Christenthum« »den Todkrieg« erklärt (AC: Gesetz wider das Christenthum, ebd., 254): Hiermit bin ich am Schluss und spreche mein Urtheil. Ich verurtheile das Christenthum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. […] Diese ewige Anklage des Christenthums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände giebt, – ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen… Ich heisse das Christenthum den Einen grossen Fluch, die Eine grosse innerlichste Verdorbenheit, den Einen grossen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein
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genug ist, – ich heisse es den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit… (AC 62, ebd., 252f) Ihm, dem historischen Christentum und seinem dogmatischen Wahrheitsbegriff, nicht Jesus, gebührt der von Pilatus stammende und von Nietzsche mit Wertschätzung hervorgehobene Ausspruch »Was ist Wahrheit?« (Joh 18, 38 EU). Wenn sich Pilatusʼ viel diskutierte Worte im Johannesevangelium auch an Jesus selbst richten, positioniert sie Nietzsche inmitten seiner Kritik an der paulinischen Auslegung und deutet damit an, dass »der unverschämte Missbrauch mit dem Wort Wahrheit« (AC 46, ebd., 225) nicht von Jesus ausgeht, der ja nur »innere«, gefühlte »Wahrheiten« (AC 34, ebd., 206) kannte, sondern vom Christentum der jüdisch geprägten Jünger.271 Die Figur Zarathustra, welche sich in Also sprach Zarathustra noch als das Gegenstück zu Jesus präsentierte, verschmilzt im Zarathustra-Kapitel von Ecce homo mit eben jenem sanften, allbejahenden Jesus, den Nietzsche im Antichristen rekonstruiert, wobei sich das ›Übermenschliche‹ Zarathustras nun gerade durch die Eigenschaften Jesu kennzeichnet. Die in der Fröhlichen Wissenschaft erwähnte (FW: Drittes Buch 137, KSA 3, 488; vgl. FW: Lieder des Prinzen Vogelfrei, 651), dem Johannesevangelium entnommene Vorstellung der ›Himmelsleiter‹ als die durch Christus erwirkte Verbindung zwischen Mensch und Gott,272 wird in Ecce homo als ›Leiter Zarathustras‹ aufgegriffen und übertroffen, denn Zarathustra, der vergöttlichte ›Übermensch‹, steigt selbst, anstelle der Engel, auf ihr auf- und nieder:273 Die Leiter ist ungeheuer, auf der er auf und nieder steigt; er hat weiter gesehn, weiter gewollt, weiter gekonnt, als irgend ein Mensch. […] Man weiss bis dahin nicht, was Höhe, was Tiefe ist; man weiss noch weniger, was Wahrheit ist. Es ist kein Augenblick in dieser Offenbarung der Wahrheit, der schon vorweggenommen […] worden wäre. Es giebt keine Weisheit, keine Seelen-Erforschung […] vor Zarathustra […]. Und wie Zarathustra herabsteigt und zu Jedem das Gütigste sagt! Wie er selbst seine Widersacher, die Priester, mit zarten Händen anfasst und mit ihnen an ihnen leidet! – Hier ist in jedem Augenblick der Mensch überwunden, der Begriff »Übermensch« ward hier höchste Realität, – in einer unendlichen Ferne liegt alles das, was bisher gross am Menschen hiess, unter ihm. (EH: Also sprach Zarathustra 6, KSA 6, 343f) Nietzsche, der alle gültigen Wahrheiten für ungültig erklärte, der lehrte, dass der ›freie Geist‹ jenseits aller Wahrheit zu leben habe, spricht hier tatsächlich wieder 271 Vgl. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 125. 272 »Und er [Jesus] sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn.« (Joh 1, 51 EU). 273 Vgl. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 104 u. 127f.
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von ›Wahrheit‹ und ›Wahrheitsoffenbarung‹. Natürlich ist die ›Wahrheit‹ des ›jesuanischen Übermenschen‹ eine andere als die Wahrheit der Dogmatiker. ›Wahrheit‹ entspricht vielmehr jenem religiösen Gefühl oder Glauben, welchen Nietzsche – dies wurde bereits gezeigt – in den ganzheitlichen Entwürfen des Mythos oder der Vorsokratiker zu erkennen glaubt und der ihn die Einheitserfahrung der ›ewigen Wiederkehr‹ denken und erleben lässt. Seine ›Wahrheit‹, – oder besser – sein ›Gott‹ ist jener der Mystik, den Nikolaus von Kues als das »Zusammenfallen der Gegensätze«, des »Großen« und »Kleinen«, des »Vielen« und »Wenigen« beschrieben hatte.274 Es ist eine ›plurale‹ Wahrheit, die jedoch in ihrer Pluralität, wie Detering in einem Aufsatz schreibt, doch wieder die »Figur einer Wahrheit« »ergibt«.275 Diese ›Wahrheit‹ kann ihrerseits nur von einem ebenso komplexen und tiefen Menschen, einem ›Übermenschen‹ erfahren werden. Nicht umsonst spricht Nietzsche in diesem Zusammenhang von Zarathustras »Seelen-Erforschung«. Ein solcher ›Gottmensch‹ vereint in Nietzsches Darstellung Züge Zarathustras, Dionysos’, vor allem jedoch Jesu, wobei das Leiden, Überwinden und Kämpfen, welches ersteren noch anhaftet, in Jesus dem Zustand einer nicht mehr angreifbaren und daher sublimen Glückseligkeit weicht. Dieser Wandel in Nietzsches ÜbermenschKonzeption wird in einigen Dionysos-Dithyramben augenfällig. Während der Titel der Dithyramben-Sammlung zwar auf Dionysos verweist, und die Figur Zarathustra häufig dem jeweiligen lyrischen Ich oder Du der Texte entspricht, zeigen bestimmte Dithyramben ein deutlich verändertes Bild des ›Übermenschen‹. Nicht zu übersehen ist dies in den Texten »Die Sonne sinkt« und »Von der Armuth des Reichsten«. Beide thematisieren gewissermaßen die Überwindung bzw. die Erlösung von einem Zustand des Leidens, welcher jeweils zu Beginn noch präsent ist: Nicht lange durstest du noch,/ verbranntes Herz!/ Verheissung ist in der Luft,/ […] Bleib stark, mein tapfres Herz! […] (DD: Die Sonne sinkt 1, KSA 6, 395) Zehn Jahre dahin –,/ kein Tropfen erreichte mich,/ kein feuchter Wind, kein Thau der Liebe/ – ein regenloses Land… (DD: Von der Armuth der Reichsten, ebd., 406) Wenig später ist von diesem Leiden nichts mehr zu spüren. Statt der Hitze und »Dürre« der Wahrheitssuche (»Fort, fort, ihr Wahrheiten,/ die ihr düster blickt!/ Nicht will ich auf meinen Bergen/ herbe ungeduldige Wahrheiten sehn.«, DD: Von der Armuth der Reichsten, ebd., 406) ist nun die Rede vom »Regen«, von den »Wolken« und dem »Thau der Liebe« (ebd.), welcher eine anders geartete »Wahrheit« mit sich bringt. Es ist die oben beschriebene, den absoluten Wahrheiten der plato274 P. Heidrich/H.-U. Lessing: »Mystik, mystisch«, S. 270. 275 Heinrich Detering: »Die Tode Nietzsches. Zur antitheologischen Theologie der Postmoderne«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 9/10 (Sept./Okt. 1998), S. 885.
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nisch-christlichen Metaphysik entgegengesetzte ›Wahrheit des Glücks‹, welche auf gewisse Weise mit der Anerkennung des Zufalls verknüpft ist: Vom Lächeln vergüldet/ nahe mir heut die Wahrheit,/ von der Sonne gesüsst, von der Liebe gebräunt, –/ eine reife Wahrheit breche ich allein vom Baum.// Heut strecke ich die Hand aus/ nach den Locken des Zufalls […]// Eine Wahrheit wandelt über mir […]/ Auf breiten langsamen Treppen steigt ihr Glück zu mir […]. (DD: Von der Armuth der Reichsten, ebd., 407f) Auch in »Die Sonne sinkt« symbolisiert die »Kühle« des (Lebens-)Abends metaphorisch die Erholung und Loslösung von der ›Hitze‹ des Lebensmittags. Auch wenn der Text im Grunde das Sterben thematisiert, so hat der nahende Tod nichts Erschreckendes oder Quälendes an sich, im Gegenteil scheint er nicht nur von der Zeit, aller Mühsal und allem »Schweren« zu erlösen, sondern er bringt »Heiterkeit« und »Glück«: Heiterkeit, güldene, komm!/ du des Todes […]/ Jetzt erst, wo der Fuss müde ward,/ holt dein Blick mich noch ein,/ holt dein Glück mich noch ein.// Rings nur Welle und Spiel./ Was je schwer war,/ sank in blaue Vergessenheit […]/ Wunsch und Hoffen ertrank,/ glatt liegt Seele und Meer.// […] Silbern, leicht, ein Fisch / schwimmt nun mein Nachen hinaus… (DD: Die Sonne sinkt, ebd., 396f)276 Dem Zurücktreten der tragischen Komponente in Nietzsches Werk hat auch Detering Ausdruck verliehen, seine Ausführungen lassen jedoch durchblicken, dass zugunsten des von Nietzsche gezeichneten Jesus-Bildes nicht nur die Entwürfe des ›Willens zur Macht‹ und der ›ewigen Wiederkehr‹ zurücktreten, sondern auch jener des ›Übermenschen‹ an sich.277 Stattdessen soll hier die Meinung vertreten werden, dass Nietzsche das Konzept des ›Übermenschen‹ nicht verwirft, sondern nur seine Form verändert und weiterentwickelt. Es ist nun der ›Typus‹ Jesus, der Nietzsches ›Übermenschen‹ repräsentiert. Dieser – so könnte man sagen – ist nicht mehr nur ein Mensch, der die ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ erträgt und sie im Zuge der Selbstüberwindung schließlich gutheißt, sondern jemand, der in ihr lebt, in ihr aufgeht und sie an sich selbst vollzieht. Während in allen Schriften Nietzsches, begonnen mit der Geburt der Tragödie, die Stimme des Autor-Ichs Nietzsche zumindest vernehmbar ist, wenn sie sich nicht durch die erste Person Singular zu Wort meldet, lässt Nietzsche gegen Ende seiner schriftstellerischen Tätigkeit keinen Zweifel mehr daran, wer da spricht. 276 Detering hat unter dem Titel »Der verklärte Dionysos« (Kapitel IX seines Werks) besonders den Dithyrambus »Die Sonne sinkt« ausführlich analysiert. Er liest das »Hinausgleiten des Nachens« als ein »Hinausgleiten aus der Zeit«, vgl. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 98-107, v.a. S. 100f. 277 Ebd., S. 95f.
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So erklärt er sich selbst zum ›Todfeind des Christentums‹, klagt es in der ersten Person Singular der höchsten Verbrechen an und unterzeichnet sein »Gesetz wider das Christenthum« mit »Der Antichrist« (AC Gesetz wider das Christenthum, KSA 6, 254). Von da an tritt Nietzsche – was von außen betrachtet nichts anderes als das Zeichen des einbrechenden Wahnsinns darstellt –, selbst in die Rolle des ›jesuanischen Übermenschen‹. Nicht etwa Zarathustra oder Dionysos stehen als ›Übermenschen‹ im Mittelpunkt seiner ›Autobiografie‹ bzw. – mit einem immer wieder zitierten Begriff von Urs Sommer – seiner »Autohagiographie«278 Ecce homo, sondern er selbst als gottgleicher Mensch und Verkünder einer kommenden, das Schicksal der Menschheit bestimmenden Wahrheit. Hier enthüllt und verdeutlicht sich die ursprüngliche Etymologie der griechischen Vorsilbe ›anti-‹,279 welche nicht nur ›gegen‹ oder ›wider‹, sondern auch ›anstelle von‹ und ›für‹ bedeuten kann. Der ›Antichrist‹ Nietzsche stellt sich somit als ›Feind‹ des historischen Christentums einerseits, und als Nachahmer, wenn nicht als Überbieter Christi andererseits dar.280 Während auch in Nietzsches frühen und mittleren Werken der mit der Wahrheits- und Kulturkritik verbundene Wunsch nach einer Neuorientierung der Menschheit laut wird,281 welcher sich in den seit 1885 entworfenen Skizzen zu dem geplanten Werk »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werte. In vier Büchern« niederschlägt, scheint Nietzsche, diese Umwertung mit der Niederschrift der Werke Der Antichrist und Ecce homo schließlich als abgeschlossen zu betrachten. In der Tat hatte Nietzsche, der das Projekt eines vier Bände umfassenden Werks Der Wille zur Macht verwarf, für den Antichristen zunächst den (für letzteres bestimmten) Untertitel »Umwerthung aller Werte« vorgesehen.282 In Ecce homo spricht er daher – unzweideutig auf den Antichristen anspielend – von der »Beendigung der Umwerthung« (EH: Götzen-Dämmerung 3, KSA 6, 355f, s.a. 278 Urs Andreas Sommer: Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«. Ein philosophisch-historischer Kommentar (Basel: Schwabe 2000), S. 46; dazu s. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 115; bzw. Eugen Biser, Nietzsche. Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?, S. 22. 279 In Ecce homo betont Nietzsche selbst die griechische Herkunft des Wortes ›Antichrist‹, s. EH: Warum ich so gute Bücher schreibe: »[…] ich bin, auf griechisch, und nicht nur auf griechisch, der Antichrist…«. 280 Vgl. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 27 u. 87; Uwe Kühnweg, »Nietzsche und Jesus – Jesus bei Nietzsche«, S. 395. 281 S. Nietzsches Rede von »neuen Tafeln« (Za III: Von alten und neuen Tafeln 1, KSA 4, 246), von der Neubestimmung der »Gewichte aller Dinge« (FW: Drittes Buch 269, KSA 3, 519), von »Anstössen zu entgegengesetzten Werthschätzungen« (JGB: Fünftes Hauptstück 203, KSA 5, 126), von seiner »gefährlichen Losung ›Jenseits von Gut und Böse‹« (GM: Erste Abhandlung 17, KSA 5, 288) sowie seine Ankündigung einer »Umwerthung aller Werthe«, deren erste Schritte er bereits mit der Geburt der Tragödie verwirklicht sieht (GD: Vorwort, KSA 6, 57 bzw. GD: Was ich den Alten verdanke 5, ebd., 160). 282 Zum Projekt des Werkes Der Wille zur Macht, s. Mazzino Montinari, Friedrich Nietzsche, S. 99123.
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EH, ebd., 263). Die Schlussworte des Antichristen machen ersichtlich, wie ernst es Nietzsche mit seinem Vorhaben einer Umwertung meint: Nicht allein mit der Aufdeckung des neunzehn Jahrhunderte währenden, die Person und Lehre Jesu betreffenden ›Missverständnisses‹ (vgl. AC 36, KSA 6, 208) und seinem vernichtenden Urteilsspruch über das Christentum gibt er sich zufrieden, sondern nachdem er dem christlichen Selbstverständnis jede Grundlage entzogen hat und das Wesen des ›eigentlichen Christentums‹ aufgedeckt hat, fordert er im Zuge dieser »Umwerthung aller Werte« eine neue Zeitrechnung, welche der Lüge ein Ende bereiten solle und im Zeichen eines neuen an Jesus orientierten »Heils« stehe (AC 62, ebd., 253f). Sein »Gesetz wider das Christentum« datiert er daher auf den »ersten Tag[…] des Jahres Eins (am 30. September 1888 der falschen Zeitrechnung)«, den »Tag[…] des Heils« (AC: Gesetz wider das Christenthum, ebd., 254). Während die Infragestellung der allgemein gültigen, christlichen Zeitrechnung auf den ersten Blick eine Wiedergutmachung an dem bisher verkannten Jesus zu sein scheint, ist nicht zu übersehen, dass Nietzsche, indem er sich und seine Lehre als einen so radikalen Einschnitt in die Geschichte präsentiert, dass er für sie eine eigene Zeitrechnung beanspruchen kann, sich selbst zu Jesus Christus in Analogie setzt. Dieser war es ja, der als gekommener ›Messias‹ die Geschichte der Menschheit in ein Davor und Danach teilte. Es gehört zu Nietzsches Paradoxie, dass er, der sich stets gegen die christliche Betonung der Zeit ausgesprochen hat, den Übergang zu seiner Philosophie ›jenseits von Gut und Böse‹ als utopische Endzeit und Beginn einer neuen Zeitrechnung stilisiert, wobei die Philosophie nach diesem historischen »Ereigniß«283 jedoch gerade die Zeit ausschaltet. So behauptet Nietzsche, begonnen mit Ecce homo, »die Geschichte der Menschheit« durch seine »Umwerthung«284 »in zwei Stücke« zu »brechen« (EH: Warum ich ein Schicksal bin 8, KSA 6, 373).285 Bilder verschiedenster Weltkatastrophen, »Erschütterungen«, »Erdbeben«, »Kriege« (EH: Warum ich ein Schicksal bin 1, ebd., 366),286 Vulkanausbrüche (1170, Dezember 1888, KSB 8, 501; 1171, Dezember 1888, ebd., 503) und Explosionen287 , 283 1170, Dezember 1888, KSB 8, 500: »Ich bereite ein Ereigniß vor, welches höchst wahrscheinlich die Geschichte in zwei Hälften spaltet, bis zu dem Punkte, dass wir eine neue Zeitrechnung haben werden […].« 284 Nietzsche spricht explizit von seiner »Umwerthung«, s. EH: Warum ich so klug bin 9, KSA 6, 294; EH: Morgenröthe 1, ebd., 330; EH: Der Fall Wagner 4, ebd., 364. 285 S.a. 1170, Dezember 1888, KSB 8, 500; 1176, Dezember 1888, KSB 8, 509; 1181, 09.12.1888, KSB 8, 513. 286 S.a. 1170, Dezember 1888, KSB 8, 500: »[W]ir werden Kriege haben wie es keine giebt […].«; »Crisis«, »Gewissens-Collision«, »Convulsionen auf Erden«, »Kriege«, s. 1171, Dezember 1888, ebd., 503f. 287 Er und seine Bücher seien wie »Dynamit«, s. EH: Warum ich ein Schicksal bin 1, KSA 6, 365: »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit«; 1180, 08.12.1888, KSB 8, 512; 1181, 09.12.1888, ebd., 513; 1197, 17.12.1888, ebd., 537: »[I]ch bin gar kein Mensch, ich bin Dynamit.«
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setzt Nietzsche ein, um das Ausmaß des durch die ›Umwertung aller Werte‹ hervorgerufenen Umbruchs zu verdeutlichen. Nachträglich erklärt er so die Wahl des »Namens Zarathustra«, welcher auf den im zweiten oder ersten Jahrtausend v. Chr. lebenden persischen Begründer des Zoroastrismus zurückgeht. Während der historische Zarathustra seinen Glauben auf den moralischen Gegensatz von Gut und Böse gründete, lässt Nietzsche seine Figur gerade diesen Glauben aufkündigen. Durch die Wahl des Namens unterstreicht er die mit der ›ewigen Wiederkehr‹ einhergehende stete »Selbstüberwindung« und Umwertung alles Seienden: »Zarathustra schuf diesen verhängnissvollsten Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt.« (EH: Warum ich ein Schicksal bin 3, KSA 6, 367). Sich selbst und seine Bücher bezeichnet Nietzsche als ein die Menschheit bestimmendes »Schicksal«288 , in welchem es – man beachte diese erstaunliche Wendung – »keinen Zufall mehr gebe«.289 Er, der die Annahme einer theistisch begründeten Sinngebung bzw. Vorsehung lächerlich machte, beansprucht für sich und seine Umwertung – hin zur Anerkennung einer sinnfreien, in sich kreisenden, d.h. eben zufälligen Welt – gerade eine Vorbestimmung göttlicher Art. Im Vorwort von Ecce homo begründet Nietzsche sein Projekt einer Autobiografie mit dem Vorwand, er müsse, »in Voraussicht, dass [er] über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten müsse«, dieser erklären, wer er eigentlich sei (EH: Vorwort, KSA 6, 257). Er betont die »ungeheure Aufgabe«,290 die ihm aufgegeben sei, der er sich jedoch »gewachsen« fühle (1204, 21.12.1888, KSB 8, 543). Unzählige Male benutzt er das Attribut »welthistorisch« zur Bezeichnung seiner selbst oder seiner Werke und unterstreicht damit das revolutionär Neue seiner Gedankenwelt, welche er für fähig hält, die gesamte Menschheit neu zu definieren.291 Wenn auch Nietzsches zur Veröffentlichung bestimmte Werke den Leser zunächst im Zweifel lassen, ob diese Beteuerungen der ›welthistorischen‹ Allmacht nicht vielmehr einer bewusst eingesetzten ›Autofiktion‹292 dienen, so zeigen Nietzsches bis zu seinem 288 S. z.B. EH: Warum ich ein Schicksal bin 8, KSA 6, 373; 1179, 08.12.1888, KSB 8, 511; 1221, 29.12.1888, ebd., 558: »Daß ich kein Mensch, sondern ein Schicksal bin, das ist kein Gefühl, welches sich mittheilen ließe.«; 1231, Dezember 1888, ebd., 569: »Die Werke, die von mir folgen werden […] sind keine Bücher mehr, sondern Schicksale.« 289 1176, 08.12.1888, KSB 8, 508; 1208, 22.12.1888, ebd., 546: »Es giebt jetzt keinen Zufall mehr in meinem Leben«; 1209, 22.12.1888, ebd., 547: »[…] fast jeder Brief, den ich jetzt schreibe, beginnt mit dem Satz, dass es keinen Zufall mehr in meinem Leben giebt.« 290 Z.B. 1178, 08.12.1888, KSB 8, 510; 1183, 10.12.1888, ebd., 516; 1196, 17.12.1888, ebd., 533. 291 S. z.B. EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 2, KSA 6, 302; EH: Menschliches, Allzumenschliches 6, ebd., 327; 1170, Dezember 1888, KSB 8, 502; 1186, 11.12.1888, ebd., 520. 292 Mounir Laouyen (1999) : »L’autofiction : une réception problématique« (Fabula. La recherche en littérature), URL: www.fabula.org/forum/colloque99/208.php [Zugriff am 19.04.19].Der durch Serge Doubrovsky anlässlich seines Romans Fils (1977) geprägte Begriff zur Charakterisierung eines Werkes, welches sowohl auf inhaltlicher als auch verfahrenstechnischer Ebene
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endgültigen Zusammenbruch reichenden Briefe, dass sie Vorboten eines pathologischen Prozesses sind, welcher in der geistigen Umnachtung des realen Autor-Ichs Nietzsche im Januar 1889 kulminieren wird. In Anbetracht des sich in den Briefen der ersten Januarwoche des Jahres 1889 eindeutig abzeichnenden Wahnsinns (aus diesem Grund der Ausdruck ›Wahnsinnszettel‹) stellt sich natürlich die Frage, warum der Leser diesen Texten überhaupt Beachtung schenken solle. Jaspers, der sich in seiner frühen Nietzsche-Interpretation bereits mit dieser Frage auseinandergesetzt zu haben scheint, findet darauf folgende Antwort: Bis in die Wahnsinnszettel hinein ist der Geist gegenwärtig, durch den noch der Wahn einen Sinn enthält, so dass auch noch diese Wahnsinnszettel unentbehrlicher Bestandteil des Werks für uns sind.293 Bedenkt man, dass auch in Nietzsches zur Veröffentlichung bestimmtem Werk ein gewisser, mit dem Inhalt verknüpfter Grad von Wahnsinn spürbar ist, erscheinen Nietzsches ›Wahnsinnszettel‹ nicht als radikaler Bruch mit diesem Werk, vielmehr soll davon ausgegangen werden, dass sie seine Gedanken im Sinne von Deterings »Kontinuitäts-Prämisse«294 nicht nur weiterführen, sondern sie bis zu ihrer letzten Konsequenz vervollständigen. Besonders im Hinblick auf Nietzsches Vorreiterrolle für die Entwicklung des Poststrukturalismus, muss das, was auf textueller Ebene bis in Nietzsches letzte schriftstellerische Manifestationen hinein geschieht – gleichzeitig für die reale Autor-Figur Nietzsche jedoch im Unterschied zu späteren Texttheorien und ihren Experimenten, den pathologischen Ernstfall bedeutet –, als äußerst interessant erscheinen. Der auf das Pilatuszitat des Johannesevangeliums anspielende Titel »Ecce homo«, mit welchem Nietzsche seine ›Autobiografie‹ überschreibt, macht noch vor den ersten Seiten des Werks deutlich, um wen es sich im Folgenden handeln wird. Nicht mehr auf Jesus verweisen Pilatus’ Worte (Joh 19, 5 VUL), sondern sie präsentieren den neuen ›Messias‹ Nietzsche,295 den das nachfolgende Werk nun genauer zu beleuchten verspricht. Unmissverständlich christologische Motive rücken Nietzsche in die Rolle Christi, so etwa, wenn die sanftmütige Liebe Jesu, welche Nietzsche im Antichristen als den »Gegensatz zu allem Ringen, zu allem Sich-inElemente der Autobiografie mit solchen der Fiktion vermischt, erweist sich als nicht ungeeignet für Nietzsches Selbstdarstellung in Ecce homo. 293 Karl Jaspers: Nietzsche: Einführung in das Denken seines Philosophierens (Berlin/New York: De Gruyter 1981), S. 109. 294 Detering spricht von der »Kontinuität« und der »pragmatischen Kohärenz« von Nietzsches ›Werk‹ und seinen Briefen, s. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 21f u. 163. 295 Vgl. ebd., S. 128; bzw. Rüdiger Schmidt: Nietzsche für Anfänger. Ecce homo (München: dtv 2000), S. 19ff.
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Kampf-fühlen« und damit zum »Begriff Held« (AC 29, KSA 6, 199) definiert hatte, nun zur Eigenschaft Nietzsches selbst wird: […] es ist kein Zug von Ringen in meinem Leben nachweisbar, ich bin der Gegensatz einer heroischen Natur. Etwas »wollen«, nach Etwas »streben«, einen »Zweck«, einen »Wunsch« im Auge haben – das kenne ich Alles nicht aus Erfahrung. […] Ich will nicht im Geringsten, das Etwas anders wird als es ist; ich selber will nicht anders werden. […] (EH: Warum ich so klug bin 9, KSA 6, 295) Ähnlich verhält es sich, wenn Nietzsche Jesuszitate der Bibel sinngemäß auf sich selbst ummünzt, wie etwa seine Feststellung, »noch nicht an der Zeit« zu »sein«,296 welche auf eine Aussage Jesu im Johannesevangelium (Joh 7, 6 EU)297 anspielt, sein Ausblick, »posthum geboren« zu »werden«, wobei, so Nietzsche, »zu [s]einem Gedächtnis« (s. Jesu Worte während des Abendmahls: »Tut dies zu meinem Gedächtnis!«, Lk 22, 19 EU) der von ihm selbst komponierte »Hymnus auf das Leben« »gesungen« werde (EH: Also sprach Zarathustra 1, KSA 6, 336). Auch das Thema der Unsterblichkeit und Auferstehung berührt er, indem er von sich behauptet: […] ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt. (EH: Warum ich so weise bin 1, ebd., 264) […] Man büsst es theuer, unsterblich zu sein: man stirbt dafür mehrere Male bei Lebzeiten. (EH: Also sprach Zarathustra 5, ebd., 342) Im Alter von »sechsunddreissig Jahren« hätten er und sein Vater, als dessen ›Auferstehung‹ Nietzsche sich darstellt,298 einen Tiefpunkt erreicht. Während dies für seinen Vater den ›vorläufigen‹ Tod meinte, zeigt Nietzsche, wie er selbst nach dem »niedrigsten Punkt [s]einer Vitalität« (EH: Warum ich so weise bin 1, ebd., 264) regelrecht ›wieder auferstand‹ (ebd., 265ff). Vor dem Hintergrund der allgemein bekannten Überlieferung, dass Jesus zwischen Anfang und Mitte dreißig hingerichtet wurde, um dann zu seinem, mit ihm wesensgleichen Vater aufzusteigen, erklären sich Nietzsches rätselhafte Andeutungen nicht nur zu seiner mehrfachen ›Auferstehung‹, sondern auch zu seiner Abstammung und Wesensgleichheit mit einem gleichsam göttlichen Vater,299 welcher in Nietzsches Charakterisierung selbst jesuanische Züge aufweist. So heißt es über diesen Vater: 296 EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 1, KSA 6, 298: »Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren.« 297 Joh 7, 6 EU: »Jesus sagte zu ihnen: Meine Zeit ist noch nicht gekommen, für euch aber ist immer die rechte Zeit.« 298 EH: Warum ich so weise bin 5, KSA 6, 271: »Auch noch in einem anderen Punkte bin ich bloss mein Vater noch einmal und gleichsam sein Fortleben nach einem allzu frühen Tode.« 299 Vgl. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 129.
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Mein Vater starb mit sechsunddreißig Jahren: er war zart, liebenswürdig und morbid, wie ein nur zum Vorübergehn bestimmtes Wesen […]. (EH: Warum ich so weise bin 1, ebd., 264) Ich betrachte es als ein grosses Vorrecht, einen solchen Vater gehabt zu haben: die Bauern, vor denen er predigte – denn er war […] die letzten Jahre Prediger – sagten, so müsse wohl ein Engel aussehn. (EH: Warum ich so weise bin 3, ebd., 267f) Nietzsche, der abgestritten hatte, dass es überhaupt so etwas wie ›Wahrheit‹ gebe, stilisiert sich zum ›Messias‹ einer neuen, lang ersehnten »Wahrheit« (vgl. EH: Der Fall Wagner 3, ebd., 361), welche der Menschheit neue »Aufgaben« und »Hoffnungen« (EH: Götzen-Dämmerung 2, ebd., 355; EH: Warum ich ein Schicksal bin 1, ebd., 366) schenke. Diese versteht er als jene Jesu, mit dem Unterschied jedoch, dass Nietzsche sie nun als seine eigene ausgibt. Er selbst ist nun deren »froher Botschafter« (ebd.). Und wie Jesus fühlt auch er sich – der die ›Verantwortung‹ ehemals als Zeichen des von ihm verurteilten Rationalismus und Subjektdenkens betrachten musste –, verantwortlich für das Schicksal der Menschheit. Nicht unbegründet hat Detering in Nietzsches Formulierung, »[er] trage das Schicksal der Menschheit auf der Schulter« (EH: Der Fall Wagner 4, ebd., 364) bzw. »[er] habe das Schicksal der Menschen zu tragen« (1183, 10.12.1888, KSB 8, 516), das Kreuzessymbol Jesu erkannt, welcher, so Nietzsche, als derjenige, der »neue Werthe auf neue Tafeln« »schrieb«, von den »Guten« »gekreuzigt« wurde (EH: Warum ich ein Schicksal bin 4, KSA 6, 369). Dass Nietzsche das aus Also sprach Zarathustra stammende Zitat (erstmals in Za III: Von alten und neuen Tafeln 26, KSA 4, 266) im abschließenden Kapitel seiner Selbstdarstellung Ecce homo erneut anführt, liest Detering als Nietzsches (vom Wahnsinn gezeichnete) Anspielung auf eine mögliche Kreuzigung seiner selbst, der er, wie Jesus, von den ›Guten‹ missverstanden werde.300 Naheliegender erscheint jedoch, das von Nietzsche entworfene Bild des Kreuzes, welches er für die Menschheit zu tragen habe, als eine Reminiszenz an die unermessliche Verantwortung Christi zu betrachten (so z.B. durch seine Übernahme der menschlich-irdischen Schuld). Während Nietzsche seinen ehemaligen Schüler und langjährigen Freund Peter Gast (alias Heinrich Köselitz), der sich nicht nur schriftstellerisch, sondern auch musikalisch betätigte, bereits in Ecce homo lobend als »[s]einen maëstro« (EH: Also sprach Zarathustra 1, ebd., 335) hervorhebt, steigern sich in den Briefen ab Dezember 1888 Nietzsches Huldigungen gegenüber seinem komponierenden Freund in dem Maße, dass dieser schließlich als der »erste Musiker« auf Erden (1183, 10.12.1888, KSB 8, 517) und sein »Jünger« (1197, 17.12.1888, ebd., 537) erscheint. In einem an Peter Gast, »[s]einen maëstro Pietro« gerichteten 300 Ebd., S. 142f.
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und mit »Der Gekreuzigte« unterzeichneten ›Wahnsinnszettel‹ bittet er ihn, ein Loblied auf ihn zu singen (1247, 04.01.1889, ebd., 575). Auch die in Ecce homo noch kaum verständliche Andeutung, dass gerade in dem »Augenblicke, wo eine unsägliche Verantwortlichkeit auf [ihm] liege«, »eine alte Freundin« »über [ihn]« »lache« (EH: Der Fall Wagner 4, KSA 6, 364), steht, wie seine letzten Briefe zeigen, im Kontext der zunehmenden Identifikation Nietzsches mit Jesus. In einem Brief an Meta von Salis (1177, 08.12.1888, KSB 8, 510) verrät Nietzsche, um wen es sich bei dieser ›alten Freundin‹ handle: Malwida von Meysenbug habe ihm »in ihrem letzten Brief« mitgeteilt, »›sie lächle über [ihn]‹«. An Cosima Wagner schreibt Nietzsche schließlich, dass in Ecce homo »Malvida als Kundry«, d.h. als diejenige Figur der Artuserzählung »vorkomme« (1211, 25.12.1888, ebd., 551), welche in Wagners Musikdrama Parsifal Jesus auf dem Kreuzweg verspottet.301 Noch einmal also stellt sich Nietzsche als der verkannte Christus dar. Der Zusammenhang bestätigt sich in dem direkt an Malwida von Meysenbug gerichteten ›Wahnsinnszettel‹, welchen Nietzsche unmissverständlich mit »Der Gekreuzigte« unterzeichnet: Obwohl Malvida bekanntlich Kundry ist, welche gelacht hat in einem Augenblick, wo die Welt wackelte, so ist ihr doch Viel verziehn, weil sie mich viel geliebt hat […]. (1248, 04.01.1898, ebd., 575) Detering hat gezeigt, dass auch Nietzsches Formulierung »weil sie viel geliebt hat« auf ein Jesuszitat zurückgeht. Fast wortgenau übernimmt Nietzsche die im Lukasevangelium Jesus in den Mund gelegte Begründung, warum dieser der Sünderin im Haus des Pharisäers Simon vergibt: »Ihr sind ihre viele Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der liebt wenig«, so heißt es bei Lukas (Lk 7, 47 EU).302 In Nietzsches Selbstinszenierung bleiben die mehr oder weniger expliziten Jesus-Analogien inhaltlich an Nietzsches Übermensch-Thematik gekoppelt, so dass das ›Jesuanische‹ zugleich Züge eines »Weltregierenden« (1176, 08.12.1888, KSB 8, 509) oder Machthabers aufweist. Nietzsche behauptet so beispielsweise: »[…] Julius Cäsar könnte mein Vater sein – oder Alexander, dieser leibhafte Dionysos…« (EH: Warum ich so weise bin 3, KSA 6, 269). Unermüdlich betont er das allgemeine Ansehen und die Wertschätzung, welche seine Leser ihm zuteilwerden lassen: Er habe »Anhänger nach Millionen« (1206, 22.12.1888, KSB 8, 544), die ihn »liebten«, seine Werke »verkauften sich« auf mehreren Sprachen »nach Zehntausenden« (1226, 30.12.1888, ebd., 564) und in seinem neuen Wohnsitz Turin »behandle« man ihn »wie einen Prinzen« oder »Fürsten«,303 ja »unter [s]ei301 Vgl. ebd., S. 143f. 302 Vgl. ebd., S. 147. 303 S. 1186, 11.12.1888, KSB 8, 520: »[…] ich werde behandelt wie ein Prinz, – ich bin es vielleicht auch. –«; 1204, 21.12.1888, ebd., 543: »[…] es giebt heute keinen Namen, der mit so viel Auszeichnung und Ehrfurcht behandelt wird, als der meine. […] [O]hne Namen, ohne Rang, ohne Reichthum werde ich hier wie ein kleiner Prinz behandelt […]«; 1223, 29.12.1888, ebd., 561:
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nem Fenster« spiele man sogar, »als ob [er] bereits princeps Taurinorum, Caesar Caesarum […] wäre […]«, Musik (1227, 30.12.1888, ebd., 565). In seinem übersteigerten Größenwahn imaginiert Nietzsche, der sich als »ersten Menschen« (1177, 08.12.1888, ebd., 510) bzw. »tiefsten Geist aller Jahrtausende« (z.B. 1218, Dezember 1888, ebd., 556) verstanden wissen will, die Errichtung eines eigenen Hofstaates (1227, 30.12.1888, ebd., 566). Nietzsches unbestimmte Ahnung, mehr als nur Mensch, vielleicht ein ›Gott‹ zu sein, wird dabei unüberhörbar: Ich glaube, dass noch nie ein Sterblicher solche Briefe bekommen hat, wie ich sie bekomme […]. (1223, 29.12.1888, ebd., 560) Es ist ein Vorurtheil, dass ich ein Mensch bin. […] (1241, 03.01.1889, ebd., 572) Was in Ecce homo implizit blieb bzw. Eskapaden eines sich selbst inszenierenden Autor-Ichs zu sein scheinen, wie etwa die Rede von seiner »Göttlichkeit« (EH: Warum ich so weise bin 3, KSA 6, 268)304 , spricht Nietzsche in seinen letzten Briefen klar und deutlich aus: Nachdem der »alte Gott abgeschafft« – in einem anderen Brief heißt es »abgedankt« – »ist«, »werde [er] von nun an die Welt regieren« (1187, 11.12.1888, KSB 8, 522; 1177, 08.12.1888, ebd., 510). Vor diesem Hintergrund enträtselt sich Nietzsches Insistieren auf seiner eigentlichen Identität. Bereits das Vorwort von Ecce homo hatte ja bereits die Absicht des autobiografischen Werkes deutlich gemacht: »[…] zu sagen, wer ich bin« […] Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!« (EH: Vorwort, KSA 6, 257). Solche Formulierungen kreisen wie die Kapitelüberschriften305 und deren Anfangsworte306 um jenes besondere und rätselhafte Ich, welches in der Schrift Ecce homo offenbart werden soll. Detering liest diese ›Ich-bin‹-Formulierungen als Nachklang der alttestamentarischen »Ich-bin-der-ich-bin-Offenbarung« »an Mose« bzw. der »johanneischen ›Ich-bin‹-Worte« Jesu.307 Nietzsches Sorge um das eigene Verstanden- oder
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»Das Merkwürdigste ist hier in Turin eine vollkommne Fascination, die ich ausübe […]. Ich werde mit jedem Blick wie ein Fürst behandelt […]. Jedes Gesicht verwandelt sich, wenn ich in ein großes Geschäft trete.« S.a. EH: Götzen-Dämmerung 3, KSA 6, 356: Nietzsche, erzählt, wie er am 30. September 1888 die »Umwerthung« beendete, wobei er ergänzt: »Müssiggang eines Gottes am Po entlang« und sich so als ›Gott‹ nach vollendeter ›Schöpfung‹ stilisiert. »Warum ich so weise bin«/ »Warum ich so klug bin«/ »Warum ich so gute Bücher schreibe«/ »Warum ich ein Schicksal bin«. Z.B. »Ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, […]« (EH: Warum ich so weise bin 1, KSA 6, 264); »Abgerechnet nämlich, dass ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz.« (EH ebd. 2, ebd., 266); »[…] bin ich bloss mein Vater noch einmal […]« (EH ebd. 5, ebd., 271); »Warum ich Einiges mehr weiss? Warum ich überhaupt so klug bin?« (EH: Warum ich so klug bin 1, ebd., 278); »Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften.« (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 1, ebd., 298). Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 130f
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Nichtverstanden-Werden, welche immer wieder in der beharrlichen Frage »Versteht man mich?« (EH: Warum ich ein Schicksal bin 3, KSA 6, 367), »Hat man mich verstanden?« (EH: ebd. 7-9, ebd., 371 u. 373f) zutage tritt, deutet an, dass dieses ›göttliche‹ Ich in seiner Komplexität die rationalen Möglichkeiten übersteigt. Wie Nietzsche seine ›Wahrheitsoffenbarung‹ trotzdem in Worte fasst, soll Thema des nächsten und letzten Nietzsche-Kapitels sein. Wenn Nietzsche Also sprach Zarathustra als »erstes Buch aller Bücher« bezeichnet, wobei er einwirft »ich bitte um Vergebung für diesen Ausdruck« (1226, 30.12.1888, KSB 8, 563) und über Ecce homo vom »Buch« und dem »Menschen« »dazu« (1227, 30.12.1888, ebd., 566) spricht, so lässt er sein Werk merklich in Konkurrenz zur Heiligen Schrift treten. Er selbst dagegen erscheint als Begründer einer neuen ›Religion‹. Was die Briefe der ersten Januarwoche des Jahres 1889 bezeugen, ist vordergründig natürlich der Zusammenbruch von Nietzsches geistigem und schriftstellerischem Vermögen. Nichtsdestoweniger könnte angesichts der Werke, welche diesen Briefen vorausgehen, behauptet werden, Nietzsche habe sowohl persönlich als auch als Autor das erreicht, was er besonders in den letzten bewussten Jahren seines Lebens vorbereitet hatte. Er, der am modernen Rationalismus harsche Kritik geübt und dazu ermahnt hatte, den irrationalen Urgrund des Wissens, das ›Dionysische‹ als die reißende, ausschweifende, Leid und Wahnsinn umfassende Lebenskraft, nicht aus dem Alltag auszuschließen, entzieht sich etwa zehn Jahre vor seinem eigentlichen Tod jenem Verstand, welchen er als die Ursache des menschlichen Leids identifiziert hatte. Sein Spätwerk kann dabei wohl als der Versuch betrachtet werden, diesem Leidensdruck einen Zustand der seelischen Erlösung und Glückseligkeit entgegenzusetzen. Dass sich Nietzsche vom Autor und Erzähler des ›wahren Christentums‹ zum eigentlichen Protagonisten dieser ›Wahrheit‹ erhebt und somit in die Rolle des kommenden ›Messias‹ schlüpft, ist Zeichen des einsetzenden Wahnsinns und Größenwahns, literaturwissenschaftlich aber nicht minder von Interesse. Derselbe, der alles daransetzte, mit dem christlichen Gottesbegriff abzurechnen, spricht am Ende nicht nur von der ›Wahrheit‹, sondern er nimmt gerade jenes Wort in den Mund, das er für endgültig abgetan und ›tot‹308 erklärt hatte: Gott. In dem an Meta von Salis gerichteten, mit »Der Gekreuzigte« unterzeichneten ›Wahnsinnszettel‹ vom 3. Januar 1889 schreibt Nietzsche: Die Welt ist verklärt, denn Gott ist auf der Erde. Sehen Sie nicht, wie alle Himmel sich freuen? Ich habe eben Besitz ergriffen von meinem Reich, werfe den 308 Vgl. FW: Drittes Buch 125, KSA 3, 481: »Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!«
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Papst ins Gefängniß und lasse Wilhelm, Bismarck und Stöcker erschießen. (1239, 03.01.1889, KSB 8, 572)309 Die Nachricht von der »verklärten Welt«, über welche »sich alle Himmel freuen«, schickt er am 3. und 4. Januar auch an Cosima Wagner und Heinrich Köselitz (1241, 03.01.1889, ebd., 573; 1247, 04.01.1889, ebd., 575). Separat bittet er Cosima Wagner, sein Schreiben mit der »Aufschrift« »Die frohe Botschaft« zu versehen und es der Menschheit zu ›überreichen‹ (1242, 03.01.1889, ebd., 573). Der Begriff der ›Verklärung‹ ist dabei wahrscheinlich der in den Evangelien nach Matthäus (Mt 17, 1-8), Markus (Mk 9, 2-9) und Lukas (Lk 9, 28-36) dargestellten »Verklärung Jesu« entlehnt. Es wird berichtet, wie Jesus mit drei Jüngern einen Berg besteigt, auf dessen Gipfel er sich plötzlich vor den Augen seiner Jünger verwandelt und an der Seite der Propheten Moses und Elija erscheint, woraufhin eine Stimme aus den Wolken ihn als seinen Sohn offenbart. Dass Nietzsche diese biblische Erzählung bekannt war, zeigt – darauf hat Detering hingewiesen –310 seine ausführliche Beschreibung von Raffaels Transfiguration in der Geburt der Tragödie, dem Gemälde, welches die Verklärungsepisode mit Jesus »Heilung eines besessenen Knaben« (Lk 9, 37-43 LUT) verbindet. Nietzsche hatte Raffaels Gemälde in der Geburt der Tragödie als Beispiel für die gegenseitige Bedingtheit von ›Apollinischem‹ (in Nietzsches Darstellung die Verklärungsszene des Gemäldes) und ›Dionysischem‹ (das Leiden des »besessenen Knaben«) herangezogen. Während es ihm an dieser Stelle, wie auch in späteren Schriften, eher um die ›Wiederbelebung‹ des entschwundenen, dem ›Apollinischen‹ komplementären ›Dionysischen‹ ging, aus welchem er die Idee der ›ewigen Wiederkehr‹ entwickelte, erscheint Nietzsches Charakterisierung des ›Apollinischen‹ in Raffaels Gemälde rückblickend als adäquate Beschreibung des vergöttlichten, von der Zeit und allem Leid erlösten ›Übermenschen‹ seiner Spätphilosophie. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor […] – ein leuchtendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen. (GT 4, KSA 1, 39) Man erinnere sich dabei an die Gleichsetzung des jesuanischen Gottesbegriffs mit dem »Gesammt-Verklärungs-Gefühl aller Dinge« (AC 34, KSA 6, 207). Dass wie Nietzsches letzte Briefe zeigen, der Zustand der ›Verklärung‹ zum Kern und Zielpunkt seiner Philosophie wird, unterstreicht den offensichtlichen Wandel in der Konzeption des ›Dionysischen‹, welches sich im Laufe von Nietzsches Werk vom 309 Diesen ›Wahnsinnszettel‹ nimmt Detering zum Ausgangspunkt seiner Reflexion. Mit seinem Werk möchte er den »Weg« nachzeichnen, der »von dem Satz ›Gott ist todt‹ zu dem Satz ›Gott ist auf der Erde‹ führte«, s. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 10. 310 Ebd., S. 78.
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›Apollinischen‹ verselbstständigt, bis Eigenschaften des ›Apollinischen‹ auf es übergegangen zu sein scheinen. Das dionysische Leiden hat der verklärte ›Übermensch‹ hinter sich gelassen, er lebt das entzeitlichte Glück der ›ewigen Wiederkehr‹, ja vollzieht sie an sich selbst, so dass Nietzsche von sich selbst behaupten kann: Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin […] In diesem Herbst war ich […] zwei Mal bei meinem Begräbnisse zugegen […] Ich habe Kaiphas in Ketten legen lassen; auch bin ich voriges Jahr von den deutschen Ärzten auf eine sehr langwierige Weise gekreuzigt worden. (1256, 06.01.1889, KSB 8, 578f) Ich bin unter Indern Buddha, in Griechenland Dionysos gewesen, – Alexander und Caesar sind meine Inkarnationen, insgleichen der Dichter des Shakespeare Lord Bakon. Zuletzt war ich ich noch Voltaire und Napoleon, vielleicht auch Richard Wagner…Dies Mal aber komme ich als der siegreiche Dionysos […] Die Himmel freuen sich, daß ich da bin…Ich habe auch am Kreuze gehangen… (1241, 03.01.1889, ebd., 572f) Das ›Übermenschliche‹ des sich hier konstruierenden Ichs besteht in seiner Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit. Es ist weder an äußere Formen, noch an die Zeit gebunden, es ist zeitlos und damit unsterblich – ewig. Problemlos kann Nietzsche so seine Identität wechseln, abwechselnd unterschreibt er mit »Der Gekreuzigte« und »Dionysos«, nur wenige Male dagegen mit seinem wirklichen Namen oder Kürzel. Nur in seinem letzten, oben bereits zitierten Brief an Jacob Burckhardt schreibt er seinen Namen, als ob er etwas ahnen würde, noch einmal aus und ergänzt: »Sie können von diesem Brief jeden Gebrauch machen, der mich in der Achtung der Basler nicht heruntersetzt. – » (1256, 06.01.1889, KSB 8, 579). Was Nietzsche hier vorführt und zum Abschluss bringt, ist die bereits in Der Antichrist und Ecce homo vorbereitete, an Jesus orientierte Apotheose seiner selbst: Dieses komplexe, alles und jeden umfassende Ich ist Gott in der durch ihn verklärten Welt. Gleichsam panentheistische Vorstellungen aufgreifend, deutet Nietzsche an, er sei in allem verkörpert, wie alles wiederum ›Gott‹ – also vielleicht ihn –311 verkörpere: […] daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin; auch mit den Kindern, die ich in die Welt gesetzt habe, steht es so, daß ich mit einigem Misstrauen erwäge, ob nicht Alle, die in das »Reich Gottes« kommen, auch aus Gott kommen. (1256, 06.01.1889, KSB 8, 578) Am Ende spricht es Nietzsche ganz offen aus, nicht mehr nur der ›Gekreuzigte‹ ist dieser ›Übermensch‹, sondern Gott, der ›Erschaffer der Welt‹: 311
Nietzsche spricht hier wahrscheinlich metaphorisch über seine Werke.
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[…] zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muß Opfer bringen, wie und wo man lebt.– (ebd.) Natürlich ist dieser ›Gott‹ nur dem Namen und gewissen Attributen nach dem monotheistischen Gott des Christen- und Judentums verwandt. Es handelt sich vielmehr um den ›Gott der Mystik‹, der in Einklang mit dem Kosmos, mit diesem verschmilzt. Als solcher zeigt er sich allem und jedem ausgesprochen liebend, wohlwollend und heiter,312 schlägt »hier und da Jemandem auf die Schulter und sag[t]«: »[…] siamo contenti? son dio, ho fatto io questa caricatura…« (ebd., 579).
2.3
Nietzsches Ausdrucksformen und seine Bedeutung für Strukturalismus und Poststrukturalismus
Es versteht sich von selbst, dass ein Denken, welches die eigene begriffliche Verstandestätigkeit mitsamt ihren sprachlichen Ausdrucksmitteln infrage stellt, mit einem Stil einhergeht, in welchem nicht nur die stete Selbstreflexion dieser sprachlichen Mittel maßgeblich wird, sondern auch neue Verfahren des Ausdrucks erprobt werden. Nietzsches mit seinem Denken verwobener Stil nimmt damit, wie sich zeigen wird, den philosophisch-literarischen Diskurs des Poststrukturalismus vorweg. Das menschliche Bewusstsein und seine sozialen Hervorbringungen betrachtet Nietzsche in Übereinstimmung mit strukturalistischen und poststrukturalistischen Vorstellungen, als aufs Engste mit der Sprache verknüpft und damit selbst sprachlich strukturiert: […] – denn […] dieses bewusste Denken geschieht in Worten, das heisst in Mittheilungszeichen, womit sich die Herkunft des Bewusstseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins […] gehen Hand in Hand. (FW: Fünftes Buch 354, KSA 3, 592) »Worte« – oder Nietzsche spricht vorgreifend auf die Terminologie des sprachwissenschaftlich geprägten Strukturalismus von »Zeichen« – bestimmten, wie umgekehrt, unsere »Gedanken« (vgl. M: Viertes Buch 257, KSA 3, 208), so dass z.B. erst der »Name« einer Sache diese unserem Bewusstsein zugänglich mache (FW: Drittes Buch 261, KSA 3, 517). Nietzsche geht, wie später der Schweizer Linguist Ferdinand de Saussure, angesichts der Vielzahl der existierenden Sprachen davon aus, dass es keinen notwendigen Zusammenhang zwischen der Vorstellungswelt und 312
Vgl. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 156.
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dem Wortschatz eines Volkes gebe, dass dieser vielmehr das Ergebnis einer Konvention sei, durch welche »ursprüngliche«, individuelle »Metaphern« »hart« und »starr« geworden seien (WL 1, KSA 1, 883): Die verschiedenen Sprachen neben einander gestellt zeigen, dass es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen. (WL 1, KSA 1, 879) Saussure, der mit seinen Vorlesungen zwischen 1906 und 1911 den Grundstein zur Entwicklung der strukturalistischen Methode legte (Nietzsche war erst seit einigen Jahren tot), untersuchte die »Sprache als normatives, durch Regeln und Konventionen strukturiertes virtuelles System von Zeichen« (= langue), wobei er ihre historische Seite ausblendete und sich ausschließlich auf ihren »statischen Zustand« konzentrierte (Synchronie statt Diachronie). Das Zeichen als »kleinstes bedeutsames Element dieses Systems« begreift er als die rein zufällige, jedoch konventionell festgelegte Verbindung einer Vorstellung, d.h. eines Zeicheninhalts (signifié) mit einem Zeichenkörper (signifiant). Sinn, so Saussure, entstehe im Sprachsystem jedoch erst durch die »Differenz« oder Opposition der Zeichen untereinander, wobei diese Opposition sowohl auf der signifié- als auch auf der signifiant-Ebene wirksam sei. Was Saussure mit dem Begriff der »Semiologie« als einer die Gesamtheit »des sozialen Lebens« umfassenden Zeichen-Wissenschaft andeutete,313 wird zum Grundprinzip des Strukturalismus, in welchem nun sämtliche Lebensbereiche als Sprachstrukturen aufgefasst und – analog zu Saussures Analyse der langue – in Einzelbausteine zerlegt werden. Im Aufzeigen dieser Bausteine sollen dabei jene Oppositionen sichtbar werden, welche innerhalb der Struktur den eigentlichen Sinn generieren, so dass sich die Struktur als Sinnsystem darstellt.314 Nietzsche hatte, ohne dass er seine Gedanken wie im Strukturalismus methodisch ausbaute, die Ansicht vertreten, dass sich die platonisch-christliche Metaphysik als »System« oder »zusammengedachte und ganze Ansicht der Dinge« (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 5, KSA 6, 114)315 nicht nur selbst sprachlich konstituiere, sondern umgekehrt bis in die Alltagssprache und Grammatik hinein fassbar sei. So schlägt er in einer Fußnote folgende Frage für ein mögliches Forschungsprojekt vor: 313 314 315
Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, S. 1-7. Ebd., S. 19f. Im genannten Zitat ist statt allgemein von der platonisch-christlichen Metaphysik, vom Christentum die Rede. Die vollständige Textstelle lautet: »Das Christenthum ist ein System, eine zusammengedachte und ganze Ansicht der Dinge. Bricht man aus ihm einen Hauptbegriff, den Glauben an Gott, heraus, so zerbricht man damit auch das Ganze: man hat nichts Nothwendiges mehr zwischen den Fingern […]« (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 5, KSA 6, 114).
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»Welche Fingerzeige giebt die Sprachwissenschaft, insbesondere die etymologische Forschung, für die Entwicklungsgeschichte der moralischen Begriffe ab?« (GM: Erste Abhandlung, Anmerkung, KSA 5, 289) Wie im Strukturalismus möchte Nietzsche somit die Sprachwissenschaft auf einen Bereich anwenden, der sich erst auf den zweiten Blick als ›Sprachgeschehen‹ erweist. Das menschliche Werten als Voraussetzung der Moral sei der Entstehung der Sprache gleichzeitig, weshalb der Sprache und ihrer Grammatik zwangsläufig gewisse Werturteile eingeschrieben seien: »[…] der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werthurtheile […].« (JGB: Erstes Hauptstück 20, KSA 5, 35). Die »grammatische Gewohnheit«, in Subjekt-, Prädikat- und Objektkategorien zu denken, verrate so etwa den Glauben an ein einheitliches, auf ein Ziel hinwirkendes Subjekt (JGB: Erstes Hauptstück 17-19, KSA 5, 31 u. 33), während Konjunktionen und Präpositionen wie »für«, »um« und »weil« denjenigen an Kausalität und Finalität erkennen ließen (vgl. Za IV: Vom höheren Menschen 11, KSA 4, 362). Nietzsche setzt das Phänomen der »Dogmatik« daher »irgend einem Wortspiel« oder »einer Verführung von Seiten der Grammatik her« gleich (JGB: Vorrede, KSA 5, 11f) und die »Wahrheit« einem »beweglichen Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen« (WL 1, KSA 1, 880). Die Sprache – Nietzsche intendiert die indogermanische Sprachfamilie (vgl. JGB: Erstes Hauptstück 20, KSA 5, 34) – betrachtet er als so eng mit dem platonisch-christlichen Glauben an Vernunft, Wahrheit und Gott verwoben, dass er den Begriff der »Sprach-Metaphysik« (GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 5, KSA 6, 77) einführt. Diese werde durch jeden auch noch so unvoreingenommenen Sprecher automatisch aktualisiert. Nietzsche erkennt damit das Problem einer Metaphysikkritik, welche sich im Modus der sprachlichen Argumentation der eigenen begrifflich-argumentativen Grundlagen entzieht. Das von ihm Kritisierte kehrt nämlich gerade in der verwendeten »Sprache« wieder: Die »Vernunft« in der Sprache: oh was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben… (GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 5, KSA 6, 78) Das Vertrauen auf die Ausdrucks- und Darstellungsfunktion der Sprache, und damit auf die sprachliche Darstellbarkeit der Realität, führt Nietzsche auf die Anfänge der Wissenschaftsgläubigkeit zurück, als deren ersten Vertreter er, wie schon gezeigt, Sokrates identifiziert. Nietzsche, dessen Denken auf indirektem Weg die Literatur und ihre Verfahren entscheidend verändern sollte, zeigt ausgerechnet anhand einer literarischen Gattung, der Tragödie, wie sich der sokratische Einfluss auf die menschliche Lebenskonzeption und Denkweise auswirkte. Was er in Bezug auf die Tragödiendichtung des sokratisch beeinflussten Euripides als ›Stil der Dekadenz‹ präsentiert, so etwa die Konzentration auf eine klar aufgebaute Hand-
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lung (GT 12, KSA 1, 85),316 die Verkettung nach dem »Leitfaden der Causalität« (GT 15 bzw. 18, ebd., 99 u. 118), die irdisch-heitere »Lösung« des tragischen Konflikts (GT 17, ebd., 114), die »psychologische« »Charakterdarstellung« (GT 17, ebd., 113) und das Beharren auf einer klaren, verständlichen Sprache nach dem »Grundsatz« »[A]lles muss bewusst sein, um schön zu sein« (GT 12, ebd., 85 u. 87), bildet den Gegensatz zu der Art von Schreiben, welche Nietzsche für sich beansprucht und auf welche sich besonders postmoderne Autoren direkt oder indirekt berufen. Euripides verkörpert somit jene von Nietzsche kritisch betrachtete Kunstauffassung, welche den optimistischen Anspruch erhebt, die ›Realität‹ objektiv und realistisch wiedergeben zu können.317 Der Glaube an das vernünftige Autorsubjekt entspreche dabei jenem an die sinnvolle Dechiffrierbarkeit literarischer Werke. Nietzsche scheint Roland Barthesʼ Kritik an der Vormachtstellung des Autors und der modernen Textinterpretation318 vorwegzunehmen, wenn er schreibt: […] sofort sieht der ausgehöhlte Bildungsmensch über das Werk hinweg und fragt nach der Historie des Autors. Hat dieser schon Mehreres geschaffen, sofort muss er sich den bisherigen und den muthmaasslichen weiteren Gang seiner Entwickelung deuten lassen, sofort wird er neben Andere zur Vergleichung gestellt, auf die Wahl seines Stoffes, auf seine Behandlung hin secirt […] Nie aber hört ihre kritische Feder auf zu fliessen, denn sie haben die Macht über sie verloren und werden mehr von ihr geführt anstatt sie zu führen. (UB II 5, KSA 1, 284f) Barthesʼ Plädoyer für ein Schreiben jenseits aller sprachlichen Funktionalität und Teleologie, ein »intransitives« Schreiben, welches seinen Ursprung und endgültigen Sinn absichtlich in der Schwebe lässt,319 bildet den Nachklang zu Nietzsches 316
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Vgl. WA 9 Anmerkung, KSA 6, 32: Nietzsche bedauert, dass bei Euripides die ›Handlung‹ die »grossen Pathosscenen« ersetzt habe, durch welche sich noch das »antike Drama« kennzeichnete. Dieses habe »die Handlung« »gerade« »ausgeschlossen«. Nietzsche hält es für vermessen anzunehmen, man könne die Wirklichkeit anders als vom subjektiven, perspektivischen Standpunkt aus erfassen. Die ›Realisten‹ werden ihm daher zum Gespött, s. z.B. FW: »Scherz, List und Rache« 55, KSA 3, 365: »Der realistische Maler./ ›Treu die Natur und ganz!‹ – Wie fängt er’s an:/ Wann wäre je Natur im Bilde abgethan?/ Unendlich ist das kleinste Stück der Welt! –/ Er malt zuletzt davon, was ihm gefällt. Und was gefällt ihm? Was er malen kann!«; s.a. FW: Zweites Buch 17, ebd., 421: »[…] ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen: vor euch allein stehe die Wirklichkeit entschleiert, und ihr selber wäret vielleicht der beste Theil davon […].« Roland Barthes (1968) : »La mort de l’auteur«, in : ders., Œuvres complètes, II, 1966-1973 (Paris : Éditions du Seuil 1994), S. 491 u. 493. Ebd., S. 493f. Zum ›intransitiven‹ Schreiben s. ebd., S. 491 : »[…] dès qu’un fait est raconté, à des fins intransitives, et non plus pour agir directement sur le réel […]«; bzw. Roland Barthes (1970) : »Écrire, verbe intransitif?«, in : ders., Œuvres complètes, II, 1966-1973 (Paris : Éditions du Seuil 1994), S. 974 : »[…] le langage ne peut être considéré comme un simple instrument, utilitaire et décoratif, de la pensée.«; bzw. ebd., S. 978f : Das Verb écrire werde in der »moder-
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ablehnender Haltung gegenüber der Dominanz des platonisch-christlichen Denkens, welches Sinn und Logik in einer an sich »werthlosen« »Natur« (FW: Viertes Buch 301, KSA 3, 540) postuliere. Das christliche Missverständnis in Bezug auf Jesus und seine Lehre führt er so z.B. auf das blinde Vertrauen auf das gesprochene Wort und seinen unmittelbaren Sinn zurück. Die ersten Jünger nahmen die jesuanischen Ausdrücke ›Himmelreich‹, ›Sohn‹ und ›Vater‹ nämlich wörtlich, statt sie als Symbole zu verstehen (AC 34, KSA 6, 206f; vgl. AC 32, ebd., 203) und schließlich legten sie auch in seinen Tod eine »Vernunft« und einen »Sinn« (s. z.B. AC 40, KSA ebd., 213). Wie später Barthes, dessen Reflexionen jedoch bereits dezidiert texttheoretischer Natur sind,320 hebt Nietzsche den grammatisch verankerten Glauben an Subjekt, Prädikat und Objekt aus den Angeln, indem er die Vorstellung von einem ›leeren‹ Tun vertritt, dessen ›Subjekt‹ entweder gar nicht vorhanden sei bzw. mit diesem Tun verschmelze wie der »Blitz« mit seinem »Leuchten«: Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Thun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab […]. [E]s giebt kein »Sein« hinter dem Thun, Wirken, Werden; »der Thäter« ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun […]. (GM: Erste Abhandlung 13, KSA 5, 279) Das sogenannte ›Ich‹, das Nietzsche aufgrund seiner Widersprüchlichkeit und Inkonsistenz zur »Fabel« oder zum bloßen »Wortspiel« erklärt (GD: Die vier grossen Irrthümer 3, KSA 6, 91), sei in Wirklichkeit nicht die »Bedingung« des Denkens oder Handelns, sondern werde als ›Effekt des Tuns‹ selbst durch dieses »bedingt« (JGB: Drittes Hauptstück 54, KSA 5, 73). Wieder scheint Barthes, diesen Gedanken aufzugreifen und texttheoretisch weiterzuentwickeln, wenn er behauptet, der scripteur moderne existiere nicht wie der traditionelle Autor unabhängig von seinem Text, dem er vorausgehe, sondern entstehe erst mit diesem: »[L]e scripteur moderne naît en même temps que son texte«.321 An einer anderen Stelle zeigt Nietzsche, indem er noch einmal die enge Verbindung von Sprache, Grammatik und Vorstellungswelt herausstellt, den Zusammenhang zwischen modernem Subjektglauben und der Verwechslung der Genera verbi zugunsten des Aktivs auf: »Die Menschheit [habe] zu allen Zeiten das Activum und das Passivum verwechselt«. Der Mensch nité« nicht mehr transitiv im Sinne von ›etwas schreiben‹ verwendet, sondern das Schreiben werde zum Selbstzweck. 320 Roland Barthes, »Écrire, verbe intransitif?«, S. 978f. In Barthes’ écriture-Konzept fallen écriture-Subjekt, écriture-Objekt und die Tätigkeit des écrire in eins. Das Subjekt entstehe so erst im Laufe der écriture : »[…] le sujet se constitue comme immédiatement contemporain de l’écriture.« 321 Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, S. 493.
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wirke nicht aktiv auf etwas, im Sinne von der Mensch tue etwas, sondern er selbst werde, so Nietzsche, »gethan« (M: Zweites Buch 120, KSA 3, 115). Das Subjekt erweist sich damit nicht als eigenständige Größe, sondern als eingeschrieben in einen Lebensfluss, aus welchem es immer wieder verändert hervorgeht. Nicht zu übersehen ist hier die Analogie zu Barthesʼ These, das Verb écrire werde in der (poststrukturalistischen) Praxis der écriture als ein intransitives Verbum benutzt, wodurch es dem medialen Genus verbi des Altgriechischen ähnle. Anders als Nietzsche, ersetzt Barthes jedoch nicht das Aktiv durch das Passiv, welches er als bloße Umkehrung des Aktivs betrachtet, sondern greift auf das Aktiv- und Passiv-Kategorien überschreitende indogermanische Medium zurück, wie es noch im Altgriechischen gebräuchlich war. Dieses liege, so Barthes, grammatikalisch zwischen Aktiv und Passiv und drücke aus, dass die (aktive) Handlung eines Subjekts, hier das Schreiben, dieses Subjekt selbst in Mitleidenschaft ziehe, so dass es das Subjekt in seinem Verlauf verändere.322 Auch Ansätze zu Derridas berühmtem Grundsatz »Il n’y y pas de hors-texte«323 sowie der damit verbundenen Vorstellung eines »texte général«,324 finden sich indirekt bereits bei Nietzsche. Was er – wie sich noch zeigen soll – auch auf performativer Ebene vorführt, theoretisiert er beiläufig in zwei kurzen Abschnitten. Unter der Überschrift »Mit dem Fusse schreiben« behauptet ein lyrisches Ich, es schreibe »nicht mit der Hand allein«, »[d]er Fuss [wolle] stets mit Schreiber sein«, so dass er »bald durch das Feld, bald durchs Papier« laufe (FW: »Scherz, List und Rache 52, KSA 3, 365). Unmissverständlich stellt Nietzsche hier eine Parallele zwischen Leben und dem Hervorbringen von Texten her, wodurch das Leben selbst als ›Text‹ erscheint. Zugleich wird ersichtlich, dass sich Leben und Literatur bzw. Fiktion nicht wesentlich unterscheiden: »Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht –, nicht eine Fiktion sein?« (JGB: Zweites Hauptstück 34, KSA 5, 54). Nietzsche fügt jedoch sogleich mahnend hinzu, dass man der sprachlichen Gewohnheit nicht nachgeben und nach dem ›Urheber‹ oder ›Subjekt‹ der ›Fiktion‹ fragen dürfe, ein solches Subjekt gebe es nämlich nicht (ebd.). Die Einsicht, dass das Ich »heute ein andere[s] [ist], als e[s] gestern war« relativiere auch den grundsätzlichen »Unterschied« zwischen »Wachen« und »Träumen«. Was der Traum oder das Bewusstsein hervorbringe, sei nichts als ein sich von Tag zu Tag, Moment zu Moment verschiebender »phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht, unwissbaren, aber gefühlten Text« (M: Zweites Buch 119, KSA 3, 113). Noch einmal setzt Nietzsche damit das Leben einem Netz verworrener Texte gleich, welche 322 S. Roland Barthes, »Écrire, verbe intransitif?«, S. 978f. 323 Jacques Derrida : De la grammatologie (Paris : Minuit 1967), S. 227. 324 Jacques Derrida : »Avoir l’oreille de la philosophie«, in : Écarts. Quatre essais à propos de Jacques Derrida, hg. von Lucette Finas, Sarah Kofman, Roger Laporte, Jean-Michel Rey (Paris : Fayard 1973), S. 310.
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zueinander in Beziehung treten. Die Aktualisierungen des Lebens erscheinen als ›Kommentare‹ zum ›Text des Lebens‹, welcher sich selbst vielleicht gerade aus diesen ›Kommentaren‹ zusammensetzt. Von ›Wahrheit‹ oder ›Realität‹ zu sprechen, erweist sich vor diesem Hintergrund natürlich als hinfällig. Nietzsche betrachtet das Leben als ›Schauspiel‹ oder »Maskerade« (FW: Fünftes Buch 352, KSA 3, 588; vgl. FW ebd. 365, ebd., 613). Die starren Sprachmuster täuschten den Menschen jedoch darüber hinweg und ließen ihn an feste Wesenheiten und Realitäten glauben, während Nietzsche als einzige Realität das fließende »continuum« des Lebens (FW: Drittes Buch 112, ebd., 473) gelten lässt. Bereits in seinem frühen Werk äußert Nietzsche Zweifel, ob die Sprache »der adäquate Ausdruck« dieser »Realität« sei (WL 1, KSA 1, 878), ob sie nicht vielmehr nur Teilaspekte jenes »continuums« unter Ausschluss anderer »isoliere« (vgl. FW: Drittes Buch 112, KSA 3, 473). Der die Sprache schaffende Mensch »baue« »auf fliessendem Wasser« (WL 1, KSA 1, 882) und setze »Gegensätze«, so Nietzsche, wo es in der Natur keine gebe (vgl. JGB: Zweites Hauptstück 24, KSA 5, 41). Interessanterweise führte der Strukturalismus das Vorhandensein des sprachlich-menschlichen ›Sinns‹ auf eben solche ›Gegensätze‹ oder Oppositionen zurück. Während auch der Strukturalismus das moderne Selbstverständnis im Grunde auf die Probe stellte, indem die Sprache zu einer dem menschlichen Willen übergeordneten Struktur erklärt wurde, deren Differenzen ›Sinn‹ und ›Subjekt‹ erst generierten (»Sinn« und »Subjekt« als »Effekt« der Struktur),325 bestreitet der am Struktur- und Zeichenmodell des Strukturalismus festhaltende326 Poststrukturalismus angesichts der historischen Wandelbarkeit der Sprache327 , der Erfahrung von Missverständnissen und der geläufigen Praxis uneigentlicher Rede (z.B. bewusst eingesetzte Wortspiele), die Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung von Sinn.328 Poststrukturalisten betonen das unaufhaltsame Gleiten des Sinns in einer Sprachstruktur, die anders als im Strukturalismus und seiner synchronen und partikulären Betrachtungsweise, unbegrenzt und ohne festen Mittelpunkt gedacht wird.329 Derridas différance 325 Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, S. 5f u. 20. Derrida weist darauf hin, dass die différance im Grunde schon bei Saussure mitgedacht sei, denn ›Sinn‹ existiere auch bei ihm nicht a priori, sondern gehe erst aus der Struktur hervor. Die Sprache stelle folglich keine »fonction du je parlant« mehr da, s. Jacques Derrida: »La différance«, in: Théorie d’ensemble, hg. von Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Philippe Sollers (u.a.) (Paris: Éditions du Seuil 1968), S. 50 u. 54. 326 Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, S. 29. 327 S. z.B. Michel Foucault, der die strukturalistische Methode diachronisch auf die »Ideengeschichte« anwendet und damit an ihre Grenzen stößt, ebd., S. 15-18 bzw. 24f. 328 Ebd., S. 37. 329 Ebd.; s.a. Jacques Derrida : »La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines«, in : ders., L’écriture et la différence (Paris : Éditions du Seuil 1967), S. 411 : Derrida spricht von einem »décentrement«.
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als der nur in der Schrift zu erfassende Neologismus aus dem französischen Substantiv différence und dem Partizip Präsens différant (von fr. différer, dt. ›verschieben‹) wird dabei zum Schlagwort jeder poststrukturalistischen Auseinandersetzung. Während der Begriff différence mit e (dt. ›Unterschied‹) auf die Saussure’schen Oppositionen und somit auf den Zustand nach der Sinndifferenzierung anspielt (eindeutiger Sinn als »effet« der ›Differenzen‹), betont Derridas Endung -ance den Prozess des ›Verschiebens‹ der ›Differenzen‹ bzw. des Sinns. Dieser finde hinter jeder scheinbaren Sinnfixierung statt und sei in Wirklichkeit nicht aufzuhalten. Ähnlich wie Barthes, stellt Derrida die Nähe der Endung -ance zum medialen, zwischen Aktiv und Passiv schwankenden Genus verbi heraus: »[…] la terminaison en -ance reste indécise entre l’actif et le passif«.330 Derrida trägt dem Einfluss Nietzsches und dessen ›dezentrierender‹ Metaphysikkritik331 auf die Gedankenwelt des Poststrukturalismus gebührend Rechnung, ja er stellt die Behauptung auf, Nietzsches These vom Zusammenfall aller Gegensätze in der ›ewigen Wiederkehr‹ impliziere bereits den Mechanismus der différance, denn dieser bewirke »la mêmeté de la différence« »dans l’éternel retour«.332 In der Tat scheint Nietzsches Philosophie über den Strukturalismus und seine noch immer positivistisch-optimistische Haltung gegenüber einem zwar nicht mehr offensichtlichen, jedoch rekonstruierbaren Sinn hinauszugehen. Wie poststrukturalistische Autoren, kritisiert Nietzsche die Unzulänglichkeit sprachlich-rationaler Ausdrucksmittel für eine Lebenswelt, welche durch das Irrationale, Vielfältige und Widersprüchliche bestimmt werde. Zwangsläufig könne die Sprache als ein »Abkürzungs-Prozess« (JGB: Neuntes Hauptstück 268, KSA 5, 221) immer nur das »Durchschnittliche, Mittlere, Mittheilsame« (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 26, KSA 6, 128) und somit nur einen Teil der Wirklichkeit, unter Ausschluss anderer Teile, in Worte fassen. Nicht anders als die Denker des Poststrukturalismus, betrachtet Nietzsche die Sprache daher als Form der »Totalisierung«333 bzw. – um Nietzsches Begrifflichkeiten zu verwenden – der ›Dogmatisierung‹. Wie jene macht er, um den Mangel der Sprache aufzudecken, auf eine Vielzahl von Verständnisschwierigkeiten aufmerksam, welche er entweder darauf zurückführt, dass der Einzelne nicht in der Lage sei, sein Innerstes angesichts der 330 Jacques Derrida, »La différance«, S. 46f. 331 Jacques Derrida, »La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines«, S. 412: Die »critique nietzschéenne de la métaphysique, des concepts d’être et de vérité« habe ein »décentrement« ausgelöst. 332 Jacques Derrida, »La différance«, S. 56f. 333 Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, z.B. S. 34.
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dürftigen Ausdrucksmittel mitzuteilen,334 oder darauf, dass die Worte, d.h. die Zeichenkörper, von unterschiedlichen Sprechern mit unterschiedlichen Inhalten oder Bedeutungen gefüllt würden, so dass es zu Missverständnissen komme: Was ist zuletzt die Gemeinheit? – Worte sind Tonzeichen für Begriffe; Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen für oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen, für Empfindungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen […]. (JGB: Neuntes Hauptstück 268, KSA 5, 221) In Abschnitten wie diesen scheint Nietzsche, das auf Saussure zurückgehende Zeichenmodell des Strukturalismus mit seinem Anspruch auf sinnvolle Rede und Kommunizierbarkeit vorwegzunehmen, um es schließlich in erstaunlichem Vorgriff auf poststrukturalistische Überlegungen infrage zu stellen. Was dem Strukturalismus als selbstverständlich galt, die Zuordnung eines Zeicheninhalts zu einem Zeichenkörper, jeweils in klaren Oppositionsverhältnissen zu anderen Zeicheninhalten und -körpern, zeigt sich bei Nietzsche, wie später bei poststrukturalistischen Autoren, als weitaus problematischer. Für das Versagen sprachlicher Ausdrucksmittel macht er Sinnverschiebungen verantwortlich, welche, so Nietzsche, mit dem steten Seinswandel einhergingen: Die Form ist flüssig, der »Sinn« ist es aber noch mehr…Selbst innerhalb jedes einzelnen Organismus steht es nicht anders: mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt sich auch der »Sinn« der einzelnen Organe […]. (GM: Zweite Abhandlung 12, KSA 5, 315) Nicht zu übersehen ist in Nietzsches Charakterisierung der beiden ›Zeichen‹Ebenen (»Form« und »Sinn«) die Ähnlichkeit zu Derridas Ansatz der différance, welche signifiant und signifié gleichermaßen dem »Spiel der Differenzen« unterwirft.335 Wie im Strukturalismus überträgt Nietzsche das sprachliche Zeichenmodell aus Zeichenkörper und -bedeutung auf Inhalte der Ideenwelt, so etwa auf die Sitte der ›Strafe‹, um in poststrukturalistischer Manier zu zeigen, dass die ›Strafe‹ als »Abfolge von Prozeduren«, »Brauch« oder »Akt« (linguistisch gesprochen somit das signifiant) an sich keine Konsistenz aufweise, da ihr »Sinn«, ihr »Zweck«, und »die Erwartung, welche sich an die Ausführung solcher Prozeduren knüpf[e]«, fließend oder »flüssig« sei, und häufig erst »nachträglich« bzw. »accidentiell« 334 S. z.B. UB IV 5, KSA 1, 455: »[…] so dass sie [die Sprache] nun gerade Das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten Lebensnöthe die Leidenden miteinander zu verständigen. Der Mensch kann sich […] vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen […]; sobald sie mit einander sich zu verständigen […] suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe […]. 335 Jacques Derrida, »La différance«, S. 54.
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bestimmt werde: »[…] wie ein und dieselbe Prozedur auf grundverschiedne Absichten hin benützt, gedeutet, zurechtgemacht werden kann […]. (GM: Zweite Abhandlung 13, ebd., 316f). Wer nicht mehr an die Existenz eines festen, wie auch immer gearteten Sinns glaubt, der stößt an die Grenzen des eigenen Sprechens und Denkens. Nietzsche stellt sich das Problem der Mitteilung, welches jenem der poststrukturalistischen Autoren identisch ist,336 bereits in der Geburt der Tragödie, wo er durch die grundsätzliche Infragestellung des wissenschaftlich-rationalistischen Sokratismus unbemerkt seine eigene sprachlich-diskursive Kritik außer Kraft setzt. Nietzsche schreibt bezüglich dieses Dilemmas im »Versuch einer Selbstkritik«, dem nachträglichen Vorwort zu seiner Schrift, dass seine Gedanken »hart an der Schwelle des Mittheilbaren lagen«, da das »Problem der Wissenschaft« – »Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefasst […]« – »nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden« konnte und daher »auf den Boden der Kunst« »hingestellt« werden musste (GT: Versuch einer Selbstkritik 2, KSA 1, 13). Wenig später bedauert er, dass er »damals noch nicht den Muth« »hatte«, »um [sich]« »für so eigne Anschauungen und Wagnisse auch eine eigne Sprache zu erlauben«, dass er »mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrücken suchte« (GT: Versuch einer Selbstkritik 6, ebd., 19). Ja »diese ›neue Seele‹« in ihm, so Nietzsche, »hätte singen sollen«, »und nicht reden«: »Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!« (GT: Versuch einer Selbstkritik 3, ebd., 15). Obgleich Nietzsche einige Jahre später, begonnen mit seiner Abwendung von Wagner, auch die Kunst als Ausdrucksmittel infrage stellt (»[…] wahrlich, ich schäme mich, dass ich noch Dichter sein muss!«, heißt es aus Zarathustras Mund, Za III: Von alten und neuen Tafeln 2, KSA 4, 247) so wird sich der Stil, den Nietzsche behelfsmäßig entwickelt, doch eher der Kunst als der Wissenschaft nähern. Insofern Nietzsche alle Lebensäußerungen als subjektiv, perspektivisch und wandelbar betrachtet, lässt er die willkürliche Grenzziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Träumen und Wachen nicht mehr gelten. Für sein Schreiben hat dies natürlich weitreichende Folgen: Wie später die Autoren im Umkreis des Poststrukturalismus, welche alles einem großen texte général zuordnen, weicht Nietzsche nicht nur die Gattungsgrenzen, sondern auch jene zwischen Lebenswelt und Text auf, wodurch sich ein heterogener, pluraler Stil ergibt. Die Etikettierung eines Textes als fiktiv oder theoretisch, spielt für Nietzsche keine Rolle mehr, jeder zu Papier gebrachte Gedanke stellt für ihn die Verfestigung einer perspektivischen, momentanen Ansicht der Dinge innerhalb des fließenden, ambivalenten 336 Zum Stil poststrukturalistischer Autoren, s. Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, z.B. S. 39.
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Lebens dar und kommt daher der ›Fiktion‹ oder ›Lüge‹ gleich. In »Dichters Berufung«, einer Überarbeitung eines Textes der Idyllen aus Messina unter dem Titel »Vogel-Urtheil« (IM: Vogel-Urtheil, KSA 3, 342), ertappt sich das lyrische Ich, wie es ungewollt mit einem um ihn ertönenden, ihm zunächst unangenehmen Taktschlag »mit im Tiktak« spricht. »Du ein Dichter? Du ein Dichter?«, fragt es sich, worauf ihm der »Vogel-Specht« aus den »Bäumen« über ihm antwortet: »Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« (FW: Lieder des Prinzen Vogelfrei, KSA 3, 639f). Dass das rhythmische Sprechen dabei für das unvermeidliche, unaufhörliche Schaffen von Schein steht, vor welchem auch Nietzsche als Schriftsteller nicht gefeit ist, darauf macht die ihrerseits auf Versmaß, Reim und Takt beruhende lyrische Form indirekt aufmerksam. Thematisch erneut aufgegriffen wird »Dichters Berufung« im Dionysos-Dithyrambus »Nur Narr! Nur Dichter!«, welcher leicht abgewandelt, erstmals als »Lied der Schwermuth« in Also sprach Zarathustra erschien. Das Leben wird hier als eine Abfolge von ›Fiktionen‹ dargestellt, deren Urheber das »listige, raubende« »Thier« Mensch ist, welches »wissentlich, willentlich lügen muss« und sich so zuletzt »selbst zur Beute« wird (DD: Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 377f). Die Aporie eines metaphysikkritischen Denkens und Schreibens, welcher Nietzsche im Laufe seiner Arbeiten schon Ende des 19. Jahrhunderts begegnet, wird zum charakteristischen Merkmal der poststrukturalistischen Textproduktion. So kommt auch Derrida zu dem Schluss, dass die Annahme eines unbegrenzten Gleitens der Bedeutung nicht nur den sprachlichen Zeichenbegriff aus Zeichenkörper und Zeicheninhalt infrage stelle, sondern auch jede Form von sinnvoller sprachlicher Kommunikation, einschließlich seiner eigenen kritischen Arbeiten. Der wahre Kritiker müsse daher im Grunde auf die Sprache als Ausdrucksmittel verzichten: Mais à partir du moment où l’on veut ainsi montrer […] qu’il n’y avait pas de signifié transcendantal ou privilégié et que le champ ou le jeu de la signification n’avait […] plus de limite, on devrait – mais c’est ce qu’on ne peut pas faire – refuser jusqu’au concept et au mot de signe. […] Mais nous ne pouvons nous défaire du concept de signe, nous ne pouvons renoncer à cette complicité métaphysique sans renoncer du meme coup au travail critique que nous dirigeons contre elle […].337 In Derridas Worten wird deutlich, was bereits Nietzsches Schlagwort der »Sprachmetaphysik« implizierte: Gott als oberstes, transzendentes Sein findet sein Äquivalent im signifié transcendantal, der Bedeutungs- oder Sinn-Ebene der Sprache, so dass die Verabschiedung Gottes streng genommen mit der Verabschiedung des signifiés und folglich mit der Möglichkeit eines sinnvollen Sprechens einhergeht. Mit dem ›Tod Gottes‹ ist damit zwangsläufig ein weiterer ›Tod‹ verbunden, jener des 337
Jacques Derrida, »La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines«, S. 412f.
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sprechenden, sinnstiftenden Subjekts, welches Barthes auf der Ebene des Textes dem »Autor« gleichsetzt, wobei sein ›Tod‹ in der postmodernen Literatur natürlich vor allem die traditionellen Kategorien des Erzählers und der Figuren trifft. Ein Schreiben, das seinen letzten Sinn und das ihm zugrunde liegende Subjekt bewusst nicht erkennen lässt, bezeichnet Barthes aus diesem Grund als »contrethéologique«: […] la littérature […] en refusant d’assigner au texte (et au monde comme texte) un »secret«, c’est-à-dire un sens ultime, libère une activité que l’on pourrait appeler contre-théologique, proprement révolutionnaire, car refuser d’arrêter le sens, c’est finalement refuser Dieu et ses hypostases, la raison, la science, la loi.338 Schreiben und Denken erweist sich jedoch letzten Endes als ein dem Menschen unabdingbarer Wesenszug, welchem auch die schärfste Kritik keinen Abbruch tun kann, und welcher infolgedessen, wenn auch in veränderter Form fortbestehen muss. Bereits in der Geburt der Tragödie stellt Nietzsche den Anfängen des Sokratismus die Daseinsform und Denkweise des ›dionysischen Mythos‹ gegenüber, welche sich auch einer eigenen Sprache bediente. Nicht das »gesprochne Wort« sei die »adäquate Objectivation« des Mythos (GT 17, KSA 1, 109) gewesen, sondern eine musikalische Sprache: […] das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, jenachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. (GT 6, ebd., 49) Während dem mythischen, »alle Erscheinung« transzendierenden »Ur-Einen« im Grunde nur durch die »Weltsymbolik der Musik« »beizukommen« sei (GT 6, ebd., 51), könne die Sprache der »Poesie« versuchen, die Eigenschaften der Musik sprachlich nachzubilden und so zum »ungeschminkten Ausdruck der Wahrheit« zu werden, welche sich natürlich als der Gegensatz zu »jener vermeinten Wirklichkeit des Culturmenschen« versteht (GT 8, ebd., 58). Dies erklärt Nietzsches nachträgliche, bereits zitierte Bemerkung im Vorwort der Geburt der Tragödie, »er hätte« damals »singen sollen« (GT: Versuch einer Selbstkritik 3, ebd., 15) – eine Vorstellung, die er in Also sprach Zarathustra aufgreift und weiterentwickelt: Oh meine Seele […] dass ich dich singen hiess, siehe, das war mein Letztes! […] (Za III: Von der grossen Sehnsucht, KSA 4, 280f) 338 Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, S. 494.
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[…] »sind alle Worte nicht für die Schweren gemacht? Lügen dem Leichten nicht alle Worte! Singe! sprich nicht mehr!« […] (Za III: Die sieben Siegel 7, ebd., 291) Willst du wohl singen, oh meine Seele? (Za IV: Mittags, ebd., 343) Der apollinisch-dionysische Lebensfluss, der in der ›ewigen Wiederkehr‹ Gegensätze zu einer Einheit verschmelzen lässt, verlangt als die eigentliche, ›wahre‹ Daseinswirklichkeit somit eine Sprache, welche nicht wie die konventionelle Zeichensprache nur Ausschnitte dieser Wirklichkeit fokussiert und fixiert, sondern welche das Fließen des Seins und die Unbestimmbarkeit seines Sinns performativ vorführt. Dass sich Nietzsche dabei an der Sprache des Mythos, derjenigen Lebensund Weltkonzeption orientiert, welche er der dekadenten Wissenschaftskultur entgegensetzte, erscheint plausibel. Während Nietzsche nur andeutet, worum es ihm bei dieser mythisch inspirierten Sprache geht, etwa durch die nachträgliche Charakterisierung des Stils von Also sprach Zarathustra als »Musik« – »Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen« (EH: Also sprach Zarathustra 1, KSA 6, 335) –, oder als »Rückkehr der Sprache zur Natur der Bildlichkeit« (EH: ebd. 6, ebd., 344), so zeigt die Untersuchung des Mythos auf seine »Text- und Mentalitätsstrukturen«, wie sie Jan und Aleida Assmann vorgelegt haben,339 inhaltliche Übereinstimmungen mit Nietzsches Lebensanschauung. Der Mythos erscheint dabei als eine vorwissenschaftliche Darstellungsweise, welche den Erzählstoff nicht »narrativ-chronologisch« nach dem Muster der »Kausalität«, sondern »topisch« nach dem Muster der »Äquivalenz« oder »Homologie« »verkette«, und sich vorwiegend durch die Merkmale der »Bildhaftigkeit« (»Ikonizität«), der »Belebung und Beseelung« der Natur (»Animation«), der »Ambivalenz« (das »Oszillieren zwischen gegensätzlichen Polen«) und der »Totalisierung« (die »Geschlossenheit« und »Ordnung« der Welt als einzig gültige Erklärung dieser Welt) kennzeichne. Außerdem »existiere« der Mythos, der auf mündlichen Erzählungen beruhe, im Gegensatz zum Dogma, allein »in Varianten«, so dass er seinen Gegenstand, statt ihn festzuschreiben, immer wieder »reorganisiere«.340 Marquard hatte den (Poly-) Mythos in diesem Zusammenhang als eine Denkform beschrieben, welche anders als der »Monomythos«, ausreichend Spielraum für individuelle Entfaltung biete,341 und Blumenberg hatte dem Ernst des Dogmas das Heitere und Spielerische des Mythos gegenübergestellt.342 Stilmerkmale solcher Art scheint Nietzsche nun tatsächlich, ohne dass er sie explizit auf den Mythos zurückführt, für sein eigenes Schreiben in Anspruch zu nehmen. Hans-Martin Gauger widmet sich in mehreren 339 340 341 342
Assmann, Jan/Assmann, Aleida, »Mythos«, S. 187. Ebd., S. 188-195. Odo Marquard, »Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie«, S. 235. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos [Auszug], S. 208.
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Aufsätzen343 einem aus dem Jahr 1882 stammenden Fragment Nietzsches mit dem Titel »Zur Lehre vom Stil«344 , dessen erster und wichtigster Grundsatz lautet: »Das Erste, was noth thut, ist Leben: der Stil soll leben.« Während auch poststrukturalistische Autoren das Sein in seiner Ambivalenz adäquat wiedergeben möchten, dabei jedoch die Sprechsprache in erster Linie als Vergegenständlichung der ›logo‹und damit ›phonozentrischen‹ ›Metaphysik der Anwesenheit‹ betrachten und sie als solche der metaphysikkritischen écriture unterordnen,345 glaubt Nietzsche, eine dem Leben nachgebildete Sprache gerade durch die Imitation des »Rede-Stils« im Medium der Schrift zu erreichen (JGB: Achtes Hauptstück 247, KSA 5, 190). Das Gegenteil, die »Uebergewalt des Schreibstils über die Rede« (FW: Zweites Buch 104, KSA 3, 461) stellt Nietzsche besonders in der deutschen Sprache fest, in welcher »Klang« und »Tanz« fehle (JGB: Achtes Hauptstück 246, KSA 5, 189). Das Schreiben müsse wie das Sprechen die »Bewegung«, den »Takt«, den »Tanz«, ja die »Musik« des Lebens wiedergeben (vgl. JGB: ebd. 252, ebd., 196). Nietzsche spricht folglich vom »tempo« des Stils (JGB: Zweites Hauptstück 28, ebd., 46f; EH: Vorwort 4, KSA 6, 260). Aufgabe des Schreibenden sei es, »mit der Feder« zu »tanzen« (GD: Was den Deutschen abgeht 7, KSA 6, 110), wodurch sich ein leichter Stil »auf zarten Füßen« ergebe.346 Auf die Gleichsetzung von Schreiben und Sprechen ist es auch zurückzuführen, dass Nietzsche behauptet, er lese in »arbeitsamen Zeiten« nichts, da er sich davor »hüte«, »Jemanden in [s]einer Nähe reden oder gar denken zu lassen« (EH: Warum ich so klug bin 3, KSA 6, 284) und dass er in Jenseits von Gut und Böse, eine reale Sprechsituation simulierend, zur Erläuterung seines Standpunkts 343 Hans-Martin Gauger: »Nietzsches Auffasssung vom Stil«, in: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, hg. (u.a.) von Hans Ulrich Gumbrecht (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986), 200-214; Hans-Martin Gauger, »›Es ist nichts mit Schriftstellerei‹. Zu Nietzsches Stil«, 43-69; Hans-Martin Gauger, »Nietzsches Stil am Beispiel von Ecce homo«, 332-355. 344 Zitiert nach Hans-Martin Gauger, »Nietzsches Auffassung vom Stil«, S. 202f. S.a. Nachgelassene Fragmente (NF) 1882-1884: »Zur Lehre vom Stil« (Juli-August 1882), KSA 10, 38f. 345 Derridas différance, deren grafische Besonderheit nicht hörbar ist, macht darauf aufmerksam, dass sich Sinnnuancen außerhalb der gewohnten ›Sprachmetaphysik‹ dem Gesprochenen entziehen. In der auf Kommunikation ausgerichteten Sprechsprache werde nämlich jedes Wort als Platzhalter eines unmittelbaren und so ›präsenten‹ Sinns verstanden, vgl. Jacques Derrida, »La différance«, S. 42f, 47f u. 60. Vgl. a. Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, v.a. S. 39-44; Klaus W. Hempfer: Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis. Tel Quel und die Konstitution eines Nouveau Nouveau Roman (München: Fink 1976), v.a. S. 13-21. Das Konzept der poststrukturalistischen écriture meint dabei natürlich nicht die Verschriftlichung der Sprechsprache, sondern im Grunde die Utopie einer nicht-referenziellen Sprache im Allgemeinen. 346 Vgl. EH: Vorwort 4, KSA 6, 259: »[…] Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt–«. Über Bizets Carmen schreibt Nietzsche: »Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. ›Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füssen‹ […]« (WA 1, KSA 6, 13).
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einwirft »deutlicher geredet und grob und gründlich« (JGB: Erstes Hauptstück 11, KSA 5, 25). Im Rückblick auf Also sprach Zarathustra ermahnt er außerdem dazu, den »halkyonischen Ton« des Werks, das »tempo dieser Reden« »richtig« zu »hören«, denn hier »rede« »kein Fanatiker«, sondern »aus einer unendlichen Lichtfülle […]« »falle« »Wort für Wort« (EH: Vorwort 4, KSA 6, 259f). Nietzsche möchte mit seinem Schreiben nicht etwas darstellen oder abbilden, sondern das Leben selbst fortführen. Damit verändert sich zwangsläufig auch die Rolle des Lesers. So beschreibt Nietzsche seine Morgenröthe etwa als ein »Buch« »zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen«, »man [müsse] den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich finden.« (M: Fünftes Buch 454, KSA 3, 274). Diesem Effekt kommt die von Nietzsche häufig verwendete aphoristische Kurzform zugute, d.h., wie dies Martin Stingelin prägnant dargestellt hat, das Arbeiten mit »nichtfiktionalen, kontextuell voneinander isolierten, konzis formulierten und sprachlich bzw. sachlich pointierten Prosatexten«,347 welche den Leser dazu anregen, selbst nachzudenken und Stellung zu beziehen. Die poststrukturalistische Verlagerung des Gewichts vom Autor auf den Leser,348 welchem die Lektüre zum Vorwand eines neuen Schreibens wird, und die damit verbundene Vorstellung einer alles umfassenden écriture, welche sich aus intertextuellen Verweisen zusammensetzt,349 ist damit bereits bei Nietzsche im Keim angelegt. Dies verdeutlicht auch der letzte Punkt von Nietzsches ›Stillehre‹: »Es [sei] sehr artig und sehr klug, seinem Leser zu überlassen, die letzte Quintessenz aus unsrer Weisheit selber auszusprechen.« (NF 1882-1884: »Zur Lehre vom Stil«, KSA 10, 39). Nietzsches beständiges Eingehen auf ein fiktives Gegenüber, dessen Aufmerksamkeit er sich durch beharrliche Fragen zu vergewissern scheint,350 genauso wie seine Rede in der ersten Person Plural351 oder sein Zurückgreifen auf eine 347 Martin Stingelin: »›er war im Grunde der eigentliche Schriftsteller, während ich bloss der Autor war‹. Friedrich Nietzsches Poetologie der Autorschaft als Paradigma des französischen Poststrukturalismus (Roland Barthes, Gilles Deleuze, Michel Foucault)«, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen, hg. von Heinrich Detering (Stuttgart [u.a.]: Metzler 2002), S. 99. 348 Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, S. 495: »[…] pour rendre à l’écriture son avenir, il faut en renverser le mythe: la naissance du lecteur doit se payer de la mort de l’Auteur.« 349 Klaus W. Hempfer,Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, S. 51-55. 350 S. z.B. UB I 12, KSA 1, 242: »[…] – nicht wahr, meine Guten?«; M: Fünftes Buch 575, KSA 3, 331: [Schlusswort der Morgenröthe] »Oder, meine Brüder? Oder? – »; Za II: Von den berühmten Weisen, KSA 4, 134: »[…] – wusstet ihr das schon?«; GM: Dritte Abhandlung 23: »[…] kennt ihr das?« 351 S. z.B. FW: Fünftes Buch 346, KSA 3, 579: »Wir suchen nach Worten, wir suchen vielleicht auch nach Ohren. Wer sind wir doch?«; GM: Dritte Abhandlung 27, KSA 5, 410: »Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine unbekannten Freunde […]«; GD: Moral als Widernatur 6, KSA 6, 87: »Wir Anderen, wir Immoralisten«; AC 13, KSA 6, 179: »[…] wir selbst, wir freien Geister«; AC 51, ebd., 231: »Wir Anderen, die wir den Muth zur Gesundheit […] haben«.
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Art von Frage-Antwort-Spiel352 dient nicht nur der Einbindung des Lesers, sondern der »Verlebendigung«353 des Schreibstils, in welchem die Mehrstimmigkeit eines Gesprächs imitiert wird. Dass es Nietzsche bei aller Wahrheits-, Vernunftund Sprachkritik paradoxerweise noch immer um eine, wenn auch verrätselte, die Vernunft und ihre sprachlichen Mittel übersteigende Botschaft geht, jene nämlich vom mystischen Zusammenfall aller Sinneinheiten in der ›ewigen Wiederkehr‹, das zeigt die immer nachdrücklichere, fast drängende Frage an das Lesepublikum, ob man ihn verstehe – »versteht ihr das?« (GM: Zweite Abhandlung 23, KSA 5, 334), »Versteht man mich? Hat man mich verstanden?« (GM: Dritte Abhandlung 1, ebd., 339), »Versteht man es immer noch nicht?« (AC 58, KSA 6, 245), »Hat man mich verstanden?« (EH: Warum ich ein Schicksal bin 7-9, KSA 6, 371, 373 u. 374). Nietzsche verbirgt nicht, welche Art von Leser er sich wünscht: Sein »vollkommner Leser« sei ein »Unthier von Muth und Neugierde«, »ein geborner Abenteurer und Entdecker«, somit jemand, der am Gelesenen partizipiert und sich einbringt. In der Tat erklärt Nietzsche in seiner »Lehre vom Stil« das Vorhandensein einer konkreten Sprechsituation zwischen einem Autor-Ich und »einer ganz bestimmten Person, der [es] sich mitteilen will[…]« (»Zur Lehre vom Stil«, KSA 10, 38), zur Voraussetzung eines lebendigen, dem Leben nachempfundenen Stils. Nietzsche setzt sich somit für einen Schreibstil ein, der den Menschen mitsamt seiner »inneren«, durchaus widersprüchlichen »Zustände« erkennen lasse und der angesichts der »Vielfalt« dieser »Zustände« in sich heterogen sei (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 4, KSA 6, 304). Betrachtet man ein schriftstellerisches Werk als den Ausdruck der perspektivischen, im Wandel begriffenen Ansicht seines Autors, so hebt dies nicht nur den Gegensatz zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf, sondern verändert insgesamt die Erwartungshaltung gegenüber der Rolle von Literatur. Literatur, wie Nietzsche sie versteht, erfüllt keine Funktion, spiegelt keine ›Realitäten‹ vor, erhebt nicht den Anspruch, ›objektiv‹, ›realistisch‹, oder (im Gegensatz zur ›Realität‹) ›reine Kunst‹ zu sein, sie ist im Gegenteil die Fortführung des auf Schein beruhenden Lebens, dessen Scheinhaftigkeit und Fiktionalität sie offen zur Schau stellt. Dies zeigt sich im bereits erwähnten Dionysos-Dithyrambus »Nur Narr! Nur Dichter!«, in welchem der Schein der Welt in den Bildern einer ›bunten Maskerade‹ bzw. eines ›wilden Beutezugs‹ auf neue Fiktionen zutage tritt, wobei der ›Sturzflug‹ auf ›Beute‹ auch grafisch abgebildet wird: 352 S. z.B. FW: Drittes Buch 268-275, KSA 3, 519: »[…] Woran glaubst du? – Daran: dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen. Was sagt dein Gewissen? – ›Du sollst der werden, der du bist.‹ Wo liegen deine grössten Gefahren? – Im Mitleiden. […].«; AC 2; KSA 6, 170: »Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht […] erhöht. Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? – Das Gefühl davon, dass die Macht wächst […].« 353 Vgl. Hans-Martin Gauger, »Nietzsches Stil am Beispiel von Ecce homo«, S. 344-351. Gauger spricht von Nietzsches »Mitteln der Verlebendigung«.
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[…] dass du in Urwäldern/unter buntzottigen Raubthieren/ sündlich gesund und schön und bunt liefest, […]/ raubend, schleichend, lügend liefest…[…]// Oder dem Adler gleich, der lange, lange starr in Abgründe blickt […] Dann, plötzlich geraden Flugs gezückten Zugs auf Lämmer stossen […] (DD: »Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 378f) Wie das Leben selbst kann daher die Kunst bzw. im engeren Sinne die Literatur nicht ›unpersönlich‹ sein. Im Gegensatz zu literarischen Strömungen, die im Dienst einer möglichst mimetischen Darstellung oder eines strengen L’art pour l’art als der Forderung nach einer der Realität entgegengesetzten, eigenständigen Kunstwelt, auf Objektivität einerseits, oder künstlerische ›Ziellosigkeit‹ andererseits dringen, spricht sich Nietzsche, wie später postmoderne Autoren, für ein Schreiben aus, welches das Subjektiv-Persönliche des sich wandelnden, sich selbst und die Welt schreibenden und fingierenden Menschen offen darlegt: […] was thut alle Kunst? lobt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nicht aus? zieht sie nicht hervor? Mit dem Allen stärkt oder schwächt sie gewisse Werthschätzungen…Ist dies nur ein Nebenbei? ein Zufall? Etwas, bei dem der Instinkt des Künstlers gar nicht betheiligt wäre? Oder aber: ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler kann…? Geht dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den Sinn der Kunst, das Leben? […] Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l’art pour l’art verstehn? (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 24, KSA 6, 127) Das Gegenteil eines solchen, dem Leben nachempfundenen Stils ist das, was Nietzsche als »litterarische [sic!] décadence« bezeichnet, ein Schreiben, in welchem das Leben nicht mehr spürbar ist, in welchem »die Seite« »Leben auf Unkosten des Ganzen« »gewinnt« und somit »das Ganze« »kein Ganzes« »mehr« »ist« (WA 7, KSA 6, 27). Aufgrund der Unzulänglichkeit der sprachlichen Zeichen besteht nämlich die Gefahr, dass Gedanken und Vorstellungen, sobald man sie in Worte fasst, verkümmern und absterben, so dass das Niedergeschriebene vom Gefühlten entscheidend abweicht: Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken! Es ist nicht lange her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft, voller Stacheln und geheimer Würzen […] Und jetzt? […] was vermögen wir denn allein abzumalen? Ach, immer nur Das, was eben welk werden will […] Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein! […] aber Niemand erräth mir daraus, wie ihr [meine Gedanken] in eurem Morgen aussahet, ihr plötz-
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lichen Funken […] meiner Einsamkeit […]! (JGB: Neuntes Hauptstück 296, KSA 5, 239f) Zur Verlebendigung seines Stils und um die begrenzten Mittel der Schriftsprache zu kompensieren, bemüht sich Nietzsche, wie im vierten Satz seiner »Lehre vom Stil« gefordert, um eine »sehr ausdrucksvolle Art von Vortrage« (»Zur Lehre vom Stil«, KSA 10, 38). Reime,354 Anaphern,355 Wortspiele,356 sowie Metaphern und Metonymien357 stehen dabei, wie dies Gauger festgestellt hat, im Zeichen einer ausgeprägten »Sprachbewusstheit«.358 Statt die Sprache als starres Kommunikationssystem zu benutzen, möchte Nietzsche den spielerisch-kreativen Ursprung der Sprache359 lebendig halten. Nicht selten nutzt er die genannten rhetorischen Mittel, um das eben Gesagte bzw. Zitierte – meist Inhalte des Christentums – im Sinne seiner 354 S. z.B. Za III: Von den Abtrünnigen, KSA 4, 226: »Ein Wenig älter, ein Wenig kälter: und schon sind sie Dunkler und Munkler und Ofenhocker.«; JGB: Achtes Hauptstück 251: »Das, was heute in Europa ›Nation‹ genannt wird und eigentlich mehr eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum Verwechseln ähnlich sieht–) […].«; EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 5, KSA 6, 305: »[…] gar nicht zu reden von den Allerwelts-Philosophen, den Moralisten und andren Hohltöpfen, Kohlköpfen […].« 355 S. z.B. Za I: Zarathustra’s Vorrede 4, KSA 4, 17: Über eine Seite lang setzt jeder Abschnitt mit der Formulierung »Ich liebe Die, […]« bzw. »Ich liebe Den, […]« ein; Za II: Das Nachtlied, ebd., 136ff: Auf den mehrfach wiederholten Satzanfang »Nacht ist es« folgt antithetisch die Aussage »Licht bin ich«; Za III: Die Heimkehr, ebd., 233: Mit »Alles bei ihnen redet […]« beginnen vier aufeinanderfolgende Absätze. 356 S. z.B. Nietzsches spöttische Bildung »Réealismus« aus dem Namen seines Freundes Paul Rée (EH: Menschliches, Allzumenschliches 6, KSA 6, 328) bzw. die Bezeichnung seiner letzten Werke als »Inedita und inaudita« in einem seiner ›Wahnsinnszettel‹ (1234, 01.01.1889, KSB 8, 570). 357 Mit der Erzählweise des Mythos teilt Nietzsche die Vorliebe für eine bildhafte Sprache, welche er nicht selten zum Zweck der Komik bzw. des Spottes einsetzt, s. z.B. Nietzsches Bezeichnung der Gläubigen als »Kreuzspinnen« (Za III: Von den Abtrünnigen 2, KSA 4, 228 bzw. Za III: Die sieben Siegel 2, ebd., 288) bzw. Gottes als »Grossvater der Sünde« (M: Erstes Buch 81, KSA 3, 78). S.a. Za II: Das Grablied, ebd., 145: »Und nur wo Gräber sind, giebt es Auferstehungen«. S.a. JGB: Siebentes Hauptstück 234, KSA 5, 173: Metonymisch überträgt Nietzsche hier den Sinnzusammenhang der Nahrungsaufnahme auf den Bereich des Geistig-Intellektuellen, so dass er den »Mangel an Vernunft in der Küche« bzw. »schlechte Köchinnen« für die negative »Entwicklung des Menschen« verantwortlich macht. Ähnlich wird in folgendem Zitat des ›Wahrsagers‹ verfahren: »[…] hast du mich nicht zum Mahle eingeladen? […] Du willst uns doch nicht mit Reden abspeisen?« (Za IV: Das Abendmahl, KSA 4, 353). Eine weitere Metonymie macht er sich zunutze, um dem Missverhältnis von Leben und starrer Begriffswelt pointiert Ausdruck zu verleihen, so behauptet er etwa, man »stolpere« »über steinharte verewigte Worte« und »werde« »dabei eher ein Bein brechen, als ein Wort« (M: Erstes Buch 47, KSA 3, 53). 358 Hans-Martin Gauger, »Nietzsches Stil am Beispiel von Ecce homo«, S. 347ff. 359 Vgl. M: Erstes Buch 3, KSA 3, 19: »Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte er nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben«.
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eigenen Denkweise zu korrigieren.360 So stellt er dem »heiligen Geist« den »eigenen Geist« gegenüber (M: Erstes Buch 68, KSA 3, 65), folgert aus der »unbefleckten Empfängnis« das ›Beflecken‹ der Empfängnis (AC 34, KSA 6, 207) und identifiziert entsprechend seiner Charakterisierung des Christentums als Moral der ›Rache‹, den »Gerechten« mit dem »Gerächten« (Za II: Von den Tugendhaften, KSA 4, 122) bzw. den »Christen« mit dem »Nihilisten«, wobei er hinzufügt »[…] das reimt sich, das reimt sich nicht bloss…« (AC 58, KSA 6, 247). Denselben Effekt erzielt er durch parallel gebaute Sätze, wenn er z.B. behauptet, einem tiefen Geiste liege es fern, »für die Wahrheit zu leiden«, er präferiere, »Etwas für die Wahrheit zu thun« (GM: Dritte Abhandlung 8, KSA 5, 355), oder durch die Reaktualisierung der etymologischen Grundbedeutung von Begriffen: Indem er den Begriff der »Schuld« schlicht auf das »Schulden« von etwas (GM: Zweite Abhandlung 4, ebd., 297) und jenen des »Verbrechers« auf das »Brechen« eines »Vertrags« (GM: ebd. 9, ebd., 307) zurückführt, nimmt er ihnen ihren moralischen Gehalt. Ähnlich verfährt er, wenn er den »Verachtenden« als jemanden bezeichnet, »der ›das Achten nicht verlernt hat‹« (GM: Dritte Abhandlung 25, KSA 5, 405) und wenn er das Verb ›begreifen‹ wörtlich nimmt als ein »tiefes« »Greifen«: »Hat man in aller Tiefe begriffen – und ich verlange, dass man hier gerade tief greift, tief begreift […]« (GM: ebd. 15, ebd., 372). Nietzsche, dessen Denken aufs Engste mit dem griechischen Mythos, besonders mit dem Dionysos-Mythos verbunden ist, erweckt in seinen DionysosDithyramben jene antike Gattung zum Leben, welche ursprünglich einen »begeisterten, stürmischen, anfangs strophisch gegliederten, dann freirhythmischen Lobgesang« auf Dionysos bzw. ›Dithyrambos‹, so der »Beiname des Weingottes«, darstellte und später allgemein ein »Gedicht in rauschhafter Ekstase« bezeichnete.361 Während sich, wie Francesca Fantoni zeigte, der Gattungsbegriff des Dithyrambus unter deutschen Autoren wie Herder, Schlegel und Gottschall »immer mehr von den tradierten Inhalten und Formen« »löste«, lässt Nietzsche den Dionysos-Mythos wieder zum Dreh- und Angelpunkt der Gattung werden.362 Die an den Mythos des leidenden Dionysos gebundenen Themen der Tragik und des Wahnsinns finden ihr Äquivalent im »dithyrambischen Stil« als einer »formsprengenden, trangressiven Form«, welche, wie etwa in Nietzsches Dithyrambus »Nur Narr! Nur Dichter!«, »die Dynamik der Welt als Formgebung und -auflösung« abzubilden versucht.363 Nietzsche hat die »Sprache des Dithyrambus«, als dessen »Erfinder« er sich bezeichnet, zum einzig wahren Ausdruck des dionysischen ›Übermenschen‹ erklärt: 360 Vgl. Hans-Martin Gauger, »Nietzsches Stil am Beispiel von Ecce homo«, S. 346ff. 361 Ivo Braak, Poetik in Stichworten, S. 146f. 362 Francesca Fantoni: Deutsche Dithyramben. Geschichte einer Gattung im 18. und 19. Jahrhundert (Würzburg: Königshausen & Neumann 2009), S. 21 u. 236f. 363 Ebd., S. 250ff.
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– Welche Sprache wird ein solcher Geist reden, wenn er mit sich allein redet? Die Sprache des Dithyrambus. Ich bin der Erfinder des Dithyrambus. (EH: Also sprach Zarathustra 7, KSA 6, 345) Neben der lyrischen Form des Dithyrambus, dienen Nietzsche gnomische und parabolische Kurzformen,364 besonders Aphorismen, Gleichnisse und Rätsel,365 als alternative, die Alltagssprache überschreitende Ausdrucksmittel. Nietzsche, der wie poststrukturalistische Autoren, die Sinnhaftigkeit der Sprache und der Welt in Zweifel zieht, wählt damit Formen, welche den endgültigen Sinn des Gesagten im Unterschied zu der auf Kommunikation ausgerichteten Normalsprache bewusst offenlassen, wodurch die »Entzifferung« bzw. »Auslegung« eines Textes allein vom jeweiligen Leser abhängt. Dieser, welchem die »aphoristische Form«, wie Nietzsche zugibt, zweifellos Mühe abverlangt, wird dadurch, dass er an seinem Lesestoff selbst mitwirken muss (entsprechend Nietzsches Absicht, den Leser einzubinden) Teil des Textes selbst (GM: Vorrede 8, KSA 5, 255). Insofern die genannten Formen auf Erklärungen und Erläuterungen verzichten und komplexe Gedankenansätze ohne endgültige Synthese in den Raum stellen, zeichnen sie sich gegenüber anderen Gattungen vor allem durch ihre Knappheit und Prägnanz aus: Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der »Ewigkeit«; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche nicht sagt… (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 51, KSA 6, 153) Mithilfe dieser Kurzformen versucht sich Nietzsche der Musik anzunähern, welche er für fähig hält, die Ambivalenz des ›Dionysischen‹ durch ein »gleichnissartiges 364 Ivo Braak, Poetik in Stichworten, S. 150. 365 S. z.B. JGB: Viertes Hauptstück 124, KSA 5, 94f: »Wer auf dem Scheiterhaufen noch frohlockt, triumphirt [sic!] nicht über den Schmerz, sondern darüber, keinen Schmerz zu fühlen, wo er ihn erwartete. Ein Gleichnis.«; EH: Warum ich so weise bin 5, KSA 5, 271: »Im Gleichniss geredet: ich schicke einen Topf mit Confitüren, um eine sauere Geschichte loszuwerden…«; Za III: Vom Gesicht und Räthsel, KSA 4, 202: »So rathet mir doch das Räthsel, das ich damals schaute, so deutet mir doch das Gesicht des Einsamsten! […] was sah ich damals im Gleichnisse? Und wer ist, der einst noch kommen muss? Wer ist der Hirt, dem also die Schlange in den Schlund kroch? Wer ist der Mensch, dem also alles Schwerste, Schwärzeste in den Schlund kriechen wird? […].« S.a. Za IV: Der hässlichste Mensch, KSA 4, 328: »Zarathustra! Zarathustra! Rathe mein Räthsel! Sprich, sprich! Was ist die Rache am Zeugen? […] So rathe doch das Räthsel, du harter Nüsseknacker, – das Räthsel, das ich bin! So sprich doch: wer bin ich!«; EH: Warum ich so weise bin 1, KSA 6, 264: »[…] ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt.« Teilweise richten sich Nietzsches Rätsel direkt an den Leser, s. z.B. M: Drittes Buch 163, KSA 3, 146: »So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon! Unmöglich kann hier die Wahrheit auf beiden Seiten sein: und ist sie überhaupt auf einer von beiden? Man prüfe.«; M: Viertes Buch 379, ebd., 247: »Diese sehr wahrscheinliche Geschichte kommt nie vor, – wesshalb?«
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Bild« zu vermitteln (GT 16, KSA 1, 107). Sein schwieriger Stil, welcher nicht zuletzt zur faschistischen Auslegung seines Werks beitrug, ist das Ergebnis eines Schreibens, welches in Einklang mit der ihm zugrunde liegenden Wahrheits- und Sprachkritik um eine unkonventionelle, ›nicht-kommunikative‹ Sprache bemüht ist, und so seinen letzten Sinn bewusst in der Schwebe hält. Unter dem Titel »Sprüche und Zwischenspiele« etwa sammelt Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse über hundert konzis formulierte, unverbundene Sätze, die alle mehr oder weniger Nietzsches philosophischer Gedankenwelt entstammen, so beispielsweise wenn es thematisch um den Zusammenfall aller Gegensätze (z.B. ›verachten‹ als ›achten‹; s.a. die gegenseitige Abhängigkeit, wenn nicht Gleichzeitigkeit des menschlichen ›Paradieses‹ bzw. Glücks und des rational verursachten ›Sündenfalls‹ bzw. Unglücks) oder die am Griechentum orientierte, der christlichen Moral gegenüberstehende Betonung der ›Leiblichkeit‹ geht: Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter. (JGB: Viertes Hauptstück 78, KSA 5, 87) »Wo der Baum der Erkenntnis steht ist immer das Paradies«: so reden die ältesten und die jüngsten Schlangen. (ebd. 152, ebd., 99) Der Unterleib ist der Grund dafür, dass der Mensch sich nicht so leicht für einen Gott hält. (ebd. 141, ebd., 97) Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken: – er starb zwar nicht daran, aber entartete, zum Laster. (ebd. 168, ebd., 102) Charakteristisch für Nietzsches Stil ist dabei ein Oszillieren zwischen Gegensätzen, welches den Leser nicht selten verwirrt bzw. in Erstaunen versetzt. Ein Beispiel ist ein Aphorismus aus dem oben zitierten Kapitel »Sprüche und Zwischenspiele«, welcher zunächst ein Plädoyer für die Welt der Sinne zu sein scheint (s.o.), dann aber im selben Satz in das genaue Gegenteil umschlägt: Von den Sinnen her kommt alle Glaubwürdigkeit, alles gute Gewissen, aller Augenschein der Wahrheit. (ebd. 134, ebd., 96) Als Leser erwartet man, dass Nietzsche, der stets die christliche Verurteilung der ›Sinne‹ kritisiert, hier für die Sinneswahrnehmung als die dem Menschen einzig zugängliche Erfahrung von Sein, Partei ergreifen wird. Mit den bei Nietzsche negativ besetzten Begriffen ›gutes Gewissen‹ bzw. ›Wahrheit‹ wird jedoch darauf hingewiesen, dass das »Zeugniss« der Sinne – wie an einer anderen Stelle erläutert – selbst kritisch zu betrachten sei, da der Mensch, ausgehend von diesem, die »Lüge der Einheit, […] der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer« in die Welt »hineinleg[e]« (GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 2, KSA 6, 75) und sie »Wahrheit«
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oder »gutes Gewissen« nenne. Vor diesem Hintergrund kann die Äußerung ironisch als ihr Gegenteil verstanden werden: ›Von den Sinnen her kommt alle Lüge‹. Daraus folgt, dass die menschlichen »Sinne« bei Nietzsche doppelt konnotiert sind. Detering gelangt in seiner Analyse der letzten Werke Nietzsches zu einem ähnlichen Ergebnis, er spricht von der Doppeldeutigkeit von Begriffen wie ›christlich‹, ›Christenthum‹, ›Kreuz‹ und ›Antichrist‹, welche je nach Kontext, entweder entsprechend Nietzsches feindlicher Haltung gegenüber dem historischen Christentum, bzw. entsprechend Nietzsches Beschwörung des ursprünglichen, jesuanischen Christentums zu verstehen sind.366 Zu diesen ambivalenten Formulierungen zählt auch die berühmte, auf Nietzsches letzte Verurteilung der christlichen Moral folgende Abschlussformel von Ecce homo: »– Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten…« (EH: Warum ich ein Schicksal bin 9, KSA 6, 374). Detering zufolge, handelt es sich hier um eine »Kippfigur, in der die Gegensätze komplementär ineinander verschränkt sind«.367 Während durch den Kontext zunächst jene Deutung am naheliegendsten erscheint, nach welcher ›Dionysos‹ als die Verkörperung von Nietzsches dionysischer Philosophie, in Opposition zur christlichen ›Dekadenz‹ steht, erweisen sich die Begriffe ›Dionysos‹ und ›der Gekreuzigte‹ bei genauerer Betrachtung als mehrdeutig, wodurch sich die Gesamtbedeutung des Satzes verschiebt bzw. erweitert. Da ›Dionysos‹ sowohl für das ›Dionysische‹ als das Zusammenspiel aus Gewalt, Leiden, Rausch und Ekstase, als auch für den zarten, sanftmütigen Bejaher der ›ewigen Wiederkehr‹ stehen kann, der ›Gekreuzigte‹ dagegen sowohl für die christliche ›Dekadenz‹ als auch für den ›Übermenschen‹ Jesus, lassen sich die Satzglieder zugleich als Gegensatzpaar deuten oder als die beiden Seiten des Gleichen, nämlich des dionysischen, allbejahenden ›Übermenschen‹, welchen Nietzsche in seiner Doppelgesichtigkeit dem historischen Christentum entgegensetzt.368 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Nietzsche zur Bezeichnung philosophischer Inhalte auf Neologismen zurückgreift, welche sich dem Leser erst im Kontext erschließen und dadurch die Gefahr von Missverständnissen bergen.369 Sie stehen im Zeichen einer symbolischen, nicht-referenziellen Sprache als Spiegel einer ebenso uneindeutigen Welt. Damit verbunden ist auch 366 367 368 369
Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 87ff. Ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 89f. So z.B. der ›Wille zur Macht‹, ›Herren-‹ und ›Sklaven-Moral‹, das ›Dionysische‹, die ›ewige Wiederkehr‹ und der ›Übermensch‹, genauso jedoch die symbolischen Namen der mit diesen Inhalten verbundenen Figuren und Typen, wie etwa der ›freie Geist‹, ›Zarathustra‹ (nach dem persischen Religionsstifter, der als erster Gut und Böse unterschied und der, Nietzsche zufolge, auch der erste sein müsse, der diese Unterscheidung wieder aufhebe, vgl. EH: Warum ich ein Schicksal bin 3, KSA 6, 367), ›der letzte Mensch‹, ›die höheren Menschen‹, ›der Gewissenhafte des Geistes‹, der ›hässlichste Mensch‹, der ›Büsser des Geistes‹, ›der tolle Mensch‹, ›Dionysos‹ oder ›der Gekreuzigte‹ (bei den Bezeichnungen ›Dionysos‹, ›der Gekreuzigte‹ und ›Zarathustra‹ handelt es sich natürlich weniger um Neologismen als um bereits bestehen-
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der spezielle Aufbau bzw. die Komposition von Nietzsches Werken, welche sich nicht als logisch verkettete, zusammenhängende Abhandlungen lesen,370 sondern als episodisch gegliederte Abfolge sich wiederholender Einzelmotive. Dies gilt auch für Nietzsches dichterisch-philosophisches Werk Also sprach Zarathustra, dessen äußere Handlung sich auf die Wanderungen Zarathustras und sein gelegentliches Zusammentreffen mit anderen Figuren – im vierten und handlungsreichsten Teil mit den ›höheren Menschen‹ – beschränkt, und für die autobiografische Schrift Ecce homo, welche nicht, wie üblich, lebensgeschichtliche Fakten und Zusammenhänge darstellt, sondern sich vorrangig als Kommentar zu Nietzsches Werken herausstellt. Autobiografische Angaben zu seiner Familiensituation, seiner Krankheit und seinem Werdegang erscheinen dagegen nur beiläufig und ungenau, wodurch sie sich zum Teil nur einem über Nietzsches Biografie informierten Leser erschließen. Dieser Art von Komposition ist es geschuldet, dass Nietzsches Werke, bis auf wenige Ausnahmen, nicht in ihrer jeweiligen Reihenfolge gelesen werden müssen: Die meist unverbundenen, nummerierten Abschnitte sind fast immer unabhängig von ihrem Kontext les- und verstehbar. Indirekt nimmt Nietzsche damit noch einmal die postmoderne Schreibpraxis vorweg, in welcher die Darstellung von Handlung (représentation) zunehmend durch »anti-représentation« (verzerrte Darstellung) oder »auto-représentation« (das Schreiben an sich wird in autoreflexiver Manier zum Inhalt des Schreibens) ersetzt wird.371 Der eigentümliche Stil, den Nietzsche mit den Denkern des Poststrukturalismus teilt, ist das Ergebnis einer scharfen Kritik an Metaphysik, Dogma und sprachlichem Sinn, und kreist um ein numinoses Göttliches, welches, wie Nietzsche durchblicken lässt, nur ungenügend durch die Sprache ausgedrückt werden kann bzw. will. Was Nietzsche ›ewige Wiederkehr‹ nennt, und Derrida skizzenhaft in Wortbildungen wie différance, trace und absence (im Gegensatz zur métaphysique de la présence) andeutet, ist die Ahnung eines mystischen, die Vernunft übersteigenden Seins, welchem sich die Sprache, wenn überhaupt, nur annähern kann. Auch wenn sich Derrida in einem Aufsatz gegen einen Vergleich seines Schreibens mit den Ausdrucksformen der negativen Theologie wehrt – mit dem Argument, die Verwendung von Negationen und ›Überaussagen‹ zur Beschreibung des Göttlichen fröne noch immer der logozentrischen ›Metaphysik der Anwesenheit‹ –,372 so zeigt de Begriffe und Namen, welche Nietzsche jedoch in einem uneigentlichen, ihre jeweilige Denotation überschreitenden Sinn verwendet). 370 Einen konventionelleren, auf gewisse Ziele und Thesen hinwirkenden Aufbau lassen die Werke Die Geburt der Tragödie, Zur Genealogie der Moral und Der Antichrist erkennen. 371 Jean Ricardou : Pour une théorie du nouveau roman (Paris : Éditions du Seuil 1971), S. 261ff; bzw. Klaus W. Hempfer, Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, S. 70. 372 Jacques Derrida, »Comment ne pas parler. Dénégations«, S. 539-542: »Non, ce que j’écris ne relève pas de la ›théologie négative‹. Tout d’abord dans la mesure où celle-ci appartient à l’espace prédicatif ou judicatif du discours […] Ensuite dans la mesure où elle semble réserver, au-de-
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sein Ringen nach Worten, dass es auch ihm um einen Bereich des Übersinnlichen geht, welcher seinerseits vielleicht sogar die Denkmuster der negativen Theologie sprengt: Ce que »veut-dire« la »différance«, la »trace« etc., – qui dès lors ne veut rien dire –, ce serait »avant« le concept, le nom, le mot, »quelque chose« qui ne serait rien, qui ne relèverait plus de l’être, de la présence ou de la présence du présent, pas même de l’absence, encore moins de quelque hyperessentialité.373 Nietzsche ist sich darüber im Klaren, dass es unmöglich ist, die Welt als ›ewige Wiederkehr‹ durch sprachliche Mittel vollständig zu erfassen. Auch die bisher dargestellten Verfahren, wie die Nachahmung der Sprechsprache, das Verwenden einer ›dithyrambischen‹ Sprache bzw. das Schreiben in Bildern, Aphorismen und Rätseln, betrachtet Nietzsche nur als wechselnde »Masken« für ein, in seiner Pluralität und Widersprüchlichkeit im Grunde unaussprechliches Sein. Diese ›Masken‹, welche Ausschnitte der Welt abbilden, dabei jedoch möglichst ihren eigenen Scheincharakter durchblicken lassen, erweisen sich nicht nur als die dem Menschen einzig mögliche Erfahrung und Ausdrucksform von Realität, sondern dienen auch der »Erholung« (JGB: Neuntes Hauptstück 278, KSA 5, 229) von einer Seinssphäre, deren bloßes Erahnen, gleich einem »Mysterium tremendum et fascinosum«374 , Erschrecken hervorruft. Nietzsche selbst erkennt in seinen Ausführungen zur philosophischen ›Maske‹ die Übereinstimmung mit Inhalten und Sprachformen der Mystik: Alles, was tief ist, liebt die Maske […]. Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung sein […]? […] es wäre wunderlich, wenn nicht irgend ein Mystiker schon dergleichen bei sich gewagt hätte. Es gibt Vorgänge so zarter Art, dass man gut thut, sie durch eine Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen […] Ein […] Verborgener, der aus Instinkt das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht vor Mittheilung, will es und fördert es, dass eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herum wandelt […] Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er giebt.– (JGB: Zweites Hauptstück 40, ebd., 57f) là de toute prédication positive, au-delà de toute négation, au-delà même de l’être, quelque suressentialité, un être au-delà de l’être. […] c’est donc en pensant à ce mouvement vers l’hyperessentialité que je croyais devoir me défendre d’écrire dans le registre de la ›théologie négative‹.« 373 Ebd., S. 542. 374 A. Paus, »Mysterium tremendum et fascinosum«, S. 267f.
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Das eigentliche, dem Menschen meist verborgene Antlitz der Welt stilisiert Nietzsche zu einer ›Wahrheit‹, vor welcher sich auch der Wissende besser durch ›Masken‹ schütze. Das Gleiche gelte für jenen, der bereits einen Blick in das Wesen dieser Welt getan habe. Der »tiefe« Mensch »fürchte[…] mehr das Verstanden-werden als das Missverstanden-werden«, daher »verberge« er sich (JGB: Neuntes Hauptstück 288-290, ebd., 233f), »verstelle« sich (M: Fünftes Buch 523, KSA 3, 301), möchte »verwechselt« »werden« (GM: Dritte Abhandlung 8, KSA 5, 353), »rede leise« (GM: ebd, ebd., 354), schweige (vgl. M: Fünftes Buch 546, KSA 3, 316) oder zeige sich »unverständlich«, »verborgen«, »räthselhaft« (M: Vorrede 1, ebd., 11). Folglich seien auch literarische oder philosophische Werke eigentlich ›Masken‹ einer tieferen Wahrheit: Der Einsiedler glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph […] seine eigentlichen und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt? – ja er wird zweifeln, ob ein Philosoph »letzte und eigentliche« Meinungen überhaupt haben könne, ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse […]. Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie – das ist ein Einsiedler-Urtheil […]. Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske. (JGB: Neuntes Hauptstück 289, KSA 5, 234) Wichtig ist Nietzsche jedoch, dass die ›Maske‹ auch als solche, d.h. als Verstellung verstanden werde, und sich nicht zu einer scheinbaren ›Wahrheit‹ oder ›Realität‹ verhärte. Das Leben möchte er so als »Bühne« sich abwechselnder ›Masken‹ oder als »Komödie« (FW: Erstes Buch 1, KSA 3, 370; UB II 9, KSA 1, 319) verstanden wissen. Als sprachliches Verfahren, um ›Maske‹ auf ›Maske‹, ›Spiel‹ auf ›Spiel‹ folgen zu lassen, dient ihm die ›Parodie‹, wobei der Begriff bei Nietzsche eine von der Grundbedeutung leicht abweichende bzw. erweiterte Bedeutung annimmt. Während Nietzsche die kritische Funktion der Parodie als eine »verzerrende, übertreibende oder verspottende Nachahmung« eines Originals (von gr. parōdịa, dt. ›Gegengesang‹, ›Gegengedicht‹)375 sowie ihren komischen Effekt übernimmt, scheint die Tätigkeit des Parodierens, wie dies auch Gilman festgestellt hat,376 bei Nietzsche zum Selbstzweck zu werden, so dass die Parodie einer Vorlage selbst wieder parodiert wird. Daraus ergibt sich eine endlose Abfolge von ›Parodien‹, welche auch vor dem eigenen Ich keinen Halt machen. Inhaltlich und verfahrenstechnisch gelingt es Nietzsche auf diese Weise, seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass Wahrheit und Sinn immer nur scheinbar vorhanden sind, denn sobald man 375 Ivo Braak, Poetik in Stichworten, S. 166f. 376 Vgl. Sander L. Gilman: »Incipit Parodia: The function of parody in the lyrical poetry of Friedrich Nietzsche«, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Nr. 4 (1975), 52-74.
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sie zu erkennen meint, entziehen sie sich und bleiben so verschleiert. Nur teilweise entspricht Nietzsches Verständnis der Parodie ihrer strengen Definition als Übertragung einer bekannten »Form auf einen anderen, nicht dazu passenden Inhalt«, womit sie den Gegensatz zur ›Travestie‹ als »Darstellung eines ernsthaften Inhalts« »in einem lächerlichen Gewand« bildet.377 Beispiele dazu sind die erwähnten Jesus-Parodien von Also sprach Zarathustra oder folgende, die ersten Verse des Johannesevangeliums bzw. der Schöpfungsgeschichte378 aufgreifende Textstellen, welche unter Beibehaltung der jeweiligen Form, dem metaphysischen Glauben an die Vernunft und an strenge Wertgegensätze (z.B. zwischen ›Gut‹ und ›Böse‹) deren Zusammenfall und den ›Unsinn‹ der Welt entgegenhalten: Die ernsthafteste Parodie, die ich je hörte, ist diese: »im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn war, bei Gott! und Gott (göttlich) war der Unsinn.« (MA II: Erste Abtheilung 22, KSA 2, 388) Theologisch geredet – man höre zu, denn ich rede selten als Theologe – war es Gott selber, der sich als Schlange am Ende seines Tageswerks unter den Baum der Erkenntniss legte: er erholte sich so davon, Gott zu sein… (EH: Jenseits von Gut und Böse 2, KSA 6, 351) Nietzsche betrachtet das ›Parodieren‹ allgemein als das »Spielen« »mit Allem«, »was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess« (FW: Fünftes Buch 382, KSA 3, 637), so dass auch Formulierungen als ›parodistisch‹ gelten, welche unter Zuhilfenahme von Spott und Witz Inhalte der Geistesgeschichte kritisieren, hinterfragen, als Schein entlarven oder außer Kraft setzen. Der Effekt des Komischen entsteht dabei dadurch, dass Nietzsche ernsthafte oder heilige Themen banalisiert oder lächerlich macht, indem er sie beispielsweise auf die konkrete Alltagswelt überträgt oder ihre Kehrseite aufzeigt. Beispiele hierfür sind zahlreich, so etwa wenn er bezüglich des christlichen Unsterblichkeitsglaubens schreibt »Ein ›unsterblicher‹ Petrus: wer hielte den aus! Sie haben einen Ehrgeiz, der lachen macht […].« (GM: Dritte Abhandlung 22, KSA 5, 394), wenn er den »Protestantismus« »als halbseitige Lähmung des Christenthums«, zum »peccatum originale« »der deutschen Philosophie« erklärt (AC 10, KSA 6, 176), im »christlichen Gottesbegriff« »den Pegel des Tiefstands in der absteigenden Entwicklung des Götter-Typus zu erkennen meint« (AC 18, ebd., 185), die christliche »Offenbarung« der »heiligen Schrift« als »litterarische Fälschung« (AC 26, ebd., 196) bzw. »Gut und böse« als »Vorurtheile Gottes« bezeichnet (FW: Drittes Buch 259, KSA 3, 517) oder wenn er ein Zitat aus dem 377 Ivo Braak, Poetik in Stichworten, S. 166ff. 378 Vgl. Joh 1, 1 EU: »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.«; bzw. Gen 1,1-2 (Erschaffung der Welt in sieben Tagen, wobei Gott am siebten Tage ruht; der ›Garten Eden‹ und der ›Baum der Erkenntnis‹).
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Matthäus-Evangelium379 spöttisch mit den Worten »Sehr compromittirend für den genannten ›Vater‹…« (AC 45, KSA 6, 222) kommentiert. Nietzsches ›parodistisches‹ Schreiben ist somit inhaltlich mit der Destruktion der ›Wahrheiten‹ (s. 2.1.2), sowie deren tragischer Komponente verbunden. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft, der Schrift, in welcher er mit ›wissenschaftlichen‹ Mitteln die platonisch-christliche Metaphysik einer vernichtenden Kritik unterzieht, kündigt Nietzsche den Beginn sowohl der ›Tragödie‹ als auch der ›Parodie‹ an: Ach, es sind nicht nur die Dichter […], an denen dieser Wieder-Erstandene seine Bosheit auslassen muss: wer weiss, was für ein Opfer er sich sucht, was für ein Unthier von parodischem Stoff ihn in Kürze reizen wird? »Incipit tragoedia« – heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs: man sei auf der Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit parodia, es ist kein Zweifel… (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 1, KSA 3, 346) Am Ende jener ›Wissenschaft‹, welche zur Einsicht in die Nichtexistenz der Wahrheit führt, überwiegt schließlich nicht das Tragische, sondern die »Heiterkeit« (FW: Fünftes Buch 343, ebd., 573), das »Lachen« (FW: ebd. 383, ebd., 637), ja das »Fröhliche« (FW: Erstes Buch 1, ebd., 370), so dass sie dank der ›Parodie‹ nun zur ›Fröhlichen Wissenschaft‹ wird. Mit der »Widerlegung« und »Abschaffung« der metaphysischen »wahren Welt« und ihrem »schweren, allzuschwer gewordnen Ernst« (GD: Vorwort, KSA 6, 57), »kehre« nun endlich, so Nietzsche, der »bon sens« und die »Heiterkeit« »zurück« (GD: Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde, KSA 6, 81). Diese versteht Nietzsche jedoch als das Gegenteil oberflächlicher Unbeschwertheit, vielmehr entspricht sie jener »griechischen Heiterkeit« (GT 9, KSA 1, 65), welche den »Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins« »die glänzende Traumgeburt der Olympischen« (GT 3, ebd., 35) entgegensetzte. Heiterkeit ist somit der »Lohn« dessen, der die Tragik des Lebens am eigenen Leib erfahren hat, der jedoch gelernt hat, selbst über die ernsten, bitteren Dinge dieses Lebens zu lachen (»ridendo dicere severum«380 macht Nietzsche zum Motto eines solchen Menschen): Mir nun scheint es […] gar keine Dinge zu geben, die es mehr lohnten, dass man sie ernst nimmt; zu welchem Lohne es zum Beispiel gehört, dass man eines Tags vielleicht die Erlaubnis erhält, sie heiter zu nehmen. Die Heiterkeit nämlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen, die fröhliche Wissenschaft – ist ein Lohn: ein Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich nicht Jedermanns Sache ist. (GM: Vorrede 7, KSA 6, 254f)381 379 Nietzsche zitiert Mt 6,15 folgendermaßen: »Denn so ihr den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, wird euch euer Vater im Himmel auch nicht vergeben«. (AC 45, KSA 6, 222). 380 S. WA 1, KSA 6, 13; bzw. EH: Der Fall Wagner 1, KSA 6, 357. 381 Zur Heiterkeit trotz – oder gerade aufgrund – der tragischen Seiten des Lebens, s.a. M: Fünftes Buch 567, KSA 3, 329: »Wir müssen die Dinge lustiger nehmen, als sie es verdienen; zumal wir
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Der ›heitere‹, spielerische382 , aus einer solchen Erfahrung resultierende Lebens-, Denk- und Schreibstil, zeigt sich demnach als das Vorrecht eines ausgesprochen starken, ›göttlichen‹ Menschen, keines Geringeren als des ›Übermenschen‹ selbst. Dieser sei »spottlustig«, »wisse«, »auf unmenschliche und neue Weise«, »auf Unkosten aller ernsten Dinge« »zu lachen« und könne »selbst bei heiligen Handlungen das Lachen nicht lassen« (JGB: Neuntes Hauptstück 294, KSA 5, 236). Dass er sich dabei immer wieder selbst zum Opfer fällt,383 berührt den jenseits aller Gegensätze lebenden ›Übermenschen‹ nicht mehr, er begreift das Leben als »Karneval großen Stils« und sich selbst als »Parodisten der Weltgeschichte« bzw. »Hanswurst Gottes« (JGB: Siebentes Hauptstück 223, ebd., 157). Was Nietzsche theoretisch erläutert, veranschaulichen seine vielfältigen Selbstparodien, welche ihn und sein Schreiben kritisch unter die Lupe nehmen. In »Dichters Berufung« und »Nur Narr! Nur Dichter!« entlarvt er so sein eigenes Denken und Schreiben, nicht anders als die Inhalte der abendländischen Metaphysik, als Schein und Lüge, und in einem seinem Leser gewidmeten Spruch der Fröhlichen Wissenschaft spottet er über seinen eigenen (schwierigen) Schreibstil: Meinem Leser./ Ein gut Gebiss und einen guten Magen –/ Diess wünschʼ ich dir!/ Und hast du erst mein Buch vertragen,/ Verträgst du dich gewiss mit mir! (FW: »Scherz, List und Rache« 54, KSA 3, 365) Das ›Übermenschliche‹, welches Nietzsche für sich beansprucht, erstreckt sich somit auch auf die Art seines Schreibens. Als Ausdruck der »Heiterkeit« müsse jede »Kunst«, so Nietzsche, »spöttisch«, »leicht«, »flüchtig«, »göttlich unbehelligt«, ja »göttlich künstlich« sein (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 4, KSA 3, 351). Wenn Nietzsche am Ende von Ecce homo den Wunsch ausspricht, man möge in ihm lieber einen »Hanswurst« als einen »Heiligen« sehen – »Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst…Vielleicht bin ich ein Hanswurst…« (EH: Warum ich ein Schicksal bin 1, KSA 6, 365) –, so ist damit sehr viel über seine Schreibweise ausgesagt. Anders als dem ›Heiligen‹, geht es ihm nicht um das Festschreiben sie lange Zeit ernster genommen haben, als sie es verdienen.«; GD: Vorwort, KSA 6, 57: »Inmitten einer düstern und über die Maassen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrecht erhalten ist nichts Kleines von Kunststück: und doch was wäre nöthiger als Heiterkeit?«; GD: Was den Deutschen abgeht 3, ebd., 106: »Die Heiterkeit ist an uns das Unverständlichste…«. 382 Zum ›spielerischen‹ Umgang mit den ernsten Dingen des Lebens, s. EH: Warum ich so klug bin 10, KSA 6, 297: »Das Leben ist mir leicht geworden, am leichtesten, wenn es das Schwerste von mir verlangte. […] Ich kenne keine andre Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel: dies ist, als Anzeichen der Grösse, eine wesentliche Voraussetzung.« 383 Zur Parodie gehöre auch die Selbstparodie, s. z.B. FW: Erstes Buch 1, KSA 3, 370: »Über sich selber lachen, wie man lachen müsste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen, – dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn […].«; EH: Der Fall Wagner 1, KSA 6, 357: »In solchen Fällen heiter sein und sich gutmüthig mit verspotten […].«
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und die Verbreitung einer Wahrheit oder Dogmas, sondern um die Darstellung der Vielstimmigkeit der Welt. Diese möchte er als eine Art ›Komödie‹ verstanden wissen. Um zu zeigen, dass in dieser ›Komödie‹ aus Fiktion, Spiel und Schein nichts real ist, bleibt Nietzsche als dem ›Hanswurst‹ der ›Komödie‹, nichts anderes übrig, als alles und jeden, sich selbst eingeschlossen, anzuzitieren, um das Jeweilige entweder zum Gespött zu machen, in sein Gegenteil zu verkehren oder weiterzuentwickeln. Das Ergebnis ist ein heiteres Geflecht aus intertextuellen Verweisen, in welchem der letzte Begriff von Sinn, Wahrheit und Identität zwar verschleiert bleibt, die Summe der vorgeführten Möglichkeiten jedoch jeweils am Ende doch wieder einen – wenn auch mehrdeutigen – ›Sinn‹ ergibt.384 Am augenscheinlichsten ist dies in Nietzsches letzten schriftstellerischen Manifestationen, in denen sich die postmoderne Proklamation vom ›Tod des Autors‹ (Barthes) am realen Autor-Ich Nietzsche vollzieht. Buchstäblich scheint es sich vor den Augen des Lesers in Teilidentitäten aufzulösen und doch stellt es sich gerade in diesem Zustand als ein ›übermenschlich-göttliches‹ Ich dar. Nietzsches textuelle ›Auflösung‹, welche im Januar 1889 mit seiner geistig-physischen Auflösung einhergeht, deutet sich gewissermaßen bereits in früheren Werken an, so etwa wenn die erste Person Singular, wie schon erwähnt, immer wieder in verschiedene grammatische Funktionen aufgespaltet wird385 oder wenn sich »die Antwort auf die Frage«, »Wie man wird, was man ist«, »aus der Summe« der dargestellten Werke zu »ergeben« scheint.386 Dies erklärt, warum Nietzsche auf seinen autobiografischen Vorsatz »Und so erzähle ich mir mein Leben« (EH, KSA 6, 263), eine Schrift folgen lässt, welche sich allein aus Kommentaren zu seinen Veröffentlichungen und langen Zitaten daraus zusammensetzt. In Formulierungen wie »Ich […] bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren« (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 1, ebd., 298) wird deutlich, welche Art von Ich Nietzsche autobiografisch beleuchten bzw. rekonstruieren möchte: Es ist ein Ich, welches in erstaunlicher Übereinstimmung mit Thesen Barthesʼ,387 der Schrift nicht vorgängig ist, sondern erst im Prozess 384 Vgl. Heinrich Detering, »Die Tode Nietzsches. Zur antitheologischen Theologie der Postmoderne«, S. 885: »Dass die Wahrheit ein Heer beweglicher Metaphern sei und das Ich ein Wortspiel, hat uns Nietzsche gelehrt […]. Aber dass diese Sätze auch in den Umkehrungen gelten, ist selten mit demselben Nachdruck erklärt worden […] dass das Heer beweglicher Metaphern die Figur einer Wahrheit ergeben könnte, dass das Wortspiel sich darstellt als ein Ich.« 385 Vgl. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 118ff: Detering »leitet« die Aufspaltung des Ich in ein »erzählendes, zuhörendes und erzähltes Ich« in Sätzen wie »So erzähle ich mir mein Leben« von der »Denk- und Erzählfigur« der »Trinitätslehre« »ab«. Als weiteres Beispiel für die »Grammatik eines zugleich ein- und dreifachen Ich« führt er Nietzsches Venedig-Gedicht an (EH: Warum ich so klug bin: 7, KSA 6, 291). 386 Ebd., S. 121. 387 Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, S. 493 : »[…] le scripteur moderne naît en même temps que son texte«. Der traditionelle Autor stehe dagegen in einem »rapport d’antécédence« mit seinem Text.
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des Schreibens, als Effekt des Geschriebenen entsteht.388 Am Ende des in Ecce homo dargestellten ›Werdeprozesses‹ erstrahlt Nietzsche als jener zu ›Gott‹ gewordene Mensch, der »das Schicksal der Menschheit auf der Schulter« »trägt« (EH: Der Fall Wagner 4, ebd., 364). Wie dieses ›Ich‹ generiert sich im Laufe von Nietzsches Texten auch das, was nach der Verabschiedung der platonisch-christlichen Metaphysik als ›Wahrheit‹, ›Sinn‹ und ›Gott‹ zu bezeichnen ist. ›Wahrheit‹ entspricht nun der Widersprüchlichkeit der vielen Wahrheiten, welche in der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ in eins fallen, ›Sinn‹ der Anerkennung und Bejahung des Kreisgeschehens, und ›Gott‹ dem daraus resultierenden Gefühl der paradiesischen Erlösung. Nietzsche macht dabei gerade den Text zu jenem Ort, der sämtliche Facetten des Seins zu einer Sinneinheit verwebt, so dass der Text zum Spiegel des widersprüchlichen Seins wird. Nichts ist hier von der durch Zima in Nietzsches Werk konstatierten Beliebigkeit, »Indifferenz« und »Austauschbarkeit« zu spüren, welche aus der »Ambivalenz als Einheit der Gegensätze« hervorgehe und die Ära der Postmoderne einleite.389 Im Gegenteil kehrt das ›Heilige‹ oder ›Metaphysische‹, das Nietzsche in seiner platonisch-christlichen Ausprägung verabschiedet hatte, in Form des ›Vielen‹ und Widersprüchlichen zurück. Nietzsches erstaunlichster Vorgriff auf das postmoderne bzw. poststrukturalistische Denken und Schreiben besteht dabei in dem, was man die ›Textualisierung der Welt‹ nennen könnte. Da es der Mensch ist, der die Welt sieht, erfasst und beurteilt, und sein Bewusstsein sprachlich strukturiert ist, stellt die (menschliche) Welt – darin stimmen poststrukturalistische Denker mit Nietzsche überein – selbst ein sprachliches, d.h. textuelles Phänomen dar. Aus diesem Grund unterscheidet Nietzsche nicht mehr zwischen Schreiben, Denken und Sprechen, Lesen und Hören.390 Zumal die ›Welt‹ außerdem vom subjektiven und wandelbaren Standpunkt des Betrachters abhängig ist, hebt Nietzsche kurzerhand, wie später poststrukturalistische Denker, die Trennung zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf. Auf der Ebene des literarischen Textes hat dies zur Konsequenz, dass nicht nur Gattungsgrenzen, sondern auch jene zwischen Fiktion und Lebenswirklichkeit einbrechen. Nietzsche lässt daher Theoretisch-Kritisches, Philosophisches, Poetisch-Lyrisches, Autobiografisches sowie Witz, Spiel und Parodie nahtlos ineinander übergehen, denn in ihrer Gesamtheit formen alle diese Gattungen und Stilrichtungen den großen, widersprüchlichen ›Text‹ des Lebens, welcher allein auf Schein beruht. Barthesʼ Darstellung der poststrukturalistischen écriture beschreibt treffend bereits Nietzsches ›parodistischen‹ Stil: 388 Vgl. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, S. 121. 389 Peter Zima, Moderne/Postmoderne – Gesellschaft, Philosophie, Literatur, S. 25f. 390 S. dazu z.B. GD: Was den Deutschen abgeht 7, KSA 6, 109: Denken lernen: man hat auf unsren Schulen keinen Begriff mehr davon. […] Man lese deutsche Bücher: nicht mehr die entfernteste Erinnerung daran, dass es zum Denken einer Technik […] bedarf, – dass Denken gelernt sein will […].«; bzw. zum ›Lesen‹ als ›Hören‹, s. EH: Warum ich so klug bin 3, KSA 6, 284.
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Ainsi se dévoile l’être total de l’écriture : un texte est fait d’écritures multiples, issues de plusieurs cultures et qui entrent les unes avec les autres en dialogue, en parodie, en contestation […].391 Vor dem Hintergrund, dass postmoderne Autoren den Übergang von Fiktion und Wirklichkeit in der Regel künstlich vorführen, etwa durch die Einbindung des Lesers oder dadurch, dass Autobiografisches mit Fiktivem vermischt wird, müssen Nietzsches letzte Werke und Briefe als eine seltene Randerscheinung betrachtet werden. Es handelt sich nicht um einen Autor, der allein zur Veranschaulichung seiner Gedankenwelt, mit unterschiedlichen Namen unterschreibt und so mit Fiktion und Wirklichkeit spielt, nein, Nietzsche als Mensch kann von einem bestimmten Punkt an tatsächlich nicht mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden. Der aus Figuren und Vorstellungsbildern bestehende ›Kosmos‹, den Nietzsche im Laufe seines Schreibens textuell konstruiert, greift schließlich auf sein Leben über. Dies zeigen nicht erst die sogenannten ›Wahnsinnszettel‹, sondern auch seine Briefe aus den letzten Monaten des Jahres 1888, in denen Nietzsche bestimmte schon in Ecce homo mehrfach wiederholte Formulierungen variierend aufgreift392 und damit beweist, dass diese nicht als fiktive Selbststilisierungen zu verstehen sind, sondern als durchaus ernst zu nehmende und damit pathologische Äußerungen. Der Eindruck eines in sich geschlossenen Textkosmos verstärkt sich bereits im Laufe früherer, zur Veröffentlichung bestimmter Werke durch Nietzsches 391 Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, S. 495. 392 So z.B. seine in Ecce homo geäußerte Behauptung, seine Philosophie löse einen Umbruch in der Menschheitsgeschichte aus: »[…] [der] Blitzschlag der Umwerthung, der die Erde in Convulsionen versetzen wird« (EH: Der Fall Wagner 4, KSA 6, 364); »Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision […]. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. […] Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge […] in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Thal, wie dergleichen nie geträumt worden ist.« (EH: Warum ich ein Schicksal bin 1, ebd., 365f). Im Laufe von Ecce homo lässt sich erkennen, dass sich Nietzsche als Autor selbst zunehmend in den Mittelpunkt seiner Voraussagen einer bevorstehenden Zeitenwende rückt: »Die Entdeckung der christlichen Moral ist ein Ereigniss, das nicht seines Gleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist eine force majeure, ein Schicksal, – er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke.« (EH: ebd. 8, ebd., 373). Dieselben Gedanken erscheinen fast wörtlich in seinen Briefen vom Dezember 1888: »Ich bereite ein Ereigniß vor, welches höchst wahrscheinlich die Geschichte in zwei Hälften spaltet […]« (1170, Dezember 1888, KSB 8, 500); »[…] eine[…] Crisis, wie es keine a›uf‹ Erden gab, [die] tiefste[…] Gewissens-Collision innerhalb der Menschheit […]. Denn wenn dieser Vulkan in Thätigkeit tritt, so haben wir Convulsionen auf Erden wie es noch keine gab […]« (1171, Dezember 1888, ebd., 503); »Es handelt sich um ein Attentat auf das Christenthum, das vollkommen wie Dynamit auf Alles wirkt […]« (1180, 08.12.1888, ebd., 512); »[…] es [das Werk Ecce homo] sprengt, wörtlich, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke – höchster Superlativ von Dynamit…« (1181, 09.12.1888, ebd., 513).
2 Nietzsches Denken: Das Umdenken aller gültigen Kategorien
Vorliebe, sich selbst zu zitieren – entweder um Inhalte späterer Werke vorwegzunehmen oder in Erinnerung zu rufen. So erscheint »Zarathustra’s Vorrede« (Za I, KSA 4, 11f) fast wortgetreu schon im Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft (FW: Viertes Buch 342, KSA 3, 571), während Teile des Kapitels »Vom Gesicht und Räthsel« (Za III, KSA 4, 200) schon im Abschnitt »Das grösste Schwergewicht« enthalten sind (FW: Viertes Buch 341, KSA 3, 570). In Also sprach Zarathustra greift das Kapitel »Das Nachtwandler-Lied« (Za IV, KSA 4, 395-404) den im Dritten Teil erschienenen ›Spruch der Mitternachtsglocke‹ (Za III: Das andere Tanzlied 3, KSA 4, 285f) auf: Die Abschnitte 3-11 des »Nachtwandler-Lieds« werden jeweils der Reihe nach, zunächst von einem der neun zitierten Verse des Mitternachtsglockenspruchs abgeschlossen, woraufhin der zwölfte Abschnitt den Spruch noch einmal vollständig in elf Versen wiedergibt. Auch drei der neun Dionysos-Dithyramben findet der Leser, leicht abgewandelt, bereits im Vierten Teil von Also sprach Zarathustra: »Unter Töchtern der Wüste« (DD, KSA 6, 381-387) erweist sich als nahezu identisch mit dem gleichnamigen Kapitel aus Also sprach Zarathustra (Za IV, KSA 4, 379-385), wobei sogar der das Lied einleitende Rahmentext übernommen wird (es wird dargestellt, wie der ›Schatten‹ oder ›Wanderer‹ zu singen beginnt). »Nur Narr! Nur Dichter!« (DD, KSA 6, 377-380) dagegen ist Teil des Kapitels »Das Lied der Schwermuth« (Za IV, KSA 4, 369-374), auf dessen Rahmentext in den Dionysos-Dithyramben jedoch verzichtet wird (das Lied wird in Also sprach Zarathustra vom ›Zauberer‹ vorgetragen), und »Klage der Ariadne« (DD, KSA 6, 398-401) stellt die erweiterte Fassung des Liedes des ›Zauberers‹ dar (Za IV: Der Zauberer 1, KSA 4, 317). Das Verfahren, bereits Gesagtes neu zu beleuchten, wird zudem in Abschnitten deutlich, welche unmissverständlich an vorangehende Abschnitte anschließen, so z.B. wenn auf den Abschnitt »Von der Herkunft der Gelehrten« (FW: Fünftes Buch 348, KSA 3, 583) ein anderer unter dem Titel »Noch einmal die Herkunft der Gelehrten« (FW: ebd. 349, ebd., 585) folgt, bzw. auf »Der Einsiedler redet« (FW: ebd. 364, ebd., 612) »Der Einsiedler spricht noch einmal« (FW: ebd. 365, ebd., 613). In Ecce homo schließlich nimmt Nietzsche im Zuge seiner Werk- und Selbstkommentare Passagen aus Jenseits von Gut und Böse, der Fröhlichen Wissenschaft, der Götzen-Dämmerung, dem Fall Wagner, dem Antichristen, vor allem jedoch (auch vor und nach dem eigentlichen Zarathustra-Kapitel) aus Also sprach Zarathustra wieder neu auf. Die Häufigkeit der Zarathustra-Erwähnungen betont dabei die Bedeutung des Werks innerhalb Nietzsches Gesamtphilosophie.393 Derartige Selbstzitate stehen im Zusammenhang eines Schreibens, welches in Ermangelung eines ihm zugrunde liegenden letzten Sinns oder Ziels, immer wieder dieselben Inhalte aufgreift, umschreibt oder fortführt. Nicht anders verfährt Nietzsche mit den von ihm geschaffenen Figuren: Zarathustra, ›Dionysos‹ und der ›Gekreuzigte‹ etwa entwickeln sich zu eigenständi393 Nicht umsonst resümiert das Werk Kerngedanken von Nietzsches Philosphie, wie den ›Tod Gottes‹, den ›Willen zur Macht‹, die ›ewige Wiederkehr‹ und den ›Übermenschen‹.
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gen Größen, welche nicht nur Werkgrenzen, sondern schließlich auch jene zwischen Fiktion und Lebenswelt überschreiten. Dies erklärt, warum Nietzsche am Ende seines bewussten Lebens selbst in die Rolle seiner Figuren schlüpft – bis zu dem Grade, dass er in den ›Wahnsinnszetteln‹ ihre Namen nun scheinbar gleichwertig neben seinen eigenen setzt –, und warum Zarathustra oder ›Dionysos‹ auch außerhalb der Werke, welchen sie ursprünglich entstammen, als Figuren auftreten (so z.B. in den Dionysos-Dithyramben). In Nietzsches Beschreibungen scheinen sie dabei immer wieder ihren Figuren-Status hinter sich zu lassen und gleichsam zu realen Persönlichkeiten zu werden.394 Insgesamt schafft Nietzsche damit ein Werk, dem es nicht nur gelingt, die These von der Nicht-Existenz der Wahrheit bzw. der Fiktionalität und Widersprüchlichkeit der Welt auf textueller Ebene folgerichtig darzustellen, sondern welches den Wegfall der sogenannten ›Sprachmetaphysik‹ auch als sprachliche Erlösung feiert und kreativ ausschöpft. Im zweiten großen Teil der vorliegenden Arbeit soll nun anhand von vier Autoren und Werken aus dem Zeitraum zwischen Fin de Siècle und dem französischen Poststrukturalismus gezeigt werden, wie sich Nietzsches Denkbewegung von einer metaphysisch-rationalen Anschauungsweise hin zu einer mystisch inspirierten ›Ontologie‹, inhaltlich und verfahrenstechnisch in der philosophischen Reflexion und der literarisch-narrativen Praxis des 20. Jahrhunderts widerspiegelt, welche Unterschiede und Tendenzen dabei zutage treten und wie sich Nietzsches Werk selbst im Kontext der behandelten Autoren und Werke positioniert. Im Mittelpunkt der Analyse wird hierzu als erstes Luigi Pirandello und sein Roman Uno, nessuno e centomila stehen.
394 Nietzsche geht nicht selten auf seine Figuren ein, ja zitiert sie sogar. Über Zarathustra heißt es in Der Antichrist und in Ecce homo: »Ist denn das Kreuz ein Argument? – – Aber über alle diese Dinge hat Einer allein das Wort gesagt, das man seit Jahrtausenden nöthig gehabt hätte, – Zarathustra. […] Man lasse sich nicht irreführen: grosse Geister sind Skeptiker. Zarathustra ist ein Skeptiker. […] (AC 53f, KSA 6, 235f); »[…] ich wüsste es nicht besser zu sagen, zu wem ich im Grunde allein rede, als es Zarathustra gesagt hat: wem allein will er sein Räthsel erzählen?« (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 3, KSA 6, 303); »Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustra’s zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnisse anböten […]« (EC: Also sprach Zarathustra 3, ebd., 340). Auf ›Dionysos‹ nimmt er beispielsweise in Jenseits von Gut und Böse und in der Götzen-Dämmerung Bezug: »[…] so sind auch mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister über den Weg gelaufen, vor Allem aber der, von dem ich eben sprach […], kein Geringerer nämlich, als der Gott Dionysos […]. Schon dass Dionysos ein Philosoph ist, und dass also auch Götter philosophiren [sic!], scheint mir eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich ist […]« (JGB: Neuntes Hauptstück 295, KSA 5, 237f); »[…] ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos« (GD: Was ich den Alten verdanke 5, KSA 6, 160).
3. Luigi Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926) und die ›humoristische‹ Zersetzung der ›Monomythen‹ zugunsten des ›Polymythos‹ Natur
Dass Luigi Pirandello (1867-1936) im Jahre 1934 der Nobelpreis für Literatur »für seine kühne und sinnreiche Neuschöpfung von Drama und Bühnenkunst«1 verliehen wurde, verschleiert auf den ersten Blick die Tatsache, dass Pirandellos Werk eine nicht unwesentliche Zahl von Erzähltexten, Novellen und Romanen umfasst, welche das, was den Kritikern in seiner Bühnenkunst inhaltlich und verfahrenstechnisch als ›kühn‹ und ›neu‹ erscheinen mochte, nicht minder auf narrativer Ebene vorführen. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich äußere Gattungszuschreibungen in Pirandellos Werk als im Grunde unerheblich oder nebensächlich. Deutlich wird dies, wenn Erzähltexte, so etwa die Novelle Il pipistrello, nicht anders als Pirandellos meist selbstreferenzielle Bühnenwerke, die (durch unterschiedliche Faktoren behinderte) Aufführung eines Theaterstücks und die verschiedenen, fiktionalen und nicht-fiktionalen Interaktionen des Theaterensembles thematisieren, oder wenn über lange Passagen hinweg, Figuren-Dialoge wiedergegeben werden, welche sich umstandslos ins Medium des Dramas transformieren ließen. Umgekehrt weisen Pirandellos Theaterstücke immer wieder narrative Elemente auf, so dass dem Drama Sei personaggi in cerca d’autore z.B. ein langes Vorwort des autofiktionalen Autor-Ichs Pirandello vorangestellt ist, oder Regieanweisungen und Figurenreden häufig gleichsam in erzählerische Prosa und theoretische Erörterungen übergehen. Alle Werke Pirandellos lassen dabei eine Lebenskonzeption durchblicken, welche er 1908 in seiner theoretisch-philosophischen Schrift L’umorismo, ausgehend von der scheinbar oberflächlichen, sprachwissenschaftlich-stilistischen 1
Krzysztof Ruchniewicz/Marek Zybura: Die höchste Ehrung, die einem Schriftsteller zuteil werden kann. Deutschsprachige Nobelpreisträger für Literatur (Dresden: Neisse-Verlag 2007), S. 333. In italienischer Übersetzung »Per l’ardito ed ingegnoso rinnovamento dell’arte scenica e drammatica« (aus dem Schwedischen »För hans djärva och sinnrika nyskapelse av dramats och scenens konst«, 08.11.1934), s. Daniela Marcheschi (Hg.): Alloro di Svezia. Carducci, Deledda, Pirandello, Quasimodo, Montale, Fo. Le motivazioni del Premio Nobel per la Letteratura (Parma: MUP 2007), S. 86.
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Fragestellung nach der Etymologie und Definition des Wortes ›Humor‹ entwickelt. Erst seine späten Werke, die Theatertrilogie der Miti (La nuova colonia, Lazzaro und I giganti della montagna) der Jahre 1926 bis 1936, und der Roman Uno, nessuno e centomila, den Pirandello nach jahrelanger Überarbeitung 1926 veröffentlicht, führen diese Lebenskonzeption jedoch zu ihrer letzten Konsequenz und lassen bis dahin bereits merkliche Parallelen zwischen Pirandellos und Nietzsches Denken nun unzweideutig zutage treten. Trotz dieser Gemeinsamkeiten kann nicht sicher nachgewiesen werden, inwieweit Pirandello mit Nietzsches Philosophie vertraut war. Dass er sie doch gekannt haben muss, beweist, wie Michael Rössner gezeigt hat,2 eine Erwähnung in einem Interview kurz vor seinem Tod. Dort heißt es aus Pirandellos Mund: »Nietzsche diceva che i Greci alzavano bianche statue contro il nero abisso, per nasconderlo. Sono finiti quei tempi. Io le scrollo, invece, per rivelarlo.«3 Der Nietzsche-Kenner wird bemerken, dass Pirandello hier wahrscheinlich auf folgende Stelle aus Nietzsches Geburt der Tragödie Bezug nimmt: Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. (GT 3, KSA 1, 35) Während sich Pirandello mit seiner Äußerung von Nietzsches Antike-Bild, wenn nicht gar von Nietzsche selbst, abzugrenzen scheint – »Io le scrollo, invece […]« (s.o.) – macht der Kontext der Textstelle, welche Pirandello aus dem Kopf zitiert, deutlich, dass Nietzsche die griechische »Traumgeburt der Olympischen« eben nicht, wie dies Pirandello andeutet, als Verstellung oder Unaufrichtigkeit gegenüber den tragisch-dionysischen Seiten des Lebens, sondern, wie er in der Fröhlichen Wissenschaft treffend formuliert, als Oberflächlichkeit »aus Tiefe«4 betrachtet, d.h. als Möglichkeit, aus der Tragik der Wahrheitsdestruktion oder – in Pirandellos Wortes – des scrollare wieder herauszufinden. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Pirandello und Nietzsche lässt den in Pirandellos Nietzsche-Zitat impliziten Gegensatz somit schnell in sich zusammenstürzen und zeigt die grundsätzliche Übereinstimmung ihrer Denkweise. Dafür sprechen auch die Anfangskapitel von L’umorismo, in denen Pirandello, ohne Nietzsche oder die Geburt der Tragödie zu nennen, sich nun indirekt Nietzsches Argumentation anschließt und behauptet, nicht nur der moderne, sondern auch der antike Mensch habe die »profonda infelicità degli uomini« bzw. »il dolore« gekannt, und dies vielleicht in einer Art und Weise, 2 3 4
Michael Rössner, »Nietzsche und Pirandello. Parallelen und Differenzen zweier DenkCharaktere«, S. 11. Giovanni Cavicchioli, »Introduzione a Pirandello«, S. 22. FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 4, KSA 3, 352: »Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!«
3 Luigi Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926)
welche die Frequenz des modernen Leidens durch »Intensität« kompensiert habe: »[…] soffriamo noi per questo veramente di più? No: perché questo accrescimento, se mai, è a scapito dell’intensità.«5 Auch in Pirandellos frühem Roman Il fu Mattia Pascal (1904), in welchem die grundlegenden Gedanken von L’umorismo bereits enthalten sind, erinnern bestimmte Passagen an Überlegungen Nietzsches, so etwa, wenn es um die Konsequenzen der kopernikanischen Wende für das menschliche Selbstverständnis geht: Copernico, Copernico […] ha rovinato l’umanità, irrimediabilmente. Ormai noi tutti ci siamo a poco a poco adattati alla nuova concezione dell’infinita nostra piccolezza, a considerarci anzi men che niente nell’universo, con tutte le nostre belle scoperte e invenzioni; […] Storie di vermucci ormai, le nostre.6 In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. (WL 1, KSA 1, 875) Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, – er ist Thier geworden, Thier ohne Gleichnis, […] er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott […] war…Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen […]. (GM: Dritte Abhandlung 25, KSA 5, 404) Geht man davon aus, dass diese Parallelen nicht zufällig sind und sich Pirandello mit Nietzsche tatsächlich schon vor der Niederschrift von Il fu Mattia Pascal (1904) und L’umorismo (1908) beschäftigt hatte, so gibt es für diese Hypothese zwei Möglichkeiten. Entweder Pirandello war mit Nietzsche über die ersten, seit 1898 existierenden italienischen Übersetzungen und die bereits vor diesem Zeitpunkt verbreiteten Nietzsche-Rezensionen und -Artikel7 in Berührung gekommen, oder er hatte ihn während seines Studienaufenthaltes in Bonn von 1889 bis 1891 – Nietzsche war bereits geistig umnachtet –, über Originalausgaben oder deutschsprachige Artikel und Vorlesungen kennengelernt. Monika Schmitz-Emans hat diesbezüglich darauf aufmerksam gemacht, dass in Bonn seit den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts nicht nur Schopenhauer gelehrt wurde, sondern dass zur Zeit von Pirandellos Aufenthalt mehrere Vorlesungen stattfanden, die möglicherweise auch Nietzsches 5 6 7
Luigi Pirandello (1908): L’umorismo, in: ders., Saggi, poesie, scritti varii (Mailand: Mondadori 1960), S. 25-33, hier v.a. S. 32. Luigi Pirandello (1904): Il fu Mattia Pascal, in: ders., Tutti i romanzi (Mailand: Mondadori 1957), 268f. Domenico Fazio, »Nietzsche in Italien«, S. 304-309.
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Philosophie einbezogen, so etwa im Wintersemester 1887/88 »Ueber den modernen Pessimismus in Philosophie und Dichtung«, oder im darauffolgenden Wintersemester zur »Geschichte der neueren Philosophie seit Kant«.8 Anhand der Analyse des 1926 veröffentlichten Romans Uno, nessuno e centomila, an welchem der Autor seit der Entstehung von L’umorismo arbeitete, soll nun gezeigt werden, wie Pirandello, direkt oder indirekt, Nietzsches gedanklichen Weg von der Destruktion der absoluten Wahrheiten hin zu einer naturmystischen Anschauung nachzeichnet.
3.1
Die Bewusstwerdung: Vitangelo Moscardas Körper und die Entdeckung der doppelten/unendlichen Wahrheit
Die Eingangsszene des Romans, mit welcher der tragische Konflikt des Protagisten seinen Lauf nimmt, scheint unbedeutend bzw. banal: Vitangelo Moscarda steht vor dem Spiegel und untersucht seine Nase. Er verspüre, so erklärt er seiner Frau Dida, welche sich im selben Raum befindet, einen leichten Schmerz und wolle der Ursache nachgehen. Spöttisch, ohne auch nur im Geringsten die Folgen ihrer Bemerkung zu erahnen, entgegnet in diesem Moment die Ehefrau: »Credevo ti guardassi da che parte ti pende.« (S. 1285).9 Die Vorstellung, zeit seines Lebens niemals bemerkt zu haben, dass seine Nase schief sei, während ihn seine Umwelt ›schiefnasig‹ wahrnehme, erschüttert den Protagonisten im Innersten. Seine Frau, die seine Verunsicherung nicht versteht und ihn auslacht, gibt ihm zu bedenken, dass auch er nicht makellos sei, und macht ihn auf weitere physische ›Mängel‹ aufmerksam. Die scheinbar belanglose Episode steht am Anfang eines inneren Prozesses, im Laufe dessen der Protagonist schrittweise die Gesamtheit seines bisherigen Lebens infrage stellt. Zunächst ist es allein die unterschiedliche Wahrnehmung seines Körpers, welche ihm das Problem der Identität bewusst macht: »Per il momento pensai al corpo soltanto […]« (S. 1288). Als ein Freund Moscarda die ihm durch seine Frau zugeschriebenen physischen Attribute bestätigt, und Moscarda seinem Freund umgekehrt äußerliche Merkmale enthüllt, von denen dieser nichts zu wissen schien, gelangt er zu der ersten Erkenntnis, dass sich der Einzelne selbst grundsätzlich anders wahrnehme als alle anderen ihn wahrnehmen: 8
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Monika Schmitz-Emans: »Das gespaltene Ich. Pirandellos Theorie des Subjekts und ihre Korrespondenzen zu philosophischen Konzeptionen Schopenhauers und Nietzsches«, in: Pirandello-Studien. Akten des I. Paderborner Pirandello Symposiums, hg. von Johannes Thomas (Paderborn [u.a.]: Schöningh 1984), S. 44. Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf folgende Ausgabe des Romans: Luigi Pirandello (1926): Uno, nessuno e centomila, in: ders., Tutti i romanzi (Mailand: Mondadori, 1957), 1283-1416.
3 Luigi Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926)
[…] possibile? – non conoscevo bene neppure il mio stesso corpo, le cose mie che più intimamente m’appartenevano […] Mi si fissò […] il pensiero ch’io non ero per gli altri quel che finora, dentro di me, m’ero figurato d’essere. (S. 1287f) Statt nach dieser Einsicht zu seiner ›Realität‹ zurückzukehren, ist es Moscarda unmöglich, die zugleich erschreckende und anziehende Vorstellung eines anderen, ihm bis dahin unbekannten Ichs zu vergessen. Häufig überkommt ihn nun das Bedürfnis, allein zu sein – abseits seiner Frau Dida und all jener, die ihn ihrem Fremdbild aussetzen, aber auch abseits von sich selbst. Und so versucht er, sobald seine Frau Dida das Haus verlässt, diesen Unbekannten vor dem Spiegel aufzuspüren, indem er sich vornimmt, sich wie einen Fremden zu beobachten: Io volevo esser solo in un modo affatto insolito, nuovo. Tutt’al contrario di quel che pensate voi: cioè senza me e appunto con un estraneo attorno. (S. 1292) Mit geschlossenen Augen vor dem Spiegel stehend, geht er zunächst von zwei Varianten seines Ichs aus – er, wie er sich selbst kenne, sein Inneres, und jenes Ich des Spiegelbildes als das Fremdbild der anderen: »Finché tengo gli occhi chiusi, siamo due: io qua e lui nello specchio« (S. 1297). Schnell begreift er dabei die Unmöglichkeit, sich selbst im Spiegel so zu sehen wie die anderen ihn sehen würden, denn jedes Mal, wenn er seine Augen öffnet, weicht das fremde Ich dem bekannten, und das lebende dem statischen: Quando mi ponevo davanti a uno specchio, avveniva come un arresto in me; ogni spontaneità era finita, ogni mio gesto appariva a me stesso fittizio o rifatto. Io non potevo vedermi vivere. (S. 1293) Die proleptische Andeutung des Ich-Erzählers, sein damaliger Glaube an die Existenz lediglich zweier Ichs – »uno solo per tutti, come uno solo credevo d’esser io per me« (S. 1294) – habe sich bald als Trugschluss erwiesen, bestätigt sich noch im Libro Primo des Romans, als er vor dem Spiegel verschiedenste Pantomimen vorführend, schließlich realisiert, dass die Deutung eines bestimmten Gesichtsausdrucks allein vom Betrachter abhänge und damit in unendlichen Varianten existiere: L’espressione di quella mia rabbia, ad esempio, non sarebbe stata la stessa per uno che l’avrebbe temuta, per un altro disposto a scusarla, per un terzo disposto a riderne, e così via. (S. 1295) In Übereinstimmung mit Nietzsches (später durch strukturalistische und poststrukturalistische Denker wiederholter) These, dass der ›Sinn‹ einer Sache dieser in der Natur niemals vorgängig sei, sondern ihr erst durch den menschlichen Intellekt nachträglich zugeordnet werde,10 lässt Pirandello seine Romanfigur schon am 10
Man erinnere sich beispielsweise an folgende Textstelle: »Was nur Werth hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, – die Natur ist immer werthlos: – sondern
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Ende des ersten Großkapitels zur Einsicht gelangen, dass der menschliche Körper (die Analogie zum linguistischen Zeichenkörper drängt sich auf) immer erst durch den subjektiven Blick ›Identität‹ bzw. ›Realität‹ werde: […] che, come me lo prendevo io, questo mio corpo, per essere a volta a volta quale mi volevo e mi sentivo, così se lo poteva prendere qualunque altro per dargli una realtà a modo suo; […] che infine quel corpo per se stesso era […] niente e […] nessuno […]. (S. 1301) Was zunächst auf körperliche Äußerlichkeiten beschränkt zu sein scheint, weitet Moscarda auf immer weitere Bereiche des Lebens aus: Schnell zeigt sich nicht nur, dass physische Zuschreibungen stets subjektiv konnotiert sind, sondern dass auch Gegenstände, Situationen und Zusammenhänge von jedem Einzelnen individuell und daher unterschiedlich beurteilt werden. Sukzessive wird der Protagonist so aus dem Zustand der sorglosen Passivität gerissen, in welchem er weder sich selbst noch sein Umfeld hinterfragte, und zum Bewusstsein der unendlichen Perspektiven und Wahrheiten geführt. Dieses Bewusstsein bildete den Ausgangspunkt von Nietzsches Kritik am platonisch-christlichen Dogma. Es ließe sich daher behaupten, Nietzsches philosophische Infragestellung von Wahrheit erscheine in Uno, nessuno e centomila narrativiert in der Geschichte des Vitangelo Moscarda. Die den Protagonisten marternde »riflessione«,11 welche ihn die Grundfesten seiner Existenz anzweifeln lässt, findet dabei in Nietzsches Darstellung des skeptischen Geists ihre Entsprechung. Hatte auch Nietzsche von der Annahme Abstand genommen, ›Wahrheit‹ sei von Anfang an gegeben, unveränderlich und für alle gleich, erfährt Moscarda ›Wahrheit‹ als subjektives und höchst fragiles Kon-strukt, wobei er im ›Konstruieren‹ – wörtlich als das Errichten von konkreten oder abstrakten ›Realitäten‹ –12 einen typisch menschlichen Zug erkennt: Ah, voi credete che si costruiscono soltanto le case? Io mi costruisco di continuo e vi costruisco, e voi fate altrettanto. E la costruzione dura finché non si sgretoli il materiale dei nostri sentimenti e finché duri il cemento della nostra volontà. (S. 1317)
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dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt, und wir waren diese Gebenden und Schenkenden!« (FW: Viertes Buch 302, KSA 3, 540). Die Rede ist etwa von »abissi di riflessioni e considerazioni che mi scavavano dentro e bucheravano giú per torto e su per traverso lo spirito, come una tana di talpa« (S. 1286), s.a. S. 1288: »[…] il primo germe del male aveva cominciato a metter radice nel mio spirito e non potei consolarmi con questa riflessione.« Wie Pirandello spricht Nietzsche metaphorisch vom ›Bauen‹ von Wahrheiten, Realitäten und Moralgesetzen, s. z.B. WL 1, KSA 1, 882: »Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten [sic!] Begriffsdomes gelingt […].«
3 Luigi Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926)
Ein und derselbe Gegenstand werde so etwa von verschiedenen Betrachtern, je nach ihrer persönlichen Geschichte, ihrem Geschmack oder Charakter unterschiedlich, ja gegensätzlich bewertet (vgl. S. 1335f), und ein und derselbe Mensch, gezeichnet durch den Zeitpunkt und die Umstände seiner Geburt, seinen Namen, seine Geschichte und sein Äußeres (vgl. S. 1323-1327), erlange durch den Blick seiner Mitmenschen unterschiedliche Identitäten: Conosco Tizio. Secondo la conoscenza che ne ho, gli dò una realtà: per me. Ma Tizio lo conoscete anche voi, e certo quello che conoscete voi non è quello stesso che conosco io, perché ciascuno di noi lo conosce a suo modo e gli dà a suo modo una realtà. […] Il che vuol dire che Tizio è realmente uno con me, uno con voi, un altro con un terzo, un altro con un quarto e via dicendo, pur avendo l’illusione anche lui, anzi lui specialmente, d’esser uno per tutti. (S. 1333) Während jeder Einzelne seine Wahrheit für die Wahrheit hält, da er ihren subjektiv-fiktiven Charakter ausblendet oder vergisst – Nietzsche hat auf diesen Irrtum immer wieder aufmerksam gemacht –13 , existieren neben seiner eigenen, eine Vielzahl anderer, nicht minder ›realer‹ Wahrheiten. Für das sogenannte ›Individuum‹ bedeutet das, dass es sich in Wirklichkeit aus unzähligen Fremd- und Selbstzuschreibungen zusammensetzt.14 Wie Nietzsche zeigt Pirandello, dass die von außen eindringenden, starren Zuschreibungen im Betroffenen nicht selten Verärgerung und Leiden hervorrufen.15 Moscarda etwa erlebt die Fremdprojektio13
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S. z.B. WL 1, KSA 1, 880f: »[…] die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind […]« bzw. FW: Viertes Buch 301, KSA 3, 540: »Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht, geschaffen! – Gerade dieses Wissen aber fehlt uns, und wenn wir es einen Augenblick einmal erhaschen, so haben wir es im nächsten wieder vergessen […]«. Auch Nietzsche betont das Subjektiv-Fiktionale jeder scheinbaren ›Identität‹, s. z.B. JGB: Fünftes Hauptstück 192, KSA 5, 114: »[…] wir erdichten uns […] und sind kaum dazu zu zwingen, nicht als »Erfinder« irgend einem Vorgange zuzuschauen. Dies Alles will sagen: wir sind von Grund aus, von Alters her – an’s Lügen gewöhnt. […] In einem lebhaften Gespräch sehe ich oftmals das Gesicht der Person, mit der ich rede, je nach dem Gedanken, den sie äussert, oder den ich bei ihr hervorgerufen glaube, so deutlich und feinbestimmt vor mir, dass dieser Grad von Deutlichkeit weit über die Kraft meines Sehvermögens hinausgeht: – die Feinheit des Muskelspiels und des Augen-Ausdrucks muss also von mir hinzugedichtet sein. Wahrscheinlich machte die Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keins.« Bei Nietzsche erscheint diese Überlegung meist eingebettet in eine allgemeine Kritik an Dogma und Metaphysik. Der ›freie Geist‹, der die Relativität aller Urteile und Wahrheiten erkannt hat, leidet unter den als künstlich empfundenen Normen und Gesetzen und der Unaufrichtigkeit und Scheinheiligkeit der modernen Gesellschaft, s. z.B. AC 38, KSA 6, 209: »Der Mensch von heute – ich ersticke an seinem unreinen Athem…«. An anderen Stellen veranschaulicht Nietzsche konkret, wie Werturteile den Einzelnen bestimmen bzw. bedrängen: »Was Andere von uns wissen. – Das, was wir von uns selber wissen und im Gedächtniss haben, ist für das Glück unseres Lebens nicht so entscheidend, wie man glaubt. Eines Tages stürzt
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nen, denen er sich durch sein Umfeld ausgesetzt sieht, als »orribile sopraffazione« (S. 1350), denn nicht nur erkennt er sich in diesen nicht wieder,16 sondern er erlebt sie geradezu als Gewaltakt gegen seine Person. Als besonders erniedrigend empfindet er neben dem Ruf des Wucherers, den er als Bankierssohn in den Augen seiner Mitmenschen innehat, das verzerrte Bild, welches ihm seine Ehefrau Dida täglich vermittelt. Vergegenständlicht ist die dümmliche, gutmütige Version Moscardas, welche Dida für seine einzige Realität hält, mit welcher er sich selbst jedoch nicht identifizieren kann, in der Verniedlichung seines Vornamens Vitangelo zu ›Gengé‹17 . Das Gefühl, von seiner Frau missverstanden zu werden, steigert sich dabei bis zur Eifersucht, denn Moscarda sieht ein, dass Dida nicht eigentlich ihn, sondern ihren ›Gengé‹ liebt: Ma sfido ch’ella conosceva quel suo Gengé più che non lo conoscessi io! Se l’era costruito lei! […] Perché quel suo Gengé esisteva, mentre io per lei non esistevo affatto, non ero mai esistito. La realtà mia era per lei in quel suo Gengé ch’ella s’era foggiato, che aveva pensieri e sentimenti e gusti che non erano i miei […]. […] v’assicuro che difficilmente potrebbe immaginarsi una creatura più sciocca di questo caro Gengé di mia moglie Dida. […] non ostanti i dispiaceri che le cagionava, le sciocchezze che diceva, Gengé era molto amato da mia moglie Dida […] E io […] cominciai a divenire terribilmente geloso […] non di me stesso, signori, ma di uno che non ero io, di un imbecille che s’era cacciato tra me e mia moglie […]. (S. 1317-1321) Moscarda gelingt es nach dieser Einsicht nicht, zu seinem bisherigen Leben zurückzukehren. Der ihn von außen bedrängende, über ihn urteilende und ihn festschreibende Blick der anderen wird ihm zunehmend unerträglich: »[Moscarda zu seinem Hund] Vuoi sapere perché sia venuto a nascondermi qua? Eh, Bibí, perché la gente mi guarda. Ha questo vizio, la gente, e non se lo può levare. […] Io non posso più vedermi guardato. […]« (S. 1367). Die Handlung des Romans konzentriert sich daher auf die Destruktion der dem Protagonisten durch seine Mitmenschen aufoktroyierten Identitäten, durch welche sich dieser unvollständig und gewaltsam eingegrenzt sieht. Nicht umsonst hat Michael Rössner die größte Gemeinsamkeit zwischen Nietzsche und Pirandello in ihrer »Erkenntniskritik« bzw. – Rössner nimmt Bezug auf Pirandellos Nietzsche-Zitat – »in der Aktion des scrollare«,18 des
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Das, was Andere von uns wissen (oder zu wissen meinen) über uns her – und jetzt erkennen wir, dass es das Mächtigere ist […].« S. z.B. S. 1317: »[…] che io non mi riconosco nella forma che mi date voi, né voi in quella che vi do io […].« S. Fußnote S. 1290: »Mia moglie, da Vitangelo che purtroppo è il mio nome, aveva tratto questo nomignolo, e mi chiamava così; non senza ragione, come si vedrà.« Michael Rössner, »Nietzsche und Pirandello. Parallelen und Differenzen zweier DenkCharaktere«, S. 12.
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Umstoßens von Schein und der zugleich erschreckenden und anziehenden Entschleierung einer auf Ambivalenz und Widersprüchlichkeit beruhenden Welt festgestellt. Wie bei Nietzsche folgt jedoch auch auf Pirandellos Erkenntniskritik nicht unmittelbar ein Zustand der Gelöstheit, wenn sie auch zunächst von der als Lüge empfundenen Realität befreit. Die Einsicht in die Unbestimmbarkeit von ›Wahrheit‹ und ›Sinn‹, besonders jedoch in die Gespaltenheit, ja in die Nicht-Existenz des eigenen Ichs, führt wie bei Nietzsche zunächst zu neuem Leiden und lässt Pirandellos Figuren, so auch Moscarda, die ganze Tragik des Lebens spüren. So muss dieser bald begreifen, dass sich die Wahrnehmung seiner Mitmenschen nicht nur von seiner eigenen unterscheidet, sondern dass letztere selbst einem steten Wandel unterworfen ist. Moscarda folgert daraus, dass sich der Einzelne auch selbst gegenüber fremd sei, d.h. verschiedene Seelen in sich vereine, von denen zeitweise die eine, zeitweise die andere die Oberhand gewinne. Bewusst werde dem Menschen dies immer dann, wenn er sich beispielsweise in vergangenen Handlungen nicht wiedererkenne: Quando avete agito così? Jeri, oggi, un minuto fa? E ora? Ah, ora voi stesso siete disposto ad ammettere che forse avreste agito altrimenti. […] Riconoscete forse anche voi ora, che un minuto fa voi eravate un altro? Ma sí, ma sí, mio caro, pensateci bene: un minuto fa, prima che vi capitasse questo caso, voi eravate un altro; non solo, ma voi eravate anche cento altri, centomila altri. […] Vedete piuttosto se vi sembra di poter essere così sicuro che di qui a domani sarete quel che assumete di essere oggi. (S. 1310)19 Nicht einmal sein eigenes Ich, das ihm in seiner Zerrissenheit entweder als »nessuno«20 oder »centomila«21 erscheint, kann dem Protagonisten daher vor den Blicken seiner Mitmenschen einen sicheren Zufluchtsort bieten. Auch für sich, jenseits aller Fremdzuschreibungen, gelingt es ihm nicht, seine Identität klar zu bestimmen. Als besonders bitter zeigt sich ihm dabei die Einsicht, dass sein wechselndes Selbstbild wiederum durch die Projektionen gesteuert zu sein scheint, welche ihm die anderen von ihm vermitteln (bzw. welche er sich durch sie vermittelt glaubt), ja dass 19
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Auffällig ist hier die Ähnlichkeit zu folgendem Gedanken Nietzsches: »Jetzt erscheint dir Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stösst es von dir ab und wähnst, dass deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrthum damals, als du noch ein Anderer warst – du bist immer ein Anderer –, dir ebenso nothwendig wie alle deine jetzigen »Wahrheiten« […]. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getödtet, nicht deine Vernunft […].« (FW: Viertes Buch 307, KSA 3, 544f). S. z.B. S. 1372: »[…] l’orrore di vedere il proprio corpo per sé come quello di nessuno.« S. z.B. S. 1294: »[…] la scoperta dei centomila Moscarda ch’io ero non solo per gli altri ma anche per me.«
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somit das eigene Bewusstsein letztlich niemals für sich allein, sondern immer nur in Abhängigkeit von anderen existiert: […] dovetti riconoscere che nei miei occhi non c’era veramente una vista per me […] e che dunque i miei occhi, per sé, fuori di questa vista degli altri, non avrebbero più saputo veramente quello che vedevano. […] Ove la vista degli altri non ci soccorra a costituire comunque in noi la realtà di ciò che vediamo, i nostri occhi non sanno più quello che vedono; la nostra coscienza si smarrisce; perché questa che crediamo la cosa più intima nostra, la coscienza, vuol dire gli altri in noi; e non possiamo sentirci soli. (S. 1369f) In dem Maße, wie der Protagonist realisiert, dass ›Wahrheit‹ in vielen gleichwertigen,22 jedoch inkompatiblen Varianten existiert, erschließt sich ihm die absolute Einsamkeit des Menschen: […] sí, dicevo »io«; ma a chi lo dicevo? e per chi? Ero solo. In tutto il mondo, solo. Per me stesso, solo. E nell’attimo del brivido, che ora mi faceva fremere alle radici i capelli, sentivo l’eternità e il gelo di questa infinita solitudine. (S. 1384) Die Beobachtung seiner Ehe führt ihm dabei vor Augen, dass es auch zwischen nahestehenden Personen keine Kongruenz der Gefühle und Gedanken gibt. Für das gegenseitige Unverständnis macht er die Unzulänglichkeit der sprachlichen Zeichen verantwortlich:23 Ma che colpa abbiamo, io e voi, se le parole, per sé, sono vuote? Vuote, caro mio. E voi le riempite del senso vostro, nel dirmele; e io nell’accoglierle, inevitabilmente, le riempio del senso mio. Abbiamo creduto d’intenderci; non ci siamo intesi affatto. (S. 1309) Als Ergebnis eines sprachlich bedingten Missverständnisses beschreibt Moscarda so etwa die Frisur seiner Frau, welche diese im Glauben, sie entspreche dem Geschmack ihres Mannes, unbeirrbar trägt, obwohl die Frisur, wie sich herausstellt, 22
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Moscarda gesteht der ›Wahrheit‹ der anderen das gleiche Recht wie seiner eigenen zu, s. z.B. S. 1395: »Ma tutto ciò che di noi si può immaginare è realmente possibile, ancorché non sia vero per noi. Che per noi non sia vero, gli altri se ne ridono. È vero per loro. Tanto vero, che può anche capitare che gli altri […] possono indurvi a riconoscere che più vera della vostra stessa realtà è quella che vi dànno loro.« Vgl. Nietzsches wiederholte, dem linguistischen Zeichenmodell vorgreifende These, dass die Zordnung eines Zeicheninhalts zu einem Zeichenkörper auf Konvention beruhe und daher Verschiebungen und Wandlungen unterworfen sei, welche Missverständnisse begünstigten, s. WL 1, KSA 1, 879. S. v.a. jedoch den bereits mehrfach zitierten Abschnitt JGB: Neuntes Hauptstück 268, KSA 5, 221: »Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander gemein haben.«
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weder Moscarda noch ihr selbst gefällt: »[…] e si pettinava in quell’altro modo che piaceva né a lei né a me. Ma piaceva al suo Gengé; e lei si sacrificava.« (S. 1321). Dida meint außerdem, im Verhalten ihres Mannes, der selbst völlig ahnungslos und sich keiner Schuld bewusst ist, eine heimliche Liebe zu ihrer besten Freundin Anna Rosa zu erkennen, wohingegen Anna Rosas Verhalten gegenüber Moscarda, wiederum durch Didas Geständnis gelenkt wird.24 Zunehmend enthüllt sich dem Protagonisten dabei die tragische Einsicht, dass sich selbst Liebespaare im Grunde fremd sind, denn Didas ›Gengé‹ erweist sich wie Moscardas ›Dida‹ jeweils als Trugbild: Voi non lo avete mai provato, quest’orrore, lo so; perché avete sempre e soltanto stretto fra le braccia tutto il vostro mondo nella donna vostra, senza il minimo avvertimento ch’ella intanto si stringe in voi il suo, che è un altro […] che gli occhi di lei, mentre voi la guardate, non vedono in voi, e come i vostri, le cose quali voi le vedete […]. (S. 1365f) Dies hat zur Folge, dass sich Dida tatsächlich von Moscarda abwendet, sobald er nicht mehr ihrem ›Gengé‹ entspricht. Und auch Moscarda erschrickt, als ihm Anna Rosa Seiten seiner Frau schildert, die ihm gänzlich fremd sind (S. 1397). Den Gedanken einer auf subjektiven Konstruktionen beruhenden ›Liebe‹ hatte Nietzsche in erstaunlicher Übereinstimmung mit Pirandello, in der Parabel »Wahrscheinlich und unwahrscheinlich« zum Ausdruck gebracht, in welcher sich ein Mann und eine Frau aus der Ferne anhimmeln und lieben, am Tag des lang ersehnten Zusammentreffens jedoch erkennen, dass sie sich in Illusionen gewiegt haben. Die Frau fasst in Worte, was sie nach einem Moment des »Stillschweigens« und »einiger Besinnung« realisieren: Darauf hob die Frau an, mit erkälteter Stimme: »aber es ist ja ganz klar! wir sind Beide nicht Das, was wir geliebt haben! Wenn du Das bist, was du sagst und nicht mehr, so habe ich mich umsonst erniedrigt und dich geliebt; der Dämon verführte mich so wie dich.« (M: Viertes Buch 379, KSA 3, 247) Der abschließende, den Titel der Parabel aufgreifende Appell an den Leser – »Diese sehr wahrscheinliche Geschichte kommt nie vor, – wesshalb?« (ebd.) – deutet an, dass zwar jede menschliche Interaktion auf »perspektivischen Schätzungen«25 beruhe, dass sich die Mehrzahl der Menschen dies jedoch nicht eingestehe und so 24
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S. S. 1394f: »Perché Gengé, signori miei, quello stupidissimo Gengé di mia moglie Dida, covava, senza ch’io ne sapessi nulla, una bruciante simpatia per Anna Rosa. Se l’era messo in testa Dida. […]«. Nietzsche verwendet die Formulierung in Jenseits von Gut und Böse: »[…] es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten; und wollte man […] die ›scheinbare Welt‹ ganz abschaffen, […] so bliebe mindestens dabei auch von eurer ›Wahrheit‹ nichts mehr übrig!« (JGB: Zweites Hauptstück 34, KSA 5, 53).
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lebe, als ob es nur eine ›Wahrheit‹ gebe. Was Nietzsche als »unwahrscheinlich« bezeichnet, die Einsicht in die unbegrenzten Deutungsmöglichkeiten des Lebens, das nimmt in Pirandellos Figur Gestalt an. Didas Verhalten dagegen entspricht dem, was Nietzsche zufolge, im Alltag viel häufiger eintritt: Ohne jede Spur von Selbstzweifel glaubt sie ausschließlich an ihre Version der Wahrheit und schiebt alles, was von dieser ›Wahrheit‹ abweicht, schlichtweg auf den Wahnsinn und die Unvernunft ihrer Mitmenschen. Die Aporie einer zielführenden, zwischenmenschlichen Kommunikation führt sich der Protagonist während einer Unterredung mit seiner Frau und Quantorzo, einem Teilhaber der Bank seines Vaters, bildlich vor Augen, denn statt drei sich unterhaltende Personen, meint er neun bzw. acht – »visto che io – per me stesso – ormai non contavo più« (S. 1372) – vor sich zu sehen. Da jeder der drei, so der Ich-Erzähler, nämlich automatisch nicht nur ein subjektives Bild von sich selbst, sondern jeweils auch von seinen Gesprächspartnern in sich trage, ergebe die Multiplikation der drei Personen mit ihren jeweils drei vorhandenen Wirklichkeitsbildern die Zahl neun, abzüglich jedoch seiner eigenen Person, da er selbst nicht mehr beanspruche, ›jemand‹ zu sein (ebd.).
3.2
Logik, Gesellschaft, Form und Leiden
Ausgehend von der Entdeckung, dass Wahrheit in einer Vielzahl von Varianten existiert, lässt Pirandello seinen Protagonisten schon bald zu philosophischen Erörterungen zur Natur des Menschen im Allgemeinen übergehen, wodurch an Gedanken aus seiner Schrift L’umorismo (1908) und seinem frühen Roman Il fu Mattia Pascal (1904) angeknüpft wird. Kern von Pirandellos Wahrheitskritik, zu deren Sprachrohr Moscarda wird, ist wie bei Nietzsche die Überzeugung, dass ›Wahrheit‹ bzw. ›Sinn‹ in der Natur nicht vorhanden sei, sondern erst durch den Menschen geschaffen werde: […] induce a riflettere che la vita, non avendo fatalmente per la ragione umana un fine chiaro e determinato, bisogna che, per non brancolar nel vuoto, ne abbia uno particolare, fittizio, illusorio […].26 Des Menschen Leiden sowie sein Bedürfnis nach Sinn und Geborgenheit führt Pirandello wie Nietzsche auf die menschliche Verstandestätigkeit zurück. Durch diese erweise sich der Mensch gegenüber der Tier- und Pflanzenwelt als ›krank‹: »[Lʼ] uomo è una bestiolina piccola, sí, che ha però in sé qualche cosa che voi non avete« (S. 1311), spricht Moscarda zu den Bäumen.27 Im Unterschied zu anderen 26 27
Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 138. Vgl. z.B. GM: Dritte Abhandlung 28, KSA 5, 411: »[…] so hatte der Mensch, das Thier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; ›wozu Mensch überhaupt?‹ –
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Lebewesen, erlange der Mensch aufgrund der »macchinetta infernale« seines Verstandes, welchen Pirandello meist »logica« nennt,28 das Bewusstsein seiner eigenen Existenz: »A noi uomini, invece, nascendo, è toccato un tristo privilegio: quello di sentirci vivere, con la bella illusione che ne risulta […]«.29 Der rational begabte Mensch beginne, sich selbst und seine Umwelt zu hinterfragen, versuche, Erklärungen für das ihm Unbekannte zu finden, und schaffe sich auf diese Weise seine eigene, jedoch rein subjektiv-menschliche Welt. Den Prometheus-Mythos aufgreifend, nach welchem der Titan Prometheus der Menschheit die Wissenschaft schenkte, indem er den Göttern unter anderem das Feuer stahl,30 setzt Pirandello den menschlichen Verstand der »favilla prometèa«, dem prometheischen Lichtfunken gleich. Dieser umgebe den Menschen zwar mit einem hellen ›Lichtkreis‹, mache jedoch auch dunkle, angsteinflößende ›Schatten‹ sichtbar, welche die ›Finsternis‹ des Unbewussten unbemerkt in sich eingeschlossen hatte: Orbene, il sentimento che noi abbiamo della vita è appunto questa favilla prometèa favoleggiata. Essa ci fa vedere sperduti su la terra; essa projetta tutt’intorno a noi un cerchio piú o meno ampio di luce, di là dal quale è l’ombra nera, l’ombra paurosa che non esisterebbe, se la favilla non fosse accesa in noi […].31 Das ›Licht‹ des Verstandes bringe somit – Nietzsche und Pirandello sind sich darin einig – zugleich die Furcht vor dem Unbekannten, Unbeherrschbaren (versinnbildlicht durch die ›Schatten‹) sowie das Gefühl der Machtlosigkeit und des Leidens mit sich. Um diesen ›Schatten‹ möglichst entgegenzuwirken, errichte sich der Mensch eine künstliche Welt aus festen Wesenheiten, Richtlinien und Grenzen, und unterscheide zwischen Wahrheit und Lüge. Nietzsche und Pirandello haben auf sehr ähnliche Weise dem tragischen Konflikt zwischen dem menschlichen Bedürfnis nach Sinn und Ordnung und dem sinnfreien Lebensfluss der Natur Ausdruck verliehen. Beide Autoren betrachten das Einsetzen der Begrifflichkeit dabei als jenes einschneidende Ereignis, durch welches sich der Mensch von der Natur entfernte: Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt; freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so
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war eine Frage ohne Antwort; […] er wusste sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Thier […].« Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 154. Luigi Pirandello, Il fu Mattia Pascal, S. 397. Grant, Michael/Hazel, John: »Prometheus«, in: dies., Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, übers. von Holger Fließbach (München: dtv 2001), S. 353. Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 155.
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zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden. Als Baugenie erhebt sich solcher Maassen der Mensch weit über die Biene: diese baut aus Wachs, das sie aus der Natur zusammenholt, er aus dem weit zarteren Stoffe der Begriffe, die er erst aus sich fabriciren muss. (WL 1, KSA 1, 882)32 La vita è un flusso continuo che noi cerchiamo d’arrestare, di fissare in forme stabili e determinate, dentro e fuori di noi, perché noi già siamo forme fissate […] Le forme, in cui cerchiamo d’arrestare, di fissare in noi questo flusso continuo, sono i concetti, sono gli ideali a cui vorremmo serbarci coerenti, tutte le finzioni che ci creiamo, le condizioni, lo stato in cui tendiamo a stabilirci.33 Moscarda stellt der freien Natur, wie man sie noch auf dem »Land« (S. 1312) vorfinde, daher die ›konstruierte‹ Welt des Menschen (»[il] mondo costruito«, S. 1313) gegenüber. Durch diese mache sich der Mensch die Natur sowohl konkret, durch die Nutzung von Rohstoffen, als auch abstrakt, durch die Einformung in Begriffe und Kategorien, zu eigen (S. 1310-1317). Wie in L’umorismo erscheint die Eigenschaft des beständigen Konstruierens und Formgebens dabei als menschlich-kognitives Muster, welches zuallererst im sprachlichen Zeichensystem erkennbar sei (der Protagonist gibt zu bedenken, dass Wörter wie »nuvola« oder »vento« in der Natur keinerlei Bedeutung hätten, S. 1313) und die Grundlage des Denkens bilde: »Possiamo conoscere soltanto quello a cui riusciamo a dar forma.« (S. 1316f). Nicht zuletzt gebe der Mensch auch sich selbst eine ›Form‹, an welcher er im Laufe seines Lebens trotz der gelegentlichen Einsicht in die Heterogenität seines Ichs34 mehr oder weniger festhalte: »L’uomo piglia a materia anche se stesso, e si costruisce, sissignori, come una casa. Voi credete di conoscervi se non vi costruite in qualche modo?« (S. 1316). Pirandello geht dagegen, nicht anders als Nietzsche, davon aus, dass das menschliche Ich in Wirklichkeit das »bewegliche« »Gleichgewicht« eines inneren »Kampfes« verschiedener »Einzelseelen« darstelle, in dessen Verlauf einmal die eine, einmal die andere die Oberhand gewinne.35 Auch die »Vernunft« selbst führt Pirandello, ähn32
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Vgl. a. Za III: Von alten und neuen Tafeln 8, KSA 4, 252: »›Wie? sagen die Tölpel, Alles wäre im Flusse? Balken und Geländer sind doch über dem Flusse!‹ ›Über dem Flusse ist Alles fest, alle die Werthe der Dinge, die Brücken, Begriffe, alles ›Gut‹ und ›Böse‹: das ist Alles fest!‹ – […].« Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 151. Vgl. ebd., S. 150: »E tante e tante cose, in certi momenti eccezionali, noi sorprendiamo in noi stessi, percezioni, ragionamenti, stati di coscienza, che son veramente oltre i limiti relativi della nostra esistenza normale e cosciente. […] E appunto le varie tendenze che contrassegnano la personalità fanno pensare sul serio che non sia una l’anima individuale. Come affermarla una, difatti, se passione e ragione, istinto e volontà, tendenze e idealità, costituiscono in certo modo altrettanti sistemi distinti e mobili […].« Ebd., S. 150f. Auch Nietzsche spricht bezüglich des menschlichen Bewusstseins von einem »Kampf«, einem »Hin- und Wegtreiben«, einem »Aufwiegen und Niederdrücken von Ge-
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lich wie Nietzsche, auf unbewusste, physiologische Wirkmechanismen, »impulsi affettivi« und »oscure tendenze« zurück.36 Die Verstellung des Einzelnen spiegle sich dabei in jener der Gesellschaft, in ihren Geboten, Gebräuchen, Werten und Rollen. Bestimmte Ansichten, d.h. in Pirandellos Worten »Illusionen« oder »Lügen«, verfestigten sich hier auf Gruppenebene zu gültigen ›Wahrheiten‹.37 Das soziale Leben beruhe daher – Pirandellos Formulierungen scheinen jene Nietzsches fast wörtlich aufzugreifen –38 auf Lüge und Schein und komme einer unbewussten ›Maskerade‹ bzw. einem ›Schauspiel‹ gleich: Eppure si mentisce psicologicamente come si mentisce socialmente. E il mentire a noi stessi […], è un effetto del mentire sociale. […] [E] come dominano nel mondo sociale la simulazione e la dissimulazione, tanto meno avvertite quanto più sono divenute abituali, così simuliamo e dissimuliamo con noi medesimi […] E niente è vero! Vero il mare, sí, vera la montagna […] ma l’uomo? Sempre mascherato, senza volerlo, senza saperlo, di quella tal cosa ch’egli in buona fede si figura d’essere: bello, buono, grazioso, generoso, infelice, ecc. ecc.39 Vor diesem Hintergrund enthüllt sich auch der Titel von Pirandellos Dramensammlung »Maschere nude« und der Überbegriff »teatro nel teatro« für seine
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wichttheilen«: »[…] – und diess wäre der eigentliche ›Kampf der Motive‹: – etwas für uns völlig Unsichtbares und Unbewusstes.« (M: Zweites Buch 129, KSA 3, 119). Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 149. Bei Nietzsche sei auf folgenden Abschnitt verwiesen: »[…] ebenso wenig ist ›Bewusstsein‹ in irgend einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt, – das meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt […]. Auch hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben.« (JGB: Erstes Hauptstück 3, KSA 5, 17). Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 146f. S. z.B. FW: Viertes Buch 301, KSA 3, 540: »Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten practischen [sic!] Menschen (unsern Schauspielern wie gesagt) eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt.«; s.a. FW: Fünftes Buch 352, ebd., 588: »[…] es scheint, wir Europäer können jener Maskerade durchaus nicht entbehren, die Kleidung heisst. Sollte aber die Verkleidung der ›moralischen Menschen‹, ihre Verhüllung unter moralische Formeln und Anstandsbegriffe […] nicht seine ebenso guten Gründe haben?«; FW: Fünftes Buch 356, ebd., 595: »[…] fast alle Europäer verwechseln sich in einem vorgerückten Alter mit ihrer Rolle, sie selbst sind die Opfer ihres ›guten Spiels‹ […]«; WL 1, KSA 1, 876: »Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen […], das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst […] so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichst unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.« Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 148f u. S. 153.
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berühmte Theater-Trilogie40 : Nicht nur auf der Bühne mit vorgehaltener Maske ›spiele‹ der Mensch, vielmehr entspreche das öffentliche Leben (ohne sichtbare Maske) selbst einem ›Rollenspiel‹. »Il teatro non può morire. Forma della vita stessa, tutti ne siamo attori; aboliti o abbandonati i teatri, il teatro seguiterebbe nella vita, insopprimibile […]«, so Pirandello auf einem Kongress, zwei Jahre vor seinem Tod.41 Das unbewusste, der Kunst und dem Leben gleichermaßen zugrunde liegende ›Rollenspiel‹ aufzudecken, wird Pirandello zum Ziel seines gesamten literarischen Schaffens. Seine Erzähltexte und Theaterstücke stellen daher meist metafiktionale Werke dar, welche selbstreflexiv ihre eigenen Grundlagen, so etwa ihre Konzeption, Inszenierung, Inhalte und Technik thematisieren und problematisieren. Pirandello gelingt es dadurch, die Wirklichkeitsillusion zu durchbrechen und die Fiktionalität bloßzulegen, welche nicht nur die Kunst als Spiegel der Wirklichkeit, sondern auch letztere selbst bestimme. Wie Nietzsche macht Pirandello dabei das Vergessen bzw. die Gewohnheit dafür verantwortlich, dass subjektive Wertschätzungen zur gesellschaftlichen Normalität und Regel würden.42 Der sicherheitsbedürftige Mensch – mit Nietzsches Worten der ›Herdenmensch‹–43 halte an dieser ›Normalität‹ getreu fest, ohne sie jemals infrage zu stellen. Moscarda, dessen nietzscheanische Skepsis oder »riflessione« (S. 1286) ihn gerade an der Gewohnheit zweifeln lässt, fühlt sich unter seinen Zeitgenossen, »che vivevano ciechi e sicuri nella pienezza abituale dei loro sentimenti« (S. 1380), zunehmend als fremd, unverstanden, oder in Nietzsches Terminologie als ›Unzeitgemäßer‹. Die 40
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Diese bestehend aus Sei personaggi in cerca d’autore, Questa sera si recita a soggetto und Ciascuno a suo modo, vgl. Willi Hirdt: »Luigi Pirandello. Auf dem Weg zu einem neuen Theater«, in: ders., Europas Weg in die Moderne (Berlin [u.a.]: Bouvier 1991), S. 93. Luigi Pirandello (1934): »Discorso d’apertura al convegno ›Volta‹ sul teatro drammatico« (08.10.1934), in: ders., Saggi e interventi (Mailand: Mondadori Meridiani 2006), S. 1437. S. z.B. WL 1, KSA 1, 878: »Nur durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen: er besitze eine Wahrheit […]«; Pirandello weist darauf hin, dass unser Bewusstsein das Ergebnis eines stillschweigenden Übereinkommens zur »Art« des »Urteilens«, »Fühlens« und »Handelns« sei, s. Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 149. Nietzsche beschreibt den ›Herdenmenschen‹ als einen schwachen, mittelmäßigen Menschen, der aus Sorge um das eigene Fortbestehen vorgegebene Richtlinien streng befolge, ohne diese jemals anzuzweifeln, s. dazu z.B. FW: Fünftes Buch 347, KSA 3, 581: »Die Gläubigen und ihr Bedürfniss nach Glauben. – Wie viel einer Glauben nöthig hat, um zu gedeihen, wie viel ›Festes‹, an dem er nicht gerüttelt haben will, weil er sich daran hält, – ist ein Gradmesser seiner Kraft (oder, deutlicher geredet, seiner Schwäche). […]«; JGB: Fünftes Hauptstück 199, KSA 5, 120: »Auf der anderen Seite giebt sich heute der Heerdenmensch in Europa das Ansehn, als sei er die einzig erlaubte Art Mensch, und verherrlicht seine Eigenschaften, vermöge deren er zahm, verträglich und der Heerde nützlich ist, als die eigentlich menschlichen Tugenden: also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiss, Mässigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden.«; bzw. ebd. 201, ebd., 123: »[…] die billige, bescheidene, sich einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das Mittelmaass der Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren.«
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bizarren Verhaltensweisen, welche mit seinem inneren Geistesprozess einhergehen, stoßen unter seinen Mitmenschen, so vor allem bei Dida und den Teilhabern seiner Bank auf Unverständnis: »Non compresero, naturalmente, che cosa intendessi dire […]« (S. 1372). Überzeugt von ihrem jeweiligen Standpunkt,44 halten sie Moscardas Verhalten schlichtweg für Wahnsinn oder Dummheit. Teils kritischspöttisch, teils mit einem Anklang von Eifersucht,45 verleiht der Ich-Erzähler immer wieder seiner Verwunderung über die unerschütterliche Selbstsicherheit seiner Mitmenschen Ausdruck: […] figuratevi in quale risata fragorosa mi veniva di prorompere nel vedermelo davanti serio serio, poverino, quel signor notaro Stampa, senza il minimo sospetto ch’io potessi per me non essere quale mi vedeva lui, e sicurissimo d’esser lui per me quello stesso che ogni giorno nell’annodarsi la cravattina nera davanti allo specchio si vedeva, con tutte le sue cose attorno. S. 1347) Besonders sein Schwiegervater erweckt in seiner äußerlichen Stimmigkeit und Glätte bei Moscarda den Eindruck einer perfekten Schauspielpuppe, welche mit ihrer Rolle so sehr verwachsen scheint, dass sie ihr eigenes ›Spielen‹ nicht mehr bewusst wahrnimmt: »[…] non poteva non fare una stranissima impressione, tanto pareva finto, ripeto: fantoccio da sarto e testa da vetrina di barbiere« (S. 1386). Fast beiläufig lässt Pirandello seine Figur den bei Nietzsche zentralen Gedanken aufgreifen, dass der Glaube an das vernünftige Ich, seine Urteils- und Entscheidungsmacht, durch jenen an Gott als Garanten für Sinn und Ordnung verbürgt sei: Sapete invece su che poggia tutto? Ve lo dico io. Su una presunzione che Dio vi conservi sempre. La presunzione che la realtà, qual è per voi, debba essere e sia ugualmente per tutti gli altri. (S. 1304) Trotz aller Kritik am metaphysisch-dogmatischen Denken kommen Pirandello und Nietzsche jedoch darin überein, dass der perspektivische Schein bzw. die ›Lüge‹ für den Menschen lebensnotwendig sei. Pirandello begründet das »Bedürfnis nach gegenseitiger Täuschung« (»il bisogno del reciproco inganno«) mit der »lotta per la vita«, in welcher der Mensch seine »Schwäche« erkenne,46 und Nietzsche erklärt den »Schein« und das »Perspektivische« zur Voraussetzung des Lebens (GT: Versuch 44 45
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S. z.B. S. 1331: »Che dici? – ripeté lei [Dida], dalla solidità certa della sua vita […]«. Vgl. Nietzsche, der zwar den ›Herdenmenschen‹ vom elitären Standpunkt des skeptischen Denkers kritisiert (z.B. JGB: Fünftes Hauptstück 203, KSA 5, 127), andererseits dieses Denken jedoch zu seinem größten Feind erklärt, s. z.B. Za II: Von den berühmten Weisen, KSA 4, 134: »Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen, – wusstet ihr das schon?« Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 148.
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einer Selbstkritik 5, KSA 1, 18).47 Den Zusammenhang zwischen Bewusstsein und dem Bedürfnis nach Schein hatte Pirandello nicht erst in L’umorismo hergestellt. Die Lichtmetapher für den menschlichen Intellekt sowie die damit verbundenen philosophischen Erörterungen erscheinen bereits in Il fu Mattia Pascal, in der sogenannten »lanterninosofia«, der ›Laternenphilosophie‹ des Signor Anselmo,48 aus welcher in L’umorismo Abschnitte fast wörtlich übernommen werden. Anders als in L’umorismo, wo die Anfänge des Menschseins inhaltlich mit dem PrometheusMythos verknüpft werden, wird in Il fu Mattia Pascal der Verstand einer »kleinen Laterne« gleichgesetzt, welche jeder Einzelne in sich trage und welche die Art und Weise bestimme, wie er die Welt wahrnehme.49 Sowohl in L’umorismo als auch in Il fu Mattia Pascal wird dabei der Tod schlicht als der »Hauch« (»il soffio«) beschrieben, welcher das ›Licht‹ unseres Verstandes, seine Gedankenkonstruktionen und Ängste (versinnbildlicht durch die ›Schatten‹ des ›Lichts‹) auslösche und uns schließlich mit der unbegrenzten »vita universale, eterna« verschmelzen ließe. Von dieser seien wir im Leben durch das Bewusstsein und das mit diesem einhergehende »sentimento di esilio« abgetrennt.50 Hatte auch L’umorismo die illusorische Täuschung vorrangig als soziales Phänomen beschrieben, so zeigt sich in Il fu Mattia Pascal der soziale Aspekt in die ›Laternenallegorie‹ integriert: Unter den vielfältigen möglichen Perspektiven – in Anselmos Darstellung versinnbildlicht durch verschiedenfarbige ›Laternen‹ – herrsche zu bestimmten Zeiten eine ›Farbe‹ in Bezug auf »Wahrheit«, »Tugend«, »Schönheit« etc. vor, welche sich in »periodi che son detti di transizione« in eine andere verwandle: »Il lume d’una idea comune è alimentato dal sentimento collettivo«.51 Nietzsche hatte die Durchsetzung und die Umkehr einer kollektiv gültigen Wertetafel auf den dem Leben inhärenten ›Willen zur Macht‹ zurückgeführt, welcher sich und seine Werte und Wahrheiten immer wieder selbst überwinde und so jedes Mal durch einen neuen ›Willen zur Macht‹ ersetzt werde.52 Übertragen auf Pirandellos ›Laternenphilosophie‹, entspricht der Übergang von einem kollektiven ›Willen zur Macht‹ zum anderen, dem Wechsel der die individuellen ›Laternen‹ dominierenden Farbe. Davon in besonderer Weise betroffen ist die Religion, welche als normatives Dogma und Praktik unter den 47
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S.a. JGB: Zweites Hauptstück 34, KSA 5, 53; WL 1, KSA 1, 876: »Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten […]«. Luigi Pirandello, Il fu Mattia Pascal, S. 397-401 (XIII. Kapitel des Romans unter dem Titel »Il lanternino«). Ebd., S. 397. Ebd., S. 399f; bzw. Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 155. Luigi Pirandello, Il fu Mattia Pascal, S. 398. S. z.B. GM: Zweite Abhandlung 12, KSA 5, 314: »Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur Anzeichen davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat […].«
3 Luigi Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926)
menschlichen ›Konstruktionen‹ eine außerordentliche Stellung einnimmt. Nietzsche hatte das religiöse Dogma so bereits als »Philosophen-Bauwerk« und »grossen Stil der Baukunst« (JGB: Vorrede, KSA 5, 11f) bezeichnet. Die Dogmatisierung des Gottesgefühls bringt Pirandello in Uno, nessuno e centomila im Begriff des »Dio di fuori« zum Ausdruck. Dieser bedürfe im Gegensatz zum »Dio di dentro« äußerlicher Manifestationen, wie eines Gotteshauses, einer Schrift, Schmuck oder öffentlicher Würdenträger: Gli uomini, vedi? hanno bisogno di fabbricare una casa anche ai loro sentimenti. Non basta loro averli dentro, nel cuore, i sentimenti: se li vogliono vedere anche fuori, toccarli; e costruiscono loro una casa. (S. 1399) Eine Vielzahl von Pirandellos Figuren, so auch Moscarda, empfinden die vorgeschriebenen Schemen, Konventionen und Werturteile als Zwang und Einengung, zumal sie sich selbst alles andere als einheitlich und konform wahrnehmen. In L’umorismo beschreibt Pirandello das Gefühl, sich in der vorgegebenen ›Form‹ nicht wiederzuerkennen. Der Einzelne erscheint zu vielschichtig, um lebenslänglich in der Form eines immer gleichen Körpers (»il nostro stesso corpo fissato per sempre in fattezze immutabili«) oder einer immer gleichen sozialen Rolle zu verharren: Vi sono anime irrequiete, quasi in uno stato di fusione continua, che sdegnano di rapprendersi, d’irrigidirsi in questa o in quella forma di personalità. Ma anche per quelle piú quiete, che si sono adagiate in una o in un’altra forma, la fusione è sempre possible: il flusso della vita è in tutti.53 Nicht zu übersehen ist hier der bei Nietzsche und Pirandello gleichermaßen zentrale Gedanke, dass das natürliche Leben nur in einem Zustand des steten Fließens und Werdens bestehe und in dem Moment absterbe, sobald das Fließen zum Stillstand gebracht werde: »E la vita non conclude. Non può concludere. Se domani conclude, è finita.« (S. 1335). Die Natur betrachtet Moscarda daher als jene rauschende Lebenskraft, welche die menschlichen ›Konstruktionen‹ immer wieder zum Einstürzen bringe, während der Mensch für sie Dauerhaftigkeit beanspruche: »Troppo spesso la natura si diverte a buttare all’aria tutte le nostre ingegnose costruzioni. Cicloni, terremoti…« (S. 1316). Erstarre das Leben in einer festen ›Form‹, komme es zum Tod: »Perché ogni forma è una morte«, heißt es in der Novelle La carriola.54 Pirandellos Hauptinteresse gilt dabei natürlich dem Menschen selbst, dessen Lebendigkeit er mit dem Zwang der sozialen Rollen und Formen im Widerstreit sieht. Moscarda erlebt so z.B. bereits seinen Körper und Namen als zwanghafte Begrenzung seines Seins, welches er selbst als fließend und wandelbar 53 54
Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 152. Luigi Pirandello (1917): »La carriola«: ders., Novelle per un anno, Bd. 2 (Mailand: Mondadori 1958), S. 718.
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wahrnimmt.55 Besonders sein Name erscheint ihm als ›tote‹ Form, unfähig, dem fließenden Leben in ihm Ausdruck zu verleihen: Non è altro che questo, epigrafe funeraria, un nome. Conviene ai morti. A chi ha concluso. Io sono vivo e non concludo. La vita non conclude. E non sa di nomi, la vita. (S. 1415f) In jenem bereits erwähnten Interview, in welchem Pirandello Nietzsche das einzige Mal explizit nennt, vertritt er, wobei er interessanterweise auf die Vorsokratiker Parmenides und Heraklit Bezug nimmt, die These, dass das Leben auf einer »duplice contradditoria necessità« beruhe: »[…] essa deve consistere e nello stesso tempo, fluire«. Während das Leben einerseits nur auf der Grundlage fester Wesenheiten oder ›Formen‹ bestehe (Pirandello verweist auf Parmenides als »filosofo dell’ente immobile, dell’Uno«), dürfe sein Fließen und Werden – »il divenire« (Pirandello deutet auf Heraklit als »proclamatore della trasformazione, della instabilità, dell’eterno fluire« hin) – diesen Formen nicht zum Opfer fallen.56 Wie Nietzsche dringt Pirandello daher auf ein Gleichgewicht zwischen ›Form‹ – Nietzsche würde vom ›Apollinischen‹ sprechen – und Lebensfluss, d.h. Werden und Wandel. In dem Moment, in dem der Einzelne die äußere ›Form‹ seines Lebens wie eine ›Hülle‹ vor sich sehe, so Pirandello, sei das Leben aus ihr gewichen und das Leben müsse, wolle es nicht durch die ›tote‹ Form erstickt werden, zu neuen ›Formen‹ übergehen.57 Wer dagegen lebe – und Leben bedeute stets die Einbettung in die eine oder andere ›Form‹ –, der sehe sich nicht, sondern lebe: Ma se possiamo vederla, questa forma, è segno che la nostra vita non è più in essa: perché se fosse, noi non la vedremmo: la vivremmo, questa forma, senza vederla, e morremmo ogni giorno di più in essa, che è già per sé una morte, senza conoscerla. Possiamo dunque vedere e conoscere soltanto ciò che di noi è morto. Conoscersi è morire.58 55
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S. z.B. S. 1323ff: »Il nome, sia: brutto fino alla crudeltà. Moscarda. […] sempre c’erano per gli altri impliciti il mio nome e il mio corpo. […] per quanto potesse parermi stupido e odioso essere bollato così per sempre e non potermi dare un altro nome, tanti altri a piacere, che s’accordassero a volta a volta col vario atteggiarsi deʼ miei sentimenti e delle mie azioni […] Ma come quel corpo non me l’ero fatto io, come non me l’ero dato io quel nome, e nella vita ero stato messo da altri senza mia volontà; così, senza mia volontà, tant’altre cose m’erano venute sopra dentro, intorno, da altri […].« Giovanni Cavicchioli, »Introduzione a Pirandello«, S. 22. Der Übergang von einer Scheinrealität zur anderen entspricht bei Nietzsche dem sich selbst überwindenden ›Willen zur Macht‹, welcher das Leben der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ unterwirft. Vgl. Luigi Pirandello, »La carriola«, S. 718; s.a. Uno, nessuno e centomila, S. 1406: »La vita si muove di continuo, e non può mai veramente vedere se stessa. […] Quando uno vive, vive e non si vede.« Folglich betrachtet Moscarda das eigene, durch einen Spiegel oder eine Kamera reflektierte Spiegelbild als ›tote‹ Form, s. S. 1405f: »[Moscarda zu Anna Rosa] Perché bisogna
3 Luigi Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926)
Die Diskrepanz zwischen Form und Leben hat Nietzsche ausgerechnet im Bild des »fertig« »gebauten« »Hauses« eingefangen. So schreibt er in Jenseits von Gut und Böse: »Wenn man sich sein Haus fertig gebaut hat, merkt man, unversehens Etwas […], das man schlechterdings hätte wissen müssen, bevor man zu bauen – anfieng. Das ewige leidige ›Zu spät! Die Melancholie alles Fertigen!…« (JGB: Neuntes Hauptstück 277, KSA 5, 228f). Ähnlich wie bei Pirandello erscheint das ›Fertige‹, Vollendete oder Geordnete als das blasse, kränkliche Abbild des rauschenden, niemals stillstehenden Lebens. Nietzsche verdeutlicht dieses Missverhältnis am Beispiel von Sprache und Gedankenwelt: […] wir Verewiger der Dinge, welche sich schreiben lassen, was vermögen wir denn allein abzumalen? Ach, immer nur Das, was eben welk werden will und anfängt, sich zu verriechen! […] Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein! (ebd. 296, ebd., 239f) Erst am Ende von L’umorismo schließt sich der Kreis, welcher mit Pirandellos einleitender Frage nach der Bedeutung des Wortes ›Humor‹ seinen Ausgang genommen hatte. Schon die ersten Seiten hatten durchblicken lassen, dass sich Pirandellos Begriffsverständnis von der geläufigen Bedeutung einer heiteren, scherzhaften Geisteshaltung unterscheiden werde.59 Die etymologische Abstammung des Wortes umorismo von umore in der deutschen Bedeutung ›Feuchtigkeit‹ oder ›Flüssigkeit‹ setzt Pirandello dem ›Boden‹ oder der Vorbedingung des ›humoristischen‹ Denkens und Schreibens gleich: »L’opera d’arte è il germe che cadrà in questo terreno, e sorgerà, e si svillupperà nutrendosi dell’umore di esso […]«. Zu dieser zählt Pirandello überraschenderweise »un’amara esperienza della vita«, »una innata« oder »ereditata malinconia« sowie einen bestimmten Grad an »Pessimismus« und »Skeptizismus«.60 Der Kern der ›humoristischen‹ Auffassung besteht dabei in der bereits erläuterten Einsicht, dass das natürliche Leben entgegen aller menschlichen Wünschbarkeit in sich keinen Sinn oder Zweck aufweise, dass daher alles, was uns als Sinn, Ziel, Wahrheit und Wert gelte, rein menschlichen Ursprungs sei. Anders als die meisten Menschen kennzeichne sich der Humorist durch einen ausgeprägten Skeptizismus, welcher ihn sich und die Welt beständig infrage stellen lasse. Wie Nietzsche, der sich im Zuge seiner Kritik an Ratio und Wissenschaft paradoxerweise selbst rational-wissenschaftlicher Mittel bedient, entwirft Pirandello den ›Humoristen‹ als einen Menschen, der die Produkte des Verstandes gerade mithilfe seiner skeptischen Verstandestätigkeit entlarvt. Anders ausgedrückt entspringt die ›humoristische‹ Kritik derselben inneren ›favilla prometèa‹ oder ›lanternina‹,
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che lei fermi un attimo in sé la vita, per vedersi. Come davanti a una macchina fotografica. Lei s’atteggia. E attegiarsi è come diventare statua per un momento.« Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 20f. Ebd., S. 17 u. S. 133-137.
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welche die zu kritisierenden Illusionen primär erschafft. Pirandello kann Kopernikus, der das bis dahin gültige geozentrische Weltbild als Illusion bloßlegte, daher als einen der größten ›Humoristen‹ bezeichnen: »Uno dei più grandi umoristi, senza saperlo, fu Copernico, che smontò non propriamente la macchina dell’universo, ma l’orgogliosa immagine che ce n’eravamo fatta«.61 ›Humor‹ definiert Pirandello nun als das Zusammentreffen von »riflessione« und »sentimento«, welche in der »perplessità tra il pianto e il riso« ineinander verschlungen seien. Im Modus der »riflessione« nehme der ›Humorist in einem ersten Schritt einen Widerspruch zwischen der »vita reale« und einem bestimmten »ideale umano« wahr (»avvertimento del contrario«). Dieser bringe ihn zum Lachen. In einem weiteren jedoch gehe er diesem offensichtlichen Gegensatz auf den Grund und stoße dabei auf die Tragik des menschlichen Lebens. Ein plötzliches Gefühl des Mitleids durchfahre ihn und verwandle sein Lachen in ein verhaltenes Lächeln. Das »avvertimento del contrario« werde dadurch zum »sentimento del contrario«. Das ›humoristische‹ Schwanken zwischen Komik und Tragik veranschaulicht Pirandello am berühmten Beispiel der »vecchia signora«, welche sich auf unwürdige Weise wie ein junges Mädchen zurechtmacht: […] e mi suggerisce che quella vecchia signora non prova forse nessun piacere a pararsi così come un pappagallo, ma che forse ne soffre […] ecco che io non posso più riderne come prima […] Ed è tutta qui la differenza tra il comico e l’umoristico.62 Zum Paradebeispiel eines ›Humoristen‹, der die Illusionen seiner Gesellschaft durchschaut und gegen die ›Lüge‹ aufbegehrt, lässt Pirandello in Uno, nessuno e centomila, wie sich nun zeigen wird, seine Romanfigur Moscarda werden.
3.3
Die Auflehnung gegen die ›Form‹ und ihre Zerstörung
Indirekt führt Pirandello in Uno, nessuno e centomila die möglichen Auswirkungen der nietzscheanischen Infragestellung von Wahrheit auf das soziale Leben vor. So sehr fühlt sich der Protagonist durch die auf ihn einwirkenden Fremdbilder bedrängt, dass er sich nicht allein mit der Erkenntnis der Relativität aller Wahrheit zufriedengeben kann. Die Borniertheit, mit welcher seine Umwelt die jeweils eigene Realität nicht nur für die einzig wahre hält, sondern diese ihrem jeweiligen Gegenüber gewaltsam aufzwingt, löst in ihm ein Gefühl von Wut und Aggression aus: 61 62
Ebd., S. 156. Ebd., S. 123-127, v.a. S. 127.
3 Luigi Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926)
»Ma sí! è qui tutto,« pensavo, »in questa sopraffazione. Ciascuno vuole imporre agli altri quel mondo che ha dentro, come se fosse fuori, e che tutti debbano vederlo a suo modo, e che gli altri non possano esservi se non come li vede lui.« (S. 1354) Obgleich sich Moscarda, wie die meisten Figuren Pirandellos, im Laufe seiner Reflexionen zunehmend als gespalten und »nessuno« (z.B. S. 1320) fühlt, regt sich jenseits aller Rollen und Persönlichkeiten etwas in seinem Inneren – »il punto vivo« –, das trotz der eigenen Zerrissenheit den festen Willen in ihm wachruft, gegen den sozialen Zwang, dem er sich ausgesetzt sieht, zu rebellieren (S. 1378f).63 »[U]n impeto di feroce ribellione« lässt ihn den Plan fassen, zunächst die jeweiligen auf ihn projizierten Fremdbilder seiner Mitmenschen zu erkennen, und sie dann »a uno a uno« zu »zerstören«, indem er sich als das Gegenteil von dem zeigen wolle, was der jeweils andere in ihm sehe (S. 1323, vgl. S. 1301). In L’umorismo hatte Pirandello das Verhältnis von »sentimento« und »riflessione« mit jenem von »Körper« und »Schatten« verglichen: Wie der »Schatten« dem »Körper«, so folge die »riflessione« Schritt für Schritt dem »sentimento«. Der ›Schatten‹ steht hier nicht nur für die Relativität und Infragestellung des menschlichen Wissens, sondern allgemein für alles, was das menschliche Selbstverständnis und das damit verbundene Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit bedroht. Er stellt damit das Hauptaugenmerk des ›Humoristen‹ dar: »[L]ʼumorista bada al corpo e all’ombra, e talvolta più all’ombra che al corpo […] Quanto valga un’ombra l’umorista sa bene […]«.64 Das Bild des ›Schattens‹ wird in Uno, nessuno e centomila aufgegriffen, wenn sich Moscarda von einer Vielzahl von ›Schatten‹ verfolgt sieht – »quelle centomila ombre che mi rappresentavano in centomila modi« – und er den Plan fasst, diese ihm fremden »Schatten« seiner selbst zu zerstören (S. 1345). Nicht jedoch, um zu seinem etwaigen ›Ich‹ zurückzukehren – darüber ist Moscarda längst hinaus –, sondern um die jeweilige Sichtweise seiner Mitmenschen als begrenzt und engstirnig zu enttarnen und sich selbst vom Zwang der Fremdzuschreibungen zu befreien (vgl. ebd.). Seinen Mitmenschen und deren starren Formen steht Moscarda zunehmend mit einem Gefühl von Ekel und Widerwillen gegenüber, welches sich in regelrechten Ausbrüchen des Wahnsinns oder der Gewalt entlädt. Immer wieder versucht er, die Realität seiner Mitmenschen durch auffällige Verhaltensweisen und Fragen ins Wanken zu bringen. Vor seinem Notar kann er sich gerade noch zurückhalten, Grimassen zu schneiden oder ihm die Zunge herauszustrecken, während er ihn durch insistierende Fragen bezüglich eines im Raum befindlichen Kanarienvogels bereits sichtlich verunsichert (S. 1347f). Ein Blick (»due occhi«), ein »Wort« oder 63
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Pirandello gehe, so Michael Rössner, von einer jenseits aller Masken im Innersten des Menschen vorhandenen Persönlichkeitsschicht aus, welche unter den ihr auferlegten Masken leide und gegen sie rebelliere, s. Michael Rössner, »Nietzsche und Pirandello«, S. 15f. Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 160.
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ein »Tonfall« genüge, so Moscarda, um seinem Gegenüber die Sicherheit zu nehmen und ihm vor Augen zu führen, dass er mit seiner Sicht- und Handlungsweise vielleicht allein sei (S. 1373). Wie häufig im Werk Pirandellos fungiert auch in Uno, nessuno e centomila der Wahnsinn als »Evasionsmöglichkeit« aus der als zwanghaft empfundenen »›objektiven‹ Welt und Wirklichkeit«.65 Moscarda, dessen Verhalten nach außen tatsächlich Züge des Wahnsinns erkennen lässt, weist Firbo, den Teilhaber der Bank, als dieser ihn »pazzo« nennt (S. 1353), mit scharfen Ton zurecht, er und der Rest der Welt sollte vor den »sogenannten Verrückten«, so etwa Firbos psychisch kranker Frau, auf den Knien liegen, statt sich in überheblicher Weise von ihnen abzugrenzen: »[D]avanti a tua moglie, capisci? dovresti star cosí! E io, e lui, e tutti quanti, davanti ai cosí detti pazzi, cosí!« (S. 1355). Eine ähnlich positive Wertung des Attributs »pazzo« findet sich gegen Ende des Romans, als Moscarda im Gespräch mit Bischof Partanna, vom Fenster aus sehnsüchtig zu einem Mann hinübersieht, der gleich einem »Verrückten«, mit einer roten Decke über dem Rücken an einer Brüstung steht und offensichtlich im Glauben zu fliegen, sich vom Wind peitschen lässt. Auf die Bemerkung des Bischofs »Ah, sí: è un povero pazzo che sta lí«, kann Moscarda gerade noch ein »Quel pazzo che vuol volare sono io« unterdrücken, während ihm wenig später, als der Bischof noch einmal das Verhalten des Mannes kommentiert, ein »Come me« entschlüpft (S. 1402). Wie in anderen Werken Pirandellos führt das Leiden unter der Form auch in Uno, nessuno e centomila mitunter bis hin zu gewalttätigen Ausbrüchen des Protagonisten gegen seine Umwelt.66 Moscarda, der die Blicke seiner Mitmenschen nicht mehr erträgt, tritt so nach seinem unschuldigen Hund, nur weil dieser zu ihm aufschaut: »Il calcio poc’anzi sparato alla povera bestiolina perché mi guardava, Dio me lo perdoni, mi veniva di spararlo a tutti quanti.« (S. 1371). Und ein weiteres Mal verliert Moscarda die Beherrschung, als seine Frau Dida, statt ihm beizustehen, über ihn lacht, und so endgültig unter Beweis stellt, wie wenig ernst sie ihren ›Gengé‹ nimmt. Besonders die Tatsache, auch von seiner Frau missverstanden zu werden, lässt ihn außer sich geraten, so dass er sie mit den Worten »Finiscila tu, col tuo Gengé che non sono io, non sono io, non sono io! Basta con codesta marionetta!« (S. 1381) an den Handgelenken packt und sie auf ihren Sessel zurückwirft. Nicht nur mit der Realität des dümmlichen ›Gengés‹, welche seine Frau und sein Schwiegervater auf ihn projizieren, möchte Moscarda aufräumen, sondern auch mit dem Ruf des Wucherers, welchen er, ohne eigentlich in die Machenschaften der Bank und ihrer Teilhaber eingebunden zu sein, unter seinen Mitbürgern innehat. Sein Vorgehen besteht dabei darin, die ihm jeweils übertragene und als solche erkannte Identität in seinem 65 66
Michael Rössner: Pirandello Mythenstürzer. Fort vom Mythos. Mit Hilfe des Mythos. Hin zum Mythos (Wien [u.a.]: Böhlau 1980), S. 152f. Vgl. Michael Rössner, Pirandello Mythenstürzer, S. 123.
3 Luigi Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926)
Gegenüber wachzurufen, um sich dann als ihr Gegenteil zu zeigen. Zum Opfer seines Hauptexperiments werden ihm Marco di Dio und dessen Frau Diamante (»le prime mie vittime […] designate all’esperimento della distruzione d’un Moscarda«), in welchen Moscarda mehr als in allen anderen, seiner Person gegenüber ein Gefühl des Ressentiments wahrzunehmen glaubt. Während die mittellosen Eheleute Moscardas Vater, der sich ihnen über Jahre großzügig gezeigt hatte (unter anderem hatte er ihnen eine kostenlose Unterkunft zur Verfügung gestellt), eigentlich zu Dank verpflichtet wären, nehmen sie ihm nicht nur die plötzliche Verweigerung dieser Großzügigkeit übel, sondern machen ihn, wie nun seinen Sohn, allgemein für ihr Scheitern verantwortlich. Als Rache verbreiten sie das Gerücht, Moscarda sei, gleich seinem Vater, ein ›Wucherer‹. Ohne irgendjemanden im Voraus in seine Pläne einzuweihen, erscheint Moscarda, der sich bislang nie in die Geschäfte seines Vaters eingemischt hatte, im Hauptsitz der Bank, wo er die Teilhaber und Geschäftsführer Firbo und Quantorzo anherrscht, er habe erfahren, dass Marco di Dio keine Miete bezahle, was er unmöglich dulde. Mit den Worten »Il padrone sono io, e comando io.« (S. 1357) entkräftet er die Einwände der verblüfften Geschäftsführer und verkehrt im Nu deren gesamtes Weltbild. Hatten sie Moscarda bislang als passiven und manipulierbaren Inhaber gekannt, der wortwörtlich all ihre Entscheidungen blind unterschrieb (S. 1331), stellt er durch sein bestimmtes Auftreten unter Beweis, dass er durchaus einen eigenen, von seinem Vater und allen anderen unabhängigen Willen besitze und somit weniger teilnahmslos sei, als bisher erwartet (S. 1357). Im Folgenden ordnet Moscarda die komplette Räumung der Wohnung der Di Dios an, welche wenige Tage später vor den Augen versammelter Schaulustiger in Moscardas Anwesenheit vollzogen wird. Während die erzürnte Menge noch »Morte! Abbasso! […] Usurajo! Usurajo!« (S. 1361) ruft, verkündet ein Abgesandter des Notars Stampa, mit welchem Moscarda zuvor verhandelt hatte – der Leser wird über Moscardas Vorhaben bis dahin im Unklaren gelassen –, die Schenkung einer geräumigen Wohnung inklusive eines Geldbetrags für die Einrichtung einer Werkstatt, in welcher Di Dio seiner künstlerischen Tätigkeit nachgehen könne (S. 1361f). Vor dem inneren Auge aller Beteiligten verkehrt sich dadurch das Bild des ›Wucherers‹ in sein genaues Gegenteil. Während Moscardas Tat eigentlich darauf abzielt, seine Mitmenschen davon zu überzeugen, sich in ihm geirrt zu haben,67 ruft sie allseits Fassungslosigkeit, wenn nicht Angst hervor, so etwa in Marco di Dio, der selbst dem Wahnsinn nahe, halb lachend, halb weinend auf Moscarda zustürzt und dabei »Pazzo! Pazzo! Pazzo!« (S. 1362) schreit, oder später in Dida und Quantorzo, die sich mit bleichen Gesichtern ratlose Blicke zuwerfen: 67
»Perché avevo voluto dimostrare, che potevo, anche per gli altri, non essere quello che mi si credeva.« (S. 1362).
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Dida mi guardò subito incerta, poi guardò Quantorzo; poi di nuovo me; e infine domandò, con apprensione: – Ma insomma, che hai fatto? […] [Quantorzo] mi parve pallidissimo. […] Quantorzo, allora, rimasto come a mezz’aria, vagellò […] Ora Dida, seguitando a guardare accigliata un pò me e un pò Quantorzo, dava a vedere chiaramente che non sapeva piú che pensare cosí di lui come di me. […] (S. 1374ff) Statt ihm Verständnis entgegenzubringen, erklärt ihn jedermann, seine Frau eingeschlossen, schlichtweg für verrückt: »Dev’essersi impazzito!« (S. 1357), so das allgemeine Urteil. Während Dida zunächst versucht, die Vorkommnisse einem »momentaneo capriccio da innocuo sciocco« (S. 1364) zuzuschreiben, stellt Moscarda bald klar, dass er mehr ist als die Figur des dümmlichen, willensschwachen Ehemanns: »Basta con codesta marionetta! Voglio quello che voglio; e come voglio sarà fatto!« (S. 1381). Dass sich Dida in dem Augenblick von ihm abwendet, in welchem er sich von Didas Gengé-Bild entfernt, ist Moscarda ein Beweis für die Richtigkeit seiner Theorie, dass sich Partner im Grunde fremd bleiben, d.h. dass Dida nicht eigentlich ihn, sondern ihr eigenes Bild von ihm geliebt habe (S. 1384). Als Moscarda schließlich zur Bestürzung aller, die Liquidation der Bank veranlasst (S. 1378f), ist er am Ende seines Plans angelangt. Schrittweise ist es ihm gelungen, sich aus den zwanghaften Formen zu lösen, ja diese zu zerstören, um endlich frei von all jenen Blicken leben zu können, die ihn in der einen oder anderen Weise beurteilten oder festschrieben. Die nietzscheanische Destruktion oder Dekonstruktion von Wahrheit wird in Uno, nessuno e centomila somit ›erzählt‹ und konkret bis in ihre möglichen lebenswirklichen Konsequenzen durchgespielt. Analog zu Nietzsche »stürzt« Pirandello im Laufe seines Werks, wie Michael Rössner festgestellt hat, die »Kernmythen« des »logischen Bewusstseins«.68 Wahrheit, Wirklichkeit, das Subjekt, soziale Konventionen und Rollen sowie die Kirche als Institution und Dogma werden der Reihe nach infrage gestellt und als menschliche Kunstprodukte entlarvt. Der Buchtitel Pirandello Mythenstürzer lässt dabei erkennen, dass Michael Rössner mit jenem weiten Mythosbegriff arbeitet, der alle menschlichen Hervorbringungen, d.h. neben der im engeren Sinne mythischen, auch die wissenschaftlich-metaphysische Anschauungsweise als ›mythisch‹ betrachtet. Da auch Rössners Argumentation – wie der Untertitel seiner Arbeit Fort vom Mythos. Mit Hilfe des Mythos. Hin zum Mythos zeigt – darauf abzielt, Pirandellos Bewegung von den »toten, erstarrten Mythen«69 oder Dogmen, hin zu ursprünglichen Naturmythen nachzuzeichnen, scheint es zur Differenzierung der beiden Mythos-Typen hilfreich, Marquards begriffliche Unterscheidung von »Monomythen« und »Polymythen« heranzuziehen.70 Moscardas Auflehnung gegen die ›Formen‹ des sozialen Miteinanders, aus welchen er sich sukzessive löst, entspricht demnach dem Kampf gegen die Vorherrschaft 68 69 70
Michael Rössner, »Nietzsche und Pirandello«, v.a. S. 17. Michael Rössner, Pirandello Mythenstürzer, S. 276. Odo Marquard, »Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie«, S. 226-238.
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der ›Monomythen‹ sowie schließlich ihrer Zerstörung und Verabschiedung. Der in Nietzsches und Pirandellos Denken gleichermaßen vorhandene Drang, gegen bestehende Konventionen aufzubegehren und den Menschen neu zu erschaffen, ist, wie Michael Rössner richtig erkannt hat, »der Punkt, an dem beide Gedankenwege in den Faschismus einmünden können«.71 Pirandello, der Mussolini 1924 öffentlich um die Aufnahme in die faschistische Partei Italiens bittet, erklärt in einem kurzen Artikel bereits ein Jahr zuvor, Mussolini habe wie er die »tragedia della vita« und den Konflikt zwischen ›Form‹ und ›Leben‹ verstanden und das Revolutionäre seiner Partei bestehe in der Umsetzung dieser »concezione della vita«.72 Nicht anders als bei Nietzsche ergibt sich dadurch auch bei Pirandello die paradoxe Situation, dass eine dem Nonkonformismus und dem Kampf gegen Dogma, Zwang und Gewalt entspringende Lebenskonzeption in der Praxis ausgerechnet selbst in Dogma und Gewalt umzuschwenken vermag. Wie bei Nietzsche folgt auf Pirandellos Wahrheitsdestruktion und die zeitweilige Befreiung von Zwang und sozialer Unaufrichtigkeit das ganze Ausmaß der tragischen Erkenntnis. Obgleich Pirandellos Figuren das Wissen um die Nichtexistenz absoluter Wahrheiten und den steten Wandel allen Seins der sozialen Lüge vorziehen, erleben sie es dennoch als äußerst schmerzhaft. Als sich Moscarda zum Entsetzen seiner Geschäftspartner, Zugriff zu den für die Schenkung notwendigen Akten verschafft, überfällt ihn so etwa das Gefühl, zum Dieb seiner selbst zu werden. Sein bisheriges ›Ich‹ wird zum Opfer eines anderen, welches sein Inneres spaltet. Gleich dem durch Nietzsche beschriebenen ›dionysischen Menschen‹, welcher mit der grauenhaften Erfahrung des »Zerbrechens seines principii individuationis« (GT 1, KSA 1, 28) konfrontiert wird, erfasst Moscarda ein Schaudern, als er sich bewusst wird, dass sein Tun seine bisherige Existenz vollständig auslöschen wird.73 Nachdem er öffentlich zum Ausdruck gebracht hat, wer und was er sein möchte und was nicht, erfüllt ihn zunächst ein Gefühl der Erleichterung: »Sono libero! Se n’è andata via!« (S. 1384), entfährt es ihm, als er begreift, dass ihn seine Frau verlassen hat. Schnell wird er sich jedoch der tragischen Konsequenz seiner Handlungen bewusst. Moscarda muss einsehen, dass ihn das Aufbegehren gegen die herrschenden ›Formen‹ sowohl seiner Familie, seines sozialen Standes und aller Sicherheit beraubt hat: »[…] mi gettavano in un mare d’incertezze senza fine su ciò che sarebbe stato di me, spogliato di tutto, senza piú né stato, né famiglia.« (S. 1404). Von allen ihm nahestehenden Personen verlassen, muss er sich nun in erster Linie der mit der Schließung der Bank einhergehenden existenziell-finanziellen Problematik stellen. Während er die Möglichkeit 71 72 73
Michael Rössner, »Nietzsche und Pirandello«, S. 21. Luigi Pirandello, »La vita creata«, S. 1249. S. S. 1358f: »[…] e la vista delle mie mani che aprivano gli sportelli di quello scaffale mi diede un brivido alla schiena. Serrai i denti […] che mi vidi – e n’ebbi un brivido. Ladro! Rubavo. Rubavo veramente. […]«.
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neuer beruflicher Realisierungen abwägt, wird er sich schnell darüber klar, dass der Wechsel seiner Profession bzw. seiner Identität seinen inneren Konflikt nicht lösen, sondern fortschreiben würde. Auch ein neues Leben würde ihn Zwängen und Fremdurteilen aussetzen, welche er – dessen ist sich Moscarda sicher – nicht mehr ertragen könnte: Sapevo […] che a mettermi in nuove condizioni di vita, a rappresentarmi agli altri domani da medico, poniamo, o da avvocato o da professore, non mi sarei ugualmente ritrovato né uno per tutti né io stesso mai nella veste e nelle atti di nessuna di quelle professioni. Troppo ero già compreso dall’orrore di chiudermi nella prigione d’una forma qualunque. (S. 1389) Moscarda verlangt es nach einem Leben jenseits aller Festschreibungen und Zuweisungen oder mit Nietzsches Worten, nach einem Leben ›jenseits von Gut und Böse‹. Als er von Anna Rosa erfährt, dass seine Frau, sein Schwiegervater und seine ehemaligen Geschäftspartner ihn für wahnsinnig und somit für unmündig zu erklären beabsichtigen, um die Bank und ihre eigene finanzielle Existenz zu retten (S. 1336f), begreift Moscarda, dass sein Verhalten einer auf gesellschaftlicher Ebene akzeptablen Rechtfertigung bedürfe, welche ihn vor dem Irrenhaus und dem Verlust der eigenen Selbstbestimmung bewahre. Auf den Rat Anna Rosas hin, wendet er sich daher Hilfe suchend an Bischof Partanna, welcher zwar Repräsentant des von Moscarda kritisch betrachteten »Dio di fuori«, der katholischen Kirche als Dogma und Institution ist, welcher als solcher jedoch zu der allein auf rationalen Gesichtspunkten basierenden Gesellschaft ein gewisses Gegengewicht bildet. Indem Moscarda einwilligt, mit den aus der Liquidation der Bank hervorgehenden Geldmitteln ein Armenhaus zu gründen, in welchem er ohne Familie und aller Reichtümer entblößt, selbst leben werde, kann er seine Tat als ein Beispiel der »Reue« und der »Entsagung« darstellen (S. 1414). Mithilfe der verwissenschaftlichten Religion der ›Baukunst‹ (»il Dio di fuori«, S. 1399) gelingt es ihm, seinen inneren Konflikt auch auf gesellschaftlicher Ebene einer Lösung zuzuführen.74 Dem durch Bischof Partanna vertretenen »Dio di fuori« stellt er den »Dio di dentro« (S. 1399), das ›innere‹ Gottesgefühl gegenüber. Dieser ›Dio di dentro‹ entspricht bei Pirandello weniger der Vorstellung eines persönlichen Gottes, als vielmehr dem im Innersten jeder noch so zersplitterten Persönlichkeit verborgenen Ich-Gefühl, welches als etwas Heiliges zu erkennen und zu erfahren, Nietzsches ganzes Anliegen war.75 Wie Nietzsche begreift Pirandello das ›Göttliche‹ daher letztlich als eine dem 74
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S. S. 1402f: »Il Dio, a cui ero venuto a ricorrere per ajuto e protezione, era appunto quello che costruiva. Mi avrebbe dato, sí, una mano per farmi riavere il danaro, ma a patto ch’esso servisse alla costruzione di almeno una casa […]. Monsignore, al termine del nostro colloquio, mi domandò con aria solenne se non volevo questo. Dovetti rispondergli che volevo questo.« Nietzsche erkennt in der »Selbstsucht« (z.B. EH: Warum ich so klug bin 9, KSA 6, 293), dem »Selbstgefühl« (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 37, KSA 6, 138) und der »Selbstbesin-
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Menschen entspringende Kraft. Moscarda setzt den »Dio di dentro« einem »punto vivo« gleich, welcher sein Innerstes zusammenhält (z.B. S. 1399). Dieser »punto vivo« hatte ihn dazu bewogen, sich zu verteidigen, aufzubegehren und sich zur Wehr zu setzen, und lässt ihn nach der Zerstörung der ›Monomythen‹ schließlich auch die Trauer und tragische Erkenntnis spüren. Besonders schmerzhaft empfindet Moscarda dabei die Trennung von seiner Frau, die er trotz aller vorhandenen Unstimmigkeiten und Verständnisschwierigkeiten als Teil dieses »punto vivo« in ihm liebt (S. 1383). Da, wie der erste große Teil der vorliegenden Arbeit zeigen konnte, auch Nietzsche das Leiden des Menschen eindringlich behandelt, und zwar sowohl als Ausgangspunkt als auch als Folge der Wahrheitsdestruktion,76 soll hier davon ausgegangen werden, dass Nietzsche und Pirandello weniger »Differenzen« trennen, als sie Michael Rössner in seinem Vergleich der beiden »Denk-Charaktere« zu erkennen glaubt. Die Meinung, Nietzsches ›Übermensch‹ lasse sich, im Unterschied zu Pirandellos Figuren, nicht auf eine eigentlich »authentische Rolle« zurückführen, denn er verwirkliche sich allein nach dem Wertmesser der höchsten »Macht« immer wieder aufs Neue, bzw. der »Überwindung« der »Herden-Moral« bei Nietzsche stehe das »Leid« des »authentischen Menschen« bei Pirandello gegenüber,77 lässt außer Acht, dass Nietzsches gedanklicher Weg nicht nur wie jener Pirandellos aus dem Leid am Nihilismus der modernen Gesellschaft hervorgeht, sondern dass sich das ›Übermenschliche‹ bei Nietzsche gerade dadurch auszeichnet, das Leiden zuzulassen, es jedoch zu überwinden und es schließlich in sein Gegenteil, das Glück, zu verkehren. Wenn auch Nietzsches Rhetorik immer wieder den Anschein der Härte vermittelt, lässt sich in seinem Denken jenseits aller Beteuerungen und ›Masken‹, wie in jenem Pirandellos, etwas zutiefst Menschliches erkennen.
3.4
Vitangelo Moscarda als tragikomischer Held
Hatte bereits Nietzsches Philosophie in Form der ›Parodie‹ tragische und komischheitere Aspekte miteinander verknüpft, so beruht auch Pirandellos Konzept des ›Humors‹ auf einer Verquickung von Komik und Tragik. Die durch die riflessione ausgelöste Erheiterung zeigt sich bei Pirandello aufgrund des zugleich einsetzenden sentimento als verhaltenes Lachen. Obgleich es in Uno, nessuno e centomila streng genommen Moscarda ist, der mithilfe seiner riflessione die vorherrschenden
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nung« (EH: Morgenröthe 2, KSA 6, 330) den entscheidenden Wesenszug des mystischen ›Übermenschen‹. Vgl. Textstellen, die sich mit dem »Schatten« und »Wanderer« befassen (s. z.B. FW: Viertes Buch 309, KSA 3, 545; Za IV: Der Schatten, KSA 4, 340f.) bzw. die Beteuerungen der Härte, mit denen der ›Übermensch‹ sich und sein Leid immer wieder zu überwinden versucht. Michael Rössner, »Nietzsche und Pirandello«, v.a. S. 16, 20 u. 22.
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›Monomythen‹ als Lügen durchschaut, ist der Protagonist zu sehr persönlich involviert, als dass seine Einsichten in ihm Heiterkeit hervorrufen. Das ›Humoristische‹ des Romans erschließt sich daher eher dem Leser, welcher den Kontrast zwischen Moscardas Verhalten (als Folge seiner philosophischen Erkenntnisse) und dem allgemeinen bon sens bzw. zwischen Moscardas tiefgründigen Überlegungen und deren praktisch-lebenswirklichen Konsequenzen erkennt. Moscarda selbst kann vor diesem Hintergrund als tragikomischer (Anti-)Held bezeichnet werden. Während seine Einsichten eigentlich tragischer Natur sind, gewinnen die Verhaltensweisen, welche diese in ihm auslösen, dem ›Zuschauer‹78 nicht selten ein Schmunzeln ab. Komisch wirkt so etwa bereits der Anfang des Romans, als Moscardas Weltverständnis durch eine scheinbare Kleinigkeit, die Entdeckung eines körperlichen Mangels, ins Wanken gerät, woraufhin er beginnt, sein jeweiliges Gegenüber mit beharrlichen Fragen bezüglich seines Körpers zu bedrängen (vgl. S. 1287ff) bzw. vor dem Spiegel bizarre Experimente zu vollführen. Moscardas Erkenntnis der inneren Gespaltenheit des Subjekts wird zum Ausgangspunkt verschiedener absurder Situationen, so etwa als Moscarda seinem Spiegelbild, in welchem er sich während eines plötzlichen Niesanfalls für einen Moment als Fremden erhascht, »Gesundheit« zuruft (S. 1300), oder als ihn der Gedanke, dass die Liebe seiner Frau ausschließlich ihrem ›Gengé‹ gilt, der im Grunde niemand anderer als er selbst ist, mit Eifersucht erfüllt (S. 1321). Dies erklärt auch, warum Moscarda das Gefühl befällt, sich selbst zu bestehlen, als er sich Akten des Bankarchivs bemächtigt, welche ihm rechtmäßig zustehen (S. 1358f), und warum er mit den Worten »Eccoci qua!« den Raum betritt, wobei Dida und Quantorzo natürlich nicht verstehen, dass er sich mit seiner Äußerung nicht auf die Gesamtheit der anwesenden Personen, sondern auf die verschiedenen in ihm vereinten Persönlichkeiten bezieht (S. 1372). Den Effekt des Komischen erzielen auch um Objektivität bemühte Schilderungen des Ich-Erzählers, welcher angesichts der Einsicht in die Unbestimmbarkeit von Wahrheit und die Schwierigkeit der gegenseitigen Verständigung, an den wenigen, greifbaren Konstanten des Lebens, wie etwa bestimmten Begriffen, Orts- und Zeitangaben festzuhalten versucht: »Dico ›azzurri‹; anche voi dite ›azzurri‹, non è vero? D’accordo. […] ›verde‹ eh? per voi e per me ›verde‹: diciamo così, che c’intendiamo a maraviglia […].« (S. 1312, vgl. a. S. 1332 u. 1346). Der absurde Kontrast zwischen Moscardas Lebensanschauung ›jenseits von Gut und Böse‹ und der bürgerlich-rationalen Denkweise wird besonders deutlich in den Szenen, in denen Moscarda auf Notar Stampa und später auf den nicht näher benannten Richter trifft. Weder der Notar noch der Richter begreifen von der Warte ihres vernünftigen Lebens aus, was Moscarda mit seinen insistierenden Fragen und Anspielungen bezweckt. Während Moscarda beabsichtigt, seinem Gesprächspartner die gewohnte Sicherheit zu nehmen, erweckt sein Auftreten nach außen den Anschein des Wahnsinns, 78
Dies sowohl im Leser als auch in den übrigen Figuren.
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so etwa, als Moscarda Stampa fragt, wie er ihn laufen sehe und daraufhin einen Monolog über Pferde hält (S. 1349f) oder als er den Richter immer wieder auf seine grüne Wolldecke aufmerksam macht (S. 1412f). Komisch wirkt schließlich auch das Ende des Romans, als Moscarda, der ehemalige Bankierssohn, im Armenkittel und in Holzschuhen – die Analogie zu Nietzsches Jesusdarstellung drängt sich auf – vor die ihn verlachende Menge tritt (S. 1415). Sein freiwilliger, materieller und affektiver Verzicht scheint dabei in keinem Verhältnis weder zu christlich-religiösen Motiven (wie die Menge annimmt), noch zu seinen philosophischen Überlegungen zu stehen. Dass das Heitere jedoch stets mit der Tragik der Wahrheitserkenntnis verbunden bleibt und daher nicht eigentlich ›Komik‹, sondern wenn überhaupt ›Humor‹ ist, das solle der Leser, so der Ich-Erzähler, am eigenen Leib erfahren. Wie viele andere Male zielt der Roman auch hier darauf ab, den Leser der realen Lebenswirklichkeit in die Fiktion zu transponieren: E sono contento che or ora, mentre stavate a leggere questo mio libretto col sorriso un poʼ canzonatorio che fin da principio ha accompagnato la vostra lettura, due visite, una dentro l’altra, siano venute improvvisamente a dimostrarvi quant’era sciocco quel vostro sorriso. (S. 1337f) Trotz dieser grundsätzlichen Parallelen sind Pirandellos ›Humor‹ und Nietzsches Tragikomik nicht völlig identisch. Dass das heitere Element bzw. das ›Lachen‹ bei Nietzsche überschwänglicher ausfällt, findet seine Ursache wahrscheinlich in der Umkehr des pirandellianischen Humor-Konzepts. Während Pirandello das Heitere durch das Traurige getrübt sieht, somit das weinende Auge dem lachenden nachfolgt, betrachtet Nietzsche die »Heiterkeit« als den »Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst« (GM: Vorrede 7, KSA 5, 255), so dass das ›Lachen‹ schließlich über das Traurige triumphiert.
3.5
Lösung von der Form und dionysisches Verschmelzen mit der Natur
Nicht anders als Nietzsches Denken verharrt auch jenes Pirandellos nicht in der auf den Verlust von Wahrheit und Sinn folgenden Tragik und Verzweiflung, sondern setzt dieser ein Sein entgegen, in welchem der existenzielle Schmerz von Formgebung und -auflösung (in Nietzsches Terminologie der Wechsel von ›Apollinischem‹ und ›Dionysischem‹) endgültig überwunden wird. Uno, nessuno e centomila greift dabei den bereits in L’umorismo herausgearbeiteten und an mythischvorsokratische Vorstellungen erinnernden Entwurf des rauschenden Lebensflusses erneut auf, welcher die Konstrukte des menschlichen Intellekts periodisch zunich-
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temache.79 Schon zu Beginn des Romans lädt Moscarda den Leser dazu ein, dem »mondo costruito« zu entfliehen und in die Natur hinauszufahren (S. 1312f). Wie Nietzsche geht Pirandello davon aus, dass die menschliche Verstandestätigkeit auf künstlichen Begrenzungen und Gegensätzen beruhe80 und daher die unbegrenzte kosmische »vita universale, eterna« nur in Ausschnitten wiedergebe. Mit dem Tod und dem Erlöschen des menschlichen Bewusstseins würde der Mensch, so Pirandello in L’umorismo, mit eben dieser »vita universale, eterna« eins werden, welche ihn bereits während seines Lebens umgebe, ohne dass er sich ihrer gewahr werde.81 Uno, nessuno e centomila beschreibt das Wonnegefühl, welches den Menschen befällt, sobald es ihm, wenn auch nur für Augenblicke, gelingt, sich inmitten der Natur dem Vergessen aller Konstrukte und Zeitkategorien hinzugeben und so Teil der ›fließenden‹ Natur zu werden: Vi sentite sciogliere, vi abbandonate. […] Ah, non aver piú coscienza d’essere, come una pietra, come una pianta! Non ricordarsi piú neanche del proprio nome! Sdrajati qua sull’erba, con le mani intrecciate alla nuca, guardare nel cielo azzurro le bianche nuvole […] udire il vento che fa lassú, tra i castagni del bosco, come un fragor di mare. Nuvole e vento. (S. 1313) Ohne wie in dem bereits zitierten Interview vorsokratische Lehren zu nennen, evoziert Pirandello an dieser Stelle die milesisch-herakliteische Vorstellung des zyklischen Durchlaufens der Aggregatszustände von Wasser, welches zum Symbol des kosmischen Lebensflusses schlechthin wird: »[…] voi potete, cari miei, pensare anche alla vicenda dell’acqua […] che divien nuvola per divenir poi acqua di nuovo […].« (S. 1314). Als Moscarda in die Archive der Bank eindringt, fühlt er sich durch die plötzliche Eingebung eines Erinnerungsbildes aus seiner Kindheit bestärkt: […] udivo come da una infinita lontananza, nel vento che doveva essersi levato fuori, il lamentoso chioccolare d’una gallina che aveva fatto l’uovo, e che quel chioccolío mi richiamò a una mia campagna, dove non ero piú stato fin dall’infanzia […] (S. 1359) Die freie Natur wird hier zum Gegenmodell der konstruierten Welt der ›Formen‹, welcher Moscarda zu entfliehen bestrebt ist. Jenseits aller Vernunft erwacht in ihm ein naturwüchsiges Prinzip des Lebens, »il punto vivo«, welches ihn gegen jede 79
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S. Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 151: »La vita è un flusso continuo che noi cerchiamo d’arrestare, di fissare in forme stabili e determinate, dentro e fuori di noi […]. Ma dentro di noi stessi […] il flusso continua, indistinto, sotto gli argini, oltre i limiti che noi imponiamo […]. In certi momenti tempestosi, investite dal flusso, tutte quelle nostre forme fittizie crollano miseramente […]«. S.a. Uno, nessuno e centomila, S. 1316: »Troppo spesso la natura si diverte a buttare all’aria tutte le nostre ingegnose costruzioni.« Nietzsche definierte die platonisch-christliche Metaphysik als das ›Denken in Gegensätzen‹. Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 155f.
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Art von Begrenzung und Unterordnung aufbegehren lässt. Pirandello entwirft in Uno, nessuno e centomila einen Naturmythos, welcher sich – um in Marquards Begrifflichkeiten zu sprechen – von den ›monomythischen‹ Dogmen und Wahrheiten abgrenzt und stattdessen auf Pluralität und Wandel beruht. Dieser ›Polymythos‹ als die eigentlich mythische Denkweise entspricht Nietzsches apollinisch-dionysischem Lebenskreislauf, welcher in der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ resultiert. Ähnlich Nietzsches ›ewiger Wiederkehr‹ präsentiert sich Pirandellos ›Polymythos‹ als eine gleichsam mystische Ontologie. Das ›Metaphysische‹ dieser Ontologie wird dabei in Pirandellos Neologismus des »Dio di dentro« deutlich, welcher als das »innere« »Gottesgefühl« mit dem »punto vivo« jedes Einzelnen identifiziert wird (S. 1399). Wie bei Nietzsche erscheint ›Gott‹ somit nicht als eine dem Sein transzendente und unabhängige Größe, sondern als ein alles lebendige Sein durchflutendes göttliches Prinzip. Nicht nur die ›fließende‹ Natur als die »vita [che] si muove di continuo« (S. 1406) ist daher ›göttlich‹, sondern auch der sich in einem Akt der Selbstbesinnung als Teil der Natur fühlende Einzelmensch: »Quel punto vivo che s’era sentito ferire in me […] era Dio senza alcun dubbio: Dio che s’era sentito ferire in me […].« (S. 1399). Dieser ›Gott‹ in Moscarda erweist sich als »nemico di tutte le costruzioni« (S. 1402) und strebt stattdessen nach Freiheit und Bewegung. Er ist der ›Gott‹ des nietzscheanischen ›Zusammenfalls aller Gegensätze‹, welchen zuerst Nikolaus von Kues gelehrt hatte. Am Ende gelingt es Moscarda nicht nur, sich von allen äußeren Formen seines bisherigen Lebens zu lösen, sondern auf Dauer eine Daseinsform zu finden, die es ihm erlaubt, ganz mit dem Naturkreislauf zu verschmelzen. Immer mehr gewinnt Moscarda dabei Züge des in sich ruhenden ›jesuanischen Übermenschen‹, welcher alles Leid überwunden hat und sich und die Welt im Zustand eines zeitenthobenen Glücks erlebt. Mit einer grünen Wolldecke auf den Knien, über welche er sanft streicht, den Blick aus dem Fenster gerichtet, wobei er ihn über das Blau des Himmels und die weiten Felder schweifen lässt, überfällt Moscarda das Gefühl, selbst ein Teil der Natur zu werden und dabei alle Gedanken und Erinnerungen hinter sich zu lassen (S. 1412). Als ihn in diesem Zustand der Richter überrascht und ihm Fragen zu seiner Lebensanschauung stellt, gibt ihm Moscarda leicht spöttisch zu bedenken, er tue, um sein Amt und sein auf künstlichen »Grenzen« und »Dämmen« beruhendes Leben nicht zu gefährden, gut daran, sich vor dieser Anschauung zu hüten. Jene ›Grenzen‹ und ›Dämme‹ könnten nämlich einbrechen und alles mit sich reißen,82 dies wisse er selbst aus Erfahrung: 82
»È bene che lei si turi gli orecchi per non udire il terribile fragore d’una certa rapina sotto gli argini, oltre i limiti che lei, da buon giudice, s’è tracciati e imposti per comporre la sua scrupolissima coscienza. Possono crollare, sa? in un momento di tempesta […] (S. 1412); vgl. dazu Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 151f.
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Io lo so. Tutto sommerso, per me, signor giudice! Mi ci sono buttato e ora ci nuoto, ci nuoto. E sono, se sapesse, già tanto lontano! Quasi non la vedo piú. Si stia bene, signor giudice, si stia bene! (S. 1413) Während der entgeisterte Richter natürlich nicht im Geringsten versteht, wovon Moscarda spricht, beschreibt Moscardas Bild des ›in der Flut Schwimmenden‹ sein persönliches Befinden nach dem Verlust aller Wahrheiten und Sicherheiten. Statt in der ›Flut‹ des reißenden Lebens unterzugehen, d.h. sich der Verzweiflung hinzugeben, nimmt er dieses an und verschmilzt mit ihm. In diesem Sinne lässt sich auch das Ende des Romans verstehen: Moscarda fristet seine Tage, aller materiellen Dinge, Erinnerungen, wie auch seines Namens entblößt, unter den Armen des Armenhauses. Der Protagonist erlebt dies jedoch nicht als Bürde, vielmehr kann sein geplagter Geist erst jetzt zur Ruhe kommen. Inmitten der Natur, in der das Armenhaus gelegen ist, frei von allen äußeren und inneren ›Formen‹ und Zwängen des Verstandes, findet er schließlich seine Erlösung und sein Glück: Die rastlose Suche nach seinem Ich und das damit verbundene Leiden hat Moscarda endgültig überwunden, wie Nietzsches ›jesuanischer Übermensch‹ lebt er von nun an in einem Zustand der permanenten, dionysischen Fusion83 und erfährt sein Dasein als ständiges Sterben und Wiedergeborenwerden, ohne dauerhaft eine Form oder Identität anzunehmen. Ein solches Leben setzt, wie Nietzsche dies besonders im Hinblick auf Jesus Christus als den idealen ›Übermenschen‹, bemerkt hat, die Aufhebung aller Gegensätze und das Vergessen als das Auslöschen aller rationalen Gedankenkonstrukte84 voraus. Selbst Leben und Tod erscheinen demnach nicht mehr als Gegensätze, sondern als die zwei, sich bedingenden Facetten des ewigen, kosmischen Seins: La vita non conclude. E non sa di nomi, la vita. Quest’albero, respiro trèmulo di foglie nuove. Sono quest’albero. Albero, nuvola; domani libro o vento […]. Tutto fuori, vagabondo. […] Cosí soltanto io posso vivere, ormai. Rinascere attimo per attimo. Impedire che il pensiero si metta in me di nuovo a lavorare, e dentro mi rifaccia il vuoto delle vane costruzioni. […] Pensare alla morte, pregare. C’è pure chi ha ancora questo bisogno, e se ne fanno voce le campane. Io non l’ho piú questo bisogno, perché muojo ogni attimo, io, e rinasco nuovo e senza ricordi: vivo e intero, non piú in me, ma in ogni cosa fuori. (S. 1416) Die Kirchenglocken als Residuum des christlichen Dogmas, welche Moscarda, weitab von der Stadt, von ferne vernimmt, scheinen ihm nun im Zusammenhang 83
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Wie Nietzsches ›Übermensch‹ hat Moscarda die dionysichen »Leiden der Individuation« (GT 10, KSA 1, 72) überwunden und erlebt das »Zerbrechen des principii individuationis« als nahezu »wonnevoll« (GT 1, ebd., 28). Zur Bedeutung des ›Vergessens‹ bei Nietzsche, vgl. UB II 1, KSA 1, 250; bzw. GM: Zweite Abhandlung 1, KSA 5, 291f.
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einer ganz anderen ›Religion‹ zu stehen. Ihr Läuten bietet sich ihm dar als eine Art ›Lobgesang‹ auf das vergöttlichte Leben: Ma ora quelle campane le odo non piú dentro di me, ma fuori, per sé sonare, che forse ne fremono di gioja nella loro cavità ronzante, in un bel cielo azzurro pieno di sole caldo tra lo stridío delle rondini o nel vento nuvoloso […]. (ebd.) Pirandello hat nur in wenigen Werken seine Lebenskonzeption so konsequent weitergeführt wie in Uno, nessuno e centomila. Eine ähnliche Wendung findet sich in der Theatertrilogie der Miti, in welchen Pirandello, wie Michael Rössner festgestellt hat, den »toten, erstarrten Mythen« eine andere Art von ›Mythos‹ entgegensetzt. Diese »mythenstürzerischen Mythen«, welche auf Lebendigkeit, Spiel und Wandel beruhten, widerstünden allem »Mythenstürzen«.85 Hervorzuheben ist hinsichtlich Nietzsches Denken besonders Lazzaro, Pirandellos Mito religioso, in welchem dem christlichen Glauben als Theologie und Dogma, der gefühlte ›Glaube der Mystiker‹ gegenübergestellt wird. Während der Unfall und die Nahtoderfahrungen des Familienvaters Diego Spina diesen selbst und die Angehörigen am christlichen Versprechen eines Lebens nach dem Tod zweifeln lassen und somit ihren Glauben an Sinn und Wahrheit infrage stellen, bestärkt Diegos Überleben seinen Sohn Lucio gerade darin, sein zuvor niedergelegtes Priestergewand wieder anzulegen. ›Gott‹, so Lucio, sei nicht als abstrakte Transzendenz zu denken, sondern als Synonym des in sich göttlichen Lebens selbst, an welchem unsere Einzelseelen teilhätten.86 Auch Werke ohne explizit religiös-metaphysische Thematik, wie etwa Pirandellos berühmtes Theaterstück Sei personaggi in cerca d’autore oder I giganti della montagna, sein Mito dellʼarte, handeln indirekt vom ›Mythos des Lebens‹, der ewig kreisenden Lebenskraft, obgleich nicht in den Bildern der belebten Natur, sondern in jenen der sich wandelnden, subjektiven Fiktionen, welche abwechselnd Realität gewinnen und als solche ausgelebt werden.
3.6
›Humoristisches‹ Schreiben und die Zersetzung des Romans: Illusionsbrechung und Sprachskepsis zwischen Fiktion und Wirklichkeit
Bereits in L’umorismo weist Pirandello darauf hin, dass die ›humoristische‹ Lebensanschauung bzw. Denkweise einen eigenen Stil mit sich bringe, welcher den Regeln der konventionellen Rhetorik und ihrem Anspruch auf Logik, Ordnung und 85 86
Michael Rössner, Pirandello Mythenstürzer, S. 211-324, v.a. S. 276. Luigi Pirandello (1928): Lazzaro. Mito, in: ders., Maschere nude, vol. secondo (Mailand: Mondadori 1958), 1159-1223.
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Kohärenz zuwiderlaufe. ›Humoristisches‹ Denken und Schreiben zergliedere nämlich jene Ordnung, welche uns die menschliche Vernunft vorgebe: »L’umorismo […] scompone, disordina, discorda; quando, comunemente, l’arte in genere, com’era insegnata dalla scuola, dalla retorica, era sopra tutto composizione esteriore […]«.87 Da der Humorist darum bemüht ist, die Scheinhaftigkeit und Konstruiertheit alles Menschlich-Vernünftigen bloßzulegen, muss ihm auch die Kunst als absichtliche Konstruktion von Schein verdächtig sein. Wie alle »costruzioni ideali o illusorie« neige sie dazu, das fließende Leben in einem bestimmten Moment festzuhalten.88 Dennoch verwirft Pirandello in seiner Studie zum Phänomen umorismo nicht die Möglichkeit der künstlerischen Schöpfung. Seine Rede von der »opera umoristica« zeigt, dass er das ›Humoristische‹ selbst als eine Form der Kunst konzipiert, deren Poetik sich jedoch grundsätzlich von jener des »gewöhnlichen« »Kunstwerks« unterscheidet.89 Der Grundüberzeugung entsprechend, dass dem Leben Kausalität, Ordnung und Kohärenz fremd seien, wird in der ›humoristischen‹ Kunst auf eben diese Darstellungsmittel verzichtet.90 Wie bei Nietzsche ergibt sich somit auch bei Pirandello eine Verschränkung von Lebensanschauung und Ausdruck, Stil und Inhalt: Vediamo adesso se, per la natural disposizione d’animo di quegli scrittori che si chiamano umoristi e per il particolar modo che essi hanno di intuire e di considerar gli uomini e la vita, questo stesso procedimento avviene nella concezione delle loro opere […].91 Während der »poeta epico o drammatico« versuche, den Charakter seines Protagonisten oder »Helden« möglichst »kohärent« darzustellen, mache der Humorist, der weder im Leben noch in der Kunst an »Helden« glaube, das Gegenteil: »[…] egli scompone il carattere nei suoi elementi; e […] si diverte a rappresentarlo nelle sue incongruenze.«92 Diese durch Pirandello in L’umorismo theoretisch erläuterte ›humoristische Poetik‹ kennzeichnet natürlich Pirandellos eigenes literarisches Schaffen, welches durch Bühnen- und Erzählkunst hindurch danach strebt, die in Leben und Fiktion vorherrschenden Illusionen zu zerbrechen und die Dynamik des natürlichen Lebens nachzuzeichnen. Als Folge ergibt sich – wie bei Nietzsche – ein unrhetorischer, lebendiger Stil: Perché l’umorismo ha sopra tutto bisogno d’intimità di stile, la quale fu sempre da noi ostacolata dalla preoccupazione della forma, da tutte quelle questioni retori87 88 89 90 91 92
Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 49 Ebd., S. 157. Ebd., S. 126f. Ebd., S. 157. Ebd., S. 127. Ebd., S. 158.
3 Luigi Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926)
che che si fecero sempre da noi intorno alla lingua. L’umorismo ha bisogno del piú vivace, libero, spontaneo e immediato movimento della lingua, movimento che si può avere sol quando la forma a volta a volta si crea.93 Pirandello, der die Gattungen Drama und Roman beachtlichen Veränderungen unterziehen sollte, bedient sich in der Tat Darstellungstechniken, welche auch schon Nietzsches Schreiben charakterisierte. Gleich Nietzsche, problematisiert Pirandello in Uno, nessuno e centomila im Modus der Autoreflexivität die Möglichkeit eines vernünftigen, auf Kommunikation ausgerichteten Sprechens und Schreibens. Die jeweilige Zuordnung eines eindeutigen Sinns zu den an sich »leeren« Worthülsen sei, wie Pirandello seinen Protagonisten erkennen lässt, aufgrund der Vielzahl subjektiver Sichtweisen und Wertschätzungen kaum möglich. Die Folge seien Missverständnisse oder gegenseitiges Nichtverstehen (S. 1309 u. 1319). Dass dies über die Romangrenzen hinaus gelte, gibt Pirandello durch die simulierte Anrede des IchErzählers an ein nicht näher bestimmtes voi zu bedenken. Der Leser wird dadurch aufgerufen, die Erfahrungen und Erkenntnisse des Protagonisten selbst unmittelbar nachzuvollziehen: Io posso credere a tutto ciò che voi mi dite. Ci credo. Vi offro una sedia: sedete; e vediamo di metterci d’accordo. Dopo una buona oretta di conversazione, ci siamo intesi perfettamente. […] Ma il guajo è che voi, caro, non saprete mai, né io vi potrò mai comunicare come si traduca in me quello che voi mi dite. […] Abbiamo creduto d’intenderci; non ci siamo intesi affatto. […] Ma perché allora, santo Dio, seguitate a fare come se non si sapesse? […] (S. 1309) Ein Roman, der inhaltlich um die Nichtexistenz von Wahrheit, Objektivität und Kommunizierbarkeit kreist, entzieht sich – Nietzsches Schreiben hatte sich demselben Problem gestellt – der eigenen Grundlagen. Während der Roman üblicherweise von etwas berichtet oder etwas ›erzählt‹ und somit ›Wirklichkeiten‹ erschafft, betrachtet der ›humoristische‹ Autor solche ›Wirklichkeiten‹ mit Misstrauen. Dadurch zeigt sich die inhaltliche Ebene in Uno nessuno e centomila, wenn auch noch nicht, wie in poststrukturalistischen Werken völlig verdrängt, so doch bereits maßgeblich in Mitleidenschaft gezogen. Statt wie üblich Figuren und Handlungsabläufe zu konstruieren, d.h. beispielsweise eine durch bestimmte Eigenschaften gekennzeichnete Hauptfigur vor dem Hintergrund bestimmter Konflikte zu beleuchten, de-konstruiert der Roman seinen eigenen Gegenstand. Während sich die äußeren Ereignisse des Romans auf die vereinzelten Interaktionen des Protagonisten beschränken, besteht die eigentliche, innere Handlung in der Entwicklung des IchErzählers, im Zuge derer er ausgerechnet seine eigene Auflösung annimmt. Noch immer vorhandene Beschreibungen und Schilderungen, so etwa in der Darstellung 93
Ebd., S. 53.
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Marco di Dios und seiner Frau, werden dabei nicht selten durch den Erzähldiskurs reflektiert oder infrage gestellt, wobei unterstrichen wird, dass es sich ausdrücklich um subjektive Einschätzungen handle: Marco di Dio e sua moglie Diamante […] Ma con quale diritto ne parlo? con qual diritto do qui aspetto e voce ad altri fuori di me? […] Li vedo da fuori, e naturalmente quali sono per me, cioè in una forma nella quale certo essi non si riconoscerebbero. […] (S. 1332)94 Zwischen Ernst und Selbstironie schwankend, vergewissert sich der den Leser ansprechende Ich-Erzähler angesichts der Subjektivität aller Wahrheit und der damit verbundenen Verständigungsproblematik immer wieder, ob man ihm auch folge, wobei er sich demonstrativ auf scheinbar unumstößliche, allgemein anerkannte Fakten und Begrifflichkeiten stützt:95 Dico »azzurri«; anche voi dite »azzurri«, non è vero? D’accordo. E questo qua vicino, col bosco di castagni: castagni, no? vedete, vedete come c’intendiamo? […] »verde« eh? per voi e per me »verde«: diciamo così, che c’intendiamo a maraviglia […] (S. 1312) Mi recai dapprima nello studio del notaro Stampa, in Via del Crocefisso, numero 24. […] (eh, questi sono sicurissimi dati di fatto) […] Ci stai ancora? Al numero 24? Lo conoscete tutti il notaro Stampa? Oh, e allora possiamo essere sicuri di non sbagliare. […] (S. 1346).96 Wie Nietzsche optiert Pirandello für ein Schreiben, welches die Spontaneität des Lebens nachzubilden versucht. Bei beiden Autoren lässt sich daher ein spielerischer, fließender Stil feststellen. Hatte bereits Nietzsche durch das beständige Eingehen auf ein fiktives Gegenüber den Effekt der Lebendigkeit erzielt, so simuliert auch Pirandello in Uno, nessuno e centomila eine Sprechsituation zwischen dem IchErzähler Moscarda und einem voi, welches für den Durchschnittsleser zu stehen scheint und die Funktion einer Gegenposition zu Moscardas Lebensanschauung 94
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Vgl. a. die Formulierung »Com’erano per me Marco di Dio e sua moglie Diamante«, wobei der Ich-Erzähler hinzufügt »Dico ›erano‹; ma forse sono in vita ancora.« (S. 1340); bzw. die Darstellung Quantorzos: »Guardai di traverso Quantorzo; mi parve pallidissimo. (Ma oh, badiamo, dico sempre quello mio; perché forse il Quantorzo di Dida, no; che seppure anche a Dida sarà parso che il suo impallidisse, avrà forse creduto per isdegno e non per paura, com’io del mio avrei potuto giurare.)« (S. 1375). Der Ich-Erzähler gibt zu bedenken, dass im Grunde selbst ›Fakten‹ unterschiedlich bewertet würden und daher im Grunde keine objektiven Wertmesser seien, s. S. 1335: »Dati di fatto, dite voi. E vorreste desumerne la mia realtà? Ma questi stessi dati che per sé non dicono nulla, credete che importino una valutazione uguale per tutti?« Vgl. a. S. 1332 u. 1340.
3 Luigi Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926)
erfüllt. Während letzterer als nietzscheanischer Skeptiker sich selbst und die Welt erbarmungslos in Zweifel zieht, vertritt der in der zweiten Person Plural Angesprochene – dessen Anrede in der Schwebe lässt, ob es sich um eine Person97 oder die breite Masse der Anderen98 handelt – den vernünftig-wissenschaftlichen Bürger. Ohne dass sich dieser selbst jemals zu Wort meldet, nimmt der Ich-Erzähler dessen kritische oder spöttische Einwände vorweg,99 um sie im Voraus zu entkräften und ihm so seine auf Vernunft und Wirklichkeitssinn gründende Selbstsicherheit zu nehmen. Wie Nietzsche bindet Pirandello den Leser auf diese Weise in sein Schreiben ein und macht ihn zu einem Teil der Fiktion. Er ist dazu aufgefordert, wie der Romanheld sein alltägliches Leben zu hinterfragen, sich der Relativität von Wahrheit, Sprache und Sinn bewusst zu werden (vgl. S. 1307f, 1309 u. 1337f) und dabei nicht vor persönlichen oder sozialen Experimenten zurückzuschrecken: E insomma, lo volete fare anche voi, sí o no, questo esperimento con me, una buona volta? dico, di penetrare lo scherzo spaventoso che sta sotto alla pacifica naturalezza delle relazioni quotidiane, di quelle che vi pajono le piú consuete e normali, e sotto la quieta apparenza della cosí detta realtà delle cose? (S. 1346f) Sein Lachen (»voi avete voglia di ridere!«, S. 1321) würde vor diesem Hintergrund schnell verstummen (vgl. S. 1337f). Pirandello gelingt es dergestalt, wie auch in anderen Werken, sein Prinzip der Illusionsbrechung über die Textgrenze hinaus, bis in die Realität des Lesers hinein wirken zu lassen, welche sich so schließlich selbst als Fiktion entlarvt. Die Simulation mündlicher Rede dient Pirandello dabei auch zur Strukturierung seines Erzähldiskurses, wodurch sich ein fließender Stil ergibt. Ein Abschnitt trägt so etwa den Titel »E allora?«, woraufhin der Satz »Ve lo dico io« der ersten Zeile, eine Antwort einzuleiten scheint, – unterbrochen durch das erneute Eingehen auf den fiktiven Gesprächspartner »Dite di no? Guardate.« (S. 1304). Die noch äußerlich vorhandene Einteilung in Kapitel wird durch dieses Verfahren zunehmend untergraben, Kapitelüberschriften und die auf sie folgenden Abschnitte greifen vorherige Abschnitte gedanklich auf und führen sie fort, 97 98 99
S. z.B. S. 1309: »Ma il guajo è che voi, caro, non saprete mai […]«; bzw. S. 1312: »Siete già sudato? Eh, bello grasso, voi […].« S. z.B. S. 1291: »Signori, vuol dire che non capite come volevo esser solo. […]« bzw. S. 1292: »Sí, cari miei, v’assicuro che è un bel modo d’esser soli, codesto!« S. z.B. 1286: »Si vede, – voi dite, – che avevate molto tempo da perdere.«; S. 1291: »Ma perché non vi chiudevate in camera, magari con due turaccioli negli orecchi? Signori, vuol dire che non capite come volevo esser solo. […]«; S. 1292: »Vi sembra già questo un primo segno di pazzia? Forse perché non riflettete bene.«; S. 1302: »Mi si può opporre: – Ma come mai non ti venne in mente, povero Moscarda, che a tutti gli altri avveniva come a te, di non vedersi vivere […] ecc. ecc.? Rispondo: Mi venne in mente. Ma scusate, è proprio vero che sia venuto in mente anche a voi? […]«; S. 1308: »Voi socchiudete gli occhi, vi stringete nelle spalle; sospirate: –Gusti! Perché vi pare che sia propriamente questione di gusti, o di opinioni, o d’abitudine; e non dubitate minimamente della realtà delle care cose […]«.
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so dass diese ineinander übergehen. Auf den letzten Satz »Vi dirò poi come e perché« des Kapitels »Fissazioni« folgt so ein Kapitel mit dem Titel »Anzi ve lo dico adesso«, welches einen Exkurs über die menschliche ›Baukunst‹ darstellt. Diese Thematik wird im nächsten Kapitel bereits in der Überschrift »Che c’entra la casa?« wieder aufgenommen (S. 1310f). Dass Pirandello wie Nietzsche das Schreiben als Spiegel des ›fließenden‹ Lebens konzipiert, das verdeutlicht die doppeldeutige Kapitelüberschrift »Non conclude«, welche inhaltlich sowohl für das Leben als auch für den Text steht (S. 1415). Paradoxerweise endet dadurch der Roman mit einem Kapitel, welches dessen Unendlichkeit oder Ewigkeit heraufbeschwört. In der Aufzählung der Naturelemente, mit denen Moscarda am Ende seines inneren Prozesses verschmilzt, erscheint daher nicht zufällig auch das ›Buch‹: La vita non conclude. E non sa di nomi, la vita. Quest’albero, respiro trèmulo di foglie nuove. Sono quest’albero. Albero, nuvola; domani libro o vento: il libro che leggo, il vento che bevo. […] (S. 1416)
4. Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
Unamunos Denken und Schreiben entwickelt sich wie jenes Nietzsches – ohne dass Unamuno selbst den Ausdruck verwendet – aus der Auseinandersetzung mit einem Zustand der ›Dekadenz‹. In diesem sah er, gleich den übrigen Vertretern der Generación del 98, Maeztu, Azorín und Pío Baroja, das Spanien der Jahrhundertwende gefangen. Hatte Unamunos aus fünf Essays bestehendes Werk En torno al casticismo bereits 1895 anlässlich der politisch-sozialen Rückständigkeit des Landes, welche in der Restauration der Monarchie 1874 (nach der nur ein Jahr bestehenden ersten Republik) manifest wurde, die Frage nach der eigentlichen Identität Spaniens in den Mittelpunkt gerückt, so gewinnt diese 1898, drei Jahre später, unversehens an Aktualität, als Spanien im Spanisch-Amerikanischen Krieg seine letzten Kolonien Kuba, Puerto Rico und die Philippinen an die USA verliert und so in eine tiefe politisch-moralische Krise gestürzt wird. Der aus der Konfrontation mit dem Desastre del 1898 erwachsene Erneuerungswunsch erklärt das rege Interesse der Generación del 98 an Nietzsche,1 denn dieser zeigte sich in der Lage, seiner ›Diagnose‹ der europäischen Dekadenz eine mögliche ›Therapie‹ gegenüberzustellen.2 Dennoch erlangte Nietzsche in Spanien später als in Frankreich und Italien, öffentliche Breitenwirkung. Von französischen Veröffentlichungen abgesehen, welche das spanische Lesepublikum erstmals mit Nietzsches Denken in Berührung brachten, gab es erst ab 1893, rund zwanzig Jahre später als in Frankreich und Italien, eine spanischsprachige Auseinandersetzung mit Nietzsche. Der erste, der sich – wenn auch nicht auf Spanisch, sondern auf Katalanisch – in einem Aufsatz öffentlich zu Nietzsche äußerte und Fragmente aus allen Teilen von Also sprach Zarathustra 1
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In Sobejanos und Ruksers Zusammenschau der Nietzsche-Rezeption in Spanien (Sobejano) bzw. im spanischsprachigen Raum (Rukser) nimmt die Generación del 98 daher jeweils eine prominente Stellung ein, s. Gonzalo Sobejano, Nietzsche en España; bzw. Udo Rukser, Nietzsche in der Hispania. Zu ›Nietzsche‹ als Möglichkeit, »der nihilistischen Verzweiflung zu entgehen«, s. Udo Rukser, Nietzsche in der Hispania, S. 31.
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übersetzte, war der Katalane Joan Maragall.3 Von diesem Zeitpunkt an, erschienen weitere Aufsätze auf Spanisch, bis José de Caso, unter dem Pseudonym Juan Fernández, 1899 die erste spanische Übersetzung von Also sprach Zarathustra vorlegte.4 Die sukzessive übersetzten Werke Nietzsches wurden 1932 schließlich in der großen spanischen Gesamtausgabe bei Aguilar verlegt.5 Obwohl Unamuno erst ab ca. 1910 direkt auf Nietzsche Bezug nimmt bzw. ihn namentlich erwähnt, scheinen bereits seine frühen Werke inhaltliche Überschneidungen mit Nietzsches Philosophie aufzuweisen. Unamuno hatte im Rahmen seines Studiums und seiner Lehrtätigkeit an der Universität Salamanca, an der er vorwiegend Latein und Spanisch unterrichtete – ab 1900 war Unamuno bis auf die Zeit seines unfreiwilligen, politischen Exils (1924-1930) unter Primo de Rivera sogar Rektor der Universität –, neben Englisch und Französisch auch Deutsch gelernt, um philosophische Schriften im Original lesen zu können. Allein in Del sentimiento trágico de la vida nennt Unamuno unter anderem Kant, Fichte, Hegel und Nietzsche.6 Wenn Unamuno auch in zwei – nun dezidiert Nietzsche gewidmeten – Aufsätzen aus den Jahren 1915 und 1919 behauptet, er habe Nietzsches Werk erst kürzlich kennengelernt und seine Nietzsche-Kenntnis sei oberflächlicher Art,7 so sprechen, neben inhaltlichen Parallelen, die bereits in Unamunos Werken bis 1900 spürbar sind, eine NietzscheErwähnung in Vida de Don Quijote y Sancho von 1905,8 ein an Nietzsche gerichtetes Sonett »A Nietzsche« von 1910, in welchem er diesen in der zweiten Person Singular anspricht und dabei seine Nietzsche-Sicht bereits klar bekundet,9 ganz zu schweigen von Unamunos Auseinandersetzung mit Nietzsche in Del sentimiento trágico de 3 4 5 6 7
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Gonzalo Sobejano, Nietzsche en España, S. 37f. Ebd., S. 40-73. Udo Rukser, Nietzsche in der Hispania, S. 38. S. z.B. Miguel de Unamuno (1912): Del sentimiento trágico de la vida, in: ders., Obras completas, X (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 2009), S. 278ff u. 355. Miguel de Unamuno (1915): »Algo sobre Nietzsche«, in: ders., Obras completas, VIII, Letras de America y otras lecturas (Madrid: Aguado 1961), S. 1100: »[…] en lo poco que de él conozco en su propia lengua […] Conocía sus doctrinas por multiples referencias, por numerosas y largas citas de sus obras.«; bzw. Miguel de Unamuno (1919): »¿Para qué escribir? Comentarios al ›Epistolario Inédito‹ de Nietzsche«, in: Obras completas, VIII, Letras de America y otras lecturas (Madrid: Aguado 1961), S. 1133: »Ni conozco a Nietzsche más que muy fragmentariamente, muy de segunda o tercera mano y por referencias […] y de no hace mucho tiempo […]«. »Un filósofo alemán de hace poco, Nietzsche, metió ruido en el mundo escribiendo de lo que está allende el bien y el mal.« (zit.n. Gonzalo Sobejano, Nietzsche en España, S. 300f). Miguel de Unamuno (1910): »XCIX. A Nietzsche« (in: Rosario de sonetos líricos), in: ders., Obras completas, IV (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 1999), S. 415.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
la vida (1912),10 dafür, dass Unamuno mit Nietzsche bereits zu einem frühen Zeitpunkt vertraut war, ihn vielleicht sogar im Original gelesen hatte. Wie andere Autoren der Generación del 98 befasst sich Unamuno bei seiner Untersuchung der Frage nach dem ›authentisch Spanischen‹, wie man die Intention von En torno al casticismo zusammenfassen könnte – im Vorwort des Werkes leitet Unamuno die Begriffe castizo und casticismo vom Substantiv casta bzw. vom Adjektiv casto in der Bedeutung puro ab –, mit dem kontrovers diskutierten Thema des Verhältnisses Spaniens zu Europa. Während Nietzsche das Konzept ›Europa‹ als Verkörperung der modernen Dekadenz grundsätzlich ablehnte,11 nimmt Unamuno in En torno al casticismo wie auch ca. zehn Jahre später in seinem Aufsatz »Sobre la europeización« (1906) eine weit weniger kategorische Position ein. Spanien dürfe und könne sich nicht von Europa und seinen Werten – versinnbildlicht durch das blendende Sonnenlicht – abschotten, solle aber gleichzeitig das ›Eigene‹ als die ›Schatten der Vergangenheit‹ nicht aus den Augen verlieren: Es cierto que los que van de cara al sol están expuestos a que los ciegue éste, pero los que caminan de espaldas por no perder de vista su sombra de miedo de perderse en el camino […] están expuestos a tropezar y caer de bruces.12 In En torno al casticismo wird schnell klar, in welche Richtung Unamunos Vorschlag für eine Erneuerung Spaniens geht. Individuen wie Völker sollten sich in geradezu mystischer Selbstmeditation auf die ihnen zugrunde liegenden Konstanten des ›Menschseins‹ zurückbesinnen und so zu sich selbst finden: Esta doctrina mística tan llena de verdad viva en su simbolismo es aplicable a los pueblos como a los individuos. Volviendo a sí, haciendo examen de conciencia, estudiándose y buscando en su historia la raíz de los males que sufren, se purifican de sí mismos, se anegan en la humanidad eterna.13 10
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Zu Beginn des Werkes greift Unamuno, ohne Nietzsche direkt zu nennen, Gedanken aus »A Nietzsche« auf. Nur ein Nietzsche-kundiger Leser (die ›ewige Wiederkehr‹ als »vuelta eterna« wird so etwa kurz aufgerufen) bzw. ein Leser, der Unamunos Nietzsche-Sonett kennt, errät, von wem Unamuno spricht: »Ahí tenéis a ese ladrón de energías […] que quiso casar el nihilismo con la lucha por la existencia, y os habla de valor […].«; s. Miguel de Unamuno: Del sentimiento trágico de la vida, S. 315. Erst im weiteren Verlauf wird Nietzsche immer wieder namentlich genannt, s. z.B. ebd., S. 323 u. 355. Vgl. z.B. JGB: Fünftes Hauptstück 202, KSA 5, 124: »Moral ist heute in Europa Heerdenthier-Moral […]«; JGB: Sechstes Hauptstück 208, ebd., 138f: »Es giebt die schönsten Prunk- und Lügenkleider für diese Krankheit; […] – für diese Diagnose der europäischen Krankheit will ich einstehn. – Die Krankheit des Willens ist ungleichmässig über Europa verbreitet […].« Miguel de Unamuno (1895): En torno al casticismo (I. »La tradición eterna«), in: ders., Obras completas, VIII (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 2007), S. 71. Ebd., S. 88.
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Während Unamuno an dieser eindeutig nietzscheanischen Lösung des Problems der spanischen Dekadenz über die Jahre festhalten, ja auf ihr seine religionsphilosophischen Überlegungen aufbauen wird, verschiebt sich zwischen En torno al casticismo und »Sobre la europeización« dabei jedoch seine Bewertung Europas. Hatte Unamuno die »ewige Tradition« des alle Menschen umfassenden Daseins ausgerechnet auf der Seite Europas und die das Volk schwächende ›Oberflächenmentalität‹ auf der Seite der spanischen Nationalisten zu erkennen gemeint – weshalb sich Spanien, Unamuno zufolge, Europa gegenüber öffnen müsse –,14 identifiziert er ca. zehn Jahre später die nun synonymen Begriffe europeo und moderno, denen er die Bereiche Wissenschaft und Vernunft zuordnet, mit der ›Oberflächengeschichte‹ und stellt ihr die ›Tiefe‹ der spanischen »Weisheit« gegenüber, welche auf Irrationalität und der Einsicht in die Tragik des Lebens beruhe. Unamuno fordert folglich eine gegenseitige Durchdringung Europas und Spaniens: In dem Maße, wie Spanien europäisiert werde – was Unamuno nunmehr für unvermeidbar hält –, solle Europa spanische Züge in sich aufnehmen: »Tengo la profunda convicción […] de que la verdadera y honda europeización de España […] no empezará hasta que […] no tratemos de españolizar a Europa.«15 Unamunos Sicht auf Europa steht ab diesem Zeitpunkt wie jene Nietzsches im Zusammenhang einer umfassenden Vernunftkritik,16 welche in Unamunos Werk jedoch nur das Gegenmodell zu seinem Entwurf einer allen Menschen gemeinsamen, inneren ›Welt des Scheins‹ bildet und nicht ausführlich diskutiert wird. Unamunos Verhältnis zu Nietzsche ist, wie dies bereits Gonzalo Sobejano hervorgehoben hat,17 komplexer Natur. Ein auffälliger Zug von Unamunos NietzscheInterpretation ist, dass er dessen Gedankenwelt persönlich, d.h. als Ausdruck oder Symptomatik von Nietzsches eigener Seelenverfassung liest. Während er Nietzsche dabei einerseits zu sich selbst in Analogie setzt – Nietzsche erscheint als Vertreter von Unamunos »sentimiento trágico de la vida«, welches auf dem Gegen14
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S. z.B. ebd., S. 87: »Y la tradición eterna es tradición universal, cosmopolita. Es combatir contra ella, es querer destruir la humanidad en nosotros, es ir al la muerte, empeñarnos en distinguirnos de los demás, en evitar o retardar nuestra absorbción en el espíritu general europeo moderno.« Miguel de Unamuno (1906): »Sobre la europeización (Arbitrariedades)«, in: ders., Obras completas, VIII (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 2007), S. 1014. Vgl. zu Unamunos Position gegenüber Europa auch: Christoph Rodieck: »Europäisierung und Modernität im Werk Miguel de Unamunos«, in: Europas Weg in die Moderne, hg. von Willi Hirdt (Bonn [u.a.]: Bouvier 1991), S. 204-206; Ernst-Robert Curtius: »Unamuno«, in: ders., Kritische Essays zur europäischen Literatur (Bern: Francke 1963), S. 204-206. Im letzten Kapitel bzw. Essay des Werkes unter dem Titel »Conclusión. Don Quijote en la tragi-comedia europea contemporánea« heißt es so etwa »y esa ciencia o lo que fuere, bancarroteó en efecto.«, s. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 509. Gonzalo Sobejano, Nietzsche en España, S. 277-318.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
satz von Gefühl/Herz und Vernunft/Kopf beruhe,18 und Nietzsches Philosophie als Verkörperung des in Unamunos Werk zentralen »Lebenshungers«19 –, grenzt er sich zugleich unmissverständlich von ihm ab. Nietzsches »anticristianismo« und seine Bekundungen der Stärke seien ihm zutiefst unsympathisch.20 Was Unamuno als grundlegenden Unterschied zwischen sich und Nietzsche herausarbeitet – seine Verwurzelung im christlichen Glauben gegenüber Nietzsches Verhöhnung des Christentums21 –, relativiert sich bereits in Unamunos eigener Argumentation, denn Unamuno behauptet, Nietzsche oder mit Unamunos Worten »el pobre Nietzsche«22 sei in Wirklichkeit ein bemitleidenswerter, schwacher Mensch gewesen, der an seiner Unfähigkeit zu glauben verzweifelte.23 Seine Blasphemien und sein ›Übermenschen-Gehabe‹ gründeten sich daher auf nichts als »mentira«, »hipocresía y fingimiento«.24 Unamunos Bemerkung »aquel antiteólogo – que es otro modo de ser teólogo« in seinem Aufsatz aus dem Jahre 191425 hebt den angeblichen Unterschied zwischen ihm und Nietzsche auf indirekte Weise bereits endgültig auf, was Unamuno in späteren Äußerungen jedoch weiter bestreitet. Gonzalo Sobejano fasst das komplexe Verhältnis zwischen Unamuno und Nietzsche treffend 18 19
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Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 315: »Su corazón le pedía el todo eterno, mientras su cabeza le enseñaba la nada […]«. Ebd., S. 355: »[…] tenían [Spinoza como Nietzsche] corazón, sentimiento y, sobre todo, hambre, un hambre loca de eternidad, de inmortalidad.«; s.a. Miguel de Unamuno, »XCIX A Nietzsche«, S. 415: »[…] hambre de eternidad fue todo el hipo/de tu pobre alma hasta la muerte triste«. Miguel de Unamuno, »Algo sobre Nietzsche«, S. 1101: »El anticristianismo de Nietzsche, debo declararlo, me era y me es profundamente antipático.«; bzw. Miguel de Unamuno (1914): »Uebermensch«, in: ders., Obras completas, VIII, Letras de America y otras lecturas (Madrid: Aguado 1961), S. 1098: »[…] eso de la sobre-hombría […] no es más que hipocresía y fingimiento […]. Miguel de Unamuno, »Algo sobre Nietzsche«, S. 1100f; s. zu Unamunos persönlichem Glauben, Miguel de Unamuno (1907): »Mi religión«, in: ders., Obras completas, IX (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 2009), v.a. S. 53. S. z.B. Miguel de Unamuno, »Algo sobre Nietzsche«, S. 1102 u. 1104; Miguel de Unamuno, »¿Para qué escribir? Comentarios al ›Epistolario Inédito‹ de Nietzsche«, S. 1134. S. z.B. Miguel de Unamuno, »Algo sobre Nietzsche«, S. 1102: »Fué, además, Nietzsche un hombre débil que para defenderse y vengarse de su debilidad se puso a exaltar la fuerza y la implacabilidad contra el débil.«; Miguel de Unamuno, »Uebermensch«, S. 1095: »[…] esa pedantesca invención del pobre pedante que fué Federico Nieztsche [sic!], de aquel desgraciado loco de debilidad que se fingía el fuerte, de aquel infeliz león que se reía para ocultar sus lágrimas […].«; Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 315: »[…] mientras su cabeza le enseñaba la nada, y desesperado y loco para defenderse de sí mismo, maldijo de lo que más amaba. Al no poder ser Cristo, blasfemó del Cristo. […].« Miguel de Unamuno, »Algo sobre Nietzsche«, S. 1101; Miguel de Unamuno, »Uebermensch«, S. 1098. Miguel de Unamuno, »Uebermensch«, S. 1097.
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zusammen, wenn er behauptet, weder Unamuno noch Nietzsche seien in Wirklichkeit das gewesen, was sie vorgaben zu sein, nämlich »Christ« und »Antichrist«.26 Ab 1900 spiegeln Unamunos literarische Werke zunehmend seine Philosophie wider bzw. entwickeln sich selbst zu gleichsam philosophisch-theoretischen Abhandlungen.27 Wie im Werk Nietzsches, führen Unamunos philosophische Überlegungen dabei zur allmählichen Aufhebung der Gattungsgrenzen sowie jener zwischen Fiktion und Lebenswirklichkeit. Anhand der Analyse von Unamunos berühmtem Roman Niebla (1914) und seinen theoretisch-philosophischen Hauptwerken sollen nun die, entgegen Unamunos Beteuerungen, eindeutig vorhandenen Parallelen zwischen Unamuno und Nietzsche zutage treten.
4.1
Der Mensch als ›krankes Tier‹ und die implizite Vernunftkritik
Im Zentrum von Unamunos literarisch-philosophischem Schaffen – so auch in Niebla – steht nicht anders als in jenem Nietzsches und Pirandellos, die tragische Einsicht, dass sich der Mensch aufgrund seines Bewusstseins, dem »relámpago entre dos eternidades de tinieblas«,28 gegenüber den übrigen Naturwesen als »krankes Tier« erweise: […] el hombre, por ser hombre, por tener conciencia, es ya, respecto al burro o a un cangrejo, un animal enfermo. La conciencia es una enfermedad.29 Das Bewusstsein spaltet Unamuno in zwei Bereiche, das vernünftige Denken und die Gefühlsebene, so dass er den Menschen zugleich als »animal racional« und »animal afectivo, sentimental« bezeichnen kann, wobei Unamuno folgert: »Y acaso lo que de los demás animales le diferencia sea más el sentimiento que no la razón«.30 Wie Nietzsche und Pirandello führt Unamuno das »tragische Lebensgefühl« des Menschen – man beachte Unamunos gleichnamiges Hauptwerk – auf den unlösbaren Konflikt zwischen »necesidades intelectuales« und »necesidades afectivas« zurück, welche der Mensch in Einklang zu bringen versuche.31 Mit anderen Worten beruht das, was Unamuno »a falta de otro nombre«, »el sentimiento trágico de la vida« nennt, »que lleva tras sí toda una concepción de la vida misma y del universo, toda una filosofía más o menos formulada«,32 auf dem Widerspruch zwi26 27 28 29 30 31 32
Gonzalo Sobejano, Nietzsche en España, S. 286. Unamunos Roman Amor y pedagogía, der 1902 erscheint, ist so etwa bereits eindeutig durch seine Lebensanschauung geprägt. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 285. Ebd., S. 288. Ebd., S. 276. Ebd., S. 286f. Ebd., S. 288.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
schen der Welt, wie sie uns die Natur zeigt, und jener Welt, wie sie der Mensch, gelenkt durch die Gefühlsebene seines Bewusstseins, herbeisehnt. Im Mittelpunkt des ›tragischen Lebensgefühls‹ steht natürlich die Auseinandersetzung mit dem Tod, welchen der Mensch, anders als das Tier, bewusst reflektiert und dabei alles unternimmt, um ihn so lange wie möglich hinauszuzögern. Im Speziellen zeichnet sich die ›Krankheit‹ des Menschen daher durch »el hambre de inmortalidad« aus, einen alles übersteigenden ›Hunger‹ nach Leben bzw. persönlicher Selbstverwirklichung und Ewigkeit.33 Auf die Frage, ob er sich nicht wohlfühle, antwortet der Protagonist Augusto Pérez in Niebla tiefsinnig »Yo sé cuál es mi enfermedad.« (S. 577).34 Symptomatisch für das Verhältnis des Menschen zum Tod sind die seit der menschlichen Frühgeschichte existierenden Bestattungsriten. Der Mensch sei im Unterschied zum Tier »un animal guardamuertos«35 : »¡Los hombres guardan o almacenan sus muertos [.]!« (S. 669), so Orfeo, Augustos Hund, aus dessen Perspektive der Epilog des Romans erzählt wird. Erwartungsgemäß steht auch in Niebla die menschliche Konfrontation mit dem Tod im Vordergrund. Schon zu Beginn des Romans beschreibt Augusto das Hinscheiden seiner Eltern, wobei sich in seiner Erinnerung der blutige Tod seines Vaters mit dem mythisch-folkloristisch verwurzelten Kinderschreck el Coco vermischt (S. 506f u. 509). Augustos Freund, Víctor Goti, berichtet dagegen vom grauenvollen Sterben seines Hundes. Dieser habe ihn und seine Frau so sehr bestürzt, dass sie beschlossen, kein lebendiges Wesen mehr bei sich aufzunehmen. Seit Jahren begnügten sie sich daher mit einigen »großen Puppen«, welche Gotis Frau an- und ausziehe: Y nos contentamos con unas muñecas, unas grandes peponas, que son las que has visto en casa, y que mi Elena viste y desnuda. – Ésas no se os morirán. – En efecto. […]. (S. 552f)36 Das mit dem Gedanken an den Tod verbundene Gefühl der Beklemmung spiegelt sich in Niebla in der ablehnend-spöttischen Haltung der Figuren gegenüber der Medizin,37 welche angesichts der Unerbittlichkeit des Todes als machtlos erachtet wird: 33 34
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Ebd., v.a. S. 305-320 (Seitenangaben entsprechen dem gleichnamigen dritten Kapitel »El hambre de inmortalidad« des Werks). Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf folgende Ausgabe des Romans: Miguel de Unamuno (1914): Niebla, in: ders., Obras completas, I (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 1995), 465-672. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 307. Die Erzählung seines Freundes lässt Augusto um das Leben seines eigenen Hundes fürchten, s. S. 555: »Cuidado con los huesos, Orfeo, mucho cuidadito con ellos, ¿eh? No quiero que te atragantes con uno; no quiero verte morir a mis ojos suplicándome vida.« Augusto über seine Mutter nach dem Tod ihres Mannes: »La fisiología le causaba horror, y renunció a tomar sus lecciones a su hijo. Sólo con ver aquellas láminas que representaban el corazón o los pulmones al desnudo presentábasele la sanguinosa muerte de su marido.
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[…] Los cuales [los médicos] […] que se mueven en este dilema: o dejan morir al enfermo por miedo a matarle, o le matan por miedo de que se les muera. (S. 477) Wie Nietzsche38 greift Unamuno die alttestamentarische Bewertung der menschlichen Verstandestätigkeit auf, wenn er das Erwachen des Bewusstseins dem ›Essen‹ vom ›Baum der Erkenntnis‹ und damit der sogenannten ›Erbsünde‹ gleichsetzt: »[…] el progreso arranca […] del pecado original«.39 Der Gedanke der Sündhaftigkeit des rationalen Denkens erscheint in Niebla beiläufig in einem Monolog Augustos an seinen Hund: »El conocimiento que no es pecado no es tal conocimiento, no es racional.« (S. 525). Was der Mensch aufgrund seines Verstandes bewusst erlebt und wahrnimmt, Scham, Fortpflanzung, Krankheit und Tod, das erklärt das Alte Testament zur Strafe für die Sünde des wissenschaftlichen Denkens und das Wetteifern mit Gott. Unamuno betont dabei wiederholt die Verbindung von Wissenschaft und Erotik, wobei er das Denken in Wertgegensätzen wie Nietzsche auffälligerweise als ›Metaphysik‹ bezeichnet: […] es el instinto metafísico, la curiosidad de saber lo que no nos importa, el pecado original, en fin, lo que le hace sensual al hombre, o bien es la sensualidad la que, como a Eva, le despierta el instinto metafísico, el ansia de conocer la ciencia del bien y del mal. (S. 475)40 Während verschiedene Textstellen das ›tragische Lebensgefühl‹ dem Widerspruch zwischen »razón« (manchmal als »verdad«) und »vida« als Synonym des menschli-
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›Todo esto es muy feo, hijo mío – le decía –; no estudies médico. Lo mejor es no saber cómo se tienen las cosas de dentro.‹« S. z.B. AC 48, KSA 6, 226f: »Hat man eigentlich die berühmte Geschichte verstanden, die am Anfang der Bibel steht, – von der Höllenangst Gottes vor der Wissenschaft? […] Der Mensch soll nicht denken. – Und der ›Priester an sich‹ erfindet die Noth, den Tod, die Lebensgefahr der Schwangerschaft, jede Art von Elend, Alter, Mühsal, die Krankheit vor Allem, – lauter Mittel im Kampfe mit der Wissenschaft!«; s.a. zum ›Verstand‹ als menschlicher Bürde, DD: Zwischen Raubvögeln, KSA 6, 391: »Was locktest du dich/ ins Paradies der alten Schlange?/ Was schlichst du dich ein/ in dich – in dich?…// Ein Kranker nun,/ der an Schlangengift krank ist […].« Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 290. Zum Zusammenhang von Bewusstsein, Schamgefühl und Erotik aus biblischer Sicht, s. S. 669: »Y por eso dice su [del hombre] Biblia […] que el primer hombre, es decir, el primero de ellos que se puso a andar en dos pies, sintió vergüenza de presentarse desnudo ante su Dios. Y para esto inventaron el vestido, para cubrirse el sexo.«; s.a. S. 519: »Ya me has oído, esposa mía, lo que en lenguaje bíblico significa conocer.«; S. 532: »Y ¿qué es el amor sino metafísica?«; bzw. Miguel de Unamuno (1924): La agonía del cristianismo, in: ders., Obras completas, X (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 2009), S. 564f: »Conocer en el sentido bíblico, donde el conocimiento se asimila al acto de la unión carnal – y espiritual […].«
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
chen Lebenswillens gleichsetzen,41 wird der absolute Gegensatz durch Unamunos eigene Argumentation schnell untergraben, denn es zeigt sich, dass die menschliche razón ihrerseits keinen autonomen, objektiven Gradmesser darstellt. Vielmehr ist auch sie dem genannten Lebenswillen verpflichtet. Wie Nietzsche und Pirandello42 betrachtet Unamuno die Vernunft nämlich als menschliches Produkt, welches selbst im Dienst des Lebensinstinkts steht: »Y de este instinto [de perpetuación], mejor de la sociedad, brota la razón«. Unamuno kann »razón« somit eigentlich als »producto social« bezeichnen,43 da sie auf gesellschaftlicher Ebene – Nietzsche und Pirandello hatten diesen Gedanken gleichermaßen formuliert – willkürlich ›Wahrheiten‹ festlege, welche bei genauerer Betrachtung keine objektive Berechtigung aufweisen: Y es que ese sentido social, […] padre del lenguaje y de la razón y del mundo ideal que de él surge, no es en el fondo otra cosa que lo que llamamos fantasía o imaginación. De la fantasía brota la razón. »El mundo es un caleidoscopio. La lógica la pone el hombre.« – spricht Augusto zu sich selbst und fasst damit Unamunos Überzeugung von der Willkür aller vernünftigen Erklärungsversuche für die an sich zufällige (»[…]el azar«) Welt zusammen (S. 504). Am Beispiel des Katholizismus legt Unamuno dar, wie die ›Vernunft‹ zur Rechtfertigung eines Bereiches genutzt wird, der selbst der Gefühlsebene – oder in Unamunos Terminologie dem menschlichen ›Lebenshunger‹ – entstamme, und wie Religion auf diese Weise zur rationalisierten »Theologie« werde: »Busca [la fe] el apoyo de su enemiga la razón«.44 Geht man davon aus, dass die ›Realität‹ nicht mehr als ein auf gesellschaftlicher Ebene anerkannter und geteilter »Traum« sei, so wird der Unterschied zwischen ›Traum‹ (»sueño« als »ilusión« und »apariencia«) und ›Wirklichkeit‹ (»verdad«, »realidad«) zum Verschwinden gebracht: »¿Qué es el mundo real sino el sueño que soñamos todos, el sueño común?« (S. 544). In Anspielung auf Nietzsche, jedoch ohne ihn direkt zu nennen, lässt Unamuno seine Hauptfigur den bei Nietzsche (wie auch bei Pirandello) zentralen Gedanken paraphrasieren, dass alle durch das menschliche Bewusstsein gesteuerten – und damit sprachlichen – Hervorbringungen auf Lüge, Schein und Schauspiel beruhen, während ihr Ursprung durch die gesellschaftliche Konvention vergessen werde: 41
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S. z.B. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 302: »[…] todo lo vital es antirracional, no ya solo irracional, y todo lo racional, anti-vital. Y esta es la base del sentimiento trágico de la vida.«; ebd., S. 347f; Miguel de Unamuno, La agonía del cristianismo, S. 544f. Man denke an Pirandellos Bild des ›Bewusstseinslichtes‹, welches die ringsherum (erst durch das ›Licht‹) sichtbaren ›Schatten‹ in bekannte Formen einordnet oder ihnen ›Wahrheiten‹ entgegenhält, um sich auf diese Weise gegen das Unheimliche zur Wehr zu setzen. Pirandello zufolge, gründe es sich dadurch auf ›Lüge‹ und ›Illusion‹. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 295. Ebd., S. 334.
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El hombre en cuanto habla miente, y en cuanto se habla a sí mismo, es decir, en cuanto piensa […] se miente. […] La palabra, este producto social, se ha hecho para mentir. Le he oído a nuestro filósofo que la verdad es, como la palabra, un producto social, lo que creen todos, y creyéndolo se entienden. Lo que es producto social es la mentira… […] No hacemos sino representar cada uno su papel. […] Como yo ahora aquí, representando a solas mi comedia, hecho actor y espectador a la vez. (S. 577f)45 Dass der Mensch nicht nur auf der Bühne, mit vorgehaltener Maske, eine Rolle spiele, sondern geprägt durch sein jeweiliges soziales Umfeld, auch mitten im Leben, das hatte Pirandello zum Kern seiner Roman- und Bühnenkunst gemacht. Niebla greift diesen Gedanken fast beiläufig auf: »Que a todos nos gusta, señorito, hacer papel y nadie es el que es, sino el que le hacen los demás.« (S. 594). Wie die bisherige Analyse zeigte, nimmt in Nietzsches und Pirandellos Werk die Vernunftkritik und die sich daran anschließende Destruktion der absoluten ›Wahrheiten‹ einen nicht unwesentlichen Teil ein, bei Unamuno dagegen scheint sie als offenbar bekannt vorausgesetzte Prämisse, nur am Rande auf. Bestimmte, dem Nietzsche- und Pirandello-Leser bereits vertraute Topoi werden daher auch in Niebla eingebunden: Von der Warte des Hundes Orfeo zeigt sich der Mensch so etwa aufgrund seines niemals ruhenden Bewusstseins und seines ›metaphysischen‹ Strebens nach dem Unerreichbaren46 als »krankes«, heuchlerisches47 und schamloses48 »Tier« (S. 668f). Ähnlich wie Pirandello in Uno, nessuno e centomila kritisiert Unamuno dabei indirekt die Überheblichkeit, mit der sich der Mensch die 45
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Bei genauerer Betrachtung vereint der zitierte Abschnitt mehrere Gedanken Nietzsches, so etwa allgemein Nietzsches Überzeugung von der Nichtexistenz der ›Wahrheit‹ in der Natur (s. z.B. FW: Viertes Buch 301, KSA 3, 540) bzw. von der ›Wahrheit‹ als sozialer Übereinkunft (s. z.B. FW: Zweites Buch 76, KSA 3, 431), seine Beschreibung des sozialen Miteinanders als ›Lüge‹ (s. z.B. WL 1, KSA 1, 881) und ›Schauspiel‹ (FW: Fünftes Buch 352, KSA 3, 588; ebd. 356, ebd., 595) sowie schließlich die Übertragung des Sprachmodells auf die gesamte Geistesgeschichte (WL 1, KSA 1, 880; M: Zweites Buch 119, KSA 3, 113). S. 668: »Es como si hubiese otro mundo para él. […] habla, y eso le ha servido para inventar lo que no hay y no fijarse en lo que hay«. Ebd.: »La lengua le sirve para mentir, inventar lo que no hay y confundirse. […] él, el animal hipócrita por excelencia. El lenguaje le ha hecho hipócrita. […]«. S. 669: »[…] y de aquí mil atrocidades…humanas, que ellos se empeñan en llamar perrunas o cínicas«.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
belebte und unbelebte Natur unterwirft.49 ›Wahrheit‹50 , ›Logik‹51 , ›Nützlichkeit‹,52 ›Wissenschaft‹53 und der damit einhergehende Glaube an das ›Subjekt‹54 gelten als nachträgliche Konstrukte des menschlichen Bewusstseins. Als einzigen aufrichti49
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S. z.B. S. 538: »¡Hasta los animales domésticos se contagian de nuestros vicios! […] ¡Hasta a los animales que con nosotros conviven le hemos arrancado del santo estado de naturaleza! ¡Oh, humanidad, humanidad!«; S. 586: »Y estos pobres árboles, ¿son ellos? Se les cae la hoja antes, mucho antes que a sus hermanos del monte, y se quedan en esqueleto […]. ¡Pobres árboles que no pueden gozar de una de esas negras noches del campo […]! Parece que al plantar a cada uno de estos árboles en este sitio, les ha dicho el hombre: ›tú no eres tú!‹, y para que no lo olviden les han dado esa iluminación nocturna por luz eléctrica…, para que no se duerman, ¡pobres árboles trasnochadores! […]«. S. z.B. S. 544: »[…] el sueño de dos es ya la verdad, la realidad«. Der Mensch meine, im rein ›Zufälligen‹ Notwendigkeiten und Kausalitäten zu erkennen, s. dazu z.B. S. 516: »¿No te parece que esa idea de la necesidad no es sino la forma suprema que el azar toma en nuestra mente?« Der Roman spricht sich implizit gegen die moderne Nützlichkeitsgesellschaft aus, in welcher alles als ›nützlicher‹ Teil eines in sich logischen Gefüges verstanden wird. Als letzter Garant des Sinnzusammenhangs aller Dinge gilt dabei Gott, s. dazu z.B. 487: »Es una desgracia esto de tener que servirse uno de las cosas […]; tener que usarlas. El uso estropea y hasta destruye toda belleza. […] Aquí, en esta pobre vida, no nos cuidamos sino de servirnos de Dios; pretendemos abrirlo, como a un paraguas, para que nos proteja de toda suerte de males; s.a. S. 502: »¡El piano! Y eso ¿para qué sirve? […] Pues ahí estriba su mayor encanto, en que no sirve para maldita de Dios la cosa, lo que se llama servir. Estoy harto de servicios…«. S. S. 578; s.a. die Parodie des Gelehrten Antolín S. Paparrigópulos, der sich auf rein theoretischer Ebene der Psychologie der ›Frau‹ widmet, S. 611: »A este Antolín, erudito solitario que por timidez de dirigirse a las mujeres en la vida y para vengarse de esa timidez las estudiaba en los libros, fue a quien acudió a ver Augusto para de él aconsejarse.« Im Kontext seiner Kritik an der steten Verwissenschaftlichung und Abstrahierung des Lebens lässt Unamuno seine Figur Don Fermín die »ortografía fonética« einfordern, d.h. eine Schriftsprache, welche sich an der gesprochenen Sprache orientiert (s. Nietzsches Engagement für eine Sprache nach dem Vorbild des Lebens). Wie Nietzsche und Pirandello geht Unamuno davon aus, dass das Ich bzw. Du aus vielen ›Einzelseelen‹ bestehe, welche zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Erscheinung träten, s. dazu a. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 342, 394 u. 413. Sich selbst oder sein Gegenüber zu kennen, sei daher niemals vollständig möglich, man kenne immer nur einen Teil davon, s. z.B. S. 516: »¿Es ella una creación mía o soy creación suya yo? […] Muchas veces se me ha ocurrido pensar […] que yo no soy, e iba por la calle antojándoseme que los demás no me veían. Y otras veces he fantaseado que no me veían como yo me veía yo […]«. Unamuno wendet diese Erkenntnis auf die ›Liebe‹ an, welche dadurch ihrerseits infrage gestellt wird. Wenn der ›geliebte‹ Mensch vielleicht nur der Projektion eines subjektiven Wunsches entspricht bzw. wenn sich Liebe auf Besitzanspruch, Eifersucht und Selbstliebe gründet, dann gibt es, wie Unamuno indirekt verstehen lässt, streng genommen keine Liebe, s. dazu S. 530: »¿Hay una sola Eugenia, o son dos, una la mía y otra la de su novio? Pues si es así, si hay dos, que se quede él con la suya, y con la mía me quedaré yo.«; bzw. S. 578f: »Probablemente no nace el amor sino al nacer los celos; son los celos los que nos revelan el amor. […]«.
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gen Gradmesser für den Menschen lässt Unamuno daher in Übereinstimmung mit Nietzsche,55 die physiologischen Gesetzmäßigkeiten, wie Geburt und Tod zu: […] enseña mucho la vida, y más la muerte; enseñan más, mucho más que la ciencia. […] la vida es la única maestra de la vida […]. Sólo se aprende a vivir viviendo, y cada hombre tiene que recomenzar el aprendizaje de la vida de nuevo… (S. 547f) […] La única verdad es el hombre fisiológico, el que no habla, el que no miente… […] (S. 578) Auch die Kirche scheint in Niebla nur noch das Relikt des herkömmlichen christlichen Glaubens darzustellen und stattdessen eine neuartige Funktion zu erfüllen. Als Augusto in der Kirche mit seinem alten Bekannten Don Avito Carrascal zusammentrifft, deutet sowohl seine Überraschung über den Ort ihrer Begegnung – »Pero ¿usted por aquí?« – als auch seine entgeisterte Frage »¿De modo es que ahora cree usted?« darauf hin, dass das Christentum als Glaube unter den Figuren des Romans keine Selbstverständlichkeit mehr darstellt. Don Avitos anschließende Erläuterung, für ihn sei die Kirche »[el] hogar de todas las ilusiones y todos los desengaños« (S. 547f), d.h. der Mensch suche die Kirche bei allen großen Illusionen und Enttäuschungen auf, was indirekt auch den christlichen Glauben selbst als menschliche Illusion entlarvt, entfernt sich bereits maßgeblich von der theologischen Definition der christlichen Kirche. Wie Nietzsche und Pirandello beschreibt Unamuno die paradoxe Situation, dass dasselbe Denken, welches die logisch-rationale ›Realität‹ hervorbringt, eben diese Realität und damit sich selbst rational infrage stellt: »El triunfo supremo de la razón, facultad analítica, esto es destructiva y disolvente, es poner en duda su propia validez«.56 Auch bei Unamuno versinnbildlicht Shakespeares Figur des Hamlet die niemals stillstehende, quälerische Skepsis, welche das menschlichen Bewusstsein mit sich bringt.57 Unamuno kann vor diesem Hintergrund, wie Nietzsche, den cartesianischen Satz Cogito, ergo sum in sein Gegenteil verkehren: Nicht das Sein 55
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S. z.B. GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 47, KSA 6, 149: »[…] die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus…Die Griechen bleiben deshalb das erste Cultur-Ereigniss der Geschichte […]«. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 358. Im ersten Prolog zu Niebla heißt es hierzu, wobei unzweideutig auf Nietzsche angespielt wird (man beachte die Großschreibung der durch Gott verbürgten Sinnbereiche): »Si ha habido quien se ha burlado de Dios, ¿por qué no hemos de burlarnos de la Razón, de la Ciencia y hasta de la Verdad? (S. 474). S. S. 469: »[…] al extremo de escepticismo hamletiano de mi pobre amigo Pérez, que llegó hasta a dudar de su propia existencia […]«; S. 646: »[…] ya empiezas a devorarte. Lo prueba esa pregunta. ¡Ser o no ser…!, que dijo Hamlet […].«; vgl. GT 7, KSA 1, 56f: »In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln […].«; bzw. EH: Warum ich so klug bin 4, KSA 6, 287: »Versteht man den Hamlet? Nicht der Zweifel, die Ge-
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
folge aus dem Denken des Menschen, sondern das Denken aus seinem Sein: »La verdad es sum, ergo cogito, soy, luego pienso, aunque no todo lo que es, piense.«58
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Augusto Pérez im Zustand des ›Nebelhaften‹: Sinnleere, Fatalismus und Leiden
Mehr als dem eigentlichen ›Wahrheitsverlust‹, welcher bei Nietzsche und Pirandello in all seinen Teilaspekten erörtert wird, widmet sich Unamuno in seinem Werk den Folgen dieses ›Verlustes‹. Die Erkenntnis, dass die Natur entgegen aller menschlichen Wünschbarkeit, eindeutiger Wahrheiten bzw. logisch-rationaler Sinnzusammenhänge entbehre, bildet in Niebla daher nur den Ausgangspunkt der tragischen Auseinandersetzung. Der ›Nebel‹ im Romantitel nimmt leitmotivisch die Grundthematik des Romans vorweg und symbolisiert das spezifische ›Lebensgefühl‹, welches Unamuno in seinem philosophisch-theoretischen Hauptwerk Del sentimiento trágico de la vida dem »trágico abrazo« zwischen der »desesperación sentimental y volitiva« und dem »escepticismo racional« gleichsetzt.59 Genauer gesagt beruht dieses sentimiento auf der Einsicht, dass weder des Menschen innerste Wünsche, wie etwa sein Streben nach Unsterblichkeit, noch die Vernunft selbst rational haltbar sind.60 Übrig bleibt daher, wie bei Nietzsche, vorerst nicht mehr als der nagende Selbstzweifel und der Zustand der Trübsal. Dass das Substantiv ›Nebel‹ metaphorisch auf das Befinden des Protagonisten Augusto Pérez zu übertragen ist, das zeigen nicht zuletzt Wendungen wie »niebla espiritual« (S. 495), »conversación nebulosa« (S. 496), »la niebla de confusión que le envolviera« (S. 547) oder »la niebla de su cabeza y […] de su corazón« (S. 549). ›Nebel‹ steht dabei für die ›Verschwommenheit‹ der Welt, ihrer Werte und Möglichkeiten,61 den Mangel eines eindeutigen
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wissheit ist das, was wahnsinnig macht…Aber dazu muss man tief, Abgrund, Philosoph sein, um so zu fühlen…«. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 303; s.a. Niebla, S. 647; vgl. FW: Viertes Buch 276, KSA 3, 521: »Noch lebe ich, noch denke ich: ich muss noch leben, denn ich muss noch denken. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum. […]«; UB II 10, KSA 1, 329: »[…] als eine solche unlebendige und doch unheimlich regsame Begriffs- und Wort-Fabrik habe ich vielleicht noch das Recht von mir zu sagen cogito, ergo sum, nicht aber vivo, ergo cogito. […]«. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 360. Zur rationalen Infragestellung der Vernunft selbst, s. ebd., S. 365: »La fe en la razón está expuesta a la misma insostenibilidad racional que toda otra fe.« Unamuno macht das »indefinir« bzw. »confundir« zum Programm seines literarischen Schaffens, so heißt es im Prolog des Romans Niebla zu Unamunos literarischen Verfahren, welche autoreflexiv thematisiert werden: »Dicen que lo helénico es distinguir, definir, separar; pues lo mío es indefinir, confundir.« (S. 472) (Nietzsche hätte das Hellenische, wohlgemerkt, genau umgekehrt definiert).
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Sinns, eindeutiger Perspektiven sowie das damit verbundene Gefühl der Trostlosigkeit und des Überdrusses: La niebla de la vida rezuma un dulce aburrimiento, licor agridulce. Todos estos sucesos cotidianos, insignificantes; todas estas dulces conversaciones con que matamos el tiempo y alargamos la vida, ¿qué son sino dulcísimo aburrirse? (S. 503) Im Protagonisten löst dieser Zustand eine Haltung der Teilnahmslosigkeit aus,62 welche ihm ihrerseits den Eindruck verschafft, in einem Traum gefangen zu sein, mehr zu schlafen, als real zu existieren: »¿Sueño o vivo?« (S. 504); »¿vas despierto o dormido?« (S. 531); »¿estaré soñando?« (S. 634). Sein Empfinden, nicht Herr über sich, sondern vielmehr Spielball der anderen zu sein,63 wobei er als Person kaum wahrgenommen, geschweige denn ernst genommen wird,64 lässt ihn zunehmend an der Wirklichkeit und Authentizität seines Ichs zweifeln.65 Die Frage nach seiner eigentlichen Identität geht dabei mit dem Gefühl einher, sich selbst gegenüber fremd zu sein: […] sé de mí decirte que una de las cosas que me da más pavor es quedarme mirándome al espejo, a solas, cuando nadie me ve. Acabo por dudar de mi propia existencia e imaginarme, viéndome como otro, que soy un sueño […]. (S. 602)66 62
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Der Protagonist beschreibt sein Leben nach dem Tod seines Vaters so etwa als »sueño dulce« (S. 507). Ähnlich charakterisiert er sich später, wenn er die Passivität seines bisherigen Lebens unterstreicht: »[…] es que he estado hasta ahora tonto, tonto del todo, perdido en una niebla, ciego…No hace sino muy poco tiempo que se me han abierto los ojos. […] como si no hubiese vivido, lo mismo que si no hubiese vivido… […] Así he vivido desde que se murió mi madre, conmigo mismo, nada más que conmigo; es decir, dormido. […]« (S. 542f); s.a. S. 584: »[…] un perderse en la masa de hombres que iban y venían sin conocerle ni percatarse de él, le produjo el efecto mismo de un baño en naturaleza abierta […].« Augustos Leben scheint so etwa zunehmend in den Händen seiner Liebschaften zu liegen, s. S. 589: »¡Mira, Eugenia, por Dios, que no juegues así conmigo! La fatalidad eres tú; aquí no hay más fatalidad que tú. Eres tú que me traes y me llevas […]; eres tú que me haces quebrantar mis más firmes propósitos; eres tú que haces que yo no sea yo…«. S.a. S. 617: »Ahora soy yo el experimentado: esta mozuela [Rosario] está haciendo estudios de psicología masculina.« Er werde von anderen, so der Protagonist, behandelt, als sei er ein »don nadie« (S. 584); ein anderes Mal wird erzählt, wie ihn ein Bekannter auf einer Versammlung ignorierte – jedoch nicht aus bösem Willen, wie sich herausstellte, sondern da er ihn offensichtlich nicht einmal bemerkt hatte, s. S. 581: »›No le extrañe a usted, no lo ha hecho aposta; es que no se ha percatado siquiera de la presencia de usted‹. Y le contesté: ›Pues ahí está la grosería mayor; no en que no me haya saludado, sino en que no se haya dado cuenta de mi presencia‹.« S. S. 584: »[…] aquel yo del ›¡yo soy yo!‹, se le iba achicando, achicando y se le replegaba en el cuerpo […]«; s.a. S. 586: »Así jugamos también los mayores; ¡tú no eres tú!, ¡yo no soy yo! Y estos pobres árboles, ¿son ellos?« Unamunos Infragestellung des Ichs in Niebla gleicht in erstaunlicher Weise jener Pirandellos in Uno, nessuno e centomila. Bis in bestimmte Details hinein finden sich Gedanken aus Uno, nessuno e centomila (wie das ›Sichbetrachten‹ im Spiegel, das Fremdheitsgefühl gegenüber
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
Folglich begreift er sich als »sombra«, »ficción« und »muñeco de niebla« (S. 645).67 Nicht nur den zufälligen Launen seiner Mitmenschen ist Augusto ausgeliefert, sein ganzes Leben scheint unter dem Stern des Zufalls zu stehen. Der Mangel an Sinn und Zielgerichtetheit zeigt sich wortwörtlich im zufälligen ›Umherirren‹ Augustos, im »errar a la ventura« (S. 547), wobei dieses nicht nur die Art von Leben charakterisiert, als dessen ›Spaziergänger‹ sich Augusto erweist – »Porque Augusto no era un caminante, sino un paseante de la vida« (S. 487) –, sondern auf der Ebene des Romans auch das Handlungsmuster vorgibt: Los vientos de la fortuna nos empujan y nuestros pasos son decisivos todos. ¿Nuestros? ¿Son nuestros esos pasos? Caminamos […] El sendero nos lo hacemos con los pies, según caminamos a la ventura. Hay quien cree seguir una estrella; yo creo seguir una doble estrella […]. Y esa estrella no es sino la proyección misma del sendero al cielo, la proyección del azar. (S. 518) So ergeben sich die äußeren Romanereignisse, d.h. vor allem Augustos Zusammentreffen mit Eugenia, rein zufällig: Der Anfang des Romans schildert, wie Augusto nach einem gewohnheitsmäßigen Blick zum Himmel, mit Regenschirm das Haus verlässt, und wie ihn, während er noch der Frage nachhängt, wohin er gehen solle – »y ahora, ¿hacia dónde voy?, ¿tiro a la derecha o a la izquierda?« (S. 487) –, der Anblick eines hübschen Mädchens aus seinen Gedanken reißt. Hatte er sich gerade noch vorgenommen, um sich die Entscheidung leichter zu machen, der Richtung des ersten vorbeistreunenden Hundes zu folgen, folgt er nun der Gestalt der jungen Frau, bis diese in einem Haus verschwindet. Und wieder zufällig, aber ohne dass Augusto Eugenia wahrnimmt, kreuzen sich ihre Wege gerade in dem Moment, als Augusto, der vom Gedanken an die schöne Unbekannte besessen ist, die Richtung ihres Hauses einschlägt, um ihr einen Brief zu hinterlassen: »Y siguieron los dos, Augusto y Eugenia, en direcciones contrarias, cortando con sus almas la enmarañada telaraña espiritual de la calle.« (S. 495). Dass Augusto schließlich doch die Gelegenheit bekommt, Eugenia kennenzulernen, verdankt sich erneut einem Glücksfall: Während er um Eugenias Haus streift, fällt von einem Balkon über ihm ein Vogelkäfig, welchen Augusto instinktiv fängt und so zur Freude der Besitzerin
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der eigenen Person, die Gegenüberstellung verschiedener subjektiver Betrachtungsweisen) so auch in Niebla, s. dazu S. 516: »Y otras veces he fantaseado que no me veían como yo me veía yo, y que mientras yo me creía ir formalmente, con toda compostura, estaba, sin saberlo, haciendo el payaso, y los demás riéndose y burlándose de mí.«; bzw. S. 619: »¿No será acaso que mientras yo creo ir formalmente por la calle, como las personas normales – ¿y qué es una persona normal? –, vaya haciendo gestos, contorsiones y pantomimas, y que la gente que yo creo pasa sin mirarme o que me mira indiferentemente no sea así, sino que están todos fijos en mí y riéndose o compadeciéndome…?« S.a. S. 584: »La calle era un cinematógrafo y él sentíase cinematográfico, una sombra, un fantasma.«
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– diese ist keine andere als Eugenias Tante – deren »Pichín« rettet (S. 511). Zum Dank bitten ihn die Anwohner Doña Ermelinda und ihr Gatte Don Fermín herein und arrangieren für ihn kurze Zeit später, nachdem er ihnen sein Interesse an ihrer Nichte enthüllt hat, ein Zusammentreffen mit Eugenia in ihrer Wohnung (ab S. 519). Die Einsicht, dass die Welt durch das Zufällige, Willkürliche, Sinnlose regiert werde – »el azar es el íntimo ritmo del mundo« –, ist dabei genauso wie das damit einhergehende Seelenleid fester Bestandteil des ›tragischen Lebensgefühls‹, dessen doppelter Aspekt durch den ›Nebel‹ symbolisiert wird: »Y la vida es esto, la niebla. La vida es una nebulosa.« (S. 493). Augusto veranschaulicht den Widerspruch zwischen Natur einerseits, und Herz bzw. Seele andererseits, in einem Eugenia gewidmeten Gedicht als die schmerzvolle Trennung von Körper und Seele – »Mi alma vagaba lejos de mi cuerpo en las brumas perdida […]« (S. 629) –, welche allein die Liebe, so Augusto, zu heilen vermöge. Und doch drängt sich den Figuren immer wieder die Vermutung auf, dass der ›nebelumschleierte‹ Zufall, wie er sich etwa im Schachspiel oder in bestimmten Begegnungen manifestiere, womöglich selbst einer verborgenen Logik folge und als solche vielleicht jenem göttlichen Prinzip gleichkomme, welches unter dem Begriff der ›Vorsehung‹ bekannt ist: Aquí sí que hay lógica, en esto del ajedrez, y, sin embargo, ¡qué nebuloso, qué fortuito después de todo! ¿No será la lógica también algo fortuito, algo azaroso? Y esa aparición de mi Eugenia, ¿no será algo lógico? ¿No obedecerá a un ajedrez divino? (S. 497)68 Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die spezifischen Eigenschaften des ›Spiels‹ auf das Leben selbst übertragen. Wie im Spiel ist der Verlauf des Lebens ungewiss, jeder Schritt ist entscheidend und meist unumkehrbar, Verlieren oder Gewinnen zeigt sich abhängig von rätselhaften Gesetzmäßigkeiten, welche der Mensch nur bedingt beeinflussen kann: Y ya sabes : pieza tocada, pieza jugada. – ¡Vamos, sí, lo irreparable! – Así debe ser. Y en ello consiste lo educativo de este juego. […] ¿Es o no es un juego la vida? (S. 497f) Was Nietzsche als den ›Tod Gottes‹ beschrieb, ist in dem durch Niebla vermittelten Lebensgefühl unmittelbar spürbar. Schmerz, Einsamkeit und Verlassenheit69 68
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Eine Verknüpfung von ›Zufall‹ und göttlicher ›Vorsehung‹ findet sich in mehreren Äußerungen Don Fermíns, s. z.B. S. 512: »Rigen a los hombres y a sus cosas enigmáticas leyes, que el hombre, sin embargo, puede vislumbrar. […] ¿Quién conoce los caminos de la Providencia? […].«; S. 515: »¡Son misteriosos los caminos de la Providencia! – exclamó don Fermín –. Dios… […] Dios es también anarquista […].«; s.a. S. 519 u. S. 521. S. z.B. S. 501: »¡Solo!, ¡dormir solo!, ¡soñar solo! […]«; S. 517: »[…] el cielo de mi soledad«, »[…] la niebla de la existencia«, »dolor«. Als ›einsam‹ erweist sich der Mensch in Niebla sowohl auf zwischenmenschlicher, als auch auf metaphysischer Ebene.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
prägen das scheinbar willkürliche, sinnlose ›Nebel-Dasein‹, welchem der Mensch, gleich einem herrenlosen Tier, hilflos ausgesetzt ist: »Todos somos expósitos, Domingo«, erwidert Augusto auf die Bemerkung seines Hausangestellten, der zugelaufene Hund Orfeo sei ein »Findelkind« (S. 510). Wenn Augusto etwas später die Frage in den Raum stellt, was sein Hund wohl ohne ihn, seinen »amo«, »padre« und »dios« (S. 636) machen würde, so wird das Verhältnis Hund-Herr unmissverständlich zu jenem von Mensch und Gott in Analogie gesetzt. In der Tat kommt in der Darstellung des um seinen Herrn trauernden Hundes am Ende des Romans, die ganze Tragweite des ›Gottestodes‹ zum Ausdruck: Tenía experiencia de otras muertes […], pero a su amo le creía inmortal. Porque su amo era para él como un dios. Y al sentirle ahora muerto sintió que se desmoronaban en su espíritu los fundamentos todos de su fe en la vida y en el mundo, y una inmensa desolacíon llenó su pecho. (S. 667) Die Antwort darauf, ob es so etwas wie Glück für den Menschen gebe, scheint dabei in weite Ferne gerückt. »[F]elicidad«, »¿Quién sabe qué es eso…?«, so Augusto zu seiner Angestellten Liduvina, worauf beide betroffen zu Boden schauen: »Y los dos miraron al suelo, como si el secreto de la felicidad estuviese debajo de él.« (S. 525).70 Das Problem, wie sich ein allmächtiger, allwissender Schöpfergott mit dem Leid des Menschen in Einklang bringen lasse, begründete nicht nur Nietzsches Gotteswiderlegung,71 sondern steht auch in Niebla im Zentrum der philosophischexistenziellen Erörterung. In der Auseinandersetzung zwischen Augusto und seinem Autor und Schöpfergott ›Unamuno‹, der wie sich zeigen soll, als Romanfigur in Erscheinung tritt, entgegnet letzterer auf Augustos Flehen, er wolle nicht sterben (»Pero, ¡por Dios…! […]«), knapp und kalt: »No hay Dios que valga. ¡Te morirás!« (S. 654). In der Tat scheint der sich in der ersten Person Singular zu erkennen gebende ›Schöpfer‹ Unamuno bestens über das »Leben« und »Unglück« Augustos informiert zu sein, ohne auch nur im Geringsten daran zu denken, helfend einzugreifen.72 Nicht gütig und liebevoll erscheint dieser Schöpfer und Gottvater, sondern willkürlich, grausam und sich am Leid seiner Geschöpfe erfreuend. Der unter 70 71
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S.a. S. 539: »¡Y la felicidad también es teórica! – exclamó Augusto […].« S. z.B. M: Erstes Buch 91, 84: »Ein Gott, der allwissend und allmächtig ist und der nicht einmal dafür sorgt, dass seine Absicht von seinen Geschöpfen verstanden wird, – sollte das ein Gott der Güte sein? […] Würde es nicht ein grausamer Gott sein, wenn er die Wahrheit hätte und es ansehen könnte, wie die Menschheit sich jämmerlich um sie quält? […].«; s.a. JGB: Drittes Hauptstück 53, 72: »Das Schlimmste ist: er scheint unfähig, sich deutlich mitzutheilen: ist er unklar? – Dies ist es, was ich, als Ursache für den Niedergang des europäischen Theismus aus vielerlei Gesprächen, fragend, hinhorchend, ausfindig gemacht habe […]«. S. S. 648 : »Le atajé diciéndole que se ahorrase aquel trabajo, pues de las vicisitudes de su vida sabía yo tanto como él, y se lo demostré citándole los más íntimos pormenores y los que él creía más secretos.«
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diesen Bedingungen letzte Ausweg des Menschen, der ›Freitod‹73 oder Selbstmord, welchen auch Augusto zunächst in Erwägung zieht (S. 643 u. 647f), enthüllt sich dabei paradoxerweise als des Menschen äußerstes Aufbegehren gegen das Leiden und den Tod selbst, so dass sich der Akt des Hasses und der Grausamkeit nicht eigentlich gegen die eigene Person, sondern gegen jene blinde Macht richtet, welche dem Einzelnen dieses Leid zufügt: »Los más de los suicidas son homicidas frustrados«. Augusto gesteht der Autorfigur ›Unamuno‹ daher, dass er – sein Schöpfer – das wahre Objekt seines Tötungsvorhabens sei: »¿[Matar] [a] quién, pues? – ¡A usted! – y me miró a los ojos« (S. 653). »[E]s el amor«, »es el ansia suprema de vida, de más vida«, so Unamuno in Del sentimiento trágico de la vida, »que [a los suicidas] les mueve el brazo«.74 Wer dagegen mit Sicherheit wüsste, dass er niemals unfreiwillig sterben müsse, der – so argumentiert Unamuno weiter – würde kaum auf den Gedanken kommen, sich das Leben zu nehmen: »El que se mata, se mata por no esperar a morirse«.75
4.3
Augusto als agonista/luchador: Versuche der Sinngebung in der Liebe
Wie Nietzsche und Pirandello setzt auch Unamuno der Trostlosigkeit des Daseins ein Modell der Überwindung entgegen. Dieses entwickelt er konsequent aus der 73
74 75
Nietzsche widmet dem »freien Tode« ein Kapitel im ersten Teil von Also sprach Zarathustra, wo es heißt: »Stirb zur rechten Zeit: also lehrt es Zarathustra. […] Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will. […] Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger Nein-sager, wenn es nicht Zeit mehr ist zum Ja […]. Dass euer Sterben keine Lästerung sei auf Mensch und Erde, meine Freunde: das erbitte ich von dem Honig eurer Seele. In eurem Sterben soll noch euer Geist und eure Tugend glühn, gleich einem Abendroth um die Erde: oder aber das Sterben ist euch schlecht gerathen. Also will ich selber sterben, dass ihr Freunde um meinetwillen die Erde mehr liebt; und zur Erde will ich wieder werden, […] die mich gebar.« (Za I: Vom freien Tode; KSA 4, 93ff). Andere Textstellen betonen eher die Überwindung des Selbstmordgedankens, so etwa JGB: Viertes Hauptstück 157; KSA 5, 100: »Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.«; bzw. FW: Zweites Buch 107, KSA 3, 464: »Die Redlichkeit würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den guten Willen zum Scheine.« Dem Gedanken eines würdigen, ja gesegneten Sterbens im Einklang mit der Natur und dem Leben – ohne diese Art des Sterbens jedoch an den Selbstmord zu knüpfen –, bleibt Nietzsche bis in seine späten Werke hinein treu. Im Verhalten Jesu am Kreuz, der »starb wie er lebte, wie er lehrte – nicht um ›die Menschen zu erlösen‹, sondern um zu zeigen wie man zu leben hat« (AC 35, KSA 6, 207), sieht Nietzsche die Aufhebung zwischen Leben und Tod und damit den Sieg des Menschen über den Tod. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 310. Ebd., S. 459.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
bereits dargelegten Grundvoraussetzung des ›tragischen Lebensgefühls‹, dem Widerspruch von ›Vernunft‹ und ›Gefühl‹. Während, Unamuno zufolge, die ›Wünsche des Herzens‹, wie etwa die Vorstellung der persönlichen Unsterblichkeit nach dem Tod, üblicherweise durch die Vernunft widerlegt würden,76 relativiere sich die Vorrangstellung der Vernunft ihrerseits durch eine selbstbezügliche Vernunftkritik, d.h. durch eine sich auf rationale Mittel gründende Kritik an der Vernunft selbst. Wenn die ›Vernunft‹, ebenso wie der ›Glaube‹, der rationalen Infragestellung nicht standzuhalten vermöge, so löse sich der absolute Gegensatz von ›Vernunft‹ und ›Glaube‹ auf. Woran der Mensch glaube, ob er mehr seinem Verstand oder seinem Herzen nachgebe, erweise sich daher in letzter Konsequenz als unerheblich.77 Unamuno macht sich die »Skepsis«, den »Schwachpunkt der Vernunft« zunutze, um allen rationalen Einwänden zum Trotz, die gefühlte Welt des Glaubens und des Herzens zu verteidigen: »Y la vida […] busca el flaco de la razón y lo encuentra en el escepticismo […]«.78 Und doch ist Unamunos ›Glaube‹ nicht ohne die Auseinandersetzung mit der Vernunft zu denken. Ausdrücklich grenzt sich Unamuno nicht nur von den reinen Agnostikern, Atheisten bzw. Rationalisten ab, welche den Bereich des Übersinnlichen mit Verweis auf die Vernunft für entweder nicht beweisbar oder schlicht illusorisch und unrealistisch halten, sondern auch von den naiven Gläubigen, welche ohne jeden Zweifel an ihrer subjektiven Auslegung der Welt festhalten. Unamuno optiert für einen Mittelweg: »Solo espero de los que ignoran pero no se resignan a ignorar; de los que luchan sin descanso por la verdad y ponen su vida en la lucha misma más que en la victoria«.79 Gerade der Zweifel, die Ungewissheit (»incertidumbre«), das »¡Quién sabe!« bilde die Grundlage seines Glaubens, welcher sich bei genauerer Betrachtung als ein Glaube aus Nichtglaube und das Ergebnis eines »Kampfes« zwischen Herz und Verstand erweist: »[…] por mi parte no quiero poner paz entre mi corazón y mi cabeza, entre mi fe y mi razón; quiero más bien que se peleen entre sí«.80 Bereits in Del sentimiento trágico de la vida erklärt Unamuno das Christentum zu jener »Institution«, deren »Hauptziel« es sei, des Menschen höchsten und am tiefsten verwurzelten Wunsch und Glauben, »esa fe en la inmortalidad personal del alma« zu bewahren.81 Etwa zehn Jahre später legt er mit La agonía del cristianismo eine Interpretation des Christentums vor, der zufolge dieses den solidarischen »Kampf« der Menschheit »contra la verdad, 76 77 78 79 80 81
S. z.B. ebd., S. 338: »[…] no hay manera alguna de probar racionalmente la inmortalidad del alma. Hay en cambio, modos de probar racionalmente su mortalidad.« Vgl. ebd., v.a. S. 338-399 (d.h. »V. La disolución racional«/ »VI. En el fondo del abismo«/ »VII. Amor, dolor, compasión y personalidad«). Ebd., S. 369. Miguel de Unamuno, »Mi religión«, S. 54. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 370ff, v.a. S. 371. Ebd., S. 320.
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contra la verdad de la muerte« und für die »propia salvación individual y personal« darstelle.82 Der Begriff der ›Agonie‹ wird somit wörtlich als ›Kampf gegen den Tod‹ bzw. ›Todeskampf‹ verwendet und auf die Gesamtheit des Lebens übertragen: »Agoniza el que vive luchando, luchando contra la vida misma […] [y] contra la muerte.«83 Christus selbst habe uns, so Unamuno, diesen ›Kampf‹ vorgelebt: »Y el Cristo vino a traernos agonía, lucha y no paz. Nos lo dijo él mismo […]«.84 Dem Leser kann hier nicht entgehen, dass Unamuno, während er über das Christentum zu sprechen scheint, in dieses sein ›tragisches Lebensgefühl‹ hineinprojiziert, so dass sich die christliche Praxis in Unamunos Argumentation in eine Haltung der Stärke und des Muts verwandelt, welche darin besteht, sich dem Leiden, der Sinnlosigkeit und dem Tod trotz besseren Wissens zu widersetzen. Wenn Unamuno diese Haltung als ›Kampf‹ oder ›Krieg‹ stilisiert, wenn er vom »Krieg« im »Frieden« und »Frieden« im »Krieg« spricht, wobei er mit den Worten »Y esto es la agonía« schließt,85 so zeigt sich noch einmal, wie sehr sich Unamunos und Nietzsches gedankliche Wege insgeheim ähneln. Auch Nietzsche hatte im Zusammenhang seines Übermenschen-Konzepts vom »Krieg« gesprochen,86 ja er selbst hatte sich als »kriegerisch« bezeichnet (EH: Warum ich so weise bin 7, KSA 6, 274). Der ›Übermensch‹ wurde dabei als jene Art von Mensch verstanden, welcher sich angesichts der Sinnlosigkeit der Welt nicht der Verzweiflung hingibt, sondern lernt, sich im Kreislauf der Natur zu behaupten, indem er sich in unzähligen Kraftanstrengungen immer wieder aufs Neue überwindet. Anders als bei Unamuno fällt Nietzsches Bewertung Christi aus, was neue Züge in sein Übermenschen-Konzept hineinträgt. »[D]er Gegensatz zu allem Ringen, zu allem Sich-in-Kampf-fühlen«, »die Seligkeit im Frieden, in der Sanftmuth, im Nicht-feind-sein-können« (AC 29, KSA 6, 199f) kennzeichnet das Sein dieses besonderen Menschen, der in Nietzsches Spätwerk zum ›Übermenschen‹ par excellence wird. Als ›übermenschlich‹ gilt Nietzsche nun ein Mensch, der bereits alles Leiden und Kämpfen hinter sich gelassen hat und in den Zustand eines allen Dingen enthobenen Glücks übergegangen ist. Unamunos Ideal dagegen bleibt der ›kämpfende‹ Mensch, welcher der Sinnlosigkeit, dem Leiden und dem Tod trotzt. Zum Symbol dieses ›Kampfes‹ wird in Niebla der ausgesetzte, herrenlose Hund, dessen sich Augusto annimmt und ihn ›Orfeo‹ nennt. Die Wahl des mythischen Namens – »Orfeo, que así le bautizó, no se sabe ni sabía él tampoco por qué« (S. 510) – erweist sich vor diesem Hintergrund als weit 82 83 84 85 86
Miguel de Unamuno, La agonía del cristianismo, S. 543 u. 546. Ebd., S. 545. Ebd., S. 547. Ebd. S. z.B. Za I: Vom Krieg und Kriegsvolke, KSA 4, 58f: »Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt ihr führen und für eure Gedanken! […] Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr, als den langen. Euch rathe ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. […]«.
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weniger willkürlich, als es zunächst scheint. Vergegenwärtigt man sich, dass der Orpheusmythos, auf den sich die Religionsgemeinschaft der ›Orphiker‹ berief, die Unsterblichkeit der Seele nach dem Tod verkörperte, ja dass der mythische Dichter und Sänger Orpheus selbst immer wieder als »Präfiguration Christi« gedeutet wurde,87 so wird klar, warum das kleine, um sein Leben kämpfende Wesen den Namen Orfeo erhält. Verstärkt wird diese Deutung durch eine Bemerkung Augustos, mit welcher er sich selbst und dem kleinen Geschöpf Mut zuzusprechen versucht: »Mira, Orfeo – le decía silenciosamente –, tenemos que luchar.« (S. 510). Wie sein Hund gibt auch Augusto die Hoffnung nicht auf, »lucharemos« (S. z.B. 496 u. 506) lautet der Leitspruch seines neu begonnenen Lebens, in welchem er ›kämpfend‹ sein Recht auf Leben, Liebe und Glück einfordert. In erstaunlicher Ähnlichkeit zu Pirandellos Figur Moscarda fühlt sich Augusto durch die Ungerechtigkeit, welche ihm von außen widerfährt, im Innersten verletzt – »aquello […] le había llegado, doliéndole, al fondo del alma« (S. 533) – und begehrt dagegen auf: Y se dijo: »Así jugamos tambien los mayores; ¡tú no eres tú!, ¡yo no soy yo! […] ¡No, no, conmigo no se juega como con vosotros!« (S. 586) Als grundlegend bzw. ursächlich sowohl für die Entstehung des ›tragischen Lebensgefühls‹, als auch für dessen Überwindung, den ›Kampf‹, betrachtet Unamuno gleichermaßen die ›Liebe‹. Während er sich in diesem Punkt von Nietzsche, dessen Werk die Sphäre des Zwischenmenschlichen fast vollständig ausblendet, zu entfernen scheint, wird in Unamunos eigenwilliger Definition des Begriffs deutlich, dass die Denker auch hier weniger Unterschiede trennen, als man zunächst annehmen möchte. In Del sentimiento trágico de la vida nennt Unamuno die ›Liebe‹, welche er in die Teilbereiche »amor sexual« bzw. »carnal«, und »amor espiritual« unterteilt, »lo más trágico que en el mundo y en la vida hay«, denn in ihr folge »desengaño« auf »engaño«,88 die Liebe gehe somit immer wieder mit dem ›Tod‹ der Liebe einher. Und dies nicht nur im übertragenen Sinne, nicht selten werde ihr buchstäblich durch den Tod der geliebten Person ein Ende gesetzt. Nicht zufällig thematisieren Unamunos Romane und Erzählungen, so auch Niebla,89 immer wieder den für die 87
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L. Pressouyre: »Orpheus«, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 3, hg. von (u.a.) Engelbert Kirschbaum (Rom [u.a.]: Herder 1971), 356-358, v.a. S. 356. Orpheus »in der Unterwelt« wird so etwa zu Christus »in der Vorhölle« in Analogie gesetzt, wenn dieser nach seiner Kreuzigung die Seelen der Gerechten befreit. Des Weiteren finden sich Darstellungen Orpheus’ als »Guter Hirte«, wobei der durch sein Lyra-Spiel die »wilden Tiere« »bezaubernde« Orpheus mit dem die »hartnäckigen Sünder« bekehrenden Christus verglichen wird. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 381. Man denke an den Tod von Augustos Eltern (S. 507ff), Augustos Begegnung mit Don Avito, einer Figur aus Unamunos Roman Amor y pedagogía, der soeben seinen Sohn verloren hat (die Geschichte wird in Niebla als bekannt vorausgesetzt; S. 547f), die schwere Krankheit von Don Antonios Frau, welche diesen um ihr Leben fürchten lässt (S. 599) und schließlich an
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Hinterbliebenen schmerzhaften Tod von Familienangehörigen. Unamuno spricht hier aus eigener Erfahrung. Sein Werk lässt sich als Bewältigung einer religiösen Krise verstehen, welche der schleichende Tod seines nur sechsjährigen Sohnes Raimundo, seines dritten von insgesamt neun Kindern, in ihm auslöste.90 Dieser war nur wenige Monate nach der Geburt an Meningitis erkrankt, an deren Folgen er 1902 in frühem Kindesalter verstarb. Während das ›tragische Lebensgefühl‹ somit häufig gerade auf der Liebe und ihren Enttäuschungen basiert, kann sie Unamuno zugleich als »la única medicina contra la muerte« bezeichnen.91 Hoffnung und Trost inmitten des allgemeinen Elends spendet daher paradoxerweise ausgerechnet wieder die Liebe. Eugenia stellt so etwa für Augusto einen Ausweg aus seinem Leiden dar. Als ›Licht im Nebel‹92 gibt sie seinem Leben »finalidad«, »objetivo« (S. 529) und erweckt in ihm, der bislang in einem Zustand der resignierten Teilnahmslosigkeit gefangen war, neuen Lebensmut: El mundo le parecía más grande, el aire más puro y más azul el cielo. Era como si respirase por vez primera. […] Diríase que para él empezaba a estar el mundo iluminado por una nueva luz misteriosa desde dos grandes estrellas invisibles […]. Empezaba a conocer el mundo. […] (S. 524) Schnell zeigt sich jedoch, dass Unamuno ›Liebe‹ als reinen Selbstzweck begreift, welcher weniger auf ein jeweiliges Objekt der Liebe, als vielmehr auf die eigene Person gerichtet ist. In der nach außen projizierten Selbstliebe des Menschen, einem auch bei Nietzsche vorhandenen mystischen ›Selbstgefühl‹, welches alles und jedes nach dem eigenen Spiegelbild, mit dem Gepräge eines »leidenden«, »mitleidenden« und »liebenden« »Bewusstseins« versieht,93 gelinge es dem Menschen, sich selbst zu verewigen, und somit gegen die persönliche Endlichkeit und Kontingenz aufzubegehren: In der sexuellen Liebe verschmelze der eigene Körper mit dem fremden und ›vermehre‹ sich so physisch im Anderen, was durch die Fortpflanzung gekrönt werde, die »spirituelle Liebe« dagegen entspringe dem Mitgefühl, wodurch die eigene Seele in der des Anderen aufgehe und sich verewige. Der Mensch erkenne sich so beispielsweise im fremden Leiden wieder, bis dieses zum eigenen Leiden werde und sich Ich und Du ganz zu überlappen scheinen:
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Augustos eigenen Tod, welcher seinen Hund und seine Angestellten trauernd zurücklässt (S. 663 u. 667). S. z.B. Udo Rukser, Nietzsche in der Hispania, S. 291. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 381. S. z.B. S. 493f: »La vida es una nebulosa. Ahora surge de ella Eugenia. […] Me habían llevado allí sus ojos, sus ojos, que son refulgentes estrellas mellizas en la nebulosa de mi mundo.« S.a. S. 496f. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 387.
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Porque los hombres solo se aman con amor espiritual cuando han sufrido juntos un mismo dolor […] Porque amar es compadecer, y si a los cuerpos les une el goce, úneles a las almas la pena.94 Als mögliche Voraussetzung für die Entstehung des »amor espiritual« nennt Unamuno den Tod eines gemeinsamen Kindes: Y sucedió que sobre el fruto de su fusión carnal […] se dieron los amantes, los padres, un abrazo de desesperación, y nació entonces, de la muerte del hijo de la carne, el verdadero amor espiritual.95 In Niebla veranschaulicht Unamuno die aus dem Schmerz geborene Liebe am Beispiel Don Avitos, der nach dem Selbstmord seines Sohnes, zu seiner Frau, der Mutter seines verstorbenen Kindes findet (S. 549), und Don Antonios, welcher, von seiner Frau betrogen und verlassen, Trost bei der ihrerseits verlassenen Frau des Ehebrechers sucht und mit ihr schließlich sein wahres Glück entdeckt (S. 597ff). In dem durch Unamuno beschriebenen Streben des Menschen nach einer die Grenzen der eigenen Individuation überschreitenden Selbstentfaltung im Anderen, woraus Unamuno folgert, dass jedes Ich in Wirklichkeit ein »nosotros« darstelle – »Mi yo vivo […] vive sino en los demás, de los demás y por los demás yos« –96 ist, wenn auch erst auf den zweiten Blick, Nietzsches ›dionysischer‹ ›Übermensch‹ zu erkennen, der gerade im »Zerbrechen des principii individuationis« (GT 1, KSA 1, 28) zu einer gesteigerten Form von Ich-Gefühl gelangt.97 Der Wunsch nach Selbstverwirklichung im Anderen zeigt sich auch bei Augusto, der sich danach sehnt, mit einem anderen Wesen, sei dies nun Eugenia oder seine Haushälterin Rosario, bis in die innersten Gedanken, Gefühle und Träume hinein zu einer ›Lebenszelle‹ zu verschmelzen.98 In der Liebe zu seinen Kindern bzw. zu seinem Partner, welche Unamuno jeweils als eine nach außen getragene Selbstliebe enttarnt, erkenne der Einzelne eine Rechtfertigung seines Daseins und ein Motiv, mit Tat und Kraft für sein Leben gegen den Tod einzustehen. Augusto und Víctor, denen auf unterschiedliche Weise die Erfahrung der Liebe zuteilwird – Augusto meint in Eugenia, die Frau seines Lebens gefunden zu haben, und Víctor wird überraschend Vater eines Sohnes –, erscheint diese wie ein »Erwachen« aus einem Traum99 oder eine 94 95 96 97 98
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Vgl. ebd., S. 382-385. Das Zitat entstammt S. 383f. Ebd., S. 383. Ebd., S. 413. S. dazu z.B. S. 506 : »El amor es un éxtasis; nos saca de nosotros mismos«. S. z.B. S. 501: »Cuando se duerme en compañia, el sueño debe de ser común.«; S. 505f: »[…] somos dos mónadas complementaria una de otra. La familia es la verdadera célula social. Y yo no soy más que una molécula.«; S. 543: »No estar juntos durmiendo cada cual su sueño, ¡no!, sino dormir juntos, ¡dormir juntos el mismo sueño!«; S. 555: »Lo que yo necesito es alma, alma, alma. Y un alma de fuego, como la que irradia de los ojos de ella […]«. S. z.B. S. 540: »Eugenia, señores, me ha despertado a la vida, a la verdadera vida […]«.
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›Wiedergeburt‹, welche ihnen erstmals die Bürde des Todes bewusst macht. Der Gedanke an den möglichen Verlust der geliebten Person enthüllt den Tod nämlich mehr denn je als hohen Preis und Ungerechtigkeit: […] Con esto creo haber nacido de veras. Y para sufrir, para morir. […] Sí, el segundo nacimiento, el verdadero, es nacer por el dolor a la conciencia de la muerte incesante, de que estamos siempre muriendo. (S. 644)100 Auch Augusto drängt sich dabei zunehmend der Gedanke auf, dass die ›Liebe‹ nicht eigentlich dem jeweiligen Gegenüber gilt, sondern vielmehr einem persönlichen Liebesbedürfnis entspricht, welches im Dienst der eigenen Selbstentfaltung steht. ›Eugenia‹ stellt sich so immer mehr als die subjektive »creación« (S. 516) seines angeborenen ›Liebeshungers‹ heraus.101 An spezifische körperliche Merkmale der realen Eugenia kann sich Augusto daher, sobald er sie nicht mehr vor Augen hat, kaum erinnern (S. 499). Außerdem scheint sich seine ›Liebe‹ unkontrolliert auch auf andere Frauen zu übertragen, die ihm jedes Mal ebenso anziehend erscheinen (S. 530ff u. 605). Seine Gefühle entpuppen sich daher im Grunde als eine allgemeine ›Verliebtheit‹ in die ›Frau‹ an sich, welche er in Eugenia verkörpert sieht: Tú estabas enamorado, sin saberlo por supuesto, de la mujer, del abstracto, no de ésta ni de aquélla; al ver a Eugenia, ese abstracto se concretó y la mujer se hizo una mujer y te enamoraste de ella, y ahora vas de ella, sin dejarla, a casi todas las mujeres, y te enamoras de la colectividad, del género. (S. 532) In der sich auf die Gesamtheit des Seins ausweitenden Selbstliebe des Menschen, meint Unamuno nicht zuletzt, die eigentliche Bedeutung ›Gottes‹ zu entschlüsseln. ›Gott‹ sei das auf das Universum projizierte persönliche Bewusstsein, in welchem sich der Einzelne spiegle, mit ihm »leide«, »mitleide« und »liebe«: Y a esta conciencia del Universo, que el amor descubre personalizando […] es a lo que llamamos Dios. […] Dios es, pues, la personalización del Todo, es la Conciencia eterna e infinita del Universo […].102 Gott nicht als eine vom Menschen unabhängige, allmächtige Größe, sondern gedacht als Produkt der menschlichen »Selbstsucht« (FW: Drittes Buch 143, KSA 3, 490) – Nietzsche hatte sich, wie sich zeigte, bei seiner Widerlegung der herkömm100 Vgl. S. 543: »Esa mujer […] me ha vuelto ciego al darme la vista. Yo no vivía, y ahora vivo; pero ahora que vivo es cuando siento lo que es morir.« 101 S. z.B. S. 498: »Naturalmente, tú estás enamorado ab origine, desde que naciste; tienes un amorío innato. – Sí, el amor nace con nosotros cuando nacemos.« S.a. S. 500: »¿Seré un enamorado ab initio? Tal vez mi amor ha precedido a su objeto. Es más, es este amor el que lo ha suscitado, el que lo ha extraído de la niebla de la creación.« 102 Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 387.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
lichen Gottesvorstellung gerade auf dieses Argument gestützt.103 Nichtsdestoweniger kehrt im Bild des glückselig in sich ruhenden ›Übermenschen‹ ein Begriff des ›Göttlichen‹ zurück, welcher nun ausdrücklich den Menschen in den Mittelpunkt rückt und an mystische, pantheistische oder panentheistische Entwürfe anknüpft. Unamunos Vorgehen ist hier komplexer. Während er oberflächlich am christlichkatholischen Gottesbegriff festhält und sich so scheinbar von Nietzsche entfernt, verdeutlichen Details seiner Auslegung, dass sein ›Gott‹ ein ganz anderer als jener der christlichen Theologie ist. Der Glaube an ›Gott‹ enthüllt sich so schlicht als der eindringliche, sich allen vernünftigen Einwänden widersetzende Wunsch des Herzens, dass es diesen ›Gott‹ gebe,104 und ›Gott‹ selbst – nicht zu übersehen ist hier die genaue Umkehrung der alttestamentlichen Fassung im Buch Genesis – als das auf das Universum projizierte ›Spiegelbild‹ des menschlichen Bewusstseins,105 welchem auf diese Weise Trost und Rechtfertigung zuteilwird: Y la creencia en un Dios personal y espiritual se basa en la creencia en nuestra propia personalidad y espiritualidad. Porque nos sentimos conciencia, sentimos a Dios conciencia, es decir, persona […]. […] Y necesitamos a Dios para salvar la conciencia […].106 Wenn Unamuno folgert, in der Selbstbesinnung und Selbstsorge verschmelze das Ich mit dem Du und schließlich mit ›Gott‹, welcher als »Ser Supremo« und »conciencia colectiva«107 alle Einzelseelen umfasse, gleichzeitig aber in jeder dieser verkörpert sei – »Y este Dios, el Dios vivo, tu Dios, nuestro Dios, está en mí, está en ti, vive en nosotros, y nosotros vivimos […] en Él«108 – wird klar, dass Unamunos ›Gott‹ nur wenig mit dem monotheistischen Gott des Christentums gemeinsam 103 S. a. FW: Drittes Buch 112, KSA 3, 473: »[…] wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir Alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde!«; M: Erstes Buch 90, KSA 3, 83: »Wie Viele schliessen immer noch: ›es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn es keinen Gott gäbe!‹[…] In Wahrheit steht es nur so, dass, wer sich an diese Vorstellungen gewöhnt hat, ein Leben ohne sie nicht wünscht: dass es also für ihn und seine Erhaltung nothwendige Vorstellungen sein mögen, – aber welche Anmaassung, zu decretiren, dass Alles, was für meine Erhaltung nothwendig ist, auch wirklich da sein müsse!« 104 S. z.B. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 399: »Porque creer en Dios es en cierto modo crearle […]«; Miguel de Unamuno, »Mi religión«, S. 53: »Y si creo en Dios, o, por lo menos, creo creer en Él, es, ante todo, porque quiero que Dios exista […]. Es cosa de corazón. […]«. 105 Vgl. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 401: »No fue, pues, lo divino, algo objetivo, sino la subjetividad de la conciencia proyectada hacia fuera […]. El concepto de divinidad surgió del sentimiento de ella, y el sentimiento de divinidad no es sino el mismo oscuro y naciente sentimiento de personalidad vertido a lo de fuera«. 106 Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida: Das Zitat enthält zwei inhaltlich miteinander verwandte Textstellen der Seiten 395 und 399. 107 Ebd., S. 394, s.a. S. 478. 108 Ebd., S. 416.
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hat. Vielmehr scheint er eben jener pantheistisch oder panentheistisch anmutenden Mystik zu entstammen, welche, wie sich zeigte, Nietzsches ›Übermenschen‹ zugrunde lag. Das ›Göttliche‹ als die das gesamte Sein liebend umfassende und dieses zugleich übersteigende Kraft, wurzelt damit letztendlich auch bei Unamuno, in keinem anderen als im Menschen selbst. Dessen conciencia oder personalidad als die allgemeinmenschliche Conditio erweist sich in Unamunos Rede von ›Gott‹ und der ›Liebe‹ als das eigentliche Movens und göttliche Prinzip. Der Wunsch nach ›Gott‹ und ›Liebe‹ lässt dabei in der Schwebe, ob es ein von diesem Wunsch unabhängig existierendes höchstes Wesen bzw. eine zwischenmenschliche Erfüllung und Erwiderung des angeborenen ›Liebeshungers‹ gebe. In Niebla scheitern Augustos Versuche, in der partnerschaftlichen Liebe sein Glück zu finden. Eugenia willigt zwar nach langem Werben in eine Heirat ein, ergreift jedoch kurz vor der Hochzeit, sobald sie sich ihrer finanziellen Lage sicher weiß, mit ihrem Liebhaber Mauricio die Flucht, während Augusto mit einem Abschiedsbrief verlassen zurückbleibt.
4.4
Das Element des Tragikomischen
Anders als es die Thematik des ›tragischen Lebensgefühls‹ vermuten lässt, kennzeichnet sich Unamunos Schreiben gerade durch eine gewisse Leichtigkeit und Heiterkeit. Wie bei Nietzsche und Pirandello scheint diese Eigenschaft aus einer Haltung zu resultieren, welche das Tragische nicht ohne einen Beigeschmack von Komik, und das Komische nicht ohne eine tragische Komponente zu denken vermag. Das Ergebnis ist eine Form von »humorismo«, welche Unamuno im metafiktionalen Vorwort zu Niebla, in Anlehnung an Cervantes’ Don Quijote (S. 471), als eine Mischung aus »tristeza« und »alegría« (S. 490f), eine »burla muy en serio« (S. 471) oder ein »bufo trágico« (S. 472) definiert. Das ganze menschliche Leben stelle sich je nach Perspektive entweder als ›Komödie‹ oder ›Tragödie‹ dar (vgl. S. 491) und ergebe so als Gesamtbild eine »farsa fúnebre« oder »tragicomedia« (S. 571), in welcher Trauriges und Lustiges untrennbar miteinander vermischt seien: »La broma que no es corrosiva y confundente no sirve para nada. El niño se ríe en la tragedia; el viejo llora en la comedia.« (S. 643).109 Wie Pirandello vertritt Unamuno damit einen Begriff von ›Humor‹, welcher die tragische Kehrseite des Komischen durchblicken lässt. Das ›humoristische‹ Lachen sei folglich niemals »risa por la risa misma«, sondern werde durch die Einsicht getrübt, dass ihm die »Tragödie« immer schon auf Schritt und Tritt folge: »La risa no es sino la preparación para la tragedia.« (S. 622). 109 S.a. S. 472: »[…] una tragedia bufa, pero no en que lo bufo o grotesco y lo trágico estén mezclados e yuxtapuestos, sino fundidos y confundidos en uno.« S.a. den Begriff »humorismo confusionista« (S. 473).
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
Als eine der vielen Gemeinsamkeiten, welche Unamuno in seinem Aufsatz »Pirandello y yo« aus dem Jahre 1923 zwischen sich und dem etwa gleichaltrigen, ihm nur vom Hörensagen bekannten Pirandello feststellt, nennt Unamuno daher nicht umsonst die »seriedad humorística«. »Diríase que es algo que flota en el ambiente […] «, schreibt Unamuno über das ihm unerklärliche »Phänomen«, dass er und Pirandello, »dos espíritus, sin conocerse ni conocer sus sendas obras […]«, denselben geistigen Weg gegangen seien, analoge Konzepte entwickelt hätten und schließlich zu identischen Erkenntnissen gelangt seien.110 Während schon bei Pirandello Cervantesʼ Don Quijote als Paradebeispiel des ›humoristischen Werkes‹ erschienen war,111 steht die Figur Don Quijote bei Unamuno nicht nur im Mittelpunkt seines humorismo-Konzepts, sondern tritt schließlich in die Rolle des ›agonischen‹ Märtyrers, welcher auf die Gefahr hin, sich dem Gespött preiszugeben, an seinen subjektiven Idealen und Glaubenssätzen festhält.112 Als »Cristo español« steht Don Quijote damit auf gleicher Stufe wie Jesus Christus, derjenige, der von sich selbst sagte »Yo soy la verdad«113 und sich dabei der Gewalt und dem Spott der geifernden Menge überließ: La tragedia de Cristo, la tragedia divina, es la de la cruz. Pilato, el escéptico […] quiso convertirla por la burla […] e ideó aquella farsa del rey […] diciendo: ¡He aquí el hombre! […].114 Wie Nietzsche115 betrachtet Unamuno die jesuanische ›Wahrheit‹ als eine gefühlte, innere Wahrheit, welche keinen Anspruch erhob, Dogma oder Doktrin zu sein und daher von jeder Form von Wahrheitskritik entbunden sei.116 Dies nicht begriffen zu haben und dem subjektiven Glauben eines so besonderen Menschen mit Nichtachtung begegnet zu sein, sei, so Unamuno, das Vergehen, welches Pilatus mit seiner Frage »Was ist Wahrheit« auf sich geladen habe: 110 111
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113 114 115 116
Miguel de Unamuno, »Pirandello y yo«, S. 305f. Luigi Pirandello, L’umorismo, S. 129: »[über Don Quijote] […] vorremmo ridere, ma il riso non ci viene alle labbra schietto e facile; sentiamo che qualcosa ce lo turba e ce l’ostacola […]«. S.a. S. 139f. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 507: »Y hay una figura, una figura cómicamente trágica, una figura en que se ve todo lo profundamente trágico de la comedia humana, la figura de Nuestro Señor Don Quijote, el Cristo español […] y hay una filosofía, y hasta una metafísica quijotesca […] y una religiosidad quijotesca […]«. Miguel de Unamuno (1900): »La fe«, in: ders., Obras completas, VIII (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 2007), S. 345. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 521. Vgl. AC 34, KSA 6, S. 206: »Wenn ich irgend Etwas von diesem grossen Symbolisten verstehe, so ist es das, dass er nur innere Realitäten als Realitäten, als ›Wahrheiten‹ nahm […]«. Miguel de Unamuno, »La fe«, S. 343ff: »Pero no condenéis ninguna fe cuando sea espontánea y sencilla […] Porque Cristo dijo de sí: ›yo soy la verdad‹, díjolo de sí, y no de su doctrina.«
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Y así preguntan muchos ¿qué es verdad? sin ánimo alguno de recibir respuesta, y solo para volverse a lavarse las manos del crimen de haber contribuido a matar a Dios de la propia conciencia o de las conciencias ajenas.117 Die bei Pirandello und Unamuno gleichermaßen zu beobachtende Verquickung von Komik und Tragik kennzeichnete, wie sich zeigte, auch Nietzsches Denk- und Schreibstil: In der Vorrede der Fröhlichen Wissenschaft setzt er den Beginn der Tragödie (»[i]ncipit tragoedia«) dem Beginn der ›Parodie‹ (»incipit parodia«) gleich (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 1, KSA 3, 346) und beschwört damit eine Form der ›Komik‹ herauf, welche paradoxerweise an den Bereich des Tragischen gebunden ist. Die dem Vorwort zu Niebla entstammende Textstelle »Si ha habido quien se ha burlado de Dios, ¿por qué no hemos de burlarnos de la Razón, de la Ciencia y hasta de la Verdad?« (S. 474) scheint dabei den kaum zufälligen Nachklang zu Nietzsches ›parodistischem‹ Verfahren zu bilden, welches eben darin bestand, mit »Allem« zu »spielen«, »was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess« (FW: Fünftes Buch 382, KSA 3, 637). In einem Sonett unter dem Titel »Tragicomedia« behauptet Unamuno, »lo único que el hombre cumple en serio«, sei seine Geburt, diese stelle die wahre Tragödie des Lebens dar, was danach, bis zu seinem Tod folge, sei nichts als »Komödie«, Schauspiel (»teatro«) und »Farce«.118 Der Mensch, so Augusto und Víctor in Niebla, übernehme in dieser »comedia del dolor« die doppelte Rolle des »actor« bzw. »cómico« und des »espectador« (S. 578 u. 644). Das eigentliche ›Schauspiel‹ des Lebens, seine Wendungen und Wechselfälle scheinen dabei einer blinden Schicksals- und Schöpfermacht zu obliegen, welcher der Mensch hilflos ausgeliefert ist. Das Komische resultiert demnach aus dem Zufällig-Willkürlichen, welches des Menschen Pläne immer wieder durchkreuzt und so im Betrachter den Anschein eines gemeinen ›Scherzes‹ oder ›Spaßes‹ erweckt.119 In Niebla wird diese spezifische Eigenheit des Lebens anhand zahlreicher Einzelschicksale veranschaulicht. Víctor und seine Frau erfahren so etwa nach zwölf Jahren Ehe und zu einem Zeitpunkt, als sie sich nicht nur längst mit dem Umstand ihrer Kinderlosigkeit abgefunden haben, sondern ihr Wunsch nach einem Kind endgültig verblasst ist, dass sie Eltern werden, was ihr Eheleben auf eine harte Probe stellt (v.a. S. 554f). Augusto, dem die Klagen und die Trauer Don Avitos um den Tod seines Sohnes noch gegenwärtig sind, erschließt sich in Víctors verzweifeltem Bekenntnis die Absurdität des Lebens: »Aquél no se consuela de haber perdido a su hijo y éste no se consuela de ir a tenerlo.« (S. 555). Als in ihrer Tragik zugleich komisch erweist sich auch 117 118 119
Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 431. Miguel de Unamuno (1910): »LXXVI. Tragicomedia« (in: Rosario de sonetos líricos), in: ders., Obras completas, IV (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 1999), S. 387. S. z.B. S. 554 (Víctor über sein Schicksal): »Esto es una mala jugada de la Providencia, de la Naturaleza o de quien sea, una burla.« Augusto dagegen spricht von »la burla suprema« (S. 640) bzw. von »esta ferocidad de burla« (S. 646).
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die Geschichte Don Eloínos. Dieser versucht, als ihm von ärztlicher Seite aufgrund eines unheilbaren Herzleidens sein baldiger Tod vorausgesagt wird, sein Auskommen durch eine arrangierte Ehe mit der zweifachen Witwe Doña Sinfo zu sichern, welche mit der Aussicht auf eine kleine Rente nach Don Eloínos Ableben schließlich in eine Heirat mit ihm einwilligt. Unerwartet und zur Bestürzung der Witwe erholt sich Don Eloíno jedoch, so dass er erst viele Jahre später verstirbt (S. 567-571). Absurd wirkt schließlich auch die auf einem nicht beabsichtigten Partnertausch beruhende Familienkonstellation Don Antonios, der von seiner Frau betrogen und verlassen, ausgerechnet in der Frau und dem Kind deren Liebhabers seine wahre Familie findet. Der willkürlich hereinbrechende Schmerz und Kummer wird so auf wiederum willkürliche Weise zum Quell neuen Glücks (v.a. S. 597ff). Alle Züge des Tragikomischen verkörpert zu guter Letzt der Protagonist selbst, dessen klägliche Versuche der Selbstverwirklichung den Leser zwischen Mitleid und Erheiterung schwanken lassen. Ohne sich dagegen wehren zu können, scheint er sowohl im Guten als auch im Schlechten dem Schicksal bzw. dem Willen seiner Mitmenschen ausgeliefert zu sein. Bei seinen ziellosen Streifzügen durch die Stadt stößt er so z.B. rein zufällig auf Eugenia, und wieder ist es einem absurden Zufall geschuldet – Augusto fängt den von einem Balkon über ihm fallenden Vogelkäfig Doña Ermelindas –, dass es ihm gelingt, sich zu Eugenias Haus Zutritt zu verschaffen (S. 511). Eugenia verzaubert ihn dabei so sehr, dass er, trotz gegenteiliger Beteuerungen,120 immer mehr die Kontrolle über sich und sein Leben verliert. So ertappt er sich beispielsweise dabei, wie er, von Eugenia besessen, unbewusst fremden Frauen auf der Straße folgt, die ihn an Eugenia erinnern (S. 529ff). Sobald er dagegen der realen Eugenia gegenübertritt, weicht jegliche Willenskraft aus ihm und eine geradezu physische Schwäche überkommt ihn,121 welche ihn Eugenia und ihren Wünschen restlos ergeben macht. Seine Anbetung steigert sich dabei bis zu einem Akt der naiven Selbstlosigkeit: Ohne auch nur die geringste Gegenleistung von Eugenia zu verlangen, begleicht er ihre Hypothek und akzeptiert zuletzt, um ihres Glückes willen, nicht nur ihre Entscheidung für Mauricio, sondern verspricht zudem, für diesen eine geeignete Stelle zu finden (S. 561). Den Effekt des Komischen erzeugt schließlich auch die umgedrehte Rollenverteilung zwischen dem Hausherren Augusto und seinen Angestellten. Die üblicherweise einen jungen Lebemann aus gutem Hause bezeichnende Anrede »señorito« (s. z.B. S. 541 u. 635), mit welcher sich diese an ihren Herren wenden, erscheint in Bezug auf den kindlich-schwachen Augusto als 120 Diese wirken in Anbetracht seines tatsächlichen Verhaltens gegenüber Eugenia wenig überzeugend, s. z.B. Augusto zu Doña Ermelinda, S. 583: »[…] que yo no soy un piano en que se puede tocar a todo antojo, que no soy un hombre de hoy te dejo y luego te tomo, que no soy sustituto ni vicenovio, que no soy plato de segunda mesa…«. 121 Bei einem ihrer Zusammentreffen erleidet Augusto fast einen Ohnmachtsanfall, s. S. 535ff.
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pure Ironie.122 Anders als erwartet, sind es daher Augustos Angestellte, die ihm Ratschläge erteilen (S. 533f u. 616) und ihn zurechtweisen, so beispielsweise wenn sie ihm nahelegen, sich doch besser der Politik zu widmen, als sich in Liebesdingen und philosophischen Erörterungen zu verlieren (S. 592 u. 594). Augusto verwendet in der Tat immer mehr Zeit auf Überlegungen zur »weiblichen Psychologie« (S. 605) und auf sogenannte »Experimente« der Liebe (z.B. S. 615), deren eigentliches »Versuchskaninchen« letztlich jedoch niemand anderer als er selbst ist (vgl. S. 617f u. 625ff). Als Eugenia schließlich doch einwilligt, ihn zu heiraten, mit Mauricio dann aber kurz vor der geplanten Hochzeit die Flucht ergreift, wobei Augusto mit einem knappen Abschiedsbrief zurückgelassen wird, erkennt sich Augusto als das Opfer eines gemeinen ›Scherzes‹ (vgl. 640 u. 646). Ausschlaggebend sei im ›Schauspiel der Welt‹ jedoch nicht, so Víctor, wer über wen spotte bzw. wer über wen triumphiere, »devorar o ser devorado«, »burlarse de otros o ser burlado«, die eigentliche Kunst und Selbstbefreiung sei die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, »devorarse uno a sí mismo, burlarse de sí mismo« (S. 643). Diesen Gedanken hatte Unamuno bereits in Del sentimiento trágico de la vida im Hinblick auf Don Quijote und Jesus Christus, die beiden allen äußeren Widerständen trotzenden Verfechter des subjektiven Glaubens, formuliert: El más alto heroísmo para un individuo, como para un pueblo, es saber afrontar el ridículo; es, mejor aún, saber ponerse en ridículo y no acobardarse en él.123 Im Akt des heiteren »devorarse uno a sí mismo« (s.o.), welchen Augusto auf Víctors Anraten gewissermaßen an sich selbst vollziehen wird, lässt sich Nietzsches Überwindung und Umdeutung des Tragischen durch den ›Übermenschen‹ ausmachen. Wie Unamuno, hatte Nietzsche einer solchen Selbstüberwindung in Bildern der Ambivalenz, wie etwa des ›Übersichhinwegtanzens‹ oder des ›Selbstspotts‹ Ausdruck verliehen.124 122
Gerhard Müller sieht in der Figur des Augusto daher die Verkörperung eines »Anti-señorito«, vgl. Gerhard Müller: »Unamuno. Niebla«, in: Der spanische Roman. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Volker Roloff (Düsseldorf: Schwann-Bagel 1986), S. 294. 123 Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 521. 124 Vgl. z.B. Za IV: Vom höheren Menschen 15-20, KSA 4, 364-367: »Lernt über euch selber lachen, wie man lachen muss! […] ihre lerntet alle nicht tanzen, wie man tanzen muss – über euch hinweg tanzen! […] Wie Vieles ist noch möglich! So lernt doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! höher! Und vergesst mir auch das gute Lachen nicht!«; FW: Fünftes Buch 348, KSA 3, 583: »[…] selbst an Abgründen noch zu tanzen.«; EH: Der Fall Wagner 1, KSA 6, 357: »In solchen Fällen heiter sein und sich gutmüthig mit verspotten – ridendo dicere severum […]«.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
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Die ›Poetik‹ der nivola zwischen Fiktion und Wirklichkeit: Die Technik der mise en abyme
Unamunos philosophische Überlegungen schlagen sich nicht nur in der Form seiner Werke nieder, sondern gehen insgesamt mit einer Neubewertung der Funktion von Literatur einher.125 Niebla nimmt in diesem Zusammenhang eine herausragende Stellung ein: Das komplexe Ineinandergreifen von neuartigen formal-verfahrensmäßigen und inhaltlichen Aspekten hat dem Roman schon früh die Bezeichnung »novela experimental« oder »anti-novela« eingebracht.126 Dass sich Unamuno mit seinem Schreiben von allen bekannten Literaturgattungen, besonders von der etablierten Romanform des 19. Jahrhunderts bewusst abgrenzt, verdeutlicht die Neuschöpfung des sich an novela für ›Roman‹ anlehnenden Gattungsbegriffs nivola, mit welchem er Niebla überschreibt und zu welchem er in einem Prolog zur dritten Auflage des Werkes Stellung nimmt (S. 481).127 Interessant ist, dass die Charakteristika dieser ›Gattung‹ nicht nur implizit aus dem Diskurs hervorgehen, sondern dass sie inhaltlich thematisiert werden, so dass sich das Verfahren des Gesamttextes in dessen Inhalt spiegelt, welcher auf diese Weise gegenüber dem Gesamttext die Funktion einer mise en abyme erfüllt.128 Die mit der Thematisierung von Schreibverfahren auf der histoire-Ebene einhergehende Vermischung von Textund Wirklichkeitsebenen, wird sich dabei als ein auffälliges Merkmal der Gattung nivola herausstellen. Der Begriff nivola selbst, zur Bezeichnung einer neuen Erzählgattung, welche sich den Merkmalen des realistischen Romans entzieht, fällt das erste Mal im siebzehnten Kapitel von Niebla, als Víctor Augusto sein literarisches Projekt vorstellt: Pues así con mi novela, no va a ser novela, sino… […] nivola, eso es, ¡nivola! Así nadie tendrá derecho a decir que deroga las leyes de su género…Invento el género, e inventar un género no es más que darle un nombre nuevo, y le doy las leyes que me place. (S. 573) 125 126
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Dies gilt für seine Werke ab ca. 1900, sein erster Roman Paz en la guerra (1897) steht dagegen noch in der Tradition des historischen Romans realistischer Prägung. Hans-Joachim Lope: »Der moderne spanische Roman am Beispiel von Miguel de Unamunos Niebla (1914)«, in: Europäische Romane der klassischen Moderne, hg. von Anselm Maler (Frankfurt a.M.: Lang 2000), S. 57. Der Prolog erscheint in der bisher zitierten Ausgabe von Niebla, s. Miguel de Unamuno (1935): »Prólogo a la tercera edición o sea historia de Niebla«, in: ders., Obras completas, Bd. I (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 1995), 479-486. Auf die in Niebla auffällige Erzähltechnik der mise en abyme gehen auch Gerhard Müller und Hans-Joachim Lope ein, s. Gerhard Müller, »Unamuno. Niebla«, S. 297f; bzw. Hans-Joachim Lope, »Der moderne spanische Roman am Beispiel von Miguel de Unamunos Niebla (1914)«, S. 66.
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Die »Gesetzmäßigkeiten«, die Víctor für sein Schreiben beansprucht, werden im Folgenden einzeln aufgeführt. Anders als der traditionelle Roman zeichne sich seine nivola durch die Abwesenheit von Handlung und klar definierten Figuren aus. Das Thema und die Figurendynamik stünden somit nicht im Vorhinein fest, sondern entwickelten sich erst im Laufe des Schreibens, welches der Zufälligkeit des Lebens angepasst sei: Mi novela no tiene argumento, o mejor dicho, será el que vaya saliendo. El argumento se hace él solo. […] voy a escribirla como se vive, sin saber lo que vendrá […] sin plan alguno. Mis personajes se irán haciendo según obren y hablen, sobre todo según hablen; su carácter se irá formando poco a poco. Y a veces su carácter será el de no tenerlo. (S. 571f) Unamuno folgt hier dem Prinzip des »escribir […] a lo que salga«, welches er bereits in seinem gleichnamigen Aufsatz von 1904 in der Gegenüberstellung des »escritor ovíparo« (des »Eier legenden« Autors) und des »escritor vivíparo« (des »lebend gebärenden« Autors) vertritt. Während ersterer seine schriftstellerische Tätigkeit erst nach ausführlichen Studien und der Ausarbeitung eines ›Schreibplans‹ beginne – als Beispiel nennt Unamuno so etwa den naturalistischen Schriftsteller Zola –, schreibe letzterer, ohne zu wissen, wohin ihn sein Schreiben führe, intuitiv ›drauflos‹.129 Da im Schreibprozess der nivola der Autor als vorausplanendes, logisch-rationales Movens zugunsten irrational-intuitiver Mechanismen in den Hintergrund rückt, entfallen alle Arten von Beschreibungen, welche die Handlung so z.B. in eine Raum-Zeit-Struktur einordnen oder Figuren in ihrer physisch-psychischen Beschaffenheit charakterisieren. Stattdessen sorge, so Víctor, eine Vielzahl von Dialogen für Lebendigkeit, wobei selbst Monologe in der simulierten Gesprächssituation mit einem Hund, den Anschein von Dialogizität vermittelten (S. 573). Bereits bis hierher lässt sich das, was Víctor in Bezug auf sein fiktionales Werk anführt, auf die Gesamtstruktur von Niebla übertragen. Wie bereits die zitierte nivola-Passage beweist, besteht der ›Roman‹ fast auschließlich aus Gesprächen. Selbst dann, wenn Augusto allein ist, hängt er seinen Gedanken im ›Gespräch‹ mit seinem Hund Orfeo nach (vgl. S. 519). Was Víctor auf Augustos interessierte Frage »¿Y cuando un personaje se queda solo?« antwortet, charakterisiert daher absurderweise Augustos eigene Situation: »Entonces… un monólogo. Y para que parezca algo así como diálogo invento un perro a quien el personaje se dirige.« (S. 573). Dass Víctors Verfahren zugleich jenes seines Autors und Schöpfers ›Unamuno‹ ist, so dass sich dieses über die Ebene seiner nivola hinaus, in seiner ›Wirklichkeit‹ niederschlägt, wird am Ende des Romans explizit, als die Autorfigur ›Unamuno‹ zugibt, seine »Monologe« seien 129
Miguel de Unamuno (1904): »A lo que salga«, in: ders., Obras completas, VIII (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 2007), 693-705.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
stets »Dialoge« (S. 651). Die Vorstellung von der Dialogizität der Monologe entspricht Unamunos grundsätzlicher Überzeugung, dass jedes Ich, jedes »Bewusstsein« in Wirklichkeit ein »nosostros« oder eine »sociedad de individuos« darstelle, so dass »monólogos« eigentlich »monodiálogos« seien.130 Ähnlich verhält es sich mit der Thematik der »chistes lúgubres« und »gracias funerarias« (S. 622), die Víctor für seine nivola wählt, denn diese bildet en miniature Unamunos eigene, bereits im Prolog von Niebla erwähnte Vorliebe für das Tragikomische ab (vgl. S. 471ff). Wenn Víctor sich dadurch zugleich als ›Autor‹ und ›Geschöpf‹ des Tragikomischen erweist, so lässt sich dies auch auf den ›Autor‹ von Niebla übertragen. Auf Beschreibungen, welche die Handlung und die Figuren »in ein topographisch, historisch und soziologisch situierbares Umfeld« »einbetten«131 oder welche den Figuren persönliche Züge verleihen, wird in Niebla, ebenso wie in Víctors nivola fast vollständig verzichtet. Selbst Eugenias gepriesener Schönheit werden keine spezifischen körperlichen Merkmale zugeschrieben und dass sich die Handlung des Romans »in Spanien« »ansiedelt«, geht nur aus entsprechenden Eigennamen hervor.132 Die bis ins Unendliche fortsetzbare Verschmelzung der einander untergeordneten Wirklichkeitsebenen von ›Figur‹ und ›Autor‹, welche mit der Spiegeltechnik der mise en abyme und der verschachtelten Struktur des Buchs im Buch im ›Buch‹ des Lebens (Víctors Erzähltext, der Text Niebla und die dem absoluten ›Autor‹ und Schöpfer unterworfene Lebenswelt des realen Autors und Lesers) einhergeht, ist wiederum Teil von Víctors nivola-Poetik und Lebensauffassung: Y hay que corroer. Y hay que confundir. Confundir, sobre todo, confundirlo todo. Confundir el sueño con la vela, la ficción con la realidad, lo verdadero con lo falso; confundirlo todo en una sola niebla. (S. 642f) In der gleichsam positiven Umwertung des Begriffs ›Nebel‹, der nun nicht mehr allein Sinn- und Trostlosigkeit, sondern die Verschmelzung von Fiktion und Wirklichkeit symbolisiert, erschließt sich der Gleichklang von ›nivola‹ und ›niebla‹,133 auf welchen Víctors Versprecher »¿cómo dije?, navilo…nebulo…no, no, nivola, eso es, ¡nivola!« (S. 573) aufmerksam macht. Dass die Fiktion über die jeweilige Werkgrenze hinaus vor der vermeintlichen ›Realität‹ keinen Halt macht, wird dem Leser dabei nicht nur indirekt durch die mise en abyme-Technik vor Augen geführt, sondern ist Thema der Unterhaltung zwischen Augusto und Víctor. Während diese nämlich sich selbst zunehmend mit Víctors nivola in Beziehung setzen, übertragen sie die Vorstellung ihrer eigenen Fiktionalität gedanklich auf ihren hypothetischen Autor 130 Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 413; Miguel de Unamuno (1933): San Manuel Bueno, mártir, y tres historias más [darin: »Prólogo«], in: ders., Obras completas, II (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 1995), S. 301. 131 Gerhard Müller, »Unamuno. Niebla«, S. 299. 132 Ebd. 133 Ebd., S. 292.
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und Leser, denn letzterer würde in der Beschäftigung mit ihrer, Víctors und Augustos Geschichte (wie sie selbst in der Beschäftigung mit Víctors nivola), an seiner Realität zu zweifeln beginnen: […] si, como te decía, un nivolista oculto que nos esté oyendo toma nota de nuestras palabras para reproducirlas un día, el lector de la nivola llegue a dudar, siquiera un fugitivo momento, de su propia realidad de bulto y se crea a su vez no más que un personaje nivolesco, como nosotros. (S. 646) Das Verhältnis Víctors zu seinen nivola-Figuren bzw. jenes zwischen Augusto und seinem Hund Orfeo, als dessen »Herr« und »Gott« er sich auffälligerweise bezeichnet (S. 636), lässt sich demnach als mise en abyme zum Verhältnis Víctor/›Unamuno‹ bzw. Augusto/›Unamuno‹ verstehen, welches im Kleinen – dies verdeutlicht das Ende des Werkes – seinerseits das Verhältnis ›Unamuno‹/Gott abbildet. Im Umkehrschluss heißt das – auch darauf wird in der Unterhaltung zwischen Augusto und Víctor selbstbezüglich hingewiesen –,134 dass die ›Geschöpfe‹ ihrem ›Schöpfer‹ gegenüber autonom werden können, wodurch die Rangordnung in letzter Konsequenz kippt. Die Technik der mise en abyme in Niebla steht im Zusammenhang einer auch bei Nietzsche und Pirandello beobachtbaren, mit der Kritik an Wahrheit und Vernunft einhergehenden Problematisierung des Schreibens bzw. Erzählens. Statt Wirklichkeit mit sprachlichen Mitteln abzubilden und dadurch eine realitätsgetreue Illusion zu erzeugen, rekurriert der Text, dem die Einsicht zugrunde liegt, dass es so etwas wie ›Wirklichkeit‹ nicht gebe, mit Hilfe der mise en abyme autoreflexiv auf seine eigenen Verfahren und Inhalte, womit er seine eigene Fiktionalität bloßlegt und die Illusion der dargestellten ›Wirklichkeit‹ durchbricht. Ähnlich wie bei Nietzsche und Pirandello folgt daraus eine Vermischung von Text- und Wirklichkeitsebenen. Der reale Autor und Leser werden nämlich in die Fiktion hineingenommen, so dass die Illusionsbrechung in der konkreten Lebenswirklichkeit fortgeführt wird. In dem Maße, wie Nietzsche, Pirandello und Unamuno die Möglichkeiten eines vernünftig-logischen Schreibens infrage stellen, optieren alle drei Autoren für eine Diskursform, die sich dem Zufälligen, der Lebendigkeit und der Spontaneität der natürlichen Welt angleicht. Erwartungsgemäß wird dadurch die Inhalts- bzw. Handlungsebene ihrer Texte in Mitleidenschaft gezogen. Die Handlungsarmut Nieblas – das äußere Geschehen des Romans beschränkt sich auf einige relativ folgenlose Begegnungen des Protagonisten – ist nicht nur Teil von Víctors Poetik,135 sondern wird erneut in einer Unterhaltung zwischen Víctor und Augus134
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S. S. 572 : »[Augusto zu Víctor über dessen nivola] que empezarás creyendo que los llevas tú, de tu mano, y es fácil que acabes convenciéndote de que son ellos los que te llevan. Es muy frecuente que un autor acabe por ser juguete de sus ficciones…«. Diese bestand, wie sich zeigte, unter anderem darin, die herkömmliche Handlung durch Dialoge zu ersetzen (S. 571f).
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to aufgegriffen und dadurch für den Leser transparent gemacht. Wieder hängen die beiden der Vorstellung nach, vielleicht selbst nur ›Figuren‹ eines verborgenen nivola-Autors zu sein, wobei sie implizit auch den Schöpferstatus letzteren infrage stellen: Si ahora, por ejemplo, algún…nivolista oculto ahí, tras ese armario, tomase nota taquigráfica de cuanto estamos aquí diciendo y lo reprodujese, es fácil que dijeran los lectores que no pasa nada, y sin embargo… (S. 645) Da Unamuno der Vernunft und der ›Realität‹ nicht mehr Wirklichkeit zuerkennt als der sogenannten ›Fiktion‹, widmet sich sein Werk nicht den historisch-individuellen Ausprägungen der ›Vordergrundsgeschichte‹ – dies erklärt den Verzicht auf Beschreibungen –, sondern der dieser innewohnenden, allen Menschen seit jeher gemeinsamen und daher ewig gültigen intra-historia, welche Unamuno im ersten Essay von En torno al casticismo dem dekadenten Spanien als Heilmittel zu seiner Genesung anrät.136 Das Verhältnis von historia und intra-historia fasst er im Bild des »Meeres«, wobei er Wellengang und Gischt der ständig wechselnden und daher oberflächlich-unbedeutenden ›Vordergrundsgeschichte‹ und die Tiefe und Unendlichkeit des Meeres der »ewigen Tradition« der intra-historia gleichsetzt: Las olas de la historia, con su rumor y su espuma que reverbera al sol, ruedan sobre un mar continuo, hondo, inmensamente más hondo que la capa que ondula sobre un mar silencioso y a cuyo último fondo nunca llega el sol. Todo lo que cuentan a diario los periódicos, la historia toda del »presente momento histórico«, no es sino la superficie del mar […] Esa vida intra-histórica, silenciosa y continua como el fondo mismo del mar, es […] la verdadera tradición, la tradición eterna […].137 Diese unter der Oberfläche der Geschichte und des öffentlichen Lebens, inmitten der Gegenwart wirkende intra-historia ist die eigentliche und authentische, ewig gültige Geschichte der Menschheit – oder vielmehr des Menschen an sich, des »hombre de carne y hueso, el que nace, sufre y muere«,138 denn sie erzählt sein alltägliches Dasein,139 seine innersten Wünsche und Träume, seine Ängste und Sorgen, seinen Kampf um Leben und Glück. Es sind daher auch in Niebla die 136
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Der zunächst adjektivisch benutzte Begriff »intra-histórico« erscheint einige Seiten später auch als Substantiv »intra-historia«, s. Miguel de Unamuno, En torno al casticismo (I. »La tradición eterna«), S. 80, 85 u. 88. Zum Verhältnis Spanien-intra-historia s. ebd., S. 82: »La tradición eterna es lo que deben buscar los videntes de todo pueblo, para elevarse a la luz, haciendo conciente en ellos lo que en el pueblo es inconciente […]. La tradición eterna española, que al ser eterna es más bien humana que española, es la que hemos de buscar los españoles en el presente vivo […]«. Ebd., S. 80. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 275. Vgl. Miguel de Unamuno, En torno al casticismo (I. »La tradición eterna«), S. 80.
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allzeit gültigen Themen der conditio humana wie Liebe, Elternschaft, Krankheit, Tod und Schmerz, welche den Roman inhaltlich dominieren. Seine Haupthandlung, das Schicksal des Protagonisten Augusto, spiegelt sich dabei in einer Vielzahl von eingestreuten Metadiegesen, welche die Betroffenen entweder selbst vortragen oder durch Außenstehende wiedergegeben werden. Zu nennen sind hier die zum Teil bereits zitierten ›Erzählungen‹ von Don Avito und seinem verstorbenen Sohn (S. 547ff), vom verspäteten Elternglück Víctors und seiner Frau (S. 550-555), vom tragikomischen Schicksal Don Eloínos (S. 567-571), von der verqueren Familiensituation Don Antonios (S. 595-600), und vom portugiesischen fogueteiro und seiner entstellten Frau (S. 601f).140 Diese »Mikroerzählungen«141 weisen ihrerseits inhaltliche Entsprechungen untereinander auf, so dass sich ein Spiegeleffekt aus thematischen Verweisen ergibt, durch welche die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit gesprengt werden. Wieder ist es die Technik der mise en abyme, die bewirkt, dass sich die inhaltlichen Spiegelungen, welche schon innerhalb von Niebla zwischen den verschiedenen Erzählebenen auftreten, über die Werkgrenze hinaus fortsetzen. Nach dem Vorbild von Cervantesʼ Don Quijote sieht auch Víctor für seine nivola das Einflechten von kleineren Erzählungen in die Haupthandlung vor. Als Beispiel nennt er die seiner eigenen Lebenswelt entspringende Geschichte Don Eloínos, welche mit der fiktionalen Handlung seiner nivola inhaltlich verschmelzen soll (S. 571). Víctors ›nivola-Poetik‹ gibt damit erneut das Verfahren des ihm übergeordneten ›Autors‹ wieder, welcher seinerseits in die Haupthandlung von Niebla thematisch ähnliche Geschichten, wie eben jene Don Eloínos oder Don Avitos, einfließen lässt, wobei mit Don Avito – darauf weist der Text mit einer Fußnote hin – an Unamunos real publizierten Roman Amor y pedagogía und seine Hauptfigur angeknüpft wird (S. 548). Die Figur des Don Avito hat sich damit über die Grenzen ihres Ursprungstextes hinaus gleichsam verselbstständigt. Denkt man die mise en abyme weiter, könnten die in Niebla eingebetteten Geschichten, die sich mit der Fiktion der nivola zu einer Einheit verbinden, zum Teil nun ihrerseits aus der Lebenswelt des realen Autors gegriffen sein, während seine Lebenswelt, vielleicht selbst nichts anderes als ein Geflecht aus Geschichten ›fiktionalen‹ und ›realen‹ Ursprungs darstellt und als solches in unendlicher Fortsetzung weiteren Wirklichkeitsebenen untersteht. Wenn es überall um das Gleiche geht, wenn sich die Fiktion in der Wirklichkeit spiegelt und umgekehrt, oder die Wirklichkeit der Fiktion 140 Die Geschichte erzählt von einem Feuerkünstler, der während einer Vorführung einen lebensbedrohlichen Unfall erleidet. Nicht nur er selbst wird dabei verletzt, Opfer des Unfalls ist auch seine Frau, deren Schönheit stets sein ganzer Stolz war: Das Feuer verbrennt und entstellt ihr ganzes Gesicht. Da der Feuerkünstler jedoch durch den Unfall sein Augenlicht verliert, bleibt er von der Schönheit seiner Frau überzeugt und seinem Eheglück wird kein Abbruch getan. 141 Gerhard Müller, »Unamuno. Niebla«, S. 298. Vgl. Hans-Joachim Lope, »Der moderne spanische Roman am Beispiel von Miguel de Unamunos Niebla (1914)«, S. 66.
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als gleichwertig gegenübertritt, dann wird die Trennung der beiden Ebenen überflüssig. Grenzen zwischen Fiktion und Lebenswirklichkeit, zwischen unterschiedlichen Werken sowie zwischen Zeitstufen verschwinden und weichen der Sphäre der alles umfassenden, ewigen intra-historia. Unamunos Vorgehen, die ›Geschichte der Menschheit‹ anhand ewig gültiger Einzelbeispiele der menschlichen Gefühlswelt zu illustrieren, wird dabei erneut durch eine fiktionsimmanente mise en abyme abgebildet: Der Gelehrte Antolín Sánchez Paparrigópulos, den Augusto aus Interesse an der weiblichen Psychologie konsultiert, betreibt eine Form der Geschichtsschreibung, bei der es ihm weniger um äußere Ereignisse, als vielmehr um das Aufzeigen von Sachverhalten geht, welche in der offiziellen Geschichtsschreibung unausgesprochen bleiben. Dieses an poststrukturalistische Denkansätze erinnernde Projekt einer ›Gegengeschichte‹142 tritt so etwa in Paparrigópulosʼ Erforschung der »intima vida pasada« seines Volkes, des »presente de sus abuelos« zutage, welches er in alten, bisher unbeachteten Zeugnissen wieder zum Leben erwecken will, wobei er, dem Leitspruch »ver el universo en una gota de agua« folgend, die Meinung vertritt, die »intensidad« des Materials gehe seiner »extensión« vor (S. 607f, vgl. S. 613). Einen ähnlichen Ansatz lässt sein Vorhaben erkennen, neben der ›Geschichte‹ der unbekannten, wenig beachteten Autoren, und jener, deren Werk unüberliefert ist, auch die ›Geschichte‹ derjenigen zu schreiben, welche einst die Absicht hatten, schriftstellerisch tätig zu werden, jedoch nie dazu kamen (S. 608f).
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Das Intervenieren der Autor-Figur ›Unamuno‹ und die Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit
Die Verschmelzung von Fiktion und Wirklichkeit ergibt sich nicht nur als Effekt der mise en abyme-Technik – verstärkt durch die Mutmaßungen der Figuren, welche sich im Zuge ihrer nivola-Reflexionen zunehmend selbst einem verborgenen ›Autor‹ unterworfen fühlen –, sondern wird dem Leser durch das aktive Eingreifen des Autors ›Unamuno‹ in den Erzähldiskurs und schließlich in die Erzählhandlung vor Augen geführt. Dem Aufbau und der Erzählperspektive des Romans kommt in diesem Zusammenhang die Rolle zu, die Lesererwartung immer wieder in die Irre zu führen. Der erste, mit Víctor Goti unterzeichnete Prolog, in dem dieser in der ersten Person Singular behauptet, Miguel de Unamuno habe ihn, einen dem spanischen Lesepublikum bislang unbekannten Autor, gebeten, ein Vorwort zu seinem 142 Münker und Roesler zufolge, liege dem poststrukturalistischen Denken und Schreiben das Anliegen zugrunde, »das Andere als den von theoretischen Strukturen ausgeschlossenen Rest zu rehabilitieren«, um »den blinden Fleck der jeweiligen Theorie aufzudecken« und dadurch die »Dezentrierung von strukturell-geordneten theoretischen Beschreibungen« voranzutreiben, s. Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, [Einleitung] S. XIII.
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neuen Buch zu verfassen, lässt so etwa vermuten, es handle sich um jene im realistisch-naturalistischen Roman geläufige Form von »Authentizitätsbeteuerung«, durch welche, wenn auch nur dem Schein nach, der Wahrheitsgehalt des nachfolgenden Berichts bezeugt werde.143 In der Tat gibt Víctor Goti an, der ihm persönlich bekannte Autor Unamuno behandle in seinem Roman bzw. seiner nivola das Schicksal seines guten Freundes Augusto Pérez, in welches nicht zuletzt auch er selbst, Víctor Goti, verstrickt sei. Neben tatsächlich stattgefundenen Unterhaltungen zwischen ihm und Augusto seien daher auch Ereignisse seines eigenen Lebens, wie etwa die Geburt seines späten Sohnes Victorcito, in der Handlung berücksichtigt. Unamunos angeblicher Schriftstellerkollege stellt dabei unter Beweis, dass er bestens über den realen Unamuno und dessen Werk informiert ist: So führt er etwa Unamunos »humorismo confusionista« bzw. das diesem zugrunde liegende spezifische »sentimiento de la vida« an, was beides, so Víctor, unter Unamunos Lesern auf allgemeines Unverständnis stoße (S. 472ff). Mit Unamuno verbinde ihn sogar eine weit zurückliegende Verwandtschaftsbeziehung, welche ein alter Freund – kein anderer als Antolín S. Paparrigópulos – mithilfe genealogischer Studien nachgewiesen habe (S. 470). Der Gattungsbegriff und das Verfahren der nivola, welche sich Unamuno bei der Konzeption seines Werkes zunutze gemacht habe und welche auch inhaltlich thematisiert würden, seien, so Víctor – er verweist hier auf die entsprechende Seite von Niebla –, seine eigene »Erfindung« (S. 469f). Der Prolog zielt damit unmissverständlich darauf ab, den Wahrheitsgehalt der im Folgenden dargestellten, scheinbar mitten aus der Lebenswelt des realen Autors gegriffenen Geschichte zu bezeugen, deren Erzähler eindeutig mit Unamuno identifiziert wird. Während der Leser, der bis hierhin annimmt, es handle sich um stilisierte, selbst im Dienst der Fiktion stehende Beteuerungen, erst im Laufe der weiteren Lektüre erkennen wird, dass es nicht bei der durch den Prolog suggerierten Wirklichkeitsillusion bleibt, muss ihn doch bereits Gotis Verweis auf dessen »querido maestro don Fulgencio Entrambosmares del Alquilón« (S. 476) stutzig machen. Für jene, die sich nicht an die Figur aus Amor y pedagogía erinnern, fügt Goti schnell hinzu, Unamuno habe von diesem ausführlich »en su novela o nivola Amor y pedagogía« berichtet (ebd.). Neben Unamuno, behauptet Goti also auch Don Fulgencio persönlich zu kennen, wobei letzterer dem Leser jedoch als Figur des fiktionalen Werkes Amor y pedagogía desselben Miguel de Unamunos bekannt ist, den Goti zugleich seinen Freund und Kollegen nennt. Wenn hier offensichtlich am Ende des Prologs eine der Fiktion entspringende Romanfigur mit Goti und Unamuno auf eine Ebene gestellt wird, dann erweist sich der durch den Prolog suggerierte Anspruch auf Wirklichkeit als äußerst fraglich. Nichtsdestoweniger betont der letzte Abschnitt noch einmal die Authentizität der Geschichte Augusto Pérezʼ. Sein Freund habe 143
Vgl. Gerhard Müller, »Unamuno. Niebla«, S. 293.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
sich, so Goti, entgegen der abgewandelten Version, welche Unamuno von Augustos Tod darbiete, »realmente y de hecho« das Leben genommen (ebd.). Auf den Prolog Víctor Gotis folgt nun ein mit ›Miguel de Unamuno‹ unterzeichneter »Post-prólogo«, in welchem ohne großes Aufheben sowohl Augusto Pérez, als auch der Prologschreiber Víctor Goti als fiktive Wesen entlarvt werden. Obgleich der vorgebliche Autor ›Unamuno‹ angibt, er sei mit dem »Geheimnis« um Gotis »Existenz« vertraut, wodurch dieser ganz seinem Willen unterworfen sei – wann immer es ihm beliebe, könne er ihm wie Augusto das Leben nehmen –, gesteht er ihm doch ein gewisses, für eine fiktive Figur mehr als ungewöhnliches Eigenleben zu. Wenn ›Unamuno‹ so etwa bestätigt, er habe Goti, welchen er »mi amigo« nennt, gebeten, einen Prolog zu seinem Werk zu verfassen oder wenn er sich über bestimmte, seiner Meinung nach, indiskrete oder schlichtweg irrtümliche Äußerungen Gotis empört (S. 477f), dann wird, entgegen der Ausgangsintention des Post-prólogo, an den Prólogo angeknüpft, welcher Víctor und ›Unamuno‹ derselben Wirklichkeitsebene zuordnet. Wie der genannten Don Fulgencio-Passage des Prólogos kommt dem Post-prólogo die Aufgabe zu, die bis dahin erzeugte Wirklichkeitsillusion zu durchbrechen und ihren fiktionalen Charakter bloßzulegen, während sich die scheinbare ›Wirklichkeit‹ des Autors umgekehrt als von fiktionalen Zügen durchwirkt offenbart. Der eigentliche Roman schließt sich auf den ersten Blick dem ersten Prolog und dessen Anspruch auf realistische Darstellung an. Das Geschehen wird so vorwiegend aus interner, teils externer Fokalisierung und personaler Erzählsituation heraus präsentiert, – jener seit dem Aufkommen des Realismus und Naturalismus populären Erzählform, bei welcher der Erzähler zugunsten der Innenperspektive der Figuren144 bzw. äußerlich wahrnehmbarer Vorgänge145 , scheinbar vollständig zurücktritt, so dass der Effekt eines stummen Kamera-Auges entsteht. In Cómo se hace una novela bezeichnet Unamuno ein solches um »impersonalidad« und »objetividad« bemühtes Erzählen, als dessen Prototypen er Flaubert identifiziert, als Heuchelei oder »mentira«, denn die Objektivität der Darstellung entspringe, so Unamuno, doch in Wirklichkeit nur der Subjektivität des Autors, der sich selbst verleugne. Unamuno kann daher behaupten, »Todos los personajes poéticos de Flaubert son Flaubert […]«.146 Tatsächlich bleibt es in Niebla nicht bei der durch realistisch-naturalistische Verfahren erzeugten Illusion. Ein Bruch macht sich im 144 Gedanken und Erinnerungen der Figuren werden zum Teil als innerer Monolog (s. z.B. S. 506ff) oder erlebte Rede wiedergegeben (s. z.B. 587: »Emprendería el viaje, ¿sí o no? Ya lo había anunciado, primero a Rosarito, sin saber bien lo que se decía, por decir algo […] ¿qué es lo que pretendió probarle con aquello de que iba a emprender un viaje?«). 145 So etwa, wenn die Erzählung Handlungen oder Dialoge rein äußerlich aufzuzeichnen scheint (s. z.B. die Unterhaltung zwischen Eugenia und Mauricio, S. 563ff). 146 Miguel de Unamuno (1927): Cómo se hace una novela, in: ders., Obras completas, VII (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 2005), S. 574f.
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dreizehnten Kapitel bemerkbar, als auf die Schilderung der Begegnung von Augusto und Don Avito und die Erwähnung der »lamentable historia de su hijo [de Don Avito]« eine Fußnote folgt, welche in der ersten Person Singular auf den Roman Amor y pedagogía verweist: »Historia que he contado en mi novela Amor y pedagogía« (S. 547f). Da der genannte Roman bekannterweise, wie Niebla, von Miguel de Unamuno stammt, lässt sich die erste grammatische Person auf den realen, auf dem Buchdeckel figurierenden Autor Unamuno zurückführen, der sich an dieser Stelle, entgegen dem Anspruch auf realistisch-unpersönliche Darstellung, als Autor und Erzähler, und Niebla, nicht anders als Amor y pedagogía, als fiktionales Werk bloßlegt. Und doch scheint die »lamentable historia«, die durch den Leser als Fiktion durchschaut wird, gleichsam Wirklichkeitswert zu erlangen, denn ›Unamuno‹ ruft sie in Erinnerung wie ein allseits bekanntes Faktum. Noch bevor sich ›Unamuno‹ im Erzähldiskurs endgültig als Autor zu erkennen gibt und schließlich in der Handlung als Figur auftritt, weisen kleine Abweichungen im Erzählfluss auf eine Veränderung der Erzählperspektive hin. Neben kaum merklichen und für die personale Erzählsituation durchaus typischen Übergängen zur auktorialen Perspektive, so etwa, wenn dargestellt wird, wie Augusto und Eugenia gedankenverloren aneinander vorbeilaufen, ohne dass sie sich bemerken (S. 495),147 wird dieser Wechsel in der Perspektive besonders deutlich in der Einführung und Beschreibung der Figur des Antolín Sánchez Paparrigópulos. Nicht aus der Perspektive Augustos, welcher Antolín aufsucht, wird hier erzählt, vielmehr mischt sich eine zunächst nicht klar identifizierbare Stimme in den Erzähldiskurs, die sich zum Teil in der ersten Person Plural148 und schließlich in der ersten Person Singular zu Wort meldet und sich als erzählende, ja schreibende Instanz enthüllt: »No se puede, en fin, escribir de este erudito singular sino con reposada serenidad […]. En este hombre, quiero decir, en este erudito, pues, pensó Augusto […]« (S. 610). Unterdessen ist die Handlung, auch ohne ›Unamunos‹ direktes Inszenetreten, mit Details aus seiner realen Lebenswelt gespickt, so dass in Anlehnung an den ersten Prolog vorgespiegelt wird, Unamuno entspringe derselben Wirklichkeitsebene wie Augusto und Víctor. Bei seiner Erläuterung des Neologismus nivola verweist Víctor so etwa auf die beiden Lyriker Antonio und Manuel Machado (S. 573), welche der reale Unamuno als Vertreter der Generación del 98 persönlich kannte. Ebenso scheint Augusto, welcher Antolín dem »cofrade […] que escribió un libro sobre psicología del pueblo español« (S. 612) gegenüberstellt, auf keinen anderen als Unamuno und sein Werk En torno al casticismo anzuspielen. Dass der Autor ›Unamuno‹ den Figuren der Romanhandlung durchweg bekannt ist, beweist der Umstand, dass sogar Augustos 147 Der Erzähler weiß mehr als seine Figuren. 148 S. z.B. S. 609: »Así diera la Providencia a España muchos Antolines Sánchez Paparrigópulos! Con ellos […] podríamos sacarle pingües rendimientos.«; bzw. S. 610: »Hemos dicho que Paparrigópulos sigue trabajando y preparando sus trabajos para darlos a luz. Y así es.«
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Hausangestellter Domingo auf Augustos Frage ¿Conoces a don Miguel de Unamuno, Domingo?, antwortet »Sí, algo he leído de él en los papeles. Dicen que es un señor un poco raro […]« (S. 661). Der dergestalt selbst mit der fiktionalen Handlung verstrickte Schriftsteller ›Unamuno‹ gibt sich schließlich in einem kursiv gesetzten Abschnitt am Ende des 25. Kapitels zu erkennen, in welchem er in direkter Anrede an den Leser feierlich erklärt, er sei der Erzähler, Autor und ›Schöpfergott‹ der nivola-Figuren Augusto und Víctor: »Y yo soy el Dios de estos dos pobres diablos nivolescos.« (S. 624). Nach weiteren fünf Kapiteln, in welchen die Handlung scheinbar in gewohnter Erzählperspektive ihren Lauf nimmt – Augusto wird endgültig von Eugenia verlassen –, übernimmt der auktoriale Erzähler, der nun umstandslos in der ersten Person Singular spricht und dabei selbst als Figur in Erscheinung tritt, endgültig die Erzählführung, wobei er allwissend über die Gedanken und Gefühle seiner Mitfiguren informiert ist. Unamunos in Cómo se hace una novela formulierte These, dass die »objektive«, »unpersönliche« Erzählweise in Wirklichkeit doch nur Ausdruck des Autor-Ichs sei, wird dem Leser damit konkret veranschaulicht.149 Das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit erreicht in Niebla seinen Höhepunkt, als Augusto, der in seiner Verzweiflung den Entschluss fasst, sich das Leben zu nehmen, ›Unamuno‹ in Salamanca aufsucht, um ihn – der sich, wie sich Augusto zu erinnern meint, in einem seiner Werke dem Selbstmord widmete –,150 bezüglich seines Vorhabens zurate zu ziehen: »[…] ocurriósele consultarlo conmigo, con el autor de todo este relato.« (S. 648). Dass es sich hier um eine Fiktionalisierung des lebenswirklichen Autors Unamuno handelt, zeigen biografische Details, wie etwa die Erwähnung seiner »trabajos literarios y más o menos filosóficos«, mit welchen Augusto bestens vertraut zu sein scheint, und die Tatsache, dass Unamuno zum Zeitpunkt der Niederschrift von Niebla tatsächlich seit mehr als zwanzig Jahren in Salamanca lebte: »Emprendió [Augusto], pues, un viaje acá, a Salamanca, donde hace más de veinte años vivo, para visitarme.« (Ebd.). Wurde der Leser bereits im zweiten Prolog bzw. spätestens im Nachspann des 25. Kapitels in Kenntnis gesetzt, dass die Geschichte Augustos die Erfindung des Autors ›Unamunos‹ darstellt, eröffnet dieser ›Autor‹ im 31. Kapitel paradoxerweise seiner eigenen Figur ihren fiktionalen 149 Auch Nietzsche, der, wie gezeigt wurde, Schreiben und Sprechen als Variante und Fortsetzung des widersprüchlichen, auf subjektiven Schätzungen beruhenden Lebens betrachtet und daher die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Text und Lebenswelt aufhebt, optiert für einen dem Leben nachempfundenen Schreibstil, der das Persönlich-Subjektive des Schreibenden offen darlegt und dessen Scheinhaftigkeit nicht verbirgt; vgl. dazu z.B. NF 1882-1884: »Zur Lehre vom Stil«, KSA 10, 38f; GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 24, KSA 6, 127; EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 4, KSA 6, 304. 150 Zweifellos ist hier Unamunos Werk Del sentimiento trágico de la vida gemeint, welches am Rande immer wieder die Möglichkeit des Selbstmords erwägt; s. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 310 u. 459.
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Status. Als Augusto nämlich ansetzt, ›Unamuno‹ von seinem Leben und seinem zuletzt gefassten Plan zu berichten, unterbricht ihn dieser und erklärt ihm, er könne sich die Mühe sparen, denn er als sein Schöpfer sei bis in die intimsten Einzelheiten über sein Leben informiert. Die Frage des Selbstmordes stelle sich ihm zudem gar nicht, da er nichts anderes als »ente de ficción«, »personaje de novela, o de nivola« (S. 649f) sei, und daher keine von seinem Schöpfer bzw. seinen Lesern unabhängige Existenz aufweise (vgl. S. 650f). Augustos Anstrengungen, ›Unamuno‹ vom Gegenteil zu überzeugen, führen schließlich dazu, dass dieser die Geduld verliert und zornig beschließt, sein ›Geschöpf‹ kurzerhand selbst sterben zu lassen: »[…] decido ahora mismo no ya que no te suicides, sino matarte yo. ¡Vas a morir, pues, pero pronto!, ¡muy pronto!« (S. 652). Was bis dahin implizit geblieben war, die Übertragung des Verhältnisses Autor/Figur auf jenes zwischen Gott und Geschöpf, geht nun unmissverständlich aus dem präsentierten Wortwechsel hervor. Spricht bereits Augusto von »esta vida que Dios o usted me han dado« (S. 654), so vergleicht ›Unamuno‹ das Unumkehrbare seines Entschlusses, Augusto sterben zu lassen, indirekt mit der göttlichen Vorsehung: Lo tengo ya escrito y es irrevocable; no puedes vivir más. No sé qué hacer ya de ti. Dios, cuando no sabe qué hacer de nosotros, nos mata. […] Ha llegado tu hora. Está ya escrito y no puedo volverme atrás. Te morirás. (S. 655) Dass durch die erzählte Konfrontation zwischen Autor und Figur, die Fiktion, als welche ›Unamuno‹ Augusto und seine Geschichte entlarvt, gewissermaßen ›Wirklichkeit‹ und die ›Wirklichkeit‹ (jene des ›Autors‹) ›Fiktion‹ wird, so dass sich die Ebenen unentwirrbar durchdringen, macht der Text selbst transparent, wenn Augusto einwirft, ›Unamuno‹ gestehe ihm allein durch ihr Gespräch eine von ihm unabhängige Existenz zu: »[…] el admitir esta discusión conmigo me reconoce ya existencia independiente de sí.« (S. 651). In der Tat unterhält sich ›Unamuno‹ mit seiner Figur, streitet mit ihr und wird schließlich – als handle es sich um eine Person seiner Lebenswelt – durch ein Telegramm von ihrem Tod unterrichtet (S. 664). Diese gezielte Vermischung der Ebenen veranschaulicht Unamunos These von der allgemeinen Fiktionalität und Scheinhaftigkeit der Welt, welche er nicht zuletzt mit Nietzsche teilt.
4.7
Die Auflehnung des intrahombre Augusto angesichts des Todes und die Verkehrung der Instanzen Figur-Autor, Mensch-Gott in der Welt der Fiktion
In dem Maße, wie Augusto die Macht über sein Leben zu entgleiten scheint, erwacht in ihm ein Gefühl des Trotzes, welches ihn gegen das ihm widerfahrende Unrecht aufbegehren und ihm schließlich eine gesteigerte Form von Subjektivi-
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tät zuteilwerden lässt. In Übereinstimmung mit Unamunos grundsätzlicher Überzeugung, dass der Mensch erst im Schmerz und im Leiden wahre Authentizität erlange,151 erlebt der Protagonist gerade in der tiefsten Demütigung, so etwa als ihn Eugenia endgültig verlässt, einen Grad von Bewusstheit, der ihm bislang verwehrt blieb: » […] después de esta burla, de esta ferocidad de burla, ¡ahora sí!, ¡ahora me siento, ahora me palpo, ahora no dudo de mi existencia real!« (S. 646). Statt sich der Verzweiflung hinzugeben, stellt er sich seiner Situation, nimmt den Schmerz an und findet so schließlich seine Erlösung. In diesem Sinne lässt sich auch Víctors Ratschlag verstehen, Augusto solle die Scheinhaftigkeit und Absurdität des Lebens schlichtweg hinnehmen, sich in sie einfügen, ja lernen, über sie zu lachen, denn nur so gelange er zur »perfecta ecuanimidad de espiritú«, zur »ataraxia« (S. 643). Dass Schmerz und Leid nicht nur einen maßgeblichen Teil des Lebens darstellten, sondern geradezu förderlich seien für »alle Erhöhungen des Menschen«, der in den Momenten des »Unglücks«, »Stärke« und »Tapferkeit« beweisen müsse (JGB: Siebentes Hauptstück 225, KSA 5, 161), hatte bereits Nietzsche gelehrt und bildete die Vorüberlegung zu seinem Übermenschen-Konzept. Sollte schon die bisherige Analyse dazu beigetragen haben, Unamunos bewusst zur Schau getragene Distanzierung von Nietzsche und seiner Philosophie zu entkräften, so entschleiert sich die grundsätzliche Wesensgleichheit ihrer Denkansätze endgültig in Unamunos Entwurf des intra-hombre bzw. des yo íntimo, einer Nietzsches ›Übermenschen‹ verwandten, mystischen Vorstellung des Menschen.152 Diese bildet den Dreh- und Angelpunkt sowohl von Nietzsches als auch von Unamunos Lebensanschauung. Der Begriff ›Übermensch‹ bezeichnete so einen Menschen, der im Laufe eines inneren Prozesses – oder mit Nietzsches Worten im Laufe »der härtesten Selbstsucht, Selbstzucht« (EH: Die Unzeitgemässen 1, KSA 6, 316f) – nicht nur gelernt hat, mit den Rückschlägen des Lebens umzugehen, sondern deren Schmerz nicht mehr zu spüren, ihn vielmehr als Teil des seligen Lebens anzuerkennen und zu ›lieben‹. Nietzsches ›Übermensch‹ verkörpert, ja lebt die ›ewige Wiederkehr‹ als die Aufhebung aller Gegensätze. Gestern, Heute und Morgen, Ich und Du, Leben und Tod verschwimmen für ihn in einem allen Gegensätzen und Zeitkategorien enthobenen Sein des Glücks. Ohne den Begriff intra-hombre zu verwenden, entwickelt Unamuno bereits in Del sentimiento trágico de la vida ein Modell der Überwindung 151
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Vgl. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 438f: »El hombre es tanto más hombre […] cuanta más capacidad para el sufrimiento, o mejor dicho, para la congoja, tiene […] El dolor nos dice que existimos, el dolor nos dice que existen aquellos que amamos […]«. Auch Sobejano betont die Verwandtschaft von Unamunos Konzept des intra-hombre bzw. cristiano und Nietzsches ›Übermensch‹, s. Gonzalo Sobejano, Nietzsche en España, S. 280, 285, 306 u. 308. Erwähnt sei hier auch die inhaltliche Überschneidung mit Pirandellos Konzept des »Dio di dentro«.
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der aus der »disolución racional« aller Wahrheit resultierenden Verzweiflung,153 in dessen Zentrum der subjektiv fühlende Mensch steht. Den Widrigkeiten des Lebens, der scheinbaren Sinnlosigkeit und Grausamkeit zum Trotz, sehnt sich dieser Mensch nach Glück, Liebe, vor allem jedoch nach Unvergänglichkeit, und macht dieses Sehnen zu seinem Lebensinhalt, zu seinem Glauben. Sein ›Gott‹ ist nicht der »Dios individual del rígido monoteísmo metafísico« als »Dios Razón«, sondern der ›lebendige, gefühlte Gott‹, »[el] Dios biótico«, »humano, antropomórfico«.154 Dass Unamuno hier, während er vordergründig von ›Gott‹ spricht, letztlich wie Nietzsche das ›Göttliche‹ nicht als eine vom Menschen unabhängige Instanz betrachtet, sondern vom ›leidenden‹, ›mitleidenden‹ und ›liebenden‹ Bewusstsein des Menschen155 ableitet, geht unmissverständlich aus seinen Formulierungen hervor: ›Gott‹ sei »la personalización del Todo«, »la Conciencia eterna e infinita del Universo«, »proyección de nuestra conciencia«.156 Wie bei Nietzsche entstammt das ›Göttliche‹ damit einer lebensbejahenden Kraft im Menschen selbst, welche die Gesamtheit des Seins liebend umfasst.157 Diese »fuerza íntima«, dieser »impulso a serlo todo, a ser también los demás« sei nicht nur das eigentlich »Göttliche« in uns, sondern »Gott« selbst: »Y esa fuerza cabe decir que es lo divino en nosotros, que es Dios mismo […]«.158 Unamunos Argumentation lässt in der Schwebe, ob jener ›Gott‹ dem Menschen und der Welt letztlich immanent oder transzendent sei, ob ›Gott‹ der Einzelseele – oder mit Unamunos Worten der conciencia des Menschen – innewohne oder die Einzelseele aus einer viel größeren, ihr gewissermaßen doch transzendenten göttlichen Conciencia hervorgehe und an ihr teilhabe.159 Im Vordergrund seiner Gottesvorstellung steht vielmehr, wie bei Nietzsche, das mystisches Erleben ›Gottes‹ im Diesseits, von Heilig- und Ewigkeit im Hier und Jetzt, im Zuge dessen sich sowohl Individualgrenzen als auch die Trennung zwischen Immanenz und Transzendenz, Mensch und Gott, Geschöpf und Schöpfer als hinfällig erweisen. In der mystischen Gotteserfahrung verschmilzt das ohnehin heterogene, aus 153
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Das fünfte Kapitel des Werks trägt den Titel »La disolución racional«, wohingegen die Folgen dieser ›rationalen Auflösung‹ im sechsten Kapitel »En el fondo del abismo« behandelt werden, s. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 338 u. 360. Ebd., S. 407f u. 411. Vgl. ebd., S. 387. Ebd., S. 387 u. 408. S. dazu Nietzsches Rede von der ›Alles-Liebe‹ des ›Übermenschen‹, versinnbildlicht im Leitspruch des »Amor fati«, vgl. z.B. FW: Viertes Buch 276, KSA 3, 521; bzw. FW: Fünftes Buch 345, ebd., 577. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 393f. Vgl. ebd., S. 394f: »[…] que somos los hombres a modo de glóbulos de la sangre de un Ser Supremo, que tiene su conciencia colectiva personal, la conciencia del universo. Tal vez la inmensa Vía láctea que contemplamos durante las noches claras en el cielo, ese enorme anillo de que nuestro sistema planetario no es sino una molécula, es a su vez una célula del universo, Cuerpo de Dios. […] Si hay una Conciencia Universal y Suprema, yo soy una idea de ella […]«.
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vielen Einzelseelen bestehende Ich160 mit den verschiedenen Dus, deren Kummer, Sorgen und Wünsche, Unamuno zufolge, letztlich keine anderen als seine eigenen sind,161 und versinkt schließlich in ›Gott‹, der gleichermaßen in jedem Einzelnen anwesend und verkörpert ist wie jeder Einzelne in Gott: Hay que creer en […] una vida en que cada uno de nosotros sienta su conciencia y la sienta unirse, sin confundirse, con las demás conciencias todas en la Conciencia Suprema, en Dios […].162 Wie Nietzsche begreift Unamuno ›Gott‹ somit als den die menschliche Verstandestätigkeit übersteigenden Zusammenfall aller Gegensätze in einem lebendigen, pluralen und daher göttlichen Sein: »Mi yo vivo es un yo que es en realidad un nosotros […] Y Dios, proyección de mi yo al infinito […] es también muchedumbre«.163 Das mystische, die Sphäre des Heiligen berührende, im Innersten jedes Menschen ruhende Ich, um welches bereits Del sentimiento trágico de la vida kreist, identifiziert Unamuno in Cómo se hace una novela schließlich mit dem »yo íntimo, divino, el que soy en Dios«, bzw. in Anlehnung an seinen Begriff der intra-historia mit dem sogenannten »intra-hombre«.164 Bezeichnete der Neologismus intra-historia die in der zeitlich und örtlich bestimmbaren ›Vordergrundsgeschichte‹ verborgene ›Gegengeschichte‹ der alltäglichen, seit jeher bestehenden menschlichen Traditionen, so beschreibt der Begriff intra-hombre die jenseits aller individuellen Ausprägungen, im Innersten jedes Einzelnen vorhandenen Konstanten des Ewig-Menschlichen, durch welche das Ich zum Du und das Du zum Ich wird: ¿No es acaso que mi hombre de dentro, mi intra-hombre, se toca y hasta se une con tu hombre de dentro, con tu intra-hombre de modo que yo viva en ti y tú en mí?165 Im Kern des ›Göttlichen‹ steht damit sowohl bei Nietzsche als auch bei Unamuno, dies beweisen ihre Entwürfe der ›ewigen Wiederkehr‹, des ›Übermenschen‹, der intra-historia sowie des intra-hombre, eine Idee des ›Ewigen‹, welche nicht nur die Kategorie der Zeit, sondern auch die Grenzen des Individuums außer Kraft setzt. Unamuno hat selbst, während er dem Leser genau das Gegenteil darzulegen versucht, auf die Verwandtschaft der Konzepte ›Übermensch‹ und intra-hombre auf160 Vgl. ebd., S. 415: »La conciencia de cada uno de nosotros […] es una sociedad de personas; en mí viven varios yos, y hasta los yos de aquellos con quienes vivo.« 161 Vgl. ebd., S. 283: »Pues no se trata de mí tan solo; se trata de ti, lector […] se trata de todos y de cada uno. […] Lo singular no es particular, es universal.« 162 Ebd., S. 478f; vgl. dazu a. die bereits zitierte Stelle ebd., S. 416: »Y este Dios, el Dios vivo, tu Dios, nuestro Dios, está en mí, está en ti, vive en nostros, y nosotros vivimos […] en Él.« 163 Ebd., S. 413. 164 Miguel de Unamuno, Cómo se hace una novela, S. 591 u. 613. 165 Ebd., S. 614.
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merksam gemacht, wenn er behauptet, »[e]l hombre de dentro, el intra-hombre« sei »más divino que el tras-hombre o sobre-hombre nietzscheniano«.166 Die vertiefte Auseinandersetzung mit den Vorstellungsbildern ›Übermensch‹ und intrahombre lässt die angebliche Divergenz zwischen Nietzsches und Unamunos Lebensanschauung jedoch fast vollständig zum Verschwinden bringen. Selbst in La agonía del cristianismo, wo Unamuno die Eigenschaften des intra-hombre, so etwa den beharrlichen, allen Widrigkeiten trotzenden »Kampf« um ein erfülltes Leben, der »cristiandad« bzw. dem »cristiano« zuordnet,167 erweist sich der scheinbare Gegensatz zwischen ›Übermensch‹ und cristiano insofern als trügerisch, als Nietzsche zwar die paulinisch geprägte Auslegung des Christentums ablehnt, Jesus Christus als den ersten und letzten ›Christen‹ jedoch nicht nur aus dieser Kritik ausnimmt, sondern ihn zum ›Übermenschen‹ schlechthin stilisiert, während Unamuno die Begriffe ›Christ‹ und ›Christentum‹ seinerseits ihrer konventionellen Bedeutung entfremdet. Vor diesem Hintergrund verschmelzen die vermeintlich gegensätzlichen Begriffe ›Christ‹, ›Übermensch‹ und intra-hombre zu einer Einheit. Im Mittelpunkt der drei symbolischen Bilder steht gleichermaßen der am Leben leidende Mensch, der gelernt hat, dieses sein Leiden zu überwinden und dabei zu einer Form von mystischer Selbsterkenntnis und Religiosität gelangt. Ohne dass in Niebla der Begriff intra-hombre fällt, scheint der Protagonist die innere Entwicklung zu einem solchen besonderen, in sich ruhenden Menschen zu vollziehen. Dass die Bewältigung des Leidens mit einem Bedürfnis nach religiösem Trost einhergeht, wobei ›Religion‹, entsprechend Nietzsches und Unamunos Überzeugung, einem konfessionell ungebundenen Gefühl des ›Heiligen‹ entspricht,168 zeigt sich so auch im Verhalten Augustos, der in den Momenten der inneren Zerrissenheit, beispielsweise als er von Eugenia einen Unheil verkündenden Brief erhält, fast unbewusst, das nächste Gotteshaus aufsucht (s. S. 547 bzw. S. 638) oder als er kurz vor seinem Tod seinen Hausangestellten darum bittet, für ihn das »padre nuestro, el ave maría y la salve« zu beten (S. 660). Die kultisch-liturgischen Elemente 166 Ebd., S. 613. 167 S. z.B. Miguel de Unamuno, La agonía del cristianismo, S. 543: »El cristianismo es un valor del espíritu universal que tiene sus raíces en lo más íntimo de la individualidad humana […] se trata de resolver el negocio de nuestra propia salvación individual y personal […]«; bzw. ebd., S. 551: »Al cristianismo hay que definirlo agónicamente […] en función de lucha. […] Tenemos […] una hermosa palabra, cristiandad, que significando propiamente la cualidad de ser cristiano […] ha venido a designar el conjunto de los cristianos.« 168 Nietzsche spricht zugleich vom »Wachsen« des »religiösen Instinkts« und dem Niedergang des christlichen Theismus (s. JGB: Drittes Hauptstück 54, KSA 5, 73), während Unamuno zwischen »fe« oder »religión« einerseits, und »teología« andererseits, bzw. zwischen »Dios Razón« und »Dios vivo, subjetivo« unterscheidet (s. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 320 u. 407f).
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des Christentums werden dabei zugunsten einer anderen Art von ›Religion‹ umfunktioniert. Deutlich wird dies auch in den Worten Don Avitos, der angesichts Augustos Überraschung, ihn in der Kirche anzutreffen, gesteht, der Tod seines Sohnes habe ihn an diesen Ort geführt. Ob er jedoch deswegen glaube oder nicht, könne er nicht mit Sicherheit sagen, er wisse allein, dass er bete: No sé si creo o no creo; sé que rezo. Y no sé bien lo que rezo. Somos unos cuantos que al anochecer nos reunimos ahí a rezar el rosario. No sé quiénes son, ni ellos me conocen, pero nos sentimos solidarios, en íntima comunión unos con otros. (S. 548) Während Augustos Eindruck, sein Leben sei ein von seinem Willen unabhängiges, zielloses, ja ›nebelumschleiertes‹ Schein- und Fantasiegebilde, ihn den verzweifelten Entschluss des Selbstmordes fassen lässt, gründet sich die Lösung seines inneren Konflikts wiederum ausgerechnet auf die Einsicht in seine eigene Scheinhaftigkeit und Fiktionalität. Nicht nur in Niebla vollzieht Unamuno damit den gedanklichen Weg, der bereits Nietzsches Philosophie zugrunde liegt und darin besteht, das Leiden gerade durch die Akzeptanz des ›Leidenschaffenden‹ zu überwinden. Nicht mehr als Bedrohung empfindet der ›Übermensch‹ bzw. der intra-hombre die Abwesenheit von Wahrheit, Wirklichkeit und Sinn, vielmehr hat er gelernt, sie anzunehmen und erlebt sie als Befreiung und Erlösung. Als die Figur ›Unamuno‹, welchen Augusto kurz vor seiner Verzweiflungstat aufsucht, diesem daher erklärt, er könne sich überhaupt nicht das Leben nehmen, da er keine von ihm, seinem ›Schöpfer‹, unabhängige Existenz aufweise – womit sich Augustos Ahnung bestätigt –, gelingt es Augusto nach einem Moment des Entsetzens, in dem er die Kontrolle über sich zu verlieren scheint (S. 648ff), die Situation zu seinen Gunsten zu verkehren: Wenn er tatsächlich ein Fantasiewesen sei, so Augusto, dann besitze er mehr Realität als sein Schöpfer, der in Wirklichkeit von ihm abhänge, denn, während letzterer sterblich sei, werde er selbst über dessen Tod hinaus fortleben und zu seinem Gedenken beitragen: […] mire usted, mi querido don Miguel, no vaya a ser que sea usted el ente de ficción, el que no existe en realidad, ni vivo ni muerto…; no vaya a ser que no pase usted de un pretexto para que mi historia, y otras historias como la mía, corran por el mundo. Y luego, cuando usted se muera del todo, llevemos su alma nosotros. (S. 666) Was Unamuno in Del sentimiento trágico de la vida bereits theoretisch ausarbeitet, das wird in Niebla auf narrativer Ebene konsequent zu Ende gedacht. Hält weder die ›Realität‹ noch die ›Vernunft‹ der selbstbezüglichen Vernunftkritik stand, erweisen sich somit ›Wirklichkeit‹ und ›Vernunft‹ immer wieder als ihr genaues Gegenteil, nämlich Illusion, Fiktion und Unvernunft, dann wird die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Geschöpf und Schöpfer, Leben und Tod hinfäl-
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lig. Zurückbleibt die unbegrenzte, gefühlte Welt des Scheins und der Fiktion, für welche Unamuno im Laufe seines literarischen Schaffens leidenschaftlich eintritt. Angesichts der Vergänglichkeit des Lebens enthüllt sich so der Autor, welcher gegenüber seinen Figuren die Position Gottes einnimmt,169 als ebenso fiktional wie seine Schöpfungen: Pues bien, mi señor creador don Miguel, también usted se morirá, también usted, y se volverá a la nada de que salió…¡Dios dejará de soñarle! ¡Se morirá usted, sí, se morirá, aunque no lo quiera, se morirá usted y se morirán todos los que lean mi historia, todos, todos, todos, sin quedar uno! ¡Entes de ficción como yo […]! (S. 655) Diese Schöpfungen sind es schließlich, welche als reine Fiktionen über ihren ›Schöpfer‹ triumphieren und ihm nach seinem physischen Ableben ewiges Leben einhauchen. Dass das Verhältnis zwischen Figur und Autor jenes zwischen Mensch und Gott abbildet, verdeutlicht noch einmal die mise-en-abyme-Struktur des Romans. Was Augusto Víctor daher in Bezug auf dessen nivola-Figuren zu bedenken gibt – »es fácil que acabes convenciéndote de que son ellos los que te llevan. Es muy frecuente que un autor acabe por ser juguete de sus ficciones…« (S. 572) –, spiegelt daher nicht nur ihr Verhältnis zu ihrem verborgenen ›Autor‹ wider, sondern auch jenes zwischen dem lebenswirklichen Autor bzw. Leser, d.h. dem Menschen im Allgemeinen und dessen Schöpfer, Gott. Auch Nietzsche zufolge, äußere sich die Stärke des Menschen, seine ›Übermenschlichkeit‹, gerade in dem Maße, wie er sich, bildlich gesprochen, vom »Geschöpf« zum »Schöpfer« erhebe.170 Diese dem Menschen göttliche Eigenschaften zuerkennende Verkehrung der Instanzen veranschaulicht Unamuno am Beispiel der künstlerischen Schöpfung, welche er von der natürlichen, angesichts der Fiktionalität allen Seins, nicht unterscheidet. Im Kern seines Plädoyers für die Welt der Fiktion steht dabei der zentrale Gedanke, dass fiktionale Figuren wie reale Persönlichkeiten über einen »carácter«, einen »modo de ser« und eine »lógica interior« (S. 652) verfügen und somit ab dem Zeitpunkt ihrer Schöpfung ein von ihrem Schöpfer unabhängiges Eigenleben entwickeln. Eine Figur nach ihrem ›Tod‹ wiederauferstehen zu lassen, was ›Unamuno‹ nach vollzogenem Todesurteil mit Augusto beabsichtigt, sei daher, so Augusto, welcher ›Unamuno‹ im Traum erscheint, ebenso unmöglich, wie einen »Menschen aus Fleisch und Blut« wieder zum Leben zu erwecken: 169 Der Text weist auf diese Analogie unverhohlen hin, s. neben der indirekten Parallelisierung von Autor und Gott im nachfolgenden Zitat, in welchem Augusto ›Unamunos‹ Schicksal seinem eigenen vergleichend gegenüberstellt, die explizite Ineinssetzung in Augustos Formulierung »esta vida que Dios o usted me han dado« (S. 654). 170 S. JGB: Siebentes Hauptstück 225, KSA 5, 161: »Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag: – versteht ihr diesen Gegensatz? […]«.
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Sí, a un ente de ficción como a uno de carne y hueso, a lo que llama usted hombre de carne y hueso y no de ficción de carne ni de ficción de hueso, puede uno engendrarlo y lo puede matar, pero una vez que lo mató no puede, ¡no!, no puede resucitarlo. […] ¿Cree usted posible resucitar a Don Quijote? […] (S. 665) Natürlich ist Augustos abschließende Frage rein rhetorisch, denn eine Figur wie Don Quijote, welche in der Fantasie ihrer Rezipienten in der ihr charakteristischen Form fortlebt, ist eine andere, sobald man sie in neuer Gestalt wiederauferstehen lässt (vgl. S. 656 u. 666). Dass Luigi Pirandello etwa zur gleichen Zeit, aus einer umfassenden (jener Unamunos sehr ähnlichen) Wahrheits- und Wirklichkeitskritik heraus, wie Unamuno das Verhältnis zwischen Figur und Autor schlicht umdreht bzw. fiktionalen Figuren ein von ihrem Autor autonomes Eigenleben zuspricht, hat Unamuno nicht ohne Staunen selbst in dem bereits zitierten Aufsatz »Pirandello y yo« festgestellt.171 Wie in Niebla bildet so auch in Pirandellos Novelle La tragedia di un personaggio (1911) und im Vorwort zu dessen berühmtem Theaterstück Sei personaggi in cerca d’autore (1925) das Zusammentreffen des fiktionalisierten Autors ›Pirandello‹ mit seinen Figuren, d.h. die Verschmelzung von Fiktion und Wirklichkeit, den Ausgangspunkt der narrativen bzw. szenischen Darstellung. Bis in Details hinein stimmen die Schlussfolgerungen der beiden Autoren dabei überein: Auch Pirandello geht davon aus, dass »[i]l mistero della creazione artistica« dem »mistero della nascita naturale« entspreche,172 dass Figuren als »esseri vivi«, wenn auch »meno reali«, »piú veri«, »piú vivi di quelli che respirano e vestono panni« seien, denn im Gegensatz zum Menschen sei ihnen Unsterblichkeit vergönnt: Chi nasce personaggio, chi ha la ventura di nascere personaggio vivo, può infischiarsi anche della morte. Non muore piú! Morrà l’uomo, lo scrittore, strumento naturale della creazione; la creatura non muore piú!173 Wenn in Niebla Augusto daher die Vermutung äußert, dass »Don Quijote y Sancho« nicht nur »tan reales, sino más reales que Cervantes« seien (S. 650), dann hallt darin der Ausruf des Dottor Fileno in La tragedia di un personaggio nach,174 welchen Pirandello in Sei personaggi in cerca d’autore fast wörtlich in der Rede des Padre erscheinen lässt: »Mi dica lei chi era Sancho Panza! Mi dica lei chi era don Abbondio! Eppure vivono eterni […]«.175 171 172 173
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Miguel de Unamuno, »Pirandello y yo«, S. 306f. Luigi Pirandello (1925): Sei personaggi in cerca d’autore [Prefazione], in: ders., Maschere nude, vol. primo (Mailand: Mondadori 1958), S. 57. Luigi Pirandello (1911): La tragedia di un personaggio, in: ders., Novelle per un anno, vol. primo (Mailand: Mondadori 1958), S. 717. In Sei personaggi in cerca d’autore werden Formulierungen der Novelle in der Figurenrede des Padre fast wörtlich übernommen, s. Luigi Pirandello, Sei personaggi in cerca d’autore, S. 79ff. Luigi Pirandello, La tragedia di un personaggio, S. 717 Luigi Pirandello, Sei personaggi in cerca d’autore, S. 80f.
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Während ›Unamunos‹ Entschluss, seiner Figur Augusto selbst kurzerhand ein Ende zu bereiten, in letzterem zunächst mehr denn je ein Gefühl der Rebellion, ein »supremo esfuerzo de pasión de vida, de ansia de inmortalidad« aufwallen und ihn seine Selbstmordabsicht verwerfen lässt (S. 654f), überkommt ihn mit einem Mal der in sich widersprüchliche, jedoch tröstliche und schließlich erlösende Gedanke, dass ihn, ein der Fiktion entsprungenes Wesen, der Tod gar nicht berühren könne, dass die Welt der Fiktion vielmehr allem Vergehen enthoben sei: »¡Soy inmortal! ¡Soy inmortal! […] Los inmortales no vivimos, y yo no vivo, sobrevivo; ¡yo soy idea! ¡Soy idea!« (S. 658). Der tragische, um das Problem der Sterblichkeit kreisende Konflikt zwischen ›Herz‹ und ›Verstand‹ wird damit wie in den meisten Werken Unamunos auch in Niebla durch eine Hinwendung zur alles umfassenden Welt des ›Herzens‹ und des Scheins gelöst. Nach seinem Tod erscheint Augusto ›Unamuno‹ daher im Traum und bittet ihn, die nivola seines Lebens für die Ewigkeit niederzuschreiben. Diese ist natürlich keine andere als die mit Niebla betitelte nivola, die der Leser soeben zu Ende gelesen hat: »Y aquí está la historia de Augusto Pérez.« (S. 666). Die Ahnung, dass Augustos Schicksal auch ihn ereilen werde, dass er seinerseits vielleicht nur ein Fantasiewesen eines verborgenen ›Autors‹ sei, äußert sich dabei in einer gewissen Betroffenheit des Schöpfers ›Unamuno‹: Yo me enjugué una lágrima furtiva. […] [S]oñé luego que me moría, y en el momento mismo en que soñaba dar el último respiro me desperté con cierta opresión en el pecho. (S. 655 u. 666)
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Die Implikationen für den Leser und Unamunos Konzeption des ›hacer novela‹: ›Lo eterno universal‹
Was in Niebla die Struktur der ineinander verschachtelten nivolas innerhalb der großen ›nivola des Lebens‹ – resümiert durch bestimmte, textimmanente Äußerungen sowie durch das Romanende – impliziert, das entwickelt Unamuno in Cómo se hace una novela auf verfahrensmäßig komplexe Weise zu einer Texttheorie, welche sich auf die Annahme einer göttlichen, die Gesamtheit des Seins umfassenden Lebenskraft gründet und im Zusammenfall aller Gegensätze gleichsam metaphysischen Charakter erlangt. Unübersehbar ist in Unamunos Konzeption der Welt als in sich kreisender Text die Verwandtschaft zu Nietzsches ›ewiger Wiederkehr‹. Ohne dass Nietzsche oder sein zentrales Philosophem genannt werden, liegt auch Niebla die Vorstellung einer göttlichen, die Sphäre des Ewigen berührenden Ganzheitlichkeit zugrunde. Die in Niebla vollzogene Vermischung von Wirklichkeitsebenen, von Tragik und Komik, wird in Víctors Ausspruch »Que todo es uno y lo mismo; que hay que confundir, Augusto, hay que confundir.« (S. 644) auf den Punkt gebracht. Unmissverständlich verweist Víctors Bild der ›krummen Linie‹,
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deren Enden sich in der Ewigkeit berühren, auf den Zusammenfall aller Gegensätze in der ›ewigen Wiederkehr‹, welchen Nietzsche in Also sprach Zarathustra im berühmten Abschnitt »Vom Gesicht und Räthsel« auf sehr ähnliche Weise durch das Symbol des »Thorwegs« darstellte:176 Sí, más acá de lo natural es lo mismo que más allá, como más allá del espacio es lo mismo que más acá de él. ¿Ves esta línea? – y trazó una línea en el papel –. Prolóngala por uno y otro extremo al infinito y los extremos se encontrarán, cerrarán en el infinito, donde se encuentra todo y todo se lía. Toda recta es curva de una circunferencia de radio infinito y en el infinito cierra. Luego lo mismo da lo de más acá de lo natural que lo de más allá. ¿No está claro? (S. 623) Nietzsche hatte sich nicht nur um einen seiner Lebensanschauung entsprechenden sprachlichen Ausdruck bemüht, sondern er hatte – wie sein Verfahren der endlos aufeinander verweisenden ›Parodien‹ zeigte – das, was er als ›ewige Wiederkehr‹ bezeichnete, selbst zunehmend als Sprachgeschehen begriffen. Wie bei Unamuno ist damit bereits bei Nietzsche der Ansatz vorhanden, die Welt, wie sie dem Menschen erscheint, als ein Produkt seines Bewusstseins und damit als sprachliches Konstrukt zu betrachten.177 Unamuno, der »[e]l pensamiento, la razón« und »el lenguaje« als natürliche Folgen des menschlichen Seins betrachtet, kommt zu dem Schluss: »Así es, todo lo hecho se hizo por la palabra, y la palabra fue en un principio«.178 Der auf den Beginn des Johannesevangeliums anspielende Gedanke179 erscheint fast identisch in der Figurenrede Víctors, wobei die Großschreibung von palabra die Gottesanalogie des ›Wortes‹ bzw. der Sprache herausstellt: »En el principio fue la Palabra y por la Palabra se hizo todo.« (S. 645). Die menschliche 176
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Der »Thorweg« ist, Nietzsche zufolge, jener Punkt, in welchem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Ewigkeit verschmelzen, s. Za III: Vom Gesicht und Räthsel 2, 199f: »›Siehe diesen Thorweg! Zwerg! sprach ich weiter: der hat zwei Gesichter. Zwei Wege kommen hier zusammen: die ging noch Niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus – das ist eine andre Ewigkeit. […] Aber wer Einen von ihnen weiter gienge – und immer weiter und immer ferner: glaubst du, Zwerg, dass diese Wege sich ewig widersprechen?‹ – ›Alles Gerade lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.‹« Nietzsche betrachtet so etwa das menschliche Bewusstsein als einen sich verschiebenden »phantastischen Commentar« zum »Text« der Welt, s. M: Zweites Buch 119, KSA 3, 113. Vgl. a. Nietzsches Gedanken des »Mit dem Fusse [S]chreiben[s]«, womit nahegelegt wird, dass Leben nichts anderes als ›Schreiben‹ und ›Lesen‹ sei, s. FW: »Scherz, List und Rache« 52, KSA 3, 365. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 519. In Cómo se hace una novela heißt es hierzu: »Todo es para nosotros libro, lectura […] Y podemos decir que en el principio fue el Libro. […]« (Miguel de Unamuno, Cómo se hace una novela, S. 575). Joh 1, 1-3 EU: »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist.« (In der spanischen Version des Johannesevangeliums wird »das Wort« nicht mit »la Palabra«, sondern mit »el Verbo« übersetzt).
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Welt, so heißt es in Niebla weiter, sei untrennbar mit dem »Wort«, dem »Denken«, d.h. mit »libros, en una u otra forma« oder »relatos« verbunden, außerhalb dieser sprachlich artikulierten Welt sei der Mensch nicht Mensch (S. 661). Angesichts des durchgehend sprachlichen Charakters aller Lebensäußerungen tritt ähnlich wie bei Nietzsche, die herkömmliche Unterscheidung zwischen Schreiben, Lesen, Sprechen, Denken und Zuhören zurück. Als Augusto ›Unamuno‹ darum bittet, die nivola seines Lebens niederzuschreiben, entgegnet ihm dieser, sie sei längst geschrieben »¡Está ya escrita!«, worauf Augusto ihm mit den Worten »Lo sé, todo está escrito« beipflichtet (S. 664). Begreift man das Leben als einen großen, ›ewigen‹ ›Text‹, als ›Buch‹, novela bzw. nivola, erweisen sich – Nietzsches Schreiben setzt diesen Gedanken voraus – Gattungsgrenzen sowie jene zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Theorie und Praxis als hinfällig. In entscheidendem Maße verändert sich dadurch die Erwartungshaltung hinsichtlich der Funktion von Literatur, welche, statt als bloßes Medium zur Vermittlung von Lebenswirklichkeit, als Ausdruck des Lebens selbst verstanden wird: »Si tu vida, lector, no es una novela, una ficción divina, un ensueño de eternidad, entonces deja estas páginas, no me sigas leyendo«.180 Eine novela, so Unamuno in Cómo se hace una novela, zeichne sich daher nicht durch Handlung bzw. Inhalt aus,181 sondern passe sich der Zufälligkeit und Widersprüchlichkeit des Lebens an. Eine novela zu schreiben, ebenso wie »escribir contando cómo se hace una novela«, sei dagegen nichts anderes als hacer la novela,182 d.h. nichts anderes als die ›novela‹ des Lebens zu leben und zu entfalten. Was zunächst eine theoretische Abhandlung zum richtigen Verfassen von Romanen zu sein scheint, entpuppt sich dabei zunehmend als gleichsam philosophisch untermauerte Anleitung zu einer an religiös-mystische Inhalte anknüpfenden Lebensführung: »Quedamos, pues, en que el novelista que cuenta cómo se hace una novela cuenta cómo se hace un novelista, o sea cómo se hace un hombre.«183 Unamuno führt die Vermischung von Wirklichkeitsebenen und Textgattungen dabei performativ vor, wobei sich ähnlich wie in Niebla ein mehrfacher Spiegeleffekt ergibt. Das Werk, welches seinem Titel und Vorsatz nach, den Eindruck eines Handbuchs für werdende Autoren vermittelt, erweist sich bereits nach wenigen Seiten als das Gegenteil einer objektsprachlichen, sachlichen Abhandlung. Mit einem Geflecht aus autobiografischen, politischen, geschichtlichen, geografischen, philosophischen und metasprachlichen Elementen, in dessen Verlauf Unamuno sein zunächst in französischer Sprache erschienenes Werk, wie auch das französische Vorwort seines Übersetzers, ins Spanische zurückübersetzt und dabei mit zahlreichen Kommentaren und Erläuterungen versieht, scheint Unamuno sein Ideal eines handlungs180 181 182 183
Miguel de Unamuno, Cómo se hace una novela, S. 569. S. ebd.: »Si por novela entiendes, lector, el argumento, no hay novela«. Ebd., S. 565. Ebd., S. 618.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
bzw. inhaltsarmen, der Logik des Lebens nachempfundenen Schreibens praktisch zu veranschaulichen. Als novela bezeichnet Unamuno – indem er den Begriff des ›Romans‹ von seiner ursprünglichen Bedeutung eines narrativen Langtextes entfremdet – dabei sowohl seine in Cómo se hace una novela behandelte persönliche und sozial-politische Lebenswelt184 als auch den dieser übergeordneten, heterogenen Text Cómo se hace una novela selbst. So kann Unamuno einen Exkurs zur politischen Lage Spaniens beispielsweise mit den Worten »Pero interrumpo esta novela para volver a la otra« einleiten.185 Nicht nur durch die vorgeführte Schreibpraxis beantwortet Unamuno die im Titel formulierte Frage »Cómo se hace una novela«, vielmehr verdeutlicht er die Gleichsetzung von Leben und novela anhand einer eingeschobenen, in Sequenzen erzählten und durch längere Abschweifungen unterbrochenen Metadiegese, welche gegenüber dem Gesamttext bzw. dem ›Text‹ des Lebens als mise en abyme fungiert. Das Thema dieser novela ist wie zu erwarten, autoreflexiver Natur und widmet sich, wenn auch nicht dem Schreiben, dem Lesen einer novela, wobei der lesende Protagonist, in Übereinstimmung mit Unamunos Überzeugung, dass jedes Werk letztlich »autobiografisch« sei, kein anderer als ›Unamuno‹ selbst ist: »Habría que inventar […] un personaje central que sería, naturalmente, yo mismo«.186 Unamuno bezeichnet sein Werk Cómo se hace una novela daher als »la novela de la novela«.187 In dieser eingebetteten »novela del lector«, »de su lectura de la novela«188 erzählt er von einem Protagonisten – sich selbst –, der sich auf der Suche nach seinem wahren Ich bzw. der novela seines Lebens – »porque no vive ya más que en sí mismo, en el pobre yo de bajo la historia, en el hombre triste que no se ha hecho novela« –, der Lektüre fremder ›novelas‹ widmet. Eines Tages stößt er auf einen Roman, welcher ihn in besonderer Weise fasziniert, welcher jedoch nach nur wenigen Seiten, den Tod des Lesers nach beendeter Lektüre voraussagt: »Cuando el lector llegue al fin de esta dolorosa historia se morirá conmigo«.189 Die tödliche Prophezeiung stürzt den Protagonisten in Verzweiflung, zumal es ihm trotz unterschiedlichster Versuche – langsames Lesen, Verbrennen des Buches, Verreisen – nicht gelingt, die Lektüre endgültig abzubrechen. Natürlich verweist das Bild des ›Buches mit tödlichem Ausgang‹ auf das Leben selbst, welches der Mensch, wie der Leser das Buch, trotz des Wissens um seinen Tod 184 Über sich und die Liebe seines Lebens, seine Ehefrau Concepción Lizárraga schreibt Unamuno so etwa: »[M]i Concha, la madre de mis ocho hijos y mi verdadera madre […] mi virgen madre, que no tiene otra novela que mi novela, ella, mi espejo de santa inconciencia divina, de eternidad.«, s. ebd., S. 594. 185 Ebd., S. 591. 186 Ebd., S. 574 u. 578. 187 Ebd. 188 Ebd., S. 586. 189 Ebd., S. 578f.
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fortsetzen muss. Unamuno kehrt damit zum Kernthema seines literarisch-philosophischen Schaffens zurück, dem tragischen, um das Problem der Sterblichkeit kreisenden Lebensgefühl. Die Lösung des im Grunde unlösbaren Konflikts, welche Unamuno in Cómo se hace una novela dem Leser bzw. dem Menschen indirekt anrät, schließt sich an Del sentimiento trágico de la vida bzw. besonders an dessen Kapitel »El problema práctico« an. Der Mensch solle in der Besinnung auf seinen Ursprung oder seine Kindheit, zu seinem »hombre interior« oder »hombre de dentro« zurückfinden, somit zu einem Zustand der Unbewusstheit und Unschuld, in welchem er weder lesen noch logisch denken konnte: »[…] aquella edad en que aún no sabía leer, en que todavía no era hombre de libro.«190 Dass auch Nietzsche Unbewusstheit und spielerische Unschuld – Eigenschaften, welche er der Seinsweise des Kindes zuordnet – als Vorbedingung des ›Übermenschen‹ begreift,191 unterstreicht dabei noch einmal die Analogie der Konzepte ›Übermensch‹ und intra-hombre. Leben, so die Botschaft, welche man Unamunos Werk entnehmen könnte, sei sich mit Mut und Tatkraft, besonders aber ohne darüber nachzudenken, in das Werden einzufügen. Nicht das Ziel oder das äußere Geschehen, sondern gerade die kleinen, alltäglichen Dinge seien dabei von Bedeutung. In »El problema práctico« beschreibt Unamuno so etwa, wie die tägliche, mit Sorgfalt und Mühe verrichtete, handwerkliche Arbeit eines »zapatero«, eines Schusters, den Stellenwert einer »obra religiosa« erlangen könne, welche ihn »insustituible« mache und ihm Ewigkeit verleihe.192 Zu leben oder zu handeln – Unamuno überträgt diesen Gedanken auf die Handlungsebene von Niebla – heiße nicht zwangsläufig, große Taten zu vollbringen oder ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, vielmehr stellten bereits scheinbar belanglose Details wie Sprechen,193 das Bewegen von Spielfiguren während eines Schachspiels194 oder das richtungslose Umherirren ›Leben‹ oder ›Handlung‹ dar: »El sendero nos lo hacemos con los pies, según caminamos a la ventura.« (S. 516). Wenn Unamuno, während er das Leben einem ungeschriebenen ›Text‹ gleichsetzt, den Leser in Cómo se hace una novela eindringlich mit den Worten »Tu obra eres tú mismo, lector que 190 Ebd., S. 609. 191 S. z.B. Za I: Von den drei Verwandlungen, KSA 4, 31: »Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Jasagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens […]«. 192 Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 491-494. 193 »¡Hacer…, hacer…, hacer…! ¿Te parece que hacemos poco con estar así hablando? Es la manía de la acción, es decir, de la pantomima. […] Si ahora, por ejemplo, algún…nivolista oculto ahí, tras ese armario, tomase nota taquigráfica de cuanto estamos aquí diciendo […] es fácil que dijeran los lectores que no pasa nada, y sin embargo…« (S. 645). 194 ¿Y por qué no jugar mal? ¿Y qué es jugar bien y qué jugar mal? ¿Por qué no hemos de mover estas piezas de otro modo que como las movemos? (S. 498). Auch in Cómo se hace una novela versinnbildlicht das ›Spiel‹, ähnlich wie der ›Wellengang des Meeres‹ den ewigen, niemals ruhenden Werdenskreislauf des Lebens, s. Miguel de Unamuno, Cómo se hace una novela, S. 620f.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
te estás haciendo momento a momento, ahora oyéndome como yo hablándote«195 beschwört, so enthüllt sich darin Nietzsches berühmter Grundsatz des »Werde, der du bist«, eines inneren Prozesses, bei dem der Mensch nicht nur lernt, sich so zu nehmen, wie er ist, sondern mit Zuversicht und Selbstvertrauen zugleich dafür offen ist, sich neu zu entwickeln und zu entfalten. Auch Nietzsche hatte in diesem Zusammenhang die »nach herkömmlichem Urtheil gleichgültigen Dinge«, »diese kleinen Dinge – Ernährung, Ort, Clima, Erholung«, kurz »die ganze Casuisitik der Selbstsucht« betont (EH: Warum ich so klug bin 10, KSA 6, 295). Interessanterweise schien sich die Antwort auf Nietzsches im Untertitel von Ecce homo formulierte Fragestellung »Wie man wird, was man ist« wie jene auf Unamunos »Cómo se hace una novela« aus dem geschriebenen Text zu ergeben. Das im Werden begriffene Ich konstituiert sich demnach bei beiden Autoren als Produkt der Schrift. Betrachtet man das Leben als textuelles Phänomen – »Todo hombre […], es hijo de una leyenda, escrita u oral. Y no hay mas que leyenda, o sea novela.« –196 treffen die Eigenschaften des Lebens auch auf den Text zu : »Esta novela […] y […] todas las que se hacen y no que se contenta uno con contarlas, en rigor no acaban. Lo acabado, lo perfecto, es la muerte y la vida no puede morirse«.197 Dass die große ›novela‹ des Lebens als rauschende, niemals ruhende Lebenskraft nicht abbrechen könne und dürfe, führt Unamuno seinem Leser auf unterschiedliche Weise vor: So folgt auf das scheinbare Ende von Cómo se hace una novela ein weiteres Kapitel unter dem Titel »Continuación«, dessen letzter Satz »Y así es, lector, como se hace para siempre una novela« sowie die eingerückte, kursiv gesetzte Notiz »Terminado el viernes 17 de junio de 1927 […]« das Werk erneut abzuschließen scheinen.198 Stattdessen wird es in Form eines sich über mehrere Tage erstreckenden Tagebucheintrags ein weiteres Mal fortgesetzt.199 Unamuno erklärt außerdem zu Beginn seines Werkes, er ziehe es vor, statt das spanische Original von Cómo se hace una novela zu veröffentlichen, die herausgegebene französische Version ins Spanische zurückzuübersetzen und mit Kommentaren zu versehen, denn so sei es ihm möglich, dem Geschriebenen neues Leben einzuhauchen: »[N]o me es posible reponerlo sin repensarlo, es 195 Miguel de Unamuno, Cómo se hace una novela, S. 612. 196 Ebd., S. 618. 197 Ebd., S. 603. Derselbe Gedanke erscheint im letzten Kapitel von Pirandellos Uno, nessuno e centomila, dessen Titel »Non conclude« sich sowohl auf das Leben, als auch auf den das Leben abbildenden Text bezieht. Indirekt werden Leben und Text auf diese Weise einander gleichgesetzt: »Non è altro che questo, epigrafe funeraria, un nome. Conviene ai morti. A chi ha concluso. Io sono vivo e non concludo. La vita non conclude. E non sa di nomi, la vita«; s. Luigi Pirandello, Uno, nessuno e centomila, S. 1415f. 198 Miguel de Unamuno, Cómo se hace una novela, S. 605 u. 615. 199 Ebd., S. 615: Unamuno nimmt sein Schreiben mit folgenden Worten wieder auf: »¿Terminado? ¡Qué pronto escribí eso! ¿Es que se puede terminar algo […]? […] oía hablar a mis amigos wagnerianos de melodía infinita. No sé bien lo que es esto, pero debe de ser como la vida y su novela, que nunca terminan«.
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decir, sin revivirlo«.200 Wenn er behauptet, die ›novela‹ des Lebens sei ein Geflecht aus vielen kleinen novelas, welche sich untereinander wie endlos aufeinander verweisende »Kommentare« verhielten – »Pero así es el mundo, y la vida. Comentarios de comentarios y otra vez más comentarios.« –,201 so offenbart sich darin das poststrukturalistische Prinzip der Intertextualität, welches auch Nietzsches ›parodistischem‹ Verfahren zugrunde lag. Fiktionale und lebenswirkliche ›novelas‹ stellt Unamuno dabei als gleichwertig nebeneinander, so dass er die Ilias als »comentario a un episodio de la guerra de Troya« und Dantes Göttliche Komödie als »comentario a las doctrinas escatológicas de la teología católica medieval y a la vez a la revuelta historia florentina del siglo XIII« bezeichnen kann.202 Solche ›Kommentare‹ werden, Unamuno zufolge, nun ihrerseits ›kommentiert‹, so dass im Gespinst der sich durchwirkenden ›Kommentare‹ (nicht anders als bei Nietzsche, dessen ›Parodien‹ in endloser Fortsetzung den Ausgangspunkt neuer ›Parodien‹ bildeten) der ›Originaltext‹ bzw. die letzte Wahrheit ihre Bedeutung verlieren. An ihre Stelle tritt die grenzenlose ›novela‹ bzw. die ›nivola‹ des Lebens. In Niebla, einem Text, der die Vermischung verschiedener nivolas und Ebenen bewusst zur Schau stellt, vertritt der Gelehrte Antolín Paparrigópulos eine solche auf dem Prinzip der Intertextualität beruhende Texttheorie: Para Antolín, el principal, casi el único valor de las grandes obras maestras del ingenio humano, consiste en haber provocado un libro de crítica o de comentario […] Pertenecía a la clase de esos comentadores de Homero que si Homero mismo redivivo entrase en su oficina cantando le echarían a empellones porque les estorbaba el trabajar sobre los textos muertos de sus obras y buscar un apax cualquiera en ellas. (S. 611f) Alle novelas oder nivolas – Unamuno knüpft hier an seine Vorstellung der intrahistoria an – weisen dabei eine auffällige Gemeinsamkeit auf: Im Mittelpunkt jeder einzelnen stehe »el pavoroso problema de la personalidad, si uno es lo que es y seguirá siendo lo que es« bzw. »[la] congoja« »de la conciencia de la propia personalidad«.203 Jede novela, ob fiktional oder lebenswirklich, kreise um das Problem der Sterblichkeit: »Y todos los hombres en nuestro trato mutuo […] buscamos no morirnos; yo no morirme en ti, lector que me lees, y tú no morirte en mí que escribo para 200 201 202 203
Ebd., S. 569, vgl. a. S. 549. Ebd., S. 569, vgl. a. S. 559. Ebd., S. 559. Das Zitat stammt aus Unamunos Vorwort zu seiner Erzählsammlung San Manuel Bueno, mártir, y tres historias más, in welchem er über die Berührungspunkte der vier gemeinsam veröffentlichten Erzählungen sinniert, s. Miguel de Unamuno, San Manuel Bueno, mártir, y tres historias más [darin: »Prólogo«], S. 307.
4 Miguel de Unamunos Niebla (1914) und die Verewigung in der ›novela/nivola universal‹
ti esto.«204 Die ineinander verschachtelten novelas oder nivolas205 verschmelzen vor diesem Hintergrund zu einer einzigen und der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Autor, Figur und Leser, sowie letztlich zwischen Mensch und Gott löst sich in der ewigen ›nivola universal‹206 auf, welche auf diese Weise metaphysischen Charakter erlangt. Es versteht sich von selbst, dass sich damit in entscheidender Weise die Rolle des ›Lesers‹ verändert, der sich vom bloßen ›Rezipienten‹, zum ›Mit-Autor‹ des ›Textes‹ des Lebens erhebt. Bereits in seinem theoretischen Werk Del sentimiento trágico de la vida fällt die beständige Anrede an den Leser auf, wobei Unamuno im Wechsel von der ersten zur zweiten Person Singular, oder in der ersten Person Plural die Wesensgleichheit zwischen sich und seinem Leser, bzw. jene zwischen ›Mensch‹ und ›Mensch‹ betont: El nuestro es el otro, el de carne y hueso; yo, tú, lector mío […]. […] Pues no se trata de mí tan solo; se trata de ti, lector […] se trata de todos y de cada uno. […] Y si el alma de la Humanidad es eterna, […] ¿por qué nuestra propia conciencia individual, la tuya, lector, la mía no ha de serlo? […] Espero, lector, que mientras dure nuestra tragedia, en algún entre-acto, volvamos a encontrarnos. Y nos reconoceremos. […]207 Mit der Beantwortung der Frage, wie man ›einen Roman‹ ›mache‹ bzw. wie man zu leben habe, betraut Unamuno in Cómo se hace una novela schließlich eindeutig den Leser, dessen Aufgabe es sei, im Leseprozess selbst zum ›Autor‹ zu werden und den ›Text‹ des Lebens fortzuschreiben. Zu zeigen, »cómo se hace una novela« und damit »cómo se hace un hombre« stellt sich daher am Ende als nichts anderes heraus, als zu zeigen, wie man einen ›Leser‹ ›mache‹: El hombre de dentro […] cuando se hace lector hácese por lo mismo autor, o sea actor […] Esto que ahora lees aquí, lector, te lo estás diciendo tú a ti mismo y es tan tuyo como mío. […] 204 Miguel de Unamuno, Cómo se hace una novela, S. 561. 205 Unamuno spricht bezüglich des Aufbaus von Cómo se hace una novela selbst von »los tres relatos enchufados, unos en otros que constituyen el escrito«, s. ebd., S. 569. 206 S. z.B. ebd., S. 564: »Porque la verdadera actualidad, la siempre actual, es la del presente eterno. […] lo individual es lo universal […] y por lo tanto lo eterno […]«; vgl. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 283: »Lo singular no es particular, es universal«. 207 Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 275, 283, 421 u. 533. (Der letzte Satz des Zitats entstammt dem abschließenden Abschnitt des Werkes, mit welchem sich Unamuno gleichsam von seinem Leser verabschiedet).
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¿Y para qué se hace el novelista? Para hacer al lector, para hacerse uno con el lector. Y sólo haciéndose uno el novelador y el lector de la novela se salvan ambos de su soledad radical […] se eternizan.208 Daraus folgt, dass ›Autor‹, ›Leser‹, ›Figur‹, ›Schöpfer‹ und ›Geschöpf‹209 in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen, in welchem sie sich gegenseitig Leben einhauchen und verewigen: Der ›Autor‹ schenkt seinen ›Figuren‹ und ›Lesern‹ durch sein Werk Leben, wohingegen es umgekehrt letztere sind, die an ihn, den ›Autor‹, auch nach seinem physischen Ableben erinnern und ihn somit ›am Leben‹ erhalten. Der ›Leser‹ dagegen erwacht in der Lektüre, d.h. in den ›Figuren‹ und Gedanken des ›Autors‹ zu neuem Leben, während das Werk, die ›Figuren‹ und schließlich auch der ›Autor‹ selbst durch den Leser ›fortgeschrieben‹ und gewissermaßen neu ›erschaffen‹ werden. Unamuno überträgt diese Vorstellung zuletzt auf den obersten ›Schöpfer‹, welcher seinen Geschöpfen zwar Leben zuteilwerden lässt und nach deren Tod ihr Gedenken bewahrt,210 selbst jedoch in diesen lebt und durch sie in Erinnerung gerufen wird.211 Das Ende von Niebla schließt sich ganz dieser Überlegung an: Die erschaffene Figur Augusto erlangt in der Fiktion, in der Fantasie ihrer Leser Unsterblichkeit und verewigt dadurch zugleich ihren Autor. In der Rede Augustos wird der Leser dabei direkt angesprochen: ¿[N]o vivo ya en las [imaginaciones] de otros, en las de aquellos que lean el relato de mi vida? […] Y ¿por qué surgiendo de las páginas del libro […] o más bien de las mentes de aquellos que la [mi vida] lean – de vosotros, los que ahora la leéis –, por qué no he de existir como un alma eterna […]? (S. 656f) Dass auch der lebenswirkliche Autor und Leser letztlich nur ›Figuren‹ eines obersten ›Schöpfers‹ darstellen, d.h. dass sich die Rollen Autor-Figur schließlich verkehren, das gibt der Roman dem Leser zu bedenken (vgl. S. 655 u. 666). Statt Beklemmung solle diese Einsicht in ihm jedoch das Gefühl der Erlösung hervorrufen. »Y eso ¿para qué?« entgegnet Augusto auf Víctors Einwurf, der Leser ihrer nivola würde sich über kurz oder lang selbst als »personaje nivolesco« fühlen. Víctors Antwort lautet schlicht : »Para redimirle. […] lo más liberador del arte es que le hace a uno dudar de que exista.« (S. 646). Innerhalb der großen ›nivola‹ des Lebens, der Sphäre der geschriebenen und gefühlten ›Texte‹ gebe es weder Tod noch Vergänglichkeit, 208 Miguel de Unamuno, Cómo se hace una novela, S. 613, 618 u. 622f. 209 Die Begriffe sind sowohl wörtlich als auch in übertragenem Sinne zu verstehen. 210 S. z.B. Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 395: »Después que yo haya muerto, Dios seguirá recordándome, y el ser yo por Dios recordado, el ser mi conciencia mantenida por la Conciencia Suprema, ¿no es acaso ser?« 211 S. z.B. Miguel de Unamuno, Cómo se hace una novela, S. 565: »Y si la histora humana es […] el pensamiento de Dios en la tierra de los hombres, hacer historia […] es hacer pensar a Dios, es organizar a Dios, es amasar la eternidad«.
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alles werde für die Ewigkeit weitergetragen. Unamunos Vorstellung einer im Diesseits erlebten, die Grenzen des Individuums überschreitenden Ewigkeit und Transzendenz verweist dabei unmissverständlich auf Nietzsches ›ewige Wiederkehr‹.212 Wie Augusto, so verschwindet am Ende des Romans auch Orfeo, der aus Trauer um seinen Herrn stirbt, im dichten ›Nebel‹. Dieser steht nun nicht mehr symbolisch für die Sinnlosigkeit des Lebens, sondern für den tröstlichen, alles überdauernden Urgrund des Seins: »Siento que mi espiritú se purifica al contacto […] de esta purificación de mi amo, y que aspira hacia la niebla en que él al fin se deshizo, a la niebla de que brotó y a que revertió. […].« Domingo e Liduvina recogieron luego al pobre perro muerto a los pies de su amo, depurado como éste y como él envuelto en la nube tenebrosa. (S. 670f)
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Auch Sobejano zeigt gewisse Parallelen zwischen Unamunos ›Unsterblichkeitshunger‹ und Nietzsches ›ewiger Wiederkehr‹ auf, vgl. Gonzalo Sobejano, Nietzsche en España, S. 279, 297ff u. 303-309. Indirekt hat Unamuno, wie Sobejano andeutet, selbst auf diese Parallelen aufmerksam gemacht, wenn er Nietzsches ›ewige Wiederkehr‹ als »remedo de la inmortalidad del alma« bezeichnet (Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 355, vgl. S. 315) und sie auf den auch bei Nietzsche vorhandenen ›Lebenshunger‹ zurückführt: »[…] hambre de eternidad fue todo el hipo/ de tu pobre alma hasta la muerte triste.« (Miguel de Unamuno, »XCIX. A Nietzsche«, S. 415).
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5. Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
Dreiundvierzig Jahre waren seit dem Erscheinen von Miguel de Unamunos Niebla (1914) vergangen, als Georges Batailles seinen bereits 1935 verfassten Roman Le Bleu du ciel (1957) erstmals veröffentlichte, doch diese Jahrzehnte, die unangefochten zu den schicksalsträchtigsten der Menschheitsgeschichte zählen und durch zwei Weltkriege, bis dahin ungekannte Kriegsverbrechen und Opferzahlen, verschiedene Besatzungsregimes und den in die Diktatur Francos einmündenden spanischen Bürgerkrieg geprägt sind, hatten in Europa wie auch andernorts, mehr als frühere Zeitabschnitte, ihre Spuren hinterlassen. Was Bataille in voraussehender Weise indirekt bereits 1935 in Le Bleu du ciel, sowie in frühen kulturkritischen Schriften als Vorbedingung oder »signes annonciateurs« einer noch nicht abzusehenden »Tragödie«1 stilisiert – jenes unter der Oberfläche brodelnde Gefühl des Ungenügens, der Vereinzelung und des Leidens inmitten der dem Heiligen scheinbar restlos beraubten, allein auf Wissenschaft und Profit beruhenden modernen Gesellschaft –, dieses in Le Bleu du ciel beschriebene Lebensgefühl, war gerade 1957, zwölf Jahre nach den Schrecken und Auswirkungen des Krieges, in welchen sich das Versagen der modernen Ideale nun unzweideutig bewahrheitete, von erstaunlicher Brisanz. Bataille selbst äußert sich in dem Le Bleu du ciel 1957 hinzugefügten »Avant-Propos« bezüglich des praktischen Werts, ja der Bedeutung seines Werks angesichts der nun tatsächlich eingetretenen Katastrophe skeptisch und erklärt, er habe mit Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges 1936, den Plan einer Veröffentlichung seines 1935 niedergeschriebenen Romans zunächst verworfen, erst Freunde hätten ihn schließlich dazu überredet, sein Werk der Öffentlichkeit preiszugeben: J’avais, dès 1936, décidé, de n’y plus penser. D’ailleurs, entre-temps, la guerre d’Espagne et la guerre mondiale avaient donné aux incidents historiques liés à 1
Die Begriffe sind dem 1957 hinzugefügten »Avant-Propos« des Romans entnommen (S. 382, s. Zitat Fließtext der vorliegenden Arbeit unten). Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf folgende Ausgabe des Romans: Georges Bataille (1957): Le Bleu du ciel, in: ders., Œuvres complètes, III (Paris: Gallimard 1971), 381-487.
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la trame de ce roman un caractère d’insignifiance: devant la tragédie elle-même, quelle attention prêter à ses signes annonciateurs? (S. 382) Batailles Gedankenwelt gründet sich auf eine scharfe Kulturkritik, die sich jedoch nicht wie im Fall Nietzsches, Pirandellos oder Unamunos in philosophisch-theoretischen Erörterungen erschöpft, sondern besonders in den 1930er Jahren Batailles Teilnahme an verschiedenen linksintellektuellen, sozialpolitisch engagierten Vereinigungen mit zunehmend religiös-mystischer Ausrichtung nach sich zieht. Die Erstfassung von Le Bleu du ciel stammt so etwa aus der Zeit der antifaschistischen Gruppe »Contre-Attaque« (1935-1936), zu deren führenden Mitgliedern neben Bataille und Pierre Klossowski, auch der ›Kopf‹ und Theoretiker des Surrealismus André Breton zählte.2 Ihr Leitgedanke bestand, wie dies Fourny zusammenfasst, darin, gegen den sich in Europa formierenden Faschismus »dessen eigene Waffen zu richten«.3 Grundlage des gewagten Vorhabens einer Nutzbarmachung ›faschistischer‹ Mittel für einen linksrevolutionären ›Gegen-Angriff‹4 waren dabei die Arbeiten des durch Boris Souvarine gegründeten »Cercle communiste démocratique« (1930-1934) um die Zeitschrift La Critique Sociale, besonders die darin 1933 veröffentlichten Beiträge Batailles »La notion de dépense« und »La structure psychologique du fascisme«.5 In beiden Aufsätzen stellt Bataille der den Prinzipien der Wissenschaft, Nützlichkeit und Ordnung verpflichteten Produktionsgesellschaft, irrationale, aus dem Unterbewusstsein dringende, »heterogene« Kräfte der »Verschwendung« und der Gewalt gegenüber, auf welche er in »La structure psychologique du fascisme« das Phänomen der faschistischen Massenwirkung zurückführt. Faschistische Führer machten von diesen Kräften Gebrauch, um Anhänger für sich zu gewinnen.6 Bereits »Contre-Attaque« und die ihr zugrunde liegenden philosophisch-theoretischen Ansätze sind dabei ideengeschichtlich nicht nur durch Sade, sondern besonders auch durch Nietzsche,7 seine Vernunft- und Wissenschaftskritik und sei2
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Bataille war durch die Vermittlung Michel Leirisʼ 1924 zum relativ jungen, seit den Zwanzigerjahren bestehenden Surrealismus gestoßen, überwarf sich jedoch 1929 öffentlich mit Breton und gründete mit anderen surrealistischen Dissidenten die Zeitschrift Documents. Durch das gemeinsame Engagement in »Contre-Attaque« näherten sich Bataille und Breton erstmals wieder an, s. Jean-François Fourny: Introduction à la lecture de Georges Bataille (New York: Peter Lang 1988), S. 24 u. 38-45; bzw. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 232 u. 235f. S. Jean-François Fourny, Introduction à la lecture de Georges Bataille, S. 68 : »[…] retourner contre le fascisme ses propres armes«. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 241. Georges Bataille (1933) : »La notion de dépense«, in : ders., Œuvres complètes, I (Paris : Gallimard 1973), 302-320; Georges Bataille (1933) : »La structure psychologique du fascisme«, in : ders., Œuvres complètes, I (Paris : Gallimard 1973), 339-371. Georges Bataille, »La structure psychologique du fascisme«, z.B. S. 348. Vgl. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 245f.
5 Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
ne Hinwendung zu einer an mythische Vorstellungswelten anknüpfenden Sichtweise geprägt. Bataille war mit Nietzsche, ebenso wie mit anderen Denkern und Schriftstellern, während seiner Ausbildung zum Archivar an der École nationale des chartes und schließlich während seiner Tätigkeit als Bibliothekar in der Bibliothèque nationale de France in Berührung gekommen.8 Zeitlich fällt Batailles Studium und intellektuelle Horizonterweiterung mit einer religiösen Krise zusammen, denn Bataille, der konfessionslos erzogen, 1914 zum katholischen Glauben konvertiert war, und sogar erwogen hatte, Mönch oder Priester zu werden, kehrt sich 1920 vom Katholizismus ab.9 Dass sich Bataille bereits in den Zwanzigerjahren mit Nietzsche auseinandersetzte, beweist die französische Übersetzung von Leo Schestows Werk L’idée de bien chez Tolstoï et Nietzsche, welche Bataille 1925 gemeinsam mit T. Beresovski-Chestov vorlegte.10 Bataille hatte Leo Schestow, der zu einer Art philosophischem Mentor für ihn werden sollte und ihm über seine Nietzsche-Werke einen ersten Zugang zu Nietzsches Denken verschaffte, 1923 kennengelernt.11 Die eingehende Beschäftigung mit Nietzsche, wie sie sich besonders in Batailles Werken der Vierzigerjahre, so etwa in L’expérience intérieure (1943) oder Sur Nietzsche (1945), sowie bereits in Batailles zentralem Aufsatz von 1937 »Nietzsche et les fascistes« abzeichnet – Veröffentlichungen, in welchen zahlreiche Originalzitate Batailles fundierte Nietzsche-Kenntnis unter Beweis stellen –, setzt jedoch voraus, dass Bataille die bis 1909 in Frankreich vollständig übersetzten Werke Nietzsches im Original gelesen haben musste.12 Auch in Schriften, in denen Bataille Nietzsche nicht namentlich nennt, so etwa in frühen Aufsätzen oder in Werken wie La Part maudite (1949) oder L’Érotisme (1957), ist sein Denken stets präsent. Bataille kommt dabei die bemerkenswerte Rolle zu, einerseits lange Zeit vor der Aufarbeitung der verheerenden Folgen faschistischen und nationalsozialistischen Gedankenguts, ja selbst lange Zeit vor diesen Folgen selbst, den Versuch unternommen zu haben, das Phänomen ›Faschismus‹ von innen heraus zu erklären, wobei er als philosophisch-theoretische Basis indirekt nietzscheanische Kategorien anwendet,13 andererseits Jahrzehnte vor der eigentlichen Befreiung Nietzsches von faschistischen Lektüren und Anschuldigungen, welche erst 1964 mit der durch Colli 8 9 10 11 12
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Ebd., S. 333; Elisabeth Lange: »Georges Bataille«, in: Französische Literatur des 20. Jahrhunderts. Gestalten und Tendenzen, hg. (u.a.) von Wolf-Dieter Lange (Bonn: Bouvier 1986), S. 95. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 332; Elisabeth Lange, »Georges Bataille«, S. 95. Daniel Hawley : L’Œuvre insolite de Georges Bataille. Une hiérophanie moderne (Genf: Slatkine 1978), S. 217. Vgl. ebd.; Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 333. Ab 1898 hatte sich die Société du Mercure de France unter der Leitung von Henri Albert an die systematische Übersetzung und Veröffentlichung der deutschen ›Grossoktavausgabe‹ gemacht, s. Domenico Fazio, Il caso Nietzsche, S. 47f. Vgl. Georges Bataille, »La structure psychologique du fascisme«.
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und Montinari überarbeiteten Ausgabe (teilweise) erreicht ist,14 die trotz gewisser Parallelen eindeutig vorhandenen Unterschiede zwischen nietzscheanischem und faschistischem Denken darzulegen.15 Den bereits 1937 unter anderem mit Pierre Klossowski gefassten Entschluss einer »Réparation à Nietzsche«, einer »Wiedergutmachung an Nietzsche« – so das Motto der zweiten Ausgabe der Zeitschrift Acéphale, in welcher Batailles Aufsatz »Nietzsche et les fascistes« erscheint –,16 vollendet Bataille 1945 in seinem nun speziell Nietzsche gewidmeten Werk Sur Nietzsche.17 In derselben Sondernummer von Acéphale rezensieren Bataille und Klossowski Löwiths Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935) und Jaspers Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens (1936),18 die großen Nietzsche-Veröffentlichungen der Mittdreißigerjahre, und propagieren damit bereits vor Kriegsbeginn einen unpolitischen, philosophischen Zugang zu Nietzsches Denken, welcher für die Rehabilitation Nietzsches in den Sechzigerjahren grundlegend sein sollte.19 Mit der Auflösung von »Contre-Attaque« infolge zunehmender Uneinigkeiten bezüglich der zu verwendenden Methoden und sich abzeichnender politischer Ernüchterungen, so etwa der Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands durch die NS-Wehrmacht 1936, welche die Utopie des Vorhabens der linksrevolutionären Gruppe ersichtlich machte,20 sowie mit der Gründung der Zeitschrift und Geheimgesellschaft Acéphale (1936-1939) kehrt sich Bataille von politischen Zielsetzungen ab und richtet sein Augenmerk auf konfessionell ungebundene, in der Gemeinschaft erlebte Erfahrungen des ›Heiligen‹. Diese durch Acéphale praktizierte und theoretisierte ›Religion‹ steht dabei nun eindeutig im Zeichen Nietzsches,21 seiner Loslösung aus den Fesseln des diskursiven Denkens und seiner Hinwendung zu entgrenzenden, mystisch erlebten Momenten der Auflösung. Bereits der Titel Acéphale (von griechisch aképhalos, ›ohne Kopf‹) rekurriert auf zentrale nietzscheanische Topoi: Die ›Kopflosigkeit‹ steht zugleich für das 14
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Die italienische und französische Colli-Montinari-Ausgabe erscheint 1964 im Adelphi-Verlag bzw. bei Gallimard, in Deutschland liegt der erste Band der Ausgabe erst 1967 bei De Gruyter vor, s. Eduard Sturm, Die Nietzsche-Renaissance in Italien, S. 52. Vgl. Georges Bataille, »Nietzsche et les fascistes«. Vgl. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 283. Georges Bataille (1945) : Sur Nietzsche, in : ders., Œuvres complètes, VI, La Somme athéologique, tome II (Paris : Gallimard 1973), 7-208. S. darin vor allem Appendice I.: »Nietzsche et le national-socialisme« (S. 185-188). Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 289. Vgl. zur Bedeutung der Werke Löwiths und Jaspers: Eduard Sturm, Die Nietzsche-Renaissance in Italien, S. 36. Vgl. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 249f; Jean-François Fourny, Introduction à la lecture de Georges Bataille, S. 69. Vgl. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 252f; Jean-François Fourny, Introduction à la lecture de Georges Bataille, S. 87.
5 Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
Antiautoritäre bzw. Undogmatische, für das Irrationale als das Gegenstück zu Ratio und Wissenschaft, für das Tragische als die dionysische Erfahrung von Gewalt und Schmerz und schließlich für die in sich kreisende ›Anfangslosigkeit‹ als das ›Ewige‹.22 Während die Anzahl und Identität der an der Zeitschrift Acéphale Beteiligten über die unterzeichneten Veröffentlichungen mehr oder weniger dokumentiert ist – als Autoren erscheinen neben Bataille unter anderem Pierre Klossowski, Roger Caillois und Jules Monnerot, wohingegen André Masson als Illustrator der Zeitschrift figuriert –, ist die genaue, sich über die Jahre wandelnde Zusammensetzung der »Schweigegelübden« unterworfenen Geheimgesellschaft, welche sich regelmäßig »bei Neumond im Wald« versammelte, nicht sicher belegt. Moebius nennt neben Bataille, folgende prominente Mitglieder: Georges Ambrosino, Pierre Klossowski, Pierre Andler, Patrick und Isabelle Waldberg, André Masson, Jacques Lacan, Batailles Geliebte Colette Peignot (alias Laure) sowie den japanischen Künstler Tarō Okamoto.23 Die dritte Ausgabe von Acéphale 1937 kündigte mit einer durch Bataille, Ambrosino, Caillois, Klossowski, Pierre Libra und Jules Monnerot unterzeichneten Erklärung – »Note sur la fondation d’un Collège de Sociologie« –24 die Gründung des Acéphale thematisch verwandten Collège de Sociologie an, dessen Zusammenkünfte und Vorträge zwischen 1937 und 1939 parallel zu den Veröffentlichungen und geheimen Treffen von Acéphale stattfinden sollten. Der durch Jules Monnerot gewählte Titel Collège de Sociologie lehnte sich möglicherweise an das Pariser Collège de France an und unterstrich den offenen, allen Interessierten zugänglichen Charakter der Gruppe, welcher im zweiten Abschnitt der »Note« erläutert wird.25 Moebius weist zu Recht darauf hin, dass dem Collège ein »ausgeweiteter« ›Soziologie‹-Begriff zugrunde lag, der nicht nur den Unterschied zwischen »Soziologie«, »Ethnologie« und »Anthropologie« »endgültig« aufweichte, sondern auch die Grenzen der sozialwissenschaftlichen Disziplin sprengte.26 Obgleich die Teilnahme am Collège de Sociologie die Lektüre 22
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Vgl. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 256-262; Jean-François Fourny, Introduction à la lecture de Georges Bataille, S. 88. Zur ›Kopf-‹ oder ›Anfangslosigkeit‹ als Symbol der ›ewigen Wiederkehr‹ bzw. des »circulus vitiosus« (s. JGB: Drittes Hauptstück 56, KSA 5, 75) s. Nietzsches Bild der ›kopflosen Schlange‹ (der Hirte bezwingt das Schreckliche des Wiederkunftsgedankens, indem er der Schlange den Kopf abbeißt; Za III: Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4, 201f) bzw. jenes der sich in »in den Schwanz« »beißenden« »Logik« (GT 15, KSA 1, 101). Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 252f u. 263-268. Ein bedeutendes Mitglied des Collège war, obgleich sein Name nicht in der Gründungserklärung erscheint, Michel Leiris. Das Collège habe nichts mit einem gewöhnlichen Gelehrtenverband zu tun. Vielmehr könne jeder, der sich für die »aspects essentiels de l’existence sociale« interessiere, daran teilnehmen, s. Georges Bataille, Georges Ambrosino (u.a.) (1937): »Note sur la fondation d’un Collège de Sociologie«, in: Le Collège de Sociologie (1937-1939), hg. von Denis Hollier (Paris: Gallimard 1979), S. 24. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 134f.
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soziologischer bzw. ethnologischer Schriften, so etwa jene Robert Hertzs, Émile Durkheims sowie dessen Neffen Marcel Mauss’ voraussetzte,27 waren die Mitglieder, mit Ausnahme von Michel Leiris, keine Soziologen oder Ethnologen im engeren Sinne. Das Projekt einer den Gefahren der modernen Produktionsgesellschaft und des entstehenden Faschismus28 entgegenwirkenden »sociologie sacrée«, welche gemeinschaftsbildende, die Sphäre des Heiligen berührende Kräfte neu zum Leben erwecken und so den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken sollte,29 lässt erkennen, dass die Mitglieder des Collège soziologische bzw. ethnologische Ansätze mit (religions-)philosophischen, so etwa nietzscheanischen Vorstellungen30 verknüpften und auf die eigene, zunehmend kritisch betrachtete Gesellschaft übertrugen. Eine ähnliche Zusammenführung soziologischer und philosophischer Inhalte lässt sich bereits in Batailles frühen Aufsätzen »La notion de dépense« und »La structure psychologique du fascisme« (1933) feststellen. In der Tat reicht Batailles Beschäftigung mit den Arbeiten Durkheims und Mauss’ in die frühen Dreißigerjahre zurück. Mit dem tragischen Tod seiner Geliebten Colette Peignot (1903-1938), welche – wie Bataille selbst – an Lungentuberkulose litt, und dieser im Alter von nur 35 Jahren erlag, und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, zieht sich Bataille, ernüchtert über die Machtlosigkeit des Einzelnen, aus der Öffentlichkeit zurück31 und widmet sich von nun an Erfahrungen des ›Heiligen‹ abseits von Politik und Gesellschaft. Die letzte Sitzung des Collège de Sociologie findet am 4. Juli 1939 statt.32 Ab diesem Zeitpunkt beginnt für Bataille, der sich bis 1940 mit Ausnahme des unveröffentlichten Romans Le Bleu du ciel und ersten obszönen, unter Pseudonymen verlegten Erzähltexten wie L’Histoire de l’œil (1928) nur über Aufsätze und Vorträge Gehör verschafft hatte, eine Phase hoher literarischer Produktivität: Nicht nur 27 28
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Ebd., S. 172-205. Man beachte hier etwa die Stellungnahme des Collège zum Münchner Abkommen (30. September 1938) am 7. Oktober 1938, s. Georges Bataille, Roger Caillois, Michel Leiris (1938) : »Déclaration du Collège de Sociologie sur la crise internationale«, in : Le Collège de Sociologie (1937-1939), hg. von Denis Hollier (Paris : Gallimard 1979), 99-104. Als »crise internationale« wird dabei nicht nur die durch Hitler verübte unrechtmäßige Eingliederung des Sudentenlandes in das Deutsche Reich bezeichnet, sondern auch das widerspruchslose Einverständnis der Großmächte Großbritannien, Frankreich und Italien. Georges Bataille, Georges Ambrosino (u.a.), »Note sur la fondation d’un Collège de Sociologie«, S. 23f; s.a. Roger Caillois (1938) : »Introduction«, in : Le Collège de Sociologie (1937-1939), hg. von Denis Hollier (Paris : Gallimard 1979), 31-35. Moebius nennt folgende geistesgeschichtlich-philosophische Einflüsse des Collège de Sociologie: Hegel sowie die Hegelinterpretationen von Alexandre Koyré und Alexandre Kojève, Husserl, Nietzsche, Freud und Heidegger; s. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 58-70 u. 172. Vgl. ebd., S. 272 u. 435; Jean-François Fourny, Introduction à la lecture de Georges Bataille, S. 54f u. 95-104. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 328.
5 Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
seine philosophisch-theoretischen Hauptwerke wie L’expérience intérieure (1943), La Part maudite (1949), Lascaux ou la naissance de l’art (1955) und L’Érotisme (1957) entstehen, sondern auch eine bedeutende Anzahl von Erzähltexten, unter welchen neben L’Abbé C. (1950) nur Le Bleu du ciel (1957) der Gattungsbezeichnung ›Roman‹ als narrativem Langtext gerecht wird. Auffällig in Le Bleu du ciel ist die verschachtelte, »asymmetrische« Komposition aus den Textteilen »Avant-Propos«, »Introduction«, »Première Partie« und »Deuxième Partie«.33 Während das erst später hinzugefügte, kursiv gesetzte »AvantPropos« inhaltlich und formal den Erwartungen an ein Vorwort entspricht, scheint die weitere Aufteilung und Betitelung dem üblichen Vorgehen zu widersprechen. So erweist sich die mehrere Seiten lange »Introduction« weniger als ›Einleitung‹ als vielmehr als Teil der Haupthandlung bzw. deren Vorgeschichte. Dieser Umstand wird durch die Tatsache unterstrichen, dass die »Introduction« wie die eigentliche Handlung der »Deuxième Partie« in Normalschrift gedruckt ist, wohingegen die nur etwas mehr als eine Seite lange »Première Partie«, welche sich aus Aphorismen gleichsam poetischer Art zusammensetzt und am ehesten die Funktion einer Einleitung zu erfüllen scheint, wie das »Avant-Propos« kursiv gesetzt ist. Durch den Titel »Première Partie« wird offenbar die zentrale Rolle der Aphorismen innerhalb der Gesamtkomposition herausgestellt, obgleich diese mitnichten den ›ersten Teil‹ der Romanhandlung darstellen. Im Anschluss an diese »Première Partie« beginnt mit der sogenannten »Deuxième Partie« nicht nur der umfangreichste Teil des Romans, sondern auch dessen eigentliche sich an die »Introduction« anschließende Haupthandlung. »Introduction« und »Première Partie« stellen dabei Textfragmente dar, die Bataille bereits in früheren Jahren verfasst und separat veröffentlicht hatte. Die »Introduction« stammt so etwa aus dem Jahr 1928 und erscheint unter dem Titel »Dirty« erstmals 1945, während die »Première Partie« auf ein längeres Textstück aus dem Jahr 1934 zurückgeht, welches Bataille zunächst in der Zeitschrift Minotaure und 1943 im dritten Großkapitel von L’expérience intérieure unter dem späteren Romantitel »Le Bleu du ciel«34 herausgab.35 Die »Première Partie« könnte man somit als Keimzelle des Romans bezeichnen. Die Analyse von Le Bleu du ciel wird im Folgenden nicht nur aufzeigen, auf welch komplexe Weise Bataille politische und erotische ›Transgressionen‹ miteinander verbindet und diese gleichermaßen auf das Sehnen des Menschen nach einem Zustand jenseits von Ratio und Nützlichkeit zurückführt, sondern auch welche Un33 34 35
Brian T. Fitch : Monde à l’envers, texte réversible. La fiction de Georges Bataille (Paris : Minard 1982), S. 145. Georges Bataille (1943) : L’expérience intérieure, in : ders., Œuvres complètes, V, La Somme athéologique, tome I (Paris : Gallimard 1973), S. 92-95. Francis Marmande : L’indifférence des ruines (variations sur l’écriture du Bleu du ciel) (Marseille : Parenthèses 1985), S. 19-23; Ann Smock/Phyllis Zuckerman : »Politics and Eroticism in Le Bleu du ciel«, in : Semiotexte, Vol. II, Nr. 2 (1976), S. 57-59.
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terschiede hier zutage treten. Nietzsche wird sich erneut als zentrale Vorlage und Interpretationsmuster dieser mystischen, sowohl das wissenschaftlich-vernünftige Denken, als auch die herkömmliche Gottesvorstellung überschreitenden ›Transgressionen‹ herausstellen, wobei sich die Abgrenzung zu politisch-dogmatischen bzw. faschistischen Inhalten angesichts der durch Elisabeth Förster-Nietzsche verbreiteten Ineinssetzung von faschistischem und nietzscheanischem Gedankengut als besonders interessant erweisen soll.
5.1
Batailles Kritik an der ›homogenen‹ Welt: Utilitaristische Ökonomie und Monotheismus
»À la base de la vie humaine, il existe un principe d’insuffisance«,36 so Bataille in seinem frühen Aufsatz »Le labyrinthe« und beschreibt damit den Grundgedanken und Ausgangspunkt seines philosophisch-literarischen Schaffens. Nach Nietzsche, Pirandello und Unamuno, führt Bataille dabei noch einmal das aus dem Gefühl des Ungenügens geborene Leiden auf die geradezu traumatisch empfundene Trennung zwischen Tier- und Menschenwelt und somit auf die Anfänge der menschlichen Gattung zurück. Wiederum erscheint das Bewusstsein als Ursache der menschlichen Leidensfähigkeit und des Sehnens nach einem Zustand der Gelöstheit. Was Bataille bereits 1933 im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Phänomen des ›Faschismus‹ und der Analyse der diesem zugrunde liegenden »Sozialstruktur«, als den »homogenen Teil« der Gesellschaft bezeichnet, jene durch die Verstandestätigkeit gesteuerte Welt der »techniques«, »lois«, »règles«, »sciences«, der »production« und »utilité«,37 das ordnet er in seiner kulturanthropologischphilosophischen Studie zur frühmenschlichen Kunst Lascaux ou la naissance de l’art (1955), bereits dem Homo neanderthalensis, einem Nachfahren des Homo erectus aus der Gattung Homo zu. Dass sich der Neandertaler als erste Ausprägung des Homo faber, verstandesmäßig über die Tierwelt, der er entstammte, erhob, belegen sowohl die durch ihn verwendeten Werkzeuge, als auch seine Begräbnisriten. Der in der Natur neue Lebensbereich der »Arbeit« und der »Verbote«, welchen der Neandertaler einführte, betrachtet Bataille als einen der universellen Grundpfeiler der menschlichen Gattung.38 Mehr als in der geistigen Überlegenheit des Urzeitmenschen gegenüber seinen tierischen Artgenossen und, damit verbunden, in der Erfindung des »Werkzeugs« und der »Arbeit«, mit welcher sich dieser sein Fortleben 36 37 38
Georges Bataille (1936) : »Le labyrinthe«, in : ders., Œuvres complètes, I (Paris : Gallimard 1973), S. 434. Georges Bataille, »La structure psychologique du fascisme«, S. 339f. Georges Bataille (1955) : Lascaux ou la naissance de l’art, in : ders., Œuvres complètes IX (Paris : Gallimard 1979), S. 28, 30 u. 31.
5 Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
sicherte,39 enthülle sich, Bataille zufolge, in der Einführung von Regeln, »Verboten« und »Tabus«, wie sie in den frühmenschlichen Begräbnisriten erkennbar sind, das eigentliche Wesen des Menschen: Si les animaux se distinguent clairement de l’homme, c’est peut-être le plus nettement en ceci: que jamais, pour un animal, rien n’est interdit; le donné naturel limite l’animal, il ne se limite de lui-même en aucun cas. […] généralement, sans interdit, il n’est pas de vie humaine. Während dem Tier durch seine Instinkte und seine Fähigkeiten Grenzen gesetzt sind, erweist sich der menschliche Verstand – Bataille schließt sich hier ganz Nietzsche, Pirandello und Unamuno an, wobei er jedoch von einem rein evolutionstheoretischen Standpunkt aus argumentiert –40 als eine in vielfacher Hinsicht fatale Eigenschaft, welche das natürliche Sein grundlegend veränderte: »L’humanité dut avoir le sentiment de détruire un ordre naturel en introduisant l’action raisonnée du travail […].«41 Seine geistigen Fähigkeiten machten den Urzeitmenschen nicht nur handwerklich geschickter, sondern – Bataille stützt sich hier natürlich auf Spekulationen – ließ ihn auch das Unheimliche des Daseins wahrnehmen, dessen Gefahren er sich nun hilflos ausgesetzt sah. Besonders mussten ihn dabei Geburt und Tod beschäftigen.42 Wie Nietzsche, der das Erwachen des Bewusstseins jenem der »Furcht« gleichsetzt und auf diese sowohl den Usus von Gesetzen und Verboten, als auch bei Verstoß, jenen von »Schuld« und »Strafe« zurückführt,43 begreift Bataille das Zurückgreifen auf Gesetze und Verbote als einen natürlichen Mechanismus, durch welchen sich der in die Existenz geworfene Mensch vor sich und seinen Artgenossen, sowie vor den Schrecken des Daseins seit jeher zu schützen versuchte. Dass der um Sicherheit und Ruhe bemühte Mensch44 durch die Überbetonung von 39 40
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Vgl. a. Georges Bataille (1957) : L’Érotisme, in : ders., Œuvres complètes X (Paris : Gallimard 1987), S. 34. Nietzsche und Unamuno binden hier die alttestamentarische Version des ›Sündenfalls‹ ein, s. z.B. AC 48, KSA 6, 226f; DD: Zwischen Raubvögeln, KSA 6, 391; Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 290. Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, S. 70. Die Analogie zu Nietzsches und Unamunos Bezeichnung des Menschen als »krankes« »Tier« drängt sich auf, obgleich Bataille den Ausdruck selbst nicht verwendet, s. z.B. FW: Drittes Buch 224, KSA 3, 510; GM: Dritte Abhandlung 28, KSA 5, 411; Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, S. 288 u. 290. Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, S. 31 u. 34f. S. dazu Za IV: Von der Wissenschaft, KSA 4, 376f; M: Viertes Buch 241, KSA 3, 202; GM: Zweite Abhandlung 3-4, KSA 5, 296f. Auch Bataille betont das mit dem Bewusstsein des Todes einhergehende Gefühl der »Angst«, s. Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, S. 33 : »Dès l’origine, évidemment, ces conduites impliquaient un sentiment de peur ou de respect : en tout cas, un sentiment fort qui faisait des restes humains des objets différents de tous les autres.« Zum Verbot als Garanten der Ruhe und Ordnung, s. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 41 : »L’interdit élimine la violence et nos mouvements de violence […] détruisent en nous la calme
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Vernunft und Nützlichkeitsprinzipien gewisse, unweigerlich zum Leben gehörende Bereiche, wie etwa Schmerz, Leiden, Gewalt und Tod, bewusst ausschließt, ja geradezu verdrängt, hatte auch Nietzsche kritisch bemerkt.45 Bataille jedoch glaubt, in diesen von der »homogenen« Welt der »Arbeit« abgetrennten und mit Verboten gebannten Lebensbereichen das ursprünglich ›Heilige‹ zu erkennen, welches seit Menschengedenken in Opposition zum »Profanen« der Arbeit und der Verbote steht: […] la classification fondamentale des objets avait commencé, les uns tenus pour sacrés et pour interdits, les autres envisagés comme profanes, maniables et accessibles sans limitation. Cette classification domine les mouvements constitutifs de l’humain […].[…] Ce qui trouble un ordre des choses essentiel au travail, ce qui ne peut être homogène au monde des objets stables et distincts […], dut être assez vite situé à part, tenu suivant les cas pour néfaste, pour dérangeant, pour sacré. Mit der Andeutung, dass es sich um Bereiche handle, die sich nicht »homogen« in die Welt des Verstandes einordnen ließen, verweist Bataille auf seine in »La structure psychologique du fascisme« eingeführte Terminologie, wo er der »partie homogène de la société« als der Verkörperung von Ratio, Wissenschaft und Produktion, die »existence sociale hétérogène« als das Irrationale, Unbewusste und Verdrängte gegenüberstellt.46 Diesem, meist mit Verboten belegten ›Heterogenen‹ ordnet er nicht nur die Momente der »unproduktiven Verausgabung«, der »dépense improductive« zu, welcher er mit La Part maudite 1949 eines seiner Hauptwerke widmen sollte, sondern identifiziert es schließlich mit dem eigentlich ›Heiligen‹.47 Bataille beharrt dabei auf dem Standpunkt, dass die menschliche Gemeinschaft, nicht anders als das Seelenleben des Einzelnen, seit jeher auf dem natürlichen Gleichgewicht zwischen »monde profane« und »monde sacré« beruhe.48 Hatte bereits der Neandertaler, so Bataille, den Gegensatz zwischen ›profaner‹ und ›heiliger‹ Welt intuitiv erfasst, so wurde dieser erst durch unseren direkten Verwandten, den in Europa seit dem Jungpaläolithikum durch Knochenfunde belegten Homo sapiens, dessen Wesensart uns Höhlenmalereien enthüllen – so etwa jene der am 12. September 1940 im französischen Département Dordogne durch vier Jugendliche entdeckten Höhle von Lascaux –, in vollem Maße ausgelebt:
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ordonnance sans laquelle la conscience humaine est inconcevable.«; bzw. ebd., S. 67 »Telle est la nature du tabou, qui rend possible un monde du calme et de la raison […]«. S. z.B. JGB: Siebentes Hauptstück 225, KSA 5, 161; ebd. 229, KSA 5, 165f; ebd.: Viertes Hauptstück 69, KSA 5, 86; zum ›Ausschluss‹ in der sprachlichen Darstellung vgl. FW: Drittes Buch 112, KSA 3, 473. Georges Bataille, »La structure psychologique du fascisme«, S. 340 u. 344f. Ebd., S. 344ff. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 70.
5 Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
Essentiellement, j’ai développé l’opposition de l’animalité et du travail. […] Il est certain qu’à l’origine de l’homme, il faut placer, d’une part, une façon de voir les choses liée au travail, et de l’autre, le sentiment d’un monde dérobé à l’effort laborieux. Il n’est pas moins certain que les peintures de Lascaux sont les œuvres d’un homme qui vivait cette opposition.49 Nicht jedoch das Attribut sapiens hält Bataille zur Bezeichnung dieser frühen Ausprägung des heutigen Menschen für zutreffend – das Wissen des Homo sapiens entsprach mehr oder weniger jenem des Neandertalers –,50 vielmehr habe er sich von allen bisherigen Arten durch die Erfindung der »Kunst« und des »Spiels« unterschieden, welche zur »activité utilitaire« in Opposition standen: »[…] c’est une protestation contre un monde qui existait [celui du travail], mais sans lequel la protestation elle-même n’aurait pu prendre corps.«51 Das Wesen des Menschen gründe sich somit seit Anbeginn auf einen tragischen Widerspruch: Während er als einziges Lebewesen bedrängt durch die Frage nach Sinn und Zweck, außerstande sei, ohne feste Richtlinien, Gesetze und Verbote, d.h. ohne die Welt der Nützlichkeit und der Arbeit zu leben, welche ihm das Dasein erträglicher und weniger unheimlich mache, leide er zugleich unter dem Druck der mit dem Verstand einhergehenden, starren Regeln und Verbote, und sehne sich nach dem vorrationalen Zustand der Unbefangenheit und Zwanglosigkeit des Tierreichs zurück. In den Tierdarstellungen des Menschen von Lascaux glaubt Bataille daher den Versuch zu erkennen, sich im Akt der ›Transgression‹, wenn auch nur für Augenblicke, aus der profanen Welt der Arbeit zu befreien und mit dem ›Heiligen‹ als dem Irrationalen und Ursprünglichen zu verschmelzen: Il s’agissait toujours de nier l’homme, en tant qu’il travaillait et calculait en travaillant l’efficacité de ses actes matériels; il s’agissait de nier l’homme au bénéfice d’un élément divin et impersonnel, lié à l’animal qui ne raisonne pas et ne travaille pas.52 Dass die ›Transgression‹ an das, was sie überschreitet, unausweichlich gebunden ist, dass sie daher mitnichten das ihr zugrunde liegende, verstandesmäßige ›Verbot‹ außer Kraft setzt,53 offenbart sich bereits in den frühmenschlichen Zeugnissen und enthüllt damit das doppelte Wesen des Menschen: Setzen die Höhlenmalereien von Lascaux einerseits das vermehrte Wissen und handwerkliche Geschick ihrer 49 50 51 52 53
Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, S. 74. Ebd., S. 38. Ebd., S. 28. Ebd., S. 69f. S. z.B. ebd., S. 40f; s.a. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 66 : »La transgression n’est pas la négation de l’interdit, mais elle le dépasse et le complète; bzw. ebd., S. 70 : »La transgression excède sans le détruire un monde profane, dont elle est le complément.«
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Mensch ohne Gott, vergöttlichter Mensch
Urheber voraus, sind sie somit einerseits Ausdruck der menschlichen Verstandestätigkeit, drückt ihr Gegenstand, die Darstellung von Tieren und Fabelwesen, andererseits das menschliche Sehnen nach einer religiös empfundenen Überschreitung von Verstand und Verbot aus. Früher als Nietzsche, der eine ursprüngliche Form von mystischer Religiosität, d.h. eine erste metaphysische Auseinandersetzung mit dem Sein in den mythisch-vorsokratischen Weltentwürfen, so etwa in der antiken Tragödie festzustellen meinte,54 datiert Bataille die Anfänge der Religion bereits Zehntausende von Jahren vor der antiken Welt und präsentiert sie als charakteristisches Merkmal des Homo sapiens, des anatomisch modernen Menschen schlechthin.55 Sowohl bei Nietzsche, als auch bei Bataille zeigt sich interessanterweise die Kunst – die apollinisch-dionysische Tragödie bei Nietzsche, die frühmenschliche Höhlenmalerei bei Bataille – als Mittel zur Bewältigung des Konflikts zwischen Individuation, Verstand und Ordnung, und der Sehnsucht nach einer allen verstandesmäßigen Reglementierungen enthobenen, ursprünglichen Seinsweise. Die ›Geburt‹ der Kunst erweist sich somit bei beiden Autoren – die Ähnlichkeit der Werktitel scheint diesen Sachverhalt zu unterstreichen –56 aufs Engste mit den Anfängen der Religion verknüpft.57 Das sich bedingende Wechselspiel aus apollinischen und dionysischen Kräften bei Nietzsche weist dabei erstaunliche Übereinstimmungen mit dem durch Bataille beschriebenen Gleichgewicht zwischen der profanen Welt der Arbeit und der Verbote, und der heiligen Welt der ›Transgressionen‹ auf.58 Gleich dem apollinischen Schein, dessen Bedeutsamkeit Nietzsche 54
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S. dazu z.B. die Rede vom »Einheitsmysterium« des »dionysisch-apollinischen« »Kunstwerks« (GT 5, KSA 1, 42) bzw. von der »Mysterienlehre der Tragödie«: »[…] die Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, […] die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.« (GT 10, KSA 1, 73). Ohne Nietzsche einzubeziehen, verleiht Bataille diesem Umstand im Vorwort zu Lascaux ou la naissance de l’art selbst Ausdruck, s. Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, S. 9 : »Autrefois, la véritable naissance de l’art, l’époque à laquelle il avait pris le sens d’une éclosion miraculeuse de l’être humain, semblait beaucoup plus proche de nous. L’on parlait de miracle grec et c’était à partir de la Grèce que l’homme nous paraissait pleinement notre semblable. J’ai voulu souligner le fait que le moment de l’histoire le plus exactement miraculeux, le moment décisif, devait être reculé bien plus haut. […]«. Nietzsches Geburt der Tragödie gegenüber Batailles Lascaux ou la naissance de l’art. Bataille schreibt dazu in dem oben bereits erwähnten Vorwort, s. Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, S. 9f : »Cette manière de voir me conduisait à montrer à quel point l’œuvre d’art était intimement liée à la formation de l’humanité. […] J’ai eu recours, pour le montrer, aux données les plus générales de l’histoire des religions : c’est que la religion, du moins l’attitude religieuse, qui presque toujours s’associe à l’art, en fut plus que jamais solidaire à ses origines.« S. dazu folgende Textstellen, GT 4, KSA 1, 40: »[…] sein [des Griechen] ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntnis, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe! Apollo
5 Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
im Laufe seines Werks immer wieder betont,59 erweist sich die profane Welt bei Bataille als die Grundlage des menschlichen Lebens, während das periodische Hereinbrechen des Dionysischen über die »apollinischen Satzungen« (GT 4, KSA 1, 41), wie Batailles ›Transgression‹ des Profanen, zugleich als schmerzhaft und wonnevoll-erlösend charakterisiert wird.60 Am Ende von Lascaux ou la naissance de l’art verschiebt sich spürbar die Fragestellung, welche mit der Beschreibung und Interpretation der Höhlenmalereien von Lascaux ihren Ausgang genommen hatte und nun neben dem Urzeitmenschen, zunehmend das Wesen und die Lebensweise des modernen Menschen in den Blick nimmt: Nous éprouvons nous-mêmes tout à coup, le poids d’une civilisation dont nous sommes pourtant assez fiers. Nous avons soif d’une autre vérité et nous attribuons notre lassitude à quelque erreur liée au privilège de la raison. Nous sommes conduits à décrier les valeurs dérivées du travail, que symbolisent les interdits, désormais rationalisés […]61 Mit fortschreitender Argumentation scheint die Analyse der frühmenschlichen Zeugnisse nur mehr den Vorwand bzw. den Hintergrund zu einer Kulturkritik zu bilden, welche bereits seit Anfang der 1930er Jahre im Mittelpunkt von Batailles Veröffentlichungen steht. Wie Nietzsche, demzufolge die mythische Weltbetrachtung spätestens seit Sokrates zugunsten des wissenschaftlichen Denkens, bzw. in der Terminologie der Kunst, zugunsten des ›Apollinischen‹, aus dem Gleichgewicht geraten ist,62 glaubt Bataille, in der Geschichte des Menschen eine
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konnte nicht ohne Dionysos leben! Das ›Titanische‹ und das ›Barbarische‹ war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit wie das Apollinische! Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der ekstatische Ton der Dionysosfeier […] hineinklang […].«; vgl. Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, S. 39 u. 41: »J’ai souligné la relation des interdits et du travail: les interdits maintiennent […] le monde organisé par le travail à l’abri des dérangements […]. Ce fut apparemment le souci majeur des origines […] d’accorder le travail et le jeu, l’interdit et la transgression, le temps profane et les déchaînements de la fête en une sorte d’équilibre léger, où sans cesse les contraires se composent, où le jeu lui-même prend l’apparence du travail, et où la transgression contribue à l’affirmation de l’interdit.« S. z.B. UB IV 4, KSA 1, 452f: »Niemand, der am Leben leidet, kann diesen Schein entbehren, wie Niemand des Schlafes entbehren kann. Je schwieriger die Erkenntnis von den Gesetzen des Lebens wird, um so inbrünstiger begehren wir nach dem Scheine jener Vereinfachung […].«; s.a. GT 7, KSA 1, 57; GT 24, KSA 1, 152; FW: Zweites Buch 107, KSA 3, 464. S. z.B. GT 1, KSA 1, 28: »Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen […].«; u. Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, S. 40: »L’angoisse est profonde dans la transgression authentique mais, dans la fête, l’excitation la dépasse et la lève.« Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, S. 70f. Vgl. z.B. GT 12, KSA 1, 83; bzw. GT 17, KSA 1, 111.
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kontinuierliche Verlagerung der natürlichen Balance zwischen ›Profanem‹ und ›Heiligem‹, hin zur Vorherrschaft der profanen Welt der Arbeit und Gebote bzw. zur Verdrängung des ehemals ›Heiligen‹ zu erkennen. Schon in »La structure psychologique du fascisme« bezeichnet Bataille das »Geld« als »commune mesure« und »fondement« der »homogénéité sociale«, welche den Menschen schrittweise zur Funktion herabwürdige: L’argent sert à mesurer tout travail et fait de l’homme une fonction de produits mesurables. Chaque homme, selon le jugement de la société homogène, vaut selon ce qu’il produit, c’est-à-dire qu’il cesse d’être une existence pour soi : il n’est plus qu’une fonction […] de la production collective […].63 Das Leben werde, so Bataille, sowohl in der Gemeinschaft als auch im Privaten immer mehr den Regeln der Nützlichkeit, der Technisierung und Produktion unterworfen, bis es, in viele Einzelteile zergliedert und sich selbst entfremdet,64 nur mehr einem »asservissement«, einem »servage« gleichkomme:65 L’esprit de l’homme est devenu son propre esclave et […] s’est lui-même consommé, asservi, détruit. Rouage dans les rouages qu’il a disposés, il fait de lui-même un abus dont l’effet lui échappe – dans la mesure où cet effet c’est qu’à la fin, rien ne subsiste en lui qui ne soit chose utile. Il n’est pas jusqu’à Dieu qui ne soit réduit en servitude.66 Bataille betont dabei noch einmal den irrationalen, rein menschlichen Ursprung der den Menschen bedrängenden Gesetze und Verbote und beschreibt damit wie Nietzsche, Pirandello und Unamuno, die paradoxe Situation, dass der Mensch gerade unter den sich selbst auferlegten und ihm lebensnotwendigen Gesetzen und Wertmaßstäben leidet und somit seiner eigenen Natur zum Opfer fällt.67 63 64
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Georges Bataille, »La structure psychologique du fascisme«, S. 340. Vgl. Georges Bataille, »Le labyrinthe«, S. 434 : »[…] l’entrée dans le monde des fonctions spécialisées où l''existence‹ personnelle se vide de son contenu : un homme n’est plus qu’une partie d’être […]«; s.a. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 18f : »L’état fragmentaire de l’homme est, au fond, la même chose que le choix d’un objet. […] Chacun de ses mouvements devient utile. […] Toute action fait d’un homme un être fragmentaire. […] la spécialisation, de tous les côtés, s’accentue au point d’alarmer.« Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 94 : »Le mouvement même dans lequel l’homme renie la Terre-Mère qui l’a enfanté ouvre la voie de l’asservissement.« S. a. Georges Bataille (1936) : »La conjuration sacrée«, in : ders., Œuvres complètes, I (Paris : Gallimard 1973), S. 445 : »La vie humaine est excédée de servir de tête et de raison à l’univers. Dans la mesure où elle devient nécessaire à l’univers, elle accepte un servage.« Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 154. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 66f : »Ce qui rend malaisé de parler d’interdit n’est pas seulement la variabilité des objets, mais un caractère illogique. […] Telle est la nature du tabou, qui […] est lui-même, en son principe, un tremblement qui ne s’impose pas à l’intelligence
5 Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
Und doch, so Bataille, sei der Mensch in der Lage, sich aus dem »Gefängnis« der Vernunft zu befreien und zu sich selbst, seinem mythischen Ursprung zurückzukehren.68 Die »existence totale« des Mythos wiederzuerlangen69 und damit sowohl den Einzelmenschen als auch die Gemeinschaft zu stärken,70 wird daher besonders ab Mitte der Dreißigerjahre in Anbetracht des sich ausbreitenden Faschismus und des drohenden Weltkrieges zu Batailles vorrangigem Ziel, welches sich sowohl in den Arbeiten der Zeitschrift und Gruppe Acéphale, als auch in jenen des Collège de Sociologie niederschlägt. So heißt es in der anlässlich des Münchner Abkommens vom 30. September 1938 von Bataille, Caillois und Leiris unterzeichneten Erklärung, das Collège de Sociologie behalte es sich vor, im Angesicht der eingetretenen politischen Krise als »foyer d’énergie« zu fungieren, dessen Streben es sei, »un lien entre les hommes« zu schaffen und der »dévirilisation de l’homme«, wie sie sich in der »absence générale de réaction […] devant la guerre«71 abzeichne, »un peu de tenue« entgegenzusetzen, »quand la mort menace«.72 Dass Bataille damit wesentliche Punkte von Nietzsches Kulturkritik aufgreift, ja dass sein und Nietzsches gedanklicher Weg verblüffende Analogien aufweisen, hat Bataille selbst festgestellt, wenn er in Sur Nietzsche behauptet, »[l]e problème essentiel agité dans ce livre désordonné« sei »celui que Nietzsche a vécu, que son œuvre tendit à résoudre: celui de l’homme entier«.73 Dieser »ganze Mensch«, von dem Nietzsche »geträumt« habe, so Bataille im Anhang des Werks, lebe jenseits der sozialen Unaufrichtigkeit und der »servilité sociale«, er sei der Gegensatz des »homme actuel, qui se confond d’habitude avec une fonction […]«.74 Mit Begriffen wie »servilité«, »servitude«, »fonction«, »homme entier« oder »virilité« – Nietzsche habe, so Bataille, »l’hypocrisie et l’absence de virilité« in der modernen Gesellschaft »demaskiert« –75 überträgt Bataille zentrale Schlagworte seiner
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[…]. Nous devons tenir compte d’un caractère irrationnel des interdits […].«; s.a. ebd., S. 40; bzw. Georges Bataille, »La conjuration sacrée«, S. 445: »La Terre […] était un univers libre: la fascination de la liberté s’est ternie quand la Terre a produit un être qui exige la nécessité comme une loi au-dessus de l’univers.« Georges Bataille, »La conjuration sacrée«, S. 445. Georges Bataille (1938): »L’apprenti sorcier«, in: Le Collège de Sociologie (1937-1939), hg. von Denis Hollier (Paris: Gallimard 1979), S. 57f. Vgl. Caillois’ Ankündigung, das Collège de Sociologie werde sich den »rapports mutuels de l’être de l’homme et de l’être de la société« widmen, s. Roger Caillois, »Introduction«, S. 31. Gemeint ist das tatenlose Einverständnis der Großmächte Großbritannien, Italien und Frankreich. Georges Bataille, Roger Caillois, Michel Leiris, »Déclaration du Collège de Sociologie sur la crise internationale«, S. 103f. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 17. Ebd. (darin: Appendice I »Nietzsche et le national-socialisme«), S. 186. Ebd., S. 185.
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eigenen Kulturkritik76 auf jene Nietzsches. Die durch letzteren diagnostizierte europäische ›Dekadenz‹ der europäischen Jahrhundertwende stimmt inhaltlich in weiten Teilen tatsächlich mit Batailles Analyse der Vorkriegsgesellschaft überein. So hatte bereits Nietzsche die zunehmende Dominanz der Prinzipien Wissenschaft, Nützlichkeit und Arbeit77 und die damit verbundene Entfremdung und Funktionalisierung des Menschen kritisiert.78 Dass der Mensch nichtsdestoweniger in diesem Zustand verharre, dass er sich der sozialen Lüge anpasse, ja diese nicht mehr als solche empfinde und sich sogar glücklich schätze, führen Nietzsche und Bataille auf einen schleichenden Grad von Unbewusstheit und Passivität innerhalb der Gesellschaft zurück, welcher seine Ursache wiederum in der Angst vor der Beliebigkeit und Leere finde.79 Batailles Begriff der »dévirilisation« (s.o.) entspricht dabei Nietzsches Rede von der »Verflachung« (FW: Fünftes Buch 358, KSA 3, 604) oder »Verkleinerung« des Menschen (JGB: Fünftes Hauptstück 203, KSA 5, 127), der zunehmenden »Vermittelmässigung« (FW: Fünftes Buch 377, KSA 3, 629) bzw. vom sogenannten »letzten Menschen« (Za I: Zarathustra’s Vorrede 5, KSA 4, 19). Wie schon die oben zitierte Bemerkung »Il n’est pas jusqu’à Dieu qui ne soit réduit en servitude«80 vermuten lässt, sieht Bataille in der vor allem christlich geprägten Glaubenspraxis nicht etwa ein Gegengewicht zur profanen Welt der Arbeit, sondern geradezu deren Konsolidierung. Wie Nietzsche, der Wissenschaft und Christentum gleichermaßen als Ausformungen der abendländischen Meta76
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Bataille selbst spricht von der »absence de virilité« bzw. vom modernen Menschen, »qui renonce à devenir un homme entier pour n’être plus qu’une des fonctions de la société humaine«, s. Georges Bataille, »L’apprenti sorcier«, S. 38f. S. z.B. UB II 7, KSA 1, 298f: »Ja man triumphirt [sic!] darüber, dass jetzt ›die Wissenschaft anfange über das Leben zu herrschen‹ […] Aber es soll auch gar nicht […] das Zeitalter der fertig und reif gewordenen, der harmonischen Persönlichkeiten sein, sondern das der gemeinsamen möglichst nutzbaren Arbeit. Das heisst eben doch nur: die Menschen sollen zu den Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand anzulegen; sie sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten […]«; s.a. ebd., S. 300. UB II 10, KSA 1, 328f, v.a. S. 329 oben: »Zerbröckelt und auseinandergefallen, im Ganzen in ein Inneres und ein Aeusseres halb mechanisch zerlegt […] Das leere ›Sein‹, nicht das volle und grüne ›Leben‹ ist mir gewährleistet […]«; s.a. FW: Drittes Buch 119, KSA 3, 476; GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 29, KSA 6, 129f. Georges Bataille, »L’apprenti sorcier«, S. 40 : »[L]ʼunivers«, so Bataille, sei »sans cause et sans but«. »Mais l’homme à qui la destinée humaine fait peur […] ne peut être viril.« »[C]eux qui dominent […] l’existence sont presque toujours ceux qui savent le mieux se mentir à euxmêmes […].« »Mais alors que cette absence de besoin [innerhalb der Gesellschaft] est ce qui peut arriver de pire, elle est ressentie comme une béatitude.« »Le mal n’apparaît que si la persistance de l’›amor fati‹ rend un homme étranger au monde présent.« Zur »Verstellung« als Notwendigkeit und vorherrschenden Praxis in der Gesellschaft s. bei Nietzsche z.B. GT 8, KSA 1, 58; WL 1, KSA 1, 876; FW: Erstes Buch 29, KSA 3, 401; FW: Fünftes Buch 352, KSA 3, 588. Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 154.
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physik betrachtet,81 stellt Bataille eine Verschwisterung von wissenschaftlich und christlich geprägtem Denken fest. Das Christentum macht er in Übereinstimmung mit Nietzsche82 verantwortlich für die Bedeutungsverschiebung innerhalb des ursprünglichen Gegensatzpaares profan-heilig und die Verdrängung des ehemals ›Heiligen‹ in den Bereich des ›Profanen‹, wo es als das »Unreine« und ›Heterogene‹, der »Sünde« gleichgesetzt wurde.83 Als ›heilig‹ galt nun nicht mehr ein mit der Erfahrung der Grenzüberschreitung einhergehender Zustand der »Kontinuität«, sondern die über den Tod hinaus wirkende Verewigung des Einzelsubjekts und eine aus vielen Einzelseelen bestehende »discontinuité«, über welcher, als deren höchstes Maß, »la personne discontinue d’un Dieu créateur« thronte:84 […] [Le christianisme] fit, généralement, de l’au-delà de ce monde réel le prolongement de toutes les âmes discontinues. Il peupla le ciel et l’enfer de multitudes condamnées avec Dieu à la dicontinuité éternelle de chaque être isolé. […] Ce qui dans cette totalité atomisée se dérobait était la voie qui mène de l’isolement à la fusion, du discontinu au continu, la voie de la violence, qu’avait tracée la transgression.85 Dass das Christentum die mystische Vereinigungserfahrung der ›Transgression‹ und damit das ursprünglich ›Heilige‹ systematisch ausschloss,86 offenbart sich, Bataille zufolge, bereits im christlichen Kreuzessymbol, welches die Opferung des Gottessohnes nicht als den heiligen Akt der Verschmelzung von ›Vater‹ und ›Sohn‹, 81
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UB IV 8, KSA 1, 476. Zum Verhältnis christliche Moral und Nützlichkeitsdenken, s. M: Viertes Buch 230, KSA 3, 197; GM: Dritte Abhandlung 24, KSA 5, 400ff; AC: Gesetz wider das Christenthum, KSA 6, 254: »Das Verbrecherische im Christ-sein nimmt in dem Maasse zu, als man sich der Wissenschaft nähert«. Man beachte die Analogie zu Nietzsches Beschreibung des siegreich geführten »Sklavenaufstands« durch das Juden- und Christentum, s. GM: Erste Abhandlung 10, KSA 5, 270: »Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert […]«; AC 5, KSA 6, 171: »Man soll das Christenthum nicht schmücken […] es hat einen Todkrieg gegen diesen höheren Typus Mensch gemacht, es hat alle Grundinstinkte dieses Typus in Bann gethan, es hat aus diesen Instinkten das Böse, den Bösen herausdestillirt, – der starke Mensch als der typisch Verwerfliche, der ›verworfene Mensch‹. […] es hat die Vernunft selbst der geistig-stärksten Naturen verdorben, indem es die obersten Werthe der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte. […]«. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 121f; zur Zusammenführung der Begriffe »sacré« und »hétérogène« s. Georges Bataille, »La structure psychologique du fascisme«, S. 345. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 119f. Ebd., S. 121. Ebd., S. 91: »La méconnaissance de la sainteté de la transgression est pour le christianisme un fondement«.
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›Henker‹ und Opfer feiert,87 sondern auf die, wenn auch unbewusste, Sünde und Schuld der Menschheit einerseits, und deren grundloses Leiden andererseits verweist, und diesem allein den Glauben und die Hoffnung auf eine jenseitige Erlösung entgegensetzt. Mit der Darstellung des ›Gottesmordes‹ werde zwar unleugbar eine Form der ›Transgression‹ aufgerufen, diese entziehe sich jedoch unmittelbar ihrer eigentlichen Bedeutung: »[…] dans l’idée du sacrifice de la Croix le caractère de transgression est déformé.«88 Wie Nietzsche stellt Bataille die mit dem Christentum einhergehende Abwertung des diesseitigen Lebens,89 die Betonung von Leiden, Schuld und Sünde und die Zunahme von persönlicher Verantwortung und Selbstaskese fest.90 Ähnlich fällt dabei Nietzsches und Batailles Beurteilung des Protestantismus aus, welchem beide Autoren, mehr als dem Katholizismus, die zunehmende Profanierung und somit Dekadenz des Lebens zur Last legen.91 Während das wirtschaftliche Treiben des katholischen Mittelalters, so Bataille, noch immer fest an das religiöse Leben aus »sacrifices«, »fêtes«, »aménagements luxueux« und »charité« gebunden92 und somit »[l]ʼidée d’un monde économique dé87
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Die Möglichkeit einer solchen Interpretation des Christentums, auf welche er indirekt sogar dessen historischen Erfolg zurückführt, skizziert Bataille am Rande, vgl. Georges Bataille, »La notion de dépense«, S. 306; Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 42-45. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 90. S. z.B. Za I: Von den Predigern des Todes, KSA 4, 57: »Überall ertönt die Stimme Derer, welche den Tod predigen […]. Oder ›das ewige Leben‹: das gilt mir gleich […]«; Za II: Von den Priestern, KSA 4, 118: »Sie nannten Gott, was ihnen widersprach und wehe that […] Als Leichname gedachten sie zu leben, schwarz schlugen sie ihren Leichnam aus; aus ihren Reden rieche ich noch die üble Würze von Todtenkammern. […] Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen! […]«; GD: Moral als Widernatur 1, KSA 6, 83: »Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in jedem Sinne […] Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heisst das Leben an der Wurzel angreifen: die Praxis der Kirche ist lebensfeindlich…«. Za I: Von den Hinterwelten, KSA 4, 36: »Leiden war’s und Unvermögen – das schuf alle Hinterwelten […]«; AC 5, KSA 6, 171: »Das Christenthum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missrathnen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die ErhaltungsInstinkte des starken Lebens gemacht […]«; AC 51, KSA 6, 231f: »[…] man wird nicht zum Christenthum ›bekehrt‹, – man muss krank genug dazu sein…[…] Gott am Kreuze – versteht man immer noch die furchtbare Hintergedanklichkeit dieses Symbols nicht? – Alles, was leidet, Alles, was am Kreuze hängt, ist göttlich […]«; GM: Zweite Abhandlung 22, KSA 5, 332: »[…] dieser Mensch des schlechten Gewissens hat sich der religiösen Voraussetzung bemächtigt […] Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug […].«; Ebd. 24, KSA 5, 335: »Wir modernen Menschen, wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und SelbstThierquälerei von Jahrtausenden […]«; s.a. GM: Dritte Abhandlung 11, KSA 5, 362 u. ebd. 15, KSA 5, 375. S. v.a. AC 10, KSA 6, 176; AC 61, KSA 6, 251f; EH: Der Fall Wagner 2, KSA 6, 359f. Georges Bataille (1949) : La Part maudite. Essai d’économie générale, in : ders., Œuvres complètes VII (Paris : Gallimard 1992), S. 116.
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gagé du service des clercs et des nobles« undenkbar war,93 trennte Luther die Religion ein für alle Mal von der »activité productive«, indem er Buße und Vergebung nicht nur für unabhängig von weltlich-finanziellen Mitteln, sondern ihren Einsatz in diesem Zusammenhang für geradezu sündhaft erklärte. Materieller Reichtum hatte seinen Sinn und Zweck von nun an ausschließlich in sich selbst und bildete den Ausgangspunkt weiterer Produktion und Akkumulation.94 Als im Calvinismus schließlich das bei Luther noch wirksame Zinsverbot aufgehoben und die »moralité du commerce« »allgemein« »anerkannt« wurde, war das Zeitalter der kapitalistischen, auf Nützlichkeit, Produktion und Profit ausgerichteten Gesellschaftsordnung eingeleitet und das ›Heilige‹ aus dem diesseitigen Leben fast vollständig verdrängt.95 »Christ« zu sein, »glorifier Dieu« bedeutete nun nichts anderes, als »bescheiden«, »sparsam« und »fleißig« zu sein: »La sanctification de Dieu se liait ainsi à la désacralisation de la vie humaine«.96 Der Überrest des ›Heiligen‹ wurde dabei in stark abgewandelter Form auf das Jenseits verlegt: »Le protestantisme remettait à l’autre monde la rencontre de l’homme avec sa vérité«.97 Eine Steigerung des Calvinismus und dessen Stärkung der ›profanen‹ Welt der nützlichen Arbeit, meint Bataille nur mehr im restlos und nun unverstellt säkularisierten Marxismus zu erkennen.98 Wie Nietzsche etwa fünfzig Jahre vor ihm, sieht Bataille die moderne Produktionsgesellschaft somit unhaltbar in einem Zustand der ›Dekadenz‹, oder in Batailles Begrifflichkeiten, des »déclin« gefangen, welchen er in Sur Nietzsche den »moments d’épuisements, de fatigue«, dem »souci de conserver et d’enrichir l’être« und den »règles morales« gleichsetzt, und dem »sommet« als »excès«, »exubérance des forces«, »intensité tragique« und »dépenses d’énergie sans mesure« gegenüberstellt.99 Damit ist der theoretische Hintergrund skizziert, vor welchem Le Bleu du ciel verstehbar wird, zumal der Roman selbst auf eine explizite Thematisierung der ihm zugrunde liegenden Kulturkritik verzichtet und diese nur indirekt erschließbar ist. Hatte bereits Nietzsche im Blick auf die Gesellschaft seiner Zeit eine zuneh93 94 95 96 97 98 99
Ebd., S. 113. Ebd., S. 116f. Ebd., S. 118-122, v.a. S. 118 u. S. 122. Ebd., S. 119. Ebd., S. 128. Ebd., S. 128f. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 42. Die durch Bataille aus den Daseinsformen déclin und sommet abgeleiteten ›Arten‹ von Moral, die »morale du déclin« und die »morale du sommet«, ließen sich Nietzsches »Sklaven-« und »Herren-Moral« gleichsetzen, s. ebd., v.a. S. 54f; vgl. z.B. JGB: Neuntes Hauptstück 260, KSA 5, 208.
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mende Ent-wertung aller Werte und Ideale,100 das Absterben des Glaubens101 und die Erschlaffung des Willens102 festgestellt, somit einen Zustand, welchen er als »Nihilismus« oder »Willen zum Nichts« bezeichnet,103 wobei dessen charakteristischer Zug paradoxerweise darin besteht, an den entwerteten, abstrakt und fremd gewordenen Glaubenssätzen nach außen weiterhin festzuhalten, so entwirft Bataille in Le Bleu du ciel – zugegebenermaßen mehr als ein halbes Jahrhundert nach Nietzsche – ein Bild der Gesellschaft, in welcher, mit Nietzsche gesprochen, der Grad des ›Nihilismus‹ bereits weit fortgeschritten ist. Das Wissen, dass es keine absolute Wahrheit gibt, scheint dabei im Unterschied zu Nietzsches und Pirandellos Gesellschaftsanalyse, bereits fester Bestandteil dieses Nihilismus zu sein – die Destruktion von Wahrheit spielt somit keine Rolle mehr –, und wird anders als bei Unamuno kaum erwähnt, noch in seinen tragischen Auswirkungen thematisiert. Die Gesellschaftsform, welche Bataille in Le Bleu du ciel beschreibt, könnte man daher als nachmetaphysisch bezeichnen. Ein Rest menschlicher Trauer über die Tragik des vergänglichen, ziellosen Lebens scheint nur mehr in den durch Xénie, einer Geliebten des Protagonisten Henri Troppmann, vorgetragenen Versen des Liedes J’ai rêvé d’une fleur auf: Elle chanta, résignée. Elle était debout, les mains vides, elle avait les yeux rivés au tapis. J’ai rêvé d’une fleur/ Qui ne mourrait jamais./ J’ai rêvé d’un amour/ Qui durerait toujours. Sa voix grave s’élevait avec beaucoup de cœur et hachait les derniers mots, pour finir, avec une lassitude angoissante: Pourquoi faut-il, hélas, que sur la Terre/ Le bonheur et les fleurs soient toujours éphémères? (S. 436f) 100 Das Substantiv »Entwerthung« bzw. das Verb »entwerthen« finden sich bei Nietzsche in diesem Zusammenhang häufig, s. z.B. FW: Viertes Buch 292, KSA 3, 533; AC 38, KSA 6, 210: »[…] zum Zweck, die Natur, die Natur-Werthe zu entwerthen […]«; AC 58, KSA 6, 247: »[…] um ›die Welt‹ zu entwerthen […]«; EH: Warum ich ein Schicksal bin 8, KSA 6, 374: »[…] um die einzige Welt zu entwerthen, die es giebt […]«. 101 Vgl. dazu FW: Drittes Buch 108, KSA 3, 467: »Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt.«; FW: Fünftes Buch 357, KSA 3, 599: »[…] der Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott […] ist ein gesammt-europäisches Ereigniss«; ebd. 358, KSA 3, 602: »[…] wir sehen die religiöse Gesellschaft des Christenthums bis in die untersten Fundamente erschüttert, – der Glaube an Gott ist umgestürzt […]«. 102 S. z.B. JGB: Sechstes Hauptstück 208, KSA 5, 139: »Die Krankheit des Willens ist ungleichmässig über Europa verbreitet […]«; WA: Vorwort, KSA 6, 12: »[…] das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die grosse Müdigkeit.« 103 S. z.B. GM: Erste Abhandlung 13, KSA 5, 278; GM: Dritte Abhandlung 14, KSA 5, 368; AC 18, KSA 6, 185.
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Ein ernüchterter Blick auf das Dasein und die Wesensart des Menschen dominiert die Grundstimmung des Romans: Das Leben und seine Wechselfälle erscheinen als etwas Feindliches, ›Böswilliges‹ (»ma propre méchanceté s’ajoutait à la méchanceté du sort«, S. 430) – in den Worten des infolge nächtlicher Alkoholexzesse todkranken Ich-Erzählers als »quelque chose de vide, quelque chose de noir, quelque chose d’hostile, de géant…« (ebd.) – und der Tod als die einzig wirksame Heilung des durch das Leben und das Bewusstsein verursachten Leidens: Mais quand je serai mort, Xénie, tu pourras m’embrasser comme tu voudras, je ne souffrirai plus, je ne serai plus odieux. Je t’appartiendrai tout entier… (S. 432) Annähernd frei ist der Mensch, Troppmann zufolge, daher nur auf zwei Arten, welche dem herkömmlichen Verständnis nach, jedoch als Formen der »servilité« aufgefasst werden : »[…] ceux qui ne s’inclinent devant rien sont dans les prisons ou sous terre…et la prison ou la mort pour les uns…ça veut dire la servilité pour tous les autres…« (S. 428). Die Figuren des Romans repräsentieren eine Gesellschaft, in der sämtliche Werte und Ideale, ja das Gefühl für einen Bereich des Heiligen, restlos abhandengekommen zu sein scheinen. Henri Troppmann führt so etwa getrennt von seiner Frau Edith und seinen Kindern (s. z.B. S. 450), ein unbeständiges Leben zwischen verschiedenen Ländern, während er in Paris bizarrerweise mit seiner Schwiegermutter zusammenlebt, die sich in Abwesenheit ihrer Tochter um seinen Haushalt kümmert (S. 414) und stille Zeugin seiner Exzesse ist. Wenn auch mit resignierter, bis in Hass übergehender Bitterkeit104 duldet sie, dass Troppmann zu allen Tages- und Nachtzeiten ausgeht (vgl. S. 414) und ihre Tochter auf die schändlichste Weise betrügt, wobei die regelmäßigen Briefe und Anrufe Ediths belegen, dass diese durchaus über die Vergehen ihres Mannes informiert ist (vgl. S. 402f). Und auch Troppmann selbst ist sich seiner Fehltritte eindeutig bewusst.105 Als er erkrankt, teilt er seiner Schwiegermutter daher gleichmütig, ohne jede Spur von Scham mit, dass seine Bekannte Xénie in das Zimmer seiner Frau einziehen und ihn pflegen werde,106 – eine Neuigkeit, welche seine Schwiegermutter wenig überrascht. Auch in krankem Zustand findet er Vergnügen daran, mit der naiven, etwas 104 S. z.B. S. 429 : »Ma belle-mère me haïssait pour tout le mal que j’avais fait à sa fille; en outre, elle souffrait toutes les fois que les convenances étaient heurtées«. 105 S. S. 403 : »J’expliquai à Lazare le plus brutalement que je pus tout ce que j’avais fait d’immonde à Londres avec Dirty. Je lui dis que je trompais ma femme de toutes les façons, même avant, que j’étais devenu épris de Dirty […]«; bzw. S. 414 : »Je ne pouvais rien imaginer de plus odieux. Ma femme, que j’avais honteusement délaissée, me téléphonait d’Angleterre, par inquiétude; pendant ce temps, l’oubliant, je traînais ma déchéance et mon hébétude dans des endroits détestables«. 106 S. S. 429: »[…] je lui racontai sans lui répondre que Xénie, qu’elle connaissait depuis longtemps, resterait là pour me soigner. Elle pouvait coucher dans la chambre d’Édith si elle voulait. Je le dis avec dégoût, puis recommençai à sourire méchamment […]«.
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einfältigen Xénie, sadistisch anmutende Machtspiele zu spielen, wobei er sie dazu auffordert, sich zu entkleiden und einen Morgenrock seiner Frau anzuziehen (S. 434 u. 437). Liebe und Zuneigung scheinen in Troppmanns Welt keinen Platz zu haben,107 und wo Ansätze dazu gegeben sind, ist ihnen stets ein gewisser Grad von morbider oder sadistischer Grausamkeit und Gewalt beigemischt.108 Selbst Troppmann und Dorothea mit dem sprechenden Spitznamen Dirty, das einzige Wesen, welchem er ergeben ist, bleiben sich nach all ihren gemeinsamen Erlebnissen im Grunde fremd und trennen sich schließlich ein weiteres Mal, ohne zu wissen, ob sie sich je wiedersehen: Il n’y avait plus entre nous qu’un désenchantement hostile. Nous le sentions, nous étions peu de chose l’un pour l’autre […] Nous nous regardions les yeux dans les yeux : non sans crainte. Nous étions liés l’un à l’autre, mais nous n’avions plus le moindre espoir. […] Je m’approchai d’elle, et je vis qu’elle pleurait. Je la serrai entre mes bras, elle ne voulut pas me donner ses lèvres. Je lui demandait pourquoi elle pleurait. Je pensai: – Je la connais aussi peu que possible. […] (S. 481 u. 485) Mehr aus Langeweile als aus politischer Überzeugung, bewegt sich Troppmann in linksrevolutionären Kreisen. Ideelles oder gar christlich motiviertes Engagement ist ihm dabei, wie aus einer Unterhaltung mit Lazare und deren Stiefvater hervorgeht, nicht nachvollziehbar. So wirft er während einer politischen Diskussion unvermittelt und zum Erstaunen seiner Zuhörer die Frage in den Raum »[…] pourquoi êtes-vous communistes…ou socialistes?…«: Ils me regardèrent fixement. Puis ils se regardèrent l’un l’autre. Enfin Lazare répondit, je l’entendis à peine : – Quoi qu’il arrive, nous devons être à côté des opprimés. Je pensais : elle est chrétienne. Bien entendu!…et moi, je viens ici […] – Au nom de quoi »il faut«? Pour quoi faire? – On peut toujours sauver son âme, fit Lazare. […] Elle me donna le sentiment d’une conviction inébranlable. Je me sentais pâlir […] (S. 424) Troppmann lebt ziellos, ohne jegliche Hoffnung und Erwartung an das Leben : »Je n’attendais plus rien d’heureux, de ce que j’attendais je ne pouvais plus rien savoir […]« (S. 469). Religiöser Trost durch den christlichen Glauben stellt für die Figuren des Romans nur mehr eine kaum zu erahnende Möglichkeit dar, welche sie 107 Über Xénie äußert sich der Ich-Erzähler so z.B. folgendermaßen: »Pourquoi avais-je quitté Paris sans avoir couché avec elle? Je l’avais supportée, assez mal, tout le temps que j’étais malade, pourtant, une femme qu’on n’aime guère est plus supportable si l’on fait l’amour avec elle. J’en avais assez de faire l’amour avec des prostituées.« (S. 447). 108 Vgl. dazu die ambivalenten Verhältnisse Troppmann/Xénie (s. z.B. S. 434: »[Troppmann zu Xénie] Reviens. Tu le sais bien. Si je ne t’aimais pas, je n’aurais pas été si cruel. J’ai peutêtre voulu souffrir un peu plus.«), Troppmann/Lazare und Lazare/Michel bzw. Lazare/Antonio (s. z.B. S. 441ff, 445 u. 453f).
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seit Langem hinter sich gelassen zu haben scheinen. Mit etwas Wehmut denkt Troppmann an jene, denen es vergönnt ist, sich in den Momenten des Leidens auf ihren Gottglauben zu stützen, während er auf sich allein gestellt ist: »J’enviais les gens qui ont un Dieu auquel se rattraper, tandis que moi… je n’aurais bientôt plus ›que les yeux pour pleurer‹« (S. 467). Dass der althergebrachte Gottglaube längst seine Macht eingebüßt hat, verdeutlicht auch Dirtys Erzählung, wie sie in Wien ohne offensichtlichen Grund eine Kirche betreten und sich mit seitlich ausgestreckten Armen zu Boden geworfen habe – »Cela n’avait pour elle aucun sens. Elle n’avait pas prié. Elle ne comprenait pas pourquoi elle l’avait fait […]« (S. 474) –, sowie Troppmanns erstaunter Einwurf »Je ne comprends pas que tu sois entrée dans une église.«, den er kurze Zeit später nachdrücklich noch einmal als Frage formuliert. Troppmanns auffälliges Interesse für den beiden Gesprächspartnern unerklärlichen Tatbestand, dass Dirty mit Absicht eine Kirche aufgesucht habe, und Dirtys Antwort, sie könne sich vor Gott »niederknien«, »si je crois qu’il n’existe pas« (S. 477), weist andererseits jedoch darauf hin, dass die Figuren des Romans auf der Suche nach einem die profane Welt transzendierenden Sinnbereich sind, welcher ihnen das Dasein erträglicher macht. Randbemerkungen deuten an, dass auch die Protagonisten von Le Bleu du ciel ihrer Gesellschaft, mit Nietzsches Worten, als ›Unzeitgemäße‹ gegenüberstehen. Die Mehrheit der Menschen scheint den Zustand des Nihilismus, der fehlenden Werte und Ideale, nämlich durch die Betonung alltäglicher Nützlichkeiten und Notwendigkeiten zu maskieren. Diesen Eindruck erweckt eine Gruppe sich unterhaltender Cafégäste, denen Troppmann mit einem Gefühl der Befremdung eine Weile zuhört : »Les autres parlaient, avec le plus grand sérieux, de chaque chose qui était arrivée et dont il était utile d’être informé : ils me paraissaient tous d’une réalité précaire et le crâne vide.« (S. 412). Dirty zufolge seien die Menschen aus »Angst« »korrekt« : »Et savez-vous pourquoi ils sont tous corrects? Ils ont la frousse, entendez-vous, ils claquent des dents, c’est pour ça qu’ils n’osent rien montrer.« (S. 390). Troppmann gelingt es trotz vergeblicher Versuche nicht, sich den Schein eines normalen, bürgerlichen Lebens zu geben, sich so etwa mit dem kleinen Glück zu begnügen, das ihm Xénie möglicherweise bieten könnte: Xénie souriait avec inquiétude – elle éprouvait un malaise, qui s’accentua quand elle vint se blottir dans mes bras. Je l’embrassai sur les cheveux et sur le front. Je pensais que si je n’avais pas attendu Dirty, j’aurais été heureux à ce moment-là. […] Je m’en apercevais, j’avais tenté de fuir ma vie en allant en Espagne, mais je l’avais tenté inutilement. Ce que je fuyais m’avait poursuivi, rattrapé et me demandait à nouveau de me conduire en égaré. (S. 466f) Statt sich zu verstellen, fügt er sich dem herrschenden Nihilismus, ja lebt ihn in vollem Maße aus, was sein Leiden zum Teil vermehrt, denn sein dem Leid und Unglück entspringendes Handeln, seine Exzesse und sein Drang nach Gewalt und
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Tod109 führen zu neuem Leiden. So bricht er etwa bei dem Gedanken an das Unrecht, welches er seiner Frau zufügt, in Tränen aus – »J’ai recommencé à pleurer tant que je pus: mes sanglots n’avaient ni queue ni tête.« (S. 414) –, und Xénies Drohung, sich aus dem Fenster zu stürzen, schmerzt ihn unversehens: Elle […] alla s’asseoir sur le rebord de la fenêtre: elle me regardait, sans trembler. – Tu le vois, je vais me laisser aller…en arrière. […] Si odieux que je sois, ce mouvement me fit mal et il ajouta le vertige à tout ce qui déjà s’effondrait en moi. […] J’étais oppressé, je lui dis : – Reviens. […] (S. 434) Bereits der erste Satz der »Deuxième Partie«, d.h. der eigentlichen Haupthandlung – »Pendant la période de ma vie où je fus le plus malheureux […]« (S. 399) – betont den Zustand der Schwermut des Protagonisten und gibt paradigmatisch das Muster des Romans vor, dessen Grundstimmung durch eine meist nicht näher begründete Trauer oder Niedergeschlagenheit bis hin zu einer Formen des Wahnsinns annehmenden Verzweiflung geprägt ist.110 Ohne offensichtlichen Grund beginnen die Figuren so immer wieder zu weinen,111 wobei ihr Kummer regelmäßig in den Wunsch übergeht, sich selbst und anderen Schmerz zuzufügen112 oder sich 109 Vgl. S. 414: »Pour échapper au sentiment d’être un déchet oublié le seul remède était de boire alcool sur alcool. J’avais l’espoir de venir à bout de ma santé, peut-être même à bout d’une vie sans raison d’être.«; S. 426: »Je lui dis que, le soir où j’étais ivre, j’avais bu parce que je me sentais très malheureux.«; S. 427: »[Xénie zu Troppmann] j’ai pensé que les gens qui ont des habitudes ignobles…comme vous…c’est probablement qu’ils souffrent.« 110 Vgl. z.B. S. 427f: »[Troppmann zu Xénie] Non. Tu ne peux rien pour moi, personne ne peut plus rien… Je le lui dis avec une telle sincérité, avec un désespoir si évident, que nous sommes restés silencieux l’un et l’autre.« Als Troppmann zu wirr-fiebrigen, philosophischen Überlegungen zu Sade übergeht, ermahnt ihn Xénie, still zu sein: »Xénie appuya doucement la main sur mon front: – Henri, je t’en supplie […] arrête de parler…tu es trop fiévreux pour parler encore…« (S. 428). 111 S. S. 407 : »Assis sur le bord du lit, je me mis à pleurer. Je lui dis que j’étais un pauvre idiot […]«; S. 409: »Je suis tombé inerte sur le tapis. J’ai pleuré à n’en plus pouvoir…«; S. 411: »[…] alors, dans le fond du taxi, je pensais à Dirty perdue et je sanglotais.«; S. 413: »[…] marchant dans une rue déserte, ne sachant où aller, je commençai à sangloter. Je ne pouvais pas m’arrêter de sangloter […]«; S. 416: »Elle était plus ivre qu’elle n’avait cru: elle continua de pleurer mais sur mon bras.«; S. 471: »Je me suis levé. J’allai pleurer dans la salle de bains.«; S. 479: »Je pleurais. Je vis que Lazare commençait à pleurer, elle aussi. Les larmes coulaient sur ses joues […] Je serrai ensuite Xénie dans mes bras […]. Quand elle vit que je m’en allais, elle se mit à sangloter sans bouger. Je passai dans le couloir. Je pleurais aussi, par contagion.« 112 S. z.B. S. 416 (Troppmann sticht Xénie mit einer Gabel): »A travers la robe, j’enfonçai brutalement les dents de la fourchette dans la cuisse. […]«; bzw. S. 434 (Troppmanns Erklärung, warum er sich selbst und Xénie gegenüber so grausam verhalte): »Si je ne t’aimais pas, je n’aurais pas été si cruel. J’ai peut-être voulu souffrir un peu plus.«; bzw. S. 471 : »[Dirty zu Troppmann] j’ai eu mal, très mal, pendant toute la nuit. Mais… […] J’étais heureuse de souffrir.«
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das Leben zu nehmen.113 Eine abstrakte, nahezu morbide Traurigkeit scheint die Gesellschaft zu durchziehen und das Symptom eines Nihilismus, eines Defizits an Wahrheit und Wert zu bilden, welches längst zur Normalität geworden ist. Das mit der Traurigkeit gepaarte Gefühl des Ungenügens erweckt in den Figuren, wie sich nun zeigen wird, jedoch zugleich das Streben, die profane Alltäglichkeit, wenn auch nur für Augenblicke und auf scheinbar paradoxe Weise, zu überwinden.
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Die ›Verschwendung‹ und das ›Heilige‹
5.2.1
Verbot und Transgression: Henri Troppmann und der unproduktive Exzess
Dass der Mensch, seinem Wesen nach, außerstande sei, allein auf der Grundlage verstandesmäßiger Gesetze und Verbote zu leben, dass es ihn vielmehr nach einer periodischen Überschreitung des ›Profanen‹ verlange, stellt Bataille bereits in der Auseinandersetzung mit den frühmenschlichen Höhlenmalereien von Lascaux fest. Wie allen kultischen Handlungen der »Kunst«, der »Musik« oder des »Festes« kam diesen, so Bataille, die Aufgabe zu, im Akt der ›Transgression‹ die bewusstseinsgesteuerte, auf Ruhe und Ordnung bedachte Welt des ›Profanen‹ auf einen Bereich des ›Heiligen‹ zu öffnen,114 welcher den Gegensatz zum »aspect pratique et limité« als »le propre de l’homme« bildete und stattdessen die Sehnsucht nach einer naturwüchsigen Ursprünglichkeit erkennen ließ, weshalb ihm »sous la forme animale« Ausdruck verschafft wurde:115 »L’animal est en contact plus direct avec la divinité, il est plus près que l’homme des forces de la nature, qui s’incarnent volontiers en lui«.116 Wie Nietzsche betrachtet Bataille das menschliche Verstandesgerüst dabei als ein der Natur und ihrer zufälligen Dynamik nachträgliches Produkt, welches die Gesamtheit des Seins nur unzureichend zu erfassen vermag und in seiner Reinform zu Leiden führt: La vie humaine, […] telle qu’elle a lieu en fait sur un globe isolé dans l’espace céleste, du jour à la nuit […] la vie humaine ne peut en aucun cas être limitée aux 113
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S. S. 409 (Troppmanns Selbstmordversuch) : »Je peux dire que la mort entrait dans ma tête… […] j’étais sûr, ce jour-là, de mourir sans tarder : j’ai regardé plus bas, mais il y avait un balcon à l’étage inférieur. J’ai passé à mon cou la corde de tirage des rideaux. Elle paraissait solide: je suis monté sur une chaise et j’ai noué la corde […]«; S. 427: »[Troppmann zu Xénie] Je lui dis que […] j’étais un homme perdu. Il vaudrait mieux que je meure maintenant, comme je l’espérais.« S.a. S. 434: »[Xénie zu Troppmann] Tu le vois, je vais me laisser aller…en arrière. Elle commença, en effet, le mouvement qui, achevé, l’aurait basculé dans le vide.« Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, S. 40f. Ebd., S. 71. Ebd., S. 75. Bataille greift an dieser Stelle anscheinend selbst auf ein Zitat zurück.
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systèmes fermés qui lui sont assignés dans des conceptions raisonnables. L’immense travail d’abandon, d’écoulement et d’orage qui la constitue pourrait être exprimé en disant qu’elle ne commence qu’avec le déficit de ces systèmes […] où les forces ordonnées et réservées se libèrent et se perdent pour des fins qui ne peuvent être assujetties à rien dont il soit possible de rendre des comptes. C’est seulement par une telle insubordination, même misérable, que l’espèce humaine cesse d’être isolée dans la splendeur sans condition des choses matérielles.117 Während die moderne Industriegesellschaft das Leben den Prinzipien der Nützlichkeit, der Akkumulation und der Produktion unterwerfe, wobei der Verbrauch von Energie stets im Dienst neuer Produktion stehe, sei dem Leben sowohl die »dépense exclusivement productive« als auch die »pure dépense improductive« fremd.118 Ausgehend von der Beobachtung bestimmter Naturphänomene, so etwa des Sonnenlaufs auf der Erde und dem Verbrauch »sans contrepartie« von Sonnenenergie, welche in weit größerem Maße abgegeben werde als es beispielsweise zum Erhalt des Planeten notwendig sei,119 postuliert Bataille mit jenem Gestus des Zeitenumbruchs, mit welchem Nietzsche die platonisch-christliche Metaphysik verabschiedete und die »Umwerthung aller Werthe« (s. z.B. AC 13, KSA 6, 179) verkündete, das bedingungslose Umdenken in den Belangen der ›Ökonomie‹ und das Verdrängen der utilitaristischen »économie restreinte« zugunsten einer allumfassenden »économie générale«, welche nicht nur dem lebensnotwendigen, dem Erhalt und Wachstum dienenden Verbrauch Rechnung trage, sondern auch dem bisher missachteten, jedoch stets vorhandenen »trop-plein d’énergie écumante«, welches Bataille auch »la part maléfique«120 oder »la part maudite«121 , den ›verfemten‹, ›unheilvollen‹ Teil nennt: Je préciserai seulement […] que l’extension de la croissance exige elle-même le renversement des principes économiques – le renversement de la morale qui les fonde. Passer des perspectives de l’économie restreinte à celles de l’économie générale réalise en vérité un changement copernicien: la mise à l’envers de la pensée – et de la morale.122 Batailles an mythisch-vorsokratische Vorstellungswelten erinnernder Daseinsentwurf einer sämtliche Lebensbereiche einschließenden ›Ökonomie‹ »à la mesure de 117 118 119
Georges Bataille, »La notion de dépense«, S. 318f. Georges Bataille, La Part maudite, S. 22; vgl. Georges Bataille, »La notion de dépense«, S. 302f. Georges Bataille (1946) : »L’économie à la mesure de l’univers«, in : ders., Œuvres complètes, VII (Paris : Gallimard 1992), S. 9-16, v.a. S. 10. 120 Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 60. 121 Georges Bataille, La Part maudite, S. 44f. Der Begriff erscheint bereits im Haupttitel des Werks, während der Untertitel »Essai d’économie générale« lautet. 122 Ebd., S. 33.
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l’univers«123 gründet sich hierbei auf den Gedanken, dass die produzierte Energie stets größer sei als die »somme nécessaire à la production«, d.h. als die zum Erhalt des Lebens notwendige Energie,124 so dass es regelmäßig zu einem Energieüberschuss komme, welcher auf die eine oder andere Weise der Verschwendung preisgegeben werden müsse: »[…] il faut nécessairement le perdre sans profit, le dépenser, volontiers ou non, glorieusement ou sinon de façon catastrophique.«125 Der modernen Produktionsgesellschaft christlicher Prägung, welche den unproduktiven Energieverbrauch seit jeher als unmoralisch diffamierte und weitestgehend ausschloss, so dass er in den Bereich des Privaten abgedrängt wurde und sich von nun an höchstens in individuellen Manifestationen des Luxus oder der Freizeitgestaltung entlud,126 stellt Bataille alternative Gesellschaftsformen nichtindustrialisierter Kulturen gegenüber, wie etwa den Volksstamm der Azteken oder bestimmte Indianerstämme im Nordwesten Amerikas, in welchen der unproduktive Exzess nicht nur als vollwertiger Teil einer das Leben umfassenden Energieökonomie galt, sondern in besonderer Weise als etwas Heiliges gewürdigt und gefeiert wurde. Neben den blutigen Menschenopfern der Azteken127 nennt Bataille so etwa den bei nordwestamerikanischen Indianerstämmen, wie den Tlingit, den Haida, den Tsimshian oder den Kwakiutl üblichen Ritus des ›Potlatch‹, welcher darin bestand, seinem Gegenüber bzw. seinem »Rivalen« zu speziellen feierlichen Anlässen eine kaum überbietbare Menge an Reichtümern darzureichen, welche dieser mit noch größeren Verschwendungen zu erwidern versuchte.128 Da sich der Potlatch dem unproduktiven, der utilitaristischen Ökonomie enthobenen Exzess verschreibt und diesen als heilig zelebriert, mussten die dargebotenen Reichtümer, Bataille zufolge, im Idealfall – er verweist hier auf Marcel Maussʼ Essai sur le don (1925) – eine Höhe erreichen, welche weder materiell noch ideell ausgeglichen werden konnte: »C’est qu’en vérité, comme je l’ai dit, l’idéal serait qu’un potlatch ne pût être rendu.«129 Als das durch die moderne Produktionsgesellschaft Verdrängte, ist die dem unproduktiven Verbrauch geweihte part maudite dem ›Heterogenen‹ gleichzusetzen, welches Bataille mit dem ursprünglich ›Heiligen‹ identifiziert.130 Die Erfahrung dieses ›Heiligen‹, so Bataille, sei an die ›Transgression‹ der verstandesmäßigen Gebote gebunden, welche im Akt der Überschreitung jedoch keines123 124 125 126 127
S. Batailles Aufsatz »L’économie à la mesure de l’univers«. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 60; vgl. Georges Bataille, La Part maudite, S. 29. Georges Bataille, La Part maudite, S. 29. Ebd., S. 32, 35 u. 78; Georges Bataille, »La notion de dépense«, S. 312f. Georges Bataille, La Part maudite, S. 51-65; Georges Bataille (1928) : »L’Amérique disparue«, in : ders., Œuvres complètes, I (Paris : Gallimard 1973), 152-158. 128 Georges Bataille, La Part maudite, S. 69-78; Georges Bataille, »La notion de dépense«, S. 308311 129 Georges Bataille, La Part maudite, S. 71-73, v.a. S. 73; vgl. Georges Bataille, »La notion de dépense«, S. 310. 130 Georges Bataille, »La structure psychologique du fascisme«, S. 344-347.
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wegs aufgehoben würden: »[…] [la transgression] lève l’interdit sans le supprimer«.131 Möchte der Mensch die dem Verstandesapparat vorgängige ›kosmische Ökonomie‹ der »existence totale«132 an sich selbst erfahren und so zu einer mystisch empfundenen »continuité« allen Seins, zur »expérience intérieure« übergehen, müsse er sich, wenn auch nur für Augenblicke aus den Fesseln des Verstandes befreien.133 Einen besonderen Stellenwert misst Bataille in diesem Zusammenhang der sämtliche Formen der unproduktiven Verausgabung, wie Gewalt, Tod und Geburt umschließenden ›Erotik”’134 bei, welcher er nicht zufällig eines seiner bedeutendsten Werke135 widmet: »L’homme ignorant de l’érotisme n’est pas moins étranger au bout du possible qu’il ne l’est sans expérience intérieure.«136 Mit der Vorstellung einer periodisch hereinbrechenden, die Verstandes- und Subjektgrenzen auflösenden Erfahrung von Ganzheitlichkeit oder »continuité«, welche vollständig nur im Tod verwirklicht ist,137 beschreibt Bataille, ohne diese Begrifflichkeiten selbst zu verwenden, natürlich nichts anderes als Nietzsches ›Dionysisches‹, welches letzterer den Momenten der Gewalt, des Rausches, des Festes, der Ausgelassenheit und des Überflusses gleichsetzt, und dem ›Apollinischen‹ als der »maassvollen Begrenzung« und dem mit dem Verstand einhergehenden »principium individuationis« gegenüberstellt: […] so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes […] oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hin131 132 133
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Georges Bataille, L’Érotisme, S. 34-39 u. S. 66-70, v.a. S. 39. Georges Bataille, »L’apprenti sorcier«, S. 57. S. z.B. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 21f : »Tandis que la recherche d’une continuité de l’être poursuivie systématiquement par-delà le monde immédiat désigne une démarche essentiellement religieuse […].« S.a. ebd., S. 37 : »J’exprime, dans mon livre, une expérience, sans faire appel à quoi que ce soit de particulier, ayant essentiellement le souci de communiquer l’expérience intérieure – c’est-à-dire, à mes yeux, l’expérience religieuse – en dehors des religions définies.« Bataille macht darauf aufmerksam, dass jede sexuelle Vereinigung einen Moment der todesähnlichen »continuité« beinhalte, in welcher zwei Einzelwesen ihre Individualgrenzen verließen und zu einem Ganzen verschmölzen. Bei Einzellern und bestimmten Tierarten gehe die Fortpflanzung dabei tatsächlich mit dem Tod der Ursprungswesen einher. Beim Menschen dagegen trete der Tod der Eltern in verzögertem Abstand ein. Der Sexualakt ähnle insgesamt einer gewaltsamen »Opferung«, s. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 19-24 u. S. 95-103. S. Georges Bataille, L’Érotisme. Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 36. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 19 : »[…] la mort a le sens de la continuité de l’être […] je m’efforcerai de montrer l’identité de la continuité des êtres et de la mort […]«; ebd., S. 24 : »[…] la continuité, que seule établirait définitivement la mort des êtres discontinus […]«.
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schwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu Ort […] Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut [sic!] die Erde ihre Gaben […] Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysos überschüttet […] Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. […] Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches: als Gott fühlt er sich […] die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. (GT 1, KSA 1, 28ff) In dem Maße, wie Nietzsche nachdrücklich darauf hinweist, dass das Leben nicht allein auf der Grundlage des ›Dionysischen‹, dem ständigen ›Außer-sich-Seins‹ bestehen könne, dass es vielmehr auf einem Gleichgewicht zwischen dionysischen und apollinischen Kräften beruhe,138 betont Bataille die dem menschlichen Sein inhärente Abhängigkeit von »continuité« und »discontinuité« sowie von »transgression« und »interdit«. Erst im »Tod« – oder wie man hinzufügen könnte im uneingeschränkten Wahnsinn – lässt der Mensch sein ›être discontinu‹ endgültig zurück und geht dauerhaft in die »continuité« des Seins ein: […] la vie discontinue n’est pas condamnée […] à disparaître: elle est seulement mise en question. […] Il y a recherche de la continuité, mais en principe seulement si la continuité […] ne l’emporte pas.139 Dass der Zustand der ›continuité‹, außer im Tod, niemals vollständig, sondern immer nur für Augenblicke erreicht werden kann, vermag die ziellose Rastlosigkeit der Protagonisten in Le Bleu du ciel zu erklären, welche in sich steigernden, bis zur Erschöpfung reichenden Ausschweifungen der profanen Alltagswelt zu entfliehen 138
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S. GT 4, KSA 1, 40: »Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysos leben! Das ›Titanische‹ und das ›Barbarische‹ war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit wie das Apollinische! […]«; GT 21, KSA 1, 136-140: »Hier bricht jedoch die apollinische Kraft, auf Wiederherstellung des fast zersprengten Individuums gerichtet, mit dem Heilbalsam einer wonnevollen Täuschung hervor […] Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, des Begriffs […] reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbstvernichtung empor […][…] jene vorhin erwähnte apollinische Täuschung […], durch deren Wirkung wir von dem dionysischen Andrange und Uebermasse entlastet werden sollen. […] Dionysos redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysos […]«. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 24; vgl. zum Verhältnis »transgression« und »interdit« ebd., S. 39, 66 u. 70.
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versuchen.140 Dieser Umstand wird durch Troppmanns Impotenz gegenüber Dirty verstärkt, welche die ersehnte sexuelle ›Überschreitung‹ jedes Mal aufs Neue verhindert: »Le temps passait en efforts inutiles. À la fin, j’étais dans un état d’extrême épuisement physique, mais l’épuisement moral était pire. Aussi bien pour elle que pour moi. […]« (S. 404f). Der Vorsatz seiner Jugend des »tout renverser« (S. 455), welchen sich Troppmann in Erinnerung ruft, wird ihm zum Leitspruch seines Lebens, welches in Opposition zu den herrschenden, durch Wissenschaft und Monotheismus geprägten Werten steht. Anders als bei Sade, welcher sexuelle Ausschweifungen als blasphemische Verletzungen dessen, was sie überschreiten – des »göttlichen Gebots« –, versteht und sie als solche dem Bösen zuordnet, folgt Bataille der Tradition Nietzsches und entwirft die Manifestationen des unproduktiven Exzesses als Teil der kosmischen ›Ökonomie‹ und deren Entdeckung und Anerkennung als ›Umwertung‹ einer ›eingeschränkten‹, den Bereich des ›Heterogenen‹ ausschließenden Ökonomie, in welcher das ›Heilige‹, wenn noch vorhanden, auf eine vom Diesseits abgetrennte Transzendenz abgedrängt ist. Das Zusammenspiel von Produktion, Akkumulation und unproduktivem Verbrauch, bzw. in nietzscheanischer Terminologie, von apollinischen und dionysischen Kräften wird daher als eine natürliche, dem menschlichen Verstandesapparat vorgängige Dynamik begriffen, in welcher das Hereinbrechen der Ausschweifung bzw. des ›Dionysischen‹ inmitten der Alltagswelt nicht nur restlos »dem Bösen entzogen« ist, sondern als ein im Diesseits erlebtes ›Heiliges‹ gewürdigt wird.141 Batailles Vorstellung der ›allgemeinen Ökonomie‹ entspricht daher letzten Endes Nietzsches apollinisch-dionysischem Lebenskreislauf bzw. der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹. Die Autoren präsentieren einen Daseinsentwurf, welchen man als vor- oder nachmetaphysisch bezeichnen könnte, d.h. welcher entweder auf die bis zu den Anfängen der Menschheit zurückreichende Zeit von Mythos und Naturphilosophie, oder auf den modernen, durch Nietzsche verkündeten ›Tod‹ des platonisch-christlichen Gottes verweist. Michel Foucault führt in seinem Bataille gewidmeten Aufsatz »Préface à la transgression«, Batailles im Diesseits erlebte Grenzüberschreitung der ›inneren Erfahrung‹ auf den nietzscheanischen ›Tod‹ Gottes zurück, denn durch diesen sei die Grenze zum Übersinnlichen in den Menschen selbst hinein verschoben worden: 140 Vgl. S. 401f : »[Troppmann über Lazare] […] son agitation était aussi désaxée, aussi stérile que ma vie privée, en même temps aussi troublée.« S.a. S. 411 : »Mon existence avait pris un cours de plus en plus déjeté. Je buvais des alcools ici ou là, je marchais sans but précis et, finalement, je prenais un taxi pour rentrer chez moi; alors, dans le fond du taxi, je pensais à Dirty perdue et je sanglotais.« 141 Vgl. zum Verhältnis Bataille/Nietzsche/Sade, Peter-André Alt: »Versuch über den Exzess«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken (Februar 2008), S. 115-118 (hier v.a. S. 115 u. 117).
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La mort de Dieu, en ôtant à notre existence la limite de l’Illimité, la reconduit à une expérience où rien ne peut plus annoncer l’extériorité de l’être, à une expérience par conséquent intérieure et souveraine.142 Die Figuren in Le Bleu du ciel streben nach einer die profane Welt überschreitenden Ganzheitlichkeit und suchen sie in den Momenten der Auflösung, des Exzesses. Es sind daher die verschiedenartigen Ausprägungen des ›Heterogenen‹, des ›verfemten Teils‹, welche den Roman inhaltlich prägen: Alkohol, durchfeierte Nächte,143 sexuelle Perversionen, Schmutz, Gestank, Gebrochenes, Speichel, Blut, Urin144 bis hin zu Gewalt und Tod stellen die wiederkehrenden, sich abwechselnden bzw. sich überblendenden Bilder dar. Der sich ›ergießenden‹ dépense improductive wird dabei zum Teil wortwörtlich durch schonungslose, exkrementelle Beschreibungen Ausdruck verliehen: Muette, Dirty se tenait sur la chaise. Il se passa un long moment : on aurait pu entendre les cœurs à l’intérieur des corps. Je m’avançai jusqu’à la porte, le visage barbouillé de sang, pâle et malade, j’avais des hoquets, prêt à vomir. Les domestiques terrifiés virent un filet d’eau couler le long de la chaise et des jambes de 142 Michel Foucault (1963): »Préface à la transgression«, in: ders., Dits et Écrits 1954-1988, I (Paris: Gallimard 1994), S. 235; vgl. dazu Peter Wiechens: Bataille zur Einführung (Hamburg: Junius 1995), S. 104: »Die Grenze, die dem Menschen vor dem Tod Gottes durch die Unendlichkeit und Transzendenz Gottes gezogen wurde, erfährt dadurch eine entscheidende Verschiebung: Sie löst sich nicht etwa endgültig auf, vielmehr findet sie sich in den Menschen selbst hineinverlegt.« 143 S. z.B. S. 385 : »[…] Dirty était ivre. Elle l’était au dernier degré […]. L’ivresse nous avait engagés à la dérive, à la recherche d’une sinistre réponse à l’obsession la plus sinistre.«; ebd., S. 415 : »Je sortis passablement saoul d’un taxi devant chez Francis. Sans rien dire, j’allai m’asseoir à une table à côté de quelques amis […] La table fut bientôt couverte d’une quantité de bouteilles de vin rouge vides ou à moitié vides.«; ebd., S. 416 : »[…] à la fin je m’installai, adossé au mur, devant la porte. J’étais ivre. […]«. 144 S. z.B. S. 385 : »Dans un bouge de quartier de Londres, dans un lieu hétéroclite des plus sales, au sous-sol, Dirty était ivre. […] En tous points, la scène qui précéda cette orgie répugnante – à la suite de laquelle des rats durent rôder autour de deux corps étalés sur le sol – fut digne de Dostoïevski…«; ebd., S. 387 : »[über Dirty] elle dégageait au surplus une odeur surie de fesse et d’aisselle qui, mêlée aux parfums, rappelait la puanteur pharmaceutique. Elle sentait en même temps le whisky, elle avait des renvois…«; ebd., S. 395 : »Près de moi gisait la seconde victime : l’extrême dégoût de ses lèvres les rendait semblables aux lèvres d’une morte. Il en coulait une bave affreuse que du sang.; ebd., S. 415 : »Je commençais à avoir envie de vomir.«; ebd., S. 416 : »[…] l’une des dents, plus pontue, avait traversé la peau et le sang coulait […].«; ebd., S. 418 : »[…] je passai un assez long temps à vomir.«; ebd., S. 423 : »Je pissai longuement, j’imaginai ensuite que je pourrais vomir et je m’épuisai en efforts inutiles, enfonçant deux doigts dans la gorge […].«; ebd., S. 425 : »Mon envie de vomir durait. Elle n’avait pour ainsi dire pas cessé depuis l’avant-veille. J’envoyai chercher une bouteille de mauvais champagne. J’en bus un verre glacé: après quelques minutes, je me suis levé pour aller vomir.«; ebd., S. 446: »Je me levai moi-même. Michel s’éloigna pour aller vomir. […]«.
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leur belle interlocutrice : l’urine forma une flaque qui s’agrandit sur le tapis tandis qu’un bruit d’entrailles relâchées se produisait lourdement sous la robe de la jeune fille, révulsée, écarlate et tordue sur sa chaise comme un porc sous un couteau… (S. 389) Die Charakterisierung Dirtys »comme un porc sous un couteau« evoziert zugleich eine Opferungsszene, was das Verhältnis des ›Heterogenen‹ zur Sphäre des ›Heiligen‹ unterstreicht. Sexuelle Fantasien oder Handlungen haben in Le Bleu du ciel stets einen Beigeschmack von Gewalt oder Tod. Die Hände des Hotelportiers in London, der aufgrund seines Aussehens als »le fossoyeur« – der Totengräber – bezeichnet wird (S. 386 u. 388), wirken auf Dirty so etwa wie »énormes pattes […] de gorille«, welche in ihrer Behaarung wiederum an ›Hoden‹ – »couilles« – erinnern (S. 390). Als Troppmann Xénie nach einer gemeinsamen Mahlzeit in einem Nachtlokal, mit einer Gabel brutal in den Oberschenkel sticht, verschüttet sie vor Schreck einige Tropfen Rotwein und dieser vermischt sich mit dem Blut aus ihrer Wunde, welches Troppmann mit einer gewissen Genugtuung ableckt: »[…] Elle n’eut pas le temps de m’empêcher de coller mes deux lèvres à même la cuisse et d’avaler la petite quantité de sang que je venais de faire couler.« (S. 416). Der plötzliche, blutige Gewaltausbruch wird bereits durch die vorherige Szene und die Beschreibung der servierten Speisen vorbereitet. Xénie bestellt ausgerechnet »Blutwurst« und »Rotwein« und Troppmann verzehrt ein »Herz in Cremesauce«, dessen Anblick in Xénie die bildliche Erinnerung an einen mit einer »weißlichen« »Flüssigkeit« gefüllten »Nachttopf« wachruft, auf dessen Oberfläche eine tote »Fliege« schwimmt. Das Umschlagen des den Speisen anhaftenden ›Barbarisch-Grausamen‹ in den Bereich des ›Abstoßend-Ekelhaften‹ wird dabei nicht nur durch die Assoziation des Nachttopfs, sondern auch die Reaktion der Protagonisten verdeutlicht: »[…] la couleur du lait la dégoûtait. […] un cœur à la crème…Je commençais à avoir envie de vomir. (S. 415). Ähnlich ambivalent ist die nackte, fleischfarbene Wachspuppe beschrieben, welche eine Tanzpartnerin Troppmanns beim Tanzen mit zweideutigen Bewegungen hin- und herschwenkt und schließlich auf das nahe stehende Klavier fallen lässt, woraufhin die Puppe mit gespreizten Beinen und abgehackten Füßen – »les petits mollets roses tronqués, les jambes ouvertes, étaient crispants, en même temps séduisants« – aufkommt. Der bereits bis hierhin obszön-gewalttätige Gehalt der Szene wird durch Troppmanns Verhalten vervollständigt: Er schneidet ein Stück aus der »rosigen Wade«, lässt es sich von seiner Begleitung in den Mund stecken und spuckt es angeekelt von dessen bitterem Geschmack sogleich wieder aus: »Je la crachai par terre, écœuré.« (S. 417). Kurze Zeit später ist die Wachspuppe Gegenstand einer Traumsequenz, welche sämtliche Topoi des ›Heterogenen‹ zu einer Einheit verschmelzen lässt: Im Traum steht Troppmann mit Gestalten seiner nächtlichen Orgien um ein Himmelbett, das die Funktion eines Leichenwagens zu erfüllen scheint (S. 418). Nach einer Weile lässt sich inmitten des Bettes ein Sarg er-
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kennen, dessen Deckel sich langsam hebt und die Leiche zum Vorschein bringt : »Le cadavre était un objet de forme indéfinissable, une cire rose d’une fraîcheur éclatante; cette cire rappelait la poupée aux pieds coupés de la fille blonde, rien de plus séduisant […]« (S. 419). Diese rosafarbene Kreatur – »à la fois inquiétant et séduisant« – nimmt plötzlich riesige Ausmaße an, verwandelt sich in ein statuengleiches Etwas mit einem Stutenkopf und einem Helm, welches Troppmann unvermittelt als die griechisch-römische Kriegsgöttin »Minerva« und schließlich als niemand anderen als die zugleich »wahnsinnige« und »tote« Dirty in der Verkleidung des ›Komturs‹ aus Mozarts Don Giovanni erkennt. In dem Moment, als sich das Wesen in bedrohlicher Weise auf ihn stürzt, um ihn zu »vernichten«, erwacht Troppmann aus seinem Traum (S. 419f). Neben Gewalt, Krieg und Obszönität ist hier, wie häufig in Le Bleu du ciel, die Thematik des Todes vorherrschend. Der Tod, als dessen rekurrierendes Symbol die Figur des ›Komturs‹ aus Don Giovanni fungiert, scheint jene äußerste Form der Auflösung aller inneren und äußeren, durch den Verstand vorgegebenen Grenzen zu sein, nach welcher die Protagonisten, ohne sie endgültig zu erreichen, unablässig streben. Die Figur des ›Komturs‹, welche erstmals bereits in der nicht einmal zwei Seiten langen »Première Partie« genannt wird (S. 395), ist indirekt Gegenstand einer Unterhaltung zwischen Troppmann und Lazare, in welcher Troppmann von seinem Selbstmordversuch in Wien am Tag nach der Ermordung Dollfuß‹145 berichtet, und wird in diesem Kontext unmissverständlich als Todesmotiv eingeführt. Auf Lazares Frage »D’où venait votre banderole noire?« (S. 409) – ein schwarzes Fahnentuch auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu Ehren des ermordeten Dollfuß, welches Troppmann erwähnt – entgegnet dieser: »Vous connaissez l’histoire de la nappe noire qui couvre la table du souper quand Don Juan arrive? (S. 410).146 Dass das schwarze Tuch sowohl in Don Giovanni als auch in Le Bleu du ciel für den zugleich drohenden und lockenden Tod steht, unterstreicht Troppmanns Erwiderung »Aucun, sauf que la nappe était noire […]« auf Lazares Einwurf »Quel rapport avec votre banderole?« (S. 410). Erneut bestimmt die Figur des ›Komturs‹ Troppmanns Todesfantasien, als er sterbenskrank, gleichsam den Tod erwartend,147 von seinem Bett aus, einen Schatten vom Himmel fallen 145
S. 409: »[…] je pensai que la mort s’approchait de moi. […] Je peux dire que la mort entrait dans ma tête… […]«. 146 Gemeint ist das berühmte Nachtmahl Don Giovannis, zu welchem der Geist des durch diesen im Duell getöteten Komturs in der Gestalt seiner Grabesstatue erscheint und so zum Boten von Don Giovannis eigenem, kurz bevorstehenden Tod wird. Das ›Statuenhafte‹ des Komturs erklärt die Analogie zur griechischen Götterstatue Minerva in der oben dargestellten Traumsequenz. 147 Seine Schwiegermutter und die Hausangestellte, welche ihn pflegen, erscheinen ihm so etwa wie ›Totenwäscherinnen‹, s. S. 430: »[…] elles avaient bien la gueule, en effet, l’une et l’autre, à laver un cadavre et à lui ficeler la bouche pour l’empêcher de s’ouvrir risiblement.« Als es an der Tür klopft, sagt er halb zu sich, s. S. 432 : »Non, ce n’est pas la mort…ce n’est que la pauvre Xénie…«; S. 432 : »[zu Xénie] Je voudrais seulement […] que […] tu m’aides à me raser. […] Un
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sieht, der das Fenster des Zimmers vollständig verdeckt, – desselben Fensters, aus welchem sich Xénie kurz zuvor, lebensmüde und dem Wahnsinn nahe zu stürzen beabsichtigte.148 Obgleich Troppmann schnell begreift, dass es sich um einen von der oberen Etage herabhängenden Teppich handelt, erfasst ihn beim Anblick des schwarzen Tuchs erneut die Vision des ›Komturs‹: […] un court instant j’avais tremblé. Dans mon hébétude, je l’avais cru : celui que j’appelais le »Commandeur« était entré. Il venait toutes les fois que je l’invitais. Xénie elle-même avait eu peur. Elle avait, avec moi, l’appréhension d’une fenêtre où elle venait de s’asseoir avec l’idée de se jeter. […] (S. 439) Die Anziehungskraft des Todes in Le Bleu du ciel manifestiert sich nicht zuletzt in Troppmanns heimlicher, Dirty, Lazare und Xénie in drei sich steigernden Geständnissen enthüllten nekrophilen Neigung. Das Sehnen nach der äußersten, die Grenzen des Verstandes sprengenden Form von continuité, wie sie der Tod verkörpert, zieht in Troppmanns Fall somit den konkreten Wunsch nach sich, wortwörtlich mit dem Tod ›eins‹ zu werden. Betrachtet man den sexuellen Akt allgemein als eine die profane Welt für Augenblicke außer Kraft setzende Grenzüberschreitung, so muss die Vorstellung einer zugleich mehrere soziale Tabus (wie jene des Todes oder des Inzestes) berührenden Transgression149 – in der dritten Version seines Geständnisses eröffnet Troppmann Xénie, dass die in ihm nekrophile Gefühle auslösende tote »femme agée« niemand anderes als seine verstorbene Mutter gewesen sei (S. 407 u. 433) – eine besondere Faszination ausüben. Diese niemals konkret ausgelebte, jedoch unterschwellige Neigung erklärt, obgleich der Zusammenhang erst in Batailles theoretischen Schriften deutlich wird, warum Troppmann ausschließlich mit Frauen schläft, welche er als »Prostituierte« betrachtet, sich indessen Dirty gegenüber als impotent erweist: Tout allait bien quand je méprisais une femme, par exemple une prostituée. Seulement, avec Dirty, j’avais toujours envie de me jeter à ses pieds. Je la respectais trop, et je la respectais justement parcqu’elle était perdue de débauches… […] (S. 405) Teile des Zitats erscheinen auffälligerweise wortgetreu in Troppmanns Charakterisierung Xénies – »[…] j’aurais dû me jeter à ses pieds…Je ne pouvais pas, mais je la méprisais de tout mon cœur.« (S. 433) –, wodurch Xénie als das Gegenteil von mort mal rasé, ça n’est pas beau.« S.a. S. 438 : »Elle pleurait lorsqu’elle s’avança follement nue vers mon lit – que je croyais un lit de mort.« 148 S. S. 432 : »[Xénie zu Troppmann] Henri! tu me fais si affreusement mal que je ne sais plus lequel de nous deux est malade…Tu sais, ce n’est pas toi qui va mourir, j’en suis sûre, mais moi, tu m’as mis la mort dans la tête, comme si elle n’en devait jamais sortir.« Zur eigentlichen Selbstmordabsicht s. S. 434. 149 Vgl. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 43-65 (s. v.a. Kapitel 2 und 3 »L’interdit lié à la mort« und »L’interdit lié à la reproduction« [darin auch zum Inzest]).
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Dirty präsentiert und das durch Bataille theoretisierte Verhältnis von Tod, ›Tierhaftigkeit‹ und Prostitution näher beleuchtet wird. Seiner Aufforderung, Xénie solle sich an seinem Krankenbett entblößen, fügt er so etwa hinzu »[…] ce sera comme si je crevais au bordel.« (S. 434), während die folgende Passage Xénie unverblümt als »morte« und »prostituée« beschreibt : »[…] elle eut alors l’apparence d’une morte…elle était nue…elle avait des seins pâles de prostituée… […] un cadavre à côté de moi […].« (S. 439). An dieser Stelle muss vorausgeschickt werden, dass Bataille »la prostitution« allgemein als »conséquence de l’attitude féminine« begreift, welche auch der Ehe zugrunde liege, dort aber durch die Macht der Gewohnheit in Vergessenheit gerate.150 Während die Ehe somit »le cadre de la sexualité licite«, der »zulässigen« und deswegen nicht mehr gefühlten Grenzüberschreitung sei,151 bleibe der »institution archaïque de la prostitution sacrée«, welche ursprünglich eine geradezu religiöse Funktion erfüllte, sowohl das Verbot als auch dessen Transgression fest eingeschrieben: Dans la prostitution, il y avait consécration de la prostituée à la transgression. En elle l’aspect sacré, l’aspect interdit de l’activité sexuelle, ne cessait pas d’apparaître: sa vie entière était vouée à la violation de l’interdit. […] la religion, loin d’être contraire à la prostitution, en pouvait régler les modalités, comme elle le faisait d’autres formes de transgression. Les prostituées, en contact avec le sacré, en des lieux eux-mêmes consacrés, avaient un caractère sacré analogue à celui des prêtres.152 Die »prostitution religieuse« bzw. die ihr zugehörige »courtisane d’un temple« grenzt Bataille jedoch nachdrücklich von der »modernen« »prostituée de nos rues« ab. Anders als erstere, welche im Zuge der sexuellen Transgression, innere, die Gebotsüberschreitung begleitende Widerstände, wie etwa »angoisse« und »honte« überwinden müsse, und den Transgressionsakt gerade dadurch immer wieder als rituelle Handlung vollziehe,153 sei der modernen »prostituée« nicht nur die dem Menschen natürliche Scham, sondern das diese begründende Gefühl für einen Bereich des Verbots abhandengekommen. Nicht also die Bezahlung sei für die »déchéance«, die ›Verkommenheit‹ der Prostituierten verantwortlich – die Darbietung finanzieller Mittel hatte, Bataille zufolge, zunächst die Bedeutung ritueller »Gaben« –,154 sondern der Verlust der durch das Verbot aufrechterhaltenen, das Wesen des Menschen bestimmenden Grenze zwischen ›profan‹ und ›heilig‹.155 Bataille geht so weit, die »basse prostitution« als die zur homogenen christlichen Anschauung 150 151 152 153 154 155
Georges Bataille, L’Érotisme, S. 131ff (v.a. S. 133) u. 110ff. Ebd., S. 110. Ebd., S. 133. Ebd. Ebd., S. 132 u. 134. Ebd., S. 133ff.
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»komplementäre« heterogene Seinsweise zu bezeichnen. Wie das Christentum, welches mit dem Verweis auf eine vom Diesseits abgetrennte Transzendenz über diesen Sachverhalt hinwegtäusche, entbehre die »basse prostitution« nämlich der Sphäre des ›Heiligen‹. Während das Christentum das ›Heilige‹ insgeheim durch das ›Homogene‹ profaniert habe, beruht die Profanierung des ›Heiligen‹ in der »basse prostitution« untypischerweise gerade auf dem ›Heterogenen‹.156 Anders als im Christentum, in welchem das Verbot, umgedeutet als ›Sünde‹, nicht nur weiterhin vorhanden, sondern geradezu verabsolutiert ist,157 spielt es in der »basse prostitution«, wie die Transgression selbst, keinerlei Rolle mehr. Betrachtet man das Aufstellen von Verboten und Gesetzen sowie die Unterscheidung zwischen ›profan‹ und ›heilig‹ als charakteristisches Merkmal von Bewusstsein und Verstand und damit des Menschen schlechthin, so muss die Einbuße dieses Merkmals dem Auslöschen des Bewusstseins und dessen Herabsinken auf den Zustand des Tieres oder des Todes gleichkommen: Mais parce qu’elle devient étrangère à l’interdit sans lequel nous ne serions pas des êtres humains, la basse prostituée se ravale au rang des animaux […].158 Vor diesem Hintergrund wird einerseits klar, warum Xénie zugleich als ›Prostituierte‹ und Verkörperung des Todes dargestellt wird bzw. der nekrophile Protagonist ausschließlich mit ›Prostituierten‹ schläft, und warum er andererseits Dirty gerade aufgrund ihrer bewusst als Grenzüberschreitungen erlebten Ausschweifungen bis zur Impotenz verehrt. Die Gemeinsamkeit und zugleich der Unterschied der beiden Frauentypen – Xénie als ›basse prostituée‹ und Dirty als ›prostituée religieuse‹ – wird deutlich in Lazares verständnislosem Einwurf: Je ne comprends pas, en effet. A vos yeux, la débauche dégradait les prostituées qui en vivent. Je ne vois pas comment elle pouvait ennoblir cette femme [Dirty]… (S. 405) Troppmanns Verlangen nach einer die Welt des Verstandes überschreitenden Seinsweise manifestiert sich zuletzt in seiner Vorliebe für das Gewalttätige, Irrationale, jenes, wie es zweimal heißt, restlose »perdre la tête« (S. 454 u. 477). Als paradigmatisch für die Allgegenwart von Gewalt und Tod in Le Bleu du ciel erweist sich dabei der heftige Schmerzensschrei, den eine Katze zur Bestürzung der Gäste auf einer Caféterrasse ausstößt: »[…] un cri de douleur violent, prolongé comme un râle: un chat venait de se jeter à la gorge d’un autre […]« (S. 412). Die Faszination von Tod und Gewalt, welche im Privaten spontane Gewaltausbrüche nach sich zieht – in einer Bar beginnt Troppmann so etwa plötzlich, auf drohende 156 157 158
Vgl. ebd., S. 135. Vgl. ebd., S. 122. Ebd., S. 134.
5 Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
Weise einen Gürtel zu schwingen (S. 416) und Xénie, sonst vorwiegend Opfer, stößt Troppmann brutal zu Boden (S. 476) –, erklärt, warum Troppmann ausgerechnet das durch den ausbrechenden Bürgerkrieg geschüttelte Barcelona aufsucht und dort auch nach Ausrufung des Generalstreiks während der ersten Unruhen verharrt: »Je tenais, au contraire, à rester à Barcelone où j’assisterais aux troubles, s’il y en avait.« (S. 448).
5.2.2
Die Ambivalenz des ›Heiligen‹: Anziehung und Abstoßung
Dass das Schreckliche, Unheimliche nicht nur maßgeblicher Teil der ›allgemeinen Ökonomie‹ des Lebens sei, sondern in besonderer Weise zur Stärkung und Entfaltung des Menschen beitrage, betont Bataille mit Verweis auf Nietzsche nachdrücklich.159 Wen »la destinée humaine« erschrecke, könne nicht »viril« sein,160 denn die mythisch erfahrene »existence pleine« habe stets zwei sich bedingende Gesichter: »[Elle] se lie à toute image qui suscite de l’espoir et de l’effroi«.161 In der Transgression von Verbot und Tabu, welche, so Bataille, nichts anderes als das »tremblement« des Menschen vor der ihm unerträglichen und Furcht einflößenden Beliebigkeit seien,162 empfinde der Mensch eine Mischung aus »désir« und »effroi«, »plaisir intense« und »angoisse«.163 Diese zwischen »attraction« und »répulsion« schwankenden »réactions affectives d’intensité variable« führt Bataille auf den aus der Welt von Verstand und Arbeit ausgeschlossenen Bereich des ›Heterogenen‹ zurück.164 Das ›Heterogene‹ als das ›Heilige‹ unterteilt Bataille in »formes In L’expérience intérieure zitiert er in diesem Zusammenhang einen ganzen Abschnitt aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 180). Das deutsche Original des zitierten Abschnitts lautet wie folgt: »[…] und das Leiden selbst wird von ihnen als Etwas genommen, das man abschaffen muss. Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze ›Mensch‹ am kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, dass dies jedes Mal unter den umgekehrten Bedingungen geschehn ist, […] wir vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art, dass alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Species ›Mensch‹ dient, als sein Gegensatz […]. (JGB 44, KSA 5, 61f). Vgl. zum »Leiden« als festem Bestandteil des Lebens bzw. als Mittel zur »Erhöhung des Menschen«: JGB: Siebentes Hauptstück 225, KSA 5, 161; ebd. 229, KSA 5, 165f; JGB: Neuntes Hauptstück 270, KSA 5, 225; GM: Zweite Abhandlung 11, KSA 5, 312. 160 Georges Bataille, »L’apprenti sorcier«, S. 40. 161 Ebd., S. 47f. 162 Georges Bataille, L’Érotisme, S. 67. 163 Ebd., S. 42. 164 Georges Bataille, »La structure psychologique du fascisme«, S. 346f. Der den ›verfemten Teil‹ einschließende »point de vue général« löse ein Gefühl von »angoisse« aus, s. Georges Bataille, La Part maudite, S. 44f. 159
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élevées et impératives«, jene an das ›Homogene‹ angrenzenden Kräfte der erhabenen »Souveränität«, welche er auch unter den Begriffen »sacré« »droit«, »pur« oder »faste« zusammenfasst, und »formes misérables« als die Gesamtheit des Ausgestoßenen, Ekelhaften und Schmutzigen, welches er als »sacré« »gauche«, »impur« und »néfaste« bezeichnet.165 Für die mit der Erfahrung des ›Heiligen‹ einhergehenden inneren Widerstände macht Bataille dabei besonders den ›unreinen‹ Teil des ›Heiligen‹ verantwortlich.166 Die Ambivalenz zwischen »Anziehung« und »Abstoßung«, welche sich durch die »transmutation paradoxale du déprimant en excitant«167 charakterisiert, zeigt sich in Le Bleu du ciel besonders in der Darstellung der beiden schillernden Frauenfiguren Lazare und Dirty, deren sprechende Namen ›Lazare‹ (dt. ›Gott hat geholfen‹ für hebr. ›Lazarus‹ von Bethanien, der nach dem Johannesevangelium durch Jesus von den Toten auferweckt wurde, s. Joh 11)168 und ›Dirty‹ als Abkürzung von ›Dorothea‹ (gr., dt. ›Geschenk Gottes‹ bzw. ›Gottesgabe‹)169 symbolisch bereits auf die dem ›Heiligen‹ inhärente Doppeldeutigkeit verweisen. Beide Frauen üben auf Troppmann eine ihm unerklärliche, zwischen Abstoßung, Ekel, Angst, Verlockung und Ergebenheit schwankende Faszination aus. Lazare ist eine nur fünfundzwanzig Jahre alte kommunistische Aktivistin, deren Auftreten etwas »Makabres« ausstrahlt, weshalb Troppmann ihrem Vornamen ›Louise‹ instinktiv ihren Nachnamen vorzieht (S. 401). Die mit dem Namen ›Lazare‹ nach ›Lazarus von Bethanien‹ assoziierte Todesthematik erweist sich für die Figur als programmatisch, denn Lazare erscheint als die körperlich geradezu abstoßende170 Personifikation von Schmutz, Tod und Unglück: »[…] tout en elle […] 165
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Georges Bataille, »La structure psychologique du fascisme«, S. 350-364, v.a. S. 350; Georges Bataille (1938) : »Attraction et répulsion I. Tropismes, sexualité, rire et larmes«, in : Le Collège de Sociologie (1937-1939), hg. von Denis Hollier (Paris : Gallimard 1979), S. 205; Georges Bataille (1938) : »Attraction et répulsion II. La structure sociale«, in: Le Collège de Sociologie (1937-1939), hg. von Denis Hollier (Paris: Gallimard 1979), S. 225. Georges Bataille, »Attraction et répulsion II«, S. 224f. Ebd., S. 209. Der Name ›Lazare‹, eigentlich der Nachname der Figur, setzt sich statt dem nur ein einziges Mal beiläufig erwähnten Vornamen ›Louise‹ (S. 422) zur Bezeichnung der jungen Frau durch, s. S. 401: »Son nom de famille, Lazare, répondait mieux à son aspect macabre que son prénom.« Interessanterweise steht die Symbolkraft des Namens ›Lazarus‹ auch bei Pirandello und Unamuno im Dienst einer unkonventionellen, von der traditionellen Gottesvorstellung abweichenden Religiosität, s. Luigi Pirandello, Lazzaro. Mito (vgl. Kapitel 3.5 der vorliegenden Arbeit, letzter Abschnitt); Miguel de Unamuno, San Manuel Bueno, mártir, y tres historias más [darin: San Manuel Bueno, mártir]. ›Lázaro‹ ist in San Manuel Bueno der Name einer der Hauptfiguren. S. S. 450: »Dirty n’était que l’abréviation, provocante, de Dorothea […]«; s. zur Ambiguität des Namens Sylvie Vanbaelen: »Writing Dirty: Paradoxical Embodiments of Nazism in Bataille’s Le Bleu du ciel«, in: Australian Journal of French Studies, Vol. XLI, Nr. 1 (Jan.-März 2004), S. 76. S. S. 405 : »[…] Lazare me répugnait physiquement.« Lazare wird als »hässlich« und »schmutzig« beschrieben (S. 401), ihr Erscheinungsbild als »affreux« (S. 406).
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contribuaient à donner l’impression d’un contrat qu’elle aurait accordé à la mort« (S. 411f). Ihre stets dunkle Kleidung (S. 401, 445 u. 460), ihr ungepflegtes Erscheinungsbild,171 besonders ihr ungekämmtes, wie »Rabenflügel« (S. 401) herabhängendes Haar, ihr abscheuerregender Geruch172 und ihre unangenehme, langsame Sprechweise (S. 401, 410 u. 445) verleihen ihr den unheimlichen Anschein eines »oiseau de malheur« (S. 399 u. 405), eines »avaleur de déchets« (S. 405) oder eines »oiseau de mauvais augure, un oiseau sale et négligeable« (S. 455). Das Gefühl eines drohenden »Unheils« löst neben Lazare auch ihr Stiefvater aus, wobei bezeichnenderweise seine Ähnlichkeit mit Henri Désiré Landru, einem 1922 hingerichteten Serienmörder, dessen Fall nicht nur in Frankreich publik wurde, unterstrichen wird: Je trouvai Lazare […] en compagnie d’un personnage tel que, l’apercevant, l’idée comique passa dans ma tête que j’aurais à conjurer le mauvais sort… C’était un homme très grand qui ressemblait de la façon la plus pénible à l’image populaire de Landru. Il avait de grands pieds, une jaquette gris clair, trop large pour son corps efflanqué. […] Il était d’une politesse exquise. Il avait comme Landru une belle barbe châtain sale et son crâne était chauve. […] (S. 420f) Lazares ›Nähe‹ zum Tod rührt nicht zuletzt von ihren politischen Interessen, ihrem Engagement für die kommunistische »Revolution« her (vgl. S. 410 u. 457): Mit einem bemerkenswerten »esprit de décision« und der »fermeté d’un homme à la tête d’un mouvement« (S. 454) widmet sie ihr »Leben« und ihr »Blut« der »Sache der Enterbten« (S. 402) und scheut dabei weder den eigenen Tod, noch die Folter.173 Lazares Anblick weckt in Troppmann daher ähnliche Gefühle wie die schwarze Trauerfahne anlässlich der Ermordung Dollfußʼ am Tage seines Selbstmordversuches: »[…] elle avait pris une signification analogue à celle de la banderole noire qui m’avait effrayé à Vienne.« (S. 411). Kaum zufällig erinnern die Beschreibungen des Fahnentuchs als ein »mit den Flügeln schlagender« Vogel bzw. ein sich in die »Wolken« ergießender »Tintenstrahl« (S. 409) daher an die Darstellungen Lazares als »Vogel« oder »Rabe« (s. z.B. S. 405) und an die durch Lazare in Troppmann ausgelöste Assoziation von schwarz-roten, mit Tintenschwärze durchsetzten Hautverletzungen (S. 454). Troppmann glaubt außerdem eine »Verbindung« zwischen Lazare und dem drohenden »Krieg« zu erkennen (S. 411), ja er betrachtet sie geradezu als Vorbotin des ›Todes schlechthin‹: »C’était la mort qui l’attirait […]« (S. 445). Die 171
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S. z.B. S. 405 : »Je regardai les mains de la pauvre fille : les ongles crasseux, le teint de la peau un peu cadavérique; l’idée me passa dans la tête que, sans doute, elle ne s’était pas lavée en sortant d’un certain endroit…«; zu Lazare als »sale« s.a. S. 454f. S. S. 446 : »Elle a une odeur de tombe. Je le sais : je l’ai prise un jour dans mes bras…«. S. S. 401 : »[…] la maladie, la fatigue, le dénuement ou la mort ne comptaient pour rien à ses yeux.«; S. 422 : »Louise, conclut-il, incline pour la solution héroïque.«; S. 442 : »[…] Elle me demandait de lui planter des épingles dans la peau! […] Elle voulait s’entraîner…Je criai: – À quoi? s’entraîner? Michel rit de plus belle. – A endurer la torture…«.
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Reaktionen, welche Lazare hervorruft sind daher meist negativer Art. Dem ›Heterogenen‹ ihrer Person begegnen die übrigen Figuren mit »Angst«, Unbehagen bis hin zu »Hass« und Aggression.174 Und doch ist Lazare nicht nur, wie es einmal heißt »rat immonde« (S. 460) – die Verkörperung von Schmutz, Tod und Verderben –, sie wird zugleich als »l’être le plus humain« (S. 460), als »apparition« bzw. der zweiten Namensbedeutung (›Gott hat geholfen‹) Rechnung tragend, als »sainte« (S. 442) beschrieben, welche ihre Mitmenschen fasziniert, verzaubert und in Bann schlägt.175 Die äußerlich attraktive Dirty dagegen, zugleich ›Dirty‹ (im Sinne des ›sacré impur‹) und ›Dorothea‹ (im Sinne des ›sacré pur‹), weckt in Troppmann während ihres gemeinsamen Aufenthalts in London – die Beschreibung ihres glänzend blonden Haares und ihres »prunkvollen« Abendkleides steht in gewolltem Kontrast zum Schmutz der Londoner Kneipe, und die Obszönität ihres Auftretens sowie ihr Gestank zur »luxuriösen« Einrichtung des Hotels (S. 385-391, v.a. S. 387) – »un sentiment de pureté« und den Wunsch »j’aurais voulu me mettre à ses pieds«, gleichzeitig löst diese Empfindung jedoch Angst in ihm aus: »[…] j’en avais peur« (S. 387). Unmissverständlich erscheint die sich betrinkende, erbrechende, urinierende, im Hotel mit Geldbündeln um sich werfende Dirty (S. 387-391) als Verkörperung der ›unproduktiven Verausgabung‹, von Exzess, Auswurf und Gewalt, typischerweise jedoch haftet diesem Aspekt etwas Sublimes an, welchem sich Troppmann restlos ausgeliefert sieht: Je compris que j’aimais en elle ce violent mouvement. Ce que j’aimais en elle était sa haine, j’aimais la laideur imprévue, la laideur affreuse, que la haine donnait à ses traits. (S. 472) Dirty ist daher nicht nur der das Gefühl von »angoisse« (S. 391, 451, 457 u. 485) hervorrufende Inbegriff von Schmutz und Obszönität, sie ist zugleich »belle«, »excitante« (S. 404), »provocante« (S. 475), »la beauté d’une apparition« (S. 485), wobei 174
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S. z.B. S. 401: »Elle mettait mal à l’aise […]«; S. 442: »Il y a des gens ici, des ouvriers, qu’elle mettait mal à l’aise. […] Ses amis, assis à la même table, étaient horrifiés.« ; S. 445: »J’aurais voulu être Antonio. Je l’aurais tuée… L’idée que, peut-être, j’aimais Lazare m’arracha un cri qui se perdit dans le tumulte. J’aurais pu me mordre moi-même. […] – J’ai horreur de Lazare à tel point que j’en ai peur. […] – En effet, selon elle, tu lui avais manifesté une haine si violente […] Moi aussi, je la hais. […] – […] C’était la mort qui l’attirait, me comprends-tu? Quand soudain je l’ai vue, j’ai eu si peur que j’ai crié.«; S. 447: »J’avais peur de Lazare honteusement. […] J’avais tellement peur à l’idée de la rencontrer que je n’avais plus de haine pour elle. […]«. S. z.B. S. 442f: »Lazare envoûte ceux qui l’entendent. Elle leur semble hors de terre. […] ils l’admiraient. […] Antonio, à son tour, regarda Lazare, les yeux dans les yeux. Il était fasciné, mais hors de lui.«; S. 453 : »[…] j’étais obsédé par Lazare; dans ma stupidité j’avais envie de la revoir […].«; S. 454 : »L’idée que j’appartenais à Lazare, qu’elle me possédait, m’étonnait…«.
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sie gerade diese Unbestimmbarkeit umso faszinierender und mysteriöser erscheinen lässt. Als die lebendige Fusion des Gegensätzlichen entzieht sie sich jeder verstandesmäßigen Einordnung. Troppmann charakterisiert sie als »poussière vide de sens«, als »quelque chose d’impossible, d’affreux, […] d’étranger« (S. 459f), »même impénétrable« (S. 466), »quelque chose d’inintelligible« (S. 486). Noch einmal zeigt sich der nahtlose Übergang von impur zu pur, als sich Dirty in Barcelona mit Troppmanns Hilfe entkleidet und ihr kranker Körper zum Vorschein kommt: La déshabillant, à mesure qu’apparût sa nudité (son corps maigri, était moins pur) je ne pus retenir un sourire malheureux : il valait mieux qu’elle soit malade. […] Quand elle s’allongea sur le lit, la tête bien au milieu de l’oreiller, ses traits se détendirent : elle apparut bientôt aussi belle qu’autrefois. (S. 470f) Dirty wird für Troppmann zum Sinnbild einer die profane Welt überschreitenden Daseinsweise, welche er zugleich herbeisehnt und fürchtet, denn in ihr scheinen sich Gewalt, Tod und höchste Lust zu vereinen. Seine Empfindung bei Dirtys Ankunft in Barcelona vergleicht er daher mit der Hingabe an den Tod, wobei die emphatische Wiederholung der beiden Namensvarianten die Ambivalenz des Gefühls hervorhebt: J’attendais Dirty, j’attendais Dorothea de la même façon qu’on attend la mort. Le mourant, soudainement, le sait: tout est fini. Cependant, ce qui va survenir un peu plus tard est la seule chose au monde qui importait! (S. 469) Eine mystische, den Verstand transzendierende Erfahrung, im Zuge derer das Schlimmste zum Erstrebenswerten und die Opferung des rationalen Subjekts infolge des ›Gottestodes‹ zum Ursprung neuen Glücks wird, hatte nicht zuletzt Nietzsche mit der Lehre vom Zusammenfall aller Gegensätze in der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ beschrieben. Auch bei Nietzsche ist der aus der Einsicht in die Nichtexistenz absoluter Wahrheiten und die Relativität aller Verstandeskategorien resultierende Gedanke der ›ewigen Wiederkehr‹ mit stark ambivalenten Gefühlen verbunden. Die als Sinnlosigkeit erlebte, scheinbar tragische Leere und Beliebigkeit, welche auf des Menschen Einbuße von allem, was ihm »bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess« (FW: Fünftes Buch 382, KSA 3, 637), folgt, löst zunächst Angst, Erschrecken und Verzweiflung aus,176 dem ›Übermenschen‹ gelingt 176
S. z.B. Za II: Von der Erlösung, KSA 4, 181: »– Aber an dieser Stelle seiner Rede geschah es, dass Zarathustra plötzlich innehielt und ganz einem Solchen gleich sah, der auf das Äusserste erschrickt. Mit erschrecktem Auge blickte er auf seine Jünger […]«; ebd: »Die stillste Stunde, KSA 4, 188: »Und ich schrie vor Schrecken bei diesem Flüstern, und das Blut wich aus meinem Gesichte […]«; Za III: Das andere Tanzlied 2, KSA 4, 285: »Du weisst Das, oh Zarathustra? Das weiss Niemand. – – Und wir sahen uns an und blickten auf die grüne Wiese, über welche eben der kühle Abend lief, und weinten miteinander. […]«.
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es jedoch, diese Gefühle in einem Akt der Überwindung177 in freudiges Entzücken und Glückseligkeit zu verwandeln.178 Nicht mehr als Sinnlosigkeit erfährt er schließlich den auch ihn selbst miteinschließenden, ewig rollenden Kreislauf aus Apollinischem und Dionysischem, sondern als Erlösung, Freiheit und Rechtfertigung des Lebens. Dass Batailles »innere«, ja »mystische« »Erfahrung«, bei welcher der Mensch ›ekstatisch‹ aus sich und der Welt des Verstandes heraustritt,179 sich stark an die nietzscheanische Erfahrung der ›ewigen Wiederkehr‹ anlehnt, hat er selbst immer wieder transparent gemacht, so etwa, wenn er von der »expérience intérieure de Nietzsche« spricht180 oder wenn er die ›ewige Wiederkehr‹ als Nietzsches »mystische« »Erfahrung« bezeichnet: »Du retour éternel, j’imagine que Nietzsche eut l’expérience sous une forme à proprement parler mystique […]«.181 Bataille setzt sich dabei besonders für die Anerkennung des Tragischen – oder in Batailles Terminologie des ›Heterogenen‹ – in der allgemeinen ›Lebensökonomie‹ ein. Im Vordergrund seines Schaffens stehen daher vorrangig die dionysischen Momente, in denen sich Gewalt, Tod, Ekel, Lust, Liebe und Leben gegenseitig durchdringen. Zum Sinnbild des ambivalenten, ewig kreisenden Lebens und Motto der damit verbundenen Philosophie wird das ›azephale‹ Wesen, welches, von André Masson entworfen, auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe der Zeitschrift Acéphale figuriert und durch Bataille in seinem Aufsatz »La conjuration sacrée« wie folgt beschrieben wird: Au-delà de ce que je suis, je rencontre un être qui me fait rire parce qu’il est sans tête, qui m’emplit d’angoisse parce qu’il est fait d’innocence et de crime : il tient 177
Man erinnere sich an die Überwindung des als »Zwerg« versinnbildlichten »Geistes der Schwere« (Za III: Vom Gesicht und Räthsel 1, KSA 4, 198ff) oder an die Überwältigung der als Schlange versinnbildlichten ›ewigen Wiederkehr‹ durch den Hirten, ebd., KSA 4, 202: »– Der Hirt aber biss, wie mein Schrei ihm rieth; er biss mit gutem Bisse! Weit weg spie er den Kopf der Schlange – : und sprang empor. – Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, – ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte! […]«. 178 S. z.B. FW: Viertes Buch 276, KSA 3, 521: »Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!« 179 Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 15 : »J’entends par expérience intérieure ce que d’habitude on nomme expérience mystique : les états d’extase, de ravissement, au moins d’émotion méditée.«; Georges Bataille, Sur Nietzsche : »La transe mystique, de quelque confession qu’elle relève, s’épuise à dépasser la limite de l’être.«; Georges Bataille, »La conjuration sacrée«, S. 443 : »La vie […] ne trouve sa grandeur et sa réalité que dans l’extase et dans l’amour extatique.« 180 Georges Bataille, Sur Nietzsche [darin : Appendice, II. »L’expérience intérieure de Nietzsche«], S. 189 : »J’ai voulu entrer dans la compréhension de l’›expérience nietzschéenne‹. J’imagine que Nietzsche songe à des ›états mystiques‹ dans des passages où il parle de divin.« 181 Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 39f.
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une arme de fer dans sa main gauche, des flammes semblables à un sacré-cœur dans sa main droite. Il réunit dans une même éruption la Naissance et la Mort. Il n’est pas un homme. Il n’est pas non plus un dieu. Il n’est pas moi mais il est plus moi que moi: son ventre est le dédale dans lequel il s’est égaré lui-même, m’égare avec lui et dans lequel je me retrouve étant lui, c’est-à-dire monstre.182 Wie Nietzsche geht es Bataille um religiöse Erfahrungen jenseits von Dogma und Konfession, er spricht, um Missverständnissen vorzubeugen, daher meist von »inneren« statt von »mystischen Erfahrungen«: »Mais je songe moins à l’expérience confessionelle, à laquelle on a dû se tenir jusqu’ici, qu’à une expérience nue, libre d’attaches, même d’origine […]. C’est pourquoi je n’aime pas le mot mystique«.183 Der sich bewusst an Thomas von Aquins Summa theologica anlehnende Titel Somme athéologique, unter welchem Bataille ab 1954, neben anderen Werken, L’expérience intérieure, Sur Nietzsche und Le Coupable neu veröffentlichte, kündigt eine umfangreiche Religionsschrift an, welche sich nicht auf die Existenz Gottes, sondern auf den ›Tod‹ dieses Gottes mitsamt der durch ihn verbürgten platonisch-christlichen Metaphysik gründet.184 »Jenseits seiner selbst«, so Bataille, finde der mystische Mensch daher »nicht Gott«,185 sondern mit Nietzsche gesprochen, eine Art ›Übermensch‹: »Il n’est pas un homme. Il n’est pas non plus un dieu. Il n’est pas moi mais il est plus moi que moi […]« (s.o.). Die von Bataille und Masson erschaffene kopflose, in der linken Hand einen Dolch, in der rechten ein brennendes Herz haltende Gestalt, deren Geschlecht durch einen Totenkopf verdeckt ist und in deren Mitte ein labyrinthartiges Gewirr aus Gedärmen sichtbar ist, verweist dabei unmissverständlich auf die nietzscheanischen Kernthemen des ›Übermenschen‹ und der ›ewigen Wiederkehr‹, so etwa die Aufhebung des rationalen, teleologischen Denkens (s. Kopflosigkeit, Labyrinth), die Verschmelzung der Gegensätze (Geburt, Leben und Tod) und die Ewigkeit des Seins (Kopflosigkeit, Labyrinth).186 Das der ›inneren Erfah182 183 184 185 186
Georges Bataille, »La conjuration sacrée«, S. 445. Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 15. Vgl. Daniel Hawley, L’Œuvre insolite de Georges Bataille, S. 213. Georges Bataille, »La conjuration sacrée«, S. 445. Das bei Bataille rekurrierende Bild des »monstre« im »Labyrinth« für das zugleich erschreckende und anziehende Dasein jenseits von Vernunft, fester Wahrheiten und Sicherheiten (vgl. Georges Bataille, »Le labyrinthe«, 433-441) findet sich identisch bei Nietzsche, vgl. JGB: Zweites Hauptstück 29, KSA 5, 47f: »Es ist die Sache der Wenigsten, unabhängig zu sein: – es ist ein Vorrecht der Starken. […] Er begiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendfältigt die Gefahren, welche das Leben an sich schon mit sich bringt; von denen es nicht die kleinste ist, dass Keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt, vereinsamt und stückweise von irgend einem Höhlen-Minotaurus des Gewissens zerrissen wird. […]«; AC: Vorwort, KSA 6, 167: »[…] Eine Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen Niemand heute den Muth hat; der Muth zum Verbotenen; die Vorherbestimmung zum Labyrinth. […]«; AC 57, KSA 6, 243: »Die geistigsten Menschen, als die Stärksten, finden ihr Glück, worin Andre ihren Untergang finden würden: im Labyrinth, in der Härte gegen sich und Andre, im Versuch […]«; EH: Warum ich
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rung‹ essenzielle Gefühl von »angoisse« führt Bataille auf den in den Momenten der Transgression erlebten ›Selbstverlust‹ zurück – »L’angoisse témoigne de ma peur de communiquer, de me perdre. […] L’angoisse est peur de perdre […]«187 –, denn die Ekstase versetze den Menschen zwar in einen Zustand der Gelöstheit, entziehe ihm jedoch zugleich alles, worauf sich sein Leben stütze : »[…] la raison, l’intelligibilité, le sol même sur lequel il se tient, l’homme les doit rejeter, en lui Dieu doit mourir, c’est le fond de l’effroi, l’extrême où il succombe.«188 Wie bei Nietzsche steht der platonisch-christliche Gott somit für jene das vernünftige Subjekt, Sicherheit und Ordnung verbürgende Instanz, deren Leerstelle den Raum für eine mystische Entfaltung des Menschen im Diesseits schaffe. In dieser verkehre sich das denkbar größte und schmerzhafteste Opfer in sein Gegenteil: »[L]e don […] de soi-même ou des biens possédés […] rend seul glorieux«.189 Den nietzscheanischen ›Tod Gottes‹ stilisiert Bataille daher als ein Opferungsgeschehen, welchem der ›Opferpriester‹ Mensch zusammen mit seinem ›Opfer‹ erliege, in der eigenen Auflösung jedoch eine gesteigerte, das Göttliche berührende Subjektivität erfahre: Ce sacrifice que nous consommons se distingue des autres en ceci: le sacrificateur luimême est touché par le coup qu’il frappe, il succombe et se perd avec sa victime. […] La mise à mort de Dieu est un sacrifice qui, me faisant trembler, me laisse pourtant rire, car en lui, je ne succombe pas moins que la victime […].190 Vor diesem Hintergrund erschließt sich der ungewöhnliche Name des Protagonisten. Dass Bataille diesen ausgerechnet ›Troppmann‹ nach Jean-Baptiste Troppmann – einem 1870 mit nur zweiundzwanzig Jahren zum Tode verurteilten achtfachen Mörder, dessen Mord an einer Großfamilie in ganz Frankreich Aufsehen erregte – nennt, dazu jedoch den Vornamen eines der jüngsten Mordopfer ›Henri‹ wählt,191 stellt die Doppelnatur des Protagonisten heraus, welcher sich zugleich als Täter und Opfer seiner Exzesse erweist.192 Deutlich wird dieser Aspekt auch so gute Bücher schreibe 3, KSA 6, 303: »[…] man wird niemals in dies Labyrinth verwegener Erkenntnisse eintreten. Man muss sich selbst nie geschont haben, man muss die Härte in seinen Gewohnheiten haben, um unter lauter harten Wahrheiten wohlgemuth und heiter zu sein.« 187 Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 67 u. 169. 188 Ebd., S. 155. 189 Ebd., S. 153. Vgl. ebd., S. 47 : »[Bataille über L’expérience intérieure] ›J’enseigne l’art de tourner l’angoisse en délice‹, ›glorifier‹ : tout le sens de ce livre.« 190 Ebd., S. 176 u. 178. 191 ›Henri‹ ist außerdem der Vorname des in Le Bleu du ciel beiläufig erwähnten (S. 421), im Jahre 1922 hingerichteten Serienmörders Henri Désiré Landru. Die von Bataille wohl nicht zufällig aufgegriffenen Mordfälle ›Troppmann‹ und ›Landru‹ weisen in der Tat Übereinstimmungen auf. Zu nennen sind hier die Schwere und das Ausmaß der Vergehen, ihre Ausarbeitung und Umsetzung und das beiden gemeinsame Motiv der Habgier. 192 Vgl. Francis Marmande, L’indifférence des ruines, S. 25f.
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in einer Erinnerungssequenz des Ich-Erzählers, in der beschrieben wird, wie sich Troppmann als Schüler mit einem Füllfederhalter blutig-schwarze Wunden auf seinem linken Handrücken und Unterarm zufügt: »Je m’étais fait un certain nombre de blessures sales, moins rouges que noirâtres (à cause de l’encre).« (S. 454).193 Nicht ganz abwegig scheint sogar Sylvie Vanbaelens Interpretation, wonach sich ›Troppmann‹ von »trop« bzw. »trop peu de« und dem englischen oder deutschen Wort man bzw. Mann/Mensch ableitet und somit den Zustand des Protagonisten zwischen dekadenter Schwäche (›trop-peu-man‹) und ekstatischem ›Übermenschentum‹ (›trop-man‹) nachzeichnet.194 »Nous ne parvenons à l’extase, sinon, fût-elle lointaine, dans la perspective de la mort, de ce qui nous détruit«:195 Was Bataille im Vorwort zu seiner frühen Erzählung »Madame Edwarda« schreibt, scheint leitmotivisch die Handlungsdynamik von Le Bleu du ciel zu kennzeichnen. Gewalt und Tod stellen die beiden Zielpunkte dar, auf welche die Figuren des Romans unablässig, gefangen zwischen Anziehung und Abstoßung, zusteuern. Die Wachspuppe aus seinem Traum als Verkörperung von Obszönität, Gewalt und Tod löst in Troppmann so etwa ein Gefühl aus »angoisse« und »rire« aus (S. 419) und der ausbrechende Bürgerkrieg auf den Straßen von Barcelona, welchen Troppmann und Dirty größtenteils vom Fenster aus verfolgen, wird zwar als »angoissant« beschrieben (S. 465), versetzt jedoch vor allem Dirty in einen Zustand zwischen Wahnsinn und freudiger Begeisterung (S. 475). Den Tod selbst sehnt Troppmann zugleich herbei und fürchtet ihn, so dass seine Thematisierung in Le Bleu du ciel insgesamt äußerst ambivalent ausfällt.196 In besonderer Weise verdichten sich die Topoi der Auflösung – Erotik, Krieg und Tod – in einer weiteren Traumsequenz. Troppmann glaubt sich im Traum in das revolutionäre Leningrad zurückversetzt. Er befindet sich in einem geräumigen Bauwerk aus Metall und Glas, in welchem bestimmte Räume die Etappen der Revolution darzustellen 193
Vgl. Sylvie Vanbaelen, »Writing Dirty«, S. 84. Auffällig ist hier die Analogie zu einem Absatz aus Also sprach Zarathustra, welcher bezeichnenderweise im Kontext der durch den ›Übermenschen‹ vollzogenen Überwindung der Tragik steht, s. Za I: Vom Lesen und Schreiben, KSA 4, 48: »Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist.« Das Bild des ›blutigen‹ Schreibens ließe sich dabei als mise en abyme zu Batailles literarischer Produktion im Ganzen deuten. 194 Sylvie Vanbaelen, »Writing Dirty«, S. 83. 195 Georges Bataille (1941) : »Madame Edwarda« [darin : »Préface«], in : ders., Œuvres complètes, III (Paris : Gallimard 1971), S. 11. 196 S. z.B. S. 427 : »Il vaudrait mieux que je meure maintenant, comme je l’espérais.«; S. 432 : »[…] à ce moment, la mort m’écœurait jusqu’à la peur; cependant, j’aurais dû en avoir envie […]«; S. 438 : »[…] [zu Xénie] Je ne veux plus mourir. Je veux vivre avec toi…Quand tu t’es mise sur le rebord de la fenêtre, j’ai eu peur de la mort. Je songe à la fenêtre vide… […] toi… et puis moi… deux morts… et la chambre vide… […] j’ai peur de mourir… J’ai vécu obsédé par la peur de la mort et maintenant… je ne veux plus voir cette fenêtre ouverte, elle donne le vertige… […]«.
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scheinen (S. 461). Die Wände sind überfüllt mit handschriftlichen und zeichnerischen Zeugnissen der Arbeiter, und während Troppmann bereits die drohende Explosion des Gebäudes vorausahnt, blickt er wie gebannt auf die Inschriften, unter welchen neben regelmäßig wiederkehrenden Wörtern wie »terreur« besonders der Name ›Lenin‹ hervorsticht. Dieser erscheint interessanterweise jedoch in der weiblichen Form »Lenova«, deren Buchstaben weniger an Kohle oder Tinte als vielmehr an Blutspuren erinnern: Jamais je n’avais rien vu de plus crispant, rien de plus humain non plus. Je restais là, regardant les écritures grossières et maladroites : les larmes me venaient aux yeux. La passion révolutionnaire me montait lentement à la tête […]. Le nom de Lénine revenait souvent, dans ces inscriptions tracées en noir, cependant semblables à des traces de sang : ce nom était étrangement altéré, il avait une forme féminine : Lenova! (S. 462) Die feminine Form erweitert den Bildkomplex von Gewalt und Tod um den Bereich des Erotischen und verbindet sich mit den in Le Bleu du ciel zentralen Darstellungen des Weiblichen.197
5.2.3
Lazare und Dirty: Revolution und der faschistische Mythos
Das persönliche Streben nach einer dionysischen Überschreitung alles Bestehenden, nach Auflösung, Gewalt und Tod findet in Le Bleu du ciel seine Entsprechung in den behandelten politisch-gesellschaftlichen Unruhen im Kontext des aufkommenden Nationalsozialismus, des ausbrechenden spanischen Bürgerkriegs und des drohenden Zweiten Weltkriegs. Bataille fängt auf diese Weise nicht nur die ganz Europa erfassende Vorkriegsstimmung ein, sondern verbindet sie kunstvoll mit verschiedenen Manifestationen von Ausschweifung, Zügellosigkeit und Exzess als Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach Momenten ekstatischer Selbstüberschreitung. Dabei wird seine Differenzierung zwischen religiösmystischen Erfahrungen und weltlich-politischen Inhalten zutage treten, was sich vor dem Hintergrund von Batailles Nietzsche-Lektüre als besonders interessant herausstellen soll. Im Gegensatz zu Troppmann, der sich zwar in linksrevolutionären Kreisen bewegt, jedoch kein bestimmtes politisches Ziel verfolgt, sich vielmehr als politisch desinteressiert zeigt (vgl. S. 424 u. 447), vertritt Lazare das kommunistische Ideal einer siegreich geführten »Revolution« zugunsten der sozial »Enterbten«.198 197
Vgl. die Darstellungen Dirtys und Lazares, besonders aber jene der ›Wachspuppe‹, welche im Traum mit der griechisch-römischen Kriegsgöttin, mit der Figur des ›Komturs‹ als Sinnbild des Todes, und schließlich mit Dirty verschmilzt. 198 Vgl. S. 402, 422, 424, 442 u. 457.
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Für dieses Ideal ist sie zu allem bereit, scheut weder Krieg, Folter, noch den eigenen Tod, lehnt im Umkehrschluss jedoch jede Kriegshandlung ab, welche nicht im Dienst der Revolution steht. Nach Ausrufung des Generalstreiks in Barcelona ist Lazare daher im Unterschied zu Michel, einem anderen Aktivisten, nicht für den taktisch »nützlichen« Angriff auf das »Waffenlager«, sondern für den symbolischen Sturm auf das »Gefängnis«, denn alles andere sei »retomber dans la vieille confusion de la révolution et de la guerre!« (S. 456f). Der Unterschied zwischen Troppmann und Lazare, zwischen der unmotivierten Faszination des ›Heterogenen‹, der »leeren Verausgabung«199 einerseits, und der politisch-moralischen »action«200 andererseits, wird besonders deutlich in einem kurzen Wortwechsel der beiden Figuren, als Lazare angesichts Troppmanns Aufgeschlossenheit gegenüber der Möglichkeit des Krieges, an diesen die Frage richtet »Vous pensez qu’une révolution pourrait suivre la guerre?« und Troppmann erwidert »Je parle de la guerre, je ne parle pas de ce qui la suivrait.« (S. 410). Den komplexen Zusammenhang zwischen faschistischer Ideologie und dem, was Bataille als das ›Heterogene‹ bzw. damit verbunden, als »innere Erfahrung« bezeichnet, projiziert er in Le Bleu du ciel in die Figur der Deutschen Dirty, deren wohl nicht zufällig gewählte Herkunft zunächst nur durch ihren vollständigen Namen ›Dorothea‹ und die Beschreibung ihres blonden Haares (S. 387) bzw. ihrer blassen Haut (S. 407 u. 480f), schließlich jedoch durch die Ankündigung »Dorothea devait rentrer en Allemagne.« (wohin sie am Ende des Romans in Begleitung Troppmanns aufbricht; S. 479) verraten wird. Frei von jeder politischen Zugehörigkeit und Zielsetzung fühlt sich Dirty, wie Troppmann, zu allem hingezogen, was an Gewalt und Tod erinnert.201 Obgleich schwer krank, schleppt sie sich am Tag der ersten Unruhen in Barcelona ans Fenster, um den Aufruhr und die Schießereien aus nächster Nähe mitzuerleben, ja schickt sich schließlich sogar an, selbst hinunterzugehen, wobei sie Troppmanns Drängen, sie möge sich doch wieder ins Bett begeben, ein schlichtes »c’est plus fort que moi. J’irai voir.« (S. 475) entgegenhält. Als sich in diesem Moment Xénie ankündigt, besteht Dirty, getrieben von spontaner Grausamkeit darauf, dass diese eintrete. »Jai une idée horrible, tu comprends«, flüstert sie Troppmann zu und erwidert auf dessen Einwände und Bemühungen, Xénie abzuweisen, »Tu sais que je suis une bête!« (S. 476). Die Aussicht auf einen baldigen Krieg – »Il y aura bientôt la guerre, n’est-ce pas?« (S. 483) – versetzt sowohl Troppmann als auch Dirty in freudige Erregung. Nicht politischsoziale Absichten, sondern die reine Anziehung des Gewalttätigen und Zerstörerischen lässt Dirty den geradezu innigen Wunsch nach Krieg verspüren: »[…] je sais 199 Den Begriff der »consumation vide« benutzt Bataille in Sur Nietzsche, s. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 12. 200 Zur »action« als Gegenbegriff zur »existence totale« s. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 23f (s.a. Fußnote); s.a. Georges Bataille, »L’apprenti sorcier«, 38-59, v.a. S. 42-48. 201 Vgl. Sylvie Vanbaelen, »Writing Dirty«, S. 80: »Both Dirty and Troppmann express their desire for a war, a desire that appears unmotivated by anything but a yearning for violence itself«.
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que je suis un monstre, mais quelquefois, je voudrais qu’il y ait la guerre…« (S. 484). So vertraut sie Troppmann die im Geheimen gehegte, sie zugleich beunruhigende und erregende Fantasie an, einem Mann den Ausbruch des Krieges und schließlich der Reihe nach, den Tod seiner Kinder mitzuteilen: Alors, je dois annoncer à un homme: la guerre est commencée. Je vais le voir, mais il ne doit pas s’y attendre: il pâlit. […] un homme tout à fait gentil, avec beaucoup d’enfants. – Et les enfants? – Ils meurent tous. – Ils sont tués? – Oui. Chaque fois, je vais voir le petit homme. C’est absurde, n’est-ce pas? – C’est toi qui lui annonce la mort de ses enfants? – Oui. Toutes les fois qu’il me voit, il pâlit. J’arrive avec une robe noire et tu sais, lorsque je m’en vais… […] Il y a une flaque de sang, là où j’avais les jambes. (S. 483f) Die an dieser Stelle explizite, durch die Farbe Schwarz und die Symbolkraft des Blutes versinnbildlichte Darstellung Dirtys als ›Botin‹ bzw. ›Verkörperung‹ des Todes, geht indirekt auch aus anderen Beschreibungen der Figur hervor. Nicht nur ihr nach Gewalt und Tod strebendes Wesen, auch ihr Aussehen – ihre bleiche Hautfarbe (S. 407 u. 480f), ihre Vorliebe für blutrote Kleidung und Nägel,202 kombiniert mit den Farben Schwarz und Grau (S. 480 u. 484), sowie ihre geschwächte Physis – verleihen ihr den Anschein des leibhaftigen Todes. Dirty wird als kränklich, mager und kraftlos beschrieben.203 Leiden und Krankheit scheinen ihr jedoch nicht nur nichts auszumachen, in Übereinstimmung mit Nietzsches und Batailles Apologie des Leidens als wesentlicher Bestandteil des Lebens und Mittel zur Stärkung der menschlichen Gattung,204 empfindet sie in den Momenten des Leidens eine Form von Glück. »[…] [J]ʼai eu mal, très mal, pendant toute la nuit. Mais… […] J’étais hereuse de souffrir.« (S. 471), gesteht sie Troppmann und fragt angesichts dessen Besorgnis über ihren Gesundheitszustand »Pourquoi guérirais-je?« (S. 473). Verstehbar ist ihre Frage zugleich als ein Verweis auf den sich vor den Fenstern ereignenden Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs: Krankheit und Siechtum erscheinen demnach als Entsprechung der sozial-politischen Tumulte. Mit ihren »schwefelfarbenen« »Haaren« und »Kleidern« weckt die in Barcelona krank eintreffende Dirty in Troppmann die Assoziation eines in der Sonne getrockneten »Skeletts«, eines »squelette solaire, les os couleur de soufre« (S. 470). Explizit wird der Vergleich, als sich Troppmann und Dirty während einer sternenklaren Nacht im Freien – nirgendwo anders als auf einem Friedhof – schließlich doch lieben und Troppmann 202 S. S. 405 : »Les mains de Dirty étaient le plus souvent éblouissantes, les ongles couleur de sang frais.«; S. 484 : »Dirty, qui avait enlevé son manteau, avait, dans mes bras, une robe de soie d’un rouge vif […]«. 203 S. S. 407: »[…] elle est pâle comme une morte. En particulier, à Prüm, elle était à peu près malade.«; S. 469f: »[…] elle avait le visage maigre d’une malade. Elle était sans forces, il fallut l’aider à descendre […]«. 204 Vgl. Kapitel 5.2.2 der vorliegenden Arbeit.
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sich an die zitternde Dirty mit den Worten »…mon squelette…tu trembles de froid…tu claques des dents…« (S. 482) wendet. Das Bild des »squelette solaire« umfasst anschaulich beide Aspekte des durch Dirty/Dorothea verkörperten ›Heterogenen‹. Gerade am Beispiel der menschlichen Überreste hatte Bataille in seinem Vortrag »Attraction et répulsion« den dem ›Heterogenen‹ inhärenten Übergang des »sacré« »impur«, »gauche« oder »néfaste« zum »sacré« »pur«, »droit« oder »faste« dargestellt. Zunächst gehöre der mit dem Ekelhaften, Kranken und Schrecklichen verbundene Leichnam dem »impur« an, nach der Verwesung und dem Hervortreten der Knochen wandle sich dieses jedoch zum »pur« oder »faste«, so dass beispielsweise der gemarterte Menschenleib Christi nachträglich dem Göttlichen gleichgesetzt wurde.205 Vor dem Hintergrund des im Werk Batailles zentralen Symbols der Sonne erweisen sich die auffälligen Erwähnungen von »Sonne« und »Hitze« in Bezug auf die Hauptfiguren Troppmann und Dirty nicht als zufällig. Wie sein frühes aphoristisches Werk L’anus solaire (1931) darlegt, erscheint die ›Sonne‹ bei Bataille als Sinnbild der auf Werden und Vergehen beruhenden, die ›unproduktive Verschwendung‹ miteinschließenden ›allgemeinen Ökonomie‹ des Lebens. Da diese zugleich den exkrementellen und sexuellen Bereich umfasst, darf es nicht verwundern, wenn Bataille die Sonne auch als ›After‹ oder ›Phallus‹ beschreibt.206 In Le Bleu du ciel verbindet er ›Sonne‹ und ›Hitze‹ außerdem mit Gewalt und Tod, häufig versinnbildlicht durch das Symbol des Blutes oder die Farbe Rot.207 »Le soleil entrait dans ma chambre, il éclairait directement la couverture rouge vif de mon lit […]« (S. 431), heißt es über Troppmanns Krankenzimmer und wieder ist es ein strahlend-sonniger Tag, an dem Troppmann aus seinem Leningrad-Alptraum erwacht. Die Bilder des Traums – Blut und eine Explosion – vermischen sich mit den sonnendurchfluteten Ramblas (S. 462f), auf welchen Troppmann gedankenversunken flaniert, und der plötzlichen Vision geschlachteter Tiere: […] ce flot de soleil, ce flot d’air et ce flot de vie m’avaient jeté sur la Rambla. J’étais étranger à tout, et, définitivement, j’étais flétri. Je pensai aux bulles de sang qui se formaient à l’issue d’un trou ouvert par un boucher dans la gorge d’un cochon. (S. 463) Als Dirty Troppmann ihre Kriegsfantasien offenbart, wird ihre »Stirn« als »brûlant« (S. 483) beschrieben, und als Troppmann in Badalona im Meer badet und von der Sonne geblendet, die Augen schließt, scheint ihm Dirty geradezu physisch mit der Natur zu verschmelzen : »Je me retournai dans la mer, et sur le dos je dus fermer les yeux : j’eus un instant la sensation que le corps de Dirty se confondait avec la lumière, surtout avec la chaleur […].« (S. 464). Wie die Sonne repräsentiert Dirty den 205 Georges Bataille, »Attraction et répulsion II«, S. 226f. 206 Vgl. zu Batailles Symbol der ›Sonne‹, Sylvie Vanbaelen, »Writing Dirty«, S. 82. 207 Vgl. Ann Smock/Phyllis Zuckerman, »Politics and Eroticism in Le Bleu du ciel«, S. 64ff.
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in sich widersprüchlichen, auf dem Wechselspiel von Geburt und Tod beruhenden Lebenskreislauf. Liebe, Erotik, Gewalt und Tod verbinden sich in ihrer Person zu einer Einheit. Ihr Körper erinnert Troppmann während ihrer gemeinsamen Nacht auf dem Friedhof daher nicht nur an die braune »Erde« unter ihnen, sondern an ein »frisches Grab« (S. 481). Dirtys Neigung zu Gewalt, ihre mythische Verbundenheit mit der Natur und ihre Vorliebe für konfessionell ungebundene Erfahrungen von Ganzheitlichkeit überblendet Bataille geschickt mit dem geschichtlichen Hintergrund Nazi-Deutschlands. Die Beschreibungen der Natur, welche Troppmann und Dirty nach ihrer Ankunft in Trier an einem regnerischen, trüben Tag durchwandern, sowie jene der plötzlich auftauchenden Hitlerjugend-Gruppe, ähneln so etwa den Darstellungen Dirtys, wobei besonders die verwendete Farbsymbolik auffällt. Die Erde und die Felsen erscheinen in einem »rouge vif« und der Wald, den die beiden Protagonisten durchqueren, wird, wenn auch nicht als »schwefelfarben« (vgl. S. 470), als »jauni« charakterisiert. Dirtys »manteau de voyage en drap gris« und ihr blasses Gesicht verlieren sich im »sale lumière de novembre«, »dans le gris du ciel«, während ihre Wangen durch die Kälte »gerötet« sind (S. 480). Das Tod und Verderben suggerierende Szenarium wird schließlich durch das beklemmende Bild marschierender, »schwarz« gekleideter und mit »gellender Stimme« sprechender Nazi-Kinder (ebd.) vervollständigt. Wenige Seiten später wird die Ineinssetzung Dirty-Nationalsozialismus nicht mehr nur angedeutet: Die nach ihrem gemeinsamen Liebesspiel unter freiem Himmel mit »Erde« beschmierte, hochgewachsene Dirty wird nun offen zu in Schützengräben kämpfenden »Soldaten« in Analogie gesetzt: Je l’aidai à remettre ses vêtements devenus terreux. Nous n’étions pas moins excités par la terre que par la nudité de la chair; le sexe de Dirty était à peine couvert […] Elle me fit penser aux soldats qui faisaient la guerre dans des tranchées boueuses […] (S. 482) Die »Erde« steht dabei für die Faszination des ›Heterogenen‹ – Schmutz, Tod, Erotik und Geburt – als die treibende Kraft des naturwüchsigen Lebens. Ausgerechnet in dem Moment, als Dirty Troppmann auf ihrer Zugfahrt nach Frankfurt in ihre Kriegs- und Gewaltfantasien einweiht – »Il y a une flaque de sang, là où j’avais les jambes.« (S. 484) flüstert sie Troppmann zu – nimmt sie ihren Mantel ab und ihr blutrotes Seidenkleid kommt zum Vorschein: »Dirty, qui avait enlevé son manteau, avait, dans mes bras, une robe de soie d’un rouge vif, du rouge des drapeaux à croix gammée. […] Elle avait une odeur de terre mouillée.« (Ebd.). Der direkte Vergleich mit der »Hakenkreuzfahne« und der erneute Verweis auf ihren »Geruch« nach »feuchter Erde« lässt keinen Zweifel mehr daran, dass Bataille die Figur Dirty, um einen Ausdruck Sylvie Vanbaelens zu verwenden, als »paradoxical embodiment« of »nazism« konstruiert. Vanbaelen deutet dabei besonders auf
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die bewusst eingesetzte Parallele zur nazistischen ›Blut- und Bodenideologie‹ als der Rückbesinnung auf die germanische Mythologie hin.208 ›Blut‹ und ›Boden‹, die Anziehungskraft der Leben und Tod umfassenden Natur, welche im Nationalsozialismus eine rassisch geprägte Verherrlichung fand, werden in der Figur Dirty durch die Symbole des ›Blutes‹ – Dirtys blutrotes Kleid – und der ›Erde‹ – Erdspuren und -geruch – geradezu sinnlich erfahrbar. Verstärkt wird die Wirkung durch das plötzliche Erscheinen eines SA-Offiziers, dem Troppmann nach Verlassen des Zugabteils im Gang begegnet: […] un officier S.A., très beau et très grand. Il avait des yeux de faïence bleue qui, même à l’intérieur d’un wagon éclairé, étaient perdus dans les nuages : comme s’il avait en lui-même entendu l’appel des Walkyries, mais sans doute son oreille était-elle plus sensible aux trompettes de la caserne. (S. 484f) Die Assoziation des »Walkürenrufs« und der »Kasernentrompeten« verdeutlicht den der nazistischen Ideologie eingeschriebenen Zusammenhang zwischen der abstrakten Faszination der nordischen Mythen von Kampf, Tod und Heroentum und der konkreten, radikalen Kriegs- und Todesbereitschaft. Als Troppmann in das Zugabteil zurückkehrt, in welchem ihn Dirty erwartet, glaubt er unvermittelt das »Geräusch« berstender Leiber unter den ratternden »Rädern« des Zugs zu hören, wobei ihn das Gefühl überkommt, dass er Dirty nicht wiedersehen werde (S. 485). Die Ahnung einer drohenden Weltkatastrophe, von Tod und Gewalt vermittelt schließlich die Kinder-Nazi-Kapelle am Bahnhof von Frankfurt, an welchem Troppmann nach Dirtys Abfahrt in Richtung Süddeutschland allein zurückbleibt: Ils jouaient avec tant de violence, avec un rythme si cassant que j’étais devant eux le souffle coupé. Rien de plus sec que les tambours plats qui battaient, ou de plus acide, que les fifres. Tous ces enfants nazis (certains d’entre eux étaient blonds, avec un visage de poupée) jouant pour de rares passants, dans la nuit, devant l’immense place vide sous l’averse, paraissaient en proie, raides comme des triques, à une exultation de cataclysme […] (S. 486) Der Anblick der »schwarz« gekleideten, »in militärischer Ordnung« und »schneidendem Rhythmus« (ebd.) pfeifenden, scheppernden und dröhnenden Kinder und der ohrenbetäubende Klang ihrer Musik wirken auf Troppmann wie das schauerlich-bedrohliche Schlagen der Kriegstrommeln einer »Kinderarmee in Schlachtordnung« (S. 487): »Chaque éclat de la musique, dans la nuit, était une incantation, qui appelait à la guerre et au meurtre.« (Ebd.). Im Mittelpunkt von Troppmanns blutiger Vision von Mord und Tod steht dabei erneut die »Sonne« und ihr blendendes Licht: »[…] riant au soleil« imaginiert Troppmann das tötende Kinderheer und den Tod selbst als »lumineuse de sang« (S. 487). Und auch diesmal umfasst das 208 Sylvie Vanbaelen, »Writing Dirty«, 74-84, v.a. S. 74 u. S. 76-79.
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›Heterogene‹ nicht nur Tod und Gewalt, sondern ist spürbar erotisch konnotiert:209 Nicht zufällig erinnern die »Puppengesichter« der Kinder so an die unanständiggewalttätige Wachspuppe, welche in Troppmanns Traum mit Dirty verschmilzt, und der magere Kapellmeister, der seinen Taktstock, »une longue canne de tambour-major«, mit »obszöner Geste« rhythmisch zwischen »Mund« und »Unterleib« bewegt – »sur le bas-ventre […] elle ressemblait alors à un pénis de singe démesuré, décoré de tresses de cordelettes de couleur« –, wird als »sale petite brute«, »kleiner schmutziger Rohling« beschrieben (S. 486). Diesem geradezu »obszönen« »Schauspiel« wohnt Troppmann gefangen zwischen Anziehung und Entsetzen bei,210 bis die Musik verstummt und er sich in Richtung des Bahnsteigs bewegt, von welchem er am Ende des Romans nach Paris zurückkehren wird (S. 487). Dass sich das sogenannte ›Heterogene‹, welches Bataille in der Auseinandersetzung mit Nietzsche zum Ausgangs- und Zielpunkt der ›inneren Erfahrung‹ macht, mit faschistischen Interessenschwerpunkten überschneidet, sich gleichzeitig jedoch grundsätzlich von diesen, wie von allen anderen sozial-politischen Zielsetzungen unterscheidet, hat Bataille in Aufsätzen und Monografien immer wieder zum Ausdruck gebracht. Der französische Schriftsteller und Philosoph hat damit einen maßgeblichen Beitrag zur »Wiedergutmachung an Nietzsche« – so der Titel der Nietzsche gewidmeten zweiten Ausgabe der Zeitschrift Acéphale – und nach der Bereinigung von allen faschistischen Anschuldigungen, zu einem ästhetischphilosophischen Zugang zu Nietzsches Denken geleistet. Als mögliche Parallelen zur faschistischen Ideologie nennt Bataille Nietzsches radikale Abkehr von bzw. Umkehrung aller Moral, das Lob des Starken, Mutigen und Mächtigen, wie es besonders in der Rede von einer kommenden ›Herrenrasse‹ nach antikem Beispiel,211 209 Vgl. ebd., S. 79f; Ann Smock/Phyllis Zuckerman, »Politics and Eroticism in Le Bleu du ciel«, S. 61. 210 Wie gebannt folgt Troppmann dem Klang der Musik, s. S. 486: »[…] j’entendis un bruit de musique violente, un bruit d’une aigreur intolérable. Je pleurais toujours. De la porte de la gare, je vis de loin, à l’autre extrêmité d’une place immense, un théâtre bien éclairé et, sur les marches du théâtre, une parade de musiciens en uniforme : le bruit était splendide, déchirant les oreilles, exultant. J’étais si surpris qu’aussitôt, je cessai de pleurer. Je n’avais plus envie d’aller aux cabinets. Sous la pluie battante, je traversai la place vide en courant. […]«. Zugleich wird das »spectacle« jedoch als »obscène« und »terrifiant« beschrieben, s. S. 487. 211 Bataille spricht von »aristocratie de ›maîtres du monde‹«, s. Georges Bataille, Sur Nietzsche [darin : Appendice I. : »Nietzsche et le national-socialisme«], S. 185. Bei Nietzsche ist weniger die Rede von ›Herrenrasse‹ als vielmehr von einer »über Europa herrschenden Kaste« (JGB: Sechstes Hauptstück 208, KSA 5, 140; bzw. JGB: Achtes Hauptstück 251, KSA 5, 195), vom »vornehmen Menschen« (z.B. JGB: Neuntes Hauptstück, KSA 5, 209) bzw. von »vornehmer Cultur« (z.B. M: Drittes Buch 201, KSA 3, 175), »vornehmer Moral« (GM: Erste Abhandlung 10, KSA 5, 270) oder »Herren-Moral« (JGB: Neuntes Hauptstück 260, KSA 5, 208). Zu nennen ist hier auch Nietzsches Betonung der Ungleichheit der Menschen, welche er in einem »Pathos der Distanz« aufrechterhalten wissen möchte (s. z.B. GM: Dritte Abhandlung 14, KSA 5, 371; bzw. AC 43, KSA 6, 218).
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vom ›Willen zur Macht‹ und ›Übermenschen‹ deutlich wird, sowie in der Vorliebe für das Zufällige und Irrationale.212 Diese – man muss Bataille ergänzen – aus dem Zusammenhang gerissenen inhaltlichen Punkte hätten »faschistische« Denker dazu veranlasst, sich auf Nietzsche »zu berufen« und »antifaschiste« dazu, in Nietzsche den »Wegbereiter Hitlers« zu »sehen«.213 Und doch gebe es, so Bataille, zwischen Nietzsche und den »idées d’un réactionnaire fasciste« »une incompatibilité radicale«. Diese sieht Bataille in Nietzsches Ablehnung jeder Form von Dogma, Autorität und »servilité sociale«.214 Der Faschismus »durchbreche«, so schreibt er in seinem 1933 – dem Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung – veröffentlichten Aufsatz »La structure psychologique du fascisme«, mithilfe von neu zum Leben erweckten ›heterogenen‹ Kräften »le cours régulier des choses, l’homogénéité paisible mais fastidieuse«, in Wirklichkeit ersetze er die bestehende ›homogene‹ Gesellschaftsform jedoch nur durch eine andere Art von ›Homogenität‹. Entgegen seinem vorgeblich anarchistischen Impetus ziele der Faschismus mehr als andere Gesellschaftsmodelle, auf Pflichtgefühl, »Disziplin«, »Autorität«, Obrigkeitsdenken, besonders jedoch auf die »Einheit« des faschistischen Staates ab. Während die »faschistischen Rädelsführer« daher aufgrund ihrer Methoden »sans conteste« der »existence hétérogène« angehörten, unterstehe die Utopie einer zukünftigen Weltherrschaft »à l’intérieur même du domaine hétérogène« einem »Element« des ›Homogenen‹. Eine Kombination aus ›Homogenem‹ und ›Heterogenem‹ erkennt Bataille auch im Monarchismus, im »islamischen Kalifat«, in den Streitmächten und der jüdisch-christlichen Kirche. Um den inneren Widerspruch zu lösen, unterteilt Bataille den Bereich des ›Heterogenen‹, wie schon erwähnt, in »formes élevées et impératives (supérieures)« und die im engeren Sinne ›heterogenen‹ »formes misérables (inférieures)« als das Irrationale und Verdrängte. Den nach »souveräner« Macht strebenden Faschismus ordnet er dementsprechend der »forme impérative de l’existence hétérogène« zu. Obwohl Bataille Nietzsche in »La structure psychologique du fascisme« kein einziges Mal nennt, lässt sich dessen, wie es einige Jahre später in nun eindeutig Nietzsche gewidmeten Schriften heißt, systemsprengendes, sich keiner Moral, keiner politischen, sozialen oder religiösen Doktrin unterwerfendes Denken215 mit den »formes misérables« des ›HeterogeS. z.B. Georges Bataille, Sur Nietzsche [darin : Appendice I. : »Nietzsche et le national-socialisme«], S. 185 : »Il loua la beauté et la force corporelle, ayant une préférence appuyée pour la vie hasardée et turbulente.« 213 Ebd. 214 Ebd., S. 186. 215 S. Georges Bataille, »Nietzsche et les fascistes«, S. 450 : »Les proches de Nietzsche n’ont rien entrepris de moins bas que de réduire à un servage avilissant celui qui prétendait ruiner la morale servile. […] La doctrine de Nietzsche ne peut pas être asservie. […] La placer à la suite, au service de quoi que ce soit d’autre est une trahison […].« S.a. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 12: »L’aspiration extrême, inconditionelle, de l’homme a été pour la première fois exprimée 212
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nen‹ identifizieren. Politische Lektüren Nietzsches seien, so Bataille, Ausdruck des allgemeinen Unverständnisses gegenüber einem das diskursive Denken übersteigenden Entwurf einer »Umwertung aller Werte« bzw. eines Daseins ›jenseits von Gut und Böse‹: »L’absence de toute possibilité d’adaptation à l’une des directions de la politique n’a eu dans ces conditions qu’un seul résultat […] il s’est formé une droite et une gauche nietzschéennes […]«.216 Batailles unverkennbar an Nietzsche orientierte – die vielen Nietzsche-Zitate in L’expérience intérieure weisen darauf hin – Vorstellung einer konfessionell ungebundenen »inneren«, »mystischen« »Erfahrung« beschreibt er als »expérience nue, libre d’attaches, même d’origine, à quelque confession que ce soit«.217 Wenn Bataille betont, dass die sich jeder »Autorität« und jedem »existierenden Wert« entziehende ›innere Erfahrung‹ ihren Zweck allein in sich selbst finde,218 dass sie als »leeres« »Opfer«219 somit den Gegensatz der konkreten »action« oder des »projet« bilde,220 scheint darin Batailles Verteidigung Nietzsches vor jeder Art politischer oder religiöser Diffamierung widerzuhallen.221 Zugleich zeigt sich, in welchem Maße Bataille seine religiös-philosophischen Entwürfe auf Nietzsches Denken aufbaut. »Volonté de chance« lautet der sich an die französische Übersetzung volonté de puissance (dt. ›Wille zur Macht‹) anlehnende Untertitel von Sur Nietzsche, womit Bataille das um das Philosophem des ›Willens zur Macht‹ kreisende Missverständnis aufklären möchte, welchem zufolge Nietzsche als Theoretiker politischer Macht- und Gewaltutopien zu betrachten sei. »A ce sujet«, schreibt er im Vorwort zu Sur Nietzsche, »je crois utile de dissiper une équivoque: Nietzsche serait le philosophe de la »volonté de puissance«, il se donnait comme tel, il est reçu comme tel«.222 Nietzsches volonté de puissance sei, so Bataille, par Nietzsche indépendamment d’un but moral et du service d’un Dieu.«; ebd., S. 14: »J’en veux finir avec cette équivoque vulgaire. Il est affreux de voir réduire au niveau des propagandes une pensée demeurée comiquement sans emploi […] Surtout il [Nietzsche] n’eut pas d’attitude politique : il refusait, sollicité, d’opter pour quelque parti que ce soit, irrité qu’on le crût de droite ou de gauche. Il avait en horreur l’idée qu’on subordonne sa pensée à quelque cause«. 216 Georges Bataille, »Nietzsche et les fascistes«, S. 451. 217 Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 15. 218 Ebd., S. 19. 219 Vgl. ebd., S. 158 : »Le plan de la morale est le plan du projet. Le contraire du projet est le sacrifice.« S.a. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 12 : »Brûler sans répondre à quelque obligation morale, exprimée sur le ton du drame, est sans doute un paradoxe. […] Si nous cessons de faire d’un état brûlant la condition d’un autre, ultérieur et donné comme un bien saisissable, l’état proposé semble une fulguration à l’état pur, une consumation vide«. 220 Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 18, 59 u. 96. 221 S. Fußnote oben; s.a. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 24 (Fußnote): »[…] l’homme entier (son irrationalité) se reconnaît comme extérieur à l’action, […] il voit en toute possibilité de transcendance un piège et la perte de sa totalité […] Nietzsche sans doute a pressenti la nécessité de l’abandon sans en apercevoir la cause. L’homme entier ne peut être tel que s’il renonce à se donner pour la fin des autres […]«. 222 Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 16.
5 Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
nicht der ›Wille‹ zu weltlicher Macht, sondern »volonté de chance«, das fortwährende Streben nach Glück, wobei der Mensch auf den Zufall vertrauen müsse.223 Einige Jahre zuvor erklärte Bataille die »avide et puissante volonté d’être« zur treibenden Kraft der mythischen »existence pleine«. Dass sein Entwurf der »existence pleine« wie auch jener der »volonté d’être« auf Nietzsches Philosophie, besonders auf dessen ›Willen zur Macht‹ rekurriert, wird in der Charakterisierung dieses ›Lebenswillens‹ deutlich, welche sich interessanterweise mit Batailles Interpretation des nietzscheanischen ›Willens zur Macht‹ deckt. So betont Bataille, die »volonté d’être« sei kein »Wille« im herkömmlichen Sinne, sie sei das Gegenteil der »disposition théologique«, der »ordonnance des moyens et des fins«, vielmehr werde sie durch »[l]e hasard« und »la chance« bestimmt.224 Es mag verwundern, dass Bataille den Unterschied zwischen mystisch-religiösem Erleben nach dem Muster Nietzsches, und ›heterogenen‹ Kräften im Dienst politisch-ideologischer Zielsetzungen, wie etwa im Kommunismus oder Faschismus, anhand von Figuren darlegt, welche sich ihrerseits Gewalt-, Kriegs- und Todesfantasien hingeben. Bataille, der sich gegen die Darstellung Nietzsches als Philosophen des ›Willens zur Macht‹ wehrt, greift paradoxerweise gerade auf die dionysischen, d.h. gewalttätigen und zerstörerischen Aspekte der nietzscheanischen Philosophie zurück, um zu zeigen, wie wenig sie als ästhetisch-philosophische Entwürfe mit weltlich-konkreten Gewaltund Kriegshandlungen übereinstimmen. Um Nietzsches Werk vor faschistischen Anschuldigungen zu verteidigen – »Nietzsche devait être lavé de la souillure nazie«, so Bataille in Sur Nietzsche –225 hätte er sich wie etwa Pirandello oder Unamuno, deren Intention es natürlich zur Zeit ihrer Veröffentlichungen nicht war, Nietzsche in Schutz zu nehmen, auf Themen wie etwa die Destruktion von Dogma und absoluter Wahrheit, die Tragik des menschlichen Lebens oder die Fiktionalität der Welt berufen können, welche den Gegensatz zu politischen Lektüren deutlicher herausgestellt hätten. Ferner hätte er veranschaulichen können, dass Nietzsches Rede von ›Gewalt‹ und ›Härte‹ nicht wörtlich zu nehmen sei, sondern den Einzelmenschen vielmehr dazu auffordern solle, sich in den Zeiten des Leidens zu überwinden, bis er schließlich das Leiden nicht mehr als solches wahrnehme. Dass Bataille dies nicht tut, hat höchstwahrscheinlich System. Indem er die Nähe zu faschistischen 223 Vgl. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 23 : »Comment ne pas donner de conséquence à l’absence de but inhérente au désir de Nietzsche? Inexorablement la chance – et la recherche de la chance – représentent un unique recours (dont ce livre a décrit les vicissitudes).« Während das deutsche Wort Glück mehrdeutig ist, unterscheidet das Französische zwischen chance (als Synonym von fortune) und bonheur. Der Begriff chance umfasst demnach den Sinnzusammenhang von ›Glück‹, ›Zufall‹ und ›Schicksal‹. 224 Georges Bataille, »L’apprenti sorcier«, S. 47-53, v.a. S. 52f. 225 Georges Bataille, Sur Nietzsche [darin : Appendice I. : »Nietzsche et le national-socialisme«], S. 188.
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Themenkomplexen – »force« und »violence« – darstellt, lässt er die bestehenden Unterschiede umso klarer zutage treten: Fascisme et nietzschéisme s’excluent, s’excluent même avec violence […] : d’un côté la vie s’enchaîne et se stabilise dans une servitude sans fin, de l’autre souffle non seulement l’air libre mais un vent de bourrasque; d’un côté le charme de la culture humaine est brisé pour laisser la place à la force vulgaire, de l’autre la force et la violence sont vouées tragiquement à ce charme.226 Im Gegensatz zu ideologisch begründeten Staatsformen, welche das ›Heterogene‹ in den Dienst sozial-politischer Absichten stellen – in La Part maudite bezeichnet Bataille diesen in Le Bleu du ciel etwa durch Lazare, die Nazi-Kinder oder den SAOffizier symbolisierten Gesellschaftstyp als »société d’entreprise militaire« bzw. als »société d’entreprise religieuse« – verkörpern Dirty und Troppmann eine Lebensweise, in welcher die ›unproduktive Verschwendung‹ Selbstzweck und ›heilige‹ Praxis ist. Am meisten ähnelt diese daher der »société de consumation«, wie sie Bataille bei den Azteken und bestimmten nordwestamerikanischen Indianerstämmen verwirklicht sah.227
5.2.4
Kosmische Energieentladungen und die Verschmelzung der Gegensätze in der Natur
Wie Nietzsche, der den Menschen dazu ermahnt, »der Erde« »treu« zu »bleiben« und »dem Leben« zu »dienen«,228 setzt sich Bataille für eine ganzheitliche Sicht des Lebens ein. Den Menschen betrachtet Bataille folglich nicht getrennt von der ›allgemeinen‹, das unendliche, kosmische Sein bestimmenden Energieökonomie, sondern als deren, wenn auch winzigen, doch nicht unwesentlichen Bestandteil. Zentrales Symbol dieser kosmischen ›Ökonomie‹ ist bei beiden Autoren die ›Sonne‹, welche die Erde unablässig und ohne jegliche Gegenleistung mit gewaltigen Mengen an Energie versorgt: »[…] le rayonnement du soleil se distingue par un caractère unilatéral: il se perd sans compter, sans contrepartie«.229 Nietzsche spricht von der »Sonnen-Liebe« »zur Erde«, welcher der Mensch nachstreben solle (Za II: Von der unbefleckten Erkenntniss, KSA 4, 158f). Das irrationale, bedingungslose ›Austeilen‹, ›Verschenken‹, ›Überströmen‹, ›Sich-Verschwenden‹ und ›Sich-SelbstOpfern‹ der Sonne erheben Nietzsche und Bataille gleichermaßen zum Ideal eines in sich ruhenden, mystischen Seins des Glücks: »Le désir élève peu à peu le mystique à une ruine si parfaite, à une si parfaite dépense de lui-même qu’en lui la vie 226 227 228 229
Georges Bataille, »Nietzsche et les fascistes«, S. 452f. Georges Bataille, La Part maudite, S. 49-79 u. S. 81-108. Za I: Zarathustra’s Vorrede 3, KSA 4, 15; UB II: Vorwort, KSA 1, 245. Georges Bataille, »L’économie à la mesure de l’univers«, S. 10.
5 Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
se compare à l’éclat solaire«.230 Nirgendwo berührt sich Batailles Gedankenwelt so sehr mit Nietzsches, als in der auf die Seinsweise des ›alles-liebenden‹ ›Übermenschen‹231 vorausweisenden, in Also sprach Zarathustra erstmals ausführlich thematisierten Vorstellung der »schenkenden Tugend« oder des »Honig-Opfers«.232 Die ›Sonne‹, das ›sich ergießende‹ ›Gold‹ und der ›fließende Honig‹ versinnbildlichen dabei die »Über-Fülle« und den »Über-Reichthum« (Za III: Von der grossen Sehnsucht, KSA 4, 279) des übermenschlichen Seins, welches niemals müde wird, ›sich zu verschenken‹ (vgl. z.B. Za II: Von den Mitleidigen, KSA 4, 114), sich zu »verschwenden« oder sich zu »opfern« (z.B. Za I: Zarathustra’s Vorrede 4, KSA 4, 17).233 Textstellen wie diese führt Bataille an, um darzulegen, dass Nietzsches ›Wille zur Macht‹ genau genommen das Gegenteil weltlicher ›Macht‹ darstelle, nämlich das dem inneren ›Reichtum‹ des ›Übermenschen‹ geschuldete Vermögen, zu geben und zu schenken: »[…] l’équivoque introduite par Nietzsche parlant incessament de puissance alors qu’il pense au pouvoir de donner. […] L’état mystique ailleurs rapproché de la puissance l’est plus justement du désir de donner«.234 Die Hauptthese von La Part maudite, dass die Erde, aller menschlichen Logik und Wünschbarkeit zum Trotz, einem das Universum umfassenden Energiehaushalt unterworfen sei, im Zuge dessen eine beträchtliche Summe von überschüssiger Energie in regelmäßigen Abständen der unproduktiven Verschwendung preisgegeben werde,235 ver230 Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 53. 231 Vgl. zur alles umfassenden ›Liebe‹ des ›Übermenschen‹, z.B. FW: Viertes Buch 276, KSA 3, 521; ebd. 334, KSA 3, 560; GM: Erste Abhandlung 10, KSA 5, 273. 232 »Von der schenkenden Tugend« und »Das Honig-Opfer« sind die Titel zweier Abschnitte des Ersten und Vierten Teils von Also sprach Zarathustra, in denen der Gedanke des ›SichVerschenkens‹ besonders stark zum Ausdruck kommt. 233 S. z.B. Za I: Zarathustra’s Vorrede 4, KSA 4, 17: »Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern sich der Erde opfern, dass die Erde einst des Übermenschen werde. […] Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben will und nicht zurückgiebt: denn er schenkt immer und will sich nicht bewahren.«; Za I: Von der schenkenden Tugend, KSA 4, 97f: »Sagt mir doch: wie kam Gold zum höchsten Werthe? Darum, dass es ungemein ist und unnützlich und leuchtend und mild im Glanze; es schenkt sich immer. Nur als Abbild der höchsten Tugend kam Gold zum höchsten Werthe. Goldgleich leuchtet der Blick dem Schenkenden. […] Ungemein ist die höchste Tugend und unnützlich, leuchtend ist sie und mild im Glanze: eine schenkende Tugend ist die höchste Tugend. […] Das ist euer Durst, selber zu Opfern und Geschenken zu werden: und darum habt ihr den Durst, alle Reichthümer in eure Seele zu häufen. Unersättlich trachtet eure Seele nach Schätzen und Kleinodien, weil eure Tugend unersättlich ist im Verschenken-Wollen.«; Za IV: Das Honig-Opfer, KSA 4, 296: »Es ist der Honig in meinen Adern, der mein Blut dicker und meine Seele stiller macht. […] Was opfern! Ich verschwende, was mir geschenkt wird, ich Verschwender mit tausend Händen: wie dürfte ich Das noch – Opfern heissen!« 234 Georges Bataille, Sur Nietzsche [darin : Appendice II. : »L’expérience intérieure de Nietzsche«], S. 190. 235 Vgl. Georges Bataille, La Part maudite, S. 29f.
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anschaulicht Bataille in Le Bleu du ciel anhand von Szenen, in welchen der natürliche Drang nach ›Energieentladung‹ auf unterschiedlichen Ebenen vorgeführt wird. Diese Ebenen persönlicher, sozialer und atmosphärisch-kosmischer Art überblendet Bataille unmerklich und verdichtet sie zu einem Ganzen. Nicht zufällig kennzeichnet sich der Ausblick des Fensters, aus welchem sich Dirty übergeben muss, daher durch Abwasserkanäle und hell erleuchtete Luxusbauten (S. 391). Schmutz, Luxus und Erbrechen stehen dabei gleichermaßen für den ›verfemten Teil‹. Die innere Überreiztheit der Figuren und ihr ständiges, durch nächtliche Exzesse verursachtes Unwohlsein finden ihre Entsprechung in der Hitze und im Getöse überfüllter Nachtlokale (S. 413, 416, 446 u. 458). Extreme Witterungszustände – Hitze, Schwüle, Gewitter, Regen bis hin zu Schnee – begleiten den dargestellten persönlichen und sozialen ›Aufruhr‹. Als Dirty Troppmann zum ersten Mal verlässt und Troppmann mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen, zieht nach einem drückenden Tag ein starkes Gewitter auf, welches sich in dem Moment, als Troppmann die Schlinge löst und herabsteigt, in heftigen Regenfällen, Blitz und Donner entlädt (S. 409). Auch der Tag, an dem Troppmann Lazare und ihren Stiefvater besucht, ist zunächst drückend heiß, wohingegen es nach aufwühlenden politischen Diskussionen, als sich Troppmann, ohne offensichtlichen Grund in Tränen aufgelöst, von den beiden verabschiedet, in Strömen zu regnen beginnt (S. 420 u. 425). Dass mit dem vierten Kapitel der »Deuxième Partie« die unterschwellige Spannung des Romans einen ersten Höhepunkt erreicht – Troppmanns Wiedersehen mit Lazare und Dirty vor dem Hintergrund des ausbrechenden spanischen Bürgerkriegs –, verdeutlicht bereits der Titel des Kapitels, welcher wie jener des aus dem Jahre 1934 stammenden, in L’expérience intérieure veröffentlichten Textfragments und jener des Romans selbst »Le bleu du ciel« (S. 447) lautet. Die innere Erregtheit der Protagonisten spiegelt sich nicht nur in der zunehmenden Unruhe der Stadt – »il y a avait quelque chose de trop tendu, d’excité, pourtant de déprimé dans toute la ville« (S. 449) –, sondern ebenso in der diese erfassenden, Unwetter kündenden Hitze und Schwüle: »[…] le ciel était d’un bleu vif, mais tout avait lieu comme si l’orage allait éclater« (S. 468).236 Der indirekte Vergleich der ausbrechenden Unruhen mit dem aufziehenden Wolkenbruch wird in der Formulierung »Le calme avant l’orage…« (S. 472) explizit, mit welcher Troppmann auf die trügerische Ruhe in der Stadt nach Ausrufung des Generalstreiks 236 Der kontinuierliche Verweis auf die Hitze vor dem Hintergrund der persönlichen und politischen Ereignisse zieht sich wie ein roter Faden durch das Kapitel, s. z.B. S. 450: »L’enveloppe […] était vieille de plusieurs jours. Après l’avoir ouverte, je reconnus l’écriture de Dirty sur le pneumatique. Je doutais encore et je déchirai fébrilement la bande extérieure. Il faisait affreusement chaud dans la chambre […]«; S. 452 : »Je pensai : il y aura demain la révolution dans Barcelone…j’avais beau avoir trop chaud, j’étais transi…[…] On sentait que la journée avait été brûlante de soleil«.
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anspielt. Der Ausbruch der gewaltsamen Auseinandersetzungen wird in der nächsten Szene auf zwei Ebenen vorgeführt: Im Hotelzimmer vertiefen sich Troppmann und Dirty in hitzige Gespräche, welche nach Xénies unangemeldetem Eintreffen zu Gewaltmanifestationen übergehen, vor den Fenstern dagegen machen sich die ersten Schießereien und Straßenkämpfe bemerkbar (S. 474-478): La nuit entière fut trouble. Il n’était pas possible de dormir. Peu à peu, le combat augmenta d’intensité. Les mitrailleuses, puis les canons commencèrent à donner. Entendu de la chambre d’hôtel où Dorothea et moi étions enfermés, cela pouvait avoir quelque chose de grandiose, mais c’était surtout inintelligible. (S. 477) Der dionysische Gehalt der Gesamtszene wird unterstrichen durch Dirtys Bericht, wie sie in Wien eine Kirche aufgesucht habe und ihrem anschließenden Bekenntnis, sie könne sich vor Gott »niederknien«, wenn sie »glaube«, dass »er nicht existiere« (S. 474 u. 477). Die Ahnung einer bevorstehenden Weltkatastrophe, einer nicht nur persönlichen »Bedrohung«, sondern einer »menace plus générale, suspendue au-dessus du monde…« (S. 411), wie sie mit dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich eingetreten ist – Bataille spricht im Vorwort rückblickend von »signes annonciateurs« der »tragédie elle-même« (S. 382) –, prägt die Grundstimmung des Romans. Das zunächst nur vage Vorgefühl – »Je pressentais quelque chose de vide, quelque chose de noir, quelque chose d’hostile […]« (S. 430) –, welches dem kranken Troppmann das grelle, durch die Fenster dringende Sonnenlicht und die trällernde Stimme einer Opernsängerin vermitteln – »Dans mon état, je croyais entendre une réponse ironique à une interrogation qui se précipitait dans ma tête, allant à la catastrophe.« (S. 431) –, nimmt am Ende des Romans im Bild der lärmenden, Tod und Unheil verkündenden Nazi-Kapelle konkrete Gestalt an : »Toutes choses n’étaientelles pas destinées à l’embrasement, flamme et tonnerre mêlés, aussi pâle que le soufre allumé, qui prend à la gorge.« (S. 487). Über ein dichtes Netz wiederkehrender Symbole – Sonne, Feuer, Glut, Donnergrollen und dröhnende Musik – entwirft Bataille rein sprachlich ein pompöses Weltuntergangsszenarium, an dessen Ende die Vorstellung sengender, in der Farbe »brennenden Schwefels« glühender Flammen steht (s.o.). Die Farbe des Schwefels, bereits in der Charakterisierung Dirtys als Todessymbol eingeführt (S. 470), versinnbildlicht zuletzt die erschreckende und anziehende Auflösung allen Seins. Das Troppmann im Angesicht dieses Schauspiels packende Entsetzen wandelt sich so, während er im strömenden Regen steht, plötzlich in ein Gefühl ekstatischer Wonne, welchem durch das abrupte Verstummen der Musik und das Nachlassen des Regens ein Ende gesetzt wird: Une hilarité me tournait la tête: j’avais, à me découvrir en face de cette catastrophe une ironie noire, celle qui accompagne les spasmes dans les moments où personne ne peut se tenir de crier. La musique s’arrêta: la pluie avait cessé. Je rentrai lentement vers la gare […]. (S. 487)
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Was in Le Bleu du ciel implizite Kritik bleibt, dass nämlich die Gemeinschaft der Menschen Kriege und Katastrophen verhindern könnte, trüge sie dem unleugbaren Umstand des steten Energieüberschusses und der Notwendigkeit unproduktiver Verschwendung in gebührender Weise Rechnung, merkt Bataille in La Part maudite hinsichtlich alternativer Gesellschaftsformen wie etwa der Azteken tadelnd an: Notre ignorance a seulement cet effet incontestable : elle nous mène à subir ce que nous pourrions, si nous savions, opérer à notre guise. Elle nous prive du choix d’une exsudation qui pourrait nous agréer. Elle livre surtout les hommes et leurs œuvres à des destructions catastrophiques.237 Das sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte ziehende Verlangen nach Krieg und großflächiger, blinder Zerstörung, welches mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg einen Höhepunkt erreichte, betrachtet Bataille folglich als die natürliche Kompensation angestauter, verdrängter Energie einer sich allein auf Verstand und Wissenschaft berufenden Gesellschaft, welche das TriebhaftIrrationale des Menschen und die damit verbundene Überschreitung von Verbot und Verstand systematisch ausschließt.238 Im Gegenzug setzt er sich für den »ganzen«, nicht allein rational bestimmten Menschen ein.239 Dieser erkennt sich als Teil des natürlichen Lebenskreislaufs und verschmilzt in den Momenten der Transgression mit der alles umfassenden continuité des Seins:240 »[…] la libre communication de l’être et du monde qui l’entoure, l’homme s’y délivre en s’accordant avec ce monde dont il découvre la richesse« –241 so interpretiert Bataille bereits die frühmenschlichen Höhlenmalereien. Zielpunkt jeder Transgression ist die auf die nietzscheanische Erfahrung der ›ewigen Wiederkehr‹ verweisende expérience intérieure, in welcher das zunächst denkbar Schlimmste – die eigene Auflösung und der Zusammenfall aller Gegensätze – zum Anlass höchsten Glücks wird. Mit Blick auf Nietzsches Philosophie spricht Bataille von der »dissolution éclatante dans la totalité« und dem daraus resultierenden »dédale de contradictions«, dem ›Labyrinth der Widersprüche‹.242 Dem in Ekstase versetzten Menschen wird in der expérience intérieure die dem Verstand entgegengesetzte Welt des »non-sens« zuteil.243 In dieser verschmelzen Gegensätze, Subjektgrenzen sowie Subjekt und 237 Georges Bataille, La Part maudite, S. 31. 238 Vgl. ebd., S. 31ff. Indirekt erklärt Bataille in »La structure psychologique du fascisme« auf diese Weise den historischen Erfolg der faschistischen Ideologie, s. Georges Bataille, »La structure psychologique du fascisme«. 239 S. z.B. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 17. 240 Georges Bataille, L’Érotisme, s. z.B. S. 19-22: In der Erotik oder im nahenden Tod werde der Mensch der verstandesmäßigen »discontinuité« entrissen und gehe in die »continuité« des Seins ein. 241 Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, S. 81. 242 Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 22. 243 Ebd., S. 20.
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Objekt zu einem erlösenden, alles umfassenden, kosmischen Ganzen, in welchem Trennung, Vereinzelung und Schmerz überwunden sind: »›Soi-même‹, ce n’est pas le sujet s’isolant du monde, mais un lieu de communication, de fusion du sujet et de l’objet«.244 Die scheinbare Auflösung des Subjekts ist daher wie bei Nietzsche nur die Vorbedingung einer gesteigerten, die Grenzen des eigenen Ichs sprengenden Subjektivität,245 in welcher sich das Ich mit dem Du berührt: »Dans l’expérience, il n’est plus d’existence limitée. Un homme ne s’y distingue en rien des autres […]«. In diesem Aspekt der expérience meint Bataille zu Recht die tiefere Bedeutung des Begriffs der »communité«, der ›Gemeinschaft‹, bei Nietzsche zu erkennen.246 Nietzsches Rede von »Gefährten« oder »Jüngern« in Also sprach Zarathustra zielt tatsächlich nicht auf eine konkrete, ideologisch oder religiös geprägte ›Gefolgschaft‹ oder ›Gemeinschaft‹, sondern auf die Erziehung zur persönlichen Selbstentfaltung hin zu jenem mystischen, alles umfassenden und daher pluralen Ich des ›Übermenschen‹.247 Die beiden mit »Manibus date lilia plenis« überschriebenen, L’expérience intérieure abschließenden Gedichte lassen keinen Zweifel mehr daran, auf welche Weise Bataille den taumelnden ›Erfahrenden‹ imaginiert. »Gloria in excelsis mihi« und »Dieu« lauten die Titel der Gedichte, in welchen der Tod des metaphysischen Gottes und jener des platonisch-christlichen Subjekts248 mit dem Heraufkommen einer kosmischen Göttlichkeit zusammenfällt. Diese offenbart sich im imposanten Wüten willkürlicher, kosmischer Kräfte, in deren Mittelpunkt die ›Sonne‹ steht: Au plus haut des cieux,/ les anges, j’entends leur voix, me glorifient./ Je suis, sous le soleil, fourmi errante,/ petite et noire, une pierre roulée / m’atteint,/ m’écrase,/ 244 Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 21. Vgl. ebd. : »Il faut vivre l’expérience […] Ce n’est que du dedans, vécue jusqu’à la transe, qu’elle apparaît unissant ce que la pensée discursive doit séparer. […] L’expérience atteint pour finir la fusion de l’objet et du sujet, étant comme sujet non-savoir, comme objet l’inconnu. […]«; ebd., S. 76: »Le sujet dans l’expérience s’égare, il se perd dans l’objet, qui lui-même se dissout […]«. Zur »communication« s.a. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 48 : »Les êtres, les hommes, ne peuvent ›communiquer‹ – vivre – que hors d’eux-mêmes. Et comme ils doivent ›communiquer‹, ils doivent vouloir ce mal, la souillure, qui, mettant en eux-mêmes l’être en jeu, les rend l’un à l’autre pénétrables.« 245 Vgl. Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 76 : »Le sujet dans l’expérience s’égare, il se perd […] le sujet dans l’expérience en dépit de tout demeure […].« 246 Ebd., S. 40. 247 Vgl. Za I: Zarathustra’s Vorrede 9, KSA 4, 25; Za I: Von der schenkenden Tugend 1-3, S. 97 u. 101. 248 S. dazu v.a. Georges Bataille, L’expérience intérieure [darin : Cinquième partie, »Manibus date lilia plenis« : »Dieu«], S. 189 : »À la main chaude/ je meurs tu meurs/ où est-il/ où suis-je/ sans rire/ je suis mort/ mort et mort/ dans la nuit d’encre/ flèche tirée/ sur lui.«
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morte,/ dans le ciel/ le soleil fait rage,/ il aveugle,/ je crie:/ »il n’osera pas«/ il ose. […]249 Dass am Ende von Batailles Denkbewegung nicht anders als bei Nietzsche, Unamuno oder in etwas schwächerer Form bei Pirandello, das Göttliche schließlich im Menschen selbst wiederkehrt, d.h. in dessen Erleben einer alles umfassenden und daher göttlichen Kraft, verdeutlicht die Abwandlung des bekannten Hymnus »Gloria in excelsis deo« (dt. ›Ehre sei Gott in der Höhe‹) zu »Gloria in excelsis mihi« und der darauf folgende, abschließende Titel »Dieu«. Die großzügige Darreichung von Blumen, wie es die Überschrift »Manibus date lilia plenis« suggeriert, kann somit einerseits – der Kontext des Aeneis-Zitats spricht zunächst dafür –250 als »Totenritual für den geopferten Gott und das ihm in den Tot folgende menschliche Subjekt«251 verstanden werden, andererseits als feierliche Lobpreisung der kosmischen Göttlichkeit, wobei das Überschwängliche der Geste dem dionysischem Gehalt des neuen Göttlichen entspricht. Dass Bataille in L’expérience intérieure christliche Mystiker wie den Pseudo-Dionysius Areopagita, Johannes vom Kreuz oder die Heilige Teresa zitiert,252 ist kein Zufall: Noch einmal offenbart sich die erstaunliche, schon bei Nietzsche festgestellte Nähe zu Ansätzen der Mystik bzw. der negativen Theologie. Le Bleu du ciel schildert die Ekstase gleichsam als Naturereignis, bei welchem Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht, Himmel und Erde im Erleben des ›Erfahrenden‹ zu einer Einheit verschmelzen. Leben, Licht, Tod und Finsternis erweisen sich dabei nicht als Gegensätze, sondern als ineinander verschränkt, so dass sie sich im Blick des Beobachters unablässig zu verwandeln scheinen. Darin erschließt sich zuletzt die Bedeutung des Titels »Le Bleu du ciel«, welcher nicht nur den Roman selbst, sondern bereits das 1934 verfasste, in L’expérience intérieure veröffentlichte Textfragment bezeichnet (Teile dieses Fragments bilden die »Première Partie«) und schließlich in der »Deuxième Partie« des Romans als Überschrift des zentralen vierten Kapitels wiederkehrt. Der »blaue«, sonnendurchflutete »Himmel« symbolisiert, wie die Sonne selbst, die willkürliche Naturgewalt des Leben und Tod umfassenden, kosmischen Seins. So beginnt das in L’expérience intérieure erschienene mit »Le Bleu du ciel« betitelte Textstück mit der Beschreibung eines 249 Georges Bataille, L’expérience intérieure [darin : Cinquième partie, »Manibus date lilia plenis« : »Gloria in excelsis mihi«], S. 185. 250 Bernhard Teuber macht darauf aufmerksam, dass es sich bei dem durch Bataille verwendeten lateinischen Titel um ein Zitat aus Vergils Aeneis handelt. Der Ausspruch stammt dort von Anchises, welcher dazu auffordert, dem jung verstorbenen Marcus Claudius Marcellus, Neffen des Augustus, Blumen darzubringen, s. Bernhard Teuber, »Sacrificium auctoris. Die Anthropologie des Opfers und das postmoderne Konzept der Autorschaft«, S. 134 (s. darin v.a. Fußnote 48). 251 Ebd. 252 Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 16f.
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sich öffnenden »Auges«, welches dem Anblick der blendenden, erbarmungslosen Sonne nicht standzuhalten vermag. Unverzüglich wird das Ich in die »Leere« gerissen und schreiend – »c’est un cri qui m’échappe« – der Vernichtung preisgegeben.253 Grelles, blendendes Sonnenlicht, welches in seiner ›Zerstörungswut‹ die Farbe von Blut annimmt oder in komplette Finsternis umschlägt, erweist sich in Le Bleu du ciel als zentrale Metapher. Troppmann erinnert sich so etwa, dass die Sonne, wenn er als Kind inmitten des gleißenden Lichts die Augen schloss, »rot« durch seine Lider schien. Die Farbe Rot weckt in ihm die Assoziation einer blutigen »Explosion« oder ›geschlachteter Tiere‹ und steht im Kontrast zum blauen, sonnigen Himmel und der strahlenden »Reinlichkeit« der »blau-weißgestreiften« »Metzgerkittel« seines Erinnerungsbildes: Je me rappelai avoir vu passer, vers deux heures de l’après-midi, sous un beau soleil, à Paris […] une camionette de boucherie : les cous sans tête des moutons écorchés dépassaient des toiles et les blouses rayées bleu et blanc des bouchers éclataient de propreté : la camionette allait lentement, en plein soleil. […] Le soleil était terrible, il faisait songer à une explosion: était-il rien de plus solaire que le sang rouge coulant sur le pavé, comme si la lumière éclatait et tuait? (S. 554f)254 Während jedoch die Sonne mit Tod und Finsternis assoziiert wird, erscheint die Nacht in den Momenten der Ekstase als strahlender, lichterfüllter Tag: Mes yeux ne se perdaient plus dans les étoiles qui luisaient au-dessus de moi réellement, mais dans le bleu du ciel de midi. Je les fermais pour me perdre dans ce bleu brillant […] J’ouvris les yeux, je revis les étoiles sur ma tête, mais je devenais fou de soleil et j’avais envie de rire […] (S. 455) »La nuit est aussi un soleil« – das Zarathustra-Zitat, welches Bataille L’expérience intérieure als Motto voranstellt, stammt nicht zufällig aus dem »Nachtwandler-Lied« des »Vierten Theils« von Also sprach Zarathustra, in welchem das Schlagen der Mitternachtsglocke Zarathustra und den ›höheren Menschen‹ den erlösenden Gedanken des Zusammenfalls aller Gegensätze in der ›ewigen Widerkehr des Gleichen‹ offenbart: […] Eben war meine Welt vollkommen, Mitternacht ist auch Mittag, – Schmerz ist auch eine Lust, Fluch ist auch ein Segen, Nacht ist auch eine Sonne, – geht davon oder ihr lernt: ein Weiser ist auch ein Narr. Sagtet ihr jemals Ja zu Einer Lust? Oh, 253 Ebd., S. 92; vgl. Ann Smock/Phyllis Zuckerman, »Politics and Eroticism in Le Bleu du ciel«, S. 71 u. 85f. 254 Vgl. S. 463 : »La journée commençait dans un enchantement. J’éprouvai la fraîcheur du matin, en plein soleil. […] Je pensai aux bulles de sang qui se forment à l’issue d’un trou ouvert par un boucher dans la gorge d’un cochon. […]«.
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meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt, – […] Alles von neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, verliebt, oh so liebtet ihr die Welt, – – ihr Ewigen, liebt sie ewig und allezeit: und auch zum Weh sprecht ihr: vergeh, aber komm zurück! Denn alle Lust will – Ewigkeit! (Za IV: Das Nachtwandler-Lied 10, KSA 4, 402) Ein weiteres Mal wird durch das Nietzsche-Zitat in L’expérience intérieure deutlich, in welchem Maße Batailles ›innere Erfahrung‹ Nietzsches mystischem Wiederkunftsgedanken verpflichtet ist. Als Troppmann unter bestirntem Himmel – »il y avait des étoiles, un nombre infini d’étoiles« (S. 454) – auf das Anbrechen des Tages und das Heraufziehen der Sonne wartet, entfaltet das Zarathustra-Zitat seine konkrete Bedeutung: Die Nacht entspricht nicht nur dem hell leuchtenden Tag auf der gegenüberliegenden Seite der Erde, die untergegangene Sonne macht zudem das taghelle Licht unendlicher, weit entfernter Sonnen oder Sterne sichtbar. Der mit Sternen bedeckte Himmel dominiert schließlich die bekannteste Szene des Romans, in welcher sich Troppmann und Dirty nachts auf einem Friedhof lieben. Das sich bereits kurz zuvor ankündigende, vage Gefühl des Daseinsverlusts der Protagonisten – »nous avions perdu le sentiment d’exister« (S. 480) – wird plastisch in der veränderten, mit der Ekstase einhergehenden Wahrnehmung der Natur, in welcher sich Himmel und Erde zu verkehren scheinen: […] un vide s’ouvrit au-dessous de nous. Étrangement, ce vide n’était pas moins illimité, à nos pieds, qu’un ciel étoilé sur nos têtes. Une multitude de petites lumières, agitées par le vent, menaient dans la nuit une fête silencieuse, inintelligible. Ces étoiles, ces bougies, étaient par centaines en flammes sur le sol : le sol où s’alignait la foule des tombes illuminées. Je pris Dorothea par le bras. Nous étions fascinés par cet abîme d’étoiles funèbres. […] Chacune des lumières annonçait un squelette dans une tombe, elles formaient ainsi un ciel vacillant […]. (S. 481) In den flackernden Grabkerzen meint Troppmann die Spiegelung des sternenfunkelnden Himmels zu erkennen, so dass es ihm bald scheint, sich im unendlichen Raum des Alls zu verlieren: »[…] j’aurais pu croire, émerveillé, que nous tombions dans le vide du ciel« (S. 482). Im Bild der »étoiles funèbres«, leuchtender, Leben spendender »Grabsterne« – in gewisser Weise kehrt dieses Bild am Ende des Romans in den auf der Zugfahrt nach Frankfurt vorbeiziehenden, mit Bergen von weißen Blüten bedeckten Gräbern wieder (S. 483) – veranschaulicht Bataille seine These von der kosmischen Einheit von Leben und Tod. Die in Le Bleu du ciel beschriebene Vorstellung einer Verkehrung von Himmel und Erde, einer, wie es in L’expérience intérieure heißt, »chute […] dans le vide du ciel«,255 geht erneut auf das bereits erwähnte, gleichnamige Textfragment von 1934 zurück, dessen Schlussteil 255 Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 93.
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die »Première Partie« des Romans entnommen ist. Am Ende der »Première Partie« und damit an exponierter Stelle zwischen »Introduction« und der eigentlichen Romanhandlung, steht proleptisch die euphorische Darstellung des dionysischübermenschlichen Glücks: À partir d’une ignoble souffrance, à nouveau, l’insolence qui, malgré tout, persiste de façon sournoise, grandit, d’abord lentement, puis, tout à coup, dans un éclat, elle m’aveugle et m’exalte dans un bonheur affirmé contre toute raison. Le bonheur à l’instant m’enivre, il me saoule,/ Je le crie, je le chante à pleine gorge./ En mon cœur idiot, l’idiotie chante à gorge déployé./ JE TRIOMPHE! (S. 395f)256
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Dass sich Batailles kulturanthropologisch-philosophische Überlegungen, besonders seine Betrachtung der ›unproduktiven Verschwendung‹ und der Transgression, in der durch ihn verwendeten Diskursform spiegeln, welche als »subversive Ästhetik«257 mit ihrem Inhalt verschmilzt, geht nicht nur indirekt aus seinen Schriften hervor, sondern wird durch diese hindurch, am Rande stets eigens thematisiert. So stellt Bataille in La Part maudite mit Blick auf seine Konzeption der ›allgemeinen Ökonomie‹ fest, dass »cet objet de ma recherche ne peut-il être distingué du sujet lui-même« : »Écrivant le livre où je disais que l’énergie ne peut être finalement que gaspillé, j’employais moi-même mon énergie, mon temps, au travail […]«.258 Bereits in seinem frühen Aufsatz »La notion de dépense« ordnet Bataille den künstlerischen Ausdruck in Literatur, Theater und Poesie der »dépense symbolique« zu und stellt ihr Formen der »dépenses réelles« gegenüber.259 Ähnlich wie bei den bisher besprochenen Autoren, so in erster Linie bei Nietzsche selbst, geht auch bei Bataille eine sich den Verstandeskategorien widersetzende Lebensanschauung »à la mesure de l’univers«260 mit einer neuartigen Auffassung von Literatur einher. Betrachtet man das Leben als kreisendes Fließen zufällig angestauter Energien, in dessen Verlauf es zu periodischen Verschwendungen dionysischer Art kommt, 256 Die erste Hälfte der oben aus Le Bleu du ciel zitierten Passage ist in leicht abgewandelter Form Teil des in L’expérience intérieure abgedruckten Textfragments von 1934, vgl. ebd., S. 95. In Le Bleu du ciel ergänzt Bataille den Abschnitt um die zitierten Verse »Le bonheur […] JE TRIOMPHE!« (s.o.). 257 Bernhard Teuber, »Sacrificium auctoris. Die Anthropologie des Opfers und das postmoderne Konzept der Autorschaft«, S. 130. Bei Bataille und Leiris, so Teuber, »öffne sich« »die Reflexion des Festes hin auf den Bereich einer subversiven Ästhetik«. 258 Georges Bataille, La Part maudite, S. 20. 259 Georges Bataille, »La notion de dépense«, S. 307. 260 Georges Bataille, »L’économie à la mesure de l’univers«. Gemeint ist der Entwurf einer ›allgemeinen Ökonomie‹.
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so verändern sich mit dem Gegenstand der literarischen Darstellung, welche sich inhaltlich nun auf die Momente der Transgression und der dionysischen Energieentladung konzentriert, auch die Funktion und Form des Diskurses. Bataille leitet das Vorwort, welches er Le Bleu du ciel voranstellt, daher bereits mit der Frage nach dem eigentlichen Sinn narrativer Texte und der impliziten Forderung nach einer Erneuerung der Gattung Roman und ihrer Verfahren ein: Nous devons donc chercher passionément ce que peuvent être des récits comment orienter l’effort par lequel le roman se renouvelle, ou mieux se perpétue. Le souci de techniques différentes, qui remédient à la satieté des formes connues, occupe en effet les esprits. (S. 381) Dass Bataille den Erzähltext, der inhaltlich das (irrationale) Leben nachbildet, analog zu seinem Gegenstand, selbst als Ventil des überfließenden, dionysischen Lebens konzipiert, wird deutlich, wenn er behauptet, jede Erzählung müsse, um den Ansprüchen des modernen Lesers zu genügen, Ausdruck eines »moment de rage« sein, welches den Autor überkomme und ihn geradezu zur Niederschrift seines Werks zwinge: Le récit […] appelle un moment de rage, sans lequel son auteur serait aveugle à ces possibilités excessives. Je le crois : seule l’épreuve suffocante, impossible, donne à l’auteur le moyen d’atteindre la vision lointaine attendue par un lecteur las des proches limites imposées par les conventions. (ebd.) Auch die in Le Bleu du ciel dargestellten »monstrueuses anomalies« seien, so Bataille, nichts anderes als das Produkt eines »tourment qui me ravageait« (S. 382). Das Phänomen, dass sich das Erzählen transgressiver Episoden gleichsam selbst in einen Akt der Transgression verwandelt, kehrt als mise en abyme fiktionsimmanent wieder, wenn die Protagonisten zu Erzählern ihrer eigenen Ausschweifungen werden, wobei es ihnen immer wieder vor blankem Entsetzen die Sprache verschlägt und Erzähler wie Zuhörer jeweils fassungslos und erschöpft zurückbleiben. Anschaulich wird dies in Troppmanns Beichte seiner nekrophilen Neigungen, zunächst gegenüber Lazare – »Je racontai ma vie entière à cette vierge. Raconté à une telle fille […], c’était d’une impudence dont j’avais honte.« (S. 404) –, später gegenüber Xénie, welche angesichts Troppmanns Offenbarung, wie dieser selbst, dem Wahnsinn nahe scheint,261 sowie in Michels Schilderung der fast tödlichen Aus261
S. S. 433f: »Sais-tu que j’ai un goût vicieux pour les cadavres… Xénie était restée à genoux, toujours à un pas de mon lit, l’air hagard et ainsi elle me regardait sourire. À la fin, elle baissa la tête et me demanda à voix basse: – Qu’est-ce que tu veux dire? Je t’en supplie, tu dois tout me dire à présent, parce que j’ai peur, j’ai très peur… […] Je regardai Xénie. […] Xénie, visiblement, souffrait. Elle dit: – Parle… maintenant… parle… j’ai peur, je deviens folle… Je voulais parler et je ne pouvais pas. Je m’efforçai […] Je n’avais plus la force de parler. […] – Ta mère?… parle… […] Une fois de plus, je n’avais plus la force de parler. […] – Parle… Aie pitié
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einandersetzung zwischen Lazare und dem jungen Mechaniker Antonio, welche Michel und seinen Zuhörer Troppmann regelrecht in Ekstase versetzt: Je fis ce qu’avait fait le jeune ouvrier; je vidai mon verre et Michel, qui buvait rarement, s’était mis à ma mesure. Il entra dans un état d’extrême agitation. Moi, j’étais devant le vide, sous une lumière qui m’aveuglait, devant une extravagance qui nous dépassait. Michel essuya la sueur de ses tempes. Il continua: […] Je finissais par respirer mal. Je demandai à Michel, qui perdait son élan, de continuer sans attendre. De nouveau, il essuya la sueur de son front: […] Michel se tut: il avait l’air plus mal à son aise que jamais. […] À la fin, il était au bord des larmes. À travers la musique, il gesticulait bizarrement […] La sueur, en coulant du front, avait commandé sa gesticulation. L’histoire m’avait abasourdi. (S. 443f) Wie Marion Luckow besonders hinsichtlich Batailles früher Erzählung L’Histoire de l’œil richtig zusammenfasst, ersetzt Bataille in seinen Erzähltexten, so auch in Le Bleu du ciel, die herkömmliche »Geschichte« im Sinne einer logisch zusammenhängenden, stringent auf ein bestimmtes Ziel hinwirkenden Handlung, durch die paradigmatische Darstellung »extremer Zustände«.262 In der Tat erweist sich der Roman als die unsystematische Abfolge transgressiver, sich in verschiedenen Ländern abspielender Szenarien, welche weder eine greifbare Entwicklung, einen eindeutigen Höhepunkt noch einen inhaltlich markierten Schluss erkennen lassen. Der Gegenstand solcher Erzählungen soll jedoch nicht nur im Leser höchst ambivalente Gefühle hervorrufen. Bataille selbst spricht vom »malaise, qu’en lui-même le livre m’inspire«. Andererseits bewirke, wie Bataille andeutet, gerade der »sursaut de rage« bzw. »l’épreuve de la souffrance«, die ›Raserei‹ bzw. die Erfahrung des ›Leidens‹, die Faszination dieser Erzählungen (S. 382). Aber nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der Ebene des Textes selbst versucht Bataille, die bei Nietzsche zentrale Umwertung des Entsetzlichen, Leidenschaffenden – die Auflösung des Subjekts – hin zu einer alles erhabenen, in der »expérience intérieure« erfahrbaren Göttlichkeit nachzuzeichnen. Der ›Tod‹ des Subjekt und die Erfahrung des Göttlichen erweisen sich dabei, wie auch bei Nietzsche, als Sprachgeschehen,263 de moi… parle-moi… […] À bout de nerfs, devant moi, Xénie baissait la tête. C’est à peine si elle bougea…mais convulsivement, quelques secondes passèrent, […] elle céda, elle se laissa tomber et son corps inerte s’étala. Je délirai […]. 262 Marion Luckow: »Nachwort«, in: Georges Bataille, Das obszöne Werk, hg. von Marion Luckow (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972), S. 225. 263 Auch Foucault betont das Ineinandergreifen von Form und Inhalt in Batailles Werk. So betrachtet er das Zusammenstürzen des »langage discursif« bei Bataille als die (typisch postmoderne) Inszenierung des ›sterbenden‹ Subjekts, s. Michel Foucault, »Préface à la transgression«, S. 240-243 : »Le langage de Bataille en revanche s’effondre sans cesse au cœur de son propre espace […] là où précisément les mots lui manquent, où le sujet qui parle vient à s’évanouir, où le spectacle bascule […] L’effondrement de la subjectivité philosophique, sa dispersion à l’intérieur d’un langage qui la dépossède […] est probablement une des structures
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im Zuge dessen der vernünftige »discours« überschritten wird, zerfällt oder komplett verstummt.264 Wenn Bataille ›Gott‹ als das Verhallen aller Worte, das »letzte Wort« – »Dieu dernier mot voulant dire que tout mot […] manquera« –265 oder das alle »Worte« überschreitende »Wort« – »le mot qui dépasse les mots, le mot Dieu« –266 bezeichnet, wird ersichtlich, wie sehr Batailles sprachliches Ringen um einen adäquaten Ausdruck des Göttlichen den mystischen Sprachformen der negativen Theologie ähnelt. Dieser zufolge sind allein sogenannte ›Überaussagen‹ bzw. negative Aussagen, somit die Verneinung positiver Aussagen, Gott angemessen. Bataille selbst macht keinen Hehl aus der Nähe seines Denkens und Schreibens zu Ansätzen der Mystik – »j’aperçus que l’état de félicité où j’étais tombé ne différait pas entièrement des états ›mystiques‹« –,267 vielmehr erläutert er seinen Lesern den »Unterschied« »zwischen« der »positiven« und der »negativen« (bzw. »mystischen«) »Theologie«268 und zitiert aus den Namen Gottes des Pseudo-Dionysius: »Ceux qui par la cessation intime de toute opération intellectuelle entrent en union intime avec l’ineffable lumière… ne parlent de Dieu que par négation«.269 Wenn es, eingebettet in verschiedene Zitate aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, gute hundert Seiten später heißt »Je m’en remets à Dieu pour se nier lui-même […] Quand je suis Dieu, je le nie jusqu’au fond de la négation. […]«, ist es nicht mehr der PseudoDionysius, sondern Bataille selbst, der sich zu Wort meldet und sich inhaltlich, direkt oder indirekt, auf den oben zitierten Abschnitt bezieht. Dass Bataille damit zugleich poststrukturalistische Schreibweisen vorbereitet und deren Versuch, den sich in der différance ewig entziehenden Sinn sprachlich abzubilden, wird besonders in der folgenden Textstelle deutlich, in welcher Bataille sein Konzept der ›poetischen Sprache‹ als die bewusste Transgression der dem Postulat der Nützlichkeit und der Konvention unterworfenen Alltagssprache (mitsamt der ihr eingeschrie-
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fondamentales de la pensée contemporaine […] Et c’est au cœur de cette disparition du sujet philosophique que le langage philosophique s’avance comme en un labyrinthe, non pour le retrouver, mais pour en éprouver […] la perte jusqu’à la limite […]«. Vgl. Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 73: »Car le projet est la prison dont je veux m’échapper (le projet, l’existence discursive): j’ai formé le projet d’échapper au projet! Et je sais qu’il suffit de briser le discours en moi, dès lors l’extase est là, dont seul m’éloigne le discours […]«; ebd., S. 131: »[…] cette félicité banale ne fût une expérience intérieure authentique, distincte évidemment du projet, du discours.«; ebd., S. 41f: »Et dans l’expression qu’elle est d’elle-même, à la fin, nécessairement, elle n’est pas moins silence que langage. […] L’expérience ne peut être communiquée si des liens de silence, d’effacement, de distance, ne changent pas ceux qu’elle met en jeu.« Ebd., S. 49. Georges Bataille, »Madame Edwarda« [darin : »Préface«], S. 12. Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 131. Ebd., S. 134. Ebd., S. 16.
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benen festen Beziehungen zwischen Signifikanten und Signifikaten) anhand der sprachlichen Neuschöpfung »cheval de beurre« veranschaulicht: Les mots, nous les utilisons, nous faisons d’eux les instruments d’actes utiles. Nous n’aurions rien d’humain si le langage en nous devait être en entier servile. Nous ne pouvons non plus nous passer des rapports efficaces qu’introduisent les mots entre les hommes et les choses. Mais nous les arrachons à ces rapports dans un délire. Que des mots comme cheval ou beurre entrent dans un poème, c’est détachés des soucis intéressés. […] Quand la fille de ferme dit le beurre ou le garçon d’écurie le cheval, ils connaissent le beurre, le cheval. La connaissance qu’ils en ont épuise même en un sens l’idée de connaître […] Mais au contraire la poésie mène du connu à l’inconnu. Elle peut ce que ne peuvent le garçon ou la fille, introduire un cheval de beurre. Elle place, de cette façon, devant l’inconnaissable. Sans doute aije à peine énoncé les mots que les images familières des chevaux et des beurres se présentent, mais elles ne sont sollicitées que pour mourir.270 In Le Bleu du ciel wird das ›Unsagbare‹, welches meist in Verbindung mit den ambivalenten Frauenfiguren Dirty und Lazare steht, durch vielfältige Techniken in Worte gefasst. Immer wieder greift der Inhalt auf sein sprachliches Medium über, lässt es ins Stocken geraten oder komplett verstummen, was typografisch durch das Auslaufen der Sätze in drei Auslassungspunkte unterstrichen wird.271 Inhaltlich bleibt es hier häufig bei undurchsichtigen Andeutungen, welche Zusammenhänge und Motive bewusst verschleiern und den Leser über das eigentliche Geschehen im Unklaren lassen, so etwa als Michel von der bizarren Auseinandersetzung zwischen Lazare und Antonio, oder Troppmann von Lazares Besuch an seinem Krankenbett erzählt (S. 442-446). Das jeglicher rationalen Bestimmung entgleitende, den Bereich des Göttlichen berührende Wesen Dirtys kommt durch verschwommene, zum Teil verneinte oder sich widersprechende Attribute zum Ausdruck: Je m’efforçais de ne penser à rien. Je n’y arrivais pas. Une poussière vide de sens se soulevait en moi. J’aurais voulu me souvenir de ce qu’était réellement Dirty. Ce 270 Ebd., S. 156f. 271 S. z.B. S. 433 : »[…] Parle… maintenant… parle… j’ai peur, je deviens folle… Je voulais parler et je ne pouvais pas. Je m’efforçai: […] – Non, parle… dis seulement quelque chose… mais ne me regarde plus sans rien dire… – Quand ma mère est morte… (Je n’avais plus la force de parler. […]) – Ta mère?… parle… […]«; S. 442: »Michel, préoccupé, devenait plus gauche. […] – J’ai voulu lui tordre un poignet [à Lazare], me dit-il. – … – Un jour… ici-même… J’étais sous pression, j’aurais éclaté. Michel, au milieu du vacarme, s’esclaffa: – Tu ne la connais pas! […] Elle est intolérable…«; bzw. S. 445: »Je l’aurais tuée… L’idée que, peut-être, j’aimais Lazare m’arracha un cri qui se perdit dans le tumulte. J’aurais pu me mordre moi-même. J’avais l’obsession du revolver – le besoin de tirer, de vider les balles…dans son ventre…dans sa…«.
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qui revenait vaguement à la mémoire était en moi quelque chose d’impossible, d’affreux, et surtout d’étranger […]. (S. 459f)272 In Übereinstimmung mit Batailles Entwurf der ›poetischen Sprache‹ sorgen außerdem widersprüchliche, unübliche Wortverbindungen wie »abîme d’étoiles funèbres« (S. 481) für den Effekt des Regelverstoßes und des Grotesken, während sie zugleich Raum für das Unaussprechliche, Unantastbare schaffen.273 Ebenso werden Wörter von ihrer Grundbedeutung entfremdet274 oder als Synonym ihres jeweiligen Gegenteils verwendet,275 so dass der inhaltlich beschriebene Zusammenfall aller Gegensätze auch in der Sprache selbst manifest wird. Die spürbaren Brüche innerhalb des Diskurses stehen dabei nichtsdestoweniger in Abhängigkeit zu diesem selbst. Wie in anderen Formen der Transgression setzt auch die literarischpoetische Überschreitung das in ihr Überschrittene voraus.276 Das Ergebnis ist eine verformte Sprache, welche zwar die Spuren der ›Transgression‹ trägt, sich jedoch 272 Vgl. S. 466: »Dirty était […] impénétrable pour moi.«; S. 486: »J’avais encore dans la bouche le goût des lèvres de Dirty, quelque chose d’inintellgible.« 273 S.a. S. 433: »[…] dans un éblouissement, ce que j’avais aimé au cours de ma vie surgissait, comme un cimetière aux tombes blanches sous une lumière lunaire, sous une lumière spectrale: au fond, ce cimetière était un bordel; le marbre funéraire était vivant, il était poilu par endroits…«. 274 So etwa das Adjektiv »solaire« in der Wendung »[…] était-il rien de plus solaire que le sang rouge coulant sur le pavé, comme si la lumière éclatait et tuait?« (S. 455). 275 S. z.B. S. 455 : »Mes yeux ne se perdaient plus dans les étoiles […], mais dans le bleu du ciel de midi. Je les fermais pour me perdre dans ce bleu brillant […] je revis les étoiles sur ma tête, mais je devenais fou de soleil […].; bzw. S. 481f : »Chacune des lumières annonçait un squelette dans une tombe, elles formaient ainsi un ciel vacillant […] nous serions tombés dans la nuit, et j’aurais pu croire […] dans le vide du ciel.« 276 Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 170 : »L’image poétique, si elle mène du connu à l’inconnu, s’attache cependant au connu qui lui donne corps, et bien qu’elle le déchire et déchire la vie dans ce déchirement, se maintient à lui. D’où il s’ensuit que la poésie est presque en entier poésie déchue, jouissance d’images il est vrai retirées du domaine servile […] mais refusées à la ruine intérieure qu’est l’accès à l’inconnu.« Der sprachliche Diskurs erhalte sich, so Bataille, nur im Hinblick auf einen Adressaten, welchem er sich mitteile. Den »Leser« setzt Bataille daher mit dem »Diskurs« selbst gleich, s. ebd., S. 75 : »Le tiers, le compagnon, le lecteur qui m’agit, c’est le discours. Ou encore: le lecteur est discours, c’est lui qui parle en moi, qui maintient en moi le discours vivant à son adresse.« In Sur Nietzsche dagegen ordnet Bataille den vernünftigen Diskurs der »morale du déclin« zu. Den Versuch, mithilfe dieses Diskurses die »morale du sommet« als die verschiedenen Manifestationen des »excès«, der »exubérance de forces« und der »dépense[…] d’énergie« auszudrücken, beschreibt Bataille als einen inneren Widerspruch, s. Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 42. Bzw. ebd., S. 56f : »[…] Le fait de ›parler‹ d’une morale du sommet relève lui-même d’une morale du déclin. […] Parler, comme je fais à l’instant, de morale du sommet est en particulier la chose la plus risible! […] La construction et l’exposé d’une morale du sommet suppose de ma part un déclin, suppose une acceptation des règles morales tenant à la peur. En vérité, le sommet proposé pour fin n’est plus le sommet: je le réduis à la recherche d’un profit puisque j’en parle. […]«.
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weiterhin sprachlicher Sinnstrukturen bedient. Die Erzähltechniken fallen in Le Bleu du ciel dabei wie auch in anderen Erzählungen Batailles weniger radikal aus, als es sein Entwurf der poetischen Sprache sowie deren Umsetzung in seinen aphoristischen, schwer zugänglichen philosophisch-theoretischen Werken L’expérience intérieure und Sur Nietzsche vermuten lassen. Ein Anhaltspunkt ist hier bereits die Tatsache, dass Le Bleu du ciel noch immer eine klar erkennbare, wenn auch unkonventionelle histoire mit voneinander abgegrenzten Figuren und zeitlich wie örtlich verorteten Schauplätzen aufweist. Die Paradoxie einer das vernünftig-diskursive Denken sprengenden Sprache und Schrift, welche schon Nietzsches selbstbezüglicher Vernunftkritik zugrunde lag und dessen philosophisch-literarisches Werk sowohl inhaltlich als auch formal prägte, fasst Bataille im Bild der zugleich schreibenden und »sterbenden« »Hand« – »cette main qui écrit est mourante et par cette mort à elle promise, elle échappe aux limites acceptées en écrivant (acceptées de la main qui écrit mais refusées de celle qui meurt)« –277 bzw. des ›Schreibens mit eigenem Blut‹. Letzteres, welches in Le Bleu du ciel mehrfach evoziert wird,278 geht auf einen Abschnitt des Ersten Teils von Also sprach Zarathustra mit dem Titel »Vom Lesen und Schreiben« zurück, in welchem Nietzsche den sich überwindenden und sich über alle Dinge erhebenden ›Übermenschen‹ metaphorisch als einen »mit Blut« schreibenden ›Autor‹ darstellt, dessen idealer ›Leser‹ sich seinerseits durch übermenschliche Eigenschaften auszeichnen müsse:279 Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist. Es ist nicht leicht möglich, fremdes Blut zu verstehen: ich hasse die lesenden Müssiggänger. Wer den Leser kennt, der thut Nichts mehr für den Leser. Noch ein Jahrhundert Leser – und der Geist selber wird stinken. Dass Jedermann lesen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das Denken. […] (Za I: Vom Lesen und Schreiben, KSA 4, 48) Auffällig ist bei Nietzsche hier noch einmal die (der poststrukturalistischen Texttheorie vorgreifende) Gleichsetzung von Leben und Text, welche Bataille in sein eigenes Schreibkonzept integriert und fortspinnt, denn er überträgt die Textstelle aus Also sprach Zarathustra im Vorwort zu Sur Nietzsche nun inhaltlich auf ihren Autor Nietzsche und stilisiert sich selbst als dessen ihm schreibend nachfolgenden ›Leser‹: 277 Georges Bataille, »Madame Edwarda« [darin: »Préface«], S. 12 (s. darin Fußnote*). 278 Vgl. Troppmanns Erinnerung, wie er sich als Schüler mit dem Füllfederhalter blutige Zeichen in den Handrücken ritzte (S. 454) oder sein Traum, wie er in einem Gebäude in Leningrad Wänden mit Kohleinschriften gegenübersteht, deren Zeichen an Blutspuren erinnern (S. 462). 279 Die Textstelle wird bereits in einer Fußnote am Ende von Kapitel 5.2.2 zitiert.
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En ce livre écrit dans la bousculade je n’ai pas développé ce point de vue théoriquement. Je crois même qu’un effort de ce genre serait entaché de lourdeur. Nietzsche écrivit »avec son sang« : qui le critique ou mieux l’éprouvre ne le peut que saignant à son tour.280 Die Symbolik von Blut und Tod zur Charakterisierung dieses Schreib- und Lebensstils verweist dabei auf eine doppelte durch ihn vollzogene ›Opferung‹: Dem vernünftigen Diskurs, der im Zuge des Schreibprozesses überschritten und der Verschwendung preisgegeben wird – »De la poésie, je dirai maintenant qu’elle est, je crois, le sacrifice où les mots sont victimes.« –,281 folgt das Subjekt auf dem Fuße. Es ist kein Zufall, wenn Bataille ausgerechnet im Nietzsche-Kapitel von L’expérience intérieure von der »[m]ise à mort de l’auteur par son œuvre« spricht.282 Barthesʼ erst mehr als zwanzig Jahre später formulierte These vom ›Tod des Autors‹283 wird hier durch Bataille in erstaunlicher Weise vorweggenommen. Wie andere Formen der Kunst und des Spiels erfüllt die Literatur, Bataille zufolge, daher letztlich eine rituelle oder gar religiöse Funktion: »La littérature se situe en fait à la suite des religions, dont elle est l’héritière. Le sacrifice est un roman, c’est un conte, illustré de manière sanglante.«284 Damit kehren wir gedanklich zur Ausgangsbetrachtung des Kapitels, zu Batailles Frage nach dem Wesen bzw. der eigentlichen Charakteristik des Menschseins zurück: Nicht vordergründig sein rationales Vermögen – so Batailles Kernthese in Lascaux ou la naissance de l’art – unterscheide den Menschen vom Tier oder einfacheren Arten der Gattung Homo, sondern das mit der rationalen Selbstreflexion einhergehende Bedürfnis, eben diese Vernunft in regelmäßigen Abständen zu überschreiten und eins zu werden mit einem religiös erlebten Zustand der Ganzheitlichkeit.285 Die Entstehung von Kunst und Spiel könne dabei als Symptom dieses Bedürfnisses verstanden werden, denn im künstlerischen oder spielerischen Ausdruck gelang es dem Menschen, sich über die ›Welt der Arbeit und Verbote‹ hinwegzusetzen.286 Die Vielzahl der sich in der Höhle von Lascaux überlagernden Bilder – meist Tier- bzw. vereinzelt Fantasiedarstellungen – betrachtet Bataille als Indiz für die Bedeutsamkeit des künstlerischen Aktes an sich, welchem gegenüber das jeweilige Werk selbst nahezu als zweitrangig erscheinen musste: Ce qui distingue en général les images de Lascaux est qu’elles s’intégraient dans des rites. Nous ne connaissons pas ces rites, mais nous devons penser que l’exécution de ces peintures en constituait l’une des parties. Tracer une figure n’était 280 281 282 283 284 285 286
Georges Bataille, Sur Nietzsche, S. 15. Georges Bataille, L’expérience intérieure, S. 156. Ebd., S. 174f. Roland Barthes, »La mort de l’auteur«. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 89. Vgl. Georges Bataille, Lascaux ou la naissance de l’art, v.a. S. 38-42. Ebd., S. 41f.
5 Georges Bataille und Le Bleu du ciel (1957): Das kosmische Streben nach Ganzheitlichkeit
peut-être pas, isolément, une cérémonie, mais c’en était l’un des éléments constitutifs. Il s’agissait d’une opération, religieuse ou magique.287 Literatur als gattungsübergreifender Sammelbegriff für jede Form der schriftstellerischen Manifestation, welche Bataille nicht grundsätzlich von anderen Kunstgattungen unterscheidet, zeigt sich demnach nicht nur als Abbild, sondern zugleich als Ausdruck des überströmenden, dionysischen Seins, welches jenseits der Vernunft, in Kunst und Spiel erfahrbar wird. Das entstehende Werk, der entstehende Text gewinnt damit – feststellbar war dies schon bei den bisher behandelten Autoren, so besonders bei Nietzsche selbst – den Charakter der Sakralität.
287 Ebd., S. 79. Vgl. Bernhard Teuber, »Sacrificium auctoris. Die Anthropologie des Opfers und das postmoderne Konzept der Autorschaft«, S. 131. Bernhard Teuber kommentiert den zitierten Abschnitt folgendermaßen: »In seiner Interpretation der Höhlenmalerei von Lascaux behauptet Bataille nicht nur den thematischen Bezug der Abbildungen zu transgressiven Akten wie der gewaltsamen Tötung der gejagten Tiere oder der obszönen Zurschaustellung des Ithyphallus, sondern die künstlerische Aktivität gewinnt Bataille zufolge selbst die Merkmale der Ritualität, so dass sie Teil des Festes wird«.
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6. Philippe Sollers’ Paradis (1981) und die Welt als vergöttlichter Text
6.1
›Le monde tel quel‹: Der Verzicht auf die ›Metaphysik der Anwesenheit‹
»Le langage est finalement le seul lieu où il soit possible d’accomplir la formule de Bataille […]: lever l’interdit sans le supprimer. C’est ce que fait Sollers: il lève l’interdit sans supprimer le langage […]«,1 schreibt Roland Barthes in der 1974 veröffentlichten, dem Werk Philippe Sollers gewidmeten 57. Ausgabe der Zeitschrift Tel Quel, wobei er unmissverständlich Batailles berühmte Formulierung aus L’Érotisme aufgreift: »[…] elle [la transgression] lève l’interdit sans le supprimer.«2 Barthes hat damit nicht nur richtig erkannt, dass auch schon Bataille das »jeu de balance« zwischen Verbot und Transgression,3 welches er dem menschlichen Sozialleben sowie der diesem eingeschriebenen Sprachstruktur zugrunde legt, in seinem Schreibstil aktualisiert, sondern dass es gerade dieser subversive Umgang mit Sprache und Literatur war, welcher ihn nach früheren wegweisenden Autoren sogenannter »textes de la rupture« bzw. »textes-limites«, wie etwa Dante, Sade, Lautréamont, Mallarmé und Artaud,4 zu einem der großen Vorbilder der losen, texttheoretisch ausgerichteten Gruppierung Tel Quel um die gleichnamige Zeitschrift werden ließ. Bataille hatte mit seiner 1946 gegründeten, bis heute fortbestehenden Zeitschrift Critique in den Vierziger- und Fünfzigerjahren, jungen Autoren, deren Arbeiten sich außerhalb der populären, die erste Jahrhunderthälfte dominierenden Strömungen des Surrealismus und Existenzialismus situierten, so etwa Vertretern des Absurden 1 2 3 4
Roland Barthes : »Situation«, in : Tel Quel, Nr. 57 (Printemps 1974), S. 17. Georges Bataille, L’Érotisme, S. 39. Ebd. Auf diese Autoren beruft sich Sollers in Logiques bei seinem Entwurf einer Texttheorie, s. Philippe Sollers: Logiques (Paris: Éditions du Seuil 1968), S. 9. Den Ausdruck »textes de la rupture« ersetzt er in einem Interview mit Jacques Henric durch jenen der »textes-limites«, s. Philippe Sollers: »Écriture et révolution. Entretien de Jacques Henric avec Philippe Sollers«, in : Théorie d’ensemble, hg. von Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Philippe Sollers (u.a.) (Paris : Éditions du Seuil 1968), S. 70ff.
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Theaters oder des Nouveau Roman, wie Robbe-Grillet oder Butor, ein Forum geboten und ihnen auf diese Weise zu mehr Bekanntheit verholfen.5 Auch dem sich mit der Gründung der Zeitschrift Tel Quel verknüpften Wunsch der jungen Schriftsteller Philippe Sollers (bürgerlich Philippe Joyaux), Renaud Matignon, Jean-Edern Hallier und Jean-René Huguenin,6 neue literarische Ausdrucksformen zu schaffen, welche sich sowohl theoretisch als auch praktisch zunächst am Nouveau Roman orientierten,7 zeigte sich Bataille von Anfang an aufgeschlossen. Er lernte Sollers 1960, im Gründungsjahr der Zeitschrift, zwei Jahre vor seinem Tod kennen.8 Von diesem Zeitpunkt an, bis über Batailles Tod hinaus, sollte Tel Quel einzelne unbekannte oder bislang unveröffentlichte Schriften Batailles herausgeben, so z.B. 1962, in der zehnten Nummer der Zeitschrift, seine »Conférences sur le Non-Savoir«.9 Symptomatisch für die Bedeutung Batailles als indirekter Ahnherr der Bewegung ist schließlich die Beteiligung prominenter Mitglieder bzw. Theoretiker Tel Quels, wie Philippe Sollers, Roland Barthes und Michel Foucault, an der Sonderausgabe »Hommage à Georges Bataille« der (durch Bataille gegründeten) Zeitschrift Critique im Jahre 1963 zu Batailles einjährigem Todestag,10 sowie ihre Mitwirkung 1972 am zehntägigen Colloque de Cerisy »Vers une révolution culturelle: Artaud, Bataille« unter der Leitung Philippe Sollersʼ.11 Die positive Aufnahme Batailles durch Vertreter der literarischen Bewegung Tel Quel darf nicht verwundern. Den entscheidenden Anknüpfungspunkt bot hier nicht im engeren Sinne das Normsprengende von Batailles Schreiben – im Hinblick auf literarische Regelbrüche zeigten sich der Surrealismus und der Nouveau Roman (wie auch andere frühe AvantgardeBewegungen) Bataille durchaus gewachsen, was unter den Mitgliedern von Tel Quel positiv gewürdigt wurde –,12 die literarisch-ästhetischen Besonderheiten bei Ba5
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Elisabeth Lange : »›Georges Bataille échappe à l’explication.‹ Zur Rezeption Batailles in der französischen Literaturkritik der sechziger und siebziger Jahre«, in: Bataille lesen: Die Schrift und das Unmögliche, hg. von Helga Finter (München: Fink 1992), S. 107f. Zu den ersten Mitgliedern der Zeitschrift, s. Niilo Kauppi: Tel Quel: La constitution sociale d’une avant-garde (Helsinki: Societas scientiarum fennica 1990), S. 24. Vgl. z.B. ebd., 28; bzw. Irmela Arnsperger: Die Texttheorie der Tel-Quel-Gruppe. Kritische Auseinandersetzung mit einer formalistischen Literaturkonzeption (Berlin: Freie Universität, Diss. 1975), S. 54 u. 61f. Philippe Forest : Philippe Sollers (Paris : Éditions du Seuil 1992), S. 14f. Ebd. S.a. Elisabeth Lange, »›Georges Bataille échappe à l’explication.‹«, S. 108. Foucault veröffentlicht darin den im vorangehenden Kapitel erwähnten Aufsatz »Préface à la transgression«, Barthes »La métaphore de l’œil« und Sollers »De grandes irrégularités de langage«; vgl. Elisabeth Lange, »›Georges Bataille échappe à l’explication.‹«, S. 101 u. 109. Philippe Forest, Philippe Sollers, S. 22. Der Surrealismus und Nouveau Roman dienen der Bewegung immer wieder als Schablonen ihres eigenen Selbstverständnisses, d.h. Tel Quel definiert sich selbst häufig im Verhältnis oder Gegensatz zur literarischen Praxis des Surrealismus oder des Nouveau Roman, s. z.B. Michel Foucault (u.a.) (1963) : »Débat sur le roman«, in : ders., Dits et écrits, I (Paris : Gallimard 2001), 366-418; Philippe Sollers : »Le réflexe de réduction«, in : Théorie d’ensemble, hg. von
6 Philippe Sollers’ Paradis (1981) und die Welt als vergöttlichter Text
taille sind vielmehr wie in der Tel Quel’schen Praxis, und dies in weit stärkerem Maße als in den genannten (Avantgarde-)Strömungen, an philosophisch-theoretische Erwägungen gebunden, welche sich an Nietzsches umfassende Metaphysikund Sprachkritik anschließen. Nietzsche hatte, wie Kapitel 2.3 zeigen konnte, nicht nur, der Methode des (sich auf Saussures Zeichen- und Strukturmodell berufenden) Strukturalismus vorgreifend, die platonisch-christliche Metaphysik als Sprachsystem, wie umgekehrt die Sprache (Nietzsche bezieht sich auf die indogermanische Sprachfamilie) als Ausdruck der ihr eingeschriebenen Metaphysik betrachtet, weshalb er den Begriff der »Sprach-Metaphysik« prägte (GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 5, KSA 6, 77), sondern er identifizierte diese ›Sprachmetaphysik‹, wie ein knappes Jahrhundert später poststrukturalistische Autoren, als totalisierendes System, welches das an sich irrationale, plurale und widersprüchliche Sein auf einen willkürlichen Ausschnitt begrenze und dabei andere Teile schlichtweg ausschließe.13 Seiner Metaphysikkritik liegt dabei die Einsicht zugrunde, dass ›Sinn‹, ähnlich wie ›Wahrheit‹, in der konkreten Lebenswelt nicht auf Dauer bestimmbar, sondern wandelbar, fließend bzw. »flüssig« sei (GM: Zweite Abhandlung 12-13, KSA 5, 315ff). Mit diesem Verweis verlässt Nietzsche den zu seinen Lebzeiten natürlich noch nicht etablierten Strukturalismus und leitet das poststrukturalistische Denken ein. Während der Strukturalismus, indem er Saussures statisches (da synchrones) Zeichen- und Strukturmodell14 auf das Sozialleben überträgt, davon ausgeht, dass Sinn zwar nicht von vornherein vorhanden, jedoch als »Effekt« der »Oppositionen« bzw. »Differenzen« innerhalb der Struktur konstruierbar sei,15 übernimmt der Post-strukturalismus zwar das linguistisch-strukturalistische Strukturmodell, hält der statisch-synchronen Betrachtungsweise des Strukturalismus dabei jedoch die Wandelbarkeit (Diachronie) der Sprache und das Phänomen der Sinnverschiebungen (wie es in Missverständnissen und Wortspielen zutage tritt) entgegen.16 Anders als der Strukturalismus, der mehr als geisteswissenschaftliche Methode zur Deutung bzw. Interpretation sozialer Erscheinungen zu verstehen ist und dabei noch immer den Erkenntnisoptimismus der Moderne erahnen lässt, kann der Poststrukturalismus als eine philosophische Strömung innerhalb der weit gefassten Postmoderne betrachtet werden,17 welche das Leben unter Rückbezug
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Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Philippe Sollers (u.a.) (Paris: Éditions du Seuil 1968), S. 392. Vgl. JGB: Neuntes Hauptstück 268, KSA 5, 221; GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 26, KSA 6, 128; Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, S. X u. 34. Vgl. Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, S. 5. Ebd., S. 6, 19f; vgl. Jacques Derrida, La différance, S. 50f. S. v.a. JGB: Neuntes Hauptstück 268, KSA 5, 221. Vgl. Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, S. 24, 29f u. 37. Vgl. Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, S. 19, 28 u. 171f.
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auf linguistisch-strukturalistische Kategorien einem Sprachgeschehen gleichsetzt, sich jedoch dezidiert vom neuzeitlich-modernen ›Logozentrismus‹ der platonischchristlichen Metaphysik absetzt.18 Tel Quel könnte dabei als Wiege dieser Strömung bezeichnet werden, denn maßgebende poststrukturalistische Ansätze namhafter Autoren wie Jacques Derrida, Michel Foucault, Roland Barthes oder Julia Kristeva, welche 1967 Philippe Sollersʼ Frau werden sollte,19 entstanden entweder parallel zu den ihnen thematisch verwandten Interessenschwerpunkten der Gruppe Tel Quel und den seit 1960 regelmäßig erscheinenden Ausgaben der gleichnamigen Zeitschrift, oder wurden direkt über Beiträge der Zeitschrift verbreitet. Während die Gründungsmitglieder Huguenin, Hallier und Matignon aufgrund von Unstimmigkeiten nach kurzer Zeit ausschieden, schlossen sich Philippe Sollers als dem Kopf der Gruppe, in den Folgejahren unterschiedliche Schriftsteller und Literaturtheoretiker an, wobei Jean-Louis Baudry, Marcelin Pleynet, Jean Ricardou, Denis Roche, Jean Thibaudeau und Julia Kristeva zu den bedeutendsten Mitgliedern zählen sollten.20 Wichtige Etappen bei der Ausarbeitung einer mehr oder weniger konsistenten Theorie der Bewegung Tel Quel waren neben der in der ersten Ausgabe erschienenen Gründungserklärung, das Colloque de Cerisy von 1963 »Une littérature nouvelle?« unter der Leitung Pleynets und Sollersʼ,21 Philippe Sollersʼ literaturtheoretische Essaysammlung Logiques (1968), von der er in einem Interview, dem die Gattungsgrenzen sprengenden écriture-Konzept der Gruppe entsprechend behauptet, es handle sich weder um »un essai« noch um »un recueil«, sondern um eine »sorte de machine de lecture«,22 und schließlich, wie es der Titel bereits suggeriert, die große Théorie d’ensemble (1968),23 eine Zusammenstellung theoretischer Arbeiten und Interviews der vorausgehenden Jahre, welche durch drei bedeutsame Aufsätze von Foucault, Barthes und Derrida eingeleitet werden. Einer davon ist die erste Druckversion von Derridas bahnbrechendem Vortrag »La différance« desselben Jahres, welcher bis heute einen unverzichtbaren Grundpfeiler des poststrukturalistischen Diskurses darstellt. Schon 1967, ein Jahr zuvor, hatte Derrida sein umfassendes Werk De 18 19 20 21
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Zur poststrukturalistischen Kritik am ›Logozentrismus‹ vgl. ebd., S. 42ff; Klaus W. Hempfer,Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, S. 18. Philippe Forest, Philippe Sollers, S. 19f. Niilo Kauppi, Tel Quel, S. 33-44.; Klaus W. Hempfer, Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, S. 7. Das genannte »Colloque« erscheint 1964 in gedruckter Form in der 17. Nummer der Zeitschrift. Besonders zu erwähnen ist die durch Michel Foucault moderierte Diskussion »Débat sur le roman«, in welcher die Autoren das Verhältnis von sprachlicher Praxis und Wirklichkeit untersuchen und dabei ihre Vorstellung von Literatur wiederholt mit dem Surrealismus und Arbeiten Robbe-Grillets konfrontieren, s. Michel Foucault (u.a.), »Débat sur le roman«. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 70. Zur Tel Quel’schen Theoriebildung, vgl. Klaus W. Hempfer, Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, S. 7f.
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la grammatologie sowie die Aufsatzsammlung L’écriture et la différence veröffentlicht, welche bezeichnenderweise in der seit 1963 bestehenden »Collection ›Tel Quel‹« erschien. Durch die einzelnen Abhandlungen der Théorie d’ensemble hindurch, erweist sich Derrida unzweideutig als die zentrale Bezugsgröße.24 Derridas Arbeiten – so vor allem De la grammatologie und L’écriture et la différence – hätten, Sollers zufolge, jenes »concept d’écriture« entworfen, welches Tel Quel »à travers l’expérience ›littéraire‹« umzusetzen versuche.25 Diese écriture sei jedoch, wie Sollers betont, nicht zu verwechseln mit der »écriture au sens courant«, der »phonetischen Schrift« als der grafischen, jederzeit eindeutig dechiffrierbaren »représentation de la parole«.26 Tatsächlich wendet sich Derrida, ausgehend vom strukturalistischen Zeichenund Strukturmodell, mit der nur in der Schrift wahrnehmbaren Wortschöpfung différance aus dem französischen Substantiv différence (dt. ›Unterschied‹) und dem Partizip Präsens différant des Verbs différer (dt. ›unterschiedlich sein‹ bzw. ›verschieben‹) gegen das »logozentrische« und damit »phonozentrische« Denken,27 welches in seiner Ausrichtung auf schnelle und effektive Kommunikation, die Schrift als bloßes Abbild der Sprechsprache und jedes Zeichen als direkten Platzhalter eines immer schon ›präsenten‹, eindeutigen Sinns begreift: »Le signe, dit-on couramment, se met à la place de la chose même, de la chose présente […] le signe […] n’est pensable qu’à partir de la présence qu’il diffère […]«.28 Diese »Ontologie« oder »Metaphysik« der »présence«29 versucht Derrida nun mit dem, was er behelfsweise dif24
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S. z.B. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 70f : »Deux séries de travaux viennent en ce point soutenir notre tentative : ceux de Jacques Derrida qui viennent de bouleverser pour longtemps toute la tradition de la pensée métaphysique de l’écriture, et ceux de Julia Kristeva visant à fonder théoriquement la recherche sémiotique. […] il faut renvoyer, là encore, aux travaux révolutionnaires de Derrida.«; Philippe Sollers : »Le réflexe de réduction«, S. 397 : »Derrida […] dont Tel Quel a fortement souligné les écrits […]«. Philippe Sollers, »Le réflexe de réduction«, S. 397; s.a. z.B. Philippe Sollers : »L’écriture fonction de transformation sociale«, in : Théorie d’ensemble, hg. von Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Philippe Sollers (u.a.) (Paris : Éditions du Seuil 1968), S. 401 : »Il faut tenir compte, en ce point, des travaux décisifs de Jacques Derrida (De la Grammatologie, l’Écriture et la Différence) […]«. Philippe Sollers : »Niveaux sémantiques d’un texte moderne«, in : Théorie d’ensemble, hg. von Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Philippe Sollers (u.a.) (Paris : Éditions du Seuil 1968), S. 318. Zu Derridas Verwendung der Begriffe ›Logozentrismus‹ und ›Phonozentrismus‹, s. v.a. Jacques Derrida, De la grammatologie, S. 23 : »La notion de signe implique toujours en ellemême la distinction du signifié et du signifiant […] Elle reste donc dans la descendance de ce logocentrisme qui est aussi un phonocentrisme: proximité absolue de la voix et de l’être, de la voix et du sens de l’être, de la voix et de l’idéalité du sens.« Jacques Derrida, »La différance«, 47f. Ebd., S. 47f, 54f u. 60, v.a. S. 55 u. 60 (»ontologie [de la présence]«); Jacques Derrida, »La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines«, S. 412: »[…] la métaphysique de la présence«; Jacques Derrida, De la grammatologie, z.B. S. 36, 38 u. 71.
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férance nennt – was jedoch, wie er unterstreicht, weder ein »Wort«, noch ein »Konzept« sei, da es anders als das metaphysische Zeichen gerade nicht auf ein ›präsentes‹ »Seiendes« verweise –,30 zum Einsturz zu bringen: »[…] c’est la dominance de l’étant que la différance vient solliciter, au sens où sollicitare signifie, en vieux latin, ébranler […] faire trembler en totalité«.31 Entgegen dem strukturalistischen und damit, wie Derrida zu verstehen gibt, noch immer logozentrischen Anspruch, dass die Sinnhaftigkeit jedes aus dem zunächst arbiträren Verhältnis von Zeichenkörper und -inhalt bestehenden Zeichens über den »Effekt« der ›Differenzen‹ bzw. ›Oppositionen‹ zu anderen Zeichen gewährleistet werde,32 bestreitet Derrida die Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung von Sinn. Statt der strukturalistischen ›Differenz‹ oder différence als des Zustands nach der Sinndifferenzierung, postuliert Derrida daher, indem er auf das dem Substantiv différence zugrunde liegende Verb différer in der Grundbedeutung ›verschieben‹ und dabei auf die zwischen Aktiv und Passiv schwankende Partizip-Präsens-Form verweist,33 die différance als die stete ›Verschiebung‹ des Sinns, welche unter der Oberfläche jedes scheinbar noch so vernünftigen Diskurses wirksam sei. Seine These veranschaulicht er dabei anhand des Neologismus différance selbst, denn die sowohl durch den Zuhörer als auch den unaufmerksamen oder naiven Leser angesichts der grafischen und lautlichen Ähnlichkeit von différance und différence zunächst selbstverständlich vermutete Bedeutung ›Unterschied‹ (fr. différence), erweist sich bei genauerer Betrachtung als ›verschoben‹ bzw. schwankend. Dabei ist entscheidend, dass diese Verschiebung allein in der Schriftsprache wahrnehmbar ist, während sie in der Lautung unerkannt bleibt.34 Derrida gelingt es damit, die von ihm kritisierte Vormachtstellung der Sprech- gegenüber der Schriftsprache infrage zu stellen. Sollers würdigt es in der Théorie d’ensemble als Derridas Verdienst, dieses »primat donné par la pensée du symbole et du signe à la parole sur l’écriture« und die »subordination« der écriture als »simple ›signe de signe‹« aufgedeckt zu haben.35 Die strukturalistische »sémiologie générale« als die ›allgemeine Zeichenlehre‹, ersetzt Derrida folglich durch die »grammatologie« als die ›Lehre von der Schrift‹.36 Diese versteht er als »travail critique sur tout ce qui dans la sémiologie et jusque dans son concept matriciel – le signe – retenait des présupposés métaphysiques incompatibles avec le motif de la différance«.37 Unverkennbar tritt er damit das Erbe Nietzsches an, auf des30 31 32 33 34 35 36
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Jacques Derrida, »La différance«, S. 44f u. 48. Ebd., S. 60. Ebd., S. 49f. Ebd., S. 46f. Ebd., S. 42f. Philippe Sollers, »L’écriture fonction de transformation sociale«, S. 400f. Jacques Derrida, De la grammatologie, S. 74: »Par une substitution qui ne serait rien moins que verbale, on devrait donc remplacer sémiologie par grammatologie dans le programme du Cours de linguistique générale […]«. Jacques Derrida, »La différance«, S. 54.
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sen umfassende Metaphysikkritik er selbst das ›Schwinden‹ der »présence« sowie das zunehmende »décentrement« innerhalb des Geisteslebens zurückführt.38 So sei bereits »Nietzsches Denken« als »critique de la philosophie […] comme système de réduction ou de répression« zu verstehen und sein Konzept der ›ewigen Wiederkehr‹ impliziere nichts anderes als den Gedanken der différance, denn scheinbare Gegensätze erwiesen sich in ihr, wie in der différance, als hinfällig: On pourrait ainsi reprendre tous les couples d’opposition sur lesquels est construite la philosophie et dont vit notre discours pour y voir non pas s’effacer l’opposition mais s’annoncer une nécessité telle que l’un des termes y apparaisse comme la différance de l’autre, comme l’autre différé dans l’économie du même […] C’est à partir du déploiement de ce même comme différance que s’annonce la mêmeté de la différence et de la répétition dans l’éternel retour. […] Nous pourrons donc appeler la différance cette discorde »active« […] que Nietzsche oppose à tout le système de la grammaire métaphysique partout où elle commande la culture, la philosophie et la science.39 Nietzsches Angriff auf die als dogmatisch empfundene Metaphysik des Abendlandes liest Derrida demnach in erster Linie als Sprachsubversion und damit als Angriff auf den Zeichenbegriff, wobei er paradigmatisch für den durch ihn mitbegründeten Diskurs des Poststrukturalismus, das durch Nietzsche Kritisierte, den Glauben an ein absolut Transzendentes als das im engeren Sinne Metaphysische – sei dieses Gott, das Subjekt, Wahrheit oder Vernunft –, kurzerhand der Bedeutungsebene des Zeichens als dem sogenannten »signifié transcendantal« gleichsetzt: »[…] c’est à l’aide du concept de signe qu’on ébranle la métaphysique de la présence«.40 Ein Zeichen, welches, noch während es auf ein »élément dit ›présent‹« verweist, schon auf einen neuen Inhalt hin verschoben wird, dabei nur mehr »la marque de l’élément passé« in sich trägt, jedoch auch »l’élément futur« nur anzudeuten vermag, somit ein Zeichen, dessen Ursprung im Zuge der différance verwischt wird, dessen Zielpunkt jedoch ebenso verschleiert bleibt, nennt Derrida, um es vom metaphysischen Zeichen zu unterschieden, trace (dt. ›Spur‹).41 Das »Spiel« der traces ergibt jene Art von écriture, welche Derrida anstrebt : »[…] un jeu de traces, il faut bien que ce soit une sorte d’écriture avant la lettre, une archi-écriture sans origine présente, sans archie«.42 Er stellt dabei selbst fest, dass die Vorstellung einer nicht-kommunikativen, entreferenzialisierten ›écriture‹ im Grunde nicht auf 38 39 40 41 42
Jacques Derrida, »La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines«, S. 411f.; Jacques Derrida, »La différance«, S. 56f. Jacques Derrida, »La différance«, S. 56f. Jacques Derrida, »La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines«, S. 412. Jacques Derrida, »La différance«, S. 51f. Ebd., S. 54.
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den Bereich des Schriftlichen begrenzt ist, sondern sich als »écriture généralisée« auch auf jenen des Gesprochenen erstreckt: »Nous pensons au contraire que la langue orale appartient déjà à cette écriture. Mais cela suppose une modification du concept d’écriture […].«43 Mit diesem veränderten écriture-Konzept hebt Derrida nicht nur den absoluten Gegensatz zwischen Sprech- und Schreibsprache auf, sondern relativiert letztlich seine eigene Polemik gegen die Vorherrschaft der Sprechsprache.44 Streng genommen wenden sich Derrida und die sich auf Derridas écriture-Konzept gründende Gruppierung Tel Quel nämlich nicht gegen das gesprochene Wort, sondern gegen dessen »catégorie d’expression«45 , den ihm zugewiesenen unmittelbaren »Sinn«, welchen die Vertreter von Tel Quel nach Derridas Beispiel als »signifié transcendantal« bezeichnen.46 Dieses setzen sie dem außersprachlichen »Referenten« des Sprechaktes, der konkreten »chose« gleich, und grenzen es nachdrücklich vom Saussure’schen signifié, dem abstrakten Vorstellungsbild ab:47 »La ›disparition‹ porte donc non pas sur le signifié, […] au contraire il s’agissait de faire apparaître le signifié comme signifiant«.48 Bezeichnend für die phonozentrische Glorifizierung des »signifié transcendental« ist, Sollers zufolge, die Dominanz der phonographischen Schriftsysteme, welche die Lautung der gesprochenen Sprache in der Schrift wiederzugeben versuchen, so dass diese zum Spiegelbild des Gesprochenen und dessen impliziten Sinnes wird.49 Eine besondere Faszination üben auf Tel Quel daher ferne Kulturen aus,50 welche in Opposition zum abendländischen Phonozentrismus, von alternativen Schriftsystemen Gebrauch machen. »[…] [I]l est immédiatement visible que le fait de ne pas employer une écriture phonétique suppose une tout autre économie que celle dans laquelle nous nous produisons.«,51 antwortet Sollers in einem Interview auf die Frage, welche Bedeutung die chinesischen Zeichen in seinem 1968 veröffentlichten ›Roman‹ Nombres hätten. China und seine lange Tradition pikto-, ideo- und logografischer Schriftzeichen, welche nicht Laute, sondern Vorstellungsbilder, d.h. Signifikate, auf Begriffs- oder Morphemebene darstellen und somit unabhängig von ihren jeweiligen lautlichen Realisierungen 43 44 45 46 47
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Jacques Derrida, De la grammatologie, S. 81. Vgl. Klaus W. Hempfer, Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, S. 16. Philippe Sollers, »Niveaux sémantiques d’un texte moderne«, S. 319. Philippe Sollers, »L’écriture fonction de transformation sociale«, S. 401. Roland Barthes (1968) : »Drame, poème, roman«, in : Théorie d’ensemble, hg. von Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Philippe Sollers (u.a.) (Paris : Éditions du Seuil 1968), S. 35. Philippe Sollers, »Le réflexe de réduction«, S. 397. Vgl. Philippe Sollers, »Niveaux sémantiques d’un texte moderne«, S. 318; Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 77. Vgl. Philippe Sollers, Logiques, S. 11. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 73.
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verständlich sind,52 erweist sich über viele Jahre in der Tat als zentraler Bezugspunkt der Tel Quel’schen Theoriebildung. Verstärkt wird diese Sympathie durch die linksrevolutionäre Positionierung der Gruppe, welche sich nach der Abkehr vom französischen Parti communiste dem chinesischen Maoismus zuwandte. Philippe Sollers, der Chinesisch-Unterricht nahm, übersetzte für die vierzigste Ausgabe von Tel Quel 1970 so etwa zehn Gedichte Mao Zedongs aus dem Chinesischen.53 Die Doppelnummer 48/49 sowie die einige Monate später folgende fünfzigste Ausgabe der Zeitschrift im Jahre 1972 stehen bereits ihrem Titel nach – »Chine« und »Chine 2« – eindeutig im Zeichen der chinesischen Bewegung. Deren Höhepunkt ist mit der China-Reise erreicht, welche Sollers, Kristeva, Barthes und Pleynet 1974 gemeinsam unternehmen54 und anschließend in der im gleichen Jahr veröffentlichten, »En Chine« betitelten 59. Nummer der Zeitschrift thematisieren. In Nombres, seinem nach Drame (1965) zweiten der Theorie Tel Quels geschuldeten Erzähltext,55 welchen er trotz seiner mehr als unkonventionellen Form noch immer als ›Roman‹ verstanden wissen will,56 stellt Sollers der phonozentrischen »métaphysique occidentale (platonicienne)« nicht nur die Schriftzeichen Chinas gegenüber, sondern – der Titel weist bereits darauf hin – die ebenfalls ideografischen Zahlzeichen der »pensée orientale«.57 Diese »Spuren« ferner Kulturen begännen, so Sollers, »notre système linguistique« zu »überdenken« bzw. zu »überwinden«, und kündigten die »Wiederkehr« des durch dieses System »Verdrängten« an.58 Zielscheibe der Tel Quel’schen Metaphysik- und Sprachkritik ist daher die herrschende idealistischbürgerliche59 »idéologie« »expressive«, »représentative« oder »parlante«, der zufolge jeder »acte de parole« einen »Sinn«, d.h. ein »signifié transcendental« »über52
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Vgl. ebd., S. 73 u. 77. Vgl. a. Achim Stein: Einführung in die französische Sprachwissenschaft (Stuttgart: Metzler 2005), S. 23. Stein stellt fest, dass »auch« »Alphabetenschriften« »ideographische Merkmale« aufwiesen. Dies trete beispielsweise dann auf, wenn in einer Sprache nach Festsetzung des gültigen »Schreibsystems« »wichtige Lautveränderungen« erfolgten, wodurch die Schreibung zum einzigen, semantisch oder grammatisch unterscheidenden Merkmal gleichlautender Wörter werde. Im Französischen sei »die ideographische Funktion« »besonders ausgeprägt«. Als Beispiel nennt Stein neben dem Gleichklang von Wörtern wie ver/verre/vers bzw. cent/sang/sans auch jenen von Konjugationsformen. Bei seiner Wortschöpfung différance macht sich Derrida unbewusst bzw. ohne näher darauf einzugehen, gerade diese Eigenart des Französischen zunutze. Philippe Forest, Philippe Sollers, S. 20-22. Ebd., S. 23. Ebd., S. 19f. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 71 : »Quant à Nombres c’est bien un roman, en ceci que le procès narratif y est à la fois radiographié et porté au-delà de lui-même. C’est un roman qui vise à rendre impossible l’exploitation romanesque et ses effets mystifiants.« Ebd., S. 74f. Ebd., S. 78. Tel Quel spricht auch von der »idéologie bourgeoise« bzw. vom »idéalisme bourgeois«, s. Philippe Sollers (u.a.) : »Réponse à la Nouvelle Critique«, in : Théorie d’ensemble, hg. von Michel
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setze«, »aktualisiere« oder »verkörpere«.60 Ein wesentliches Merkmal dieser Ideologie sei, so Sollers, die »linéarité«, der feste Glaube an die ›lineare‹, eindeutige Zuordnung von Sinn, und damit verbunden, der Ausschluss bzw. die »Zensur« aller Elemente, welche sich einer klaren Zuordnung entziehen. Opfer der »histoire de la censure« seien schwer zugängliche Autoren wie Dante, Sade, Mallarmé und Georges Bataille, auf welche sich die Autoren um Tel Quel im Umkehrschluss berufen.61 Das Hauptanliegen Derridas, Tel Quels sowie sämtlicher poststrukturalistischer Autoren ist es folglich, die ›Linearität‹ der »pseudo-culture bourgeoise« zu untergraben und auf diese Weise ihre »retards«, »censures« und »fantasmagories« zu »demaskieren«.62 Die auf Zeichenebene bewusst eingesetzte »dissymétrie signifiant-signifié«63 entspricht dabei auf Textebene der »non-expressivité radicale«64 , denn die Tel Quel’sche écriture versteht sich nicht als »représentation« einer außersprachlichen Realität oder »histoire«,65 sondern gerade als deren »anti-représentation«.66 Nietzsches berühmter Ausspruch »Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben« (GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 5, KSA 6, 78) sowie sein mahnendes Fragen »Ist es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben?« (JGB: Zweites Hauptstück 34, KSA 5, 54) wird hier durch Tel Quel wortwörtlich genommen. Nach der nietzscheanischen Verabschiedung der großen Hypostasen der platonisch-christlichen Metaphysik – Gott, das Subjekt, Wahrheit und Sinn –, attackieren die poststrukturalistischen Autoren um Tel Quel, beeinflusst durch Nietzsches sprachkritische Überlegungen, die am tiefsten verankerte Schicht der unbewussten Metaphysik: Die Sprache als sinnstiftendes Kommunikationssystem und den ihr eingeschriebenen Glauben an Sinn und Kausalität bis hin zu ihrem kleinsten Baustein, dem Zeichen. Nietzsches ›Tod Gottes‹, welcher – Sollers Rede von den »catégories théologiques de sens« macht dies noch einmal deutlich – mit jenem des »Subjekts« und der Einbuße von »Wahrheit« und »Sinn« zusammenfällt, resultiert in einem entreferenzialisierten, anonymen Schreiben, welches auf jegliche »représentation«, sei dies die Darstellung einer ›Geschichte‹ oder einer Figur verzichtet67 und so bewusst der Bezeichnung »Werk« oder »Buch« zuwiderläuft,
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Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Philippe Sollers (u.a.) (Paris : Éditions du Seuil 1968), S. 386f. Philippe Sollers, »L’écriture fonction de transformation sociale«, S. 401. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 70f. Philippe Sollers (u.a.), »Réponse à la Nouvelle Critique«, S. 390. Philippe Sollers, »Le réflexe de réduction«, S. 397. Philippe Sollers, Logiques, S. 13. Ebd., S. 11ff; Philippe Sollers, »Le réflexe de réduction«, S. 397. Jean Ricardou, Pour une théorie du nouveau roman, S. 263 u. 265. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 72. Vgl. Philippe Sollers, »Le réflexe de réduction«, S. 397 (hier das Gegenmodell des eigenen Schreibens) : »[…] l’idéalisme phénoménologique
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gleichzeitig als Schreiben ›von niemandem‹ den Werkautor in den Hintergrund drängt.68 In manchen Punkten übernimmt Tel Quel damit Techniken und philosophisch-theoretische Prämissen des Nouveau Roman, an welchem sich die Gruppe in den Jahren ihrer Konstituierung stark orientierte, wie das durch Sollers und Pleynet moderierte Colloque de Cerisy von 1963 und Sollersʼ früher, am Nouveau Roman ausgerichteter Erzähltext Le parc zeigen.69 Die Gemeinsamkeit ihrer literarischen Produktion besteht im Wesentlichen in der – wie Sollers in einem Beitrag zu Robbe-Grillets Romankunst formuliert – »contestation du roman psychologique et bourgeois«70 und der damit verbundenen Negierung des neuzeitlich-modernen Anthropozentrismus und Erkenntnisoptimismus. Diese durch beide Strömungen einhellig vertretene, vernunftskeptische Haltung beschreibt Robbe-Grillet in seiner 1963, parallel zu den ersten Arbeiten von Tel Quel herausgegebenen Programmschrift Pour un nouveau roman, einer Sammlung von Aufsätzen der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre, folgendermaßen: Notre monde, aujourd’hui, est moins sûr de lui-même, plus modeste peut-être puisqu’il a renoncé à la toute-puissance de la personne, mais plus ambitieux aussi puisqu’il regarde au-delà. Le culte exclusif de »l’humain« a fait place à une prise de conscience plus vaste, moins anthropocentriste. Mit dem Impetus der Zeitenwende erklärt so auch Robbe-Grillet die der »civilisation gréco-chrétienne«71 zugehörigen Erzählkategorien des »personnage«, der »histoire« und des »engagement« zu »notions périmées«, ›veralteten‹, ›überholten‹ Begriffen, wobei er, vorgreifend auf die Schreibpraxis Tel Quels, die »forme« oder »écriture« gegenüber dem »contenu« oder der »anecdote« des Erzähltextes aufwertet bzw. die herkömmliche Trennung zwischen Form und Inhalt für nichtig erklärt.72 Wenn er schreibt, dass die »nature […] éternelle et inaliénable« von nun an »keinen Gott« mehr zu ihrer Rechtfertigung »benötige« und dass es dem Menschen
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qui croit toujours à un texte vrai et dernier, à un sens originaire, idéologie de l’écriture comme ›vérité‹.« S.a. Philippe Sollers, »Niveaux sémantiques d’un texte moderne«, S. 322: »C’est donc peu dire que ›le personnage‹ disparaît de la narration ainsi que le nom propre […]«. Vgl. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 68: »[…] en dénonçant systématiquement la valorisation métaphysique des concepts ›d’œuvre‹ et ›d’auteur‹; en mettant en cause l’expressivité subjective ou soi-disant objective […]«; s.a. in Derridas De la grammatologie die Kapitelüberschrift »La fin du livre et le commencement de l’écriture«, Jacques Derrida, De la grammatologie, S. 15. Philippe Forest, Philippe Sollers, S. 16; Niilo Kauppi, Tel Quel, S. 28. Philippe Sollers: »Alain Robbe-Grillet: Pour un nouveau roman«, in: Tel Quel, Nr. 18 (Été 1964), S. 93. Alain Robbe-Grillet (1958) : »Nature, humanisme, tragédie«, in : ders., Pour un nouveau roman (Paris : Gallimard 1963), S. 65. Alain Robbe-Grillet (1957) : »Sur quelques notions périmées«, in : ders., Pour un nouveau roman (Paris : Gallimard 1963), 29-53.
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durch einen neutralen Blick auf die Natur möglich sei, dem »pacte métaphysique« zu entgehen,73 wird deutlich, dass auch er den Verzicht auf »cet univers des ›significations‹ (psychologiques, sociales, fonctionnelles)«74 als einen Bruch mit dem althergebrachten »système métaphysique«75 des Abendlandes deutet. Die bereits im Nouveau Roman auffällige Infragestellung der literarischen Mimesis – »le roman«, so Ricardou, »ce n’est plus un miroir qu’on promène le long d’une route« –76 ist, wie bei Tel Quel, nicht in erster Linie als Skepsis gegenüber der menschlich-rationalen Erkenntnisfähigkeit zu verstehen, sondern resultiert grundsätzlich aus einer Weltsicht, welche das positivistische »Bild« eines »univers stable, cohérent, continu, univoque, entièrement déchiffrable«77 bestreitet. In Robbe-Grillets Fazit »Or le monde n’est ni signifiant ni absurde. Il est, tout simplement.«78 klingt dabei bereits der in der Gründungserklärung erläuterte Kerngedanke von Tel Quel an. Das Denken und Schreiben, so heißt es in der ersten Ausgabe, sei von nun an keinen »moralischen«, »politischen« oder »ideologischen« Zwecken mehr unterworfen, sondern bilde die »connivence« oder »intimité«, das ›komplizenhafte Einverständnis‹ zwischen Mensch und Welt.79 Letztere beschreiben die Gründungsmitglieder als »ce monde TEL QUEL, l’étendue infinie de sa richesse et de son possible«, die »Welt« »so, wie sie ist« – bunt, vielfältig und in ihrer Pluralität widersprüchlich –, als deren Teil sich der Schreibende erkennt und in ihr aufgeht: Et peut-être pourrons-nous qualifier de beau, oui, tout ce qui, par la complication harmonieuse de son architecture, par la logique mais aussi par l’étrangeté nécessaire de sa nature, nous force à réconcilier les contraires, à confirmer la certitude de certains moments; à nous dissoudre entièrement […] La beauté littéraire […] sera ainsi plus qu’artistique. Dégagée de la réalité qui nous importe davantage, elle touchera aux qualités qui établissent dans l’instant nos rapports entre nous et nous […]. Vouloir le monde, et le vouloir à chaque instant, suppose une volonté de s’ajouter la réalité en la ressaisissant et, plus qu’en la contestant, en la représentant. Alors, l’œuvre pourra vraiment devenir, selon le mot de Valéry, un »édifice enchanté«.80 Neben der Nennung Paul Valérys (1871-1945) und dem indirekten Verweis auf seine 1941 veröffentlichte, gleichnamige Aphorismensammlung, welche, wie Valéry 73 74 75 76 77 78 79 80
Alain Robbe-Grillet, »Nature, humanisme, tragédie«, S. 63 u. 65. Alain Robbe-Grillet (1956) : »Une voie pour le roman futur«, in : ders., Pour un nouveau roman (Paris : Gallimard 1963), S. 23. Alain Robbe-Grillet, »Nature, humanisme, tragédie«, S. 60. Jean Ricardou, Pour une théorie du nouveau roman, S. 262. Alain Robbe-Grillet, »Sur quelques notions périmées«, S. 37. Alain Robbe-Grillet, »Une voie pour le roman futur«, S. 21. Philippe Sollers (u.a.) : »Déclaration«, in : Tel Quel, Nr. 1 (Printemps 1960), S. 3f. Ebd., S. 4.
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im Vorwort seines Werkes schreibt, im Kontext verschiedener Themengebiete unterschiedliche Spielarten von Wahrheit zu beleuchten versucht,81 schließt sich die »Déclaration« der frisch gegründeten Bewegung Tel Quel inhaltlich an den berühmten 56. Abschnitt aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse an,82 dessen französische Übersetzung der ersten Ausgabe von Tel Quel in abgewandelter Form programmatisch vorangestellt ist: Je veux le monde et le veux TEL QUEL, et le veux encore, le veux éternellement, et je crie insatiablement : bis! et non seulement pour moi seul, mais pour toute la pièce et pour tout le spectacle; et non pour tout le spectacle seul, mais au fond pour moi, parce que le spectacle m’est nécessaire – parce qu’il me rend nécessaire – parce que je lui suis nécessaire – et parce que je le rends nécessaire.83 Die im Unterschied zur deutschen Originalfassung verwendete erste Person Singular sowie die chiastische Fügung aus »être nécessaire« und »rendre nécessaire« mit wechselndem Subjekt (»le spectacle«, »je«) und verdrehten Subjekt-ObjektBezügen, statt der parallelen Satzstruktur aus »nöthig haben« und »nöthig machen« mit gleichbleibendem Subjekt, aber wechselndem Objekt, unterstreicht, mehr als in Nietzsches Version, die reziproke Beziehung bzw. Verschmelzung von ›Welt‹ und ›Mensch‹ in der mystischen Erfahrung der ›ewigen Wiederkehr‹ und rückt zugleich das ›übermenschliche‹, diese Verschmelzung erlebende Einzelsubjekt in den Mittelpunkt. Der Titel Tel Quel – »so wie es war und ist« (JGB: Drittes Hauptstück 56, KSA 5, 75; s. Fußnote u.) – bezeichnet dabei nicht nur die in sich kreisende, unverfälschte Welt jenseits der menschlichen Metaphysik, 81
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Paul Valéry : Tel Quel (Paris : Gallimard 1941), S. 7f (»Avis de l’Éditeur«) : »Sous un titre aussi sincère qu’on le voudra, on a réuni dans le présent volume quatre petits recueils […] Chacun d’eux contient à l’état d’aphorismes, de formules, de fragments ou de propos, voire de boutades, mainte remarque ou impression venue à l’esprit, ça et là, le long d’une vie […] à l’occasion de tel incident dont le choc, tout à coup, illumina une vérité instantanée, plus ou moins vraie […] Vérités ou non, les idées ou ombres d’idées ici rassemblées peuvent se ranger sous trois ou quatre chefs assez différents […].« JGB: Drittes Hauptstück 56, KSA 5, 74f, v.a. S. 75: »[…] wer wirklich einmal mit einem asiatischen und überasiatischen Auge in die weltverneinendste aller möglichen Denkweisen hinein und hinunter geblickt hat – jenseits von Gut und Böse […] –, der hat vielleicht ebendamit, ohne dass er es eigentlich wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem, der gerade dies Schauspiel nöthig hat — und nöthig macht: weil er immer wieder sich nöthig hat — und nöthig macht — — Wie? Und dies wäre nicht — circulus vitiosus deus?« Philippe Sollers (u.a.), »Déclaration«, S. 2.
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sondern auch ihr Abbild bzw. ihre Fortsetzung in der Schrift. Deutlich wird hier, dass es Tel Quel, wie anderen poststrukturalistischen Autoren, bei aller Polemik gegen die Darstellungsfunktion von Literatur, im Grunde doch um eine Art der Mimesis geht. Dass ihre Arbeiten einstimmig als antidarstellend wahrgenommen werden, liegt streng genommen nicht an der Loslösung von jeglicher Referenzialität, sondern an ihrer Neudefinition von Realität. Diese wird als ungeordnet, verworren, widersprüchlich und somit als undurchschaubar begriffen und bildet das Gegenteil der neuzeitlich-positivistischen Weltsicht. Mit dem Hinweis auf die nietzscheanischen Themen der ›ewigen Wiederkehr‹ und des ›Übermenschen‹, und die im Medium der écriture vollzogene ›Versöhnung‹ zwischen Mensch und Welt übertrifft Tel Quel bereits in seiner Gründungserklärung die Metaphysikkritik des Nouveau Roman. Entgegen ihrer gemeinsamen Ausgangsprämissen sowie, damit verknüpft, gewisser verfahrensmäßiger Übereinstimmungen, welche Ricardou so etwa in den Kategorien »personnage«, »formalisation« und »représentation« feststellt,84 gehen der Nouveau Roman und Tel Quel, wie sich zeigen wird, letzten Endes unterschiedliche Wege. Dieser grundsätzliche Unterschied, den Sollers in einer kritischen Stellungnahme zum Nouveau Roman mit der Behauptung andeutet, Robbe-Grillets Schreiben sei »essentiellement le contraire de l’expérience mystique ou extatique consistant à sortir de soi pour se perdre«,85 besteht in der typisch postmodernen Wendung, welche Tel Quel im Zuge der Verabschiedung der abendländischen Metaphysik vollzieht. Anders als der Nouveau Roman, der gleichsam in die Muster der durch ihn kritisierten Metaphysik zurückfällt und sich damit weiterhin als moderne Erscheinung erweist – zu eben diesem Schluss kommt auch Sollers –,86 gelingt Tel Quel, um in nietzscheanischen Formeln zu sprechen, eine Überwindung der nachmetaphysischen Tragik. Tel Quel und der Nouveau Roman unterscheiden sich schließlich auch durch ihr Selbstverständnis bzw. ihre Öffentlichkeitswirkung. Während der Nouveau Roman als Stilrichtung einer losen, heterogenen Gruppe von Autoren zu begreifen ist, deren Arbeiten einer gemeinsamen theoretischen Grundlage entbehren – die sogenannte ›Theorie‹ des Nouveau Roman geht auf einzelne Vertreter wie Robbe-Grillet oder Ricardou zurück, die die neuen literarischen Ausdrucksformen gewissermaßen rückblickend beschreiben – und dabei nicht wesentlich über den Bereich der Romanästhetik hinausgehen, erhebt Tel Quel spätestens seit der Théorie d’ensemble im Jahre 1968, ähnlich wie frühere Avantgarde-Bewegungen, den Anspruch, gesamtgesellschaftlich wirksam zu sein. Der der Zeitschrift 1967 hinzugefügte Untertitel »Science/Littérature«, 84 85 86
Jean Ricardou, Pour une théorie du nouveau roman, S. 234-265. Philippe Sollers : »Sept propositions sur Alain Robbe-Grillet«, in : Tel Quel, Nr. 2 (Été 1960), S. 52. Ebd., 49-53, v.a. S. 52f; Philippe Sollers, »Alain Robbe-Grillet : Pour un nouveau roman«, 93f.
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welcher drei Jahre später »Littérature/Philosophie/Science/Politique« lautet, betont die mit dem poststrukturalistischen écriture-Begriff einhergehende, durch Tel Quel intendierte Zusammenführung sämtlicher geistesgeschichtlicher Bereiche. Ein Schreiben, in welchem ausgehend von einer speziellen Weltsicht, nicht mehr zwischen Text und Welt unterschieden wird – schon bei Nietzsche war dies erkennbar –, setzt sich nicht nur über die herkömmliche Trennung zwischen Fiktion und Wirklichkeit, sondern auch über jene zwischen Theorie und Praxis sowie, damit verbunden, zwischen verschiedenen Gattungen hinweg und resultiert aus der Vorstellung einer alles umfassenden »écriture en général«87 : […] la ›vie‹ et l’écriture se confondent […] Nous ne sommes rien d’autre, en dernière analyse, que notre système écriture/lecture, et cela de façon concrète et pratique […] À ce niveau, on comprendra que les distinctions entre ›genres littéraires‹ tombent d’elles-mêmes. Elles ne sont en général maintenues que par une convention ignorante de l’économie et du champ de l’écriture […].88 Sollers erklärt die »Epoche« der »Literatur« für »abgeschlossen«, an ihre Stelle trete die »écriture textuelle«, welche er als das Ineinandergreifen von Theorie und Praxis versteht, denn die »Theorie« der écriture sei zugleich »pratique de l’écriture« und letztere verweise wiederum auf ihre »Theorie« oder »Wissenschaft«.89 Diese, so lässt sich zusammenfassen, stellt die vor allem durch Jacques Derrida90 vorangetriebene, philosophisch untermauerte Kritik am strukturalistischen Zeichenund Strukturmodell dar, bedient sich dabei jedoch weiterhin semiotischer Konzepte. Ihre theoretischen Texte unterscheiden die Vertreter von Tel Quel daher, zumindest dem Vorsatz nach, nicht mehr prinzipiell von ›narrativen‹ Texten, wie etwa den Tel Quel-›Romanen‹ Drame (Sollers, 1965), Personnes (Baudry, 1967), Nombres (Sollers, 1968), Imaginez la nuit (Thibaudeau, 1968) oder Le noble jeu de l’oye (Sanguineti, 1970).91 Obgleich sich die theoretischen Schriften Tel Quels auf den ersten Blick inhaltlich stringenter darstellen als die genannten ›Erzählwerke‹ – dies ergibt sich zum Teil zwangsläufig aus ihrer äußeren Form, so z.B., wenn es sich um abgedruckte Interviews nach dem Frage-Antwort-Schema92 handelt –, kreisen tatsächlich auch ›narrative‹ Texte als »pratique de l’écriture« schlechthin, um bestimmte 87 88 89 90 91
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Jacques Derrida, De la grammatologie, S. 227. Derrida spricht auch vom »texte général«, s. Jacques Derrida, »Avoir l’oreille de la philosophie«, S. 310. Philippe Sollers, Logiques, S. 248. Ebd., S. 9; Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 70. Sollers betrachtet Derrida und Kristeva gewissermaßen als die Begründer dieser ›Wissenschaft‹, s. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 70. Einen knappen Überblick über die Tel Quel’sche Romanproduktion gibt z.B. Ffrench, s. Patrick French: The time of theory. A history of Tel Quel (1960-1983) (New York: Oxford University Press 1995), v.a. S. 145-151. S. z.B. die Beiträge der Théorie d’ensemble : Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, 67-79; Philippe Sollers (u.a.), »Réponse à la Nouvelle Critique«, 384-390.
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philosophisch-theoretische Kernthemen, und theoretische Texte bedienen sich im Gegenzug narrativer Verfahren, um ihre Theorie oder Philosophie in der Praxis unmittelbar vorzuführen. Als Beispiel wäre hier Roland Barthes zu nennen, der seine bereits 1965 zu Sollersʼ ›Roman‹ Drame herausgegebene Rezension »Drame, poème, roman« für deren Wiederveröffentlichung in der Théorie d’ensemble 1968, in Einklang mit der Tel Quel’schen »définition de l’écriture« als eines unabschließbaren, »unendlich offenen« Systems, so Barthes im Vorwort des überarbeiteten Aufsatzes, bewusst umschreibt und den »Dialog« zwischen erster und zweiter Fassung in Form von Änderungen und Ergänzungen, durch Kursivsetzungen und in Klammern gesetzte römische Zahlen für den Leser transparent macht.93 Als willentliche Gegenbewegung zur »métaphysique idéaliste«94 und jeder Form der sprachlichen »sanctification« bzw. »sacralisation«,95 wie sie im metaphysischen »signifié transcendental« zum Ausdruck kommt,96 versteht sich Tel Quel als Praxis des sich auf die Irrationalität der Welt berufenden »Materialismus«.97 Als solche führe sie das, was Marx »dans l’ordre de l’économie politique« erarbeitet habe, »au niveau de l’économie dite ›symbolique‹« fort.98 Über die Domänen von Literatur, Philosophie und Semiotik hinaus, weiten die linksrevolutionären, mit dem Kommunismus und Maoismus sympathisierenden Mitglieder Tel Quels die Textarbeit der écriture auf den Bereich der politischen Lebenswelt aus und interpretieren sie als Vervollständigung des Marxismus auf Sprach- bzw. Zeichenebene. In dem Maße wie letzterer Kritik an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung mit ihrer Ausrichtung auf Gewinn und Akkumulation und ihrer Betonung von Ware, Wert und Geld übte, und dabei die Arbeitsleistung der Werktätigen gegenüber dem Arbeitsertrag aufwertete, wende sich die écriture gegen den der Sprache auferlegten kapitalistischen ›Warenwert‹ des »Sinns« und gegen die »Akkumulation von Texten« durch den kapitalistischen »Autor« und stellt dem »Produkt« des »Werkes« die prozessuale, »kollektive« Textproduktion gegenüber.99 Damit erweise sie sich als revolutionärer Akt und wesentlicher Schritt zur Veränderung der Gesellschaft: Les concepts de texte, d’intertextualité, d’écriture sont explicitement à la base d’une mutation dans notre civilisation […]. […] écriture et révolution sont préci93 94 95 96 97 98
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Roland Barthes, »Drame, poème, roman«, 25-40, s. v.a. Vorwort S. 25. Philippe Sollers, »Niveaux sémantiques d’un texte moderne«, S. 319. Philippe Sollers, »Le réflexe de réduction«, S. 398. Ebd., S. 397. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 68; Philippe Sollers, »Niveaux sémantiques d’un texte moderne«, S. 319; ebd., S. 322. Philippe Sollers (u.a.), »Réponse à la Nouvelle Critique«, S. 386; vgl. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 68 : »[…] ce que nous proposons veut être aussi subversif que la critique faite par Marx de l’économie classique.« Philippe Sollers (u.a.), »Réponse à la Nouvelle Critique«, S. 385f; Philippe Sollers, »L’écriture fonction de transformation sociale«, S. 400-403.
6 Philippe Sollers’ Paradis (1981) und die Welt als vergöttlichter Text
sément homologues en ceci qu’elles exercent une force transformative »muette« […].100 Deutlich wird hier natürlich, dass die im Untertitel der Zeitschrift figurierenden Begriffe ›Wissenschaft‹ und ›Politik‹ derselben Sinnverschiebung unterliegen, welche auch Nietzsches Wissenschaftskonzept bestimmte. Ähnlich wie Nietzsche, welcher der modernen Wissenschaft die niemals ruhende, stets skeptische ›Wissenschaft‹ des ›freien Geistes‹ entgegensetzte,101 geht es Tel Quel nicht um letzte Erkenntnisse, Wahrheiten oder lebenswirkliche Errungenschaften, sondern gerade um die Schwächung des rationalen Erkenntnisoptimismus. Das ›Wissenschaftliche‹ oder ›Politische‹ der Tel Quel’schen écriture bleibt somit abstrakt-philosophisch und mündet in eine subversive Ästhetik, welcher nicht so sehr der Begriff der ›Politik‹ als vielmehr jener der (wenn auch nur rein sprachlichen) ›Revolution‹ gerecht zu werden scheint. Auf diesen Widerspruch weisen die Gruppenmitglieder selbst indirekt hin, wenn sie Tel Quel vom »bürgerlichen« »Engagement« oder von der »littérature ›engagée‹« abgrenzen.102 Und dennoch oder gerade deshalb stilisiert sich die Bewegung Tel Quel, indem sie Nietzsches utopische Rede von der »welthistorischen«, durch die Erfindung einer neuen Zeitrechnung besiegelten »Umwerthung aller Werthe« nachzuahmen scheint,103 als Einschnitt in die Geistesgeschichte bzw. als »glissement temporel«.104 Wenn Sollers so etwa im Hinblick auf Derridas Arbeiten von einem »Ereignis« spricht – »[…] aucune pensée ne peut plus ne pas se situer par rapport à cet événement« –,105 muss sich der Leser zwangsläufig an jenes »gesammt-europäische Ereigniss« erinnert fühlen, welches Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft als den »Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott« und den »Sieg des wissenschaftlichen Atheismus« beschreibt (FW: Fünftes Buch 357, KSA 3, 599): »– Das grösste neuere Ereigniss, – dass ›Gott todt ist‹, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen« (ebd. 343, KSA 3, 573).106 Diese, in den theoreti100 Philippe Sollers, »Le réflexe de réduction«, S. 394 u. 397; s.a. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 78f. 101 S. z.B. JGB: Siebentes Hauptstück 227, KSA 5, 163; GM: Dritte Abhandlung 24, KSA 5, 399; s.a. Nietzsches Entwurf der »fröhlichen Wissenschaft«, s. z.B. FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 1, KSA 3, 345. 102 Philippe Sollers (u.a.), »Réponse à la Nouvelle Critique«, S. 386; Philippe Sollers, »Le réflexe de réduction«, S. 392. 103 S. v.a. AC 62 u. »Gesetz wider das Chrsistenthum«, KSA 6, 253f; EH: Die Geburt der Tragödie 4, KSA 6, 314; bzw. EH: Menschliches, Allzumenschliches 5, KSA 6, S. 327. 104 Philippe Sollers (u.a.) : »Division de l’ensemble«, in : Théorie d’ensemble, hg. von Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Philippe Sollers (u.a.) (Paris : Éditions du Seuil 1968), S. 8. 105 Philippe Sollers, »Le réflexe de réduction«, S. 397. 106 Parallel dazu spricht Nietzsche in Ecce homo vom »Ereigniss Zarathustra« (EH: Die Geburt der Tragödie 4, KSA 6, 315).
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schen Arbeiten Tel Quels nur implizite Parallele zu Nietzsche und seiner Prophezeiung eines kommenden Zeitalters, wird interessanterweise Jahrzehnte später, in Sollersʼ 2006 herausgegebenem, auf Interviews mit dem Journalisten Vincent Roy beruhendem, essayistischem Werk mit dem schon vielsagenden Titel L’Évangile de Nietzsche offen zur Schau gestellt. Sollers bezeichnet sich darin, indem er die in der Begründung einer neuen Zeitrechnung gipfelnde, durch Nietzsche intendierte Ambivalenz der Selbstzuschreibung ›Antichrist‹ zwischen Christentumsfeindschaft und Christus-Analogie fortspinnt, als »évangéliste de Nietzsche«.107 Seinen ebenfalls 2006 erschienenen Roman Une vie divine108 habe er, so Sollers in L’Évangile de Nietzsche, auf den 30. September 118 datiert, somit genau 118 Jahre nach Nietzsches »Gesetz wider das Christenthum« vom 30. September 1888. Diesen Tag hatte Nietzsche zum »Tage des Heils«, zum »ersten Tage des Jahres Eins« erklärt (AC: »Gesetz wider das Christenthum«, KSA 6, 254). Die Kritik und das Unverständnis ihrer Leserschaft deuten die Autoren um Tel Quel nach Nietzsches Vorbild109 folglich als Beweis für die tief verankerte, unbewusste Metaphysik, welche sie durch ihre Arbeiten zum Einsturz brächten:110 Il s’agit de comprendre ce que Tel Quel signifie: l’annonce d’une dévaluation. Il ne faut donc pas s’étonner si notre travail […] provoque souvent des réactions acharnées. Il ne peut en être autrement. […] nous avons touché les centres nerveux de l’inconscient social dans lequel nous vivons et, en somme, la distribution de la propriété symbolique. […]111 […] Un bouleversement théorique extrêmement violent, une transformation dont les conséquences, d’ores et déjà prévisibles, auront pour effet de balayer un certain nombre de mythologies auxquelles il est compréhensible que beaucoup soient encore très attachés.112 107 Philippe Sollers : L’Évangile de Nietzsche. Entretiens avec Vincent Roy (Paris : Le cherche midi 2006), S. 82-104, v.a. S. 93. 108 Der Roman beschäftigt sich inhaltlich mit der ›Figur‹ Nietzsche, gestaltet sich verfahrensmäßig jedoch wie andere späte Romane Sollersʼ konventioneller als die im Umkreis der Theorie Tel Quel entstandenen ›Erzähltexte‹, s. Philippe Sollers: Une vie divine (Paris: Gallimard 2006). Zur Datierung s. v.a. S. 503. 109 Hier sei an Nietzsches Sorge um das eigene »Verstanden-oder Nicht-verstanden-werden« und seine Vermutung, »noch nicht an der Zeit« zu sein, bzw. »posthum« »geboren« zu »werden«, erinnert (s. z.B. EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 1, KSA 6, 298). 110 In den Beiträgen der Théorie d’ensemble stößt man tatsächlich wiederholt auf das Bild des »ébranlement« bzw. des »bouleversement«, s. z.B. Philippe Sollers (u.a.), »Réponse à la Nouvelle Critique«, S. 387; Philippe Sollers, »L’écriture fonction de transformation sociale«, S. 399. 111 Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 68. 112 Philippe Sollers, »L’écriture fonction de transformation sociale«, S. 399.
6 Philippe Sollers’ Paradis (1981) und die Welt als vergöttlichter Text
Dass sich die meisten Beiträge der Théorie d’ensemble nichtsdestoweniger als Selbstrechtfertigungen lesen, im Zuge derer die Autoren offene Fragen zu beantworten und Missverständnisse auszuräumen versuchen,113 zeigt, dass es ihnen entgegen ihrer grundsätzlichen Ablehnung der sprachlichen Ausdrucksfunktion – noch einmal drängt sich hier der Vergleich mit Nietzsche auf –114 schließlich doch darum geht, sich einem Lesepublikum mitzuteilen, paradoxerweise eben jenem, welches sie zugleich der abendländischen Metaphysik bezichtigen. Der 1981 publizierte, jedoch seriell bereits seit der 57. Ausgabe von Tel Quel aus dem Jahr 1974 erschienene ›Roman‹ Paradis ist nach Drame (1965), Nombres (1968), Lois (1972) und H (1973) Philippe Sollersʼ fünfter unter dem Einfluss der Tel Quelschen Texttheorie entstandene ›Erzähltext‹ und bildet zugleich den Höhepunkt der mit Drame begonnenen, sich von Buch zu Buch steigernden narrativen Experimentierfreude Sollersʼ. Die Sonderstellung des Werkes innerhalb der Arbeiten Tel Quels verdeutlicht sowohl die Tatsache, dass fast jede Ausgabe der Zeitschrift ab 1974 mit einem Auszug aus Paradis einsetzt bzw. ausklingt115 – ein Ritual, welches selbst in den ersten Nummern der Nachfolgezeitschrift LʼInfini ab 1982 (zunächst im Verlag Denoël, dann bei Gallimard)116 beibehalten wird –, als auch das Erscheinen einer Fortsetzung Paradis 2 im Jahre 1986. Bereits mit Drame (1965) hatte Sollers eine Form der ›Narrativik‹ präsentiert, welche die herkömmliche histoire durch den Erzähldiskurs ersetzt und diesen somit zum alleinigen Thema erhebt, wobei unzweideutig schon die Überschrift Drame in Verbindung mit dem Untertitel ›Roman‹ die üblichen Gattungsbegriffe infrage stellt. Nicht näher bestimmte schreibende oder lesende Figuren, welche nur durch die Verwendung wechselnder, häufig deiktisch nicht eindeutig zuordenbare Personalpronomen (v.a. je, tu, il, elle) zu erahnen sind, beschäftigen sich mit der Frage des richtigen Schreibens bzw. der »véritable histoire«. Diese scheint dabei ausgerechnet im Ausschluss der konventionellen histoire zu liegen.117 Auch das Werk Nombres (1968), welches Sollers, in stärkerem Maße als Drame, formalen Strukturprinzipien unterwirft und es z.B. nach einem streng vorgegebenen Muster, in Abschnitte unterschiedlicher Tempora unterteilt, wobei er 113
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S. z.B. Philippe Sollers, »Le réflexe de réduction«, v.a. S. 391 : »Le travail de Tel Quel […] se voit ramené à quelques slogans superficiels, à une série de ›bonds‹ incohérents […] contentonsnous de relever les points d’incompréhension majeurs : […]«; s.a. die veröffentlichten Interviews mit Mitgliedern der Gruppe Tel Quel, so z.B. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«; Philippe Sollers (u.a.), »Réponse à la Nouvelle Critique«. Vgl. Nietzsches beständige Frage »Versteht man mich?…« bzw. »Hat man mich verstanden?«, s. z.B. EH: Warum ich ein Schicksal bin 3 u. 7, KSA 6, 367 u. 371. Vgl. Philippe Forest, Philippe Sollers, S. 23 u. 200. Vgl. ebd., S. 25. Bis 1982 wird Tel Quel durch die Éditions du Seuil verlegt, danach erscheint die Zeitschrift unter dem Titel LʼInfini bei Denoël bzw. kurze Zeit später bei Gallimard. Vgl. Klaus W. Hempfer, Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, S. 71-94, v.a. S. 71f, 8185 u. 89f; Michael Rössner: »Philippe Sollers«, in: Französische Literatur des 20. Jahrhunderts. Gestalten und Tendenzen, hg. (u.a.) von Wolf-Dieter Lange (Bonn: Bouvier 1986), S. 404.
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ihm chinesische Schriftzeichen einbettet, kreist thematisch um das Schreiben. In Lois (1972) führt Sollers außerdem sprachliche Neuerungen ein. Der trotz noch vorhandener Zeichensetzung stark elliptische, »assoziative« Stil charakterisiert sich durch Witz und humorvolle »Wortspiele«.118 H (1973) ist schließlich Sollersʼ erstes Werk, welches, wie Michael Rössner zusammenfasst, auf »jede grafische Gliederung« wie etwa »Interpunktion«, »Abstände« und »Großschreibung« verzichtet. Nichtsdestoweniger gelingt es dem Leser von H meist noch, zusammenhängende Sätze zu erkennen und so den Textblock in Sinneinheiten zu unterteilen. Michael Rössner weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Julia Kristevas Interpretation von H »Polylogue«119 mit einer durch Sollers nachträglich interpunktierten Version des Schlussteils von H endet und damit »die Möglichkeit« einer »traditionellen« Zeichensetzung »unter Beweis stellt«.120 Paradis zeigt sich als weitere Steigerung, denn der gut 250 Seiten lange ›Textkörper‹ aus kleingedruckten, und im Unterschied zu H und Paradis 2, kursiv gesetzten121 Wörtern ohne Satzzeichen, Absätze und Großbuchstaben (Wortabstände existieren) macht jede eindeutige Sinnvergabe durch den Leser unmöglich.122 Geschuldet ist dies dem Umstand, dass sich Satzanfang und -ende in den meisten Fällen nicht mehr ohne Weiteres bestimmen lassen, ja dass sich Wörter und Satzteile, welche nicht durch Satzzeichen voneinander getrennt sind, immer wieder zu einer neuen Einheit verbinden und dergestalt innerhalb der vermeintlichen ›Satzstruktur‹ grammatische oder logische Beziehungen, wie etwa jene zwischen »Ursache« und »Wirkung«, untergraben.123 Als problematisch stellt sich dies vor allem in Bezug auf die unzähligen durch Sollers eingebauten Zitate heraus, welche unmarkiert mit dem Text verschmelzen, so dass sie entweder gar nicht erkannt werden oder ihr Anfang bzw. ihr Ende inmitten des Wortflusses undurchsichtig bleiben.124 Darüber hinaus lassen sich aufgrund der fehlenden, die Intonation des Satzes lenkenden Satzzeichen auch Frage- und Aussagesätze nur dort unterscheiden, wo die Inversion von Subjekt und Prädikat, 118 119
Michael Rössner, »Philippe Sollers«, S. 404f. Kristevas umfangreicher Aufsatz erscheint wie der erste Auszug aus Paradis zunächst in der 57. Ausgabe von Tel Quel im Jahre 1974, s. Julia Kristeva: »Polylogue«, in: Tel Quel, Nr. 57 (Printemps 1974), 19-55. Einige Jahre später ist er Teil ihrer gleichnamigen Monografie von 1977, s. Julia Kristeva: Polylogue (Paris: Éditions du Seuil 1977). 120 Michael Rössner, »Philippe Sollers«, S. 405; Julia Kristeva, »Polylogue«, S. 53ff. 121 Vgl. Philippe Forest, Philippe Sollers, S. 201. 122 Vgl. Michael Rössner, »Philippe Sollers«, S. 405f; Hilary Clark: The fictional encyclopaedia. Joyce, Pound, Sollers (New York [u.a.]: Garland 1990), S. 129. 123 Hilary Clark, The fictional encyclopaedia, S. 130f: »[…] notion of cause and effect can become problematic […] cause and effect interpenetrate […] words become ambiguous, lose their accepted boundaries […].« 124 Vgl. ebd., S. 160f; Armine Kotin Mortimer: »The invisible punctuation of Sollersʼ Paradis«, in: MLN, Vol. 127, Nr. 4 (September 2012), S. 937.
6 Philippe Sollers’ Paradis (1981) und die Welt als vergöttlichter Text
Fragewörter oder die französische Frageformel est-ce que den Beginn einer Frage signalisieren.125 Dem Leser offenbaren sich im Laufe der Lektüre weitere kleine Orientierungshilfen, welche ihm den Beginn oder das Ende eines Textabschnitts anzeigen,126 so etwa ausgeschriebene Satzzeichen,127 syntaktische Konnektoren bzw. Adverbien wie »or« (S. 10), »or donc« (S. 22), »ergo« (S. 13), »voilà« (S. 27), »alors«, »après« (S. 24ff), »bref« (S. 80), »c’est pourquoi« (S. 80), oder wenn Textpassagen einem vorgegebenen Strukturprinzip folgen, d.h. z.B. anaphorisch durch analoge Elemente wie »moi…toi«128 , »question…réponse« (bei Fragen und Antworten)129 , Imperative,130 (eine Filmaufnahme simulierend) durch Regieanweisungen,131 oder in einem Segment, das sich inhaltlich mit ›der Frau‹ beschäftigt, durch weibliche Nationalitätsbezeichnungen132 eingeleitet werden. Ausgeschriebene SatzzeiVgl. Armine Kotin Mortimer, »The invisible punctuation of Sollersʼ Paradis«, S. 937; s. z.B. Philippe Sollers : Paradis (Paris : Éditions du Seuil 1981), S. 83 : »[…] par quoi par le son coupure sexe lèvres oreilles et il appela tonna et parla et il les délivra de leur au-delà […] comment par le craquement de jointures pourquoi pour durer […]«; ebd., S. 139 : »[…] qu’est-ce que remplir son nom déboucher son nom en surnom qu’est-ce que définir son nom dans les noms qui est libre avec ça qui ne dit pas non à son nom je vais vous dire je suis ce que je dis […]«; ebd., S. 175 : »[…] qu’est-ce quʼelle vous a fait cette langue pourquoi la maltraitez-vous triturez-vous crevez-vous je me suis toujours demandé pourquoi on parlait de langue maternelle […]«; bzw. ebd., S. 190 : »[…] y est-il ou n’y est-il pas le petit supplément dʼépopée y est-il vraiment extérieurement […] y est-il rentré […] va-t-il s’envoler peut-il repousser lʼa-t-on volé […]«. 126 Vgl. Armine Kotin Mortimer, »The invisible punctuation of Sollersʼ Paradis«, S. 927ff. 127 Seitenangaben beziehen sich im Weiteren auf folgende Ausgabe des Werkes: Philippe Sollers: Paradis (Paris: Éditions du Seuil 1981). Ausgeschriebene Satzzeichen finden sich so etwa auf S. 8 : »[…] je suis sorti nu du ventre de ma mère je rentrerai nu point final je maudis mon jour […]«; bzw. auf S. 165f : »[…] mesdames messieurs représentons-nous virgule selon la science agrandie virgule notre chétive planète nageant dans un océan à vagues de soleils virgule dans cette voie lactée virgule […] métal en fusion de mondes que façonnera la main du créateur point […] le foyer avant le rayon point que lʼhomme est petit sur lʼatome où il se meut point d’exclamation […]«. 128 S. S. 183 : »[…] toi avoir touché moi donc moi posséder toi et toi devoir subvenir bosser prévenir moi merveille […]«. 129 S. S. 187f : »[…]question à lʼordinateur que pensez-vous réponse je suis obligé de penser à la question que vous me posez question mais que pensez-vous par vous-même réponse la notion de moi-même nʼexiste pas pour moi question niez-vous toute identité […]«. 130 S. S. 90 : »[…] racontez pas vos rêves à vos enfants observez chez eux les premiers symptomes […] manquez pas de surveiller leurs avant-bras […] consultez nos services […] inscrivez-les selon leurs capacités […]«. 131 S. S. 36ff : »[…] coupez on reprend naissance du génie deuxième clac moteur le son nom de dieu le son allez on reprend naissance du génie trois clac moteur […] il a sept ans il est près d’un petit mur […] coupez il a dix ans on le voit arriver […] plus lentement voyons plus lentement vous allez nous forcer à mettre le ralenti il s’écarte […] coupez ici deux plans fixes un berceau près du lit […] coupez salle de bains […]«. 132 S. S. 51 : »[…] la française comme lʼaméricaine en revanche lʼanglaise est possible en préliminaires lʼallemande quand on nʼy tient plus l’arabe en période sèche […]«. 125
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chen erfüllen dabei kaum die Aufgabe, dem Leser die Lektüre zu erleichtern, vielmehr setzt Sollers sie ein, um die durch Tel Quel kritisierte phono- bzw. logozentrische Ausrichtung der Gesellschaft offenzulegen. Wie die Alphabetschrift, welche in Paradis mithilfe von Spott und Humor nicht minder zur Zielscheibe von Sollers’ Kritik wird, 133 gehört die Interpunktion dem phonographischen Schriftsystem an, welches die gesprochene Sprache, d.h. Lautung und Intonation in der Schrift nachzubilden versucht. Die Phonographie betrachtet Tel Quel als typisches Merkmal des abendländischen Phono- bzw. Logozentrismus, d.h. des festen Glaubens an die Ausdrucksfunktion des gesprochenen Wortes, welches jeweils als Platzhalter eines außersprachlichen Referenten gedeutet wird. Dieses phonozentrische Prinzip – die Lautung, d.h. der »Klang« oder die »Stimme« als »Spiegel« der ›Sache‹ selbst – scheint in der folgenden Passage von Paradis kritisch beleuchtet zu werden: […] les sons dʼabord lʼaction-percussion je ne peux pas suivre longtemps en surface je n’écoute pas ce quʼils disent seulement les voix les accents dʼailleurs quʼest-ce qu’ils pourraient raconter toujours la même histoire comment ils veulent tous se mettre à la place et après de nouveau se mettre à la place et après de nouveau exclusivement se mettre en place à ta place que faire juste leur jeter un coin de miroir hop les voilà contents alors qu’avec les voix les voix seules on sait tout […] (S. 65f) Wenn Sollers daher in einem wörtlichen Zitat aus dem fünften Band von Prousts À la recherche du temps perdu sämtliche Satzzeichen des Originals ausschreibt (S. 127f), so versucht er damit vor Augen zu führen, wie sehr die übliche Zeichensetzung den Fließtext stört und begrenzt.134 Explizit wird diese Intention mehr als hundert Seiten später, als Sollers einen Textabschnitt durch die wiederholte Einfügung »interruption« buchstäblich ›unterbricht‹ (S. 244f). Die Proust-Passage karikiert zugleich den modernen Roman des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als die literarische Spielart des Logozentrismus, welche Sollers an einer anderen Stelle von Paradis mit dem Ausdruck »vieille lisibilité« zu beschreiben scheint und dabei einen kurzen Ausblick auf ihr bevorstehendes Ende gibt: »[…] pour les vieilles rétines 133
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S. z.B. S. 191, wo das wörtlich durch »kleine« Buchstaben ersetzte Alphabet nicht in Gang kommt und bereits bei »petit c« stecken bleibt : »[…] petit a sommeille petit b est éveillé tandis que petit c continue de tenir les rênes et petit b voudrait agir mais petit c est fatigué et petit a en a de la peine parce que le gros abc est bien tiraillé petit c se sent perdu petit b sauvé petit a lui reste au purgatoire […]«; auf S. 34f dagegen bildet das traditionelle Alphabet das Muster einer Auflistung miteinander verwobener Liebschaften : »[…] a couche avec b qui couche avec c qui vient de coucher avec d qui va sans doute coucher avec e qui regrette de ne plus coucher avec f […] n qui couche avec o p q r s non tu n’y penses pas t est homosexuel comme u […] le problème à présent c’est z va-t-il coucher avec a […]«. Vgl. Armine Kotin Mortimer, »The invisible punctuation of Sollersʼ Paradis«, S. 928.
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fatiguées de la vieille lisibilité tout sera déplacé pour les nouveaux cristallins du nouvel alphabet et il y aura comme un jugement dernier à travers les lettres […]« (S. 164). Diese um darstellerische Klarheit und Präzision bemühte »lisibilité« ist die Fortsetzung und Steigerung des gesprochenen Logozentrismus in der Schrift und stellt das Gegenteil der Tel Quelʼschen écriture dar. Deutlich wird dies in der Verwendung abstrakter, in der Sprechsprache kaum benutzter Verbformen, so etwa des passé simple oder des subjonctif. Das Proust-Zitat geht daher zu einer Abfolge sich reimender subjonctif imparfait-Verbformen der ersten und dritten Person Singular über: »[…] les eusse pusse laissasse ressemblasse crusse allasse marchasse courusse […] soupirât oubliât préférât pleurât […]« (S. 128). Wenige Seiten zuvor stößt der Leser – in Paradis keine Seltenheit – auf einen längeren Abschnitt sexueller Beschreibungen (S. 123f). Sexuelle Begegnungen bzw. Handlungen werden dabei durchgehend im passé simple geschildert : »[…] et ils se pénétrèrent jusqu’au fond ténébreux des viscères et elles se pressèrent s’enjambèrent […] et il la reprit et elle le massa et ils sʼabandonna et elles se giflèrent […]« (S. 123). Die Diskrepanz zwischen der frivolen Thematik und der gezwungen steifen Form, wie sie im Gebrauch des passé simple zum Ausdruck kommt, ist dabei natürlich kein Zufall. Wie andere poststrukturalistische Theoretiker setzen die Autoren um Tel Quel die logozentrische Unterdrückung und Zensur der Sprache in Analogie zu jener des Körpers und der Sexualität.135 Sexuelle Themen finden aus diesem Grund häufig, aufgewertet und frei von aller Verfemung, Eingang in poststrukturalistische Arbeiten.136 Sollers spricht auf der zweiten Seite von Paradis von der »liaison entre ponctuation et procréation« und den ihnen gemeinsamen »résistances« (S. 8). Der Sexualität und dem Verstoß gegen sprachliche Gewohnheiten, zweien auf den ersten Blick völlig unterschiedlichen Bereichen, begegne der Mensch, Sollers zufolge, mit einem ähnlichen Gefühl der Befangenheit. In nietzscheanischer bzw. Batailleʼscher Terminologie könnte man dieses als das apollinische Aufbäumen gegenüber der verworrenen Welt des ›Dionysischen‹ oder ›Heterogenen‹ bezeichnen, wie es sich so etwa in der von allen syntaktischen und semantischen Reglementierungen befreiten (mit Batailles Worten »poetischen«) Sprache manifestiert. Der Usus von Grammatik und Zeichensetzung wäre folglich der apollinisch-geordneten ›Welt der Arbeit und Gebote‹ (Bataille) zuzuordnen, so dass die oben genannte Passage (S. 123f, s.o.) als Veranschaulichung der menschlichen Doppelnatur aus überströmendem, dionysischem Leben einerseits (hier die Thematik der Erotik), und 135
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S. z.B. Roland Barthes, »Drame, poème, roman«, S. 39: »[…] faire du langage un sujet, et cela à travers le langage même, constitue encore un tabou très fort […]: la société semble limiter également la parole sur le sexe et la parole sur la parole. Cette censure rencontre une paresse […].« Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, S. 67-89 (= »2.2. Die Anarchie des Denkens und der Körper«).
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»apollinischen Satzungen«137 andererseits (Vernunft, Ordnung, hier die sprachliche Präzision des passé simple) gedeutet werden könnte. Vor diesem Hintergrund klärt sich auch der Abschluss des durch ausgeschriebene Satzzeichen ›interpunktierten‹ Proust-Zitats. Der Einwurf »[…] arrête je nʼen peux plus c’est tuant ces petits seins ronds ce crampon […]« (S. 128), bevor der Abschnitt schließlich zu einer Reihe von subjonctif imparfait-Verbformen überleitet (s.o.), erweist sich bei genauerer Betrachtung als mehrdeutig. Scheint das »arrête je n’en peux plus c’est tuant« selbstironisch einerseits die Ermüdung des Autors und Lesers angesichts der vielen ausgeschriebenen Satzzeichen zum Ausdruck zu bringen, verweisen die »petits seins« und »ce crampon« andererseits auf die zitierte Beschreibung Albertines,138 so dass sich die Äußerung auch als Reaktion auf deren äußere Reize verstehen lässt, welchen sich der ›Erzähler‹ nicht mehr zu erwehren vermag. Angedeutet wird damit noch einmal die Ineinssetzung von sprachlicher und sexueller Befreiung. Ausgeschriebene Satzzeichen erfüllen darüber hinaus nicht immer die (wenn auch im Dienst der Kritik stehende) Funktion realer Satzzeichen, sondern erscheinen als bewusst ihrem eigentlichen Zweck beraubte, leere Worthülsen, die für verschiedene, auf Reim und Rhythmus beruhende Wortspiele genutzt werden: »[…] leur image virgule tiret point virgule conclusion vous me croirez […] mon corps point mon corps suspension mon corps interrogation négation blanc d’exclamation mon corps virgule en pilules […] (S. 8)«.139 Die eigene Form, d.h. der radikale Verzicht auf Satzzeichen, Absätze und Großschreibung sowie die durchgehende Kursivierung140 , wird in Paradis dabei zu einem beliebten Thema, welches mit dem Verweis auf »le livre choc« (S. 28) oder »cette histoire de ponctuation« (z.B. S. 67 u. S. 175) bzw. »cette histoire sans ponctuation« (S. 97) regelmäßig zur Sprache kommt. Dem ›Autor‹, der sich, wie sich noch zeigen soll, durch den Text hindurch immer wieder als der lebensweltlich-biografische Sollers zu erkennen gibt, scheint es dabei ein gewisses Vergnügen zu bereiten, die durch Tel Quel seitens der Leserschaft erfahrene Kritik und Ablehnung in Form von simulierten Leserkommentaren selbstiro137 138
GT 4, KSA 1, 41. Über Albertine, die Geliebte des Ich-Erzählers in À la recherche du temps perdu heißt es in dem wörtlichen Zitat : »[…] avant qu’albertine n’eût obéi et eût enlevé ses souliers virgule j’entr’ouvrais sa chemise point ses deux petits seins haut remontés étaient si ronds qu’ils avaient moins l’air de faire partie intégrante de son corps que d’y avoir mûri comme deux fruits pointvirgule et son ventre parenthèse dissimulant la place qui chez l’homme s’enlaidit comme du crampon resté fiché dans une statue descellée fin de la parenthèse […]« (S. 127f). 139 Auf S. 135 wird »point« wiederholt durch »corps« bzw. »blanc« ersetzt, so z.B. »corps interrogation« (statt point d’interrogation) oder »blanc d’exclamation« (statt point d’exclamation), des Weiteren wird mit dem Gleichklang von »virgule« und »pilule« gespielt. 140 S. z.B. S. 100 : »[…] donc vous dites pourquoi cette typographie l’italique là penché dans son gras pourquoi cette gravure qui s’accroche romain […] encore la question pourquoi pas de ponctuation […].«
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nisch in den Text zu integrieren,141 wobei diese entweder Ermüdung – »[…] écoute vraiment tu devrais ponctuer reprend-elle je te comprends pas je vois pas pourquoi je résisterai […]« (S. 26f) –142 oder Entrüstung – »[…] cette écriture de maniaque de fou cette épouvantable sténo tabétique […]« (S. 58) –143 zum Ausdruck bringen. Auch wenn in einem längeren Abschnitt ein unbestimmtes Du emphatisch aufgefordert wird, doch endlich »aufzuhören« – »[…] arrête veux-tu arrêter ça suffit on te dit d’arrêter c’est compris arrête enfin quoi ça suffit merde arrête […]« (S. 223f) –, wird der Eindruck vermittelt, der über Paradis erboste Leser wende sich an den verantwortlichen Autor. Im Mittelpunkt der in Paradis imitierten Kritik an Tel Quel im Allgemeinen, und Paradis im Besonderen, steht der Vorwurf der ›illisibilité‹ (»l’objection lisible-illisible«, S. 67), sowie die damit verbundene Meinung, Texte wie Paradis entbehrten eines eigentlichen Inhalts oder Themas: »[…] comment pourquoi à propos de quoi quel sujet comment ça encore sans ponctuation oh non […]« (S. 250). Kritische Worte zur Zeitschrift und Denkströmung Tel Quel werden überspitzt einer gewissen Suzette Gutentag in den Mund gelegt, welche sich als Parodie der amerikanischen Schriftstellerin und Essayistin Susan Sontag herausstellt:144 […] si j’étais vous je supprimerais même cette petite revue inutile comment s’appelle-t-elle déjà non non pas la nrf pas les temps modernes vous plaisantez non l’autre la petite […] celle que tout le monde trouve tellement ridicule […] tellement superflue tellement prétentieuse et nulle je vous assure que nous n’arrivons pas à comprendre pourquoi vous dépensez pour ça du papier […] voulez-vous me dire ce que cette publication signifie enfin supprimez-la […] écoutez nous vous demandons seulement de mieux surveiller le marché de ne pas mettre en circulation un langage non ponctionné [sic!] d’ailleurs invendable intraduisible illisible nuisible […] (S. 234f) An anderen Stellen versäumt es der ›Autor‹ nicht, die Anschuldigungen souverän zu kontern und die Kritik umzudrehen. Er beklagt, dass gerade französische Leser schwierige Werke wie Dantes Divina Commedia, zu welcher er Paradis unmissverständlich in Analogie setzt, weder Beachtung schenkten noch verstünden. In der eindringlichen Ermahnung an den Leser »[…] ici lecteur lis bien écoute bien tienstoi bien tu peux si tu veux passer à travers le voile je t’ai assoupli la toile si tu ne comprends pas honte à toi […]« (S. 211) enthüllt sich eine Erwartungshaltung an den Le141 Vgl. Armine Kotin Mortimer, »The invisible punctuation of Sollersʼ Paradis«, S. 936. 142 S.a. S. 250 : »[…] encore sans ponctuation oh non je vous en prie pas ça vous n’allez pas recommencer avec ça on croyait que c’était fini guéri tari assagi quel ennui quelle mauvaise plaisanterie […]«. 143 S.a. S. 67: »[…] un seul crime vrai la syntaxe le reste est effacé […]«. 144 Vgl. Armine Kotin Mortimer: »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, in: L’Infini 89 (Hiver 2004), S. 83.
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ser, welcher dieser offensichtlich kaum gerecht wird. Schon viele Seiten zuvor hatte sich der Autor zu Wort gemeldet, um den möglichen Einwänden der Leserschaft zum Trotz, die These zu vertreten, dass Satzzeichen – »[…] les trois points de l’un les deux points de l’autre les exclamations suspensions interrogations […]« (S. 67) – nichts als »béquilles prothèses« (ebd.), ›Krücken‹, seien, die der volljährige, dem Grundschulalter entwachsene Leser nicht nötig habe: »[…] c’est qu’on vous suppose adultes chers débiles sortis du primaire habitués à tourner les boutons familiers […]« (ebd.). Er geht so weit zu behaupten, dass seine »spiralförmigen« ›Wortsalven‹ (»mes salves spiralées«) insgeheim durchaus interpunktiert seien: »[…] je m’élève je dis que personne n’a ponctué mieux que moi« (ebd.). Wenn er auf den letzten Seiten von Paradis bemerkt, dass auch die ägyptische Hieroglyphenschrift »aucun signe de ponctuation« aufwies, wodurch es dem Leser überlassen war, den »texte« »trouble et majestueux comme les eaux du nil« in Sinneinheiten zu zerteilen (S. 242), macht er auf den Umstand aufmerksam, dass sich die formale Gestaltung von Paradis tatsächlich an alte Schrifttraditionen anschließt, so etwa an die bis ins Mittelalter gebräuchliche scriptio continua, eine Schriftform in hebräischer, griechischer oder lateinischer Sprache, welche nicht nur auf Satzzeichen, Absätze und Großbuchstaben, sondern auch auf Wortabstände verzichtete. Bedeutung gewann sie bei der Verfassung des Alten und Neuen Testaments und deren Exegese, da die Sinnvergabe auf diese Weise in höherem Maße von der Auslegung des jeweiligen Lesers abhing, der die Texte zu diesem Zweck meist laut rezitieren musste.145 Während die Parallele zur Tradition heiliger Schriften in der abendländischen Metaphysik von Sollers gewollt ist, versteht er Paradis und dessen sprachlichen Regelbruch zugleich als Zurückweisung dieser Metaphysik, welche er, wie andere poststrukturalistische Theoretiker, nach Nietzsches Vorbild, als ein in sich geschlossenes, zensierendes Sprach- bzw. Zeichensystem begreift. Dass es als solches das freie Spiel der sprachlichen Zeichen limitiert, geht implizit aus Paradis hervor, wenn das »Kreuz« als »non-signe l’arrêt de tout signe une signature de l’aveuglement pour les signes« (S. 178) bezeichnet wird. Indem Sollers in Paradis bewusst jene Zeichen ausschaltet, welche traditionell die grammatisch-logische Struktur und damit die Sinngebung von Sätzen verbürgen, wendet er sich gegen die Denkweise, welche Derrida unter dem Begriff der »Metaphysik der Anwesenheit« kategorisierte. Diese wurde bereits als der feste Glaube an ein jenseits jedes sprachlichen Zeichens existierendes, sich jedoch unmittelbar mit diesem einstellendes signifié transcendantal charakterisiert. In ihr manifestiert sich des Menschen tief verankerte Zuversicht auf sprachliche bzw. universell herrschende Sinnhaftigkeit. Wie andere tel queliens betrachtet Sollers einen solchen Optimismus als äußerst zweifelhaft und kritisert die dogmatische Willkürlichkeit jeder Sinnkonstruktion. Tel Quel vertritt 145
Vgl. Armine Kotin Mortimer, »The invisible punctuation of Sollersʼ Paradis«, S. 925 u. S. 929932; Hilary Clark, The fictional encyclopaedia, S. 129.
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die Ansicht, dass die herrschende ›Sprachmetaphysik‹ nur einen Teil der menschlich-sprachlichen Realität wiedergibt, welche sich in Wirklichkeit viel reicher und vielfältiger gestaltet und sich dabei nicht auf die Wirkmechanismen Linearität und Teleologie beschränkt. »[…] la langue ne supporte pas la transcendance […]« (S. 26) heißt es in einem Abschnitt zu Beginn von Paradis, in welchem anonyme Stimmen die typografischen Besonderheiten des Werkes kommentieren. Dass hier Satzzeichen und Großbuchstaben in ihrer Funktion, die in der Sprechsprache vorhandene Sinnhierarchie grafisch abzubilden (so z.B. durch die Hervorhebung von Satzanfängen oder von besonderen Eigennamen, s. die Großschreibung von Begriffen des religiösen Kontexts wie Dieu, Bible, Noël, und von Anreden bzw. Titeln wie Président, Monsieur etc.), als Repräsentanten der sprachlichen ›Transzendenz‹ betrachtet werden, wird evident, wenn im selben Abschnitt das Fehlen von Großbuchstaben (»l’absence de majuscules«) umgekehrt der »immanence« (ebd.) gleichgesetzt wird. Knappe hundert Seiten später stößt der Leser auf den im Folgenden näher erläuterten Neologismus »divinimitié« (S. 113). Dieser, wie man übersetzen könnte, ›göttliche Zustand der Freundschaft‹, bei dem sich die »Seelen« »vereinen« und »erheben«, zeichne sich durch eine vollkommene Harmonie (»la paix parfaite«) aus (ebd.). Zu deren Merkmalen zählt überraschenderweise nicht nur die »immanence simple« (S. 113f), sondern auch die Abwesenheit von »interruption« und »ponctuation«: »[…] et elle [la paix] se reprend et s’étend sans interruption ni ponctuation elle se communique à tous […]« (S. 114). Die Zeichensetzung erscheint hier implizit als störender Bruch und Einführung von Transzendenz innerhalb eines natürlich vorhandenen, positiv konnotierten Kontinuums der »Immanenz«. Auffällig ist die metonymische Übertragung der Interpunktion als Element der Verschriftlichung auf Bereiche, welche sich erst auf den zweiten Blick als Phänomene der Sprache oder Schrift erweisen, denn in der (durch Nietzsche vorbereiteten) Tradition des Strukturalismus wird in Paradis weiterhin angedeutet, dass die menschliche Welt nichts als endloses, in sich kreisendes ›Sprechen‹ sei. Als besonders aufschlussreich zeigt sich an dieser Stelle ein längeres, dem Frage-Antwort-Schema folgendes Textsegment, welches in spielerisch-heiterer Form Grundfragen der Metaphysik ›behandelt‹. ›Tod‹ sei demnach das Ende des Sprachflusses : […] question vous avouez donc que vous n’existez pas réponse j’existe suffisamment puisque je vous parle […] question que voudrait dire une situation où je n’aurais plus de question à vous poser réponse vous seriez mort […] question qu’est-ce que la mort réponse je vous l’ai déjà dit l’absence de question […] question mais je veux être vivant et n’avoir aucune question à poser […] (S. 188) Wie bei allen bisher behandelten Autoren, Nietzsche eingeschlossen, findet sich schließlich auch bei Sollers noch einmal der Gedanke, dass der Mensch das natürliche Leben aufgrund seiner rationalen Begabung für sich zerteile, spalte und ordne, und sich damit letztendlich als Naturwesen von sich selbst entfremde. In
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der ewig kreisenden Welt tel quel – »[…] question l’histoire est-elle achevée réponse l’histoire doit continuer […] qu’est-ce que la mort […]« (s.o.) – stellt sich so etwa das ›Subjekt‹ als willkürliche Konstruktion heraus, welche metonymisch der Interpunktion innerhalb des Satzflusses gleichzusetzen ist: […] question qu’est-ce que votre essence au sens métaphysique de ce mot réponse la ponctuation question pourquoi la ponctuation réponse garantie de circulation d’une information donc de sa surveillance à chaque étape de la transaction question mais pourquoi le découpage de l’information réponse pour agir produire reproduire pour entretenir l’illusion oh pardon veuillez supprimer ce dernier membre de phrase […] (S. 188)146 Das unmarkierte Bataille-Zitat am Anfang des Werkes »[…] je ne peux pas considérer comme libre un être n’ayant pas le désir de trancher en lui les liens du langage […]« (S. 8),147 welches indirekt noch einmal die tiefe Verwandtschaft zwischen Bataille und Tel Quel herausstreicht, ist in Paradis Programm: Tatsächlich steht der Leser einem Text gegenüber, in welchem die ›Bande‹ oder ›Fesseln‹ der Sprache in Form von logisch-syntaktischen Verknüpfungselementen wie etwa Satzzeichen »durchschnitten« wurden, um eine Sinnpluralität freizulegen, welche jede eindeutige Sinnvergabe ausschließt. Ein Zitieren aus einem solchen Werk, wie es im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung unvermeidbar ist, untergräbt streng genommen dieses Vorgehen, da durch das Zitat eine Auswahl oder Begrenzung stattfindet, welche der Text selbst bewusst umgeht. Paradis durchbricht damit die rational bzw. metaphysisch bestimmte Konvention und setzt sich für das Unbestimmbare und Gegensätzliche ein, welches in der Nietzsches ›ewiger Wiederkehr‹ und Derridas différance148 verwandten Vorstellung des »inun« anschaulich wird: […] j’appelle ça l’inun c’est-à-dire le dedans de l’un toujours vécu du dehors erreur genre unain car l’inun n’est ni le zéro ni le un mais ce qui échappe sans cesse à la loi d’être l’autre ou l’un c’est zéro en même temps que un et un pendant le zéro pris pour un […] bref l’inun abolit le un […] (S. 132) 146 Vgl. S. 150 : »[…] j’étais dû comme lui à l’interruption suspension à la ponctuation régression à la réfutation cabale globale à l’enclume rétorsion tribale qui impose que nous soyons là […]«. 147 S. Georges Bataille : »À propos d’assoupissements« (1946), in : ders., Œuvres complètes, XI (Paris : Gallimard 1988), S. 31. 148 Tatsächlich wird in derselben Passage Nietzsches ›ewige Wiederkehr‹ genannt. Deren abrisshafte, verrätselte Beschreibung – »[…] retour éternel du même apparent mais du même coefficient différent par rapport au même et à tous les mêmes […]« (S. 132) – erinnert wiederum an Derridas Aufsatz »La différance«, in welchem er die Vorstellung der différance inhaltlich mit Nietzsches ›ewiger Wiederkehr‹ verknüpft und die différance als »mêmeté de la différence […] dans l’éternel retour« bezeichnet, s. Jacques Derrida, »La différance«, S. 57.
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Auffällig in der Darstellung dieses »inun« – »[…] l’inun n’est ni le zéro ni le un mais ce qui échappe sans cesse à la loi […]« (s.o.) – ist außerdem die Ähnlichkeit zu Julia Kristevas Charakterisierung der »poetischen Sprache« in ihrem berühmten Aufsatz »Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman«, in welchem sie Bachtins Dialogizitätskonzept, die These von der grundsätzlichen Vielstimmigkeit der (sprachlichen) Welt, gedanklich ausweitet bzw. fortspinnt. In der »poetischen Sprache«, so Kristeva, werde das »monologische«, »dogmatische« »système logique à base zéro-un« (auch als »0-1«) überschritten. Damit entziehe sie sich der »subordination« »au 1« als »Dieu, la loi, la définition«.149 Grundsätzlicher und dezidierter als Nietzsche lassen Sollers und andere tel queliens die Überwindung der platonischchristlichen Metaphysik mit der Revolutionierung der ›Sprache‹ zusammenfallen. Die auch in Paradis rekurrierende Vision eines bevorstehenden Zeitenumbruchs beinhaltet daher die Aussicht auf eine zukünftige Sprache (»langues du futur«, S. 116) bzw. ›Schrift‹, welche sich durch die Abwesenheit von Interpunktion, Großbuchstaben und sogar Diakritika auszeichne: […] pourquoi pas de ponctuation […] qu’en dit le moderne qu’en dira-t-il surtout dans cent ans mille ans 2075 2975 futurographie pancyclopédie à quoi serviront ces pattes de mouche virgule point point-virgule exclamation interrogation parenthèse guillemets tirets où sera passée la monnaie et la majuscule et la minuscule et le circonflexe avec son réflexe et l’aigu le grave le tréma […] (S. 100f) Während bei Nietzsche und anderen Autoren die Sprachkritik schrittweise aus der Infragestellung des Gottes- und Subjektbegriffes folgt, entwickeln Tel Quel-Autoren ihre Metaphysikkritik umgekehrt aus der kritischen Betrachtung des Sprachsystems bzw. diese impliziert bereits die Einsicht in die eigentliche Nichtexistenz von Gott, Subjekt, Wahrheit und Sinn. Die Sprachsubversion in Paradis lässt daher nur am Rande, wenn auch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, die klassischen, metaphysikkritischen Themen aufscheinen. Besonders skeptisch betrachtet wird das »problème de l’existence de dieu« (S. 17). Der monotheistische Gott erscheint als wenig glaubwürdige Möglichkeit – »[…] s’il y a un dieu vraiment c’est pas fort de toutes façons […]« (S. 33) – bzw. als Überrest eines längst verabschiedeten Zeitalters – »[…] qu’est-ce que dieu un lapsus constant […]« (S. 85). Dass der berühmte nietzscheanische Ausspruch vom ›Tod Gottes‹, welchem, allem Spott und aller Parodie zum Trotz, bei Nietzsche noch immer etwas Schauerlich-Ernstes anhaftet, in Paradis selbst geradezu zum Wortspiel wird, womit Nietzsches Verfahren und Prophezeiung ausgerechnet an ihm und seinem Werk fortgeführt wird,150 zeigt nicht 149 Julia Kristeva: »Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman«, in: Critique (April 1967), S. 445. 150 Nietzsche selbst versteht sein Schaffen als das »Ideal« des schonungslosen, sich »neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst« »hinstellenden« ›Parodierens‹ (FW: Fünftes Buch 382, KSA 3,
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nur, wie sehr die Vorstellung von der Nichtexistenz Gottes Teil der modernen Geisteswelt geworden ist, sondern auch in welchem Maße sie an Tragik verloren hat: […] le sens fumeux de ne pas moisir dans le jeu en effet si dieu est mort de la mort de l’homme et si dieu fait homme autrement qu’en homme se retrouve enfin en ni dieu ni homme […] (S. 163) Mit der Infragestellung Gottes als Garant für Sinn und Ordnung, hat in Paradis neben der christlichen Weltinterpretation151 auch das menschliche Subjekt seine Vorherrschaft eingebüßt. Voller Ironie wird so etwa Descartesʼ frühneuzeitlich-rationalistischer Grundsatz »Cogito ergo sum« aufgegriffen, um indirekt die Frage in den Raum zu stellen, ob ›Denken‹ zwangsläufig rational sei bzw. ob es ›rationales‹ Denken überhaupt gebe.152 Der Mensch erscheint als »simple[…] apparition[…]« oder »ombre[…]« und die Menschheitsgeschichte als »hallucination« (S. 178). Kritisch beleuchtet werden schließlich auch die (nicht zuletzt für den Menschen selbst) weitreichenden Folgen der rationalen Erkenntnisfähigkeit, wie sie sich in den Naturwissenschaften zeigen: »[…] chiffrer chaque atome bomber le virus microme transformer la grenouille en bœuf l’œuf en veuf […]« (S. 127). Interessanter jedoch als Textstellen, die sich inhaltlich mit der Destruktion der absoluten Wahrheiten beschäftigen, sind solche, welche diese Destruktion auf sprachlicher Ebene vorführen. Noch einmal illustriert Sollers damit die sprachliche Konstruiertheit sozialer Ideale, denn diese verdichten sich in Begriffen und feststehenden Formulierungen, welche wiederum sprachlich zerlegt bzw. ›dekonstruiert‹ werden können. Er leistet auf diese Weise einen Beitrag zu Derridas Methode der »›déconstruction‹ de l’histoire de la métaphysique«153 , welche ihrerseits auf Nietzsches ebenfalls sprachlich erwirkte Wahrheitsdestruktion zurückgeht (s. sein ›genealogisches‹ oder ›parodistisches‹ Verfahren). In Paradis lässt sich diese ›Dekonstruktion‹, begünstigt durch die nicht interpunktierte Textstruktur, vorwiegend auf Satzebene feststellen. In einigen Fällen wird die begriffliche Repräsentation jedoch auch auf Wortebene durch eigentümliche Neologismen beeinträchtigt. Eine Wortzusammensetzung wie »phallogovaginopathodécentriste« (S. 122), welche ihre ›dezentrierende‹ Wirkung selbstreflexiv offenlegt, entzieht sich einer eindeutigen Bedeutung und unterstreicht die Verworrenheit der (nicht nur) begriff-
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637). Dieses bewirke, dass das sogenannte »Ich« oder das religiöse Dogma als »Wortspiel« erkannt würden (s. JGB: Vorrede, KSA 5, 11; GD: Die vier grossen Irrthümer 3, KSA 6, 91). S. S. 116 : »[…] pourquoi cette manie de dire que le christianisme est la vraie religion vraie pour qui en quoi par rapport à qui et à quoi pourquoi vouloir enfermer l’histoire dans ces deux mille ans battus des paupières […]«. S. S. 13: »[…] j’ai rêvé de dico descartes il était pâle attentif ergo je lui demande si on pense pendant qu’on dort bonne question il fait l’air malin mais mort ne se doutant pas que l’être est en langues […]«. Jacques Derrida, De la grammatologie, S. 124.
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lichen Welt. Zu einer Bedeutungsabtragung auf Satzebene dagegen kommt es vor allem durch die rhetorischen Mittel Reim, Wiederholung und Redundanz.154 Der Gleichklang von Wörtern wird so etwa genutzt, um ›heilige‹ Begriffe mit ›profanen‹ zu überblenden und damit zu entsakralisieren, beispielsweise wenn sich »dieux« plötzlich mit »yeux«155 bzw. »dieu« mit »lieu«156 reimt oder die erste Person Plural der eingeschobenen Konjugationsreihe ›incarner‹ »nous carnavalons« lautet.157 Blasphemisch wirkt die Einfügung »deus« außerdem in einer Abfolge sich auf die lateinische Endung -us reimender Wörter: »[…] comme l’écluse anus terminus est louée vaginus deus et c’est leur pénus qui est en surplus ils n’ont qu’à se la manipuler entre eux leur phallus résumé […]« (S. 249). In einem anderen Textsegment wird mithilfe von Reim und Wiederholung die archetypische, biblische Gottesanpreisung »[…] j’écris ton nom je chante et glorifie et poursuis ton nom j’annonce ton nom […]« (S. 140),158 schrittweise entwertet bzw. lächerlich gemacht, nachdem der Abschnitt bereits durch die Frage »[…] qu’est ce que dieu en eux sinon ce siphon […]« (ebd.) eingeleitet wird. Die beharrliche Wiederholung von »nom«, wobei die Gottesanrufung in profane Sinnbereiche übergeht bzw. sich in Absurditäten verläuft,159 sowie die Bemerkung, dass sich die englische Übersetzung »name« auf »shame« reime, tragen dazu bei, die biblische Gottesverehrung zu parodieren und dadurch zu schwächen. Das anfängliche »je chante et glorifie […] ton nom« wird daher am Ende des Abschnitts in sein Gegenteil verkehrt : »[…] nous sommes 154
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Vgl. Hilary Clark, The fictional encyclopaedia, S. 138. Clark betont vor allem das rhetorische Mittel der ›Wiederholung‹. Durch »repetition« entstehe ein »›mantra‹ effect«: »The marked repetition of a word not only emphasizes that word but also erodes it, makes it seem ridiculous, redundant.« S. 106 : »[…] pas de dieux non pas de dieux pas d’yeux mais seulement air et pierre […]«. S. 170 : »[…] niant dieu pour mieux affirmer que son lieu c’est dieu comment opérer en niant dieu non ce serait obéir à l’origine du lieu […]«. Der Abschnitt, in welchem »dieu« und »lieu« abwechselnd wiederholt werden, nimmt eine halbe Seite in Anspruch, das Zitat hat also rein exemplarischen Charakter. Vgl. Hilary Clark, The fictional encyclopaedia, S. 138: »Dieu (already undermined by the omission of the majuscule) is repeated alongside ›lieu‹, the two words become interchangeable over the course of the repetitions, making of ›dieu‹ a ›lieu commun‹, a fixed commonplace«. S. 122: »[…] forcés au retour je m’incarne tu t’incarnes il se réincarne nous carnavalons ils s’encarnent […]«. Die Textstelle muss als ungefähres, abgewandeltes Zitat verstanden werden, wobei als Quelle eine Vielzahl von Bibelstellen infrage kommen, s. z.B. Jes 25, 1 EU: »HERR, du bist mein Gott, ich will dich erheben, deinen Namen preisen […]«; bzw. Offb 15, 4 EU: »Wer wird dich nicht fürchten, Herr, wer wird deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig: Alle Völker kommen und beten dich an, denn offenbar geworden sind deine gerechten Taten.« S. S. 140, z.B. : »[…] j’annonce ton nom dans nos noms je renvoie la gangue à ton nom gangrène amputant nos noms vers ton nom or un nom ça se prononce comme ça […]«; bzw. ebd. : »[…] la maison du nom fut remplie de la nuée de la gloire et les prêtres furent obligés de sortir car la gloire du nom avait envahi la maison du nom […]«.
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de simples flexions de son nom […] name en anglais rimant avec shame honte à notre nom déformant le nom […]« (S. 140). Knappe hundert Seiten später folgt eine scheinbar das christliche Motiv der Wesensgleichheit aufgreifende Passage über das Verhältnis von Gott und Mensch bzw. Gott und Gottessohn. Das ihr vorangestellte Substantiv »fatraciens«, abgeleitet von der französischen ›Fatrasie‹, einer mittelalterlichen Unsinnsdichtung, deutet dabei an, womit es der Leser im Folgenden zu tun hat. Das formal an Kirchensprache erinnernde Textstück – wobei dieser Eindruck genau genommen nur durch die wiederholte Rede vom »Vater« aufrechterhalten wird – mündet nämlich tatsächlich in reinen Unsinn: […] fatraciens quant à moi je suis fils du père qui est au-dessus du père et depuis mon père mais sans me quitter comme père je viens voir les choses qui sont à lui donc à moi en son nom de lui comme à moi […] (S. 218) Mit der Gottesautorität lässt Paradis auch das Gewicht anderer maßgebender Instanzen schwinden. Noch einmal geschieht dies mithilfe des rhetorischen Mittels der Wiederholung. Wenn über mehr als eine halbe Seite die Floskel »au nom de« wiederholt wird – »[…] au nom de ceci de cela de la race du prolétariat de jésus […] au nom du peuple […] au nom du féminin opprimé au nom de la nature abîmée […] au nom de la résistance […] de l’opium […] au nom du père« (S. 158) – wobei die Institutionen oder Instanzen, in deren ›Namen‹ gesprochen wird, beliebig scheinen, sich zum Teil ausschließen, und der eigentliche Redeanlass undurchsichtig bleibt, da ein »au nom de« auf das andere folgt, so wird der Eindruck der Unverbindlichkeit, ja der Indifferenz erzeugt.160 Derselbe Effekt entsteht durch die scheinbar endlose Aneinanderreihung unterschiedlicher Anredeformen bzw. Titel, denn in ihrer Häufung – »[…] monseigneur bien évidemment cher docteur comment donc monsieur le président-directeur mais je vous en prie votre sainteté si c’est vous qui le dites monsieur l’inspecteur certainement excellence majesté […]« (S. 168f) – büßen sie an Signifikanz ein und werden untereinander austauschbar. Selbstreflexiv thematisiert der Text, worum es ganz offensichtlich geht: »[…] léser votre autorité« (S. 169). An einer anderen Stelle werden gleichlautende Wortendungen bzw. -silben auf -isme oder -ate eingesetzt, um unterschiedliche und zum Teil gegensätzliche Begriffe einander anzunähern und starre Begriffsgrenzen verschwimmen zu lassen.161 Ähnlich wird verfahren, wenn der spätestens seit der frühen Neuzeit mit Licht assoziierte Begriff »vérité« über das Stilmittel des Reims schrittweise von »nuit« abgeleitet wird: »[…] night noche notte nacht notés sur le t vérité sortant de 160 Vgl. Hilary Clark, The fictional encyclopaedia, S. 143. 161 S. S. 158 : »[…] capitalisme fascisme nazisme socialisme même topo technocrates démonotécrates autocrates phallocrates ou vaginocrates bureaucrates dans la femmocrate le crate est le critère du radeau le cratère […]«.
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nuit minuitée« (S. 130). Zwei Seiten später findet sich das Bild um ein weiteres Element ergänzt. Wahrheit erscheint nun nicht mehr nur als ›dunkel‹, sondern auch als ›tief‹: »[…] c’est alors que la vérité sort du puits [dt. ›Brunnen‹] […]« (S. 132). Der aufklärerischen ›Wahrheit‹ wird somit eine andere, vielleicht mystisch-undurchschaubare ›Wahrheit‹ entgegengesetzt. Die platonischen Ideen des ›Guten‹, ›Wahren‹ und ›Schönen‹, welche meist als zusammenhängende Sinneinheit betrachtet werden, versucht Paradis vor allem mithilfe von Tautologien, d.h. durch Satzstrukturen mit semantisch-inhaltlicher Redundanz zu dekonstruieren. Sätze wie »[…] la splendeur du vrai et le vrai la splendeur du beau et la splendeur vraie du beau est le beau du vrai devenu vrai […]« oder »[…] la réalité des réalités qui parfois suggère une vérité dans la vérité des vérités car le voile de la réalité j’en ai fait un réel pour la vérité […]« (S. 142),162 welche sich syntaktischen Regeln entweder vollständig entziehen, oder diese nur oberflächlich aufrechterhalten, drehen sich semantisch-logisch im Kreis und verfügen somit über wenig Aussagekraft. Die leere Redundanz der Wiederholungen bewirkt, dass sich Begriffe wie ›Wahrheit‹ abnutzen und ihrer eigentlichen Bedeutung beraubt werden, so dass sie am Ende nur Wörter unter Wörtern oder Wortspiele darstellen. Tautologien ähneln in dieser Hinsicht dem logischen Circulus vitiosus bzw. Zirkelschluss. Beide unterbinden einen eigentlichen Informationsgewinn, der Sinn stagniert und die logisch-rationalen Prinzipien der Kausalität und Teleologie werden durch ein Kreisgeschehen ersetzt: »[…] cause causée de la causerie conspirée cause causale et non matérielle cause causante […]« (S. 153). Besonders anschaulich wird dies auch in der auf Wortspiel und Reim beruhenden Darstellung des Henne-Ei-Problems: […] la poule fit l’œuf que la poule avait déjà poulœufé dans l’œuf sorti de la poule poulissant poulée dans l’œuffé et la poule se fit aussi petite qu’un œuf en train de sortir d’un autre œuf pondu poule en poule pour l’éternité […] (S. 151) Darüber hinaus lassen sich Satzstrukturen feststellen, welche mithilfe von syntaktischen Konnektoren wie Konjunktionen oder Adverbien inhaltlich-logische Stringenz vortäuschen, welche die im Leser geweckte Erwartung aber bewusst nicht erfüllen, so dass der vermeintliche Sinn ausbleibt: […] tandis que moi je ne juge personne ou alors si je juge c’est vrai parce que c’est verbé chair décroché de chair en nommé par conséquent vous devez je manger pour savoir d’où je suis parlé vous devez m’avaler en corps sang pour être vousmêmes […] (S. 126)163 162
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S.a. S. 146 : »[…] comme c’est vrai le vrai du ça veut dire vrai vérité du vrai dérivé comme c’est vrai […]«; bzw. S. 165 : »[…] vérité de la vie de la voie de la vérité en vie par ses voies vrai du vrai […]«. S.a. S. 169 : »[…] voilà nous y sommes voilà encore une fois le fond du débat il écrivait donc il osait donc il écrivait qu’il osait donc il prétendait être ce qu’il écrivait donc il signait donc il
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Der logische Circulus vitiosus als eine im weitesten Sinne sprachliche Kreisbewegung, in welcher Kausalität, Teleologie und Ratio in sich zusammenstürzen, war von Nietzsche interessanterweise als der gottgleiche Zustand des ewigen Kreisgeschehens beschrieben worden und zwar in eben jenem berühmten Abschnitt aus Jenseits von Gut und Böse, auf welchen der (in der Gründungserklärung erläuterte) Titel der Zeitschrift Tel Quel zurückgeht: »[…] — — Wie? Und dies wäre nicht — circulus vitiosus deus?« (JGB: Drittes Hauptstück 56, KSA 5, 75). Nietzsches überraschende, nicht näher ausgeführte Übertragung einer der Sprache bzw. der Logik entlehnten Denkfigur auf das Philosophem der ›ewigen Wiederkehr‹, wird in Paradis somit beim Wort genommen und sprachlich ausgeschöpft. Ergebnis ist die écriture ›tel quel‹ als Spiegelbild der ewig kreisenden ›Wiederkehr des Gleichen‹ : »[…] le commencement dans les fins et réciproquement comme en débordant d’un bassin mais par toi aussi chaque nuit je visite mon cercle […]« (S. 155). Ihr charakteristisches Merkmal, die Aufhebung der irdischen Widersprüche, erscheint wie schon bei Nietzsche und Bataille,164 im Bild der ›leuchtenden‹, ›taghellen‹ Nacht: […] la vérité nous apparaît et nous sommes alors en plein jour tantôt nous retombons dans la nuit et elle plonge alors en éclair il y en a parmi nous pour lesquels l’éclair brille coup sur coup et ils sont environnés de lumière et la nuit est pour eux un soleil comme il a été dit […] (S. 110)165
6.2
Das Subjekt im polylogue extérieur Lorsque la garantie la plus solide de notre identité : la syntaxe, nous apparaît comme une limite, toute une histoire du sujet occidental dans son rapport à son énonciation est finie.166
Dass erst die Überwindung der Satzgrammatik die abendländische Metaphysik und nicht zuletzt das abendländische Subjekt endgültig verabschieden würde, hatte Nietzsche wiederholt angedeutet.167 In ihrer Lektüre von Sollersʼ erstem nicht inse donnait le droit d’exister […]«; s.a. S. 24ff, wo die wiederkehrende Verknüpfung durch das Adverb »après« eine zeitlich-logische Abfolge von Handlungen verspricht, diese jedoch entweder unzusammenhängend sind oder sich in regelmäßigen Abständen wiederholen und somit einen Kreis beschreiben. 164 Vgl. Kapitel 5.2.4 der vorliegenden Arbeit (»Kosmische Energieentladungen und die Verschmelzung der Gegensätze in der Natur«), v.a. dessen Schlussteil. 165 Die Äußerung »comme il a été dit« legt offen, dass es sich um ein Zitat handelt. 166 Julia Kristeva, »Polylogue«, S. 33. 167 S. z.B. JGB: Erstes Hauptstück 20, KSA 5, 34: »Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen – von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philo-
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terpunktiertem Text H betrachtet Julia Kristeva diesen äußersten Schritt als vollzogen. Das Redesubjekt des Textes, so Kristeva, zerfalle in eine Vielzahl »anonymer«, »entmenschlichter« Einzelstimmen: »Son éclatement l’a multiplié, désanthropomorphisé, anonymisé«.168 Was Kristeva in ihrer Interpretation von H »Polylogue« zusammenträgt, gilt natürlich erst recht für Sollersʼ verfahrensmäßig radikaler gestaltetes Werk Paradis. Das obige Zitat zeigt dabei noch einmal, wie sehr die poststrukturalistische Literaturtheorie strukturalistische Prämissen übernimmt und weiterentwickelt. Wenn Kristeva die »Identität« des Subjekts der »Syntax« gleichsetzt und durchblicken lässt, dass diese in der Tel Quelʼschen écriture überschritten werde (s.o.), so führt sie im Grunde die schon im Strukturalismus wirksame »Dezentrierung des Subjekts« fort, welche in der Einsicht ihren Ausgang nimmt, dass sich Identität immer erst sprachlich konstituiere.169 Wie Barthes in der Zusammenstellung der Voraussetzungen und Merkmale der poststrukturalistischen écriture in seinem bekannten Aufsatz »Écrire, verbe intransitif?« resümiert, stelle die Sprache somit kein »simple instrument, utilitaire ou décoratif« des Menschen dar, sondern der Mensch entstehe umgekehrt erst im Sprechakt: L’homme ne préexiste pas au langage, ni phylogénétiquement ni ontogénétiquement. Nous n’atteignons jamais un état où l’homme serait séparé du langage […] c’est le langage qui enseigne la définition de l’homme, non le contraire.170 Jenseits dieses gemeinsamen Grundkonsenses, ist dem Poststrukturalismus jedoch im Unterschied zum Strukturalismus, die Vorstellung der sprachlichen Geschlossenheit bzw. ›Grenze‹ (s. Zitat Kristeva) fremd.171 Wie die Sprache selbst fügt sich so letztlich auch das poststrukturalistische Subjekt in kein eindeutig dechiffrierbares System. Der Begriff »polylogue«, welchen Kristeva zur Bezeichnung der H charakterisierenden Schreibtechnik verwendet – »une fragmentation infinie, inachevable: un ›polylogue extérieur‹«172 –, geht insgeheim, ohne dass Kristeva selbst darauf hinweist, auf eine Textstelle aus H zurück, welche selbstbezüglich das ihr zugrunde liegende Verfahren reflektiert: »[…] j’oppose au monologue intérieur le polylogue extérieur […]«.173 In der Tat bildet die sowohl in H als auch in Paradis gebräuchlisophischen Systeme vorbereitet liegt […]«; JGB: Drittes Hauptstück 54, KSA 5, 73: »Ehemals nämlich glaubte man an ›die Seele‹, wie man an die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte […]«; GD: Die »Vernunft« in der Philosophie 5, KSA 6, 78: »Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…«. 168 Julia Kristeva, »Polylogue«, S. 38. 169 Vgl. Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, S. 5 u. 29. 170 Roland Barthes, »Écrire, verbe intransitif?«, S. 974; vgl. Roland Barthes, »Drame, poème, roman«, S. 28 (Fußnote) : »Au sens structural (linguistique), le sujet n’est pas une personne, mais une fonction«. 171 Vgl. Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, S. 29. 172 Julia Kristeva, »Polylogue«, S. 32. 173 Philippe Sollers : H (Paris : Éditions du Seuil 1973), S. 42.
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che Rede das Gegenteil bzw. die extreme Steigerung des ›inneren Monologs‹ als der Darstellung innerer Bewusstseinsvorgänge. Anders als der innere Monolog beschränkt sich der »discours polylogue, à sujet d’énonciation multiplié, stratifié, hétéronome«174 nicht auf die Innenansicht einer näher beschriebenen, psychologisch ausgeleuchteten Figur, sondern wandert thematisch von einer Figur zur nächsten (daher poly-logue), wobei er deren Gedanken, Reden und Berichte nur oberflächlich streift, um noch bevor der Leser jeweils erkennen kann, worum es geht, zu neuen Inhalten überzugehen (statt intérieur daher extérieur). Während traditionelle Erzählverfahren auf Einheit und Identität abzielen, untergräbt das sich von diesen abgrenzende ›polylogische‹ Schreiben jede Form von Einheit und Geschlossenheit: »[…] polylogue pulvérisant aussi bien que multipliant l’unité […]«.175 In erster Linie trifft dies natürlich die Stellung des Subjekts selbst. Die Wertschätzung, welche ihm als Sinnbild für Vernunft und Ordnung seit den Anfängen des Abendlandes zuteilwurde, wird in der Narrativik gewöhnlich auf drei Ebenen verhandelt, die Ebene des realen Autors, des Erzählers und der Figur/-en. Diese Ebenen können bekanntlich je nach Erzählsituation, so etwa in Autobiografien, zusammenfallen. Mit dem 1968, acht Jahre nach der Gründung der Zeitschrift Tel Quel, durch Barthes proklamierten ›Tod des Autors‹, welcher unmissverständlich den Nachklang zu Nietzsches ›Tod Gottes‹ bildet, büßt nicht nur der Schriftsteller seine Werkherrschaft ein, sondern mit ihm verschwinden auch die gerade in der Narrativik unverzichtbaren Instanzen des Erzählers und der Erzählfiguren. Der Text, so Barthes in »La mort de l’auteur«, emanzipiere sich in der postmodernen Literatur vom Autor und verselbstständige sich zur anonymen écriture: »[L]ʼécriture est destruction de toute voix, de toute origine. L’écriture, c’est ce neutre, ce composite, cet oblique où fuit notre sujet, […] où vient se perdre toute identité […]«.176 Der Wegfall des sinnstiftenden Subjekts gehe mit einer, wie Barthes mit Rückgriff auf Nietzsche betont, »activité que l’on pourrait appeler contre-théologique« einher, »car refuser d’arrêter le sens, c’est finalement refuser Dieu et ses hypostases, la raison, la science, la loi«.177 Mit Texten, welche keinen eindeutigen Inhalt oder Sinn mehr erkennen lassen, vielmehr einen »espace à dimensions multiples« bilden, »où se marient et se contestent des écritures variées«,178 ändert sich letztlich nicht nur der Stellenwert des Autors, sondern auch jener des entstehenden Werks. Sollers geht in einem Aufsatz so weit, die »catégories d’œuvres‹ et d’auteur‹« gegenüber der Eigendynamik des Textes, seiner »production«, als »überholt« zu erklären.179 174 175 176 177 178 179
Julia Kristeva, »Polylogue«, S. 29. Ebd., S. 32. Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, S. 491. Ebd., S. 494. Ebd., S. 493. Philippe Sollers, »Le réflexe de réduction«, S. 393.
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Dass Barthes, der sich in »La mort de l’auteur«, wie die literarischen Beispiele zeigen,180 ganz offensichtlich auf erzählende Literatur konzentrierte, nicht allgemein vom ›Tod des Subjekts‹, sondern vom ›Tod des Autors‹ spricht, setzt stillschweigend die Auffassung voraus, dass der Erzähler oder der Protagonist eines Narrativtextes, in Übereinstimmung mit der spätmodernen Skepsis gegenüber Begriffen wie Vernunft, Wahrheit und Wirklichkeit, im Grunde doch kein anderer als der Autor selbst sei.181 Ein solcher Illusionsbruch wird so beispielsweise, wie eines der vorangehenden Kapitel zeigen konnte, in Niebla vollzogen, wo sich die personale Erzählweise mit scheinbar interner Fokalisierung durch das unerwartete Intervenieren der Autor-Figur ›Unamuno‹ nachträglich als auktoriale Erzählsituation darstellt. Schon Nietzsche hatte betont, dass ein ›unpersönliches‹ Schreiben in der Praxis unmöglich sei, denn zwangsläufig drücke »alle Kunst« das momentane Innenleben ihres Erschaffers aus: […] [L]obt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nicht aus? zieht sie nicht hervor? Mit dem Allen stärkt oder schwächt sie gewisse Werthschätzungen…Ist dies nur ein Nebenbei? ein Zufall? Etwas, bei dem der Instinkt des Künstlers gar nicht betheiligt wäre? Oder aber: ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler kann…? (GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 24, KSA 6, 127) Umso mehr setzt sich Nietzsche für einen subjektiven, lebendigen Schreibstil ein, der das vitale Innerste des Schreibenden offenbart. Dieses Innerste des Menschen konzipiert er dabei alles andere als einheitlich bzw. homogen. In dem Maße, wie er, im Vorgriff auf linguistische Vorstellungen, das abendländische, grammatisch verankerte »Ich« angesichts der Erfahrung seiner Wandelbarkeit, Widersprüchlichkeit und Vielfältigkeit, als reines »Wortspiel«, »Fiktion« oder »Fabel« entlarvt (GD: Die vier grossen Irrthümer 3, KSA 6, 91), entwirft er sowohl theoretisch als auch praktisch einen neuen Schreibstil. Diesen versteht er als Spiegel des vielschichtigen, die ›ewige Wiederkehr‹ erfahrenden und ›lebenden‹ ›Übermenschen‹: Ich sage zugleich noch ein allgemeines Wort über meine Kunst des Stils. Einen Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen […]; und in Anbetracht, dass die Vielheit innerer Zustände bei mir ausserordentlich ist, giebt es bei mir viele Möglichkeiten des Stils – die vielfachste Kunst des Stils überhaupt, über die je ein Mensch verfügt hat. Gut ist jeder Stil, der einen inneren Zustand wirklich 180 Neben Balzac, auf dessen Novelle Sarrasine er einleitend Bezug nimmt, nennt Barthes so z.B. Proust und den Surrealismus, s. Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, S. 491ff. 181 Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Barthes, möchte man nicht von einer Verwechslung der Kategorien ›Autor‹ und ›Erzähler‹ ausgehen, über eine Textstelle in Sarrasine schreibt: »Qui parle ainsi? Est-ce le héros de la nouvelle […]? Est-ce l’individu Balzac […]? Est-ce l’auteur Balzac […]? […].«, s. ebd., S. 491.
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mittheilt, der sich über die Zeichen, über das tempo der Zeichen, über die Gebärden […] nicht vergreift. […] Die Kunst des grossen Rhythmus, der grosse Stil der Periodik zum Ausdruck eines ungeheuren Auf und Nieder von sublimer, von übermenschlicher Leidenschaft ist erst von mir entdeckt […] (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 4, KSA 6, 304f) Ebenso wenig wie Nietzsches Entwurf eines Lebens und Schreibens jenseits des platonisch-christlichen Subjekts, meint auch Barthesʼ Konstatierung des ›Autortodes‹ in der postmodernen Literatur nicht schlichtweg das Ende des ›Subjekts‹ bzw. ›Autors‹. Dieser erscheint lediglich in verändertem Gewand.182 Postmoderne bzw. poststrukturalistische Werke, so auch Paradis, binden vor der theoretischen Überlegung, dass jedes Kunstwerk auf die eine oder andere Weise doch immer nur Ausdruck seines Schöpfers ist, den lebenswirklichen Autor gewissermaßen sogar stärker und offensichtlicher ein als moderne Narrativtexte. Während die Betonung der Widersprüchlichkeit und Hybridität des Ichs Paradis wie ein roter Faden durchzieht,183 was durch den ständigen Wechsel des Redesubjekts gewissermaßen performativ vorgeführt wird, lässt sich inmitten des verworrenen Wortschwalls regelmäßig die Stimme des biografischen Philippe Sollersʼ vernehmen. Kurze, stichwortartige oder situative Angaben, wie etwa Varianten seines Namens (sein Geburtsname Joyaux u. davon abgeleitet ›Diamant‹ sowie sein Pseudonym bzw. Künstlername Sollers)184 sein Geburtsdatum, Umstände seiner Geburt oder 182
Vgl. Heinrich Detering, »Die Tode Nietzsches. Zur antitheologischen Theologie der Postmoderne«; Bernhard Teuber, »Sacrificium auctoris. Die Anthropologie des Opfers und das postmoderne Konzept der Autorschaft«, v.a. S. 122f. 183 S. z.B. S. 24 : »[…] moi aussi je suis le même ou un autre […]«; S. 52 : »[…] toi c’est toujours toi sous une autre forme […] tu étais l’une et l’autre et l’une basculant dans l’autre […]«; S. 132 : »[…] un sujet s’est parfaitement identifié à une langue il devient toutes les langues et du même coup une humanité […]«; S. 134 : »[…] être plus que l’autre d’être l’autre en l’autre de dépasser l’autre […]«; S. 138 : »[…] c’est l’autre qui se dit toi sous ton toi ce n’est pas moi ni nonmoi […]«; S. 156 : »[…] je suis pour moi un autre alors que j’aurais pu me confondre avec celui que je fuis […]«. 184 S. S. 24 : »[…] un divin zinzin deux poulpes un caillou diamant joyau flaboyant […]«; S. 75 (über einen fiktiven Autor namens »frère Taffetas«, dessen Buchprojekt einer »monumentale encyclopédie«, in welcher er Sollersʼ Leben und Schaffen thematisieren möchte, en miniature jenes von Paradis widerspiegelt) : »[…] il prépare sa monumentale encyclopédie de natura diabolica sollertia je suis le joyau de sa collection […]«; S. 116 : »[…] comme un joyau suspendu dans la nuit […]«; S. 244 : »[…] on retrouve un orfèvre du nom de joyaux près du port fin dix-huitième réputation trouble quelque chose de pas déclaré de secret et moi donc joyaux philippe pierre gérard dit philippe sollers […]«. ›Diamant‹ ist der wahrscheinlich semantisch von ›Joyaux‹ abgeleitete Nachname der Hauptfigur aus Sollersʼ 1984 veröffentlichtem Roman Portrait du Joueur. Den Nachnamen ›Sollers‹ verwendet der Autor erstmals 1957, als er, noch minderjährig, seinen ersten Erzähltext Le Défi herausgibt. Der Name geht auf das Lateinische zurück und oszilliert zwischen verschiedenen Bedeutungen, wobei sich Sollers vor allem die den Vokabeln sollers/-ertis (lat., dt. ›geschickt‹, ›klug‹, ›kunstfertig‹) und sollertia/-ae (lat., dt. ›Kunstfertig-
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Kindheit,185 verschiedene Krankheiten, unter welchen er in jungen Jahren litt (so z.B. 1961 unter einem schweren Coma hepaticum),186 aber auch längere, häufig szenische Darstellungen aus der Ich-Perspektive – Kriegserinnerungen, Antikriegshaltung bzw. Sympathie mit der französischen Widerstandsbewegung im Familienkreis,187 Begeisterung für Latein,188 frühe sexuelle Erfahrungen,189 Militärdienst und Vortäuschen der Schizophrenie, um dem Einsatz im Algerienkrieg zu entgehen,190 schriftstellerische Tätigkeiten,191 seine (mit anderen Tel Quel-Mitgliedern unternommene) Chinareise,192 gesundheitliche Schwierigkeiten seines Sohnes Da-
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keit‹, ›Geschick‹) zugrunde liegende Etymologie aus ars/artis (lat., dt. ›Kunst‹) und solus, -a, -um (lat., dt. ›allein‹, ›einzig‹) bzw. sollus, -a, -um (lat., dt. ›ganz‹) zunutze macht. Darüber hinaus kommen als Bedeutungen das lateinische sol/solis (lat., dt. ›Sonne‹) bzw. solaris/-e (lat., dt. ›sonnig‹, ›Sonne-›) infrage. Sollers erläutert seinen Künstlernamen in Portrait du Joueur, vgl. Philippe Forest, Philippe Sollers, S. 14. S. S. 32 : »[…] né 28 novembre 1936 à midi france front popu guerre d’espagne sagittaire […]«; S. 156 : »[…] né en novembre conçu en mars débité d’hiver […]«; S. 162 : »[…] c’est couru 6 août 1945 hiroshima mort secondes champignon choc lèpre crue j’avais huit ans […]«. S. S. 33 : »[…] j’ai mal aux oreilles une fois deux fois vingt fois otites mastoïdite j’étouffe compresses gutaperca éphédrine mes sœurs jouent avec des italiens […]«; S. 73 : »[…] j’ai tout eu ou presque scarlatine rougeole blennorragie hémorragie teintée vésicule méditations du coma extase salée du sérum intestin d’opium j’ai voyagé pioché aux quatre coins du pays bombardé masto tête ouverte hépatite asthme cul fendu […]«; S. 217 : »[…] sous les cuisses l’hépatite enfant du coma je l’ai vue la machine […]«. S. S. 32 : »[…] voilà général contre maréchal travail famille patrie les carottes sont cuites je répète […] voilà les bombardements il faut descendre à la cave ma mère emporte toujours son édredon elle tombe dans le jardin elle reste allongée sous les fusées les balles traçantes […] mon père est arrêté un soir c’est rapide voiture claquement de portes il transmet des renseignements sur les sous-marins […] il est relâché il organise un réseau pour ses ouvriers pourquoi intérêt personnel antiboche il n’aime pas l’armée il ne va pas à la messe […] tu refuseras de chanter à l’école on est contre le maréchal pourquoi c’est comme ça il est vieux il est con il chevrote nous on est pour les anglais […] croix-rouge appelant la nuit je marche là-dedans j’écoute chuchotements sous les bombes […]«. S. S. 23 : »[…] mes expériences à douze ans dans la chambre en haut du grenier apparitions diurnes nocturnes somnambule au bord des gouttières j’apprenais le latin la nuit endormi […]«. S. S. 33f : »[…] mes sœurs jouent avec des italiens […] je passe mes journées avec ces filles de madrid près du ruisseau […]«; S. 52 : »[…] j’ai onze ans elle m’entraîne le soir dans l’impasse elle me branle debout […] treize ans dans les jardins du casino elle me touche […]«; S. 75 : »[…] ah niaise jeunesse jamais je n’aurais dû avouer que je baisais déjà à quinze ans […]«. S. S. 69ff, v.a. S. 70 : »[…] le type m’a collé schizoïde sur mon dossier excellent ça sauvait la vie à l’époque […]«; S. 96 : »[…] dortoirs réfectoires examens appels du matin […]«. S. S. 11 : »[…] je me suis travaillé beaucoup j’ai achevé une longue œuvre qui vaut bien un peu de divertissement […]«; S. 25 : »[…] après j’écris des articles des amis m’en parlent je fonde deux ou trois revues je voyage de plus en plus […]«. S. S. 106-109.
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vid193 – kann der Leser dabei problemlos auf reale Lebensdaten des Autors zurückführen.194 Daneben zeigt sich eine Vielzahl von Beschreibungen, welche atmosphärisch, häufig nur über einzelne Wörter, Orte evozieren, an denen sich Sollers im Laufe seines Lebens vermehrt aufhielt – die Île de Ré an der französischen Westküste,195 Italien, besonders Venedig und die Adriaküste,196 Spanien und New York.197 In solchen Abschnitten lässt sich nur darüber spekulieren, inwieweit das erzählende Ich mit dem lebenswirklichen Autor übereinstimmt, d.h. inwieweit tatsächliche Erinnerungen wiedergegeben werden, so z.B. wenn ein je rückblickend von seinen Eindrücken bei einem Stierkampf in Barcelona, und daran anschließend, von sexuellen Begegnungen in Spanien berichtet (S. 192f). Immer wieder erweist es sich aufgrund des steten und meist abrupten Perspektivenwechsels sowie des Verzichts auf einleitende oder beschreibende Elemente als unmöglich, den jeweiligen Sprecher von Passagen zu bestimmen. Der Leser muss sich beispielsweise angesichts einer unvermittelten kritischen Stellungnahme zum Christen- und Judentum (S. 194), eines persönlichen Berichts zu einem Erdbeben (S. 178) oder unvermittelter Einwürfe wie »[…] kakis çà [sic!] me rappelle florence […]« (S. 124) bzw. »[…] j’écris tout ça en français […]« (S. 137), mit Barthes fragen : »Qui parle ainsi?«198 Ist es Philippe Sollers, der sich in der ersten Person Singular mitteilt, eine der unzähligen, anonymen ›Figuren‹, oder handelt es sich vielmehr um eines der unmarkierten Zitate, die mit dem Diskurs verschmelzen, wie etwa, wenn Paradis Lacan, Sade, Victor Hugo, Dante199 oder andere Persönlichkeiten der Geistesgeschichte zu 193
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S. S. 252 : »[…] il a encore eu sa crise cette nuit convulsion raidie matin gris ne voyant plus rien ne sentant plus rien spasme horreur pauvre enfant traversant l’erreur dans l’horreur mais ça se calme comme finalement tout se calme et la peur s’en va elle aussi […]«. Vgl. Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, S. 36-40. Vgl. ebd., S. 32. »Die Insel«, deren Name in Paradis nirgends erscheint, werde, so Kotin Mortimer, durch »bestimmte Wörter« »signalisiert«. In der Tat lässt die wiederholte Rede von »mouettes«, »cailloux«, »fleurs«, »orangers«, »palmiers«, »rosiers«, »pins«, »poissons«, »sud«, »beau temps«, »soleil«, »eau«, »marée«, »océan« (s. z.B. S. 60, 81, 130, 241 u. 244) das Bild der Insel erstehen. Sollersʼ Großvater besaß auf der Île de Ré mehrere Häuser, welche während des Zweiten Weltkriegs von deutschen Truppen zerstört wurden. Die Familie machte sich in den Nachkriegsjahren an ihren Wiederaufbau, s. Philippe Forest, Philippe Sollers, S. 12. S. S. 124; zu Venedig s. S. 178f u. 228f. S. S. 192f, 219f u. 250. Vgl. Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, S. 32-35. Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, S. 491. Zu Lacan s. S. 105: »[…] quoad matrem quoad castrationem […]« (zitiert wird aus Jacques Lacan : L e Sém inaire de Jacques L acan, Bd. 20 : E ncore [1972-1973], hg. von Jacques Alain Miller [Paris : Éditions du Seuil 1975], S. 36). Zu Sade s. S. 212 : »[…] 21 janvier 1795 sade écrit ma détention nationale la guillotine sous les yeux m’a fait cent fois plus de mal que ne m’en avaient jamais fait toutes les bastilles imaginables […]« (Zitat aus einem Brief des Marquis de Sade vom 21. Januar 1795 an seinen Anwalt Gaufridy). Sollers stellt das Zitat seiner Schrift Sade contre l’être suprêm e voran, s. Philippe Sollers : Sade contre l’être suprêm e,
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Wort kommen lässt? Diese Unbestimmbarkeit des Redesubjekts, der ›Figuren‹, des ›Erzählers‹ oder ›Autors‹ – Instanzen, welche Sollers in eins fallen lässt –, ist durch den Text gewollt. Philippe Sollers inszeniert mit Paradis ein Ich oder Autor-Ich – sich selbst? –, dessen Einheit gerade in der unbegrenzten Pluralität und Vielstimmigkeit besteht. Vor dieser tritt die Frage nach dem wahren, authentischen Ich zurück. Zusammengehalten wird das neue, sich stetig wandelnde Ich durch nichts anderes als den geschriebenen Text. Der Diskurs macht dies selbst transparent, indem selbstreferenziell immer wieder die Situation des schreibenden, sich selbst entwerfenden ›Autors‹ Sollers thematisiert und ins Bewusstsein gerufen wird. Neben allgemeinen, häufig szenischen Darstellungen des schriftstellerischen Arbeitens,200 kommentiert der abwechselnd in der ersten und dritten Person Singular repräsentierte ›Autor‹ so etwa sein Werk Paradis,201 geht auf kritische Leserstimprécédé de Sade dans le Tem ps (Paris : Gallimard 1996), S. 59. Zu Hugo, s. S. 228 : »[…] j’eus un rêve le mur des siècles m’apparut c’était de la chair vive avec du granit brut une immobilité faite d’inquiétude un édifice ayant un bruit de multitude […]«. Es handelt sich um die Anfangsverse des ersten Teils »La vision d’où est sorti ce livre« von Victor Hugos Gedichtband L a L égende des siècles, zitiert z.B. in Jean-Pierre Bertrand/Pascal Durand : L a m odernité rom antique. De L am artine à Nerval (Brüssel [u.a.] : Les Impressions Nouvelles 2006), S. 145. Zu Dante, s. S. 230: »[…] divinus radius sive divina gloria […]«, zitiert wird der 64. Vers aus Dantes Schreiben an Cangrande della Scala, s. Dante Alighieri: Das Schreiben an C angrande della Scala, hg. unter der Leitung von Ruedi Imbach, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Thomas Ricklin (Hamburg: Meiner 1993), S. 22. 200 S. S. 83 : »[…] l’écrit et encre l’écrit linge papier bois silence […] et moi j’écris ça en quoi en français […]«; S. 85 : »[…] si je l’écris ce n’est pas pour vous pour moi pour ellui mais pour cette rame à mort dans l’écrit […]«; S. 144 : »[…] il me semble que j’écris depuis dix mille ans maintenant mes yeux n’en croient plus leurs yeux ils passent du noir au bleu […]«; S. 198 : »[…] je l’écris […] ce soir tout est bleu et gris et bleu-gris la chambre où je suis se dessine c’est comme si je voyais enfin pour la première fois les signes tracés par moi devant moi lettre à lettre en passant par moi […]«; S. 251 : »[…] et lui là impassible à nouveau en train d’écrire et recommençant à écrire là sous la lampe près de la fenêtre écrivant lisant écrivant lisant écrivant la vérité […] c’est la nuit et il continue à écrire on verra bien ce qui se lève dans ce qu’il écrit pendant qu’il écrit […]«; S. 47 : »[…] toutes les deux minutes ouvrant fermant la fenêtre marchant s’allongeant s’asseyant mais dans son filet sur papier rien rien toujours rien rien rien […]«. 201 Angesprochen werden die durchgehende Kleinschreibung und Kursivsetzung, der Verzicht auf jegliche Interpunktion bis hin zur Wahl des Textanfangs, s. S. 26 : »[…] l’absence de majuscules signifie plein vide immanence de toutes façons la langue ne supporte pas la transcendance […]«; S. 67 : »[…] cette histoire de ponctuation voilà ça revient l’objection lisible-illisible […] là précisément je m’élève je dis que personne n’a ponctué mieux que moi […]«; S. 97f : »[…] je viens de rêver de ce livre dit-il vous savez cette histoire sans ponctuation […] mais pourquoi ça commence ainsi voix fleur lumière écho des lumières […]«.
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men ein, ermahnt seine Leser,202 spricht Widmungen aus203 oder unterbricht, als habe er den Faden verloren, den fließenden Text mit den Worten »où en étaitje«, worauf er mit »ah oui en chine« fortfährt (S. 108). Was Barthes im Hinblick auf Sollersʼ früheres Erzählwerk Drame feststellt, dass in der Thematisierung des Schreibprozesses, d.h. im Zusammenfall von discours und histoire die »mauvaise foi attachée à toute narration personnelle«, somit die der Ich-Erzählung typische ›Unaufrichtigkeit‹ oder ›Täuschung‹, resultierend aus der eigentlichen Spaltung des Ichs in Erzähler und Figur, aufgehoben werde,204 kann in Paradis zudem auf den Autor ausgeweitet werden. Wie auch anderen poststrukturalistischen Werken, welche im Modus der Autoreflexivität ihre eigene Genese zum Thema erheben, gelingt es Paradis, die Kongruenz von Autor, Erzähler und Protagonist gewissermaßen glaubhafter erscheinen zu lassen als in autobiografischen Texten, denn »cette histoire sans ponctuation« (z.B. S. 67) entspricht unbestreitbar jenem Werk, welches der reale Philippe Sollers verfasst hat und welches der Leser in den Händen hält. Durch die Übereinstimmung von discours und histoire verändert sich auch die Raum- und Zeitstruktur des Textes. Wieder ist es der Text selbst, welcher in Paradis, trotz der unzähligen, in den anonymen Zitaten genannten Orte und Zeitstufen, das eigentliche räumliche und zeitliche Maß vorgibt.205 Dieses ist kein anderes als das präsentische Hier und Jetzt des schreibenden Autors. Wesentliches Merkmal des neuen, postmodernen Autorkonzepts ist folglich die Umkehrung des Verhältnisses von Autor und Werk. Während der »Autor«, so Barthes in »La mort de l’auteur«, »mit seinem Werk« herkömmlicherweise »dans le même rapport d’antécédence« 202 S. S. 67 : »[…] or la précisément je m’élève […] c’est qu’on vous suppose adultes chers débiles sortis du primaire […]«; S. 100 : »[…] donc vous dites pourquoi cette typographie l’italique là penché dans son gras […] encore la question pourquoi pas de ponctuation […]«; S. 207 : »[…] ne jugez donc pas ce roman il vous est fermé et non pas parce que difficile mais élémentaire à vos goncourts […] pour elles mon écriture est d’après la mécanique quantique […]«; S. 211 : »[…] ici lecteur lis bien écoute bien tiens-toi bien tu peux si tu veux passer à travers le voile je t’ai assoupli la toile si tu ne comprends pas honte à toi […]«; S. 242 : »[…] mesdames et messieurs reprit-il je ne vous apprendrai rien en vous rappelant que le texte hiéroglypique ne comporte aucun signe de ponctuation […]«. 203 S. S. 171 : »[…] je suis heureux de dédier ce livre mais si mais si n’en doutez pas c’est un livre à toutes celles et tous ceux et elles sont nombreuses et nombreux qui auront essayé […] de m’empêcher de l’écrire sans elles et sans eux je n’aurais même pas osé l’imaginer qu’ils et elles soient donc remerciés […]«; S. 174 : »[…] nous entrons dans un nouveau moyen-âge je vous lègue mon enluminé livre […]«. 204 Roland Barthes, »Drame, poème, roman«, S. 28f. 205 Ebd., S. 36f. In Drame, so Barthes, »absorbiere« die »axe de notation«, die Zeit des Diskurses, welcher er »le temps imaginé de l’histoire« (= »axe de fiction«) gegenüberstellt, »toute la temporalité« : »Les opérateurs temporels […] ne renvoient donc jamais au temps fictif d’une histoire mais seulement […] au temps du discours.« Vgl. zur Zeitstruktur im postmodernen Schreiben, Roland Barthes, »Écrire, verbe intransitif?«, S. 975f.
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stehe wie »Vater« und »Kind«, gehe der »scripteur moderne« – absichtlich verzichtet Barthes auf den verabschiedeten Begriff des ›Autors‹ – erst aus seinem eigenen Schreiben hervor: »[…] [L]e scripteur moderne naît en même temps que son texte […] il n’y a d’autre temps que celui de l’énonciation, et tout texte est écrit éternellement ici et maintenant.«206 Das Verb écrire werde in der poststrukturalistischen Praxis, so Barthes, demnach nicht mehr transitiv als ›Schreiben von etwas‹ benutzt, es drücke vielmehr einen »intransitiven«, »medialen« Vorgang aus, aus welchem das Schreibsubjekt verändert hervorgehe: »[…] [L]e sujet se constitue comme immédiatement contemporain de l’écriture, s’effectuant et s’affectant par elle […]«.207 Bei seinen grammatischen Erläuterungen stützt sich Barthes auf das im Altgriechischen neben den Genera verbi Aktiv und Passiv gebräuchliche Medium. Barthesʼ Vorstellung des im Schreibprozess in Mitleidenschaft gezogenen Subjekts bestimmt nicht nur das Verfahren von Paradis, welches in der Auflösung bzw. im Wandel des Redesubjekts besteht, sondern wird durch den Text hindurch regelmäßig thematisiert bzw. demonstriert. In unterschiedlichen Varianten erscheint so immer wieder das Bild des ›sich schreibenden‹, sich im Schreibakt der eigenen Auflösung preisgebenden Autors,208 welcher sich schließlich nirgendwo anders als im geschriebenen Text wiederfindet: […] il se déchausse et commence à marcher sur les pages gros plan sur la plante des pieds en contact avec les lettres […] (S. 36) […] je viens de rêver de ce livre dit-il vous savez cette histoire sans ponctuation eh bien je rêvais que j’étais dans ses caractères que je montais descendais montais lettre à lettre […] (S. 97) 206 Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, S. 493. 207 Roland Barthes, »Écrire, verbe intransitif?«, S. 978f. 208 S. S. 23 : »[…] enterrer la main qui écrit […]«; S. 53 : »[…] écrivant l’écrit s’écrivant au bruit des paroles n’écrivant rien tout en écrivant sans arrêt n’écrivant que ce qui était écrit en train de s’écrire et parfois s’écrivant lui-même […]«; S. 98 : […] elle [la page zum schreibenden Autor] viens t’imprimer chéri viens t’engrammer sous ma hache […]«; S. 131 : »[…] je suis le premier ici non pas à me répéter mais à oser répéter la répétition répétée en fonction de ce qui m’oblige à me répéter et donc si j’écris la répétition répétée c’est pour rendre chaque fois répété le goût de la répétition […]«; S. 144f : »[…] quelqu’un a commencé à écrire et ce quelqu’un à l’époque était moi et maintenant quelqu’un d’autre écrit et c’est moi et demain quelqu’un d’autre écrira avec ou sans moi […] et ma main en ce moment est à moi et n’est plus à moi tout à coup je la vois volant décroché de moi et elle va écrire au fond de la page […] et voilà elle recommence à écrire sous ma voix […] et elle touche trace retouche retrace se redresse tombe et ponctue […] ce qui fait que je m’arrache à l’envers à présent ou plutôt que ma main me marche […]«.
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[…] je suis là sur le gril poêle pensée associée là debout sur papier ombres portées sur papier […] (S. 145) […] je suis déjà dans mon encre je me lève j’écris j’arrête d’écrire je ne peux plus écrire […] (S. 179) Die ›Textualität‹ von Ich und Leben wird dabei besonders in der Überblendung von Darstellungen des Schreibens und der Natur anschaulich. Der durch den Autor erinnerte Lauf des chinesischen Flusses Luo (S. 108) oder der Flug der Möwen (S. 178) wecken beispielsweise die Assoziation fließender, sich windender Schriftzüge, was in beiden Fällen durch sich anschließende, dem Schreiben gewidmete Passagen unterstrichen wird (S. 109 u. 179). Das die Stadt Venedig durchziehende Meerwasser gerät dagegen in Analogie zur Tinte des Schreibenden, womit indirekt das Durchqueren der Stadt dem ›Schreiben‹ von Stadt und erlebendem Ich gleichgesetzt wird (S. 178f). In Nietzsches Schriften ist die Konzeption eines sich erst im Prozess herausbildenden Subjekts, und dies nicht nur theoretisch, im Keim bereits angelegt. Nietzsche, der wie später poststrukturalistische Autoren, das Subjekt als grammatischsprachliche Konstruktion enttarnt, jedoch zu seiner Neubestimmung weiterhin auf sprachliche Kategorien zurückgreift, vertritt die Meinung, dass das Subjekt, der grammatischen Täuschung zum Trotz, die Handlung (als das Prädikat) nicht eigentlich verursache, sondern sich im Gegenteil erst nachträglich als Effekt dieser Handlung konstituiere: »[…] ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei: ›denke‹ Bedingung, ›Ich‹ bedingt; ›Ich‹ also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird« (JGB: Drittes Hauptstück 54, KSA 5, 73).209 Er spricht in diesem Zusammenhang auch von der grundlegenden Verwechslung von Aktiv und Passiv, denn der Mensch werde in Wirklichkeit eher »gethan« als dass er selbst tue (M: Zweites Buch 120, KSA 3, 115). Ein dergestalt heterogenes, sich erst im Prozess abzeichnendes ›Ich‹ führt Nietzsche, durch seine Schriften hindurch, selbst als Autor vor. Seine sich steigernden Selbststilisierungen werden im Januar 1889 durch seine letzten, vom Wahnsinn gezeichneten Briefe, die sogenannten »Wahnsinnszettel« gekrönt, in denen der geistig umnachtete Nietzsche die übermenschlich-dionysische Erfahrung der ›ewigen Wiederkehr‹ – oder in Barthesʼ Worten den ›Tod des Autors‹ – buchstäblich an sich selbst vollzieht und in eine Vielzahl von Ichs zerfällt, welche, wie etwa »Dionysos« oder »der Gekreuzigte«, schrittweise entwickelten ›Figuren‹ seiner Gedankenwelt entsprechen. Was Nietzsche im Zustand des geistigen 209 Vgl. GM: Erste Abhandlung, KSA 5, 279: »[…] [E]s ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein ›Subjekt‹ versteht und missversteht, kann es anders erscheinen. […] ›[D]er Thäter‹ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles. […]«.
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Zusammenbruchs wahrscheinlich unbewusst tut, die Auflösung des Schreibsubjekts und damit verbunden die deiktische Spaltung der grammatisch ersten Person, welche nun zugleich unterschiedliche außersprachliche Referenten bezeichnet, sowie seine Rekonstruktion im Vielfachen, in der Schrift, im Geschriebenen, führt nicht nur frühere Ansätze folgerichtig zu Ende, welche schon in Nietzsches zur Veröffentlichung bestimmten Werken erkennbar waren,210 sondern nimmt in erstaunlicher Weise poststrukturalistische bzw. postmoderne Schreibweisen und ihre Theorien vorweg. Diese übernehmen Nietzsches philosophische Erwägungen, können die dionysische Auflösung des Autorsubjekts, anders als Nietzsche, jedoch nur künstlerisch-textuell simulieren. Im Unterschied zu Werken wie Uno, nessuno e centomila, Niebla oder Le Bleu du ciel, in welchen die ekstatische Spaltung bzw. Heterogenität des Subjekts vor allem erzählt wird und nicht mit der Ausschaltung der üblichen Erzählfiguren einhergeht, setzt Sollers in Paradis die philosophische Einsicht in die Nichtexistenz des einheitlichen Subjekts auch sprachlich-grammatisch um, wodurch die Kategorie der psychologisch ausgeleuchteten Figur mit Eigennamen, »Alter«, »sozialer Rolle«, »Nationalität«, charakteristischem Aussehen etc. endgültig abgeschafft ist.211 Barthes kommt in Bezug auf Sollersʼ Text Drame zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn er behauptet : »Le propre de Drame, c’est qu[e] [la dépersonnalisation du sujet] n’y est pas racontée (rapportée), mais constituée […] par l’acte même du récit«.212 Inhaltlich-philosophisch stellen postmoderne bzw. poststrukturalistische Texte wie Paradis jedoch – dies versucht die vorliegende Arbeit deutlich zu machen – keinen Bruch mit spätmodernen Werken dar, welche das 210 Auffällig sind hier, wie schon gezeigt wurde, Textstellen, welche das Redesubjekt im Dialog mit verschiedenen Teilaspekten seines Selbst darstellen (das ›Ich‹ im Dialog mit seiner »Seele«, Za III: Der Genesende, KSA 4, 277; mit seinem »Leben«, Za III: Das andere Tanzlied 1, 282; mit seinem »Herz«, DD: Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 380) oder Formulierungen, die das Subjekt grammatisch-semantisch aufspalten wie etwa »[…] [S]o erzähle ich mir mich selber« (Za III: Von alten und neuen Tafeln 1, KSA 4, 246), »Wie man wird, was man ist« (Untertitel zu Ecce homo, s.a. EH: Warum ich so klug bin 9, KSA 6, 293), »Und so erzähle ich mir mein Leben« (EH, KSA 6, 263), wobei das ›Leben‹, welches sich der Autor, einem vermeintlich autobiografischen Vorhaben nach, ›erzählt‹, ebenso wie die Antwort auf die Frage, »Wie man wird, was man ist«, sich am Ende von Ecce homo im ›Erzählen‹ selbst, d.h. im Schreiben und Geschriebenen zu erschöpfen scheint. 211 Durch diese Merkmale zeichne sich, Ricardou zufolge, die konventionelle Figur des realistischen Romans aus, s. Jean Ricardou, Pour une théorie du nouveau roman, S. 235f. Zum Verschwinden der ›Figur‹ und der Eigennamen im ›Erzähltext‹, s.a. Philippe Sollers, »Niveau sémantiques d’un texte moderne«, S. 322; Roland Barthes, »Drame, poème, roman«, S. 29: »Aussitôt, bien entendu, toute psychologie disparaît […] La conséquence en est que la narration, acte fondamental du sujet, ne peut être prise en charge naïvement par aucun pronom personnel: c’est la Narration qui parle, elle est sa propre bouche et la langue qu’elle émet est originale […]«. 212 Roland Barthes, »Drame, poème, roman«, S. 29 (Fußnote 3).
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abendländische Subjekt nicht nur in typisch moderner Art und Weise problematisieren, sondern es bereits jenseits der Moderne neu entwerfen. Batailles »mystische« »Grenzüberschreitung«, wie Peter Wiechens, so etwa als eine »Strategie« zu betrachten, »aus dem kalten, postmodernen Universum wieder herauszufinden«, bzw. als eine »Antwort« auf die »Frage«, »ob bzw. in welcher Form sich Subjekte überhaupt noch innerhalb des destruktiven poststrukturalistischen Universums zu konstituieren vermögen«,213 oder wie Peter Zima, der in seiner Studie zum »literarischen Subjekt« unter anderem Uno, nessuno e centomila und Niebla untersucht, von der These auszugehen, dass »spätmoderne Autoren« noch immer »versuchen«, die »Autonomie des individuellen Subjekts« zu »retten«, während man sich in der Postmoderne mit der »Fragmentierung des Subjekts« »abfinde«,214 lässt zum einen außer Acht, dass die spätmoderne ›Rettung‹ des Subjekts letztlich ihrerseits gerade aus der destruktiven Zersplitterung folgt, und zum anderen dass auch postmoderne oder poststrukturalistische Werke in ihrer nun offensichtlichen Fragmentierung noch immer eine, wenn auch eigentümliche Form des Subjekts beleuchten und inszenieren. In Paradis tritt an die Stelle der konventionellen Figur oder des Erzählers der polylogue extérieur anonymer, unpersönlicher ›Figuren‹,215 deren unzusammenhängende oder aus dem Kontext gerissene Reden in der ersten Person Singular oder Plural wiedergegeben werden. Angesprochen wird meist ein ebenso unbestimmtes tu oder vous, was sich häufig in der Verwendung des Imperativs niederschlägt (z.B. S. 27, 68, 87 u. 94). Zum Teil sind die verschiedenen Stimmen in kurze romanhafte Beschreibungen eingebettet, wobei die direkte Rede hier durch »il dit« (S. 10), »tu murmures« (S. 172), »[il] répond« (S. 253) etc. eingeleitet wird. Die längste, in sich geschlossene Erzählpassage über einen Reisenden, welcher ein soeben fertiggestelltes Buch frühmorgens in eine Kathedrale bringt und dieses mithilfe eines Geistlichen in die Kirchenmauer einlässt (S. 252ff), steht am Ende von Paradis und schließt als mise en abyme den nun vollendeten Text ab. Meistenteils werden solche Abschnitte jedoch durch den abrupten Wechsel des Personalpronomens und Kontexts, oder durch sinnlos aneinandergereihte Wörter schnell unterbrochen. In den anonymen Reden noch immer vorhandene Angaben zu Ort und Zeit, sowie zu den Sprechern, so z.B. Eigennamen,216 verlieren ihr Gewicht bzw. ihre Gültigkeit angesichts der Häufung und des raschen Wechsels der verschiedenen Sze213 Peter Wiechens, Bataille zur Einführung, S. 29, 107f u. 117. 214 Peter Zima, Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, »Vorwort«, vii. 215 Vgl. Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, z.B. S. 100 : »[…] des personnes anonymes dialoguent ensemble.« S.a. Julia Kristeva, »Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman«, S. 456 : »Les sujets de discours sont des non-personnes, des anonymats, cachés par le discours qui les constitue.« 216 S. z.B. S. 50 : »[…] tu vois claudie je te l’avais dit […]«; S. 250 : »[…] marie comment allez-vous je sens que je vais me sentir très bien pendant mon séjour près de vous […]«.
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narien und Themengebiete. Diese reichen, insofern sie sich überhaupt aus dem Kontext erschließen lassen, vom Einkauf in der Metzgerei (S. 17), der Androhung von Schulstrafen (S. 18), Erinnerungen an eine Hochzeitsnacht (S. 19), Kriegserlebnissen (S. 32f), über ein Sündenbekenntnis (S. 36), Ausschnitte aus Hochzeits-, Geburts- und Trauerkarten (S. 47), Werbung (ebd.), Nachrichten aus dem Weltgeschehen (S. 48, 157), bis hin zu einem Ausflug in den Louvre (S. 63), einer Unterhaltung zwischen Mutter und Kind (S. 145), einer Weihnachtsszene (S. 180), einem Stierkampf (S. 192) und Meinungen zur künstlichen Befruchtung (S. 208f). Nicht selten mischen sich in das Stimmengewirr wörtliche oder abgewandelte Zitate aus der Geistesgeschichte oder aus den heiligen Schriften, so besonders aus dem Alten und Neuen Testament.217 Daneben lässt Paradis ›Jesus Christus‹ oder ›Gott‹ biblische Sachverhalte frei kommentieren,218 wobei der jeweilige Sprecher entweder aus dem Kontext hervorgeht oder durch ein explizites »dit dieu« (S. 241 u. 246) offengelegt wird. Die inmitten des verworrenen Wortschwalls selbstironische Frage nach der eigentlichen Identität des sich hier äußernden Subjekts – »[…] c’est comment ton nom ton vrai nom pas l’intrigue pseudo de tes noms ton nom propre cachette cassette ton seul nom singulier pluriel comment tu t’appelles enfin […]« (S. 225) – beantwortet Paradis durch den Text hindurch indirekt selbst. Als aufschlussreich erweisen sich hier jene Abschnitte, welche ›Gott‹ in den Mund gelegt werden, denn die Rede von der Wesenseinheit im Vielfachen (S. 246),219 von der panentheistischen Kongruenz von Mensch und Gott (S. 93) und den abgewandelten Ich-bin-Worten220 spiegelt sich in der Vielstimmigkeit des Diskurses und lässt das Bild eines unbestimmbaren, Ort und Zeit transzendierenden, mystischen Ichs erstehen. Die Zersplitterung dieses Ichs entspricht dabei nicht seiner Auflösung, 217
S. z.B. S. 85: »[…] alors il se leva déchira sa veste se coucha par terre et dit je suis sorti nu du ventre de ma mère je rentrerai nu point final […]« (Hiob 1,20f); S. 124 : »[…] tu es poussière tu retourneras en poussière […]« (Gen 3,19); bzw. S. 164 : »[…] tu seras avec moi dans le paradis aujourd’hui […] je remets mon esprit entre tes mains […]« (Lk 23, 43 u. 46). 218 S. S. 80 : »[…] ma résurrection se dit je me lève des morts à la verticale des morts tombeau vide […]«; S. 93 : »[…] le sécréateur dit […] je te multiplierai comme les étoiles et le sable tu seras en expansion et stable pluriel d’infinis singuliers dans lequel tout sera parlé bref tu seras comme moi et moi je me souviendrai de toi et de tous ceux qui seront en moi comme toi là-dessus abraham […]«; s.a. S. 126, 241 u. 246. 219 Die christliche Trinität Gottes in den Hypostasen Vater, Sohn und Heiliger Geist, wird als heimlicher Polytheismus stilisiert. 220 S. S. 126 : »[…] je suis deux dit-il je suis pour être le je suis de je suis je ne suis que par rapport à celui qui dit je suis celui que je suis vous ne pouvez venir où je suis sans être ce que je suis […]«; S. 241 : »[…] je serai ce que je serai ça veut dire occupez-vous de ce que je suis tant que je suis dans je suis n’oubliez pas que je suis ce qui s’ensuit si je suis demain je serai ce que je suis au point où j’en serai pour je suis […]«. Vgl. die johanneischen Ich-bin-Worte Jesu und die alttestamentarische Selbstoffenbarung Gottes gegenüber Mose, s. Ex 3,14 EU: »Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin, der ich bin. Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der Ich-bin hat mich zu euch gesandt.«
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seinem ›Tod‹ (Barthes), vielmehr liegt seine Stärke, ja das im Titel verheißene ›Paradiesische‹ oder ›Göttliche‹ – der Text macht dies selbst transparent – gerade in seiner grenzüberschreitenden Pluralität: […] le paradis c’est toi ou c’est moi quand je suis moi-toi sans moi-toi-ni-toi mais quand même en toi conçu par je l’autre […] (S. 163) […] le miroir dans lequel tu te vois toi-même comme tu es son miroir dans lequel il contemple ses noms dispersés lumière sur lumières et lumière sur lumières de lumières et le paradis n’est autre que toi-même car c’est toi qui me voiles à l’humaine je ne suis connu que de toi comme tu n’existes d’ailleurs que par moi qui te connaît […] en effet si tu entres dans son paradis tu ne fais qu’entrer en toi-même […] (S. 173f) Im Gegensatz zu Werken, in welchen die Identität des Erzählers oder Protagonisten mehr oder weniger feststeht (wenn auch nur sprachlich-grammatisch), beschreibt Philippe Sollers mit Paradis ein fluktuierendes, sich erst aus der Summe der durchlaufenen oder erschriebenen Ichs generierendes Selbst. Wie Nietzsche verwirft er damit die platonisch-christliche Vorstellung des menschlichen Subjekts, greift bei seiner Rekonstruktion jedoch ausgerechnet wieder auf religiöschristliche Inhalte zurück. Der Mensch erweist sich dabei – angedeutet war dies bereits in der Gründungserklärung von Tel Quel –221 nicht bloß als schreibender Betrachter der kreisenden, widersprüchlichen Welt tel quel, sondern als deren Teil und Spiegel. Das Charakteristische dieser ausgesprochen postmodernen Spielart des Subjekts wird im Kontrast zur Art und Weise deutlich, auf welche der Tel Quel in seinen Grundlagen verwandte Nouveau Roman das mit der Infragestellung des Vernunftbegriffes einhergehende Subjektproblem für sich löst. Während in beiden Strömungen, in Einklang mit der ihnen zugrunde liegenden Metaphysik- und Erkenntniskritik, die konventionelle Figur außer Kraft gesetzt wird, mündet die skeptische Haltung des Nouveau Roman gegenüber dem herrschenden Anthropozentrismus in ein Schreiben, welches, dem Vorsatz Robbe-Grillets nach, alles Persönlich-Subjektive zurücknimmt und die »Welt« über einen vermeintlich neutralen Blick als »surface lisse, sans signification, sans âme, sans valeurs« darstellt, 221
Philippe Sollers (u.a.), »Déclaration«, S. 4 : »[…] L’écriture, qui est un peu notre fonction vis-àvis du monde extérieur, notre façon de le saluer, de créer entre lui et nous une connivence, une intimité, une amitié de plus en plus grandes […]. Et peut-être pourrons-nous qualifier de beau, oui, tout ce qui […] nous force à réconcilier les contraires […] à nous dissoudre entièrement […] La beauté littéraire, que nous souhaitons de plus en plus décisive, sera ainsi plus qu’artistique. Dégagée de la réalité qui nous importe davantage, elle touchera aux qualités qui établissent dans l’instant nos rapports entre nous et nous, notre justification immédiate la plus pure […]«.
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»sur laquelle nous n’avons plus aucune prise«.222 Das Robbe-Grillet’sche Ich verharrt damit in einer Zwischenposition, in welcher es in Form von Beschreibungen oder Urteilen zwar fast vollständig aus dem Diskurs verschwindet, jedoch als Blick weiterhin als Individuum greifbar ist. Robbe-Grillet hat im Zuge des öffentlichen Vorwurfs der »Subjektivität« einerseits,223 und der »Objektivität« andererseits (»Le Nouveau Roman veut chasser l’homme du monde.«224 ), selbst auf diesen Widerspruch aufmerksam gemacht : Comme il y avait beaucoup d’objets dans nos livres, et qu’on leur trouvait quelque chose d’insolite, on a bien vite fait un sort au mot »objectivité« […]. Pris dans son sens habituel – neutre, froid, impartial –, le mot devenait une absurdité. Non seulement c’est un homme qui, dans mes romans par exemple, décrit toute chose, mais c’est le moins neutre, le moins impartial des hommes […]225 Eine solche Ambivalenz in Bezug auf das Subjekt und den damit verbundenen (eher fragwürdigen) Anspruch auf eine ›Objektivität‹ des Blicks, welcher die Welt »ni signifiant«, »ni absurde«, sondern »tout simplement«, nämlich so, wie sie ist, abbilde,226 eliminiert Tel Quel in der Überschreitung des Einzelsubjekts, welches den vielen, nun eindeutig subjektiven Perspektiven und Wahrheiten nicht mehr standhält. Philippe Sollers deutet den Nouveau Roman Robbe-Grillet’scher Prägung demzufolge als den ungewollten Rückfall in eben jenes abendländische Subjektdenken, welches der Nouveau Roman, nicht anders als Tel Quel, zu überwinden beabsichtigte: De même qu’on a pu dire que l’athéisme était une forme supérieure du respect de Dieu, de même le refus de toute interprétation personnelle du monde peut-il être une forme supérieure du respect humain.227 Die in Paradis dargestellte Welt tel quel versteht sich dagegen nicht als die vermeintlich objektive Ansicht eines Einzelindividuums, sondern als das Geflecht der vie222 Alain Robbe-Grillet, »Nature, humanisme, tragédie«, S. 80. S.a. ebd., S. 59. 223 Ebd., S. 82f : »[…]Quant à sa ›subjectivité‹ [du regard] – principal argument de l’opposition –, que retranche-t-elle à sa valeur? Bien évidemment il ne peut s’agir, de toute façon, que du monde tel quel l’oriente mon point de vue; je n’en connaîtrai jamais d’autre. […]«. 224 Alain Robbe-Grillet (1961): »Nouveau roman, homme nouveau«, in: ders., Pour un nouveau roman (Paris: Gallimard 1963), S. 144. 225 Ebd., S. 148f. Vgl. Alain Robbe-Grillet, »Nature, humanisme, tragédie«, S. 82f. 226 Alain Robbe-Grillet, »Une voie pour le roman futur«, S. 21. 227 Philippe Sollers, »Sept propositions sur Alain Robbe-Grillet«, S. 52f. Vgl. Philippe Sollers, »Alain Robbe-Grillet : Pour un nouveau roman«, S. 93 : »Prétendre à l’objectivité d’une vision qui s’en tient unilatéralement, métaphysiquement, à une existence ›en soi‹ du monde extérieur, revient en fait, par une sorte de paradoxe, à renforcer le subjectivisme le moins rigoureux.«
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len, unverhohlen subjektiv-perspektivischen und damit widersprüchlichen Blicke auf diese Welt.
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Écriture, Intertextualität und Spiel Et peut-être pourrons-nous qualifier de beau, oui, tout ce qui […] nous force à réconcilier les contraires […]; à nous dissoudre entièrement […].228
Nicht das Wissen um die Nichtexistenz von Sinn und Wahrheit in der Welt bestimmt das Pathos der Gründungserklärung von Tel Quel, vielmehr die nietzscheanische Anerkennung und Bejahung dieser Welt in ihrer Widersprüchlichkeit und Verworrenheit. Mittel dazu, so die Gründungsmitglieder Tel Quels, sei die Schrift – »[…] [l]ʼécriture, qui est un peu notre fonction vis-à-vis du monde extérieur, notre façon de le saluer, de créer entre lui et nous une connivence, une intimité, une amitié de plus en plus grandes«229 –, denn mit ihrer Hilfe gelinge es dem Menschen, das Beängstigende des Sinndefizits in eine Form der Ästhetik zu verwandeln und damit zu überwinden. In Übereinstimmung mit Derrida, Barthes und anderen poststrukturalistischen Denkern entwirft Tel Quel folglich ein Schreiben, welches sich formal wie auch inhaltlich vom sogenannten Logozentrismus abkehrt, um sich der natürlich-kosmischen Welt anzunähern. Die metaphysischen Konzepte ›Sinn‹, ›Wahrheit‹ und ›Geschichte‹ haben in der Tel Quelschen écriture und ihrer steten Verwischung von Grenzen daher, nicht anders als das abendländische Subjekt, keinen Platz mehr. Das Misstrauen gegenüber der Geschichte als »système monolithique de déterminations«230 bzw. der »histoire linéaire«231 mit ihrem Anspruch auf »réalité«, »identité« und »vérité«232 spiegelt sich auf Textebene in einem entreferenzialisierten Schreiben, welches der herkömmlichen histoire bzw. eines eindeutigen Inhalts oder Sinns entbehrt. Ähnlich wie das Subjekt verschwindet jedoch auch die ›Geschichte‹ nicht spurlos, sondern kehrt als »histoire plurielle«233 oder, wie es nun heißt, »histoire réelle«234 zurück. Sie ist die Summe der vielen, sich wahllos durchdringenden, kleinen und großen ›Geschichten‹ oder écritures, welche der Text zu einer Einheit verbindet. Dieser erfülle, so Barthes, die Funktion eines »espace à dimensions multiples, où se marient et se contestent des écritures variées« und bilde auf diese Weise »un tissu de citations, issues des mille foyers de 228 229 230 231 232 233 234
Philippe Sollers (u.a.), »Déclaration«, S. 4. Ebd. Roland Barthes, »Drame, poème, roman«, S. 27 (Fußnote [1]). Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 72. Michel Foucault, »Nietzsche, la généalogie, l’histoire«, S. 152f. Philippe Sollers (u.a.), »Division de l’ensemble«, S. 10. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 71; Philippe Sollers, »Niveaux sémantique d’un texte moderne«, S. 324. Vgl. a. Michel Foucault, »Nietzsche, la généalogie, l’histoire«, S. 146.
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la culture« (Barthes)235 bzw. ein »mosaïque de citations« (Kristeva).236 Die Metaphern des »Gewebes« (Barthes) oder »Mosaiks« (Kristeva) zur Beschreibung einer solchen schillernden, undurchschaubaren Form von Literatur werden in der Théorie d’ensemble um das Bild des »Netzes«,237 der »Galaxie«238 und des »Möbiusbandes«239 erweitert. Auch in Paradis tritt an die Stelle der einsinnigen, teleologischen histoire, verstärkt durch das Fehlen von Satzzeichen, ein Konglomerat ungegliederter, episodischer Textfragmente, welche thematisch nahezu sämtliche Bereiche der Geistesgeschichte abdecken. Themengebiete werden zum Teil nur schlagwortartig anzitiert, so etwa, wenn unvermittelt Namen oder Begriffe eingeschoben werden,240 manchmal handelt es sich jedoch um längere, in sich geschlossene, mehr oder weniger zusammenhängende Abschnitte. Es lassen sich außerdem wörtliche oder abgewandelte Zitate identifizieren, welche unmarkiert, d.h. ohne Anführungszeichen, und fast immer ohne Angabe des Sprechers mit dem Text verschmelzen und damit, wie Sollers in einem Aufsatz bemerkt, ihren eigentlichen Zitatcharakter als Zurschaustellung eines Autoritätsanspruches verlieren.241 Stellenweise enthalten die entsprechenden Passagen jedoch auch exakte Hinweise zu den zitierten Quellen.242 Einen großen Themenkomplex bilden die Bereiche Philosophie, Sozialwis235 Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, S. 493f. 236 Julia Kristeva, »Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman«, S. 440. 237 Michel Foucault (1963): »Distance, aspect, origine«, in: Théorie d’ensemble, hg. von Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Philippe Sollers (u.a.) (Paris : Éditions du Seuil 1968), S. 18 : »[La littérature] se constitue en réseau […]«. 238 Roland Barthes, »Drame, poème, roman«, S. 38 : »Il faudrait lire Drame comme une grande galaxie, dont la typologie nous est inimaginable«. 239 Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 73f : »Le texte n’est localisable ni dans une tête, ni dans un monde, ni dans une langue et ainsi son espace, son temps, sont soumis à un fonctionnement numérique, à une topologie dont l’image la plus concrète serait, si vous voulez, la ›bande de Moebius‹ […]«. 240 S. z.B. S. 8 : »[…] de telle sorte que l’inconscient est bien le non-né hors-né […]«; S. 16 : »[…] sa flèche atmamahatma ghandi blanc ma sèche […]«; S. 68 : »[…] vous venez de passer à travers platon saint thomas […]«; S. 117 : »[…] le mana s’absorbe méiose nivose pluviôse génomes séminés cytés acromés in vitro […]«. 241 Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 76. 242 S. z.B. S. 238 : »[…] et voilà isaïe 65-1 je me suis laissé frôler approcher par quelqu’un qui ne me questionnait pas qui n’avait pas la moindre idée de moi de mes voies je me suis laissé trouver par quelqu’un qui ne me cherchait même pas […]«; ebd : »[…] psaume 29 hymne au seigneur de l’orage voix de yahvé sur les eaux le dieu de gloire tonne voix de yahvé dans la force voix de yahvé dans l’éclat […]«. S.a. S. 88 (Zitat aus Freuds Traumdeutung, zur Verdeutlichung ist das eigentliche Zitat im Folgenden kursiv gesetzt) : »[…] qu’est-ce que les filles reprochent le plus à freud son manque d’efféminé […] père père ne vois-tu pas que je brûle [Herv. durch den Autor] […]«. S.a. S. 81 (Zitat aus William Blakes Gedichtfragment von 1818 »The Everlasting Gospel«, s. William Blake : Complete Writings with variant readings, hg. von Geoffrey Keynes [Oxford : Oxford University Press 1966], S. 757; zur Verdeutlichung ist das eigentliche Zitat im Folgenden kursiv gesetzt) : »[…] l’antisémitisme mais oui tu en trouves partout les traces
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senschaften und Schöne Künste. Aus den ersten beiden Teilbereichen werden so z.B. angeführt – sei es namentlich oder inhaltlich – Sokrates (S. 227f u. 231), Platon (S. 136 u. 190), Diogenes (S. 44), Aristoteles (S. 8, 50, 104 u. 195), Cicero (S. 173), Plutarch (S. 173), Plotin (S. 175), Thomas von Aquin (S. 13), Montaigne (S. 33), Jakob Böhme (S. 117), Pascal (S. 197), Jacques Bossuet (S. 204f), Giambattista Vico (S. 184), Montesquieu (S. 33), Sade (S. 39 u. 214), Marx (S. 14 u. 33), Engels (S. 14), Nietzsche (S. 96, 132, 151, 163, 166 u. 204f), Freud (S. 12, 31, 33, 45, 49, 64, 73, 88, 91 u. 93), Jung (S. 91) und Lacan (S. 62 u. 105). Daneben behandelt Paradis Gegenstände und Schöpfer der Malerei,243 der Musik,244 des Films,245 vor allem aber der Literatur.246 Zahlreich sind außerdem Darstellungen und Kommentare zu historischen Epochen oder Ereignissen. Vom Alten Ägypten, der griechisch-römischen Antike und der Zerstörung des jüdischen Tempels durch die Römer,247 über die Frühe Neuzeit
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même chez william blake […] which a pig has got a look that for a jew may be mistook [Herv. durch den Autor] étonnez-vous après […]«. S.a. S. 144 (Zitat aus Dantes Göttlicher Komödie): »[…] questa cara gioia sopra la quale ogni virtu [sic!] si fonda onde ti venne e io la larga ploia de lo spirito santo ch’e [sic!] diffusa in su le vecchie e in su le nuove cuoia paradiso 24 lu relu et de nouveau lu et relu […]«. S.a. S. 124 (über das Gemälde »Sechs Kakis« des buddhistischen Mönchs Mu Qui aus dem 13. Jahrhundert) : »[…] attention tch’an six kakis de mou-k’i région de hangchow 1200-1250 six ronds fruits même fruit n’arrivant pas jusqu’au si gamme […]«. S. z.B. Veronese, S. 35; Renaissance-Künstler, S. 72; zum Gemälde »Sechs Kakis« des buddhistischen Mönchs Mu Qui, S. 124; verschiedene Maler und Werktitel (vielleicht Beschreibung eines Museums oder einer Kunstgalerie): Genannt werden Tintoretto, Manet, Giovanni di Paolo, Memling, El Greco, Matisse, Vermeer, Rembrandt, Velasquez, Picasso und Cézanne, S. 220; Tintoretto (unter Angabe seines bürgerlichen Namens Jacopo Robusti) und sein monumentales Werk Paradiso, S. 242. S. z.B. Beethoven, S. 20; Josquin Desprez und sein »Gaude virgo, mater Christi«, S. 59; Veronese, S. 35; musikalische Fachbegriffe, S. 65 u. 101; Mozart, S. 73 u. 209; Bach und seine Fugen, S. 125; Reihe Komponisten klassischer Musik, S. 157; Komponisten der Jahrhundertwende 19./20. Jht., S. 214: Richard Wagner, Gustav Mahler, Richard Strauss, Arnold Schönberg; Zitat aus Bachs 175. Kantate (BWV), S. 223 u. 230 (unter Angabe der Bibelstelle Joh 10, 3, auf welche der Titel der Kantate zurückgeht); BWV 34, S. 230; zum Johannes-Hymnus und Guido D’Arezzo, S. 231; Carlo Gesualdo, S. 241f. S. z.B. zum Filmgenre Porno S. 38; Brüder Lumière und die Erfindung des Kinos, S. 139; Imitation einer Filmaufnahme, S. 36ff u. 220f. S. z.B. Dante, S. 11, 144, 211 u. 230; Kafka, S. 22; Shakespeare, S. 55, 114f, 117, 151 u. 204; zur Don Juan-Sage, S. 58; Märchen, S. 61; germanische Mythen, S. 71, Tolstoi, S. 80; William Blake, S. 81f; Hesiod, S. 88; Proust, S. 127f u. 218f; Racines Tragöde Bajazet, S. 129; Chateaubriand, S. 166; Dostojewski, S. 166; Homer, S. 175; Sophokles und Euripides, S. 175; Pindar, S. 175; Flaubert, S. 204; Vergils Aeneis, S. 207; Honorat de Bueil de Racan, S. 211; Sade, S. 212ff; Victor Hugo, S. 228; Zitat aus Vergils Bucolica, S. 228; Torquato Tassos Gerusalemme liberata, S. 242; Balzacs Welt der Comédie humaine, S. 245. S. z.B. S. 10 (antikes Griechenland), S. 87 (Echnaton), S. 173 u. 175 (Persönlichkeiten der Antike), S. 194 (Zerstörung des jüdischen Tempels durch die Römer, Christenverfolgung), S. 194 (römische Kaiser), S. 220 (Ägypten).
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(Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen, Ausbau des Seehandels, Eroberung ferner Kontinente, verschiedene Religionskriege),248 die Französische Revolution, die Weltkriege und Kriegsverbrechen des 20. Jahrhunderts,249 bis hin zur jüngsten bzw. zeitgenössischen Geschichte und dem Ausblick auf einen möglichen Dritten Weltkrieg250 werden einzelne historische Episoden unchronologisch herangezogen und beleuchtet. In der Häufung der Gewalt- und Kriegsszenarien ist dabei ein gewisser kritischer Unterton nicht zu überhören: […] zoom sur stalingrad ou nagasaki corée cambodge vietnam algérie gros-plan sur liban détour en syrie désormais le globule s’éclate en séries la tuerie se montre endémique […] coups de feu dans l’ignisciatique cent morts une catastrophe cinq millions une statistique brassées peuples crevant sans répit […] (S. 166) […] sans avoir l’air de tueurs robespierre napoléon hitler mussolini staline c’était nécessaire on le sait pour tenter d’abattre la papauté mais voilà ils ont exagéré ils ont fait dévier le trajet […] (S. 203) […] les proscriptions des juifs des chrétiens de mithridate de marins de sylla des triumvirs les boucheries de théodose et de théodora les fureurs des croisés et de l’inquisition les supplices des templiers l’histoire des massacres de sicile de mérindol de la saint-barthélémy ceux d’irlande du piémont des cévennes du nouveaumonde tout cela a coûté vingt-trois millions cent quatre vingt mille hommes froidement égorgés pour des opinions l’homme qui aime le meurtre […] (S. 213) Die geschilderten, die Menschheit seit ihren Anfängen bestimmenden, regelmäßig auftretenden gewaltsamen Auseinandersetzungen verdeutlichen, dass weltgeschichtliche Ein-Schnitte in den meisten Fällen gleichbedeutend mit Blutvergießen sind, und setzen der idealtypischen Teleologie der Geschichte als Entwicklung und Fortschritt, die ›Gegengeschichte‹ der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ entgegen. Kritisch-spöttisch werden weiterhin wissenschaftliche Erkenntnisse des, wie es heißt, »animal mortel«, »animal homme« (S. 111) oder der »espèce […] s’oubliant 248 S. z.B. S. 26, 34 u. 44 (Seefahrt, Eroberung und Unterwerfung), S. 44 (Besetzung Konstantinopels), S. 34, 194 u. 213 (Religionskriege, Pogrome), S. 244 (Freibrief Elisabeth I., Britische Ostindien-Kompanie). 249 S. z.B. S. 32 (deutsche Besetzung Frankreichs, Vichy-Regime), S. 33 (Zwischenkriegszeit), S. 60 (Sturm auf die Bastille, Befreiung Sades), S. 81 (Antisemitismus), S. 83 (Judenverfolgung), S. 88 (Faschismus), S. 117 u. 214 (Französischer Revolutionskalender), S. 162 u. 225 (Atombombenabwürfe, Konzentrations-, Zwangsarbeits-, Gefangenenlager), S. 186 (»Liberté, Égalité, Fraternité«). 250 S. z.B. S. 18 u. 96 (Verhältnis Amerika/Russland), S. 180 u. 202 (Terrorismus, Selbstmordattentate, S. 180: wahrscheinlich über Israel), S. 202 (Dritter Weltkrieg).
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animale« (S. 109) präsentiert.251 Eine gewisse Ironie gegenüber der menschlichen Wissenschaftlichkeit ist so beispielsweise in der Aufzählung sich reimender wissenschaftlicher Begriffe erkennbar (s. z.B. »trachéotomie sous vaséctomie«, S. 203; »sinusite rhinite pharyngite cystite«, S. 206). Inhaltlich aufgegriffen werden dabei vor allem die Fachrichtungen Mathematik, Technik, Informatik, Biologie, Medizin und Physik.252 Elemente der Alltagskultur – Fernsehen, Journalismus, Berichterstattung, Politik, Wirtschaft, Werbung, Astrologie, Ernährung253 sowie Familien251
S. z.B. S. 110 : »[…] on sait plus de choses sur le centre du soleil que sur celui de la terre on suit mieux l’évolution des étoiles que celle du système solaire […]«; S. 127 : »[…] chiffrer chaque atome bomber le virus microme transformer la grenouille en bœuf l’œuf en veuf […]«; S. 207 : »[…] robotisé dites terminal transistor modem et commutation assembleur panthèmes cumulez les bits dans les zones clés vous êtes à sumer une autre ère est née préparez vos cartes on ne verra plus on ne touchera plus jamais la monnaie l’homme n’est plus dans l’homme […]«. 252 S. z.B. S. 40 (Astronomie), S. 104 (botanische und zoologische Klassifikation nach Aristoteles, Carl von Linné und sein Werk Systema Naturae), S. 109 (Radioaktivität, Kernphysik), S. 117 (»méiose […] génomes séminés cytés acromés in vitro«; Biologie/Medizin), S. 127 (Kernphysik, Medizin), S. 131 (Aufzählung verschiedener Vogelarten), S. 173 (über Fledermäuse), S. 203 (medizinische Eingriffe), S. 206 (Krankheiten und Fachbegriffe), S. 207 (Technik, Informatik, Physik), S. 208 (Integralrechnung), S. 208f (Erfindung künstliche Befruchtung, erstes Retortenbaby), S. 209 (Sterbehilfe), S. 224 (über Vogelart Wiedehopf, verschiedene Pelztiere), S. 231 (Sonnenwind, Astrophysik), S. 235 (medizinische Begriffe wie »ectopie«). 253 S. z.B. S. 12 : »[…] à part l’électricité les ordinateurs le gaz le pétrole et malgré le boom économique […]«; S. 14 : »[…] vous trouverez tout à la samaritaine […]« (Pariser Warenhaus bis 2005); S. 17 (die Cartoon-Figur Popeye); S. 21 (Werbung für Massage) : »[…] vous entrez nerveux après un vol mouvementé […] vous ressortez détendus illuminés en pleine fraîcheur les antiques secrets du bouddhisme […]«; S. 34 : »[…] les radios disent n’importe quoi à n’importe qui surnoms pseudonymes messages triple entrée brouilles débrouillés […]«; S. 48 (Handelsmarken, Wirtschaft, Weltgeschehen) : »[…] chez moulinex intercom air-liquide electrobel usinor nestlé pendant que hachette peut être considéré comme la deuxième affaire mondiale d’édition […] des transferts en cours les conflits inférieurs et supérieurs du moyen-orient mais aussi l’entrée de l’inde dans l’orbe atomique la crise du poisson en islande ou du mouton frisé en nouvelle-zélande de même que le nationalisme ukrainien […]«; S. 58 (französische Seifenmarke ›Cadum‹); S. 59f (Nachrichten, Politik) : »[…] dernière nouvelle mort tragique d’un père de neuf enfants mutilé à cent pour cent cauchemar […] la suite de notre journal l’aile gauche du parti socialiste a retrouvé l’aile droite du parti dit communiste […]«; S. 78 (Slogan des französischen Herrenunterwäscheherstellers ›Éminence‹) : »[…]tout s’imite sauf éminence […]«; S. 79 (Fernsehen) : »[…] j’allume ma télé de poche retransmission du débat à la chambre sur les différentes techniques de stérilisation cinq cents députées se demandent s’il vaut mieux ligaturer à droite ou à gauche autre chaîne discussion sur l’avortement individuel ou en groupe résumé des catastrophes de l’année 5000 morts au pakistan 40 au liban orient […]«; S. 92 (verschiedene Wahlslogans); S. 101 (»le rouge à lèvres rimmel«); S. 127 (über verschiedene Sternzeichen); S. 137 (»le financial times«); S. 139 (Imitation einer Studie zum Sexualverhalten); S. 157 (Fernsehnachrichten, Musik) : »[…] coup d’état en chine déclaration d’israël tornade au japon les nouvelles s’impriment muettes sur l’écran fond sonore
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und Sozialleben – stellen einen weiteren Themenkreis dar. Paradis bindet hier alltägliche Szenen und Unterhaltungen254 ein oder zitiert Redewendungen, Sprüche und Lieder,255 wobei nicht selten auf originalsprachige Textfragmente zurückgegriffen wird, welche zum Teil durch Übersetzungen ergänzt werden, so z.B. wenn unversehens eine Flugansage in mehreren Sprachen wiedergegeben wird– »[…] attention au décollage salvagente sotto la poltrona je répète life vest under your seat […]« (S. 13) – oder die italienische Tätigkeitsbezeichnung »chiudere arrotolando« französisch mit »autrement dit fermer en pliant« (S. 124) umschrieben wird.256 Immer wieder stößt der Leser unvermittelt jedoch auch auf einzelne, unverbundene und, wie die Beispiele zeigen, häufig englischsprachige Ausdrücke, wie »baby alone« (S. 53), »self made god« (S. 54), »who’s who« (S. 121), »limited and corporated« (S. 127), »matter of fact« (S. 151), »achtung« (S. 217) oder »big brother sister« (S. 249). Die Vielfalt der Themen und Gegenstände in Paradis erweist sich als direkte Folge des veränderten Subjektentwurfs. In dem Maße, wie der Diskurs nicht in der subjektiven Perspektive eines Erzählers oder einer Figur verharrt, sondern, ohne innezuhalten, von einer Perspektive zur anderen wandert, ändert sich auch sein jeweiliger Gegenstand. In Bezug auf ein Werk, welches die traditionellen Instanzen des Autors, des Erzählers und der Figuren durch wechselnde, anonyme Stimmen bzw. ›Texte‹ ersetzt, von ›Subjektivität‹ oder ›Intersubjektivität‹ (sei dies zwischen verschiedenen Figuren, Erzähler und Leser, Leser und Figur etc.) zu sprechen, erübrigt sich natürlich. Bei dieser Überlegung setzt Julia Kristevas berühmtes Intertextualitätskonzept an: »À la place de la notion d’intersubjectivité«, so Kristeva in ihrer Lektüre Bachtins und dessen Theorie des ›dialogischen‹ Charakters der Literatur, »s’installe celle d’intertextualité, et le langage poétique se lit, au moins, comme bach mozart gabrieli mahler […]«; S. 167 (verschiedene russische Speisen); S. 206 (verschiedene Getränke); S. 217 (Slogan New Yorker Radiosender der 80er Jahre, s. dazu Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, S. 84f) : »[…] the more you listen the better we sound […]«; S. 236 (Kritik Informationsgesellschaft) : »[…] le public par définition n’a pas de mémoire […] vous devez le bombarder jour et nuit d’informations-sensations chute du chah baisse du pouvoir d’achat complot des émirs championnats de tir massacres en afrique pollution des criques […]«. Einige der Beispiele werden auch von Armine Kotin Mortimer angeführt, s. Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, S. 83ff. 254 S. z.B. S. 47 (Imitation von Grußkarten zu bestimmten feierlichen Anlässen); S. 63 (Familienausflug in den Louvre), 64 (beim Psychotherapeuten); S. 90 (Ratschläge zur richtigen Kindererziehung); S. 27, 40, 49, 64 u. 193 (Schwierigkeiten zwischen Mann und Frau, so z.B. Streit, Untreue, Eifersucht). 255 S. z.B. S. 15 (am Zoll): »[…] vous n’avez rien à déclarer […]«; S. 78 (französischer Text des Weihnachtsliedes »Oh Tannenbaum«); S. 116 (Spruch bzw. Spiel zum Thema Liebe): »[…] je t’aime un peu beaucoup passionément à la folie pas du tout […]«. 256 S.a. S. 130 (das Substantiv ›Nacht‹ auf verschiedenen Sprachen): »[…] night noche notte nacht […] nuit […]«.
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double«.257 Ein solches intertextuelles Geflecht, in welchem der Autor bewusst auf jegliches (dem literarischen Schreiben sonst unverzichtbares) Ordnen, Strukturieren und Gliedern verzichtet, im Gegenteil alles daransetzt, sämtliche ihm bekannten Diskurse unsystematisch zusammenfließen zu lassen, stellt an den Leser – nach einer Lektüre von Paradis kann dies mit Sicherheit behauptet werden – die höchsten Ansprüche. Dieser erhebt sich, so Barthes, vom reinen Textkonsumenten zum eigentlichen »producteur du texte«258 , welcher neben dem Text selbst, die vielen unzusammenhängenden ›Fäden‹ des Geschriebenen zusammenhält, ja in einer bestimmten Weise zusammenfügt, einordnet und interpretiert: […] il y a un lieu où cette multiplicité se rassemble; et ce lieu, ce n’est pas l’auteur […] c’est le lecteur : le lecteur est l’espace même où s’inscrivent […] toutes les citations dont est faite une écriture; il est […] ce quelqu’un qui tient rassemblées dans un même champ toutes les traces dont est constitué l’écrit.259 Religiöse, wenn nicht gar christliche Topoi evozierend, setzt Barthes den ›Tod‹ des konventionellen Autors einem Opferungsgeschehen gleich, dessen Lohn das ›Leben‹ bzw. die »Geburt« des ›Lesers‹ sei : »[…] nous savons que, pour rendre à l’écriture son avenir, il faut en renverser le mythe : la naissance du lecteur doit se payer de la mort de l’Auteur.«260 Die in der Zukunftsvision der Schlussworte von »La mort de l’auteur« spürbare Theatralik ist dabei für poststrukturalistische Werke, so auch für Paradis, typisch. Wenn durch den Text hindurch daher beharrlich betont wird, erst ein zukünftiger, vielleicht göttlicher Leser261 sei dem vorliegenden »livre scellé« (S. 57 u. 247) oder »fermé« (S. 207), dem »livre enluminé« (S. 174) bzw. der »écriture inconnue« (S. 57) angemessen, wenn – auf den Untertitel von Nietzsches Also sprach Zarathustra Bezug nehmend – vom »livre pour chacun et aucun« gesprochen wird (S. 132) oder wenn im Kontext des Inquisitionsprozesses gegen den Häretiker Meister Eckhart (S. 168-170)262 das »Buch« »all jenen« gewidmet wird, welche es verhindern wollten (S. 171), so setzt sich Paradis wie andere poststrukturalistische Werke indirekt in Analogie zu mystischen Offenbarungsschriften bzw. nicht zuletzt 257 258 259 260
Julia Kristeva, »Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman«, S. 441. Roland Barthes: S/Z (Paris: Éditions du Seuil 1970), S. 10. Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, S. 495. Ebd. Vgl. Bernhard Teuber, »Sacrificium auctoris. Die Anthropologie des Opfers und das postmoderne Konzept der Autorschaft«, v.a. S. 124f. 261 S. z.B. S. 57f; S. 174 : »[…] nous entrons dans un nouveau moyen-âge je vous lègue mon enluminé livre […]«; S. 189 : »[…] peu à peu le lecteur est devenu dieu […]«; S. 207 : »[…] ne jugez donc pas ce roman il vous est fermé et non pas parce que difficile […]«; S. 103 u. 211 (ermahnende Worte an den Leser). 262 Vgl. Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, S. 64 : […] tout comme le pseudo-Eckhart avec ses hérésies modernisées, le narrateur de Paradis se voit lui-même comme un mystique rebelle, grossièrement incompris et condamné […].«
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zu Nietzsche und seiner Emphase der eigenen ›Unzeitgemäßheit‹, des ›Nichtverstandenwerdens‹263 und seiner Vorausschau auf ein kommendes »welthistorisches« Ereignis (z.B. EH: Menschliches, Allzumenschliches 6, KSA 6, 327), ein »KinderLand« (z.B. Za III: Von alten und neuen Tafeln 28, KSA 4, 268), eine verheißene »Zukunft« (z.B. Za II: Von der Erlösung, KSA 4, 179) und ein »Posthumgeborenwerden« (z.B. AC: Vorwort, KSA 6, 167). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass unter den verschiedenen, in Paradis repräsentierten Themenkreisen – Kunst, Philosophie, Geschichte, Wissenschaft und Alltagskultur – die Bereiche Religion, Glauben und Spiritualität das größte Gewicht einnehmen. Kotin Mortimer bezeichnet die religiöse Thematik daher als das eigentliche »sujet central de Paradis«.264 Gegenstände, Begriffe und Figuren unterschiedlichster Glaubensrichtungen sowie wörtliche und abgewandelte Zitate einzelner Glaubensvertreter, aus den heiligen Schriften und verschiedenen religiösen Zeremonien verbinden sich in Paradis zu einer Einheit und nähern das entstehende Werk seinerseits der Texttradition heiliger Schriften an. Begonnen mit ursprünglichen Götterwelten, wie etwa der altägyptischen Religion (z.B. S. 59, 61, 87 u. 112), der germanisch-angelsächsischen (z.B. S. 71) und griechisch-römischen Mythologie (z.B. S. 88f, 112, 136 u. 182), der platonisch-aristotelischen Seelenlehre,265 den Kulten Ozeaniens266 und 263 S. bereits den Titel des Werks Unzeitgemäße Betrachtungen, darin z.B.: UB II: Vorwort, KSA 1, 246f: »Unzeitgemäss ist auch diese Betrachtung, weil ich etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, […] hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen versuche […]. […] Auch soll zu meiner Entlastung nicht verschwiegen werden, […] dass ich nur sofern ich Zögling älterer Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als Kind dieser jetzigen Zeit zu so unzeitgemässen Erfahrungen komme. […] [U]nzeitgemäss – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit – zu wirken.«; Nietzsche als Unverstandener, s. z.B. EH: Warum ich so gute Bücher schreibe 1, KSA 6, 298: »Hier werde […] die Frage nach dem Verstanden- oder Nicht-verstanden-werden dieser Schriften berührt. […] [D]iese Frage ist durchaus noch nicht an der Zeit. Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren. – Irgend wann wird man Institutionen nöthig haben, in denen man lebt und lehrt, wie ich leben und lehren verstehe; vielleicht selbst, dass man dann auch eigene Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra errichtet. Aber es wäre ein vollkommner Widerspruch zu mir, wenn ich heute bereits Ohren und Hände für meine Wahrheiten erwartete […]«. 264 Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, S. 52. 265 S. z.B. S. 118 u. 238 (vielleicht Thomas von Aquins Lektüre der aristotelischen Dreiseelenlehre; s. Paul Richter: Der Beginn des Menschenlebens bei Thomas von Aquin [Wien: LIT Verlag 2008], S. 40f); S. 136 (Platon). 266 S. z.B. S. 117 (zum melanesischen oder polynesischen Konzept »Mana« als einer »übernatürlichen« »Lebenskraft«; s. Ulrike Peters: »Mana«, in: dies., Grosses Wörterbuch Religion. Grundwissen von A-Z [München: Compact 2008], S. 176).
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den Anfängen des Hinduismus,267 über das Judentum, den Buddhismus,268 das Christentum und seine Untergruppen269 , die christliche Liturgie, bis hin zum Islam270 sowie spirituell-mystischen Ansätzen,271 werden Elemente nahezu sämtli267 S. z.B. S. 83: Der indische Epos Mahabharata und das Zitat »bhur bhuvah svar« (Sanskrit für »Erde«, »Atmosphäre« und »Himmel«) aus dem hinduistischen Gayatri-Mantra, vgl. Johanna Buss: Hinduismus für Dummies (Weinheim: Wiley-VCH Verlag 2009), S. 189. S.a. S. 102: Hinduistische Glücksgöttin Lakshmi, die ›sechs Vedangas‹ zum Verständnis des hinduistischen Veda, der Begriff ›Brahman‹ als »Weltseele«, vgl. Johanna Buss, Hinduismus für Dummies, S. 121, 151, 51, 70 u. 141. S.a. S. 103: ›Satya Yuga‹ oder ›Krita Yuga‹ (mit französischer Umschreibung) als das in den hinduistischen heiligen Schriften beschriebene ›goldene Zeitalter‹, vgl. ebd., S. 116. S.a. S. 106: ›Narasimha‹ (Mann-Löwe) als eine der zehn Erscheinungsformen des Gottes Vishnu, mit französischer Erläuterung »un peu lion un peu n’importe quoi un peu homme«, vgl. ebd., S. 304. S.a. S. 112 o.: Hinduistische Gottheiten. S.a. S. 127: Manu-Smriti (franz. »lois de Manou«) als ein hinduistisches Lehrbuch, s. ebd., S. 241. S.a. S. 130: Einer der vier Veden »Atharva-veda«, s. ebd., S. 279. S.a. S. 146: »samsâra, samsâra« (Sanskrit für ›beständiges Wandern‹) als der »Kreislauf der Wiedergeburten«, vgl. ebd., S. 143f. S.a. S. 117: Begriffe ›Chakra‹ (Sanskrit für ›Rad‹, ›Kreis‹; im Hinduismus bzw. v.a. in der Schule des Yoga ein »Energiezentrum im Menschen, in dem sich die seelische […] und kosmische Energie […] treffen und verbinden«) und ›Prana‹ (Sanskrit für ›Hauch‹; als »Seele« oder »Lebenshauch« in der »vedischen Religion« oder in der Lehre des Yoga), s. Ulrike Peters: »Chakra«, in: dies., Grosses Wörterbuch Religion. Grundwissen von A-Z (München: Compact 2008), S. 44; Ulrike Peters: »Prana«, in: dies., Grosses Wörterbuch Religion. Grundwissen von A-Z (München: Compact 2008), S. 223. 268 S. z.B. S. 74 (Buddhismus allgemein). S.a. S. 62 : »[…] sarvam dukham sarvam anityam […] tout est douleur passage transit […]«. Es handelt sich um Erläuterungen zur ersten der ›Vier Edlen Wahrheiten‹ des Buddhismus über das Leiden, vgl. dazu Jens Schlieter: Buddhismus zur Einführung (Hamburg: Junius 1997), S. 27. »Sarvam dukham, sarvam anityam« ist Sanskrit und bedeutet »[…] alles ist leidvoll, alles ist vergänglich«, s. Mircea Eliade: Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit (Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1988), S. 172. In Paradis wird dem Zitat eine ungefähre französische Übersetzung hinzugefügt (s.o.). S.a. S. 238: »[…] wu-wei« (chines., ›NichtHandeln‹, im Daoismus »zentrale Lehre« vom »Handeln ohne Absicht oder Begierde«), s. Ulrike Peters: »Wuwei«, in: dies., Grosses Wörterbuch Religion. Grundwissen von A-Z (München: Compact 2008), S. 281. 269 Genannt werden so etwa orthodoxe Christen, Quäker, Mormonen und Baptisten, s. S. 41. 270 S. z.B. S. 12 (Islam allgemein); S. 112: »[…] le prophète la paix-soit-sur-lui« (islamische Eulogie, d.h. Segensspruch in islamischen Texten nach dem Namen Allahs und seiner Propheten, s. z.B. Esnaf Begić: Barmherzigkeit. Zur sozialen Verantwortung islamischer Seelsorge [NeukirchenVluyn: Neukirchener Theologie 2014], S. 53, v.a. Fußnote 2; s. dazu a. S. 201: »[…] concentre ta pensée sur allah […] qu’il soit exalté sanctifié ravi […]«); S. 142 (arabische Begriffe des religiösen Bereichs mit französischer Übersetzung, s.a. S. 237 u.; S. 194 (Textstelle des Korans wird genannt). 271 S. z.B. S. 143 u. 168f (Meister Eckhart)/S. 204 (Jeanne Marie Guyon du Chesnoy)/S. 89 : »[…] en route pour aziluth kether […]«; S. 215 : »[…] je grimpe sur moi sephiroth en-sof comme un arbre […]«. ›Sefirot‹, ›Keter‹, ›Atzilut‹ und ›Ein-Sof‹ sind Begriffe der kabbalistischen Mystik. ›Sefirot‹ (hebr., ›Zahlen‹) sind die zehn nummerierten göttlichen Emanationen, aus welchen sich der kabbalistische Lebensbaum zusammensetzt. ›Keter‹ entspricht der höchsten ›Sefirah‹ als der Krone des Baumes und dem spirituellen Ziel, und bildet mit den darunterliegenden ›Sefirot‹
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cher Weltreligionen und -anschauungen unsystematisch miteinander verwoben. Die meisten Erwähnungen entstammen dabei erwartungsgemäß dem Juden- und Christentum. Aus dem jüdischen Tanach bzw. dem Alten Testament zitiert Paradis unter anderem die Bücher Genesis (z.B. Gen 3, 19; S. 124 u. 207) Exodus (z.B. Ex 3, 14; S. 126/ Ex 32, 32; S. 31), Samuel (z.B. 1 Sam 26, 12; S. 121), Jesaja (z.B. Jes 18, 5-7; S. 55/ Jes 58, 8; S. 93/ Jes 65, 1; S. 238/ Jes 11, 9; Jes 60, 8; S. 246/ Jes 9, 1; S. 10), Jeremia (z.B. Jer 10, 11; S. 9f/ Jer 1, 18; S. 31), Hiob (z.B. Hiob 1, 20; S. 85/ Hiob 33, 15; S. 121), Habakuk (z.B. Hab 2, 14; S. 246), Sacharja (z.B. Sach 5, 1-4; Sach 1, 8; S. 222), Psalmen (z.B. Ps 29, 3-5; S. 238/ Ps 1, 2-3; S. 250272 ) und Sprichwörter (z.B. Spr 9, 1; S. 83), aus dem Neuen Testament dagegen die Evangelien (z.B. Mk 7, 31-37; S. 84/ Lk 8, 33; S. 81/ Lk 23, 43 u. 46; S. 164/ Joh 5, 7 u. Joh 2, 1-12; S. 141/ Joh 20, 1-10, 12-19 u. 29; S. 143f/ Joh 1,1; S. 176/ Joh 8, 23; S. 249), den Hebräerbrief (z.B. Hebr 4, 12; S. 54), den ersten Korintherbrief (z.B. 1 Kor 15, 53-54; S. 174), den Jakobusbrief (z.B. Jak 2, 19; S. 140 u. S. 141) sowie den ersten Johannesbrief (z.B. 1 Joh 4, 6 u. 12-15; S. 150). Wörtlich wiedergegeben werden in Auszügen außerdem Elemente der Heiligen Messe, wie etwa das Stufengebet (S. 253), das Glaubensbekenntnis (S. 63, 105f u. 125 o.), das Vaterunser (S. 57 u. 111), das Sanctus (S. 144), das Agnus Dei (S. 145), und die Segensformel (S. 100), sowie die speziellen Anlässen gewidmeten Gesänge des Angelus, des Salve Regina (S. 121), der Jungfrau Maria vom Rosenkranz (S. 153), der Oster- (S. 146) und Pfingstsequenz (S. 146) und des Requiems (S. 146 u. 184). Daneben bindet Paradis eine Vielzahl von biblischen Figuren und Erzählungen des Alten und Neuen Testaments ein: Genannt seien unter anderem Adam und Eva im Paradies und der Sündenfall (S. 11, 23, 40, 100 u. 162), die phönizische Prinzessin Isebel (S. 30), Noah und die vierzigtägige Sintflut (S. 37, 42 u. 89), die kleinen und großen Propheten (S. 46), Abraham und seine Söhne und Enkel (S. 54 u. 93), Moses und der Auszug aus Ägypten (S. 54 u. 83), Jona und der Wal (S. 89 u. 186), Lot und die Flucht aus Sodom (S. 93), die sumerische Göttin Lilith (S. 159 u. 226), das Ungeheuer Behemoth (S. 181), die unbefleckte Empfängnis (S. 22), Maria (S. 63), Jesus im Stall (S. 78), der Garten Getsemani, der Hügel Golgota (S. 84 u. 164), Jesus vor Pontius Pilatus, der ›Gottesmord‹ (S. 12), Simon Petrus (S. 253), Jesu Auferstehung (S. 80 u. 143) oder die Dreifaltigkeit (S. 75 u. 78). Auch einzelne jüdische oder die Triade ›Atzilut‹. Dabei steht ›Keter‹ dem sog. ›Ein-Sof‹ (hebr., ›das Unendliche‹) als dem eigentlich Göttlichen und daher Unerfahrbaren gegenüber. S. dazu John Bowker: »Ein-Sof«, in: ders., Das Oxford-Lexikon der Weltreligionen (Düsseldorf: Patmos-Verlag 1999), S. 269; Christoph Auffarth (u.a.): »Sefirah«, in: ders., Wörterbuch der Religionen (Stuttgart: Kröner 2006), S. 477f; Z’ev ben Shimon Halevi: Lebensbaum und Kabbala. Eine Einführung in das geheime Wissen (München: Heyne 1997), S. 18, 20, 25, 93 u. 364ff. 272 Zitiert wird hier aus der englischsprachigen Bibel, wobei der letzte Vers mit einer französischen Übersetzung versehen wird.
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christliche Gelehrte wie Hieronymus (S. 201), Augustinus von Hippo273 , Maimonides274 oder Thomas von Aquin (S. 118, 201 u. 238) werden herangezogen. Außerdem finden verschiedene christlich geprägte Brauchtümer, so etwa wichtige Feiertage (S. 124), der päpstliche Segen »Urbi et orbi« (S. 144) oder der lateinische Ausspruch »Sic transit gloria mundi« im Krönungszeremoniell für den neugewählten Papst (S. 121) Erwähnung.275 Im Kontext der zahlreichen Bezüge zur hebräischen Bibel lässt Paradis immer wieder lateinische Transliterationen hebräischer Begriffe einfließen, welchen zum Teil eine französische Übersetzung hinzugefügt wird, so folgt beispielsweise »l’amande« auf hebr. »shâqêd« (dt. ›Mandelbaum‹, ›Mandel‹) und »veilleur« auf das etwa gleichlautende »shôqêd« (dt. ›wachen‹) (S. 9),276 »psaume« auf »mizmôr« (dt. ›Psalm‹) und »psalmodier« auf »zâmar« (dt. ›preisen‹, ›singen‹) (S. 45).277 Manchmal erschließt sich die Bedeutung des Hebräischen auch aus dem Kontext, wie etwa wenn hebr. »tardêmâh« (dt. ›Tiefschlaf‹)278 ergänzt wird durch »personne ne vit personne ne sut personne ne s’éveilla«, ein ungefähres Zitat aus 1 Sam 26, 12 (Bibelstelle wird in Paradis genannt), sowie durch den Verweis auf Hiob 33, 15, wo ein weiteres Mal der ›tiefe Schlaf‹ des Menschen (hebr. tardêmâh) thematisiert wird (S. 121). Darüber hinaus gibt Paradis die hebräischen Einleitungsworte »bereschith bara« (S. 94; dt. ›am Anfang schuf‹) des danach benannten ›Bereschit‹ (Erstes Buch Mose, Genesis) wieder,279 den in der Schöpfungsgeschichte bedeutenden hebräischen Begriff »tehôm« (S. 32) (dt. ›Urflut‹, ›Meeresflut‹)280 und die hebräischen Entsprechungen »peschat remes derascha sod« (S. 163)281 des ›Vier273 Zitiert wird aus Augustinusʼ Werk De civitate Dei, wobei Paradis die Textquelle selbst angibt (S. 112). 274 S. 79 : »[…]comme des pommes d’or dans un filet d’argent telle est la parole dite selon ses deux faces maskiyyôth ciselures mailles sphère pleine […]«. Es handelt sich um eine Schriftauslegung des Maimonides, vgl. Immanuel Löw: Die Flora der Juden, Bd. 3 (Wien: Löwit 1924), S. 227. 275 Der Spruch geht wahrscheinlich auf 1 Joh 2,17 zurück. Vgl. Hubertus Kudla: Lexikon der lateinischen Zitate. 3500 Originale mit deutschen Übersetzungen (München: Beck 2007), S. 358 (Zitatnr. 2353). 276 Angespielt wird hier auf das (im Deutschen oder Französischen unerkannte) hebräische Wortspiel shōqēd und shāqēd in Jer 1, 11-12 EU: »Das Wort des Herrn erging an mich: Was siehst du, Jeremia? Ich antwortete: Einen Mandelzweig [shāqēd] sehe ich. Da sprach der Herr zu mir: Du hast richtig gesehen; denn ich wache [shōqēd] über mein Wort und führe es aus.« Der Gleichklang der Wörter wird hier genutzt, um sie auch semantisch anzunähern. Die frühe und lange Blütezeit des Mandelbaums wird zur Metapher für das ›wachende‹ Auge Gottes; s. dazu John Martin Bracke: Jeremiah 1-29 (Louisville: Westminster John Knox Press 2000), S. 20. 277 Hans Werner Hoffmann: Einführung ins biblische Hebräisch. Grammatik-Vokabular-Übungen (München: Akademische Verlagsgemeinschaft München 2014), S. 244. 278 Ebd., S. 482. 279 Ebd., S. 83 u. 67. 280 Ebd., S. 67. 281 S. zum ›Vierfachen Schriftsinn‹ des kabbalistischen ›Sohar‹ bzw. ›Zohar‹ (bedeutendste kabbalistische Schrift, wahscheinlich aus dem 13. Jht., s. Christoph Auffarth [u.a.]: »Sohar«, in:
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fachen Schriftsinns‹ der Bibelexegese – Litteralsinn, allegorischer (typologischer), moralischer (tropologischer) und anagogischer (eschatologischer) Sinn.282 Die vielen, mit dem Text verschmelzenden, um Visionen und Prophezeiungen kreisenden mystisch-spirituellen Entlehnungen, so z.B. auch aus dem apokryphen ›Evangelium der Eva‹,283 aus Vergils vierter Ekloge284 oder aus den Malachiasweissagungen,285 verleihen Paradis selbst etwas Orakelhaftes, Geheimnisvolles, so dass man Armine Kotin Mortimer recht geben muss, welche den »Ton« des Werkes als
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ders., Wörterbuch der Religionen [Stuttgart: Kröner 2006], S. 492f), Günter Stemberger: Einführung in die Judaistik (München: Beck 2002), S. 132f. Vgl. zum ›Vierfachen Schriftsinn‹ nach Johannes Cassianus (ca. 360-435 n. Chr.), Thomas Schumacher: Geschichte der Weihnachtsgeschichte: Ein historischer und theologischer Schlüssel (München: Pneuma-Verlag 2012), S. 163. S. 216: »[…]je suis toi et tu es moi et où que tu sois moi je suis là fermé disséminé ramassé et d’où que tu le veuilles tu me rassembles et en me rassemblant tu rassembles tu rassembles ce qui me ressemble […]«. Es handelt sich um ein abgewandeltes Zitat aus dem durch Epiphanius von Salamis in Auszügen überlieferten, apokryphen ›Evangelium der Eva‹. Die relevante Textstelle lautet in deutscher Übersetzung: »Ich stand auf einem hohen Berge und sah einen hohen Menschen und einen anderen kurz geratenen und hörte eine Art Donnergetön und ging näher, um zu hören. Da sprach er zu mir und sagte: Ich bin du und du bist ich, und wo du auch bist, da bin ich und bin in allem gesät; und woher du auch willst, sammelst du mich, wenn du mich aber sammelst, sammelst du dich selbst.« (zitiert nach Enno Edzard Popkes: Das Menschenbild des Thomasevangeliums. Untersuchungen zu seiner religionsgeschichtlichen und chronologischen Einordnung [Tübingen: Mohr Siebeck 2007], S. 178). Vgl. dazu Niclas Förster: Jesus und die Steuerfrage. Die Zinsgroschenperikope auf dem religiösen und politischen Hintergrund ihrer Zeit (Tübingen: Mohr Siebeck 2012), S. 269. S. 228: »[…] magnus ab integro saeclorum nascitur ordo jam redit et virgo redeunt saturnia regna jam nova progenies caelo demittitur alto adspice convexo mutantem poncere mundum terrasque tractusque maris caelumque profundum adspice venturo laetantur ut omnia saeclo o mihi tum longae maneat pars ultima vitae spiritus et quantum sat erit tua dicere facta […]«. Fast wörtlich werden die Verse 5-7 und 50-54 aus Vergils vierter Ekloge zitiert. Das etwa aus dem Jahr 40 v. Chr. stammende Hirtengedicht prophezeit die Geburt eines Knaben und den Beginn eines neuen, goldenen Zeitalters. Seit der Spätantike sahen christliche Leser darin die Ankündigung der Geburt Christi. Vgl. Josef Kroll/Günther Jachmann: Elysium. Die vierte Ekloge Vergils (Köln: Westdeutscher Verlag 1953), S. 37 u. 38 (lateinischer Originaltext), S. 41f. S. 215: »[…] la prophétie annonce encore trois papes d’ici la fin du courant de mediaetate lunae de labore solis gloria olivae […]«. Zitiert werden drei der insgesamt hundertzwölf Papstweissagungen, welche dem heiligen Malachias (12. Jht.) zugeschrieben wurden, jedoch wahrscheinlich auf Philipp Neri (16. Jht.) zurückgehen. Die drei Sinnsprüche beziehen sich der Reihe nach auf die Päpste Johannes Paul I., Johannes Paul II (hl.). und Benedikt XVI. Sie werden gefolgt von einem letzten Spruch, welcher mit dem 266. Papst (Papst Franziskus, dessen Name natürlich noch nicht erscheint) eine Endzeit und den Untergang der römisch-katholischen Kirche prophezeit. S. dazu Manfred Böckl: Malachias. Blick in die Zukunft (Waldkirchen: Südost-Verlag 1998), S. 34-38, v.a. S. 74ff u. 78ff; Hildebrand Troll: Die Papstweissagung des Heiligen Malachias (St. Ottilien: EOS-Verlag 2002), S. 9-14 u. 99-111.
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»prophetisch« beschreibt.286 Dafür kennzeichnend ist auch die Verworrenheit der ineinander fließenden Diskurse, welche unterschiedlichste Wissensbereiche, Ideologien und Glaubenssätze fokussieren, ohne dabei eine Ordnung oder Rangfolge erkennen zu lassen. Was Gerhard Regn als epochenspezifische Merkmale der Postmoderne zusammenträgt – die an eine »Ästhetik der Intertextualität« »gekoppelte« »Absage an eine Ästhetik der Authentizität« und die damit verbundene »Aufhebung« der modernen »Erkenntnis-« und »Sinnproblematik« –287 wird mit Paradis anschaulich vor Augen geführt. Nietzsches parodistisches, und als solches selbst bereits intertextuelles Verfahren, mit welchem er der Wahrheit die vielen Wahrheiten entgegensetzt, wird dabei durch Paradis mit Abstand übertroffen. Begünstigt durch die nicht interpunktierte Satzstruktur untergräbt Paradis sowohl logischsyntaktisch, als auch semantisch jede Kohärenz – mit Gerhard Regn könnte man hier von der »Relevanzreduktion der Signifikatebene« oder von »Entreferentialisierung« sprechen288 – und macht es dem Leser schier unmöglich, zwischen Text und Zitat, Kopie und Original zu unterscheiden: »[…] les originaux ont disparu il n’y a plus que des doubles des copies de copies de copies […]« (S. 237). Die typisch moderne Frage nach Sinn, Wahrheit und letztem Grund sowie der aus dieser resultierende Anspruch auf authentische, wahre oder realistische Darstellung, wie er selbst noch in Robbe-Grillets Entwurf des Nouveau Roman und seinem Versuch, die Metaphysik zu überwinden, erkennbar ist,289 treten in Paradis zugunsten einer Vielzahl sich abwechselnder ›Wahrheiten‹ und ›Wirklichkeiten‹ zurück, welche Nietzsches Diktum von der sprachlichen Konstruiertheit und Wandelbarkeit der ›Wahrheit‹ (vgl. z.B. WL 1, KSA 1, 880f) konkret erfahrbar machen. Wortwörtlich enthüllt sich ›Wahrheit‹ dadurch als Produkt der ›Schrift‹ oder des Textes, als ›erschrieben‹ und ›erlesen‹: »[…] tout s’écrit et se contre-écrit […] écrivant lisant écrivant lisant écrivant la vérité […]« (S. 237 u. S. 251). Der intertextuelle Wechsel der ›Wahrheiten‹ setzt dabei notwendigerweise das voraus, was Gerhard Regn postmoderne »Oberflächenzentrierung« nennt.290 Themengebiete werden nicht vertieft, d.h. logisch-diskursiv erörtert und verkettet, sondern willkürlich anzitiert und in Kürze durch andere Themen abgelöst. Diese jeweils in einen größeren Zusammenhang zu stellen und mit einer Deutung 286 Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, S. 52. 287 Gerhard Regn: »Postmoderne und Poetik der Oberfläche«, in: Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, hg. von Klaus W. Hempfer (Stuttgart: Steiner 1992), S. 60 u. 64. 288 Ebd., S. 64f. 289 So etwa in seinem Bemühen um einen ›neutralen‹ Blick auf die Welt, s. z.B. Alain RobbeGrillet, »Nature, humanisme, tragédie«, S. 59. Robbe-Grillet selbst spricht in Bezug auf den Nouveau Roman von einem »nouveau réalisme«, s. Alain Robbe-Grillet (1955/1963) : »À quoi servent les théories«, in : ders., Pour un nouveau roman (Paris : Gallimard 1963), S. 15. 290 Gerhard Regn, »Postmoderne und Poetik der Oberfläche«, S. 53.
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zu versehen, bleibt allenfalls dem Leser überlassen. Das entscheidende Verknüpfungselement der Textstellen ist folglich nicht logisch-inhaltlicher, sondern zufällig-spielerischer Natur. Mit der Ausgrenzung einer obersten Wahrheit und der Hinwendung zu Spiel und Heiterkeit fügt sich Paradis in das durch Derrida aufgestellte, an Nietzsche anknüpfende Paradigma post-strukturalistischer Denkund Schreibweisen als die Befreiung der »structuralité de la structure« und die »affirmation joyeuse du jeu du monde et de l’innocence du devenir, […] d’un monde de signes sans faute, sans vérité, sans origine […]«.291 Das »décentrement« des Denkens, d.h. die gedankliche Einbuße einer eindeutigen ›Mitte‹ als »principe d’organisation«, entfessle die Struktur und setze eine Dynamik des Spiels frei.292 Das wörtliche Zitat aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse zum »Karneval grossen Stils« und der »transscendentalen [sic!] Höhe des höchsten Blödsinns« (JGB : Siebentes Hauptstück 223, KSA 5, 157) – »[…] peut-être trouverons-nous là de quoi faire triompher notre invention comme parodistes de l’histoire universelle peut-être si aucune de nos œuvres n’a d’avenir notre rire lui a-t-il le futur […]« (S. 96) – spiegelt en miniature das in Paradis vorherrschende Verfahren wider: Wie bei Nietzsche mündet die Einsicht in die Nichtexistenz der einen ›Wahrheit‹ in ein Schreiben, welches die ›Weltgeschichte‹ scherzhaft-spielerisch imitiert, umschreibt und fortspinnt, und dabei scheinbare ›Wahrheiten‹ oder ›Wirklichkeiten‹ immer wieder aufs Neue destruiert. Auch vor Nietzsche selbst macht dieses Schreiben, wie das Zitat aus Jenseits von Gut und Böse zeigt, keinen Halt, denn im Modus des Zitats wird paradoxerweise auch er und sein Ausblick auf ein Zeitalter des ›Lachens‹ zu einem Teil der ›Weltparodie‹, zum Gespött: »[…] devant lui mmmh mmmh un siècle après qui rit encore vraiment par ici qui peut se dire sorti de l’infantile écho d’enfantelle voyons les petits sont là sur la plage avec les mêmes seaux les mêmes châteaux […]« (ebd.).293 Wurzelte Nietzsches ›Parodie‹ in der »Tragödie« des Wahrheitsverlustes (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 1, KSA 3, 346) und sein »Lachen« im »grossen Ernst« (FW: Fünftes Buch 382, KSA 3, 637), haftet den intertextuellen Verweisen, den spöttisch-albernen Nachahmungen und semantisch-phonetischen Wortspielen in Paradis, trotz der 291
Jacques Derrida, »La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines«, S. 409 u. 427. Obgleich der Begriff ›Poststrukturalismus‹ nicht wörtlich erscheint, ist er in Derridas Rede von der »deuxième interprétation de l’interprétation« (ebd., S. 427.) sinngemäß mitgedacht. 292 Ebd., S. 409 u. 411. 293 Die Stichworte »petits«, »plage«, »seaux«, »châteaux« evozieren das bei Nietzsche zentrale Bild der kindlichen Unschuld, zu welcher der Mensch, befreit von Gott, Wahrheit und Moral, zurückfinden solle; vgl. z.B. Za II: Von den Tugendhaften, KSA 4, 123; PHG 7, KSA 1, 830f. Die Äußerung könnte als die Behauptung verstanden werden, Nietzsches Prophezeiung des lachenden ›Übermenschen‹ habe sich nicht bewahrheitet, auch ein Jahrhundert nach ihm lache niemand und selbst die ›Kinder‹ am Strand verfügten nicht über die Unschuld des Spiels.
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offensichtlichen Sinnleere, kein Schimmer von Tragik oder Leiden an. Im Gegenteil bestimmen Heiterkeit, fröhliche Ausgelassenheit und Humor den Grundton des Werks. Das vorherrschende Strukturprinzip des intertextuellen Geflechts in Paradis kann, in Anlehnung an Nietzsche, als ›parodistisch‹ bezeichnet werden, wobei mit ›Parodie‹ jede Art der spöttisch-verzerrenden Darstellung gemeint ist, welche Begriffe oder Inhalte – häufig mithilfe von Reim und Wiederholung – auf thematisch fremde Inhalte verschiebt und auf diese Weise gedanklich ablöst. Diese parodistischen Sprachspiele decken sich mit den in Kapitel 6.1 dargestellten Verfahren der Destruktion von Wahrheit, Sinn und Logik, und stehen somit im Dienst der poststrukturalistischen Zurückweisung der logozentrischen ›Metaphysik der Anwesenheit‹. Üblicherweise anerkannte Konzepte und Gegenstände bringt Sollers um ihr semantisches Gewicht, indem er sie mit profanen, banalen, sexuellen oder exkrementellen Sinnbereichen überblendet. Gehäuft zeigt sich dies in Bezug auf christliche Inhalte, so etwa, wenn Jesu letzte Worte »[…] père pardonne-leur car ils ne savent pas ce qu’ils font« (Lk 23, 34) und »[…] mon dieu pourquoi m’as-tu abandonné« (Mk 15, 34) durch »[…] ne leur pardonne pas car ils ne savent pas ce qu’ils disent« und »est-ce parce que j’ai bouché ton abîme parce que je sers de masque à ton crime […]« ergänzt werden (S. 65), wenn der abschließende Vers des apostolischen Segens abgewandelt wird zu »[…] benedicat vos omnipotens phallus pater filius et spermatuus sanctus« (S. 100), das Zitat aus dem lateinischen Vaterunser »voluntas tua« (eigtl. »fiat voluntas tua«, s. Mt 6, 10 VUL) gefolgt wird von »clitoris eis subdora« (S. 111), oder der einleitende Vers des auf Joh 1, 29 VUL zurückgehenden Gebets Agnus Dei nicht mehr »[…] tollis peccata mundi […]« (vgl. VUL ebd.), sondern »[…] agnus dei qui tollis syphillis mundi […]« lautet (S. 145). Die nur ein einziges Mal im Original lateinisch anzitierte Bibelstelle Joh 1,1 EU »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott« – »[…] in principium erat verbum […]« (S. 176) – erscheint im Laufe von Paradis in unzähligen, sich steigernden Varianten, wobei dem Bibelspruch und seiner Beschwörung des ›Wortes‹ bzw. der Sprache als Ursprung und charakteristisches Merkmal der Menschheit, durch den in Unsinn und Widersinn mündenden sprachlichen Einfallsreichtum, wie er in den unterschiedlichen Fassungen offenbar wird, gewissermaßen sogar Rechnung getragen wird: […] au principe de tout et surtout de l’humanitout était la parole et la parole était chez je suis et la parole était je suis elle était au principe en je suis […] (S. 46) […] or donc au commencement était la valse […] (S. 77) […] au commencement qui n’a jamais existé la femme qui n’existe pas créa dieu qui existera toujours […] (S. 151)
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[…] au commencement était l’immonde et l’immonde s’est fait chair […] (S. 157) […] au commencement donc était la bobine et le trou-souris […] (S. 191) […] au commencement transparent radieux global pur régal était lafâme et le bien était lafâme (S. 208) […] au commencement j’étais un commencement qui venait lui-même d’un autre recommencement […] (S. 233) […] au commencement était le public messieurs et par conséquent le service public et aussi l’instruction publique […] (S. 236) […] au commencement et à la fin est la chause [sic!] […] (S. 240) Als Beispiele für inhaltlich-semantische ›Parodien‹ seien weiterhin genannt die Modifizierung des bekannten Caesar-Zitats »Ich kam, sah und siegte« und seines Ausdrucks rationaler Selbstherrlichkeit zu »je suis venu j’ai su j’ai vu j’ai vomi dieu est vraiment tout près« (S. 239f), der Verschnitt eines Werbeslogans für ein vor Terroranschlägen sicheres »Hotel« in Jerusalem (»au moins quelque chose qui n’en finit pas bombage«), welches sich in Wirklichkeit als das Heilige Grab Christi (fr. »saint-sépulcre«) herausstellt (S. 180), und die Imitation der antiken syllogistischen Argumentationsführung, im Zuge derer Sokrates selbst als ›tot‹ ›bewiesen‹ wird: […] en vérité en vérité les femmes en un sens ne meurent pas puisqu’elles donnent la vie donc la mort donc l’effort sans arrêt en vie de la mort mais socrate n’était pas une femme n’est-ce pas donc par conséquent et logiquement imperturbablement fatidiquement et très philosophiquement il est mort […] (S. 231) Auch die wiederkehrenden selbstironischen Äußerungen zur inhaltlich-formalen Gestaltung des Werks Paradis und seiner erschwerten Lesbarkeit sind Teil des parodistischen Schreibens, so beispielsweise wenn die Fortsetzung des Textes nach der scheinbar abschließenden Frage »qu’est-ce qu’on peut tirer comme conclusion« kommentiert wird mit den Entrüstung und Überdruss zum Ausdruck bringenden Worten: […] comment ça vous continuez non réellement c’est pas vrai comment pourquoi à propos de quoi quel sujet comment ça encore sans ponctuation oh non je vous en prie pas ça vous n’allez pas recommencer avec ça on croyait que c’était fini guéri tari assagi quel ennui quelle mauvaise plaisanterie […] (S. 250)
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Nicht selten macht sich Sollers den Gleichklang oder Reim von Begriffen zunutze, um ihre Bedeutung abzutragen oder zu verwischen. Beispiele hierfür sind die Wortspiele »le dogme de l’émasculée conception l’immatriculée« (aus ›Immaculée Conception‹; fr. émasculer, dt. ›entmannen‹, ›kastrieren‹; und fr. immatriculation) (S. 22), »confaetus confiteor confetti« (von lat. confiteor, dt. ›ich bekenne‹, s. christliches Schuldbekenntnis) (S. 59), »thérapute« (S. 66), »nez arête […] nazareth« (S. 84), »noé noyé dans son arche« (fr. noyer, dt. ›ertrinken‹) (S. 89), »sécréateur« (aus fr. créateur; sécrétion, dt. Sekret; secrétaire u. secret) (S. 93), »loterie pour loth« (S. 93), »athérosexuel […] sexotérique […] jésotérique« (S. 95), »robespierre […] robe de pierre« (S. 214), »jésus-crise« (S. 235), oder »[…] je suis et pas moi je suis je suis j’essuie […]« (fr. essuyer, dt. ›abtrocknen‹, ›abwischen‹, ›wegwischen‹294 ) (S. 84). Auch an anderen Stellen wird das Subjekt zur Zielscheibe der in Paradis wirksamen ›Parodien‹. In einem Abschnitt erfolgt dies durch die mantraartige Wiederholung des Personalpronomens je, wodurch es seine grammatisch-semantische Funktion einbüßt: »[…] je me couche je dors […] je dès le matin je entends je ma voix je prépare tout je pour toi moi et je guette […] je comme la prunelle […] je de tes ailes […]« (S. 43). Andernorts fällt das Subjekt dem reinen Schöpfungsreichtum der Sprache anheim bzw. wird wortwörtlich seines Sinnes ›entleert‹ (fr. vider), wenn aus »individu« »l’un venant se dire lui-même en vidu«, »vidu l’un-vidu«, »l’un se vide et se dit vidu parvenu il s’indivise il nous vise« wird (S. 233). Dem spielerischen Umgang mit der Sprache ist es auch geschuldet, dass sich der Unterschied, bzw. in strukturalistischer Terminologie, die ›Opposition‹ der Begriffe homme und femme von selbst nivelliert: »[…] d’homme à femme et de fomme en hâme une fente à l’air un gland découvert […] (S. 89). Während die Destruktion bzw. Ablösung von Gegenständen meistenteils lautlich, d.h. mithilfe von gleichklingenden Silben bzw. Reim realisiert wird, zeigen sich auch Fälle, in denen dies über lexikalische Einheiten geschieht, so löst das Lexem »fruit« des Ave Maria-Zitats »jésus le fruit de vos entrailles« assoziativ eine Reihe paradigmatisch austauschbarer Unterbegriffe aus – »pastèque melon pêche melba grenade« –, welche den religiösen Kontext parodieren und unterbrechen (S. 35). Wie die Beispiele deutlich machen, rückt ein auf dem Prinzip der Intertextualität beruhender Text in dem Maße, wie er der Herausbildung von Sinn und Kohärenz entgegenwirkt, jene Verknüpfungselemente in den Vordergrund, welche ihn formal zusammenhalten. Die »séquences« eines Textes, so Sollers, »ne prennent leurs significations« daher »que par leurs rapports«,295 und die Sequenzen selbst ließen sich nach ihrer »action intégratrice et destructrice d’autres textes« bewerten, 294 Die Bedeutung ›wegwischen‹ erweist sich hier am interessantesten, denn das Subjekt (»je suis«) wird hier im Zuge des Sprachspiels buchstäblich »weggewischt«. 295 Philippe Sollers, »Niveaux sémantiques d’un texte moderne«, S. 320.
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denn »tout texte se situe à la jonction de plusieurs textes dont il est à la fois la relecture, l’accentuation, la condensation, le déplacement et la profondeur«.296 Dante, der mit seinem Monumentalwerk La Divina Commedia einen geschlossenen, allein auf sich selbst verweisenden und Gegensätze umfassenden Textkosmos erschuf, stilisiert Sollers zum Urvater der poststrukturalistischen écriture.297 Parallelen zu poststrukturalistischen Schreibweisen erkennt Sollers bei Dante im Zusammenfall von »auteur«, »acteur« und »lecteur« (in der Person Dante), in der Möglichkeit einer gleichsam metaphysischen Auslegung des Werks, welches dadurch in Analogie zu den Heiligen Schriften und ihrer Exegese tritt, vor allem jedoch im Reflexivwerden der Sprache sowie im Verfahren der Intertextualität.298 Was Sollers in Bezug auf Dantes Divina Commedia lobend bemerkt – »[l]e travail intertextuel porte aussi bien sur l’aspect phonique que sur la syntaxe et la logique« –299 zeigt sich in Paradis als gängiges Vorgehen. Die nicht immer zwingend ›parodistische‹ Verkettung von Textelementen erfolgt auf allen existierenden Sprachebenen. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass ein Baustein, ob lexikalisch, morphologisch, phonetisch, semantisch oder syntaktisch, einen Automatismus in Gang setzt, welcher den Text so lange strukturiert, bis er durch einen anderen abgelöst wird. Neben den bereits dargestellten semantisch-parodistischen Strukturprinzipien fallen phonetische Strukturprinzipien wie etwa Alliterationen, Anaphern, Reim und Rhythmus300 auf, welche sich teilweise mit morphologischen decken, denn regelmäßig werden in Paradis z.B. sich reimende Endungen (bzw. Vorsilben) von Adverbien,301 Adjekti296 Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 75. 297 S. v.a. Philippe Sollers, Logiques, S. 44-77 (= Kapitel »Dante et la traversée de l’écriture«). 298 Ebd., v.a. S. 45ff, 63f u. 75f. S.a. Philippe Sollers, »Niveaux sémantiques d’un texte moderne«, S. 323f. 299 Philippe Sollers, »Niveaux sémantiques d’un texte moderne«, S. 323f. 300 S. z.B. S. 53 : »[…] faune flore folklore […]«; S. 59 : »[…] voilà de nouveau qui reniflent ronflent rotent pètent pensent et repètent et repensent repètent-repensent […]«; S. 76 : »[…] qui veulent croire et croire et recroire qui viennent voir si on peut me croire […]«; S. 85 : »[…] touche mouche débouche a été fouché endouché […] fêlures fracture frisson des fissures or moi je tremble sous les couvertures […]«; S. 102 : »[…] écrimeur où vous entendez crime rime escrime mais aussi crème et crieur écriveur rivé au rêveur écritueur critère du tireur […]; S. 111 : »[…] en toi rien qu’en toi titine tinette rien qu’en toi en toi rien qu’en toi […]«; S. 126 (regelmäßige Wiederholung von »moi-nous« und verschiedenen Varianten wie »en-soi-vous«); S. 197 (Wiederholung von »change«); S. 224 : »[…] caverne cavage ou caserne cadenas cabale […]«. 301 S. z.B. S. 133 o.; S. 215f (Adverbien auf -ment).
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ven,302 Substantiven303 oder Konjugationsformen304 eingesetzt. Daneben nehmen lexikalische Felder einen wichtigen Platz ein. Thematische Reihen finden sich so etwa, um nur einige zu nennen, zu Obstsorten (S. 35 u. 82), Arzneistoffen (S. 82), Pferdegangarten (S. 89), verschiedenen Windsystemen (S. 89), Gesellschaftsspielen bzw. Sportarten (S. 94), Vogelarten (S. 131), Städten und Ländern (S. 137), Schmuck und Accessoires (S. 153), Körperteilen (S. 156 u. 218), Krankheiten (mit Reim auf ite, S. 206), Pelztieren (S. 224) oder Textsorten (S. 243). Dabei stößt der Leser immer wieder auch auf syntagmatische Verbindungen, d.h. Sammlungen von Wortpaaren, welche untereinander jeweils fest vorgegebene Beziehungen aufweisen, so z.B. nach dem Muster Körper/Adjektiv (nationale oder religiöse Zugehörigkeit), Buchstabe/Adjektiv bzw. Partizip Präsens, Körperteil/Musik oder Substantiv/Präposition de/Planet: […] lèvres chrétiennes verge africaine fesses arabes vagin juif intestins slaves nerfs chinois yeux japonais souffle indien […] (S. 67) […] alphabet […] le a prenant du plus bas et le b grossi ventrant la frontière et le c croissant lunant l’atmosphère et le d dormant et l’e blanc flottant […] (S. 101) […] jambes marchant dansant s’allongeant pliées croisées camouflées doigts pianistes poignets violonistes poitrines chanteuses rotules valseuses […] (S. 160) […] la torpeur de saturne la colère de mars la sensualité de vénus l’âpreté au gain de mercure la soif de pouvoir de jupiter […] (S. 216) 302 S. z.B. S. 134 : »[…] superstitieux vicieux sentencieux […]«; S. 138 : »[…] extatique statique élastique anti-mécanique […]«; S. 186 : »[…] fastidieux frileux frauduleux filandreux […]«; S. 216 : »[…] déjeté projeté cassé enlevé craché rabaissé mélangé […]«; S. 230 : »[…] inaccessible impénétrable insondable incommensurable […]«. 303 S. z.B. S. 89 : »[…] frayeurs stupeurs et rancœurs les douleurs douceurs et terreurs les tiédeurs rougeurs et torpeurs […]«, S. 134 : »[…] grenouille mamouille cagouille […]«; S. 159 : »[…] tisseuse couveuse aiguilleuse entoileuse brodeuse noueuse […]«; S. 240 : »[…] serrure structure sinécure […]«. 304 S. z.B. S. 44 : »[…] il le tournait virait bouillait gargouillait hersait versait renversait nattait grattait flattait […]«; S. 127 (Infinitive auf -er); S. 128 (subjonctif imparfait-Verbformen); S. 214 : »[…] je parricidais j’incestais j’assassinais je prostituais je sodomisais […]« (zugleich thematischer Bezug : ›Laster‹); S. 249 : »[…] nous décidons nous programmons nous interrompons nous greffons nous sélectionnons nous corrigeons […]«; Verben werden, wie das folgende Beispiel zeigt, zum Teil auch konjugiert, s. S. 197 : »[…] je change tu changes il change elle ne change pas nous changeons vous changez ils ne changeront jamais à jamais mais êtes-vous sûr qu’elles ne changeront pas à la longue êtes-vous bien certain que ça ne va pas repousser espérons prions prêchons arrosons labourons soudons compressons […].
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Zuletzt lassen sich formale Strukturprinzipen feststellen, welche auch größere Texteinheiten gliedern. Trotz fehlender Zeichensetzung könnte man hier von gleichsam syntaktischen Strukturen sprechen. Dies ist der Fall, wenn Textsequenzen, über längere Abschnitte hinweg, durch analoge Elemente wie »monsieur« (S. 69), »celle qui […]« (S. 86, s.a. S. 160f), Imperative (S. 87), »et moi […] et elle« (S. 98f), ausgeschriebene Satzzeichen (S. 127f), »langue« (S. 148f), »moi […] toi […] moi […] toi« (S. 158, s.a. S. 183), »au nom de« (S. 158f), verschiedene Anreden bzw. Titel (S. 168f), »juste« (S. 169), »toi devoir« (S. 187), »question […] réponse« (S. 187f), Inversionsfragen (S. 190) oder »change« (S. 196f) eingeleitet werden.305 Die Vielfalt der verschiedenen Verkettungsmöglichkeiten macht deutlich, dass der Ausschluss eines eindeutigen Inhalts oder Sinns nicht das Ende der ›Sprache‹, sondern in gewisser Weise erst ihren Anfang darstellt. In dem Moment, in dem die Sprache nicht mehr als starres Kommunikationsinstrument benutzt wird, kehrt der Mensch zu einem spielerisch-unschuldigen Umgang mit ihr zurück, welcher das Naheliegende – ihre Laute, ihre lexikalischen Grundbedeutungen und grammatisch-syntaktischen Bausteine – wieder sichtbar macht. Die Befreiung der Sprache von ihrer metaphysischen Last resultierte schon bei Nietzsche in einer verstärkten Sprachbewusstheit, d.h. in der Hinwendung zu sprachlichmündlicher Lebendigkeit, zu etymologisch-denotativen Wortbedeutungen und rhetorischen Stilfiguren. Philippe Sollersʼ Paradis stellt neben der Fortsetzung Paradis 2 wahrscheinlich den erfolgreichsten Versuch der Tel Quel-Autoren dar, in Anklang an Nietzsche, literarisch-künstlerisch eine nicht-kommunikative Sprache jenseits der Vernunft zu erschaffen und sich dadurch der als irrational erkannten und anerkannten Welt sowie dem Menschen als Naturwesen anzunähern. Die schillernde Oberfläche der aufgrund fehlender Interpunktion und Großschreibung ungehemmt zusammenfließenden Fragmente und Diskurse, steht, um in nietzscheanischen Begrifflichkeiten zu sprechen, für den auf die nachmetaphysische Tragik folgenden übermenschlich-paradiesischen Zustand, in welchem, wie die zum Teil geradezu kindlich-albernen Sprachergüsse in Paradis zeigen,306 nach aller Schwere und allem Ernst wieder Raum für unbekümmerte Heiterkeit und 305 Vgl. zur Stilistik in Paradis: Hilary Clark, The fictional encyclopaedia, v.a. S. 136-145. 306 S. z.B. S. 27 : »[…] je lui ressemble et elle me ressemble on fait semblant tous ensemble papa a trompé maman puis maman a trompé papa et puis la trompe du gros éléphant a trompé maman et papa non pas possible […]«; S. 167 : »[…] question est-ce que des gens bêtes peuvent se rendre compte par eux-mêmes qu’ils sont bêtes est-ce qu’ils peuvent par conséquent devenir moins bêtes est-ce qu’on a déjà vu quelqu’un ou quelqu’une passer de bête à non-bête est-ce qu’il y a une évolution dans la bête ou bien ne préfèrent-ils pas sauter dans la folie plutôt que de se voir bête […]«; s.a. völlig unvermittelte englischsprachige Ausrufe, z.B. S. 94 u. 95 : »[…] je pique les œufs dans leurs nids un dernier trip avec moi let’s go pression des doigts hors membrane […] […] est-il revenu là-bas rajeuni sous son réverbêtre prêt à s’embarquer keep clear of propellers gaffe à l’hélice je suis son parcours je l’écris dans l’os de ce jour […]«.
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Humor ist: »[…] et sous prétexte de quoi d’humour ça c’est le bouquet introduire l’humour dans ces choses plaisanter sur notre orichose mystères de la vie dans la mort […]« (S. 236). Es ist die mit der »Absage an eine Ästhetik der Authentizität«307 einhergehende heitere Gelöstheit, welche Werke wie Paradis am gründlichsten vom Nouveau Roman abheben. In einem Roman wie Robbe-Grillets Jalousie ist nichts von dem freundlich-vergnüglichen Einvernehmen zwischen Mensch und Welt zu spüren, in welchem der Mensch nicht mehr gegen die Irrationalität des Lebens aufbegehrt, vielmehr scheint das (paradoxerweise) der Metaphysik- und Erkenntniskritik entspringende, noch immer moderne Streben des Nouveau Roman nach wahrheitsgemäßer Darstellung den Menschen in eine Abseitsposition zu drängen, von der er der Welt gleichsam ›stumm‹ und ›leidend‹ entgegenblickt. Was Gerhard Regn in seiner Zusammenschau der charakteristischen Merkmale postmodernen Denkens und Schreibens nachdrücklich anmerkt, dass »[e]ine Relevanzreduktion der Signifikatebene […] nicht dasselbe wie deren Ausblendung« sei,308 und dass sich eine »Ästhetik der Oberfläche« »nicht in bloßer Oberflächlichkeit« »erschöpf[e]«,309 gilt auch für Paradis. Die glatte, heiter-gelassene ›Fassade‹ des Textes folgt aus der nietzscheanischen Umwertung des ehemals ›Hässlichen‹, welche die Gründungsmitglieder der Zeitschrift und Bewegung Tel Quel folgendermaßen beschreiben: […] L’écriture, qui est un peu notre façon vis-à-vis du monde extérieur, notre façon de le saluer, de créer entre lui et nous une connivence, une intimité […] n’est, en définitive, qu’une entrée en matière. […] Et peut-être pourrons-nous qualifier de beau, oui, tout ce qui, par la complication harmonieuse de son architecture, par la logique mais aussi par l’étrangeté nécessaire de sa nature, nous force à réconcilier les contraires, à confirmer la certitude de certains moments; à nous dissoudre entièrement […] dans son apparence sensible. La beauté littéraire, que nous souhaitons de plus en plus décisive, sera ainsi plus qu’artistique.310 Da poststrukturalistische Autoren die tragische Einbuße von Sinn und Wahrheit linguistisch-strukturalistisch als das Ausbleiben der sprachlichen Bedeutung, d.h. als das Zusammenstürzen von Syntax, Semantik, Logik und Kohärenz deuten, stilisieren sie die Überwindung des ›Tragischen‹, Nietzsches Lehre entsprechend, als die Akzeptanz und Bejahung des sprachlich-logischen Un-Sinns und Circulus vitiosus. Die ungetrübte ›Oberflächlichkeit‹ ihrer Texte stellt daher eine solche der 307 308 309 310
Gerhard Regn, »Postmoderne und Poetik der Oberfläche«, S. 64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 70. Philippe Sollers (u.a.), »Déclaration«, S. 4.
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»Tiefe« dar, welche Nietzsche dem antiken, die Schrecken des Dionysischen verhüllenden Menschen311 zuschrieb: Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe! (FW: Vorrede zur zweiten Ausgabe 4, KSA 3, 352) Mit Paradis ist die nietzscheanische Umwertung vollzogen: Das Sinndefizit löst keine Angst mehr aus, sondern offenbart sich – der Werktitel sagt es bereits – als das verlorene ›Paradies‹, in welchem der menschliche Geist endlich loslassen kann, ekstatisch aus sich heraustritt und mit der Welt tel quel eins wird.
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Erstaunlicherweise schließt sich dieses schon im Titel verheißene, jedoch nachmetaphysische ›Paradies‹ bis ins Detail an die jüdisch-christlichen Darstellungen der Schöpfungsgeschichte und des Gartens Eden an. Die bereits in den Anfangsworten von Paradis »voix fleur lumière écho des lumières cascade jetée dans le noir […] lumen de lumine […] commencement commencé« (S. 7) genannten und im Laufe des Werks in unzähligen Varianten wiederholten Begriffe »voix«312 (auch als »parole«, z.B. S. 46; oder »verbe«, S. 109 u. 152; s.a. »écho«, s.o. bzw. S. 106), »lumière«,313 »commencement«,314 sowie das Bild der ›Finsternis‹ und des ›Nichts‹, welches mit jenem der ›Hölle‹ verknüpft wird,315 rekurrieren, ähnlich wie auch die Rede von »Himmel« und »Erde«, »Tiefe« und »Abgrund« (z.B. S. 31 u. 130f), »Meer«, »Ozean« 311
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Vgl. GT 4, KSA 1, 40: »›Titanenhaft‹ und ›barbarisch‹ dünkte dem apollinischen Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte […]. Ja er musste noch mehr empfinden: sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss, der ihm wieder durch dieses Dionysische aufgedeckt wurde. […]«. S.a. z.B. S. 61 : »[…] dans le fond du son par surprise était-ce une voix non à peine une poussée bout du doigt […]«; S. 62 : »[…] entends-tu le gong absolu l’épreuve de la voix […]«; S. 95 : »[…] pendant que la grande voix fine ténue le contraire d’une grosse voix […]«; S. 162 : »[…] la voix vient de la nuit la plus profonde elle ignore tout du versant où adam l’entend dieu parle […]«; s.a. S. 95 u. 207. S. z.B. S. 46, 165, 249 u. 252; auch als »rayon«, z.B. S. 130 u. 198; »rayonnement«, z.B. S. 118; »éclat«, S. 165; oder als Adjektiv »lumineux«, S. 9 u. 130. S. z.B. S. 10, 68, 77, 151 u. 157; auch als »principe«, S. 46. S. z.B. »noir«, S. 7 u. 224; »nuit éternelle«, S. 40, »ténèbres«, S. 46; »enfer, S. 39, 68 u. 144; »la poussière«, S. 95, 106, 198 u. 251; »la cendre«, S. 95; »ombre«, S. 198; »cendreuse poussière«, S. 207 u. 224; »flammes«, S. 8 u. 224.
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(z.B. S. 7, 17, 52f, 60, 62, 68, 72, 107, 117, 130 u. 146) und »Chaos« (S. 73), auf die Trennung von ›Licht‹ und ›Finsternis‹, ›Himmel‹ und ›Erde‹, ›Wasser‹ und ›Land‹ durch das göttliche ›Wort‹ in Gen 1, und den Prolog des Johannesevangeliums, in welchem die »Erschaffung der Welt« (Gen 1 EU) durch Gottes »Wort« erneut aufgegriffen wird (Joh 1,1-5 EU).316 Diese nur indirekt erschließbaren Parallelen zur biblischen Urgeschichte werden gestützt durch eindeutige Anspielungen auf Inhalte der Genesis, so etwa auf die göttliche Schöpfung (S. 16f), Adam und Eva (S. 11 u. 40), den Garten Eden (S. 17 u. 82), den Baum des Lebens (S. 114), den Baum der Erkenntnis (S. 11), die Schlange (S. 40), sowie durch die wörtliche Wiedergabe der einleitenden Worte »bereschith bara« (S. 94) (dt. ›am Anfang erschuf‹) des danach benannten Bereschit (= Erstes Buch Mose, Genesis) und die abgewandelten Johannes-Zitate nach Joh 1,1, wie z.B. »[…] au principe de tout et surtout de l’humanitout était la parole et la parole était chez je suis et la parole était je suis elle était au principe […]« (S. 46). Vergegenwärtigt wird dem Leser die bereits durch den Titel suggerierte Thematik des ›Paradieses‹ durch das in regelmäßigen Abständen eingeschobene Wort ›Paradies‹ (z.B. S. 23, 39, 93, 108, 142, 163 u. 173), welches auch als ›Garten Eden‹ (z.B. S. 82), in arabischer und hebräischer Entsprechung als »[…] al-jannah paradis […]« (S. 142) oder »pardes« (S. 163), sowie in den Wortspielen »jardin d’idem« (S. 17) und »parladis […] paradium […]«317 (S. 201) erscheint, durch das zweifach zitierte und dadurch gewichtete Wort Jesu »[…] tu seras avec moi dans le paradis aujourd’hui […]« (S. 164)318 (Lk 23, 43) und den beständigen, zwischen Nachahmung und Überbietung schwankenden Verweis auf Dantes Divina Commedia und deren dritten und letzten Teil »Paradiso« (S. z.B. 11f, 112f, 144 u. 211). Kotin Mortimer hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass das in Paradis häufig verwendete Bild der ›Blume‹ (»fleur«, s. bereits Beginn des Textes, s.a. z.B. S. 114, 130 u. 252) möglicherweise als Analogie zu der in Dantes »Paradiso« bedeutsamen ›Rose‹ zu verstehen ist.319 Dass Sollers jenes Werk, mit welchem er die durch Nietzsche begonnene und durch poststrukturalistische Autoren systematisierte Revolte gegen die der Sprache eingeschriebene Metaphysik bis zu ihren äußersten Grenzen ausschöpft, schon dem Titel nach, ausgerechnet wieder in traditionell christlichmetaphysische Glaubensinhalte einmünden lässt, bildet den Nachklang zu Nietzsche selbst, der gegen Ende seines philosophischen Schaffens dem historischen Christentum ein authentisches, durch äußere Auslegungen unverfälschtes Christentum entgegensetzt, und die Widerlegung des ›falschen‹ Evangeliums durch eine neue Zeitrechnung im Zeichen des jesuanischen ›Übermenschen‹ besiegelt. Sollers 316 317
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Vgl. Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, S. 5-29. Letzteres leitet sich ab von fr. parler, womit vielleicht der Zusammenhang zwischen göttlichem ›Wort‹ und Schöpfung, bzw. allgemein zwischen Sprache als Symptom des erwachenden Bewusstseins, und Beginn der Menschheit beleuchtet wird. Auf S. 65 lautet die Textstelle : »[…] tu seras avec moi au paradis […]«. Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, S. 5.
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konzentriert sich nicht vordergründig auf das Geschehen um Jesus Christus, sondern geht gedanklich bis zu den menschlichen Ursprüngen und ihrer Darstellung und Interpretation im Alten Testament zurück. Nur indirekt über Andeutungen, wie etwa wenn eine Textstelle gleich zu Beginn des Werks lautet »[…] et ils venaient de l’arbre de science dont ève avait emporté un rameau pour cacher sa nudité […]« (S. 11), wird verständlich, worum es in Paradis geht: Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht der durch das Einsetzen des wissenschaftlichen Denkens verursachte ›Fall‹ des Menschen von einem Zustand der irdischen Vollkommenheit und des Glücks zu einem solchen des Elends und des Todes, und damit verbunden seine Vertreibung aus dem ›Paradies‹. Was die Bibel metaphorisch als das verbotene Kosten von dem allein Gott unterstehenden ›Baum der Erkenntnis‹ beschreibt (Gen 3), stellt natürlich, wie die folgenden Verse zeigen, nichts anderes als das Erwachen des Bewusstseins dar, durch welches der Mensch seine tierische Abstammung hinter sich ließ: Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und begehrenswert war, um klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz. (Gen 3, 6-7 EU) Das damit einhergehende bewusste Erleben von Schmerz, Mühsal, Fortpflanzung, Geburt und Tod, wird in der Bibel als ›Strafe‹ für die ›Ursünde‹ des Ungehorsams gegenüber Gott gedeutet. Während die Genesis die Geschichte der Menschheit mit der ›Sünde‹ des rational-wissenschaftlichen Denkens beginnen lässt und das daraus resultierende Unheil und Elend der Vertreibung aus dem ›Paradies‹, dem ›Garten Eden‹ gleichsetzt, skizziert Sollers mit Paradis künstlerisch-literarisch eine andere Fassung der Menschheitsgeschichte, nämlich die Möglichkeit einer Rückkehr in dieses ›Paradies‹, welche im Umkehrschluss mit der Überwindung der lasterhaften, leidstiftenden Vernunft zusammenfallen muss und den Menschen wieder mit sich selbst und der kosmischen Natur vereint. Steht die Vernunft für jenes spezifische Merkmal, welches den Menschen von der Natur distanzierte, bedeutet der Sieg über die Vernunft die Aufhebung der Distanz zwischen Mensch und Welt. Dies erklärt die in Paradis rekurrierende Aufzählung von Naturelementen der Erde und des Kosmos: »[…] printemps« (z.B. S. 71), »fleur« (z.B. S. 114 u. 130), »oiseaux« (z.B. S. 31 u. 71; s.a. »mouette«, z.B. S. 60 u. 130), »poissons« (z.B. S. 31), »cailloux« (z.B. S. 60), »volcan« (z.B. S. 60), »couleurs« (z.B. S. 118), »mer« (z.B. S. 31 u. 68), »eau« (z.B. S. 62), »océan« (z.B. S. 52, 62, 72, 106, 117 u. 146), »soleil« (z.B. S. 24, 58, 60, 62, 68, 99, 106 u. 114), »vent solaire« (z.B. S. 22), »lune« (z.B. S. 99), »étoiles« (z.B. S. 165), »voie lactée« (z.B. S. 99 u. 165), »galaxie« (z.B. S. 60). Wie die oben zitierte Bibelstelle deutlich macht, wird das Schamgefühl und die damit verbundene Ächtung von Körper und Sexualität interessanterweise be-
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reits in der Genesis auf die menschliche Ratio zurückgeführt. Bataille hatte hier von der bewusstseinsgesteuerten Verdrängung des ›Unheimlichen‹ auf den Bereich des ›Verbots‹ gesprochen. Poststrukturalistische Autoren setzen die systematische Ausgrenzung von Körperlichkeit und Sexualität in Analogie zu jener der Sprache selbst: »[…] la société semble limiter également la parole sur le sexe et la parole sur la parole«.320 In ihren Werken verfechten sie daher die freie Entfaltung aller durch den Verstand verfemten Lebensbereiche, welchen sie ihre ursprüngliche Unschuld zurückzugeben versuchen.321 Es versteht sich aus diesem Grund von selbst, dass Sollersʼ ›paradiesisches‹ Schreiben auch eine Vielzahl von obszönen, schamlosen Beschreibungen beinhaltet.322 Da sich die Tel Quelʼsche écriture jeder Form von sprachlich-logischer Ordnung, Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit entzieht, wird sie natürlich nicht durch das rationale Denken und seine metaphysischen Äquivalente »esprit«, »cœur« oder »âme« beherrscht, vielmehr erwacht in ihr der ›unterdrückte‹ Körper.323 In der Hinwendung zu diesem physiologisch bestimmten und daher nicht einheitlichen Körper, der als »corps morcelé« bzw. »multiple« in Erscheinung tritt, sehen die Tel Quel-Autoren ihren Kampf gegen den bürgerlichen »Idealismus« zugunsten eines gesamtgesellschaftlichen »Materialismus« verwirklicht.324 Julia Kristeva schreibt so etwa über Sollersʼ Erzählwerk H : »Chaque syllabe devient alors porteuse d’un morceau de corps […] elle est particule, onde, torbillon d’un ›je‹ pulvérisé qui s’y dissout et s’y rassemble […]«.325 Die zur Unterdrückung des ›Körpers‹ komplementäre Repression der Sprache und damit die Gleichsetzung von Körper und Sprache326 wird in Paradis im Wortspiel »ponctuation« (dt. ›Zei320 Roland Barthes, »Drame, poème, roman«, S. 39. S.a. Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 75 : »Si le sexe est en effet le metteur en scène de cette productivité, ce n’est évidemment pas un hasard. Le sexe et l’écriture sont liés de telle façon que l’un est sans cesse la métaphore de l’autre […].« 321 Stefan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, S. X-XIII, 34 u. 67. 322 S. z.B. S. 25 : »[…] après je terrorise mes filles avec un gros coussin dans le vagin […]«; S. 28 : »[…] je suis un cochon un chien un aigle une salamandre au sommet des voluptés les plus indignes un expert en dépravation domination et flagellation soumet deux jeunes sœurs et leur belle-mère deux frères et leur beau-père à ses exigences rigoureuses […]«; S. 52 : »[…] je passe noël avec des travestis on boit du champagne ma coupe se renverse l’un d’eux me tâte oh t’es mouillé t’as joui […]«; S. 61 : »[…] mon petit tu vois je grossis oh oui papa je te sens monter t’amplifier tu crois que j’aurai un bébé je t’ai déjà dit de ne pas me parler de ça en plein jet […]«; s.a. S. 99, 120 u.v.a.m. Vgl. Hilary Clark, The fictional encyclopaedia, S. 133: »[…] erotic situations are as frequent as evocations of paradise, and often the two are indistinguishable […].« 323 Roland Barthes, »Drame, poème, roman«, S. 34. 324 Philippe Sollers, »Niveaux sémantiques d’un texte moderne«, S. 322; Philippe Sollers, »Écriture et révolution«, S. 68f u. 75f. 325 Julia Kristeva, »Polylogue«, S. 34. 326 Vgl. Hilary Clark, The fictional encyclopaedia, S. 133: Die »Zeichensetzung« als »blockage of or resistance to the natural rhythms of the body and the pulsions of the subconscious«.
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chensetzung‹) und »ponctionner« (S. 125) bzw. »ponction« (S. 135) (dt. ›punktieren‹, ›Punktion‹) greifbar. Wenn in einem Abschnitt »mon corps« daher durch ausgeschriebene Satzzeichen unterbrochen wird – »[…] mon corps point mon corps suspension mon corps interrogation négation blanc d’exclamation mon corps virgule […] (S. 135) –, so vergleicht er die den Redefluss störende Gliederung und Hierarchisierung des Textes durch Satzzeichen, mit dem ›Punktieren‹ des gemarterten ›Körpers‹. Für die Niederschrift seines ›Paradieses‹ bemüht sich Sollers folglich um einen durch den Körper diktierten und daher zwanglos-freien Schreibstil: »[…] on ne sait pas quoi faire du corps qui écrit lequel continue bien entendu d’avoir ses affaires ses exigences […]« (S. 152). An einer anderen Stelle stellt er eine Parallele zwischen dem Hervorbringen von Texten und der Zellarbeit in der Biologie her, womit die Entstehung von Texten gleichsam als mechanischer, organisch-funktioneller Prozess beschrieben wird: […] tout être humain possède 46 volumes de recettes de fabrication dans le centre d’écriture de chacune des cellules et lorsqu’une cellule a besoin d’un enzyme le centre zoom choisit la citation zim exemple douzième paragraphe de la page 72 volume 6 cependant ce tome ne pouvant sortir des archives une bande magnétique est aussitôt produite et sort du noyau vers l’atelier ribosome lequel déchiffre le message et la liste des éléments un transporteur apporte alors l’acide aminé […] (S. 105) Im Zusammenhang der in Paradis zentralen Rückbesinnung auf Ursprünglichkeit, Natur und Körper fallen auch die zahlreichen Lobeserhebungen auf die ›Frau‹ auf,327 welche als Lebensspenderin, Fruchtbarkeitsgöttin und Inbegriff von Schönheit und Stärke geradezu als ›Heilige‹ beschrieben wird.328 Wie der ›Körper‹ wird auch die ›Frau‹ zur Schablone der ›paradiesischen‹ écriture: Am Ende einer längeren Sequenz, welche durch die Erzählung eines Traumes eröffnet wird – der schreibende Autor findet sich in den Buchstaben seines Textes wieder und beginnt ein Zwiegespräch mit der beschriebenen Seite (»la page«) –, gehen die durch »et moi […] et elle« eingeleiteten, dem ›Autor‹ und der ›Seite‹ zugeordneten 327 Kristeva zufolge personifiziere nicht der ›Mann‹, sondern allein die ›Frau‹ und im Besonderen die »hysterische« Frau den »poetischen Diskurs«, s. Julia Kristeva, »Polylogue«, S. 45. 328 S. z.B. S. 113 : »[…] la première c’est l’odeur du cou la deuxième le creux des genoux troisième cheveux voix poitrine quatrième paupières cinquième nez […]«; S. 115 : »[…] le pouvoir central appartient bel et bien aux femmes bien qu’elles se dissimulent dans le non-pouvoir […]«; S. 135 : »[…] capital ovulaire […] grande déesse […]«; S. 154 : »[…] vierge mère vierge pure ou putain sorcière donne filles […] déméter cherchant sa koré […] mujeres […]; S. 169 : »[…] la sainte-ovule«; S. 193 : »[…] la femme rédemptrice de l’humanité […] l’idée messie-fille […]«; S. 208 : »[…] au commencement transparent radieux global pur régal était lafâme [sic!] et le bien était dans lafâme et toute nourriture venait de la lafâme […]«; s.a. S. 204, 208f, 231, 233, 240 u.v.a.m.
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Redeabschnitte plötzlich zu einer obszönen Unterhaltung über, wodurch das »elle« deiktisch nun nicht mehr auf die ›Seite‹, sondern die ›Frau‹ verweist (S. 97ff, v.a. S. 99). Die durch den Text vernehmbare, den Zustand paradiesischer Glückseligkeit evozierende Emphase der ›Ewigkeit‹ oder ›Unendlichkeit‹ – »[…] aeternitatis […] éternel […]« (S. 17); »[…] l’infini et l’éternité« (S. 111); »[…] immortel éternel […] éternellement […]« (S. 144); »[…] un fini à se penser non-fini […] s’éterniser […] infiniment […]« (S. 198) – wird dem Leser durch verschiedene Schreibtechniken performativ vor Augen geführt. Sollers greift hier vor allem auf Antithesen (Gegensatzpaare und antithetische Satzgefüge), Paradoxa und das, was Hilary Clark treffend als »notions of circularity« beschreibt,329 zurück, um den vorrationalen Zusammenfall aller Gegensätze in der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ zu veranschaulichen: »[…] retour éternel du même apparent mais du même coefficient différent par rapport au même […] (S. 132). Das Kreisgeschehen des nietzscheanischen Wiederkunftsgedankens – »[…] et l’on voudrait que la même vie pût se produire mille et mille fois […]« (S. 213f) – wird so etwa in Reihungen von Verben greifbar, welche eine (Kreis-)Bewegung beschreiben,330 in Verbformen verschiedener Tempora (z.B. imparfait, présent, futur),331 in der Darstellung von Abläufen, deren Ursprung und Zielpunkt in eins fallen,332 und in den die letzten Seiten von Paradis bestimmenden Abschlussformeln, welche jedes Mal demonstrativ durch die Fortsetzung des Textes vereitelt werden.333 Aber nicht nur auf Nietzsche verweist Sollersʼ Entwurf der paradiesisch-zeitlosen Verschwisterung aller Gegensätze. In den vielen 329 Hilary Clark, The fictional encyclopaedia, S. 131. 330 S. z.B. S. 7 : »[…] je commence je prends la sphère commencée j’en viens j’y revais j’y vais commencement commencé […]«; S. 8 : »[…] si tu nais ils meurent si tu meurs tu nais pas […]«; S. 44 : »[…] j’y revais j’y vais je commence je prends le commencement commencé […]«; S. 189 : »[…] ça devait finir par ne plus finir avec la certitude d’en avoir fini avec le fait de finir et c’est réellement comme ça que la vraie finitiation peut venir […]«; s.a. S. 233 u. 238. 331 S. z.B. S. 7 : »[…] j’y fus j’y étais j’y est je m’y fus j’y serai j’irai […]«; S. 31 : »[…] je suis j’étaissuis je suitais je suirai suijirai suijerrai […]«; S. 111 : »[…] ce qui est ce qui sera ce qui a été […]«; S. 113 : »[…] j’ai été je reste je resterai […]«. 332 S. z.B. S. 175 : »[…] la nuit est presque passée maintenant mais le jour qui commence est déjà fini lui aussi et la prochaine nuit sera comme toutes les nuits et bien entendu je vais encore me lever m’habiller et bien entendu je vais aller travailler manger […]«; S. 241 : »[…] la guerre et la paix et puis la guerre et la paix et puis de nouveau la guerre dans la paix […]«; S. 25 : »[…] et après après j’écris un article j’en parle avec des amis et après si ça marche j’augmente mes prix […] après j’écris des articles des amis m’en parlent je fonde deux ou trois revues […] après je donne un thé et après je donne un dîner et après je donne un dîner et après je reçois quelques jeunes ambitieux […]«. 333 S. z.B. S. 242 : »[…] elle approche la fin ponction des fins dans les fins elle décroche et se raccroche et s’accroche elle reprend sans fin son approche à moins qu’il s’agisse d’un nouveau début inconnu mesdames et messieurs […]«; S. 250 : »[…] qu’est-ce qu’on peut tirer comme conclusion d’abord un trou dans le temps […]«; S. 252 : »[…] conclusions possibles mais quel
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antithetisch-paradoxen Fügungen wird die endlose, sich der ›Metaphysik der Anwesenheit‹ entziehende Sinnverschiebung der différance offenbar: […] qui marche dans les ténèbres a vu une grande lumière ceux qui habitent le pays de l’ombre sur eux une lumière a brillé il dit […] (S. 10) […] blanc pour l’enfer et gris pour le paradis […] (S. 12) […] il tue son père et sa mère fou furieux il ne tue ni son père ni sa mère […] (S. 14) […] né-pas-né-encore-né-plus-né toujours-né-rené […] (S. 38) […] légalité illégalité clandestinité mariages passions morts naissances […] démocraties dictatures redémocraties […] elle voudrait se détruire comme espèce pour renaître dans les cendres […] (S. 92f) […] la vie ne veut pas mourir mais la mort elle veut vivre et peut-être n’y a-t-il que la mort qui vit dans la vie […] (S. 134) […] tout est bien qui n’a jamais commencé et ne finira jamais […] In Anlehnung an Derrida, welcher der platonisch-christlichen ›Metaphysik der Anwesenheit‹ indirekt stets das Ideal der »absence«334 gegenüberstellt, könnte man die undurchschaubaren, aufgrund fehlender Zeichensetzung in Paradis ungehindert zusammenfließenden, auf nichts außer sich selbst verweisenden Stimmen, Diskurse, Bilder, Sprachspiele und Laute, obgleich der Begriff bei Derrida nicht erscheint, als die Vergegenständlichung einer ›Metaphysik der Abwesenheit‹ bezeichnen. Derrida selbst hat sich gegen einen Vergleich seiner Philosophie mit der negativen oder apophatischen Theologie gewehrt. Deren sprachliche Annäherung an Gott über ›negative‹, d.h. verneinte oder sogenannte ›Über-Aussagen‹ bleibe, so Derrida, dem »espace prédicatif ou judicatif du discours« verhaftet und ziele jenseits der Sprache auf »quelque suressentialité, un être au-delà de l’être« – Gott.335 Besonders glaubhaft wirkt Derridas strikte Abgrenzung von der negativen est donc ce voyageur […]«, s.a. ebd. die wörtliche Wiederholung der Anfangsworte des Werkes »voix fleur lumière écho des lumières«. 334 Jacques Derrida, De la grammatologie, s. z.B. S. 73 : »[…] on pourrait appeler jeu l’absence du signifié transcendantal comme illimitation du jeu, c’est-à-dire comme ébranlement de l’ontothéologie et de la métaphysique de la présence.« S.a. S. 206 : »C’est dire que la différance rend possible l’opposition de la présence et de l’absence […]«; S. 239 : »L’Essai sur l’origine des langues oppose la voix à l’écriture comme la présence à l’absence […]«. 335 Jacques Derrida, »Comment ne pas parler«, S. 539.
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Theologie jedoch nicht. Im Gegenteil scheint er in seiner anschließenden Beschreibung der différance als »quelque chose«, das nicht nur das »Sein«, die »présence«, sondern auch die »absence« und die mystischen ›Über-Aussagen‹ (er spricht von »hyperessentialité«) überschreite, die Sprachformen der negativen Theologie nicht nur zu imitieren, sondern gleichsam zu übertreffen.336 Auch in Paradis ist diese typisch poststrukturalistische, durch Nietzsche vorbereitete Eigenart der mystischen Sprech- bzw. Schreibweise feststellbar. Sie manifestiert sich in verneinten, rätselhaften, ja sibyllinischen Formulierungen, welche um etwas Unaussprechliches, Unfassbares zu kreisen scheinen: […] ni haut ni bas ni dehors ni dedans ni centre ni travers ni l’est ni l’ouest ni blanc ni noir ni rouge ni jaune ni bossu ni gras ni court […] (S. 103) […] car l’infini n’est ni un bord ni une limite ni un bout il ne fuit pas […] le perfini n’est ni grand ni petit ni ombré […] (S. 145) […] au commencement qui n’a jamais existé la femme qui n’existe pas créa dieu qui existera toujours […] (S. 151) […] alors moi je vais vous dire et je vais vous dire et vous dire et vous allez dire ce que vous allez dire pendant que je vous le dis nous avons produit la création […] (S. 237) Das in Paradis häufig erscheinende Bild des ›Unendlichen‹ im ›Endlichen‹ bzw. des ›Großen‹ im ›Kleinen‹,337 wobei die das ›Kleine‹ repräsentierenden Begriffe »trou« (z.B. S. 85, 185, 210 u. 234), »point« (z.B. S. 185 u. 194) oder »germe« (z.B. S. 142) unzählige Male wiederholt werden, verknüpft Sollers nicht nur mit kosmologischen Phänomenen, wie etwa Schwarzen Löchern (z.B. S. 111) oder dem Urknall (s. S. 138 u. 194), sondern überträgt es auf den in Paradis entfalteten ›Text-Kosmos‹. Wie der Urknall, ein »tout petit point d’une densité d’avant la pensée […] un point noir si blanc qu’il se vit tout rouge et qu’il explosa«, der ein ganzes Universum hervorbrachte, wobei zur erschaffenen Materie bezeichnenderweise auch die menschlichen »Wörter« gezählt werden – »[…] nous les galaxies l’atomique amas nous photons protons […] nous les minéraux végétaux nous les mots […]« (S. 194) –, lässt der Text, der als schreibender »point« oder »trou« erscheint, einen kompletten ›Kosmos‹ aus Gegensätzen und Widersprüchen erstehen: 336 Ebd., S. 542. 337 S. z.B. S. 185 : »[…] la ligne n’est pas composée de points mais le point de lignes […]«; S. 9 : »[…] cacher l’histoire dans une boîte d’allumettes […]«; S. 142 : »[…] ce qui est le plus fini dans ce monde-ci exige l’infini comme un point sur l’i […]«. Vgl. dazu Hilary Clark, The fictional encyclopaedia, S. 146f; Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, S. 8594.
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[…] mon gros semblant livre un point simple point devenant zéro point sur point j’ai inventé l’intérieur du point atome trop plein trou du point […] (S. 185) […] le trou s’entendait lui-même s’écrivait lui-même sur son rouleau-temps c’est l’encre qui vit son ruban la lumière ses lettres […] ce n’est pas la pensée du mouvement qui produit l’automatisme mais l’automatisme qui produit la pensée […] (S. 210) Diesen in seiner Mannigfaltigkeit schillernden, der Zeit enthobenen ›Kosmos‹ stilisiert Sollers indirekt als den göttlichen Urgrund allen Seins, in welchem der Mensch, lässt er es zu, seine ›Erlösung‹, sein ›Paradies‹ findet. Der Gegenstand des irdischen Gartens Eden vergöttlicht dabei zugleich den ihn abbildenden Text, welcher, wie der nicht zufällige Hinweis auf das hebräische Akronym »pardes« (dt. ›Garten‹) aus »peschat remes derascha sod« (S. 163) (Litteralsinn, allegorischer, moralischer und anagogischer Sinn des Vierfachen Schriftsinns zur Exegese heiliger Schriften) deutlich macht, in seiner ›Auslegung‹ selbst zum Äquivalent des ›Gartens‹ wird. Die in Paradis stets unterschwellige Annäherung an heilige bzw. mystische Schrifttraditionen, so z.B. im Verzicht auf eine grafische Gliederung (s. biblische scriptio continua),338 enthüllt sich zuletzt in der den Text abschließenden Erzählung von einem ›Reisenden‹ – »[…] mais quel est donc ce voyageur qui se hâte de si bon matin à travers les rues avec sous le bras un petit paquet de forme rectangulaire […]« (S. 252) –, welcher frühmorgens mithilfe eines Geistlichen ein soeben fertiggestelltes, geheimes Buch in die Wand einer Kathedrale einlässt, um es für die Zukunft zu bewahren: Der ›Reisende‹ steht nicht nur für den Autor bzw. ›eingeweihten‹ Leser des Werks Paradis, sondern evoziert, wie Kotin Mortimer festgestellt hat, den für seine ›tiefen‹, undurchschaubaren Weisheiten bekannten Vorsokratiker Heraklit, der sein Hauptwerk im Artemistempel von Ephesos hinterlegt haben soll.339 Müde, jedoch gelöst, richtet der ›Reisende‹ – Autor und Leser – am Ende seiner Odyssee den Blick zur Leben spendenden Sonne: […] il va ensuite s’asseoir à la terrasse du café qui vient à peine d’ouvrir il commande un express serré qui lui est aussitôt servi le boit avale un verre d’eau glacée bâille deux fois de sommeil allume une cigarette puis soudain relâché léger renverse négligemment la tête au soleil (S. 254)
338 Armine Kotin Mortimer, »The invisible punctuation of Sollerʼs Paradis«, S. 930ff. 339 Armine Kotin Mortimer, »Paradis. Une métaphysique de l’infini«, S. 96.
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7. Schluss
Eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Nietzsche und seiner Rezeption macht es aufgrund der Weite des Themenfeldes und der Vielzahl der existierenden Veröffentlichungen unumgänglich, sich auf bestimmte Aspekte zu konzentrieren. Die vorliegende Arbeit zeigt anhand von vier Autoren und Werken aus dem Zeitraum zwischen Fin de Siècle und den 1980er Jahren – Pirandello, Unamuno, Bataille und Sollers – nicht nur allgemein Nietzsches direkten oder indirekten Einfluss auf die philosophisch-literarische Produktion des 20. Jahrhunderts, sondern geht von der These aus, dass die Wende zum sogenannten postmodernen oder exakter ausgedrückt, zum poststrukturalistischen Denken und Schreiben, dessen Höhepunkt mit den Veröffentlichungen um die Zeitschrift Tel Quel, wie etwa Philippe Sollersʼ Paradis erreicht ist, bereits lange Zeit vor der eigentlichen ›Postmoderne‹ bzw. dem ›Poststrukturalismus‹ erkennbar ist und dies zuallererst bei Nietzsche selbst. Dass Nietzsches Werk einen Einschnitt in die Geistesgeschichte markiert und auf diese Weise das ›postmoderne‹ Zeitalter einleitet, wird in der Literatur mit einer gewissen Regelmäßigkeit festgestellt. Heidegger bezeichnet Nietzsches Philosophie als das »Endstadium der abendländischen Metaphysik«1 und Habermas betitelt den Nietzsche-Teil seines Buchs Der philosophische Diskurs der Moderne plakativ »Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe«, wobei sich seine Argumentation auf die zentrale Einsicht stützt, dass Nietzsche »die Leiter der historischen Vernunft« »benutze«, »um sie am Ende wegzuwerfen und im Mythos, als dem Anderen der Vernunft, Fuß zu fassen«.2 Dadurch, so Habermas, »verzichte« »die Kritik der Moderne zum ersten Mal auf die Einbehaltung ihres emanzipatorischen Gehaltes«.3 In der Tat könnte man behaupten, Nietzsche vervollständige und überschreite die Moderne, denn auch die Moderne selbst übt Kritik an ihren Errungenschaften,4 ohne diese jedoch, wie in der Postmoderne, endgültig zu verabschieden. Auch Welsch und Zima präsentieren Nietzsches Philosophie als Schnittstelle zwischen Moderne und Postmoderne, während sie gleichermaßen betonen, dass 1 2 3 4
Martin Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, S. 193. Jürgen Habermas, »Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe«, S. 107. Ebd., S. 117. Vgl. Peter Zima, Moderne/Postmoderne, z.B. S. 10.
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Rudolf Pannwitz den Begriff ›Postmoderne‹ 1917 in Anlehnung an den nietzscheanischen ›Übermenschen‹ und seine Überwindung des modernen Nihilismus schöpfte.5 Die durch verschiedene Autoren somit häufig vorgebrachte, jedoch selten erläuterte Meinung, Nietzsche habe das poststrukturalistische, oder allgemein das postmoderne Denken vorweggenommen bzw. eingeleitet, versucht die vorangehende Arbeit anhand einer detaillierten literaturwissenschaftlichen Untersuchung seiner Schriften zu belegen, welche Nietzsches Abkehr von den im weitesten Sinne ›modernen‹ Maximen sowohl auf inhaltlicher als auch verfahrensmäßig-stilistischer Ebene beleuchtet. Seine Schriften werden schließlich Werken gegenübergestellt, welche entweder bereits im Zentrum der Postmoderne stehen (Sollers), oder diese nach Nietzsches Muster vorbereiten (Bataille, Unamuno, Pirandello). Als Einstieg in die behandelten Œuvres dienen vier Erzähltexte – Uno, nessuno e centomila (Pirandello, 1926), Niebla (Unamuno, 1914), Le Bleu du ciel (Bataille, 1957) und Paradis (Sollers, 1981) –, welche die philosophisch-theoretischen Überlegungen ihrer Autoren nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch reflektieren und somit die für den Übergang zur Postmoderne typischen Veränderungen in den Schreibverfahren sichtbar und vergleichbar machen. In welchem Maß Pirandello, Unamuno, Bataille und Sollers zur Ausarbeitung ihrer Werke mit Nietzsches Denken vertraut waren bzw. dieses bewusst rezipierten, kann nicht für alle mit gleicher Sicherheit beantwortet werden, denn während Batailles zahlreiche Nietzsche-Nennungen und -Veröffentlichungen sein Verhältnis zu Nietzsche klar darlegen und die Nietzsche-Kenntnis Sollersʼ als Vertreter des Poststrukturalismus außer Frage steht, erwähnt ihn Pirandello nur ein einziges Mal in einem Interview kurz vor seinem Tod, und Unamuno, der durchaus auf Nietzsche verweist, grenzt sich in den meisten Fällen nachdrücklich von ihm ab. Für die vorliegende Problemstellung erwies sich die tatsächliche, biografisch belegbare Rezeption Nietzsches als zweitrangig. Literaturwissenschaftlich interessanter erschien der Nachweis, dass die behandelten Autoren mit Nietzsche eine Denkbewegung teilen, an deren Ende sie die Ideale der Moderne loslassen, um in die Postmoderne einzumünden. Diese Denkbewegung versucht der Titel Mensch ohne Gott, vergöttlichter Mensch nachzuzeichnen. Neben Uno, nessuno e centomila und Niebla standen dabei die von der Forschung bisher kaum beachteten Erzählwerke Le Bleu du ciel und Paradis im Mittelpunkt, welche erstmals konsequent vor der Philosophie Nietzsches und den Paradigmen der Moderne und Postmoderne untersucht wurden. Die vergleichende Zusammenschau von Werken aus verschiedenen Nationalliteraturen und Zeitabschnitten ermöglichte außerdem ein differenzierteres Ermessen von Nietzsches tiefgreifendem Einfluss auf die Gedankenwelt des 20. Jahrhunderts. 5
Ebd., S. 13; s.a. ebd., S. 24f; Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S. 12.
7 Schluss
Ausgangspunkt der durch Nietzsche paradigmatisch vollzogenen Wende zur Postmoderne ist die Auseinandersetzung mit der Befindlichkeit des modernen Menschen, welche Nietzsche als ›nihilistisch‹ bezeichnet und auf die schleichende ›Dekadenz‹, d.h. auf den ›Verfall‹ oder den ›Niedergang‹ der Kultur, hin zu einem Zustand der allgemeinen ›Entnatürlichung‹6 , zurückführt. Wie Pirandello, Unamuno, Bataille und Sollers betrachtet Nietzsche dabei das Erwachen des menschlichen Bewusstseins und die Herausbildung des Verstandes, durch welchen sich der Mensch über die Tierwelt erhob, als die Wiege der modernen ›Krankheit‹, deren wahre Entfaltung, Nietzsche zufolge, jedoch erst durch die Verabschiedung der mythisch-naturphilosophischen zugunsten der wissenschaftlichen Weltbetrachtung seit spätestens Sokrates, und schließlich durch die Ausbreitung des seinerseits verwissenschaftlichten Christentums, seine Betonung von Zeit, Chronologie, Kausalität, Teleologie, persönlicher Verantwortung und Ich-Bewusstsein, sein Versprechen einer rein jenseitigen Erlösung und seine Abwertung des Diesseits erreicht wurde. Es sollte demonstriert worden sein, dass Nietzsche mit seiner Rede vom ›Tod Gottes‹, anders als üblicherweise angenommen, nicht eigentlich bestrebt war, lebendige Glaubensinhalte des Christentums zu entweihen oder zu zerstören, sondern vielmehr einen Zustand der Gesellschaft beschreibt, in welchem der ›Nihilismus‹, die Entwertung des Heiligen, längst Einzug gehalten hat, in welchem dieser jedoch nicht öffentlich eingestanden wird. Die bedrückende Einsicht in das Versagen des wissenschaftlich-rationalen Denkens, welches mit jenem des historischen Christentums zusammenfällt und bedeutet, dass weder die Wissenschaft noch der christliche Glaube in der Lage sind, dem Menschen oder der menschlichen Gemeinschaft Kraft und Trost zu spenden, resultiert bei allen Autoren aus der Konfrontation mit einer Welt, welche sich ihnen nicht rational, geordnet, zielgerichtet, und einheitlich darstellt, sondern auf Zufall, Pluralität und wechselndem Schein beruht, und neben Wachstum und Gedeihen, auch Gewalt, Schmerz und Tod umfasst. Das erste Glied des Arbeitstitels Mensch ohne Gott, vergöttlichter Mensch bezieht sich daher, je nach Autor in unterschiedlicher Gewichtung, auf das Leiden unter den als dogmatisch und unaufrichtig empfundenen Verstandeskonstrukten, ihre Destruktion sowie auf das erneute Leiden unter der nun unverstellten Sinnlosigkeit, Trostlosigkeit und Gottferne. Während bei Nietzsche alle drei Aspekte des ›Gottestodes‹ der Reihe nach zum Tragen kommen, steht bei Pirandello die Destruktion der als Lüge und Schein erkannten sozialen ›Formen‹ und der sich daran anschließende existenzielle Schmerz im Vordergrund, bei Unamuno die in Niebla als ›Nebel‹ versinnbildlichte Scheinhaftigkeit, Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit des durch den Tod getrübten Lebens, und bei Bataille der Entzug des Heiligen und die Vereinzelung und Entfremdung des Menschen innerhalb der modernen, auf Nützlichkeit und 6
Nietzsche selbst verwendet diesen Begriff, s. z.B. AC 25, KSA 6, 193.
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Profit ausgerichteten Produktionsgesellschaft. Sollers dagegen interpretiert das Aufbegehren gegen die Zwänge des Verstandes in typisch poststrukturalistischer Weise als Sprachsubversion. Es verwundert dabei nicht zu beobachten, dass die Einsicht in die Nichtexistenz von Wahrheit, Identität und Sinnhaftigkeit, welche mit der Infragestellung des christlichen Gottes in eins fällt, von Autor zu Autor (mit Ausnahme von Pirandello und Unamuno der Chronologie der Werkveröffentlichungen folgend), nicht nur ihre schockierende Wirkung einbüßt, sondern sich zur Selbstverständlichkeit entwickelt, welche in Le Bleu du ciel und Paradis nicht einmal mehr in ihrer tragischen Konsequenz thematisiert wird. Die in Le Bleu du ciel jedoch noch immer spürbare, vage, nicht näher bestimmbare, sich bis zum Wahnsinn steigernde Niedergeschlagenheit und Trauer, tritt in Paradis zugunsten eines heiteren Sprachspiels schließlich vollständig zurück. Bis hierhin lässt die Analyse das Fazit zu, dass sich ein Werk offenbar in dem Maße der Postmoderne nähert, wie es das Wissen um die Fehlbarkeit, ja das Scheitern der Vernunft angesichts der Erfahrung einer ganz und gar irrationalen Welt, oder anders formuliert, die Selbstkritik der Moderne impliziert und voraussetzt, wie es diesem Wissen jedoch mit gelassener Abgeklärtheit begegnet. Während die Bewältigung des metaphysischen Konflikts mit der Welt in gewisser Weise die gesamte moderne Literatur beschäftigt – man denke etwa an den Existenzialismus oder Nouveau Roman –, beschreiten die ausgewählten Autoren, bewusst oder unbewusst Nietzsche nachfolgend, einen Weg, der endgültig aus der »Ambivalenz« der Moderne7 hinausführt. Maßgebendes Merkmal dieses beginnend-postmodernen, buchstäblich post-modernen, wenn nicht ›post-strukturalistischen‹ Weges ist schlicht die Abkehr von den modernen Vernunftbegriffen und die Rückkehr zu einer ganzheitlichen Sicht des Lebens, d.h. besonders zu Lebensbereichen, welche durch die Vernunft und ihre logische ›Struktur‹ vernachlässigt wurden. Nietzsche knüpft mit seiner Vorstellung des apollinisch-dionysischen Lebenskreislaufs, welchen er schrittweise zur ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ weiterentwickelt, so etwa an die mythisch-vorsokratische Weltbetrachtung an, Pirandello setzt den dogmatisch-statischen Mythen der Gesellschaft den fließenden, niemals ruhenden Mythos der Natur entgegen, Unamuno wendet sich aus Unmut über die Vernunft, der sich aller Vergänglichkeit widersetzenden ›gefühlten Welt‹ der ›Fiktion‹ zu, Bataille zelebriert in der Überschreitung der Vernunft die kosmische économie générale oder existence totale, und Sollers lässt die poststrukturalistische Dekonstruktion der logozentrischen ›Metaphysik der Anwesenheit‹ mit der Würdigung des sprachlichlogischen ›Un-sinns‹ und Circulus vitiosus zusammenfallen. Allen Entwürfen liegt 7
Die Moderne des 20. Jahrhunderts kennzeichne sich, Zima zufolge, im Gegensatz zur noch auflösbaren, d.h. beherrschbaren »Ambiguität« der Neuzeit und Aufklärung, durch die »Problematik« der »Ambivalenz«, s. Peter Zima: Moderne/Postmoderne, v.a. S. 23f.
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dabei die zunächst schmerzende, dann erlösende Bejahung des natürlichen, Werden und Vergehen umfassenden Lebens zugrunde, welches in seiner Widersprüchlichkeit, Pluralität und Ewigkeit als ›göttlich‹ erkannt wird. Die Sinntranszendenz der wissenschaftlich geprägten platonisch-christlichen Metaphysik bzw. nach deren Verabschiedung, die Sinn-losigkeit des Diesseits ersetzen die Autoren somit durch eine Ontologie der Immanenz, welche mythisch-vorsokratische, aristotelische, pantheistische und panentheistische Elemente vereint. Erlebendes Medium dieser Ontologie ist der mystische Mensch, welcher jenseits der Vernunft mit der Welt verschmilzt und in seiner Vielheit als deren Spiegelbild erscheint. Der zweite Teil des Titels Mensch ohne Gott, vergöttlichter Mensch beschreibt daher nach dem ›Tod‹ des christlichen Gottes und seiner Hypostasen, so etwa des platonisch-christlichen Subjekts, die Wiederkehr des ›Göttlichen‹ im Menschen selbst. Die Vorstellung einer göttlichen Kraft im Innersten des Menschen, welche gerade aus dessen Zerrissenheit und Pluralität resultiert und ihn gegen Schmerz und Leid gefeit macht, findet sich bei den genannten Autoren unter den Begriffen Übermensch (Nietzsche), punto vivo, Dio di dentro (Pirandello, Uno, nessuno e centomila), yo íntimo, intra-hombre, cristiano, hombre interior, hombre de dentro (Unamuno) und homme entier (Bataille). Sollers bedarf keines Begriffes mehr für das übermenschliche Ich, welches sein mit Paradis betiteltes Werk textuell erstehen lässt. Seine Vielstimmigkeit und Tiefe ist die Summe der sich durchdringenden Textfragmente. Hier zeigt sich, dass die ausgewählten Autoren, wie Nietzsche selbst, am Ende ihrer Abrechnung mit der platonisch-christlichen Metaphysik – Heidegger hatte dies in Bezug auf Nietzsche nicht ohne Kritik festgestellt –, nicht nur zu einer anderen Form der Metaphysik zurückkehren, sondern ausgerechnet zu Inhalten und Glaubenssätzen des Christentums, welche zwar im Dienste ihrer jeweiligen Philosophie umgedeutet, in ihrem Kern jedoch übernommen werden. Deutlich wird dies in Nietzsches Neuinterpretation des ursprünglichen Christentums, mit welcher er seine ›Umwertung aller Werte‹ krönt, in Unamunos Begriff des cristiano, welchen er von seiner wörtlicher Bedeutung entfremdet und in La agonía del cristianismo jenem des intra-hombre angleicht, in Batailles Überblendung seiner ›inneren Erfahrung‹ mit Zitaten christlicher Mystiker, in Sollers Zusammenführung der nachmetaphysischen Überschreitung von Verstand und Sprache mit Erzählungen des Alten und Neuen Testaments, sowie allgemein in der poststrukturalistischen Aneignung der gleichnishaften, um eine okkulte Botschaft kreisenden Ausdrucksweise der Heiligen Schrift. Diese durchaus bewusst gesuchte Verbindung zur Mystik, wenn nicht zur christlichen Mystik, welche z.B. Barthesʼ und Derridas Schreiben bestimmt und in den ausgewählten Werken vorbereitet scheint, ist eine Eigenart des Poststrukturalismus, einer Strömung innerhalb der weit gefassten Postmoderne, welche mit ersterer die Akzeptanz und Bejahung von Pluralität und Chaos und, um eine Formulierung Gerhard Regns zu verwenden, die »Aufhebung« der modernen »Sinn-« und »Erkenntnispro-
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blematik«8 teilt. Die vorliegende Arbeit hat versucht, den durch Regn vertretenen Ansatz zu bekräftigen, die Postmoderne nicht als eine »verlängerte Moderne«,9 eine »postmoderne Moderne« oder »Radikalmoderne«10 zu betrachten, sondern als eine »eigenständige Epoche«,11 nämlich eine geistesgeschichtliche Epoche nach der Moderne, welche zwar Charakteristika dieser übernimmt, so etwa die Erfahrung des Wahrheitsverlusts, des Vielfachen und der Beliebigkeit, anders als die Moderne dabei jedoch, ganz ohne Trauer, den neuzeitlich-aufklärerischen Erkenntnisoptimismus und Fortschrittsglauben verabschiedet. Uno, nessuno e centomila, Niebla und Le Bleu du ciel nehmen vor diesem Hintergrund, ungeachtet des Zeitpunkts ihrer jeweiligen Veröffentlichung, eine Schwellenposition zwischen Moderne und Postmoderne ein, wobei sich Niebla ›postmoderner‹ als Uno, nessuno e centomila erweist und Le Bleu du ciel, zumindest inhaltlich, ›postmoderner‹ als Niebla. Paradis dagegen steht als poststrukturalistisches Werk par excellence bereits im Herzen der durch Nietzsche vorweggenommenen Postmoderne. Anliegen der Arbeit war nicht zuletzt, endgültig mit der zum Teil noch immer gängigen, simplifizierenden Deutung Nietzsches als Philosoph des ›Über-‹ oder ›Herrenmenschen‹, als Atheist, ›Antichrist‹ und Vorbereiter des Faschismus und Nationalsozialismus aufzuräumen. Neben der vertieften Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophemen ›Übermensch‹ und ›Wille zur Macht‹ sowie seinem vorgeblichen ›Atheismus‹ und ›Antichristentum‹, hat sich hier die in der Konfrontation mit Batailles Nietzsche-Lektüre gewonnene Einsicht als wesentlich erwiesen, dass die faschistische Ideologie in gewisser Weise zwar das Produkt desselben, die europäische Jahrhundertwende bestimmenden Zeitgeistes war, welchen Nietzsche mit seiner Philosophie bereits einige Jahrzehnte zuvor in all seinen Facetten beleuchtet hatte – die aus dem Ungenügen an der modernen Welt resultierende radikale Abkehr von allen bisher gültigen Werten und Idealen, und die Hinwendung zum mythischen Urgrund des Menschen –, dass Nietzsches Umwertung aller Werte jedoch gerade in der Zurückweisung jeder Form des gesellschaftlichen Dogmas besteht, während der faschistische Mythos seiner Natur nach, widersinnigerweise dem politischen Dogma untersteht und auf konkrete Gewalt- und Kriegshandlungen ausgerichtet ist. Nietzsche, der die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich belächelt hätte, teilt mit dem Phänomen des Faschismus daher nicht viel mehr als eine spezielle Art der Rhetorik. Sein Werk bleibt Philosophie, Ästhetik und Utopie mit einem Hang zur Mystik, und will bzw. kann nicht auf die reale Lebenswelt übertragen werden. Aus diesem Grund erstreckt sich Nietzsches Wirken in besonderer Weise nicht nur auf die Philosophie, sondern auch auf die Literatur, 8 9 10 11
Gerhard Regn, »Postmoderne und Poetik der Oberfläche«, S. 60. Ebd., S. 52. Regn nimmt hier selbst auf Welsch Bezug. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, v.a. S. 1-6 u. 84. Gerhard Regn, »Postmoderne und Poetik der Oberfläche«, S. 53.
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wobei es scheint, dass sein Denken nirgendwo besser verstanden und konsequenter weiterentwickelt worden ist, als im französischen Poststrukturalismus und in dessen Vorformen. Demnach sollte der franko- und italophile Nietzsche letztendlich mit seiner Ahnung, im romanischsprachigen Raum seine wahre Leserschaft zu finden, recht behalten. Grundlegendes Merkmal postmoderner und vor allem poststrukturalistischer Texte ist ein gegenüber moderner Literatur auffälliger, wenn nicht schwieriger und unverständlicher Stil, der sich auf den zweiten Blick als Folge des ihm zugrunde liegenden ›Inhalts‹ oder ›Sinns‹ herausstellt. Dieser beruht paradoxerweise auf der philosophischen Überzeugung, dass das Leben eines eindeutigen ›Inhalts‹, ›Sinns‹, eindeutiger Wahrheiten und Sicherheiten entbehre und daher ungeordnet, zufällig und irrational sei. Der verschwommene, unklare Sprachstil solcher Texte stellt somit das Spiegelbild einer Welt dar, welche ihrerseits verschwommen und unklar wahrgenommen wird. Die strukturalistische Gleichsetzung von Leben und Sprache bzw. Text ergänzt der Poststrukturalismus durch die Kritik am starren und dadurch zensierenden Strukturmodell, was ein Schreiben hervorbringt, welches alles daransetzt, die starre ›Struktur‹, ob in der darstellenden Sprache oder dargestellten Welt aufzubrechen und der Dynamik des Lebens ihren freien Lauf zu lassen. Die vorangehende Arbeit sollte nicht nur gezeigt haben, wie sehr der Poststrukturalismus als Philosophie und Kernstück der Postmoderne, in Nietzsches Denken, d.h. vor allem seiner Metaphysik- und Sprachkritik fußt, sondern dass die mit dieser ›Philosophie‹ einhergehenden Veränderungen in den Schreibverfahren, in weniger radikaler Form, bereits bei Nietzsche beobachtbar sind. Das Gleiche gilt für Autoren der ersten Jahrhunderthälfte, welche in ihren Arbeiten Nietzsches Denken bewusst oder unbewusst nachvollziehen. Nietzsche selbst nimmt eine Vorreiterrolle ein, denn nicht nur der Poststrukturalismus hatte sich zu seinen Lebzeiten noch nicht etabliert, auch der sich auf Saussures Zeichenmodell berufende Strukturalismus sollte erst Jahrzehnte später entstehen. Dennoch nimmt Nietzsche Saussures Zeichenbegriff vorweg, überträgt ihn in strukturalistischer Art und Weise auf das menschliche Bewusstsein und Sozialleben, um schließlich poststrukturalistischen Theorien vorgreifend, dessen willkürlichen und repressiven Charakter zu kritisieren, wobei er den Begriff der ›Sprachmetaphysik‹ prägt. Wie in poststrukturalistischen Werken bleibt diese Kritik nicht theoretisch-inhaltlich, sondern wird zu einem Teil seiner Schreibpraxis. Was Derrida später ›Dekonstruktion‹ nennen wird, ist daher bereits in Nietzsches Schriften erfahrbar. Sowohl sein Rückgriff auf spezielle Gattungen oder Formen, wie etwa Dithyramben, Aphorismen, Rätsel und Gleichungen, seine Vorliebe für Selbstzitate, als auch sein ›parodistisches‹ Verfahren, im Zuge dessen er ›Parodie‹ auf ›Parodie‹ folgen lässt, ohne zu einer letzten Wahrheit zu gelangen, dienen der Absicht, den eigentlichen Sinn des Gesagten zu verschleiern, seine Subjektivität und Fiktionalität bloßzulegen und sich dem dergestalt ›Unsagbaren‹ über, wie Nietzsche formuliert, ›Masken‹ anzunähern. Daraus
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folgt, dass sich seine philosophisch-poetischen Werke nicht als zusammenhängende, geschlossene Abhandlungen darbieten, sondern als Aneinanderreihungen unverbundener, episodischer Einzelmotive, welche unabhängig von ihrer Chronologie und ihrem Kontext lesbar sind. Selbiges gilt für Also sprach Zarathustra, Nietzsches dichterische Einkleidung seiner philosophischen Grundgedanken, und seine ›Autobiografie‹ Ecce homo, welche jeweils eines klaren äußeren Plots entbehren und in diskontinuierliche philosophische Reflexionen auslaufen. Bereits hier wird deutlich, dass Nietzsches Infragestellung von Wahrheit und Realität mit einem Schreiben einhergeht, welches in Analogie zur poststrukturalistischen, alles umfassenden écriture, die üblichen Grenzen zwischen verschiedenen Literaturgattungen, zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Text und Leben in zunehmendem Maße einebnet. Aus diesem Grund lassen sich Nietzsches sprachlich-stilistische Verfahren, obgleich sein Werk keine im engeren Sinne narrativen Texte beinhaltet, mit jenen literarischer Werke vergleichen, welche ausgehend von einer ähnlichen Lebensauffassung, ihrerseits die gültigen Gattungsgrenzen unterminieren. Wenn das Leben oder die Welt an sich nichts als Fiktion oder Schein ist, so die Überlegung bei Nietzsche und ihm nachfolgenden Autoren, dann gibt es nicht nur keine Unterscheidung mehr zwischen theoretischen und fiktionalen Werken, sondern auch nicht zwischen Leben und Text. In Uno, nessuno e centomila zeigt sich dieser Aspekt in der steten Anrede und Einbindung des Lesers, der aufgerufen wird, seine eigene Wirklichkeit infrage zu stellen, in Niebla im Eingreifen des Autors ›Unamuno‹ in den Erzähldiskurs bzw. im Spiegeleffekt der sich überlappenden nivolas, in Paradis in der regelmäßig vernehmbaren Stimme des lebenswirklichen Sollers sowie dem steten Verweis auf theoretische Positionen Tel Quels, und bei Bataille in seiner Konzeption des Schreibens als Ventil des dionysischen Lebens. Bei Nietzsche dagegen wird die Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit schließlich zur traurigen Realität des einbrechenden Wahnsinns. Genau genommen beruht die Gleichsetzung von Leben und Text auf der (strukturalistischen) Einsicht, dass die Welt, wie sie uns scheint, zwangsläufig durch das menschliche Bewusstsein gefiltert wird und uns somit nur als sprachliches oder textuelles Phänomen zugänglich ist. Die behandelten Autoren begreifen ihre Werke daher nicht vordergründig als Abbild, sondern vielmehr als Fortsetzung dieser Welt. In einem ersten Schritt greifen sie so auf Verfahren zurück, welche deren dionysischen Charakter offenbaren. Wie bei Nietzsche handelt es sich dabei um Strategien, (sprachliche) Wirklichkeiten zu de-konstruieren bzw. als Illusion oder Fiktion zu entlarven. Zielscheibe dieser Wirklichkeitsdestruktion ist im Erzähltext vorrangig das Subjekt (Erzähler und Figur als Spiegelbild des Autors) und die dargestellte Geschichte (histoire). Während in Uno, nessuno e centomila, Niebla und Le Bleu du ciel die Auflösung von Subjekt und Wirklichkeit vor allem erzählt wird, nimmt Paradis die Gleichsetzung von Sprache und Welt beim Wort und lässt die als sprachliche Konstrukte erkannten Sinneinheiten in ihre Bausteine zerfallen: Das Subjekt in (deiktisch) verschiedene Personalpro-
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nomen, die Wirklichkeit in eine Vielzahl von Textfragmenten unterschiedlichster Sinnbereiche. Um den sprachlichen Sinn, sowohl auf Zeichen- als auch auf Satzebene zu unterbinden, bedient sich Sollers, der in poststrukturalistischer Art und Weise Nietzsches Metaphysikkritik nunmehr ausschließlich als Sprachsubversion deutet, besonders der Stilmittel Reim, Wiederholung und Redundanz und verzichtet auf Interpunktion, Absätze und Großschreibung als Merkmale des herrschenden Logozentrismus, wodurch Logik und Syntax in sich zusammenstürzen und der Sinnverschiebung der différance weichen. Die schon bei Nietzsche feststellbare Zusammenführung von Metaphysik- und Sprachkritik, welche sich etwa in der semantischen Spaltung der ersten Person Singular oder in der ›parodistischen‹ Bedeutungsabtragung von Begriffen oder Gegenständen enthüllt, wird daher durch Sollers bei Weitem übertroffen. Übereinstimmend mit der Tel Quel’schen Intention, das literarische ›Werk‹ bzw. den ›Roman‹ durch die allgemeine écriture zu ersetzen, präsentiert Sollers mit Paradis einen Text, in welchem jede Form von Inhalt oder zusammenhängender Handlung, sowie die Kategorie des Erzählers und der Erzählfigur restlos getilgt sind, und welcher dadurch der Bezeichnung ›Roman‹ eigentlich nicht mehr gerecht wird. Insofern Tel Quel-Autoren theoretische Texte jedoch derselben Verschiebung unterwerfen, gelingt es ihnen, die bereits in spätmodernen Werken verschwimmenden Gattungsunterschiede im Entwurf der alles umfassenden écriture vollständig aufzuheben. Rückblickend wird hier deutlich, wie sehr Unamuno mit seiner in Niebla und Cómo se hace una novela entwickelten Vorstellung des Lebens als einer großen, sich ewig fortschreibenden novela oder nivola auf die Tel Quel’sche Texttheorie und das damit verbundene (bereits bei Nietzsche mitgedachte) Intertextualitätskonzept vorausweist. Entscheidende Charakteristika dieses Lebens sind, Unamuno zufolge, die Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit, Irrationalität und Zufälligkeit. In Niebla schlägt sich dies jedoch nicht nur in der Abwesenheit von Beschreibungen und der allgemeinen Handlungsarmut nieder – im Unterschied zu Paradis gibt es in Niebla jedoch sowohl Handlung als auch Figuren –, vielmehr demonstriert Unamuno die Fiktionalität der Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Fiktion performativ mithilfe des Spiegeleffekts der fiktionsimmanenten nivola, welche schon bald die Romanhandlung als Illusion entlarvt und schließlich die ihr überlagerte Wirklichkeit des Autors und Lesers. Diese Vermischung der Ebenen wird zudem durch das Eingreifen der ›Autorfigur‹ Unamuno verstärkt. In Cómo se hace una novela, einem Werk, welches postmodernen Schriften stilistisch in nichts nachsteht (sich so z.B. restlos über bestehende Gattungsgrenzen hinwegsetzt), entfaltet er darüber hinaus die bereits in Niebla angedeutete und bei Nietzsche und Tel Quel-Autoren zentrale These, dass in Analogie zum Leben selbst, die Handlung, der Sinn, ja sogar das schreibende Ich eines Textes diesem niemals vorgängig sind, sondern sich immer erst nachträglich als Produkt des Geschriebenen einstellen. Auffällig bei Unamuno, so auch in Niebla, ist schließlich die für spät- und postmoderne Autoren typische Tendenz, die
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mimetische Darstellung von Wirklichkeit durch selbstbezügliche Reflexionen über die eigenen Schreibverfahren bzw. Metafiktion zu ersetzen. Diese Besonderheiten machen Niebla zu einem Werk, welches verfahrensmäßig über Batailles Jahrzehnte später veröffentlichten Roman Le Bleu du ciel hinausgeht. Bataille lässt anders als Unamuno, nicht die ›Fiktion‹ in die vernünftige Welt hereinbrechen, sondern das Gewalt, Schmerz, Tod, Erotik und Wahnsinn umfassende ›Heterogene‹ oder, mit Nietzsches Worten, das ›Dionysische‹, somit sämtliche Bereiche, welche das durch den Verstand bestimmte ›Homogene‹ herkömmlicherweise ausgrenzt. Die dem Leben zugrunde liegende gegenseitige Bedingtheit von homogenen und heterogenen bzw., in Nietzsches Terminologie, von apollinischen und dionysischen Kräften, versucht Bataille in seinen Erzähltexten – Le Bleu du ciel bildet hier keine Ausnahme – durch die regelmäßige Einbindung transgressiver Episoden nachzubilden, welche den noch vorhandenen Erzähldiskurs immer wieder aufs Neue unterbrechen. Dies geschieht nicht nur auf inhaltlicher Ebene. Auch die Sprache gerät dabei ins Stocken, wird unklar und verschwommen und manifestiert sich in verneinten, widersprüchlichen Beschreibungen, unüblichen Wortverbindungen und von ihren Grundbedeutungen entfremdeten Wörtern. Dennoch ist in Le Bleu du ciel noch immer eine, wenn auch unkonventionelle Handlung mit fest umrissenen Figuren erkennbar und die sprachlich-stilistische Darstellung der Verbotsüberschreitungen oder ›inneren Erfahrungen‹ zeigt sich weit weniger drastisch, als es Batailles theoretisch-praktischer Entwurf einer durch die ›innere Erfahrung‹ und den ›Tod‹ des vernünftigen Subjekts verformten Sprache in L’expérience intérieure und Sur Nietzsche vermuten lässt. In Uno, nessuno e centomila dagegen wird die Infragestellung von Wahrheit und Identität vorrangig in der Geschichte des Vitangelo Moscarda erzählt. Pirandello realisiert hier sein Konzept des auf dem Zusammenspiel von Tragik und Komik beruhenden ›humoristischen‹ Werks, welches statt Realität, Ordnung und Kohärenz zu erschaffen, sein Bemühen darauf richtet, diese zu zerbrechen. Anders als realistische Romane lässt Uno, nessuno e centomila seinen Protagonisten daher nicht erzählerisch entstehen, sondern zerlegt ihn und seine Wirklichkeit, bis sich Moscarda von jeder Identität löst und mit der ihn umgebenden Natur verschmilzt. Die auch bei Pirandello angedeutete Kritik am sprachlichen Zeichensystem als Muster des formgebenden, begrenzenden menschlichen Verstandes schlechthin, beschränkt sich in Uno, nessuno e centomila jedoch entweder auf rein inhaltliche Thematisierungen oder wenige selbstreferenzielle Betrachtungen zur sprachlichen Kommunizierbarkeit der jeweiligen Gegenstände. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Roman als der ›modernste‹ bzw. am wenigsten ›postmoderne‹ der behandelten Erzähltexte, in welchen sich die spät- bis postmoderne Lebensanschauung nicht nur im Werkaufbau und der Figurenpsychologie, sondern in ausgeprägterem Maße auch in den verwendeten Schreibtechniken und der Sprache niederschlägt. In Paradis finden sich diese Neuerungen bereits integriert in die allgemeine Revolutionierung der Sprache, denn die philosophischen
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Anschauungen übersetzen sich übergangslos in einen Angriff auf die Syntax und den Zeichenbegriff. Steht der platonisch-christliche ›Gott‹ stellvertretend für Sinn, welchen die Autoren als sprachlich-menschliches Konstrukt entlarven, dann lassen sich die in allen Werken feststellbaren Brüche im Aufbau und in der Sprache als die sprachlich-stilistische Entsprechung des nietzscheanischen ›Gottestodes‹ lesen, so dass der erste Teil des Arbeitstitels Mensch ohne Gott, vergöttlichter Mensch zu guter Letzt die Einbuße des sprachlichen Sinns bzw. der Möglichkeit, ›Sinn‹ sprachlichmimetisch darzustellen beschreibt. Die postmoderne Überwindung dieses Verlusts wird dabei ihrerseits ausgerechnet sprachlich vollzogen, denn, wie die Textanalysen zeigen konnten, stellt die Abwesenheit eines eindeutigen Sinns nicht das Ende der Sprache dar, sondern befreit sie von den ihr eingeschriebenen Zwängen. Da die Autoren, um sich an ihr Lesepublikum zu wenden, paradoxerweise eben von jenem sprachlichen Zeichensystem Gebrauch machen, welches sie zugleich der schärfsten Kritik unterwerfen, entwickeln sie Strategien, dieses Sprachsystem ihrer Lebensanschauung anzugleichen. In Analogie zum Leben selbst, charakterisiert sich ihr Schreiben daher nicht durch Ordnung, Geschlossenheit und Kohärenz, sondern durch Lebendigkeit, Bewegung, Pluralität und die Einheit der Gegensätze. Das Lebendige ihres Schreibstils manifestiert sich in rhetorischen Figuren, Sprachspielen und allgemein in einer auffallenden Sprachbewusstheit, durch welche die lautlichen, morphologischen, semantischen, etymologischen und syntaktischen Eigenschaften der Sprache neu reflektiert und nicht selten modifiziert werden. Dies resultiert in einem ungewohnt spielerisch-heiteren Umgang mit der Sprache. Zur Verlebendigung ihres Stils, welchen sie als Abbild und Fortsetzung der niemals ruhenden Lebenskraft begreifen, machen sich die Autoren weiterhin die Nachahmung von Mündlichkeit und die Einbindung und Anrede an den Leser zunutze. Letzterer Aspekt führt vor Augen, dass es mit fortschreitendem Wegfall einer sinnstiftenden Mitte – Barthes hat dies in La mort de l’auteur richtig erkannt – tatsächlich dem Leser zukommt, Texte zu ordnen und mit einem Sinn zu versehen. Die Einsicht in die Heterogenität und Pluralität aller natürlich-sozialen Erscheinungen spiegelt sich sprachlich-stilistisch in der semantischen Aufspaltung von Begriffen und der grammatischen Person, in der Kongruenz mit dem jeweiligen Gegenteil bzw. in der Zuordnung gegensätzlicher Attribute, in Neologismen bzw. ungewöhnlichen Begriffsverwendungen wie ›Übermensch‹, ›Wille zur Macht‹, ›Antichrist‹ (Nietzsche), Dio di dentro (Pirandello), intrahombre bzw. intrahistoria (Unamuno), welche in Ermangelung eines adäquaten Ausdrucks, auf in sich widersprüchliche Konzepte verweisen, bis hin zum abrupten Wechsel der Personalpronomen, Themen und Gegenstände in Paradis. Doch selbst in Paradis ist das, was moderne Autoren unter den Begriffen ›Subjekt‹, ›Wirklichkeit‹, ›Wahrheit‹ und ›Sinn‹ verhandeln, nicht abhandengekommen, es erscheint nur in veränderter Form, als die Summe oder das Produkt des Vielen und Gegensätzlichen, welches der Text erstehen lässt. Hier erschließt sich sowohl die den gesamten postmodernen Dis-
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kurs durchdringende Rede von der ›Textualität‹ des Lebens, als auch Kristevas Konzept der Intertextualität, welches sich in Paradis, Kristevas Ansatz entsprechend, als Folge des postmodernen, auf Pluralität beruhenden Subjektentwurfs herausstellte. Das intertextuelle Spiel lässt sich dabei nicht erst in Sollersʼ auf Zeichensetzung, Großbuchstaben und Absätze verzichtendem Spracherguss erkennen, sondern findet sich bereits in Nietzsches sich ablösenden ›Parodien‹ und in Unamunos aufeinander verweisenden nivolas, welche in ihrer Gesamtheit die große nivola des Lebens bilden. Diese Art der Textkomposition, in welcher Textfragmente scheinbar endlos ineinander übergehen, erlaubt den Autoren zugleich ihre Überzeugung von der Unendlichkeit und Ewigkeit der Welt greifbar zu machen. Bei Unamuno und Sollers äußert sich dies z.B. durch simulierte Abschlussformeln, welche jeweils durch die Fortsetzung des Textes vereitelt werden. Pirandello dagegen betitelt das letzte Kapitel von Uno, nessuno e centomila, in welchem sich der Protagonist endgültig von jeder Identität lossagt und von nun an, nicht nur in den sich wandelnden Elementen der Natur, sondern bezeichnenderweise auch, wie es heißt, in den von ihm gelesenen Büchern fortlebt, mit »Non conclude«, womit die Unendlichkeit des ›Textes‹ Leben heraufbeschworen wird. Die Ewigkeit des kreisenden, in sich widersprüchlichen Lebens veranschaulichen die Autoren außerdem durch den Gebrauch von Antithesen und Paradoxa, welche den Zusammenfall der Gegensätze auch in der Sprache erkennbar machen. Rückschauend zeigen die letzten beiden Großkapitel, dass sich die poststrukturalistische Ineinssetzung von sexueller und sprachlicher Befreiung, welche in Paradis so etwa im Wortspiel ponctuation (dt. ›Zeichensetzung‹) und ponction (dt. ›Punktion‹), in der Überblendung von Text und ›Frau‹ und den vielen obszönen Beschreibungen in Erscheinung tritt, durch Bataille und seine erschriebenen ›Ausschweifungen‹ vorweggenommen wird. Bataille schildert die dionysischen Momente des Lebens – Erotik, Schmerz, Gewalt und Wahnsinn–, in welchen der Mensch für Augenblicke die Gebote der Vernunft verwirft, nämlich in erster Linie als Sprachgeschehen, bei dem sich die Sprache ihrer eigenen Funktionalität entzieht und zur ›poetischen‹ Sprache wird. Künstlerische Darstellungen ekstatischer Transgressionen begreift Bataille daher selbst als transgressiven Akt und Ausdruck der Ekstase. Wie jede Transgression erfüllen sie, Bataille zufolge, eine rituelle, religiöse Funktion. Nicht nur Bataille überträgt die inhaltlich dargestellte Wiederkehr des Göttlichen im erlebenden Bewusstsein des Menschen auf das Medium ihrer Darstellung, das literarische Werk, auch die übrigen Autoren stilisieren das als göttlich erfahrene, widersprüchliche Leben als ›vergöttlichten‹ Text. Dies geht so weit, dass in Paradis die bewusste Annäherung an heilige Offenbarungsschriften vernehmbar ist. Besonders bei Bataille und Sollers, vorbereitet durch Nietzsche, folgt daraus eine mystische, rätselhafte Sprache, welche um etwas Unsagbares zu kreisen scheint. Der von der Forschung immer wieder herangezogene Vergleich zwischen Mystik und postmodernem Denken bzw. deren Ausdrucksmitteln, findet in den untersuchten Werken somit seine Berech-
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tigung. Vergegenwärtigt man sich die philosophischen Grundgedanken, welchen Werke wie Paradis entspringen, dann erweist sich sowohl Wiechens Charakterisierung der Postmoderne als »kaltes« »Universum«,12 als auch Zimas Beschreibung als Zeitalter der »Indifferenz« und der »Austauschbarkeit der Werte«13 als eigentlich unangemessen. Zutreffendere Attribute wären (sprachliche) Erlösung, Gelassenheit und Humor, wobei in letzterem, ganz in Pirandellos, Unamunos und Nietzsches Sinn, kaum merklich, ein letzter Funken von moderner Tragik mitschwingt. Das bei allen behandelten Autoren unübersehbare Streben nach einem Denken und Schreiben jenseits des leidstiftenden Verstandes, bleibt natürlich nichts anderes als Utopie: Dies macht jedoch gerade die Faszination und Schönheit ihrer Werke aus.
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Peter Wiechens, Bataille zur Einführung, S. 29. Peter Zima, Moderne/Postmoderne, S. 25.
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Literaturverzeichnis
Nietzsche-Ausgaben Nietzsches Schriften werden zitiert nach Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München: dtv, 2., durchgesehene Auflage 1988). Zitatnachweise erfolgen im laufenden Text nach dem Schema: Textsigle, ggfs. Kapitelüberschrift und Abschnittsnummer, KSA-Bandzahl, Seitenzahl. Nietzsches Briefe werden zitiert nach Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden (KSB), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München: dtv 1986). Zitatnachweise erfolgen im laufenden Text nach dem Schema: Briefnummer, Datum, KSB-Bandzahl, Seitenzahl. Nietzsches (durch ihn selbst zum Druck bestimmte) Werke werden mit den üblichen Siglen zitiert: AC Der Antichrist DD Dionysos-Dithyramben EH Ecce homo FW Die fröhliche Wissenschaft GD Götzen-Dämmerung GM Zur Genealogie der Moral GT Die Geburt der Tragödie IM Idyllen aus Messina JGB Jenseits von Gut und Böse M Morgenröte MA Menschliches, Allzumenschliches
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NW Nietzsche contra Wagner PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen UB Unzeitgemäße Betrachtungen WA Der Fall Wagner WL Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne ZA Also sprach Zarathustra
Behandelte Erzähltexte (chronologisch) Pirandello, Luigi (1926): Uno, nessuno e centomila, in: ders., Tutti i romanzi (Mailand: Mondadori, 1957), 1283-1416. Unamuno, Miguel de (1914): Niebla, in: ders., Obras completas, I (Madrid: Turner, Biblioteca Castro 1995), 465-672. Bataille, Georges (1957): Le Bleu du ciel, in: ders., Œuvres complètes, III (Paris: Gallimard 1971), 381-487. Sollers, Philippe: Paradis (Paris: Éditions du Seuil 1981).
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Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
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Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
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Literaturwissenschaft Rebecca Haar
Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6
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Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0
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