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German Pages [552] Year 2015
Freiheit, Gleichheit, Entfaltung
Christoph Henning ist Junior Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und Privatdozent für Philosophie an der Universität St. Gallen.
Christoph Henning
Freiheit, Gleichheit, Entfaltung Die politische Philosophie des Perfektionismus
Campus Verlag Frankfurt/New York
Wir danken der Forschungskommission der Universität St. Gallen für einen Druckkostenzuschuss mit Mitteln aus dem Dr. h.c. Emil Zaugg-Fonds.
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Inhalt
I. Einleitung ............................................................................................................ 9
II. Überblick und Kritik: Der Perfektionismus der Gegenwart .................. 31 1. Neues Naturrecht: Repressive Lehren vom Guten? ......................... 33 Der politische Kontext von Robert P. George ...................................... 33 Georges akademischer Perfektionismus .................................................. 41 Georges Rawlskritik: Die Wahrheit des Guten ...................................... 50 ›Freiheit, die ich meine…‹ Bürgerrechte nach George .......................... 55 Zwischenfazit einer Herausforderung ..................................................... 61
2. Skepsis gegenüber dem Guten: Die Neutralitätsthese ....................... 63 Rawls’ Neuentwurf als missglückte Antwort auf Michael Sandel ........ 63 Rawls’ Neuentwurf als Antwort auf Finnis und George ....................... 70 Ist der Perfektionismus nur eine sektiererische Theorie des Guten? .. 75 Perfektionistische Elemente bei Rawls .................................................... 78 Liberaler Neutralismus neben Rawls ....................................................... 89 Wie weiter? ............................................................................................... 101
3. Perfektionistische Neuansätze ............................................................ 103 Thomas Hurkas Neuauflage aus dem Geist des Utilitarismus ........... 106 George Shers Neuauflage aus dem Geist des Aristotelismus ............. 125 Steven Walls Perfektionismus der Autonomiebedingungen ............... 144
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III. Gesellschaft, Natur und Selbst in alternativen Ansätzen ...................... 171 1. Rawls’ Nietzsche, Cavell und Hayek: Ungleichheit und Gesellschaft ........................................................... 172 Gleichheit statt Perfektionierung? Eine fehlgehende Sortierung ....... 173 Wie egalitär ist Nietzsches Perfektionismus? ........................................ 188
2. Das Schwinden der Natur bei Martha C. Nussbaum ..................... 215 Ist der Neoaristotelismus ein Konservativismus? ................................ 215 Nussbaums Bruch mit ihren perfektionistischen Anfängen ............... 217 Konturen der Kehre ................................................................................. 220 Die halbiert Natur .................................................................................... 229 Ein stoischer Seitenzweig ........................................................................ 231 Nussbaum, Butler und die Zirkel um die Natur ................................... 233
3. Selbstverwirklichung ohne Selbst: Zur Kritik der Anerkennung ... 239 Das Hegelsche Allgemeine: Selbstverwirklichung bei Axel Honneth ..................................................................................... 241 Eindimensionale Gerechtigkeitsnormen und das Zehren vom Früheren ............................................................... 247 Anerkennung als Zugang zu Systemen und der Effekt der Normalisierung ........................................................ 253 Ideologisierung durch Geltungsüberhang und das Fehlen radikaler Normen .......................................................... 257 Welches Selbst in der Selbstverwirklichung? ........................................ 269
IV. Gesellschaft, Natur und Selbst im traditionellen Perfektionismus ..... 277 1. Gesellschaft und Gleichheit: Egalitärer Aufklärungsperfektionismus ............................................. 278 Rousseau an der Schwelle zur Gleichheit .............................................. 279 Rousseau mit Aristoteles ......................................................................... 286 Der gemäßigte Kant, seine radikaleren Vorgänger und das Glück .... 290 Der egalitäre Perfektionismus bei d’Holbach und Helvétius ............. 309 Der egalitäre Perfektionismus bei Condorcet ....................................... 319
INHALT
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2. Natur und Freiheit: MacIntyre, Mill und Dewey ............................. 334 Alasdair MacIntyre und die menschliche Natur ................................... 334 John Stuart Mill: Individualität als entwickelte Natur .......................... 368 John Dewey: Perfektionistische Freiheit und Politik ........................... 375
3. Selbst und Entfaltung: Von Otto Gross zu Cark Rogers .............. 406 Welche Selbstverwirklichung? Institutionelles oder impulsives Selbst .......................................................................................................... 407 Otto Gross: Radikalindividualistischer Perfektionismus ..................... 417 Karen Horney und das wahre Selbst ..................................................... 434 Selbstverwirklichung bei Maslow und Rogers: Eine Verteidigung .... 443
4. Natur, Gesellschaft und Selbst bei Marx .......................................... 459 Individuum und Gemeinschaft beim jungen Marx .............................. 460 Individualismus beim späteren Marx ..................................................... 469 Naturphilosophische Grundlagen der Individualität ........................... 472 Ungleiche Freiheit zur Selbstverwirklichung: The Hidden Injuries of Class .................................................................. 487
V. Freiheit, Gleichheit, Entfaltung: Fazit ..................................................... 493 Wegmarken und große Linien ................................................................ 493 Ein Blick in die Gründe: Die Rolle der Natur in der Ethik ................ 499 Konturen der egalitären Gesellschaftstheorie ....................................... 509 Konturen des individualistischen Ziels .................................................. 512 Perfektionistische Wertphilosophie, Politik und Ästhetik .................. 515
Literatur ................................................................................................................. 523
I. Einleitung
Zu welchem Ende studiert man Perfektionismus? Perfektionismus im Sinne der politischen Philosophie bedeutet, dass es gehaltvolle Vorstellungen vom guten Leben gibt, nach denen Menschen sich in ihrer persönlichen Entwicklung richten sollen und sich zugleich, so die Unterstellung, immer schon richten, sonst wäre diese Ethik theoretisch nur als abstrakte Forderung, praktisch nur als Paternalismus möglich. Diese Theorie versucht somit die Kluft zwischen Sein und Sollen in einem Aristotelischen Sinne zu überbrücken. Gut in praktischer, nicht nur moralischer Hinsicht ist es, wenn Menschen ihre Anlagen in eine wünschenswerte Richtung entwickeln (die Tradition nannte dies »Pflichten gegen sich selbst«, Hurka 1993: 5), und wenn sie und die Institutionen andere Menschen dabei unterstützen, das zu tun (das wären dann Pflichten gegen andere). Welche Ziele dies sind, ob sie ganz oder nur annäherungsweise erreicht werden können und wie eine Förderung durch andere genau aussehen mag, darin unterscheiden sich verschiedene Versionen des Perfektionismus. Den Grundgedanken einer Entwicklung zum Guten teilen sie. Nach dieser Vorstellung steht am Ende dieses Strebens ein Zustand des nachhaltigen Glückes, des gelingenden oder blühenden Lebens (im Englischen: »flourishing«), und nach diesem Gut streben letztlich alle Menschen. Das Kriterium dafür, ob eine solche persönliche Entwicklung gut verläuft oder nicht, ist eine im Prinzip feststellbare Größe. Das erlaubt Brücken-schläge zur Sozialforschung. Der Begriff ist also abzugrenzen gegenüber der alltäglichen Verwendungsweise, die damit einen Habitus des Nie-Zufrie-den-Seins bezeichnet. Ein perfektionistischer Maler betrachtet sein Werk ungern als vollendet und kann darum jahrelang an nur einem Gemälde arbeiten. Perfektionismus grenzt in diesem Verständnis an eine Pathologie, da das normale Leben so immer einen Schatten des Unvollkommenen erhält und die aktive Betätigung so gehemmt werden kann.
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Dieses Verständnis ist ebensowenig gemeint1 wie die Spekulation einer naturhistorischen Vervollkommnung des Menschengeschlechtes, wie sie heute im Horizont der Gentechnik als Horrorszenario auftaucht.2 Gemeint ist vielmehr die Theorie des menschlich Guten, die dieses als glücksförderliche menschliche Entwicklung begreift und zugleich zum normativen Maßstab sozialer Institutionen kürt. Perfektionismus ist ein ungünstiger Titel dafür, wenn es suggeriert, es ginge darum, Menschen »perfekt« zu machen. Gerade dagegen haben sich Perfektionisten wie John Dewey oder Karen Horney gewandt, wie wir sehen werden. Falsch ist das insbesondere dann, wenn es religiöse Untertöne bekommt. Bei Aristoteles, der als zentraler Ideengeber gelten muss, besteht die Vollkommenheit des Glückes lediglich darin, das den Menschen Mögliche zu erreichen – und darüber hinaus lässt sich vernünftigerweise nichts wünschen. Das Glück als höchstes menschliches Gut genügt sich selbst (Aristoteles, NE 1094b7, vgl. 1097b7ff., 1102a15). Die menschliche Endlichkeit wird nicht zu überschreiten versucht, vielmehr wird das Streben auf erreichbare Ziele verwiesen, etwa: weg vom unendlichen Streben nach Reichtum, hin zu persönlichen Beziehungen.3 Dieser Gedanke findet sich noch in der Aufklärung: »Vollkommenheit einer Sache kann nichts sein, als dass das Ding sei, was es sein soll und kann« (Herder 1793: 93). Moderne Varianten des Perfektionismus, etwa bei Dewey, haben sich zwar gegen Aristoteles’ Vorstellung eines erreichbaren Zustands gewandt, bleiben wie er aber diesseitig gerichtet: »Not perfection as a final goal, but the ever-enduring process of perfecting, maturing, refining is the aim in living« (Dewey 1920: 141). Die konfliktgeladene Aristotelesrezeption des Christentums versuchte allerdings, dieses menschliche Glück als etwas Jenseitiges zu begreifen. Erst dieses Mischprodukt verleiht der Perfektionierung ihre scheinbare Hybris. Sich selbst gottähnlich machen zu wollen macht allerdings weder aus Aristoteles’ Perspektive Sinn, da es ein unerreichbares Ziel wäre, noch – will man nicht pagan-magischen Praxen das Wort reden – aus christlicher Sicht: Keine Werkgerechtigkeit der Welt könnte dies vor Gott vollbringen.
—————— 1 Pathologisierende Wirkungen eines übersteigenden Ideals von »Selbstverwirklichung« beschreibt Illouz 2006: 81f. (dazu s.u., Kap. IV.3, sowie Henning 2011g). 2 Zur Kritik vgl. Henning 2009c sowie 2012b. 3 Kraut bringt es auf den Nenner: »nothing can be perfect« (2007: 16) und schlägt für die aristotelische Ethik des »flourishing« stattdessen den Namen »developmentalism« vor. Obwohl diese Idee gut ist, werde ich sie hier nicht aufgreifen, da sich der Name des Perfektionismus inzwischen eingebürgert hat.
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Christen können hoffen, dereinst erhöht zu werden, aber es nicht aus eigener Kraft erzwingen wollen.4 Selbst wo es im antiken Christentum Selbstvergöttlichungskonzepte gegeben hat (etwa bei Origines, der von theosis spricht), führen diese eher in die Mystik als in den ethischen und politischen Perfektionismus. Darum sei betont: Der Perfektionismus will Menschen nicht perfekt machen. Er möchte Menschen dazu ermuntern, sich und ihre Institutionen zu entwickeln und glücksförderliche praktische Ziele zu erreichen. Aristoteles begreift das als endliche Praxis, da die Möglichkeiten des Menschen endlich sind; Condorcet begreift es als potentiell unabschließbare Praxis, weil die Verbesserungsmöglichkeiten der Erzeugnisse des Menschen unendlich sind.5 Liest man es so, ist das nicht einmal ein Widerspruch. Um den Perfektionismus weiter einzukreisen, seien zwei seiner grundsätzlichen Annahmen vorausgeschickt: Erstens haben Menschen zwar eine bestimmte, allen ungefähr gemeinsame natürliche Ausstattung, kommen mit ihrer Geburt aber nicht fertig auf die Welt. Sie müssen sich erst entwickeln, darum ist es ein Ziel, und keine vorfestgelegte Sicherheit, dass diese Entwicklung gut verläuft. Es ist nicht einmal festgelegt, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll. Merkmal ihrer natürlichen Ausstattung ist vielmehr eine ungeheure Plastizität und Vielseitigkeit. Arnold Gehlens Aussage, »der Mensch« sei das nicht festgestellte Tier, wird meist nur bis auf Nietzsche und Herder zurückverfolgt. Doch ein solches Denken findet sich bereits im 17. Jahrhundert, etwa bei Pufendorf, und ist dort eng mit dem Gedanken der menschlichen Perfektibilität verbunden (Rüdiger 2010).6 Die elliptische Aussage, dass Menschen eine Natur haben, die sie erst entwickeln müssen, kann allerdings auf zwei Weisen verfehlt werden: Falsch wäre sowohl die Folgerung, der Mensch sei durch seine Natur auf bestimmte Weisen zu leben festgelegt (das wäre ein beengender Naturalismus), als auch die, seine Entwicklung sei völlig beliebig (das wäre ein entmutigender Voluntarismus). Der perfektionistische Ansatz geht einen Mittelweg, indem er verschiedene Weisen der Entwicklung betrachtet und bewertend vergleicht. Zweitens kann ein Einzelner, gerade weil er oder sie unfertig geboren wird, eine solche Entwicklung nicht allein unternehmen (»it takes a village to raise a child«). Menschen sind nolens volens soziale Wesen – selbst
—————— 4 Vgl. Rüdiger 2010: Abschnitt 2; Passmore 1970: Kapitel 4–7. 5 Condorcet 1794 lässt offen, ob es ein unendlicher Prozess ist oder wir ein Ende nur nicht absehen können. 6 Dem Perfektionismus geht es um »the development of human nature« (Hurka 1993: 3).
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Misanthropen haben diese ihre Eigenschaft in Bezug auf andere Menschen. Aus diesem Grund sind in perfektionistischen Theorien Ethik und Politik enger verklammert als in neueren liberalen Theorien. Nicht nur, weil das Leben in gelingender Gemeinschaft selbst etwas Gutes ist. Das wäre eine instrumentalistische Verkürzung, welche liberale Alarmlampen anwirft, weil sie eine Unterordnung legitimieren könnte. Sondern: Wenn Individuen eine gute Entwicklung nehmen wollen und sollen, es aber unmöglich allein können, ist es gut, wenn die Gemeinschaft die Individuen dabei unterstützt. Daher ist dann auch diejenige Gemeinschaft »gut«, in der sich die Individuen gut entwickeln können: »Ideal society is the system of complementary, perfected individuals« (David Norton 1976: 181). Gut im perfektionistischen Sinn ist nicht nur die Entwicklung einzelner Menschen. Gesucht werden Anhaltspunkte für eine gute Entwicklung möglichst vieler Menschen, gerade angesichts der Vielfalt an Entwicklungswegen sowie an Leiden unter versäumter oder von anderen verhinderter Entwicklung. Eine Gemeinschaft, die an der Entwicklung der Menschen interessiert ist, muss allerdings eine Vorstellung davon haben, was eine gute Entwicklung ist und was die entsprechenden Mittel wären, die ein Individuum bzw. die Gesellschaft dafür braucht. Der Perfektionismus ist als Versuch einer Antwort auf diese Frage zu verstehen. Er hat daher von vornherein einen institutionellen und interessierten Blick auf die Menschen.7 »Ist der Staat das, was er sein soll …, so wird er … die Tätigkeiten der Menschen nach ihren verschiedenen Neigungen, Empfindsamkeiten, Schwächen und Bedürfnissen aufwecken und ermuntern« (Herder 1793: 101).
Das erklärt vielleicht, warum er besonders relevant wird, wenn es darum geht, politische Gemeinschaften auf- oder umzubauen: in Aufklärung und Progressivismus ebenso wie heute, nach Jahrzehnten eines kulturellen und sozialen Trockenlegens. Der institutionelle Blick erklärt zudem, wie Gleichheit und individuelle Verschiedenheit zugleich behauptet werden können: Aus dem Teleskopblick der Institutionen sind alle Personen zwar je einmalig, doch gibt es von ihrer Natur her keine Unterschiede, die eine ungleiche Behandlung rechtfertigen könnte – keine Stände, Klassen, Rassen, Geschlechter oder Religionen. Mit diesem politischen Blick hängt der Zug
—————— 7 Siehe unten, III.2 zu Condorcet, vgl. Geuss (2011). Foucault (2004) legt dieses Moment an »Policeywissenschaft« und Liberalismus im Modus der ›Entlarvung‹ frei. Er wiederholt damit das marxistische Credo, dass auch der Liberalismus Menschen lenken will (vgl. Bohlender 1998, King 1999 oder die zu Unrecht vergessene Studie von Köhler 1977).
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des Perfektionismus zur Objektivität zusammen. Für ihn entscheiden momentane subjektive Befriedigungen nicht über die Güte eines Zustandes: »Perfectionism is a moral theory according to which certain states or activities of human beings, such as knowledge, achievement and artistic creation, are good apart from any pleasure or happiness they bring, and what is morally right is what most promotes these human ›excellences‹ or ›perfections‹ « (Hurka 1998).
Daher ist in diesem Zusammenhang von einer »objektiven Theorie des Guten« die Rede. Ein beliebtes Beispiel dafür ist der Drogenrausch, der subjektiv und momentan angenehm sein mag, objektiv und langfristig, das heißt: für die Beurteilung der Lebensqualität des Entsprechenden aus der Sicht distanzierter Dritter, eher negativ zu beurteilen ist. Dass diese Dritten Experten sein können, die ein objektives Wissen beanspruchen (heute vielleicht Ärzte und Psychologen, früher Priester oder Weise), ändert nichts daran, dass diese Wertung eine soziale Praxis ist. Im Bereich der Ethik ist die Abgrenzung als objektive Theorie des Guten gegen »subjektive« Vorstellungen vom Guten gewendet, die dieses utilitaristisch als Lust (pleasure, welfare) oder Wunscherfüllung (desires, preferences) interpretieren. Dem wird ein langfristiges Gelingen (»Blühen«) des menschlichen Lebens gegenübergestellt, was indes zumindest insofern im Subjekt verankert sein muss, als ein fremdbestimmtes Leben kein gutes Leben wäre. Damit ist eine Nähe zur Autonomieethik Kants gegeben, der, Christian Wolff folgend, eine Pflicht zur eigenen Vervollkommnung kannte: »Baue deine Gemütsund Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an« (Kant 1797: A 392). Die neuere liberale Trennung in einen gefährlichen »Staatsperfektionismus« (Kymlicka 2002: 248, 277) und harmlose »Theorien des Guten« für den Privatbereich ist für den älteren Perfektionismus daher in gewisser Weise künstlich. Da er nicht in dieses Raster passt, geriet er für den Liberalismus aus dem Blickfeld. Den Perfektionismus nun, da er in die Diskussion zurückkehrt, in das Feld eines rein prozeduralen Liberalismus und entpolitisierter Vorstellungen vom Guten unterzubringen, ist schwer. Dabei ist diese Kartographie keine überhistorische Gegebenheit, sondern eher jungen Datums (Sandel 1996: 274ff.; Skidelsky 2012: 86ff.), während perfektionistische Gegenpositionen auf eine recht lange Geschichte zurückblicken können – nur sind sie in der Debatte wenig präsent und gerade daher Verdächtigungen ausgesetzt. Daher ist es ein Anliegen dieser Arbeit, die philosophischen Traditionen auf solche Fragen hin neu zu lesen und durch symptomatische Neulektüren für Gegenwartsfragen aufzubereiten.
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Traditionen der Befreiung »Amerika, du hast es besser / als unser Kontinent, der alte, hast keine verfallenen Schlösser / und keine Basalte. Dich stört nicht im Innern / zu lebendiger Zeit /unnützes Erinnern und vergeblicher Streit.« Johann Wolfgang von Goethe
Der Perfektionismus ist keineswegs neu. Er findet sich schon bei Denkern wie Aristoteles, Thomas von Aquin, Spinoza, Kant oder John Stuart Mill. Neu ist vielmehr ihre Wiederentdeckung in der angelsächsischen Philosophie der letzten Zeit. Der Perfektionismus war sogar ein zentraler Baustein in der philosophischen Tradition (George 1993: 19ff.), der erst seit dem zweiten Weltkrieg mehr und mehr ins Hintertreffen geraten ist.8 Ist das schon ein Grund, ihn wieder hervorzuholen? Nicht alles, was traditionell ist, ist gut.9 Und ›die‹ Tradition des Westens gibt es in dieser Form nicht; jedenfalls nicht als heroische Vorgeschichte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, als die man ›Abendland‹ oder christliche Wertegemeinschaft in Sonntagsreden hinstellen möchte. Die Tradition war selbst in feindliche Lager unterteilt und Brüchen unterworfen. Wenn es überhaupt Kontinuität gab, dann eher in unerfreulichen Dingen, etwa der Judenfeindschaft, der Unterdrückung von Frauen oder des freien Denkens – gerade auch in den Kirchen. Freiheit und Gleichheit sind der dominanten Tradition eher abgerungen worden als dass sie ihr unmittelbar entstammten. Daher kann, wie es Goethe auf den Punkt brachte, das Lossagen von Traditionen befreien. Dennoch kann man Traditionen etwas abgewinnen; etwa dann, wenn der Traditionsbruch neben und nach der Befreiung eine Sinnleere bringt. Traditionen haben ihren Sinn: Sie verhelfen unserer passiven Seite zu Halt, Orientierung und Identität – so etwas lässt sich weder improvisieren noch intendiert »sozial konstruieren«, sondern muss, darin hatte Edmund Burke recht, gewachsen sein. Traditionen können sogar unsere aktive, eigenständig denkende Seite bereichern; entweder indem sie Feindbilder bereitstellen, an denen man sich wetzen kann, oder indem sie Vorbilder liefern, die eigenständig etwas erreicht haben und damit Mut machen und die Phantasie anregen. »Bildung« galt aus diesen Gründen lange als Lektüre der Klas-
—————— 8 Ich spreche hier von der philosophischen Tradition des Westens; in anderen Kulturkreisen gibt es ähnliche Gedanken, die ich hier nicht miteinbeziehe. 9 »Gewiss ist es töricht, alles ›Alte‹ zu schmähen, bloß weil es alt ist. Aber noch viel törichter ist es, es darum zu loben« (Hans Driesch, zitiert nach Gerlach 1991 III: 297).
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siker: Vorbild waren gerade nicht starre Kollektive, sondern im Gegenteil exemplarische Individuen. Es gibt, so paradox es klingen mag, Traditionen der Befreiung, wie Paul Tillich das vom »protestantischen Prinzip« gesagt hat. Im Grunde ist die Philosophie selbst eine solche. Eine Orientierung an Tradition ist also nicht notwendig konservativ. Konservierende Kräfte setzen lieber auf die Macht der reflexionslosen Gewohnheit, auf vorgefertigte Schablonen und »Module« als auf die Tradition des Selbstdenkens. Schriftkunde, Übersetzungen oder freier Zugang wurden, waren sie möglich geworden, gerade von konservativen Kräften oft bekämpft. Selten entstammte das Unterschlagen von Traditionsbeständen (bis hin zum Autodafé) einem freiheitlichen Denken. Wenn es hier um das Wiederaufnehmen einer unterbrochenen Tradition geht, liegt darin nichts Beengendes; zumal es sich um eine Tradition freiheitlichen und egalitären Denkens handelt. Sie wird mit modernen Mitteln rehabilitiert. Vielleicht hat der Verzicht auf diese Tradition seinen Sinn gehabt (dazu unten mehr), doch der Gewinn dieser Befreiung ist verzehrt. Es gilt, einen neuen Anfang zu machen. Die Arbeit will ihr erkenntnisleitendes Interesse gar nicht abstreiten: Es ist ein Interesse an Emanzipation, das sich auf die Suche nach Bausteinen für eine Theorie (und Praxis) des gutes Leben und nach Argumenten für eine lebenswertere Gesellschaft macht. Hätte die Philosophie ein solches Interesse nicht, wäre sie schon längst im fatalistischen Zur-KenntnisNehmen von Grausamkeiten erstarrt. Ihr war von Anfang an ein Interesse an Autonomie und der guten Gesellschaft eingeschrieben.10 Auch daraus speiste sich philosophisch inspirierte Kritik. Gerade die kritische Tradition des 20. Jahrhunderts allerdings hat zuweilen geglaubt, man könne kritisieren, ohne sich positiv zu äußern (Henning 2011f). Um hier und dort zu gesellschaftlichen Themen Stellung zu nehmen mag das genügen. Ich möchte hingegen versuchen, das Positive systematisch darzulegen; ohne damit jedoch das einst Kritisierte selbst schön zu färben (Möllers 2011).11 Dafür muss das Rad nicht neu erfunden werden: Es kann an Traditionsbestände angeknüpft werden, die schon einmal da waren. Verhehlt werden soll nicht, dass der alte Perfektionismus auch elitär, paternalistisch, ungerecht sein konnte. Das muss aber nicht sein,
—————— 10 Am Anfang der westlichen Philosophie steht Sokrates’ Aufstachelung der Jugend zum Selbstdenken. Selbst deterministische Thesen haben oft eine befreiende Absicht (etwa gegen eine als zu eng wahrgenommene Sündentheologie, ein zu rigides Strafrecht o.ä.). 11 Das Positive – das meint die perfektionistischen Leitwerte – ist nicht gleichzusetzen mit dem Immanenten, schon Bestehenden, sondern es will dieses gerade transzendieren.
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und es ist – so die These – im Grundgedanken eigentlich nicht angelegt. Dieses Buch macht sich zunutze, dass es in der Philosophie stets Unterströmungen gab (einen »Wärmestrom« im Sinne von Ernst Bloch): die freiheitliche und egalitäre Tradition des Perfektionismus, die hier freigelegt werden soll, vermag dem Denken heute dort Leben einzuhauchen, wo es fahl und blass geworden ist. Dass sie heute weniger präsent ist, mag seine Gründe haben – Kritiken sollen keineswegs unterschlagen werden. Ihnen kann allerdings in den meisten Fällen begegnet werden. Die liberalere und egalitäre Variante des Perfektionismus, die hier vorgeschlagen wird, wird auf dem Weg einer ideengeschichtlich informierten Vergegenwärtigung gewonnen. Denn die Idee, dass Menschen bestimmte Anlagen haben (individuelle Talente wie gattungsspezifische Anlagen), deren Realisierung für ein gutes Leben von Bedeutung ist, hatte durchaus nicht immer eine konservative Schlagseite. Lässt sich nicht auch ein politischer Perfektionismus denken, der das Erbe des liberalen und egalitären Egalitarismus wahrt? Der Perfektionismus wird solange schlecht fahren, wie er sich nicht das reichhaltige Reservoir an Argumenten aneignet, das in seiner Tradition bereitsteht. Erstaunlich an gegenwärtigen Entwürfen ist vor allem ihre merkwürdige Geschichtsvergessenheit. Dabei hatte das politische Denken seit Aristoteles oft perfektionistische Züge dieser oder jener Spielart. Nicht alle davon sind der Mottenkiste freiheitsfeindlichen Denkens zu überlassen; jedenfalls nicht mehr, als manche Zweige ›rein‹ liberalen Denkens es verdient hätten. Diese Traditionen sollten solange nicht vergessen werden, wie sie aufschlussreiche Einsichten aufweisen. Das könnte den Perfektionismus etwas aus der Defensive holen. Durch diese ideengeschichtliche Herangehensweise bin ich nicht gehalten, den heutigen Diskussionstand unhinterfragt als Maß zu unterlegen. Ich bin nicht damit einverstanden, was und wie in verschiedenen Debatten (etwa im sog. Egalitarismus und Liberalismus, aber auch im Perfektionismus selbst) diskutiert wird. Was in akademischen Debatten gerade ›in‹ ist, hat oft nur eine recht »lose Kopplung« (Luhmann) mit dem, was in der Welt passiert. Die durch Gruppeneffekte und Reputationsgelüste mit angetriebene Themenwahl ist auch von äußeren Zufällen und persönlichen Vorlieben abhängig. Zusätzlich wird die Behandlung eines Themas oft noch dadurch verengt, dass sie durch die Brille einiger weniger Autoren gesehen wird, die gerade in Mode sind. Die Philosophie kann so in eine Phase der kleinteiligen Exegese und dogmatischen Scholastik eintreten, was von außen – nicht zu Unrecht – als selbstgewählter Elfenbeinturm
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wahrgenommen wird. Sachlich empfiehlt es sich daher kaum, die Bedeutung einer philosophischen Thematik am Stand einer »gegenwärtigen Debatte« festzumachen; zumindest, wenn die Sache selbst schon seit Jahrhunderten diskutiert wird und auch politisch relevant ist. Das ist beim Perfektionismus als Strömung der moralischen und politischen Philosophie der Fall, obwohl nicht immer unter diesem Titel. Ein Rückgriff auf ältere Vertreter ist auch deswegen sinnvoll, weil sich perfektionistische Argumente bei ihnen nicht in einem abgetrennten Sonderdiskurs, sondern in der Auseinandersetzung mit Anthropologie und Sozialtheorie finden. Von hier ist die Brücke leicht zu schlagen. Es gibt einen reichen Fundus perfektionistischer Theorien, die auf der Grundlage einer Sozialphilosophie artikuliert wurden. Es lohnt sich nicht nur wegen der blinden Flecken in der gegenwärtigen Debatte, solche Versionen zu konsultieren: Sie sind theoretisch reichhaltig und in ihrem Ideenreichtum keineswegs veraltet. Es gilt, sie für die Gegenwart neu zu erschließen.
Die politische Herausforderung des Perfektionismus Man könnte sich nun auf eine abwartende Haltung verlegen: Sollte nicht geklärt sein, was aus dem Perfektionismus theoretisch folgt, bevor an mögliche Anwendungen gedacht wird? Eine Wunschprojektion der politischen Philosophie erblickt ihre Aufgabe ja darin, die »normativen Grundlagen« bereitzustellen, mit der die Politik dann arbeiten soll. Das Herausfordernde am Perfektionismus liegt nun darin, dass die Welt nicht abwartet, bis die Philosophie ihre Debatten zu Ende geführt hat. De facto wartet die Politik nie auf begriffliche Begründungsarbeiten (was unsinnig wäre, da die Philosophie nie an ein Ende kommt). Es ist schon viel erreicht, wenn philosophische Überlegungen überhaupt Gehör finden. Nüchterner betrachtet besteht zumindest eine Aufgabe der politischen Philosophie eher darin, Vorstellungen, mit denen politisch bereits gearbeitet wird, einer Kritik zu unterziehen. Bertolt Brecht nannte das »eingreifendes Denken« (und nicht zuletzt Adorno hat dies weitergeführt). In den letzten Jahren sind nun, so mein Eindruck, perfektionistische Einflüsse in der Politik spürbar geworden; allerdings in einer merkwürdig konservativen Verkürzung: »Perfectionist arguments are found across the contemporary American political spectrum, but are most commonly associated with neoconservative arguments« (Dzur 1998: 668).
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Dafür zwei Beispiele: Da sind erstens Versuche, auf Bewegungs- und Ernährungsverhalten der Menschen Einfluss zu nehmen; nicht nur durch Verbote und Verteuerungen oder das Propagieren bestimmter Verhaltensund Schönheitsideale, sondern auch durch den »liberalen Paternalismus« des Nudging (Thaler/Sunstein 2009), der subtilen Verhaltenssteuerung durch eine veränderte Rahmung der Situationen. Das lässt sich nicht nur durch den Schutz Dritter oder eine Informationspflicht begründen, sondern zielt auch auf eine Verbesserung der handelnden Menschen selbst. Dies zeigt einen Stimmungswandel an: Der öffentliche Imperativ, besser zu leben und zu sein, ist spürbarer geworden. Einen noch direkteren perfektionierenden Zugriff der Politik auf die Menschen gibt es zweitens in der Reform der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (vgl. Henning 2009b, 2012d). Liest man Veröffentlichungen dazu genauer, geht es keineswegs nur darum, Geld zu sparen. Es geht zumindest auch darum, Menschen durch Konditionalisierung von Leistungen bestimmte Charaktereigenschaften anzuerziehen, die sie – wie schon Christian Wolff (s.u., III.1) und Thomas Malthus argwöhnten – durch eine »permissive« Vergabe von Sozialleistungen verloren hätten. Im Fokus der Reformen stehen daher einerseits negative charakterliche Auswirkungen staatlicher Sozialpolitik, die zu beheben seien (die durch Sozialhilfe erzeugte »culture of poverty« und »welfare dependency«), andererseits ein positiver Katalog von Tugenden (allen voran »Marktfähigkeit« und »Eigenverantwortung«), die es durch erzieherische Politik neu zu schaffen gelte.12 Dabei wird angenommen, Arbeit schaffe Autonomie, und daher dürfe der Staat im Sinne der Autonomieförderung Arbeit notfalls auch erzwingen. »The obligation of welfare recipients to work … works against the downgrading and demotivation of long-term unemployed connected with the old forms of unemployment and social assistance. The skills necessary for a regular job can be acquired or reacquired through community employment, among them being punctuality, reliability, social behavior and the ability to work over an extended period« (Sinn 2003: 46).
Da das in die Aufnahme einer Lohnarbeit oder deren Ersatz in Form eines »1-Euro-Jobs« (also kaum entlohnter öffentlicher Arbeit) projizierte Ideal der Eigenständigkeit höher bewertet wird als die Entscheidungsfreiheit »depravierter« Wohlfahrtsempfänger, sei der Staat befugt, im Ernstfall durch Zwangsandrohung zur Arbeit zu verpflichten. Diese Höherwertung
—————— 12 So wegweisend Mead 1986 und, ihm folgend, Giddens 1994. Vgl. dazu Deacon 2002.
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sich objektiv gebender Auffassungen vom Guten über die individuelle Freiheit ist das Perfektionistische an dieser Politik. Natürlich will diese Politik das Gute, nicht nur (und nicht primär), aber auch für die Gezwungenen. Dabei gibt es allerdings ein Problem: Diese Praxis widerspricht den liberalen und egalitären Grundwerten. Die Einschränkung der Freiheit durch vorgeblich höherwertige Charakter-Argumente ist ein geradezu klassisches Beispiel für das, was Isaiah Berlin einmal mit »positiver Freiheit« gemeint und kritisiert hatte: »Once I take this view, I am in a position to ignore the actual wishes of men or societies, to bully, oppress, torture in the name, and on behalf, of their ›real‹ selves, in the secure knowledge that whatever is the true goal of man … must be identical with his freedom« (Berlin 1958: 132f.; s.u., Kap. IV.2.c).
Eigentlich liegt die Frage, wie nahe ich den Schönheitsidealen der Modemagazine kommen, im Bereich der individuellen Selbstbestimmung, während die Frage, wann, wo und wie viel ich arbeiten möchte – als Frage, wie Arbeit gesellschaftlich verteilt und bezahlt werden soll, damit sie allen dient – in den Bereich der demokratisch zu regelnden Fragen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens fällt. Falls Eingriffe in diese Selbstbestimmung überhaupt zu rechtfertigen wären, wären sie derart zu gestalten, dass die Bürger dabei nicht ungleich behandelt werden. Auch dies kann im Falle der Arbeitspflicht bezweifelt werden:13 Einmal, weil einige Menschen durch sie in Armut gehalten werden (wer an Niedriglohnjobs gebunden ist, hat weder Zeit für Fortbildungen noch für anspruchsvolle Bewerbungen); und zudem, weil der Arbeitspflicht nicht alle unterliegen, sondern nur die Ärmsten und Schutzlosesten einer Gesellschaft. Sie setzt auf ein Mittel, dessen Form Abhängigkeit impliziert, und dessen Inhalt daher wenig geeignet ist, die charakterliche Weiterentwicklung zu befördern. Dass die Werte von Freiheit und Gleichheit im Interesse einer »Theorie des Guten« (Rawls) eingeschränkt und offen von Erziehung gesprochen wird, ist ein Anzeichen dafür, dass perfektionistische Annahmen praktisch bereits einiges Gewicht haben, und zwar auf problematische Weise. Erzogen werden in der Regel nur Kinder. Unterliegen Erwachsene einer Erziehung, darf man paternalistische Bestrebungen vermuten (wie L. Mead 1997 sie sogar offenlegt). Die Herausforderung der politischen Philosophie durch den Perfektionismus besteht also nicht nur darin, dass er akademisch von Liberalen aufgegeben und sonst nur noch von Radikalkonservativen
—————— 13 Etwa Bou-Habib/Olsaretti 2004 oder King 2005.
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vertreten wird, sondern vor allem darin, dass er in der Politik bereits handlungswirksam geworden ist; jedoch auf eine Weise, die liberalen und egalitären Werten widerstreitet. Zwar hat der verwandte Fähigkeitenansatz von Amartya Sen etwa das Denken über Entwicklungshilfe verändert, doch die genannte Transformation des »aktivierenden« Wohlfahrtsstaats in den westlichen Regionen zeigt, dass sich vor allem anti-egalitäre und illiberale Versionen perfektionistischen Denkens eine praktische Wirkung zu verschaffen wissen. Vielleicht lassen liberale Autoren auch aus diesem Grund gegenüber dem perfektionistischen Denken Skepsis walten. Meine Überlegungen wollen sich dieser Skepsis nicht ergeben. Sie unternehmen vielmehr den Versuch, gegenüber der hegemonialen Lesart eine progressivere Variante des Perfektionismus zu vertreten. Dafür reicht es nicht aus, sich auf gegenwärtige philosophische Autoren zu beziehen, denn ihre Diskussion wird in gehöriger Entfernung zur Politik geführt. Zwar machen sich auch die Philosophen zum Anwalt einer Politik, die jenseits der liberalen Neutralität des Staates zur Autonomieförderung beitragen soll. »Governments are subject to autonomy-based duties to provide the conditions of autonomy for people who lack them« (Raz 1986: 415). Doch worin genau diese bestehen soll und welche Maßnahmen im Einzelfall zu begründen wären, bleibt meist eher vage.14 Es scheint, als habe die jahrzehntelange Hegemonie des Marktradikalismus die projektive Phantasie oder utopische Energie der Philosophen ermüden lassen. Alternativen zum marktradikalen Liberalismus wurden in den letzten Jahren kaum noch ernsthaft diskutiert. Diese Schrift soll einen Anstoß dazu geben, das mit einer alternativen Theorie des Guten zu verändern.
Aristoteles als Vorbild und Ärgernis Mit Perfektionismus ist also, soviel haben wir bereits gesehen, ein Verständnis des menschlichen Lebens gemeint, das auf ein langfristiges Gelingen des menschlichen Lebens abzielt. Dieses Gelingen wird als Blühen gefasst (im Englischen flourishing, als Übersetzung der eudaimonia) und an die Kultivierung wünschenswerter Fähigkeiten gebunden. Solche Praktiken
—————— 14 Für Hurka ist der Perfektionismus »distributively neutral« (1993: 79, 189), für Sher ist »considerably less clear«, was er sozialpolitisch impliziert (1997: 243). Wall 1998 erörtert eher abseitige Fälle wie die Gurtpflicht oder eine Steuererleichterung für Museumsbesuche. Zur Kritik an der Vagheit Yuracko 2003: 27 ff.
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ästhetischer, intellektueller, politischer oder körperlicher Art sind intrinsisch wertvoll: sie gelten also auch unabhängig von ihrem ökonomischen oder hedonistischen Nutzen als gut. Das gute Leben wird insofern als ein objektives Gut angesehen, als momentane (subjektive) Empfindungen und Wünsche der Individuen nicht über die Güte der dazu nötigen Vorkehrungen entscheiden. Doch der höchste Wert für den Perfektionismus bleibt das Gelingen des individuellen Lebens. Die Werte werden nicht um ihrer selbst willen, sondern umwillen ihres Beitrags für das Leben geschätzt – sie sind gut für jemanden, nicht gut an sich (Kraut 2007). Das ist der humanistische Zug daran, der sich von einer platonischen oder christlichen Weltflucht unterscheidet, die um der Werte oder der Wahrheit willen womöglich auch das Leben opfern würde (wie es Sokrates vorgemacht hat). Eine solche Definition ist jedoch erst der Anfang. Erschwert wird die Darstellung des Perfektionismus dadurch, dass es im Ausbuchstabieren und gegenwartsbezogenen Anwenden dieses Ansatzes nicht nur eine perfektionistische Position gibt, sondern eine ganze Palette davon. Es gilt Übersicht zu schaffen. Schon vor jeder speziellen Beschäftigung stehen viele Argumente und Assoziationen der immer-schon-im-voraus-Wissenden im Raum, die es zunächst einzuholen gilt. Dieses Verfahren knüpft im Sinne der Hermeneutik an bestehende Vorverständnisse an; allerdings nicht, um bei ihnen stehen zu bleiben. Dieses Verfahren ist beim Thema des Perfektionismus deswegen besonders von Nöten, weil der Name bereits einige Assoziationen transportiert – und zwar nicht immer die richtigen. In der liberalen politischen Philosophie gilt es meist als vorentschieden, dass der Perfektionismus abzulehnen sei, weil er essentialistisch, elitär und paternalistisch sei.15 Er beruhe nämlich, so meint man, auf antiquierten Vorstellungen von der Natur des Menschen und der Kraft philosophischer Theorie (oder einer Metaphysik), und habe problematische politische Konsequenzen, da er alle Menschen bevormunden wolle und einige wenige bevorzuge. Daher hat der Perfektionismus eigentlich gar keine Chance auf Gehör. Argumentieren andere Zweige der Philosophie gegen bestimmte Typen von (realen oder imaginierten) Gegnern an – etwa gegen ›den‹ Skeptiker (bei Stanley Cavell) oder ›den‹ Immoralisten (Wesche 2010: 272f.) –, so hat sich der Perfektionismus vor allem gegenüber den sich bereits für hinreichend informiert Haltenden, den Bescheidwissenden zu behaupten. Denn das, was Heidegger (1927) als
—————— 15 Die Mehrheit der Literatur vertritt diese Position, etwa Lecce 2008, Quong 2011, Nussbaum 2011 oder Gaus 2010.
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»das Man« kennzeichnete: Die »öffentliche Ausgelegtheit« einer Sache, hat immer schon gegen ihn entschieden. Gemessen daran, dass in der Philosophie kaum je Einigkeit erzielt wird, muss eine solche Einmütigkeit in der Verurteilung einer ganzen Tradition misstrauisch machen. Das zentrale Ärgernis der liberalen politischen Philosophie der Moderne ist der Aristotelische Gedanke einer politischen Förderung des Guten, denn die politischen Institutionen – und ihr Kollektivsingular, »der Staat« – scheinen dafür ihre im Liberalismus als weltanschaulich neutral gedachte Sphäre verlassen zu müssen oder gar einzubüßen. Die spannende Frage ist, ob und inwieweit die Politik das tun darf, und was genau sie dabei eigentlich tun soll. Beim Ausbuchstabieren dieser Fragen werden wir immer wieder auf Aristoteles stoßen, daher ist es am Platze, in dieser Einleitung den leitenden Vorbegriff von Aristoteles offenzulegen. Aristoteles’ Vorstellung eines glücklichen Lebens in Gemeinschaft beinhaltete bereits viele Momente späterer Theorien. Er hat eine urbane, weitgehend säkulare und lebenszugewandte, aber nicht anti-intellektuelle, eine kommunitäre und maßhaltende Partizipationskultur vorgedacht – früher hätte man sie als »bürgerlich« bezeichnet und damit sogar etwas getroffen: Sie ist weder aristokratisch noch priesterlich oder plebejisch.16 Das Glück des Einzelnen beinhaltete beispielsweise sowohl materielle Bedingungen wie politische Momente, sowohl Tätigkeiten wie Muße, sowohl Genuss wie Kontemplation. Politik und Ökonomie, Gerechtigkeit und Effizienz lassen sich hier nicht so einfach gegeneinander stellen. Zentral ist etwa die Verbindung des individuellen und des gemeinsamen Glücks sowie die Bestimmung derjenigen Tätigkeiten, die beiden Formen förderlich sind. »Dass also für den einzelnen Menschen wie für die Staaten … dasselbe Leben das Beste sein muss, liegt am Tage« (Politik 1235b 30). In seinem überlieferten Werk hat Aristoteles eine Vorlage geliefert, die durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder anregend gewirkt hat – nicht nur im christlichen, sondern auch im jüdischen und muslimischen Denken, zumindest im Mittelalter. Aristoteles’ Ethik und Politik haben seit dem Spätmittelalter nicht nur weite Teile Europas und Nordafrikas, son-
—————— 16 Knoll (2008) sieht in Aristoteles einen Aristokraten. Zwar gibt es autoritäre und elitäre Elemente bei Aristoteles; doch die sind insofern bürgerlich, als sie sich nicht über Geburt oder Macht, sondern meritokratisch, über praktizierte Tugenden legitimieren. Auch die Vorbehalte gegenüber einer Kultur der Verschwendung sind un-aristokratisch; ja selbst das andere-für-sich-arbeiten-lassen widerspricht einer bürgerlichen Kultur (zumindest im marxistischen Verständnis) gerade nicht: bürgerliche Haushalte hatten bis vor kurzem Dienstmädchen und ließen seit je arbeiten.
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dern später auch Amerikas bestimmt.17 Sie sind integrale Bestandteile der westlichen Kultur geworden, an denen man nicht vorbeikommt. Dabei sind mögliche Missverständnisse von vornherein abzuweisen: Es handelt sich weder um eine Idealisierung der attischen Gesellschaft, noch ist damit eine Immunisierung der zeitverhafteten Sozialphilosophie von Aristoteles gegenüber kritischen Einwänden beabsichtigt. Diese werden keineswegs beschönigt. Der historische Aristoteles stellt nicht das Ideal dar, das es lediglich wiederherzustellen gelte. Dafür sind manche seiner Formulierungen zu zeitverhaftet und problematisch (etwa in der Ableitung eines Sklavenstatus aus der Natur oder in der Exklusion von Frauen, Handwerkern und Fremden aus der Bürgerschaft). Es ist drittens keine wirkungsgeschichtliche Mega-These, als habe die Geschichte der Sozialphilosophie nur »eine zweite Reihe von Fußnoten« zu bieten – nämlich zu Aristoteles (Höffe 2002: 205). Spätere Autoren, die hier behandelt werden, waren keineswegs durch die Bank Aristoteliker – einige waren es, andere kannten ihn möglicherweise gar nicht, sondern waren nur in den Strom einer Wirkungsgeschichte integriert, die – das allein ist die These – von Aristoteles über Leibniz und John Stuart Mill bis hin zu Amartya Sen an ähnlichen Problemen arbeitet. »Der Philosoph«, wie er im Mittelalter genannt wurde, war auch dann, wenn man ihm nicht folgte, zumindest jemand, der viele Gedanken schon einmal auf eine Weise vorgedacht hatte, die viele Spätere beeinflusst und beeindruckt hat. Man musste sich auch als Aristotelesgegner an ihm abarbeiten. Es ist kein Zufall, dass wir immer wieder aristotelische Erbstücke finden werden – bei Marx oder Martha Nussbaum ist das überdeutlich der Fall, bei Rousseau und Dewey wird es erst auf den zweiten Blick deutlich. Als die klassische perfektionistische Konzeption kann man also die Aristotelische Ethik und Politik lesen. Eine kurze Einschätzung von ihr sollte daher am Anfang stehen. Zentral ist zunächst Aristoteles’ Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Praktische Philosophie hat es mit Sachverhalten zu tun, die sich ändern; sie kann daher nicht so exakt sein wie die theoretische und auch nicht nur mit logischen Folgerungen oder Ableitungen aus Prinzipien arbeiten (NE I.7). Das ist nicht nur gegen Platos kognitivistische Ethik entscheidend (in der ein Wissen von den Ideen bereits das richtige Handeln nach sich ziehen soll), sondern trifft noch moderne Ethiken, die durch Analyse von Begriffen
—————— 17 Dazu Höffe 2002; Pozzo 2004; Fidora 2007; Frank/Speer 2007; Horn/Neschke-Hentschke 2008; auch Gutschker 2002; Knight 2007; zum »sea change« Pocock 1975.
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oder theoretische Modellbauten zu normativen Aussagen kommen wollen. Davon unterscheidet sich Aristoteles’ Ansatz grundlegend dadurch, dass er stets auf Erfahrungen angewiesen bleibt: Praktische Philosophie gründet in der Praxis des Menschen und mündet wieder in diese ein, und diese menschliche Praxis ist vielfältig und ändert sich. Daher ist eine Aristotelische Ethik darauf angewiesen, dass Erfahrungen und Beobachtungen mitgebracht werden. Diese Erfahrungen sollten zunächst aus der eigenen Lebenserfahrung kommen (Aristoteles wollte Philosophieren eigentlich erst reiferen Menschen erlauben). Darauf aufbauend können sie auch aus Berichten oder, wie bei Nussbaum 1996, aus der Literatur kommen; oder schließlich (wie ich argumentieren werde) aus den Wissenschaften. Aristoteles selbst bedient sich der überlieferten Urteile seiner Umwelt. Er übernimmt sie nicht einfach, doch legt er sie als Ausgangsmaterial zugrunde. Diese Offenheit gegenüber den Erfahrungen der Menschen ist ein Grund, warum sich Aristoteles’ Ethik auf eine andere Zeit mit anderen Erfahrungen hat übertragen lassen (und mit hermeneutischem Gespür noch übertragen lässt), ohne auf spezielle sittliche Vorstellungen aus dem Athen jener Zeit festgelegt zu sein.18 Innerhalb der menschlichen Tätigkeiten, die Gegenstand der praktischen Philosophie sind, macht Aristoteles einen Unterschied zwischen Tätigkeiten, die etwas produzieren (poiesis) und damit ihren Zweck primär außer sich haben, und den selbstzweckhaften Tätigkeiten (praxis). Da das Leben des Menschen, aufs Ganze gesehen, nicht seinen Sinn darin findet, etwas zu produzieren, sondern in sich selbst sinnhaft ist oder sein sollte (»Nun ist aber das Leben eine Tätigkeit, kein Hervorbringen«, Pol I.4: 1054a 7), stellt Aristoteles den Praxisbegriff in den Mittelpunkt der Ethik. An diesem Begriff einer selbstzweckhaften praxis lassen sich eine Reihe weiterer Charakteristika aufhängen. Was ist der Zweck des menschlichen Lebens, wenn es nicht etwas außerhalb dieses Lebens ist (kein großes Werk, Kinder und Kindeskinder oder ein Weiterleben nach dem Tod)? Es kann nur der gute Vollzug dieses Lebens selbst sein; mit anderen Worten: das Glück. Das meint nicht das momentane Gefühl, sondern einen gelingenden Vollzug des gesamten Lebens (die eudaimonia).19 Glück wird nicht als außerhalb dieser Vollzüge liegendes ›Wertding‹ gedacht, sondern als der Vollzug selbst, »ein ganzes, volles Leben lang« (NE I.11, 1101a 16).
—————— 18 »[A]n Aristotelian outlook is not committed to Aristotelian views on slavery or on the position of women« (Williams 1985: 35). Dazu erneut in Kap. IV.2. 19 Siehe dazu Forschner 1993: 1ff.; Horn 1998: 61ff. und Wolf 2002.
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Es schließt sich daher die Frage an, wie man ein solches Glück erzielen kann, und Ethik und Politik des Aristoteles sind um Antworten bemüht. Die kurze Version lautet: durch ein Leben nach der Tugend, wobei Tugend breit, im Sinne der praxisspezifischen Exzellenz zu verstehen ist, eines Gut-machen-dessen-was-man-macht. Nicht jede Tugend ist als eine moralische (im modernen Sinn) zu verstehen. Tapferkeit im Krieg etwa ist nicht moralisch geboten, doch ist sie für Aristoteles eine Tugend, weil sie eine Tätigkeit (das Kämpfen) nicht nur ausführt, sondern gut ausführt (weder feige noch leichtsinnig). Tugend und Glück sind für Aristoteles einander nicht entgegengesetzt, sondern eng miteinander verklammert – so eng, dass selbst noch die Politik davon inspiriert wird. So heißt es dort, »dass das beste und vollkommenste Leben, so für den einzelnen für sich wie für die Staaten als Gemeinschaften, das Leben nach der Tugend ist, die der äußeren Mittel genug besitzt, um sich in tugendgemäßen Handlungen betätigen zu können« (Pol VII.1, 1323b 40f.).
Doch ist das tugendhafte Handeln nicht die einzige Bedingung eines gelingenden Lebens; günstige Umstände, die man nicht beeinflussen kann, sowie »äußere Mittel« gehören mit hinzu (s.o., ähnlich NE I.9: 1099a32 sowie NE X.9). Das ist bei späteren Anknüpfungen der Einfallspunkt für sozialpolitische Maßnahmen.20 Aber wie gelangt man zur Tugend? Aristoteles’ praxisphilosophische Perspektive beantwortet dies mit der Einübung (anstelle der aristokratischen und der kognitivistischen Alternativen, die Aristoteles diskutiert, dass sie nämlich angeboren sei oder nur erkannt werden müsse). Die »Wirklichkeit des Guten« (Foot 1997) ist für ihn die Verankerung der Tugend in den Gewohnheiten der Menschen.21 An dieser Anthropologie hängen drei weitere zentrale Aussagen: Erstens kommt der Einzelne nicht fertig auf die Welt, sondern muss sich erst in diese Richtung entwickeln (perfektionieren). Jeder Mensch hat Anlagen für eine tugendhafte Lebensführung, und damit für ein glückendes Leben, doch bedarf es für ihre Verwirklichung der steten Übung und Anleitung: »Darum werden uns die Tugenden weder von Natur noch gegen die Natur zuteil, sondern wir haben die natürliche Anlage, sie in uns aufzunehmen, zur Wirklichkeit wird diese Anlage aber durch Gewöhnung« (NE I.1: 1103a 24).
—————— 20 »Das Beste wäre demnach, wenn eine richtige Fürsorge vom Staat ausginge« (NE X.10, 1179a 30). Siehe dazu unten im Kontext von Martha Nussbaum (Kapitel III.2). 21 Das weist auf die Rolle der habits bei John Dewey (1925; vgl. Hartmann 2003) und den habitus bei Pierre Bourdieu vor; daneben auf die Anthropologie von Arnold Gehlen.
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Das Konzept der Perfektionierung, das hier aufscheint, zielt also keine Überwelten an, sondern ein letztlich säkulares Glück – das eigene und das der Gemeinschaft. Es muss nicht aufwendig dafür argumentiert werden, warum eine Perfektionierung sein soll, denn Glück streben die Menschen von selbst an.22 Der Witz an dieser Konzeption, die in bestimmten Kontexten revolutionär wirken konnte, ist, dass sie es im Prinzip auch erreichen können (»das durch Handeln erreichbare Gut«, NE I.5: 1097a 22): Es ist kein unterbestimmtes und sich daher stets entziehendes Konzept, wie Eva Illouz (2006: 69ff.; 2009: 264ff.) es der »Selbstverwirklichung« unterstellt. Vielmehr gestattet es die Ruhe des Innehaltens, wenn man es erreicht hat. (Nicht umsonst spielt bei Aristoteles die Muße eine große Rolle für das Glück, Henning 2011c) Die Rastlosigkeit des Immer-mehrHaben-Wollens, die eine Gefahr entteleologisierter Fortschrittskonzeptionen darstellt (vgl. Rosa 2005), kritisiert Aristoteles an der Schrankenlosigkeit der Geldwirtschaft (Pol I.9f., vgl. Gronemeyer 2007). Wo das Glück nicht erreicht wird, obwohl es im Prinzip erreichbar wäre, gestattet es hingegen kritische politische Einreden; das wird spätestens in der radikalen Aufklärungsphilosophie greifbar(s.u., Kap. IV.1). Zweitens impliziert die Anthropologie der Gewöhnung, dass Menschen von Anfang an auf ihre Mitmenschen angewiesen sind und bleiben. Dass der Mensch ein zoon politikon sei, bedeutet ja zunächst nur, dass er in Gruppen lebt (wie die Bienen und Ameisen, Pol I.2). Doch den Menschen geht es für Aristoteles nicht nur ums Überleben, sondern auch um das gute Leben. Wenn wir für ein solches ebenfalls auf die anderen angewiesen sind (und das gilt sogar für die theoria),23 wird das gute Leben auch zu einer politischen Aufgabe. Das heißt nicht, dass es an eine ferne und mächtige Institution delegiert werden soll und die Individuen damit von ihrer Sorge um sich entlastet wären. (Ein Vollzug kann nicht delegiert werden.) Wohl aber heißt es, dass es zur Aufgabe der menschlichen Gemeinschaften wird, ihren Mitgliedern ein solches Leben zu ermöglichen. Zugleich wird es zum Maßstab der Bewertung verschiedener Gesellschaften, wie das praktiziert wird. Darauf bauten frühe Versionen von Nussbaums Denken auf (III.2).
—————— 22 »Denn wir gehen von einem ›Dass‹ aus, und ist dieses hinreichend erklärt, so bedarf es keines ›Darum‹ mehr« (NE I.3: 1095b 6). 23 »Sofern er aber Mensch ist und mit vielen zusammenlebt, wird er [der ›Mann des Denkens‹, CH] auch wünschen, die Werke der sittlichen Tugend auszuüben, und so wird er denn solcher Dinge [äußerer Güter, CH] bedürfen, um als Mensch unter Menschen zu leben« (NE X.8: 1178b 5).
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Ethik wird also von Anfang an mit der Politik zusammen gedacht: Wenn es richtig ist, dass Menschen sich gut entwickeln, sie dies aber nicht allein können, dann ist es auch eine Aufgabe der Gemeinschaft, diese Entwicklung zu ermöglichen und zu fördern.24 Das ist kein Kollektivismus des Guten wie stellenweise bei Platon, sondern eine perfektionistische Sozialphilosophie. Aristoteles denkt dabei in erster Linie an Erziehung (NE X.10, 1180b 15ff.), in zweiter Linie an Umverteilungsmaßnahmen im Stadtstaat (etwa gemeinsame Mahlzeiten; Pol II.5: 1264b 40). Beides wird sich z.B. bei Condorcet, Green und Dewey wiederfinden (s.u., IV.1/2). Die Anthropologie der Gewohnheit macht noch ein Drittes deutlich, nämlich im Hinblick auf die Rolle der menschlichen Natur in dieser Ethik. Aus ihr wird keineswegs einfach etwas deduziert, noch wird sie auf naive Weise moralisiert (im Sinne der naiv-optimistischen ›der Mensch als solcher ist gut‹-Anthropologie, die Aristoteles als Hobbes’ Antipode zuweilen unterstellt wird). Aristoteles ist klar, »dass keine von den sittlichen Tugenden uns von Natur zuteil wird« (NE I.1, 1103a 19; siehe oben). Es geht bei der Perfektionierung folglich auch nicht darum, irgendwelche menschlichen Anlagen zu verwirklichen (etwa die, ein technisch vollendeter Serienkiller oder Meisterdieb zu werden – das nennt Hurka 1993 »wrong properties objection«), sondern solche, die den Einzelnen und der Gemeinschaft zum Vollzug eines gelingenden Lebens verhelfen. Wie dieses genau aussieht, das kann sich trotz der naturalen Grundlage geschichtlich ändern, ja vielleicht sogar im Sinne einer Verbesserung beeinflussen: »Aristoteles betrachtet die menschliche Natur als Potenz, welche, entsprechende Erziehung vorausgesetzt, in der Zeit aktualisiert werden kann (jedoch nicht muss). Diese Potenz wohnt allen (gesunden) Menschen inne, weshalb sittlicher Fortschritt für eine ganze Gemeinschaft möglich ist« (Gutschker 2002: 116).
Die Vollzüge sind weniger Mittel als vielmehr Bestandteil des Glücks. Denkt man sie, wie bei der Eudaimonia der Fall, in Bezug auf ein ganzes Leben, so gelangt man zum Begriff der Lebensform.25 Dass sich Aristoteles unter den glücksrelevanten Lebensformen auf genau drei festgelegt hat und unter ihnen eine Rangordnung behauptete, führt unter Interpreten bis heute zu Debatten: Liegt hier nicht eine metaphysische Setzung vor?
—————— 24 »Um die Tugend scheint auch der wahre Staatsmann sich am meisten zu bemühen, da er die Bürger tugendhaft und den Gesetzen gehorsam machen will« (NE I.13: 1102a 8). Der Rechtsgehorsam sollte nicht verschrecken; ist doch die Rechtsstaatlichkeit eine Grundsäule des Liberalismus (cf. NE X.10, 1180a 22). 25 Dieser Begriff war noch bei Eduard Spranger und Ludwig Wittgenstein von Bedeutung.
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Selbst wenn es sich um eine Setzung, statt um einen Schluss aus empirischen Beobachtungen handeln sollte, kommt man in der Philosophiegeschichte immer wieder zurück auf diese Dreiheit von theoretischer Vernunft (Nachdenken, worunter auch Mathematik und Meditation fallen), praktischer Rationalität (worunter sowohl Politik wie Moral, aber auch die Oikonomia und das Familienleben fallen) und Gefühlsebene (unter »Lust« sind nicht nur unmittelbare Triebe – Essen, Trinken und Sexualität etwa – zu rechnen, sondern auch die Unterhaltung und die Kunst). Aristoteles lag wohl selbst damit nicht ganz falsch.26 Als letzte Dimension sei die Zeitlichkeit genannt. Obwohl Aristoteles’ Weltbild säkular bleibt; kann die Gemeinschaft dem Einzelnen autoritär entgegentreten, etwa wenn es um Erziehung oder Rechtsprechung geht. Diese Kompetenz wird nicht durch angemaßte überweltliche Mächte legitimiert; es handelt sich vielmehr um eine Dialektik der Zeitlichkeit. Wenn das Glück sich auf das ganze Leben bezieht, so gibt es für den Einzelnen ein Erkenntnisproblem: Er kann die Ganzheit seines Lebens weder abnoch einsehen. Welcher Habitus ihm später dienlich sein wird, auf welche wertvollen Ziel sich jetzt hinzuarbeiten lohnte – solche Fragen sind für junge Menschen im isolierten ›Jetzt‹ schwer zu beantworten. Allerdings sind solche Erfahrungen von anderen bereits gemacht worden, und Sprache dient nach Aristoteles der Vermittlung solcher Kenntnisse.27 Das führt erneut auf die Rolle der Traditionen als Erfahrungsspeicher. Viele Erfahrungen, die für mich neu oder unbekannt sind, haben andere schon hinter sich, und Praktiken der Bewertung haben sich immer schon eingespielt. Die Macht des Aristotelisch-Normativen beruht also auch auf einem Vorschuss aus der Zukunft, auf einer Anleihe beim künftigen Glück: weil Menschen sich letztlich sehr ähnlich sind, ist nicht davon auszugehen, dass die neue Generation gänzlich anders als die vorigen sein wird. Selbst wenn die Jungen nicht wissen, was für sie gut ist, wissen die Älteren aus Erfahrung zumindest in etwa, was für Menschen gut ist. (Darunter ist auch die Selbstbestimmung.) Sie sprechen und handeln daher eine Weile lang für diese anderen, da sie schon vor diesen anderen da waren (das Wort Vor-
—————— 26 Neben dem Wahren, Schönen und Guten in der mittelalterlichen Transzendentalienlehre wäre zu denken an die Vermögenspsychologie (Denken, Wollen, Fühlen), die bis in Kants drei Kritiken abfärbt. Noch im gegenwärtigen Perfektionismus, etwa bei Sher 1997 (Kap. III.3), kommen diese drei Dimensionen zum Zuge. 27 »Das Wort aber oder die Sprache ist dafür da, das Nützliche und das Schädliche und so denn auch das Gerechte und das Ungerechte anzuzeigen« (Pol I.2: 1253a 12). Für Aristoteles ist dieses Gerechtigkeitsempfinden gleichursprünglich mit der Sprache.
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Mund spiegelt diese beiden Aspekte wieder). Aber was sie sagen, so zumindest die prima facie Annahme, werden die Jüngeren zu einem späteren Zeitpunkt als richtig anerkennen können.28 Auf diese Weise ist in einer säkularen Ethik eine Normativität möglich, die zwar in der Momentaufnahme autoritär auftreten kann, aber der Idee nach – wenn auch zeitlich erstreckt – letztlich nicht gegen die Freiheit der Individuen handelt. Sie vollstreckt nur ihre Zukunft in ihrer Gegenwart für sie. Die Älteren sind (als Verkörperung der Normen) nicht nur Repräsentanten der Vergangenheit, sondern sie agieren für die Jungen zugleich als Statthalter der Zukunft. Sie möchten die Freiheit der Jungen im Normalfall nicht begrenzen, sondern ermöglichen und erhalten. Ein Bewusstsein von der Zeitlichkeit des menschlichen Lebens verhindert es, in dieser Normativität stets eine Freiheitsberaubung oder Bezüge auf eine Transzendenz zu sehen und zu beklagen.29 In der Moderne wird es allerdings zum Problem, dass die Lebenswelten sich so schnell ändern, dass das konkrete Wissen der Alten auf die Realität der Jungen kaum noch Anwendung finden kann; umso weniger auf ihre Zukunft (cf. Rosa 2005). Aber das rasche kulturelle Vergessen, zu dem das führt, ist zumindest philosophisch nicht immer gerechtfertigt.
Zur Struktur der Arbeit Fragen, die sich an dieser Stelle stellen, lassen sich innerhalb des perfektionistischen Paradigmas auf verschiedene Weise beantworten. Dies betrifft drei zentrale Ebenen: den Entscheidungsspielraum der Individuen (Freiheit), die Frage nach Gerechtigkeits- und Verteilungskriterien (Gleichheit), und die Frage nach der näheren Gestalt der angepeilten Entwicklung (die Entfaltung). Anhand dieser Dimensionen – dem Verhältnis zum Liberalismus, zum Egalitarismus sowie die nähere Bestimmung des zu Entwickelnden – lassen sich die verschiedenen Perfektionismen unterscheiden. Die Leitfragen der kommenden Kapitel lauten daher wie folgt:
—————— 28 In der traditionalistischen Beschreibung kann das tautologisch werden, wenn nämlich die »Identität« der Späteren primär durch die Zugehörigkeit zu den Früheren bestimmt ist. Sie scheinen dann gar keine Wahl mehr zu haben. Dies ist jedoch ein Kurzschluss: Es kann immer sein, dass die Früheren sich in den Interessen der Späteren irren. Es bedarf dafür Kriterien unabhängig von den kulturellen Selbstverständlichkeiten einer Zeit. 29 Heideggers Analysen der Zeitlichkeit verdanken seinen Aristoteleslektüren viel (obwohl Heidegger Aristoteles das Übersehen der Zeitlichkeit vorwarf. Siehe dazu Gutschker 2002: 34ff. sowie neuerdings Yfantis 2009, etwa zur Lesart des telos als »Ende«, 256f.).
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Wie viel und welche Freiheit würde den Individuen gegeben? Welche Gleichheit oder Ungleichheit würde ein politischer Perfektionismus bringen? Und wie wird Entfaltung begriffen: als Erreichen immer schon feststehender allgemeiner Ziele, als eine unvergleichlich individuelle Verwirklichung, oder noch anders? Diese Fragen haben es in sich. Es wird sich zeigen, dass der aktuelle Perfektionismus darauf keine zufriedenstellende Antworten hat (Kap. II). Dies ist der Grund für zwei weitere Durchgänge: Einmal, als ›Kontrollgruppe‹, durch alternative Ansätze, die in der gegenwärtigen politischen Philosophie eine wichtige Rolle spielen (Kap. III). Im Zentrum stehen John Rawls, Martha Nussbaum und Axel Honneth. Dieser Durchgang zeigt allerdings, dass diese alternativen Ansätze, die selbst Anflüge eines schwachen Perfektionismus an den Tag legen, in diesen Fragen nicht weiterhelfen können. Daher wird schließlich in rekonstruktiver Absicht ein Durchgang durch die perfektionistische Tradition unternommen – von Rousseau über Condorcet, Mill, Marx und Dewey bis zur positiven Psychologie des 20. Jahrhunderts (Kap. IV). Diese historische Rekonstruktion in systematischer Absicht bildet den Schwerpunkt dieser Arbeit.30 Dieser Durchgang ist entlang den drei Dimensionen aufgezogen: Gesucht wird nach eigenständigen perfektionistischen Begründungen einer politischen Philosophie der Freiheit, Gleichheit und Entfaltung. Sie werden – aus Gründen, die Kapitel II.3 erörtert – in jeweils korrespondierenden Regionen verortet: Der Natur, der Gesellschaft und dem individuellen Selbst. Das ist nicht ausschließlich zu verstehen – als gründe der Wert der Freiheit perfektionistisch nur in Natur, der der Gleichheit nur in der Gesellschaft und die Kraft zu Entfaltung nur in den Individuen. Die Zuordnung wird zu Darstellungszwecken vorgenommen und schließt Querverbindungen nicht aus (wie in den Einzelkapiteln deutlich wird).31 Dieses Buch ist die überarbeitete Version einer Habilitationsschrift an der Universität St. Gallen von 2013, der ich für die vielfache Unterstützung danke. Gedankt sei auch den Gutachtern32 für wertvolle Hinweise und dem Schweizerischen Nationalfonds für die Förderung meiner Arbeit.
—————— 30 »Rekonstruktion« im Sinn von Jürgen Habermas, der durch meisterhafte Relektüren fremder Theorien seine eigenen Theorien zu entwickeln und darzulegen vermochte. 31 Hingewiesen sei auf Vorstudien. In Kapitel 2.3 sind Elemente aus Henning 2010c und 2012c umgearbeitet eingegangen; in 4.1 aus 2011d sowie 2010c; in 4.2 Fragmente aus 2009f, 2010c, 2011e und 2012a.; in 4.4 schließlich Teile aus 2009d und e, 2010d sowie Vorstudien zu 2009g. Kap. 1 und 5 nehmen Bezug auf 2009a, 2010b und 2011a. 32 Christoph Menke, Thomas Schramme, Michael J. Thompson (USA) und besonders herzlich Dieter Thomä, mit dem ich in St. Gallen lange Jahre zusammenarbeiten durfte.
II. Überblick und Kritik: Der Perfektionismus der Gegenwart
Sucht man nach einem Datum, mit dem man die Gegenwartsgeschichte des Perfektionismus sinnvollerweise anheben lassen kann,1 so bietet sich das Jahr 1993 an. In diesem Jahr nämlich erschienen gleich drei wichtige Bücher, die bis heute intellektuelle Weichen gelegt haben. An diesen werden sich die folgenden Unterkapitel orientieren. Das erste davon ist der Neuansatz der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls in Political Justice. Gegenüber seiner eher von ökonomischen Hintergrundtheoremen getragenen Theorie von 1971 hat Rawls hier eine kulturalistische Wende vollzogen (vor allem hinsichtlich der Rolle der kulturellen Identität für die Politik), paradoxerweise jedoch zugleich die politische Philosophie von dieser Kultur gereinigt. Sie wird thematisiert im Augenblick ihres Verschwindens. Diese Verschiebung innerhalb der Gerechtigkeitsfrage ist auf Diskussionen seines ersten Buches in den 1980er Jahren zurückzuführen: Anders als die Diskussion in den 1970er Jahren, die selbst noch ökonomisch war und neben heute noch bekannten libertären Kritiken von Robert Nozick oder James Buchanan auch marxistische Kritiken kannte (die heute vergessen sind), dominierte in den 1980er Jahren die kommunitaristische Kritik, die seine Konzepte von Person und Gemeinschaft zum Aufhänger nahm. Wir werden sehen, dass die ›Abwehr‹ des Perfektionismus bereits in der Version von 1971 keine kleine Rolle gespielt hatte. Das hat sich in der kulturalistischen Version von 1993 eher noch verschärft: Nach wie vor wird der Perfektionismus sehr hoch gehängt, indem er als denkbare Alter-
—————— 1 Im Verständnis der Zeitphilosophie von Edmund Husserl ist uns Gegenwart nicht lediglich als punktuelles »Jetzt« gegeben, sondern sie verfügt über einen »Hof« des Vorgeschehens und der planbaren Dinge (was bei Martin Heidegger 1927: 192 »Sich-vorweg-Sein« hieß), der durch Retention und Protention zusammengehalten wird. In der akademischen Diskussion ist dieser Hof etwas großzügiger anzusetzen als im alltäglichen »Bewusstseinsstrom«, der schon heute nicht mehr wissen will, was vorgestern war.
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native zum eigenen Entwurf gedeutet – und abgelehnt wird;2 allerdings nun mit einem veränderten Argumentarium. Daraus ist in der Folge eine merkwürdige Frontstellung entstanden: Rawlsianisch liberal sein heißt nun automatisch (d.h. ohne weitere Begründung), nicht Perfektionist zu sein. Zur Erinnerung: Zuvor war man Rawlsianisch egalitär und deswegen nicht Perfektionist.3 Darauf gibt es drei mögliche Antworten: Entweder man kauft dieses Argument und ist nun, sofern man »liberal« sein will, AntiPerfektionist. Ein großer Teil der akademischen Literatur zum Perfektionismus ist aus dieser Perspektive verfasst: Diese Literatur lehnt den Perfektionismus aus einer Rawlsianischen Perspektive ab (siehe Kap. II.2). Dazu gibt es allerdings nicht nur eine Gegenposition, sondern zwei: Die eine akzeptiert diese Frontstellung ebenfalls, nimmt allerdings normativ die umgedrehte Position ein: Autoren, die gar nicht liberal sein wollen (jedenfalls nicht im Sinne von Rawls), haben wenig Probleme damit, perfektionistische Positionen zu vertreten. Diese Perfektionisten sind fröhliche Anti-Liberale;4 oder erscheinen zumindest aus der Rawlsianischen Brille so. Diese entschiedene Position sorgt dafür, dass der Perfektionismus eine Art Schreckgespenst der politischen Philosophie geworden ist. 1993 erschien eines der elegantesten Bücher dieser Sorte: Eine kleine, doch überaus gründliche Einlassung von Robert P. George, die den Perfektionismus der Vergangenheit verteidigte und dessen Kritiker – darunter Rawls – effektiv kritisierte.5 Anhand dieses Buches lässt sich die konservative Gegenposition gut erläutern (Kap. II.1). Die andere Gegenposition möchte nicht anti-liberal sein, sondern hinterfragt die Opposition, mit der die Debatte operiert. Man kann dieser Auffassung nach auch auf andere Weise liberal sein als Rawls – nämlich perfektionistisch-liberal. Ob man versucht, Rawls Fehler nachzuweisen, oder aufzeigt, dass Rawls selbst perfektionistische Züge hat – und das als
—————— 2 Die Alternativen zu seinen eigenen im Urzustand zu wählenden »first principles« seien: »utilitarianism«, »perfectionism« und »intuitionism« (Rawls 1993, 292; s.u., Kap. II.2). 3 Ich setze »Rawlsianisch« dazu, weil ich nicht meine, dass Rawls besonders egalitär ist (s.u., Kap. III.1). Das »Man« ist Heideggerianisch zu lesen: Es gibt einen massiven Trend in eine Rawslianische Richtung, den ich nicht als Wahrheitsbeweis werten mag. 4 »Fröhlich« meint, wie in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft oder Foucaults fröhlichem Positivismus, unbekümmert darum, dass man sich bestimmte Fallstricke einhandelt. 5 Das genannte Buch von Rawls (1993) hat George dabei zwar nicht mehr berücksichtigt, wohl aber zentrale frühere Aufsätze von 1980, 1985, 1987 und 1988, die dem Buch zugrundeliegen (Rawls nennt diese Aufsätze selbst in 1993, xv f.). Auch Hurka 1993 nahm bereits Rawls’ Aufsätze von 1980 und 1985 zur Kenntnis.
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Lizenz nimmt, den Perfektionismus weiter anzureichern: In beiden Fällen wäre der Perfektionismus nicht mehr automatisch nicht-liberal, er wäre lediglich liberal in einem anderen Verständnis. Ein zentrales Buch in dieser Richtung war das von Thomas Hurka (1993); auch weitere Werke, die den Perfektionismus befürworteten, sind hier zu verorten (siehe Kap. II.3). Wie wir sehen werden, verschwimmen die Grenzen zwischen diesen beiden Antworten rasch, sobald man genauer hinsieht. Auch Autoren wie George beanspruchen, auf eigene Weise noch »liberal« zu sein, obwohl sie am rechten Rand der US-amerikanischen Gesellschaft stehen; und auch als »liberal« geltende Perfektionisten wie Joseph Raz6 haben wenig Probleme damit, die individuelle Autonomie der Bürger einzuschränken, wenn es perfektionistische Gründe dafür gibt – was sie aus einer Rawlsianisch-liberalen Sicht von den »fröhlichen« Anti-Liberalen nahezu ununterscheidbar macht. Dennoch lassen sich die Lager zumindest für einen Einstieg durch ihre politische Verortung unterscheiden: Prima facie scheinen konservative und repressive Einschläge in der dritten Gruppe (Hurka 1993 etc.) eher unter der Hand einzufließen, während das Selbstverständnis eher progressiv, manchmal sogar egalitaristisch ist: In der zweiten Gruppe (George 1993 etc.) sind sie nicht Zufall, sondern erklärtes Programm. Um zu verstehen, warum die Rawls-konforme Lesart philosophisch so einflussreich geworden ist, beginnen wir mit dem Schreckgespenst, gegen das sie sich richtet: Dem Perfektionismus des fröhlichen Anti-Liberalismus. Auf diese Weise wird hoffentlich deutlich, warum so viele Autoren dem Perfektionismus gegenüber skeptisch sind. Wovor eigentlich haben sie Angst? Und wie kann man angesichts der breiten Phalanx der Rawlsianer in der politischen Philosophie überhaupt anderer Meinung sein?
1. Neues Naturrecht: Repressive Lehren vom Guten? Der politische Kontext von Robert P. George Ad hominem-Argumente spielen in der Philosophie in der Regel keine große Rolle, oder sollten dies zumindest nicht.7 Als Faustregel kann jeden-
—————— 6 Raz’ Ideen von 1986 wurden von Wall 1998 weiterverarbeitet (dazu s.u.). 7 Das ist ein weites Feld – welche Rolle die politische »Verstrickung« etwa der Person Martin Heideggers für die Bewertung seiner Philosophie spielt, ist nachhaltig umstritten.
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falls dienen, dass zunächst die Texte für sich selbst zu lesen sind. Hermeneutisch allerdings kann ein Wissen um den Kontext, und der beinhaltet auch die politischen Einlassungen des Autors, von Vorteil sein. Selbst wenn das noch kein Argument für oder gegen die Stichhaltigkeit eines Textes ist, vermag es im Zweifelsfall Auskunft darüber zu erteilen, wie eine blumig gehaltene Stelle wohl gemeint ist. Diese Art von Hermeneutik holt im Grunde nur nach, was die Erstadressaten ohnehin voraussetzen (in diesem Fall US-amerikanischen Leser, die mit der Rechtsprechung dort vertraut sind). In diesem Sinn sind die folgenden Anmerkungen zur Person zu verstehen. Was also sollte man über Robert P. George wissen, bevor man seine Werke zu Hand nimmt? Autoren wie er werden in den USA als »theo-cons«8 geführt. Was bedeutet das? Die nähere Betrachtung einer Stelle kann das klar machen: »just laws elevate and ennoble human beings because they are rooted in the moral law whose ultimate source is God Himself. Unjust laws degrade human beings«.9 Der Satz zeigt es an: George ist Perfektionist, denn dass etwas Menschen erhöht und verbessert, ist für ihn offensichtlich eine gute Sache. George ist außerdem – wie wohl jede und jeder – für gerechte Gesetze (Rawls würde sagen: eine gerechte Grundstruktur). Er fundiert diese aber hier in einem überpositiven Gesetz, das er andernorts Naturrecht nennt,10 und dieses wiederum in Gott (merke: nicht in Gottes Wort, wie es ein Protestant tun würde). Ist das bereits genug, um vor ihm Angst zu haben? George weiß offensichtlich um die Angst, die solche Worte auslösen können – zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Stelle (2009) hat er bereits einige Auseinandersetzungen hinter sich, unter anderem vor Gericht mit Martha C. Nussbaum, die uns nochmals begegnen wird.11 Daher lässt er hier jemand anderen diese Worte sprechen – einen Priester, aber nicht irgendeinen, sondern jemanden, der über jeden Verdacht erhaben ist:
—————— 8 Eine Abwandlung von Neo-Con(servatives), von »theologisch« (religiös) inspirierten politischen Überzeugungen, vgl. Sullivan (2006: 73ff.) sowie Bamforth/Richards 2008. 9 Aus einer von George entworfenen und von 150 000 Gläubigen unterschriebenen »Declaration« (George 2009: 9). 10 Etwa in George 1999 sowie einer Reihe von Aufsätzen. 11 Ebenfalls 1993 traten John Finnis und Robert George als Zeugen gegen Martha Nussbaum an. Es ging um die Frage, ob eine negative Einstellung gegenüber Homosexualität, die same-sex-marriages verbieten möchte, eine »rationale Basis« habe (wie Finnis meinte) oder nicht (wie Nussbaum meinte). Dies weitete sich zur Debatte darüber aus, ob katholische Gelehrte wie Finnis die vorchristliche Antike fehlrezipierten (ein Bericht bei Bradley 1994). Nussbaum hat Aufsätze dazu abgedruckt in engl. 1999: 299–331.
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Marthin Luther King Jr. Spricht ein Schwarzer aus der Bürgerrechtsbewegung diese Worte, dann haben sie in der akademischen community eine ganz andere credibility, als wenn ein Bischof oder Theologieprofessor sie sprechen würde. King hat im Letter from a Birmingham Jail (1967) allerdings nicht exakt diese Worte gebraucht, aber immerhin sehr ähnlich klingende: »A just law is a man-made code that squares with the moral law or the law of God … Any law that uplifts human personality is just. Any law that degrades human personality is unjust«.
Hier liegt allerdings trotz ähnlicher Worte ein großer sachlicher Unterschied vor. King sagt: wir erkennen die Gerechtigkeit eines Gesetzes darab, ob es den Menschen guttut (»Any law that uplifts human personality is just«), während George die Umkehrung behauptet (»Unjust laws degrade human beings«). Für ihn ist das Glück ratio cognoscendi der Gerechtigkeit. George hingegen sagt: wir erkennen die Gerechtigkeit eines Gesetzes daran, ob es von Gott kommt oder nicht (»just laws … are rooted in the moral law whose ultimate source is God Himself«). Wenn es aber von Gott kommt, müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen so beschaffen sind oder erzogen werden, dass es ihnen guttut. Das drückt schon der Buchtitel aus: Making Men Moral. Wir wissen besser als sie selbst, was ihr echtes Glück ist, nämlich der Gehorsam gegen das Naturrecht. Bei King erkennen wir das Naturrecht also am Glück der Menschen, bei George dagegen zwingen wir die Menschen in Richtung eines Gesetzes, das wir vorab schon kennen. Ein Beispiel möge diesen Unterschied veranschaulichen: Folgen wir Kings Ansatz, dann wäre ein Gesetz gerecht, das eine Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern erlaubt, sofern es nämlich die Betreffenden glücklich macht. Für George hingegen ist die freie Betätigung homosexueller Neigungen kein echtes Glück, sondern vielmehr Ausdruck von »fashionable ideologies«, die sich erst in »the past several decades« ausgebreitet hätten (2009: 2 und 5). Dies deswegen, weil die theologische Ethik, die die »just laws« definiert, derlei bislang nicht kannte. Das wiegt schwerer als das tatsächliche Unglück tatsächlicher Schwuler. Der Witz daran ist, dass George einen Vorkämpfer der Bürgerrechte in Anspruch nimmt, um Rechte anderer einzuschränken. Das nämlich ist das Ziel dieses Manifestes: Es geht darum, im Interesse der eigenen Religionsfreiheit (»free exercise of religion«) die bestehenden Rechte von Homosexuellen und Lesben, ja gar von Nichtverheirateten einzuschränken. Es dürfe keine Sünde geben: keine Abtreibungen, keine Forschung mit emb-
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ryonalen Stammzellen, keine Scheidungen, keinen Sex außerhalb der Ehe (»Promiskuität«) und keine Homo-Ehe (folglich überhaupt keinen gleichgeschlechtlichen Sex). Diese Auffassung basiert auf einer religiösen Anthropologie, die jeweils nur einen richtigen Weg kennt: Den traditionellen, von Gott und der Natur vorgesehenen, nämlich die Ehe von Mann und Frau zum Zwecke der Fortpflanzung – ein geradezu bilderbuchartiges Beispiel für eine Lehre von der wahren Natur des Menschen, wie sie von Isaiah Berlin bis Michel Foucault so gefürchtet wurde:12 »Some who enter into same-sex and polyamorous relationships no doubt regard their unions as truly marital. They fail to understand [!], however, that marriage is made possible by the sexual complementarity of man and woman, and that the comprehensive, multi-level sharing of life that marriage is includes bodily unity of the sort that unites husband and wife biologically as a reproductive unit. This is because the body is no mere extrinsic instrument of the human person, but truly part of the personal reality of the human being« (George 2009).
Das sich religiös verstehende Wissen über die objektive oder wahre Natur des Menschen wird zum Anlass genommen, über die Gerechtigkeit von positivem Recht zu urteilen. Wenn es der so verstandenen Natur des Menschen widerspreche, wie eben die Homosexualität oder der Sex außerhalb der Ehe, sei deren Erlaubnis kein echtes – sondern ungerechtes – Recht: »No one has a civil right [!] to have a non-marital relationship treated as a marriage. Marriage is an objective reality – a covenantal union of husband and wife – that it is the duty of the law to recognize and support for the sake of justice and the common good. If it fails to do so, genuine social harms follow« (2009).
Dass George hier von harm spricht zeigt an, dass er noch immer die perfektionistische Sprache von Joseph Raz spricht, die er im Buch von 1993, auf das wir gleich kommen, diskutiert und radikalisiert hat: Im Mittelpunkt von Raz’ Perfektionismus, der eigentlich nicht anti-liberal sein will, steht die personale Freiheit. Der einzige Grund, mit dem Freiheit eingeschränkt werden darf, ist – man denke an die berühmte Formulierung von J.S. Mill (1859) – die Schädigung anderer. Aber was als Schaden angesehen wird, das ist diskutabel. Raz hatte vorgeschlagen, auch das Verhindern einer guten Entwicklung als Schaden zu fassen, was es in der Folge zur Aufgabe der Politik machte, für eine möglichst gute Entwicklung zu sorgen. Ungleich schwerfälliger als George schreibt Raz:
—————— 12 Sie sind zählebig, wie die Proteste gegen die »Homo-Ehe« in Frankreich 2013 zeigten.
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»So if the government has a duty to promote the autonomy of people the harm principle allows it to use coercion both in order stop people from actions which would diminish people’s autonomy and in order to force them to take actions which are required to improve people’s options and opportunities« (1986: 416).
Diese Idee gibt es auch bei George: Im Mittelpunkt steht eine grundlegende Freiheit – die Religionsfreiheit (»free exercise of religion«). Diese soll nicht durch Zwang eingeschränkt werden. Dieser Zwang wird vom liberalen Staat jedoch ausgeübt, wenn er religiöse Menschen zwingt, bestimmte Sexualpraktiken bei anderen zu dulden. Das nämlich führe zu einer »coercion to compel persons of faith to compromise their deepest convictions«. Mit anderen Worten: Der Staat zwingt die Anhänger dieser Art von Religion dazu, sich eine bestimmte Art von Schaden (»genuine social harms«) gefallen zu lassen. An dieser Stelle ist die Toleranz der konservativen Christen am Ende und sie rufen zum Widerstand auf. Doch was sind das genau für Schäden? Geschädigt werden laut George in erster Linie die religiösen Menschen. Wäre dem nicht so, hätten Sie keine Handhabe, für ihre Rechte einzustehen – nämlich für ihr Freiheitsrecht, nicht gezwungen und nicht geschädigt zu werden. Dieser Punkt ist heikel, denn unmittelbar geschieht ihnen ja nichts, wenn andere unter sich etwas tun. Das gibt auch George zu, aber das kann ihn nicht abhalten: »many of our fellow citizens… wonder what to say in reply to the argument that asserts that no harm would be done to them or to anyone if the law of the community were to confer upon two men or two women who are living together in a sexual partnership the status of being ›married‹. It would not, after all, affect their own marriages, would it? On inspection, however, the argument that laws governing one kind of marriage will not affect another cannot stand«.13
Hier geht es um das Prinzip: Derart Gläubige Menschen werden schon geschädigt, wenn sie dulden oder mitansehen müssen, wie andere Menschen andere moralische oder nur sexuelle Maßstäbe anlegen. Der beklagte Schaden besteht also in einem Zuwiderhandeln anderer gegen die eigenen Wertvorstellungen: »the religious liberty of those for whom this is a matter of conscience is jeopardized« (2009). Zumindest wollen sie nicht in Organisationen arbeiten (müssen), die diese Praxen ausüben oder freistellen. Dagegen richtet sich der Widerstand. Überzeugt das? Nach dieser Logik würden jüdische oder muslimische Studierende schon dadurch geschädigt, dass andere Studierende in der Cafeteria Schwei-
—————— 13 Das setzt eine »wahre« Kultur der Ehe voraus, die erodiere, was so allen schade.
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nefleisch essen dürfen, so dass es eine Frage der Ermöglichung ihrer Freiheit wird, allen anderen den Konsum von Schweinefleisch zu verbieten. Man kann so weder in Versuchung kommen, noch muss man die ›Sünde‹ bei anderen mitansehen. Das mag den Minderheiten entgegen kommen, doch diese Praxis wäre sogar dann fragwürdig, wenn es medizinische (»freistehende«) Gründe dafür gäbe, vom Genuss von zu viel Schweinfleisch abzuraten. Die Wahlfreiheit, es zu essen oder nicht, gilt in solchen Fällen als ausreichende Freiheit, weil nur sie mit der Freiheit aller verträglich ist.14 Und so handhaben es liberale Gesellschaften auch mit der Sexualität: Niemand zwingt verheiratete Paare, gleichgeschlechtlichen Sex zu haben. Ein Schelm könnte nun denken, dass dieses Argument anzeigt, dass es Anhänger der »healthy marriage culture« (2009: 4) nur dann im Joch der Ehe hält, wenn sie sehen, dass alle anderen Paare es ebenso handhaben. Mit Nietzschescher Boshaftigkeit könnte man zuspitzen: Möchten sie sich damit selbst Angst vor einer gesellschaftlichen Ächtung im Falle einer Übertretung machen? Wenn diejenigen, die monogame heterosexuelle Ehen führen möchten, glauben, dadurch geschädigt zu werden, dass andere Menschen es anders handhaben, dann können sie nur dann tun was sie wollen, wenn alle anderen es auch tun. Als Herdentier kann der Mensch nur treu sein, wenn alle es sind. Zeigt das nicht gerade das Gegenteil dessen, was George zeigen will: nämlich dass die strikte, rein heterosexuelle Ehe ein intrinsisches Gut ist? Wäre sie das, müsste sie die Menschen von sich aus glücklich machen, und man müsste abweichende Varianten dieser Praxis gar nicht erst bekämpfen. Als ob ihm das selbst zu unsicher war, ergänzt George, dass daneben auch der Rest der Gesellschaft geschädigt werde, denn da die Ehe die zentrale Säule der Gesellschaft sei, seien eine ganze Reihe anderer moralischer Standards mit gefährdet: »marriage is the original and most important institution for sustaining the health, education, and welfare of all persons in a society. … Where the marriage culture begins to erode, social pathologies of every sort quickly manifest themselves« (George 2009).
Die derart religiösen Menschen kämpfen somit keineswegs nur für sich selbst, sondern – selbstverständlich – auch für das Allgemeininteresse;
—————— 14 Allerdings sind die Grenzen fließend: Im Fall des Rauchverbots ist erst kürzlich eine Veränderung der Cafeteria-Kultur mit Zwang durchgesetzt worden (vgl. Heller/Feher 1995: 66f.): Man hat jetzt nicht mehr die Freiheit zu rauchen oder nicht, da das Rauchen der Einen die anderen zum (passiven) Mitrauchen zwingt – aber auch, weil Rauchen nach medizinischen Kriterien eine Selbstschädigung ist.
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selbst für die, die gar nichts davon wissen oder wissen wollen.15 Es sind also gar nicht, wie der arglose Liberale annehmen könnte, die Religiösen, die den Schwulen und Unverheirateten die Freiheit nehmen wollen, nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zu leben, sondern es sind die Schwulen (etc.), die den Religiösen die Freiheit nehmen, ihre Religion ungetrübt auszuüben; und daneben die Gesellschaft insgesamt schädigen. Für George kommt es aber noch ärger, denn auch der Staat ergreife hier Partei (allerdings die falsche): Der ungerechte liberale Staat schütze nicht die Religiösen, welche die wahre Moral auf ihrer Seite hätten, sondern die (»immoralen«) Schwulen und anderen Missetäter. Gefährdet werde damit zwar die ganze Gesellschaft, aber die Religiösen treffe es besonders hart, denn ihnen widerfahre staatlicher Zwang (»coercion to compel persons of faith to compromise their deepest convictions«).16 Aus diesem ungerechten Zwang leitet George nun, und das ist das Pikante an seiner Berufung auf Martin Luther King Jr., ein Recht auf Widerstand ab: Gegenüber einem ungerechten Staat ist kein Rechtsgehorsam geschuldet. Damit ist der katholische Kulturkampf wieder eröffnet: »Through the centuries, Christianity has taught that civil disobedience is not only permitted, but sometimes required« (George 2009). Das sei die Kontinuität des christlichen Glaubens, von den Urchristen bis zu King – und nun bis zu den radikal-konservativen Christen, die zum Widerstand gegen den amerikanischen Staat aufrufen, sofern dieser sich für die »ungerechten« Rechte von Frauen (auf Abtreibungen), von Unverheirateten (auf sexuelle Betätigung) und Verheirateten (auf Scheidung) sowie von Homosexuellen (auf sexuelle Betätigung und Ehe) stark macht. Gegen diesen Staat sei der Widerstand erlaubt, ja gefordert: »we will not comply with any edict that purports to compel our institutions to participate in abortions, embryo-destructive research, assisted suicide and euthanasia, or any other anti-life act; nor will we bend to any rule purporting to force us to bless immoral sexual partnerships, treat them as marriages or the equivalent, or refrain from proclaiming the truth, as we know it, about morality and immorality and marriage and the family. We will fully and ungrudgingly render to Caesar what is Caesar’s. But under no circumstances will we render to Caesar what is God’s«.
—————— 15 Selbstverständlich, weil das bei jeder Ideologie so ist: Kennzeichen der Ideologie ist es nach Marx, »ein besonderes Interesse als allgemeines … darzustellen« (MEW 3, 48). 16 George nennt Gesetzgebungen, die religiöse Beratungsinstitutionen verpflichtet, Abtreibungen zu vermitteln, wenn trotz Beratung noch der Wunsch danach bestünde. (Dass es durch dasselbe Gesetz religiösen Institutionen überhaupt erst möglich wurde, diese einst staatliche Aufgabe wahrzunehmen, sagt er nicht; dazu Kippenberg 2014).
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George übernimmt also den politischen Kampfgeist der Bürgerrechtsbewegung, die sich für eine Ausweitung der Rechte einsetzte (in einer Ironie der Geschichte rief schon King die »Boston Tea Party« für seine Sache auf),17 für eine restaurative Bewegung, die die Bürgerrechte der letzten Jahrzehnte wieder zurückdrehen will, und gerade dies als den Geist der »founding fathers« ansieht.18 Er scheint dabei so einflussreich zu sein, dass er in einer Besprechung der New York Times inzwischen als »this country’s most influential conservative Christian thinker« und »the pre-eminent Catholic intellectual« geführt wird (Kirkpatrick 2009). Es wäre verlockend, länger auf die politische Seite einzugehen. So ist überaus fraglich, warum – wenn sich das Ganze auf die Natur des Menschen gründen soll – nicht eine breitere menschliche Fähigkeit zur sexuellen Erfüllung zu seiner Natur gehören soll, statt diese Natur theoretisch auf genau eine Art und Weise der Partnerschaft einzuengen. Empirisch spricht wenig dafür (Sigusch 2008). Nach Kirkpatrick (2009: 9) ist Georges Antwort auf diesen Einwand nicht anthropologisch, sondern politisch, denn empirische Anthropologien »offer no definition that would exclude polygamy«. Warum sollten sie das auch tun? Das ist offensichtlich eine vorgefasste Meinung, die der katholischen Morallehre entstammt. Wie wir oben im Vergleich zu King sahen, modelliert George die Anthropologie nach der Morallehre und nicht umgekehrt. Der Sinn einer Grundlegung in der Natur, nämlich das Überbrücken weltanschaulicher Gegensätze durch Verständigung auf eine über- oder vorgegensätzliche Grundlage (vgl. IV.2), wird damit ad absurdum geführt, indem nämlich die beanspruchte Grundlage selbst bereits hochgradig politisiert ist. (Ähnliche Vorwürfe wurden u.a. Arnold Gehlen gemacht, vgl. Rügemer 1979 und Jörke 2005). George folgte damit bereits einer Tradition: Die Ausarbeitung der ›neuen‹ Naturrechtslehre vollzog sich schon bei Germain Grisez (geboren 1929) in unmittelbar politischer Absicht. Die wichtigsten frühen Bücher sind – anders, als es die hagiographische Textsammlung bei Finnis 1991 hinstellt – exoterisch, nicht esoterisch: Grisez veröffentlichte 1965 das Buch Contraception and the Natural Law und 1970 Abortion: The Myths, the
—————— 17 »In our own nation, the Boston Tea Party represented a massive act of civil disobedience« (King 1967). 18 George steht nicht nur dem ultra-konservativem Netzwerk geistig vor, er ist daneben Initiator des American Principles Project und war Vorsitzender der National Organization for Marriage (www.nationformarriage.org), die eigentlich nicht für, sondern gegen die Ehe ist, sofern sie nicht zwischen Mann und Frau geschlossen wird (»Marriage Defamation«).
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Realities, and the Arguments. Die theoretische Grundlegung beginnt also mit der politischen Anwendung, auf die sie zugeschnitten ist. Das Buch von 1965 bereitete die Ablehnung der Empfängnisverhütung in der päpstlichen Encyclica Humanae Vitae von 1968 vor. Die Enzyklika entschied aufgrund einer Initiative von fünf Kardinälen und wandte sich klar gegen die Empfehlungen mehrerer eigens für diesen Zweck eingesetzter Kommissionen. Diese politische Anwendung blieb in den folgenden Jahrzehnten zentral, wie ein späterer Aufsatz von Finnis noch zeigt: »the artificially delimited … category named ›gay marriage‹ or ›same-sex marriage‹ corresponds to no intrinsic reason or set of reasons at all. … Marriage, on the other hand, is the category of relationships, activities, satisfactions, and responsibilities which can be intelligently and reasonably chosen by a man and a woman, and adopted as their integral commitment, because the components of the category respond and correspond coherently to a complex of interlocking, complementary good reasons: the good of marriage. True and valid sexual morality is nothing more, and nothing less, than an unfolding of what is involved in understanding, promoting, and respecting that basic human good« (Finnis 1997: 43).
Dieses Vernunftverständnis wird von offensichtlich politischen Vorentscheidungen zurechtgestellt. Ich möchte mich nicht auf dieser unmittelbar politischen Ebene abarbeiten, sondern mich an die windstillere akademische Theorie begeben. Sieht man an ihr bereits Momente angelegt, die auf eine solche Politik hindeuten? Und was sind diese Momente?
Georges akademischer Perfektionismus Wie seine gemeinsamen Veranstaltungen mit Cornel West zeigen, ist George ein intellektuell offener Geist. Darüber hinaus ist er politisch überaus aktiv und macht keinen Hehl um die Ausrichtung seiner Politik: sie ist offen christlich-restaurativ. Aber darf das auch in die Theorie ausstrahlen? Theorie und Politik lassen sich bei ihm schwer trennen: Er bringt für diese Politik dieselbe Theorie in Anschlag, die im akademischen Betrieb formuliert wird – obwohl dort etwas zurückhaltender. Wie bereits deutlich wurde, ist diese Theorie ein perfektionistisches Naturrecht (von »elevate and ennoble« war oben die Rede). Es lehnt sich offen an die katholische Tradition an, vertritt aber eine bestimmte Lesart derselben, nämlich diejenige von John Finnis und Germain Grisez. George legt seinem Perfektionis-
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musbuch (1993: 8ff.) die Güterlehre seines Mitstreiters Finnis zugrunde.19 Diese wurde wohl selten so prägnant zusammengefasst wie hier. Mit ihrer Hilfe reformuliert er dann auf perfektionistische Weise die bürgerlichen Freiheiten – Meinungs-, Versammlungs-, Pressefreiheit usw. (1993: 189ff.). Er zeigt also deutlich auf, wozu diese Güterlehre eigentlich gut ist. Das ist eine wohlüberlegte Anlage, denn auf diese Weise wird der erhobene Vorwurf ausgehebelt, der Perfektionismus sei illiberal oder lasse keine Autonomie zu. Er wehrt die Freiheiten keineswegs ab, sondern begründet sie nur anders als Rawls.20 Damit wird gezeigt, dass der Rawlssche Weg zum Liberalismus keineswegs der Einzige ist. Rawls bekommt damit Konkurrenz. Diese Konkurrenz macht deutlich, was für eine ›dürre‹ Theorie die Rawlssche ist: nicht weil sie den Individuen die Entscheidung überlässt, wie zu leben sei, sondern weil sie ihnen auf dem Weg dahin so gut wie keine Informationen mehr lässt (weder im Urzustand noch in der eigentlichen Theorie). Dem steht an dieser Stelle eine reichhaltige Theorie des menschlich Guten gegenüber. Beginnen wir mit einem Blick auf diese Güterlehre. Sie hat nicht nur den Zweck, den moralischen Rahmen menschlicher Handlungen abzustecken oder die Bedingungen für einen autonomen Lebensvollzug zu benennen. Sie will mehr: sie soll die erstrebenswerten Ziele menschlichen Handelns selbst verdeutlichen: »A basic reason for action is a reason whose intelligibility as a reason does not depend on further or deeper reasons for action. Only those ends or purposes that are intrinsically worthwhile provide basic reasons for action« (George 1993: 11).
Solche Ziele bestehen im Erreichen grundlegender menschlicher Güter. Auf diese also kommt es an. Sie sind keiner weiteren Begründung fähig, sondern selbstevident mit der menschlichen Natur gegeben. Um sie zu erfassen, bedürfe es keiner empirischen Anthropologie, sondern lediglich der Reflexion auf unsere Erfahrungen und Neigungen: »As first principles of practical thinking, basic reasons for action are, as Aquinas held, self-evident (per se nota) and indemonstrable (indemonstrabilia). The human goods that provide basic reasons for action are fundamental aspects of human well-being and fulfillment, and, as such, belong to human beings as parts of their nature; basis reasons are not, however, derived … from methodologically antecedent knowledge of human nature, such as is drawn from anthropology or other
—————— 19 Zu Finnis’ Perfektionismus Horn 2003: 228ff. sowie Rasmuss/Den Uyl 2005: 64ff. 20 Es ist nicht ganz klar, ob Rawls sie überhaupt weiter ›begründet‹ oder vielmehr als evident setzt – ganz ähnlich wie Finnis die »basic human goods«.
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theoretical disciplines. Rather, they are grasped in non-inferential acts of understanding by the mind working inductively on the data of inclination and experience« (12f.).
Methodisch ist diese Stelle aufschlussreich, denn hier klemmt mehreres: Erstens ist von den eigenen Neigungen und Erfahrungen nicht direkt auf eine menschliche Natur zu schließen, sofern sich Natur auf alle Menschen erstreckt, denn die anderen können andere Neigungen haben und andere Erfahrungen gemacht haben. Für ein Wissen davon bedürfte es entweder des Gesprächs mit diesen anderen, oder der anthropologischen Wissenschaft davon, die sehr wohl möglich ist. Aber genau das weist die Wendung von der »selbst-evidenten« Einsicht ab: es reicht die Einsicht des Einzelnen. Zweitens sollen die basalen Güter zwar nicht erschlossen werden, dennoch braucht es eine Induktion. Seit wann ist eine Induktion kein Schluss mehr? Sobald es einen Schluss gibt, ist das Erschlossene nicht mehr selbst-evident, sondern dann gibt es verschiedene Möglichkeiten zu schließen.21 Daher bleibt die Debatte zwischen verschiedenen Auffassungen, der sich George hier verschließt, weiter sinnvoll. Dient der Bezug auf Natur hier nicht dazu, die eigenen Auffassungen zu totalisieren und sich den Argumenten und Neigungen anderer zu verschließen? Dieser methodische Zweifel sagt noch nichts über die Inhalte der Güterlehre. Um ihre Konturen deutlich werden zu lassen, empfiehlt es sich, sie in einen Kontext zu stellen. Im selben Jahr nämlich, in dem Finnis’ Natural Law und Natural Rights (1980) erschien,22 auf das sich George hier bezieht, erschien eine andere Version einer objektiven Güterlehre im Buch von William Galston (1980). Wenige Jahre später stellten auch Derek Parfit (1984) und James Griffin (1986) solche Listen auf.23 Ab 1988 erfand Martha Nussbaum diesen Listenansatz als »capability approach« neu, unter
—————— 21 Das zeigen ja die verschiedenen Meinungen zur gleichgeschlechtlichen Ehe zur Genüge. Mit dieser gibt es (wie mit anderen Themen) offensichtlich verschiedene Erfahrungen. 22 Das Buch geht, wie Finnis (2011: 414) erwähnt, bis auf das Jahr 1966 zurück. 23 Galston (1980, 55ff.) nennt »Existence«, »Developed Existence«, »Happiness« und »Reason«. Parfit (1984: 493) zählt auf: »moral goodness, rational activity, the development of one’s abilities, having children and being a good parent, knowledge, and the awareness of true beauty«. Griffin (1986: 67f.) schließlich, der dies – im selben Jahr wie Raz – »Perfektionismus« nennt, summiert: »Accomplishment«, »The components of human existence« (darunter fallen liberty, agency, ein eigener Lebensplan, aber auch die »basic capabilities that enable one to act«); »Understanding«, »Enjoyment« und »Deep personal relations«. Als Überblick zu Listentheorien Alkire 2001; Fenner 2007: 103–140.
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erstaunlich geringem Rückbezug auf vorangehende Diskussionen.24 Es gibt nach wie vor andere Ansätze.25 Was macht, im Vergleich dieser Listen, das Besondere der Konzeption von Finnis aus? Für ihn zeigen diese Güter »basic forms of human flourishing an« (Finnis 1980: 23, cf. 219). Die Liste nennt folgende Güter: »life …, knowledge, play, aesthetic experience, sociability …, practical reasonableness; and religion« (George 1993: 13; nach Finnis 1980: 86ff.). Hervozuheben daran ist zunächst, dass ohne weitere Begründung als wichtigstes der »basis human goods« das Wissen genannt wird (Finnis 1980: 59f.): »The good of knowledge is self-evident, obvious. It cannot be demonstrated, but equally it needs no demonstration« (64f.).26 Das scheint zunächst nicht kontrovers zu sein, ist die Rationalität doch von Platon und Aristoteles bis zu Kant und T.H. Green die zentrale und zu fördernde menschliche Eigenschaft. Doch Finnis’ Variante ist aus zwei Gründen speziell: Erstens geht es nicht um das Erlangen von Wissen, also um praktische Betätigung (wie das »inquiry« bei John Dewey oder die theoretische Lebensform bei Aristoteles), sondern um das Haben von Wissen. Wissen sei ein »achievement-word«, es meine damit eigentlich eher »truth« (59). An diese Stelle können dann autoritäre Vorgaben, was Wissen sei, einrücken, denn offensichtlich geht es nicht um eine eigene Suche nach Erkenntnis, sondern die Akzeptanz wahren Wissens. Darin kann man das katholische Element dieses Naturrechts sehen. Und zweitens ist die Art von Wissen, um die es hier geht, eher theoretischer als praktischer Natur.
—————— 24 Sie bezieht sich allerdings auf Finnis (Nussbaum 2000c, 147). In der jüngsten Version enthält die Liste folgendes: Life; bodily health; bodily integrity; senses, imagination, and thought; emotions; practical reason; affiliation; other species; play; control over one’s environment (Nussbaum 2011: 33f.). Vgl. die Alternative von Max-Neef (1989). 25 Sher (1997: 200) nennt neben Parfit Listen von W.D. Ross (»virtue, pleasure, the allocation of pleasure to the virtuous, and knowledge«) und David Brink (das Verfolgen und Erreichen von Projekten und gute Beziehungen). Bleisch (2001: 102) verweist neben Parfit und Nussbaum auf Brad Hooker (1998: 145: »autonomy, friendship, knowledge of important matters, achievement, perhaps appreciation of beauty, pleasure«) und Richard Arneson (2000, 53): »having relations of love and friendship, having experiences that are interesting and pleasant, fulfilling one’s reasonable life aims or at least a subset of them, having a rudimentary understanding of the world one inhabits including its people, having ordinary bodily vigor and good health, significant accomplishment relative to one’s native capacities, and the sustaining of all of the above through a life whose span contains more rather than fewer years«. Eine Liste kannte schon A. Small (s.u., Kap. IV.2). 26 Finnis bringt immerhin, wie später die Diskursethik, das elenktische Argument vom performativen Widerspruch (»operational self-refutation«, 1980: 74) des Gegners zur Verteidigung an: man könne nicht bestreiten, dass Wissen ein Gut sei, denn das zu versichern, setze bereits voraus, dass Wissen wertvoll sei.
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Das fällt vor allem im Vergleich zu Martha Nussbaum auf: Auch bei ihr hat die Rationalität eine »architektonische« Position, allerdings nicht in theoretischer, sondern in praktischer Hinsicht: »Die praktische Vernunft hat eine einzigartige architektonische Funktion.27 Sie durchdringt alle Fähigkeiten und Pläne im Hinblick auf deren Realisierung in einem guten und erfüllten menschlichen Leben. Dasselbe gilt für die Verbundenheit mit anderen Menschen. Alles, was wir tun, tun wir als soziale Wesen; und unsere eigene Lebensplanung ist eine Planung mit anderen und für andere« (Nussbaum dt. 1999: 60, verfasst 1993).
Der Unterschied scheint nur eine Nuance zu sein, und doch liegen Welten zwischen diesen Konzeptionen (vergleichbar dem mittelalterlichen Streit zwischen Thomisten und Scotisten über den Vorrang von Intellekt oder Wille – stat pro ratione voluntas). Denn erstens kennt die praktische Vernunft keine vorgegebenen »Wahrheiten«, die sie nur annehmen muss, sondern sie bezeichnet eine Aktivität, durch welche Einigungen mit anderen Menschen allererst hervorgebracht oder zumindest verändert werden. Moralische Regeln sind also nicht »fix« (Dewey). Zweitens hat dieses plastische Vermögen nicht die Macht, die natürlichen Vollzüge und Bedürfnisse des Menschen aufzuheben, aber doch, sie zu lenken (»regulieren«, s.u.), und zwar in einer sozial abgestimmten Weise.28 Damit ist auch der menschlichen Natur eine historische, ja sogar politische Dimension zu eigen. Trotz einer natürlichen Grundlegung auch bei (der frühen) Nussbaum haben Naturargumente daher keine unmittelbar normative Kraft wie bei Finnis und George, da Menschen ihre Natur formen können und müssen: »Die menschliche Ernährung unterscheidet sich von der tierischen Ernährung und die menschliche Sexualität von der tierischen Sexualität, weil die Menschen ihre Ernährung und ihre sexuellen Aktivitäten durch ihre praktische Vernunft regulieren können; und auch, weil sie dies … als Wesen [tun], die mit anderen Menschen … verbunden sind« (Nussbaum 1999: 60, verfasst 1993).
Zwar kennt auch Finnis eine strukturierende praktische Rationalität: An sechster Stelle (nach Wissen, Leben, Spiel, ästhetischer Erfahrung und Gesellschaftlichkeit – es folgt dann noch die Religion) kommt die »practical reasonableness« (Finnis 1980: 88f), ein praktisches Vermögen im Sinne der Klugheit an die Reihe (»prudentia«, 102). Sie hat ebenfalls eine struktu-
—————— 27 Von einer solchen spricht – im gleichen Jahr – auch George (1993: 14). 28 Das Lenken muss nicht bewusst geschehen, doch kann man sich die Plastizität bewusst machen. Sie ist immer schon sozial überformt und damit im gewissen Maße kontingent.
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rierende Rolle, aber im Unterschied zu Nussbaums liberaler Auslegung hat sie nicht mit der aktiven Formung der anderen Güter zu tun, sondern lediglich mit ihrer Mischung. Der Gehalt der Güter kann, wie die Ehe-Diskussion zeigte, nicht geändert werden. Hier gibt es nur wahr oder falsch. Es können lediglich verschiedene Grade gewählt werden. Das ist eine praktische Notwendigkeit, da sich nicht alle Güter zugleich voll realisieren lassen. Allerdings sind alle wenigstens ansatzweise zu realisieren. Diese Klugheit hat strenge Vorgaben, und erst hier bricht die Natur voll in das Denkgebäude hinein: Diejenigen Regeln (»requirements«), die die Klugheit bei der gütermischenden Lebensplanung einhalten muss, seien Regeln der »Natur« (103). Diese basic requirements sind im Einzelnen folgende: Ein rationaler Lebensplan, begründete (nicht arbiträre) Präferenzen, Unparteilichkeit gegenüber Personen, eine Treue zur eigenen Wahl (wie sie noch Badiou kennt), Effektivität der Mittel, Respekt für jeden der sieben Werte, Beachtung des Gemeinwohls und Gewissenhaftigkeit.29 Erst die Beachtung all dieser Regeln ergebe die Moralität (126f.). Die Natur, die hier einbricht, ist nicht die menschliche Natur, wie sie die Anthropologie kennt (die schon methodisch abgelehnt wird). Diese muss ja an zentraler Stelle von Emotionen sprechen, was ihnen in der Konzeption von Nussbaum eine prominente Rolle eingebracht hat (Nussbaum 1999: 131ff.; 2002). In diesem Naturrecht hingegen spielen die Emotionen eine negative Rolle: »Where one goes wrong is by choosing options whose shaping has been dominated by feelings« (George 1993: 15, nach Finnis 1991b, 43f.). Das macht erneut deutlich, dass die Herangehensweise diametral anders ist als bei King und Nussbaum: Wenn es tatsächlich darum ginge, das menschliche Blühen (flourishing) zu fördern, wie es bei den »wirklichen Menschen« (Marx) auftritt, wie anders sollte man wissen, dass ein solches Blühen erreicht ist, als an nachhaltigen Gefühlen des Glücks? Hiergegen ließe sich folgender Einwand erheben. Spricht nicht auch George hinsichtlich der Erkenntnis der grundlegenden Güter von »human well-being and fulfillment«, von »inclination and experience« (1993: 12f.)? Das stimmt, doch kann es sich dabei kaum um das tatsächliche Glück der Menschen handeln, denn dieses, oder die Suche nach ihm, kann Menschen zu anderen Entscheidungen führen, als Finnis und George es mit der strikt
—————— 29 A coherent plan of life, no arbitrary preferences amongst values, no arbitrary preferences amongst persons, detachment and commitment (»fidelity«, 110), efficiency within reason (kein purer Konsequentialismus), respect for every basic value in every act, requirements of the common good, and following one’s conscience (Finnis 1980, 103–126).
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ausgelegten katholischen Morallehre vorschreiben.30 Gemeint ist mit der »experience« also primär die eigene Erfahrung. Negativ bewertet werden vor allem die Gefühle (»feelings«) anderer Menschen, sofern sie von den eigenen Werturteilen abweichen. Nussbaum hält dem entgegen, dass diese Denkweise keineswegs Ergebnis reiner praktischer Vernunft ist (»rational guidance of action« sagt der von George 1993: 15 zitierte Finnis), sondern seinerseits Ausdruck extrem negativer sozialer Gefühle: Sie sieht in der Gegnerschaft gegenüber Freiheitsrechten von Schwulen und Lesben Gefühle von Ekel dominieren, wie sie in der undiplomatischen Haltung gegenüber anderen Religion Gefühle von Angst freilegt.31 Es gibt einen weiteren Unterschied dieser Konzeption gegenüber ähnlichen Entwürfen: In dieser Liste ist ein Gut enthalten, das sich in keiner der genannten anderen Listen findet: die Religion.32 Diese Ergänzung der Liste um die Religion ist im Grunde eine Bereicherung. Warum sollte dieses Gut nicht mit aufgeführt werden? Doch bei Finnis und George hat dieses Gut eine zentrale Stellung inne, was politisch zu seltsamen Folgerungen führt.33 Finnis fasst Religion als jedes denkende Sich-in-Verhältnis-Setzen zur »Ordnung« des Ganzen.34 Ein solches vollziehe auch der denkende Atheist wie etwa Sartre (1980: 90). Unmoralisch wäre es erst, sich gar nicht um solche Fragen zu bekümmern. Da alle anderen Güter ebenfalls als Ordnungskonzepte dargestellt werden (89), kann die Religion damit als Kulmination aller anderen Güter verstanden werden. Es ist nicht nur das letzte, sondern auch das abschließende Gut. Doch George gibt als Religion im Grunde zwei Güter an. Das eine ist intellektueller Natur. Menschen erlangen es schon durch die Suche nach dem Göttlichen: »Religion is a basic human good if it provides an ultimate [?] intelligible reason for action. But agnostics and even atheists can easily grasp the intelligible point of considering whether there is some ultimate, more-than-human source of meaning and value, of enquiring as best as one can into the truth of the matter, and of ordering one’s life on the basis of one’s good judgment« (George 1993: 221).
—————— 30 Erinnert sei an die Worte Kings: »Any [!] law that uplifts human personality is just«. 31 Nussbaum 2010 (disgust) und 2012b (fear). 32 Sie gibt es sonst weder bei Arneson noch bei Brink, Galston, Gewirth, Griffin, Hooker, Nussbaum, Parfit, Ross oder den Skidelksys (2012). 33 Eine propädeutische Version der Güterlehre macht das Kulminierende der Religion besonders klar (Grisez/Boyle/Finnis 1987: 107f./245f.). 34 Der Ordo-Begriff gehörte zu den wichtigsten Begriffen des Neuthomismus.
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Durch die theoretizistische Fassung von Religion (»truth«) ließe sich das eigentlich unter dem »basic good« des Wissens verbuchen, es bräuchte daher noch keines eigenes Gutes. Es gibt aber über das bloße Suchen hinaus einen anderen guten Aspekt der Religion, der ins Gewicht fällt, falls die Religion etwas gefunden – und damit recht hat: »If there is a God …, and if harmony with the ultimate is possible for human beings, then it is obviously good to establish such harmony and enter into such communion« (George 1993: 220).
Wenn es für die Menschen gut ist, muss der Staat sie darin unterstützen. Soll er also die Pascalsche Wette für alle eingehen? Er darf dies nicht, indem er nur eine Religion unterstützt (so Georges Kritik an Thomas von Aquin, 41). Denn anders als andere Güter dürfen religiöse Akte nicht erzwungen werden (»If they are not freely done, they are simply not done at all«, 221). Der Staat darf daher keine bestimmte Religion vorschreiben. Da Religiosität aber für George ein Gut ist, gibt es gute Gründe dafür, dass der Staat die verschiedenen Religionen »unterstützen und ermuntern« soll (226), wo er kann – etwa auch steuerlich (225). Das mag für die USA ungewöhnlich klingen, ist aber in Europa übliche Praxis. Schwerer wiegt daher folgender Umstand: Georges perfektionistisch rekonstruierter Grundrechtskatalog, auf den wir gleich kommen, schließt mit dem einzigen »civil right«, dem direkt ein Gut korreliert – der Religion, bzw. dem Recht auf Religionsfreiheit. Das macht dieses Recht gegenüber den anderen, jeweils nur bedingten Rechten zum Absolutum (222). Denn es gilt: »Any basic good is an aspect of the fulfillment of persons, and so is superior to instrumental intelligible goods, which do not perfect persons as such« (Grisez, Boyle & Finnis 1987: 137/275).
Hierin kommt zum Ausdruck, wenn auch verdeckt, dass man diesem Naturrecht zufolge möglichst religiös sein soll. Denn nur Personen, die versuchten, Sünde zu vermeiden (»avoiding sin«), könnten ein moralisch integriertes Leben führen: »it does integrate the whole of life« (Grisez, Boyle & Finnis 1987: 146/284). Daher die Überschrift: Why a religious commitment is required (141/279). Die Starrheit dieser Konzeption lässt bereits verstehen, wie man von dieser recht abstrakten Vorstellung zu einer derart radikalkonservativen Politik kommt, wie es im eingangs erwähnten Beispiel der Fall ist. So ist etwa in Bezug auf Gut Nummer Eins, das Leben, keine Diskussion möglich, wann menschliches Leben beginnt und wann es endet, auch wenn dies in der Bioethik seit langem diskutiert wird.
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Unehelicher oder nicht-heterosexueller Sex, Empfängnisverhütung, Abtreibung, Forschung mit Embryonen, Sterbehilfe oder Organspenden müssen gar nicht erst ethisch verhandelt werden: Es ist von vornherein klar, dass nichts davon erlaubt ist, da es diesem Gut nicht gerecht werde.35 Doch erst zusammen mit Gut Nr. 7, der Religion, ermöglicht das Positionen wie die oben besprochene von George (2009). Sie muss hinzukommen, denn über Anfang und Ende des menschlichen Lebens lässt sich sehr wohl mit guten Gründen streiten – solange jedenfalls, bis eine der Parteien einwendet, die Gründe des Gegners verletzen seine religiösen Gefühle und damit seine Rechte. Ein solches Argument können die säkularen Gegner nicht ins Feld führen, denn ihr Toleranzgebot fußt ja gerade nicht auf einem Gut, sondern auf dem Verzicht auf derlei Argumente. Deswegen sind die religiösen Verfechter, akzeptiert man diese Theorieanlage, stets im Vorteil; solange jedenfalls, bis eine säkulare Partei sich entschließen würde, aus gleich gewichtigen religiösen Gründen – und nicht lediglich aus Toleranz – für mehr Freiheit gegenüber, sagen wir, Homosexuellen einzutreten.36 Das aber scheint weit hergeholt zu sein: Warum sollte man eine solche Toleranz erst dann einräumen, wenn eine Kirche sie vertritt? Erstens wird diese Lehre von den Konservativen auch dann noch nicht toleriert werden, weil es aus ihrer Sicht eben ein Irrtum ist (»they fail to understand« hieß es ja oben in George 2009). Und zweitens dürfte recht deutlich sein, dass diese Toleranzforderung zwar von einer Religion geäußert würde, aber wohl weniger aus religiösen Gründen – die sich dann stark geändert haben müssten – als aus weltlichen Überlegungen heraus (z.B. der Gleichbehandlung aller Menschen). Hier lässt sich nachvollziehen, warum es eine so verlockende Strategie ist, solche Argumente mit Rawls generell aus der politischen Auseinandersetzung heraushalten zu wollen (siehe II.2), anstatt mit einer eigenen umfassenden »Theorie des Guten« aufzuwarten, die vielleicht sogar eigens für diesen Zweck konstruiert wird. Das Problem ist nur, dass die Grenzziehung zwischen öffentlich-»politischen« Fragen, die alle angehen, und der privaten Sphäre, in der man nach Gutdünken »metaphysischen« Theorien des Guten anhängen könne,
—————— 35 Auch Sexualität und Ehe werden einzig auf ihren Beitrag zur Schaffung neuen Lebens (procreation) bezogen. 36 Vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass Habermas seine Position hier verändert hat? »[R]eligious citizens have a prima facie obligation not to advocate or support any law or public policy …, unless they have, and are willing to offer, adequate religiously acceptable reasons for this advocacy or support« (R. Audi, nach Habermas 2005: 32 Fn.).
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sich aus dieser Sicht ganz anders darstellt als aus der Rawlsschen. Wenn sich die Religiösen durch die Duldung von Homo-Ehen in der Ausübung ihrer Religionsfreiheit beschnitten fühlen, ist dieses Gefühl keine private Angelegenheit mehr, sondern eben eine öffentliche.
Georges Rawlskritik: Die Wahrheit des Guten Wie steht es also um die Triftigkeit von Rawls’ Strategie, solchen Theorien einfach aus dem Weg zu gehen? George schneidet diesem Verlangen, um im Bild zu bleiben, den Weg ab – und zwar durch eine durchaus originelle Rawlskritik. Schauen wir diese zunächst näher an. Hinsichtlich der zentralen rechtfertigungstheoretischen Forderung von Rawls, Theorien des Guten aus politischen Überlegungen auszusondern, urteilt George: »one ought not be to impressed by the capacity of the original position to eliminate interpersonal bias« (1993: 139). Das Gedankenspiel, das Rawls erfinde, um zu »neutralen«, d.h. öffentlichen oder politischen Aussagen zu kommen (im Unterschied zu parteilichen, privaten oder metaphysischen Aussagen), halte nicht, was es verspreche, weil es selbst Ausdruck eines »interpersonal bias« sei. George wiederholt hier zwei kommunitaristische Kritiken von Sandel (1982),37 fügt aber noch eine originelle dritte Position hinzu. Mit Sandel sagt George erstens, dass Rawls in seinen liberalen Konklusionen nur erhalte, was er selbst bereits in die Prämissen hineingesteckt habe.38 Außer einer weiteren Schleife der Begründung hat er damit gegen seine Gegner nichts gewonnen – denn, so ist dieser Punkt zu erweitern: jede Partei kann eine solche Schleife drehen. Finnis und George tun ja genau das, indem sie ebenfalls von Natur sprechen: nicht vom Naturzustand, sondern vom Naturrecht, aber diese unterschiedliche Vorstellung von der korrekten Herangehensweise ist bereits ein Beispiel für eine »interpersonal bias«. Der erste Punkt ist also, dass die Modellierung des Urzustands bereits eine Projektion liberaler Ideen ist: Die Menschen hätten hier keinerlei Bindung oder Verantwortung und seien daher frei, nur ihren eigenen Interessen nachzugehen.
—————— 37 Sandel schlägt später (1996) selbst perfektionistische Töne an (s.u., Kap. II.2). 38 Man ist erinnert an Nietzsches Spruch: »Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen« (Nietzsche, KSA 1, 883).
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»First, by depriving persons in the original position of any commitments and allegiances beyond the commitment of each to his ›own ends‹, whatever they turn out to be, Rawls smuggles strong liberal individualist presuppositions into the apparently weak and uncontroversial premises of the argument« (George 1993: 133; ähnlich bereits Norton 1976: 332).
Theorien des Guten werden nicht aufgrund von Argumenten ausgeschieden, sondern aufgrund von Ausgangsdefinitionen. Stimmt dies, dann steht bei Rawls, eben wie bei Finnis und George, am Anfang eine Setzung. Denn nicht nur über das Gute gibt es unterschiedliche Auffassungen, sondern auch über Verfahrensfragen. Diese werden hier schlicht übergangen. Der zweite Punkt lautet, dass auch die Idee der Person, die dafür beansprucht werde, bereits liberal sei. Auch diese Konzeption widerlege andere Positionen nicht, sondern abstrahiere sie nur von Anfang an fort: »The ›persons‹ in the original position choose liberal principals because they are ›persons‹ as a certain form of liberalism conceives them. But this distinctive conception of the person is controversial – every bit as controversial as the competing conceptions of the good Rawls wishes to exorcise from political theory« (133).
Man könnte erwidern, dass Rawls diese Kritik in der neuen Version von 1993, die kein »comprehensive liberalism« mehr sein will (also nicht mehr auf einer Theorie des Guten basiert), akzeptiert hat.39 Darum wird die spätere Version skeptizistischer als die erste, wie George früh bemerkt: »In A Theory of Justice, Rawls seems to suppose that his rejection of perfectionism is in no way rooted in moral skepticism or subjectivism, or in any strong form of cultural relativism about morality and the human good. [Fn.:] It is less clear that the same can be said for Rawl’s later writings« (George 1993: 131).40
Aber mit diesem Skeptizismus wird auch die Sandelsche Kritik entkräftet, Rawls lege selbst eine bestimmte Theorie zugrunde. Georges dritter Kritikpunkt wird damit umso interessanter – nicht zuletzt, weil Wall (1998) ihn später ähnlich wiederholt (II.3.c). Die Behauptung ist zunächst die kaum bestreitbare einer »Transparenz« der Wahrheit. Das bedeutet, dass der Satz, eine Aussage sei wahr, gleichbedeutend sei mit dem Satz, dass der in dieser Aussage behauptete Tatbestand der Fall sei.41
—————— 39 So meint Malachuk 2005: 11ff., Rawls habe das zu Unrecht nicht offen ausgewiesen. 40 Zu Rawls 1993 George 1999: 196ff.; ders./Wolfe 2000; Finnis 2011, 256–275 (cf. Fn. 5). 41 »Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist« (Wittgenstein, TLP 4.024).
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Das lässt sich weiter spinnen. So lassen sich aus der folgenden Aussage aufgrund der Transparenz der Wahrheit einige Dinge herauskürzen:
gilt gleich: gilt gleich:
Satz 1: Ich weiß, dass Aussage A (X ist ein Y) wahr ist. Satz 2: Aussage A (X ist ein Y) ist wahr. Satz 3: X ist ein Y.
Warum ist das eine Kritik an Rawls? Weil Rawls George zufolge versäume, von Satz 1 zu Satz 2, geschweige denn zu Satz 3 zu kommen. Die Parteien im Rawlsschen Urzustand seien nur deswegen nicht an der Wahrheit oder Richtigkeit von Theorien des Guten interessiert, weil sie – der Konstruktion nach – nicht wissen könnten, woran sie später glauben würden. Das lasse ihnen gar keine andere Position übrig als lediglich zu verlangen, dass einerlei, woran sie später glauben würden, sie weiter daran glauben dürfen. Es geht ihnen also nicht darum, was sie glauben, sondern nur darum, dass sie das glauben werden: »Behind the veil of ignorance, parties … care about the beliefs they will turn out to have precisely because they know they will be their beliefs« (George 1993: 135). Doch dieser Subjektivismus ist ebenfalls ein Artefakt, ein Ergebnis der Konstruktion des Modells – und darum noch kein Argument dafür, dass dieser Subjektivismus oder Relativismus, der Rawls’ Liberalismus methodisch zugrunde liege, auch richtig sei. »Robbed of transparency, the beliefs and ends that parties in the original position seek to protect (by ensuring liberty) lack the impersonality they need to function as reasons in deliberation about principles of justice. It is little wonder, then, that the original position is not a forum for moral deliberation … the construction of the original position makes moral deliberation impossible (in the original position) and anti-perfectionism the inevitable result« (George 1993: 136).
In der Konsequenz urteilt George knapp, dass die Rawlssche Konzeption, da sie selbst parteilich ist, nicht darüber entscheiden kann, wann eine Position fair wäre (139). Eine Position könne auch dann fair sein, wenn sie nicht im Urzustand gewählt würde, da in diesem Urzustand nur solche Personen säßen, die Rawls vorher ausgewählt bzw. nach seinen Vorstellungen vom Guten modelliert habe. Es sei aber nicht fair, wenn nur eine Partei Grundsätze wählt, die hinterher für alle Parteien gelten sollten. Es sei dann kein Wunder mehr, wenn diese Partei hinterher (nach dem Urzustand) immer gegen die anderen gewinne:42
—————— 42 Wie wir gesehen haben hat Georges Naturrecht denselben Effekt für die eigene Partei.
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»Public reason is a doctrine devised and promoted by Rawls … and it almost always has the effect of making the liberal position the winner in morally charged political controversies« (George/Wolfe 2000: 1f.).
Das wäre gerade nicht mehr fair. Alle anderen Bürger einer Demokratie haben, so lässt sich verlängern, ebenfalls ein Recht, über die Grundsätze mit abzustimmen, auch wenn sie nicht durch den merkwürdigen Rawlsschen Filter hindurchpassen; und die wenigsten passen durch. Nach George verdreht die Rawlssche Wiedergabe dessen, was den Leuten wichtig ist, etwas wichtiges – nämlich dass die Leute Gründe für ihre Weltanschauungen haben und diese nicht einfach glauben, weil sie das zufällig gerade von Ihnen Geglaubte deswegen weiterglauben wollen, weil es eben sie sind, die das glauben: »Rational people in the real world care about their beliefs not because their beliefs are theirs, but rather because their beliefs are (they suppose) true« (1993: 134). Dies nämlich wäre ein Motiv der Selbstliebe und des Stolzes, welches einen grundlegenden Skeptizismus schon im Motiv des Glaubens voraussetzt (einen Will to believe). Zwar geht es George an anderer Stelle durchaus darum zu sagen, er selbst habe mit seiner Konzeption des Guten recht und die anderen nicht. Doch das taugt natürlich nicht als Rawlskritik, da eine solch starke und kämpferische Behauptung den »modus vivendi« eines politischen Konsenses gefährdet, den selbst George bejaht, und damit die Skepsis von Rawls auf den Plan ruft. Wie also kann man den Punkt der Wahrheit besser verstehen? Was George meint, lässt sich anhand eines späteren Buches von 1999 erläutern wie folgt: Rawls kann die Argumente der Perfektionisten 1993 nicht mehr als inhaltlich falsch hinstellen, weil das voraussetzen würde, dass er selbst eine bestimmte Theorie des Guten verträte – nur eben die richtige. Genau das kann jede Seite sagen, und so dreht man sich im Kreis. Was Rawls stattdessen vorschlägt, ist ein Diskurs-Säuberungs-Mechanismus, der nicht auf der Grundlage von Wahrheitsbehauptungen urteilt, sondern Aussagen danach filtert, ob sie allgemein rechtfertigungsfähig sind: »our exercise of political power is fully proper only when it is exercised in accordance with a constitution the essentials of which all citizens as free and equal may reasonably be expected to endorse in the light of principles and ideals acceptable to their common human nature« (Rawls 1993: 138; s.u., Kap. II.2).
Aber wie bekommt man nun wieder heraus, ob eine Aussage rechtfertigungsfähig ist? Georges Antwort, die wir gleich diskutieren, lautet so:
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»Rawls’s insistence that he is not denying the truth of rationalist believers’ beliefs,43 but only their assertion that these beliefs can be publicly and fully established by reason, is therefore unavailing. Rationalist believers … defend their views precisely by offering public justification, that is, rational arguments in support of the principles and propositions on the basis of which they propose political action. These arguments are either sound or unsound. If sound, there is no reason to exclude the principles and propositions they vindicate as ›illegitimate‹ reasons for political action. If unsound, they be rejected – on rationalist believers’ own terms – precisely for that reason« (George 1999: 203).
Ich verstehe Georges Punkt so: Entweder man beurteilt diese Frage auf der Grundlage von Typenzuordnungen. Dann wird man Aussagen nach der Herkunft beurteilen: Religiöse, liberale (im Sinne von »comprehensive liberal«), marxistische etc. Aber hier kann man wieder nur auf der Grundlage einer Theorie des Guten ganze Klassen von Aussagen ausschließen wollen (beispielsweise als Liberaler die religiösen, als Marxist die liberalen etc.), womit man im Grunde nichts gewonnen hat, da man auf die alte – angreifbare – Position von Rawls zurückfällt, die selber »comprehensive« war. Oder man muss sagen können, wann genau eine Position allgemein vernünftig und daher rechtfertigungsfähig ist; aber genau das kann man nur tun, indem man auf ihren Inhalt eingeht, der sinnvoll oder unsinnig sein kann. Auch damit haben wir die vermeintlich freistehende Ebene bereits wieder verlassen. So verweist die Suche nach einem Kriterium ebenfalls wieder auf inhaltliche Aussagen zum Guten zurück. Aus der Sicht von George verallgemeinert Rawls wie bereits 1971 seine eigene Theorie des Guten, nur dass er es jetzt (1993) nicht einmal mehr zugibt. Zu diesem Argument ist folgendes zu bemerken: Einerseits trifft die Beobachtung zu, dass Rawls es sich (1971 wie 1993) recht einfach macht, wenn er die gewünschten Ergebnisse bereits in die Prämissen steckt. Die Beweiskraft seiner Theorie ist, wie wir im nächsten Kapitel aus anderen Gründen sehen werden, tatsächlich geringer, als es die große Anhängerschaft vermuten lässt. Es gibt ja Typen von Sätzen, etwa medizinische (»Eine gesunde Ernährung steigert die Lebenserwartung«) oder geographische (»Die Erde ist keine Scheibe und älter als eine Woche«), die alle Parteien annehmen könnten; und man kann mit guten Gründen fragen, warum nicht auch die »Sittlichkeit« betreffende Fragen auf diese Weise
—————— 43 Das meint Menschen, die meinen, ihr Glaube käme aus reiner Vernunft und die damit übersähen, dass andere anderes glaubten.
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zumindest erörtert werden sollten.44 Woher weiß Rawls, dass es darüber keine Einigung geben kann? Ist das nicht erneut eine Setzung, die auf der Vorstellung beruht, dass es diese nicht geben können soll? Andererseits hat damit Georges eigenes Programm noch nicht recht. Er versucht ja, seine und Finnis’ »basic goods« als »public reason« ins Gespräch zu bringen: »Those who promote natural law doctrines believe that their views are based on ›political values everyone can reasonably be expected to endorse‹« (George/Wolfe 2000: 2; vgl. George 1999: 202).
Dieser Vorschlag hängt jedoch von einer spezifisch theoretizistischen, geradezu positivistischen Vorstellung vom Guten ab. Es ist fraglich, ob Theorien des Guten stets in der Weise wahrheitsfähig sind, wie George hier zu unterstellen scheint – als gebe es z.B. bei der Frage, ob die HomoEhe »richtig« oder falsch sei, nur eine »richtige« Antwort (nämlich seine).45 George kann leicht zugeben, dass es über solche Fragen stets Dissens geben wird: »I certainly do not deny that people in our culture, including reasonable people, disagree about fundamental moral questions« (1999: 202). Denn er fügt sogleich an, dass die Gegner dennoch im Unrecht sind. Sollte sich ein solcher Wahrheitsanspruch lediglich als Totalisierung einer nicht wahrheitsfähigen Glaubensannahme erweisen, die den anderen aufgezwungen werden soll, so wäre es zumindest aus Klugheitsgründen ratsam, Zuflucht zu einem Rawlsschen Zwecks-Skeptizismus in politicis zu nehmen. Das Problem ist nur, dass George triftige Gründe dafür anbringen kann, dass diese Strategie nicht haltbar ist und als Flucht erscheint. Es wird damit zum Desiderat, dieser materialen Position etwas Materiales entgegenzusetzen. Bevor wir zu diesen anderen Perfektionismen kommen (in II.3), wollen wir uns noch Georges eigene, gegen Rawls gestellte Konzeption der Bürgerrechte ansehen. Denn sie macht Rawls Konkurrenz.
›Freiheit, die ich meine…‹ Bürgerrechte nach George Die Kritik an Rawls ist nur die eine, negative Seite des kleinen Buches. George (1993) hat jedoch noch mehr zu bieten: Der Anspruch seiner Theorie, liberal zu sein, wird erst eingelöst in einer eigenständigen Begründung der Grundrechte. Er entwickelt an Rawls vorbei eine Freiheitskonzeption,
—————— 44 So kennt sogar Rawls (1971 §19) natürliche Pflichten, die basaler sind als der Urzustand. 45 Siehe die Kritik Weinstocks (1999) an Hurka (1993), vgl. Kap. II.3.
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die perfektionistisch und dennoch liberal ist – wenn auch auf andere Weise als Rawls –, da sie die bürgerlichen Freiheiten (neu oder gar erstmals) zu begründen versteht. Der Anspruch ist hoch: »I want to show that perfectionism is more than merely compatible with a commitment to individual freedom; a sound pluralistic perfectionism provides the most excellent reasons for respecting and protecting basic civil liberties« (1993: 190).
Wie sehen diese »exzellenten« Gründe nun aus? Die den Grund legende Idee ist die, dass Freiheiten (oder, wenn sie institutionalisiert sind, Freiheitsrechte) kein Selbstzweck sind, sondern selbst noch eine Funktion haben, indem sie nämlich der Entwicklung der Güter dienen sollen.46 Sie sind, anders gesagt, instrumentell und nicht unbedingt. Diese Konzeption hat den Vorteil, dass sie einen Grund angeben kann, warum die Freiheitsrechte zu schützen sind. Sie hat aber aus Sicht ihrer Kritiker (angeführt von Isaiah Berlin) den Nachteil, dass sie damit auch Freiheitsbeschränkungen rechtfertigen kann – dann nämlich, wenn sie der Entwicklung des Gutes nicht länger förderlich sind, sondern eine Fessel für die weitere Entwicklung zum Guten werden: »Any theory that posits rights to liberty and privacy but fails to link these putative rights to basic human goods, invites, but cannot answer, the question, ›Why should I respect the right of others?‹ This question can be easily answered, however, by a theory that prizes liberty and privacy because, and only so far as, they enable people to realize reasonably for themselves and their communities intrinsic goods whose realization would be prevented or seriously hampered by the lack of liberty or privacy« (George 1993: 192).
Tatsächlich kann sich George auf empirische Fälle berufen, in denen sogar liberale Gesellschaften Freiheitsrechte einschränken (er nennt u.a. die Holocaust-Leugnung, 205: 229). Wann genau wird dieses einschränkende »only so far as« aber stark genug, um Freiheitsrechte einzuschränken? Ein langes Kapitel setzt sich mit dem Recht auf freie Rede (Meinungsäußerung) auseinander. Auch diese ist nicht selbst ein Gut, sondern wird nur dann eines, wenn sie Gutes hervorbringt: »As an instrumental good, speech is only valuable if it is used for good purposes« (203). So etwas zu sagen heißt zugleich sagen zu müssen, wie eine bestimmte Gesellschaft eigentlich funktioniert und was »gut« in diesem Rahmen heißen kann. Der Perfektionismus ist also auf eine Sozialtheorie angewiesen,
—————— 46 Dieser Gedanke kehrt bei Wall 1998 (s.u., Kap. II.3) wieder und stammt aus der Idee der »positiven Freiheit« (dazu s.u., Kap. IV.2).
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um seine Punkte anzubringen, da er nicht beim »Selbstwert« der Freiheitsrechte ansetzen möchte. Intrinsischen Wert hat für George erst das Gemeinwohl: Die Redefreiheit bezieht ihren instrumentellen Wert durch ihren Beitrag zur Ermöglichung von Kooperation, die wiederum von Kommunikation abhängt. So hängt der Wert dieser Freiheit davon ab, wozu die Kooperation oder Kommunikation genutzt wird.47 Wie bei Wall und Raz (siehe II.3.c) hat eine wertlose Nutzung keinen Wert: »Abusive, defamatory, obscene, or merely manipulative speech has no more value in a family or voluntary association than it does in a political community. Such speech is immoral and, as such, parents always have conclusive reasons to refrain from engaging in it themselves, and generally to forbid their children to engage in it« (George 1993: 203).
Hier drängen sich drei liberale Verdachtsmomente auf: Erstens wird von der Familie auf die Gesellschaft geschlossen, was an einen Paternalismus erinnert.48 Konservative könnten darauf entweder antworten, dass der umgekehrte Schluss von der »permissiven« Gesellschaft (L. Mead 1986: 46ff.) auf die Familie bereits vorliege und mittlerweile der Ton auch in den Familien verdorben sei, was über die öffentlichen Schulen wieder auf die Gesellschaft zurückwirke; oder dass es auch in liberalen Regimen einen ›sanften‹ Paternalismus gebe, etwa was das Gesundheitspolitik angehe (dazu Thaler/Sunstein 2009). Den Minimal-Paternalismus einmal zugestanden, könnte man zweitens kritisch nachfragen, wer denn in der Gesellschaft die Elternrolle ausüben soll, die ihren »Kindern«, den Bürgern, die manipulative, obszöne oder beleidigende Sprache untersagen solle. Die gängige Antwort lautet: Im Zweifelsfalle Gerichte. Rechtsstaatlichkeit ist ebenfalls ein liberaler Grundsatz.49 In der Tat werden ja bestimmte Äußerungen trotz Rede- und Meinungsfreiheit untersagt: nachweislich falsche Behauptungen in den Medien lassen sich unterbinden, üble Nachrede oder Hasspredigten sind sogar strafbar. George hat also einen Punkt.
—————— 47 »Almost any community … will require for its effective functioning a great deal of speech« (1993, 201). Das gelte selbst für »highly authoritarian«-Varianten, da man sonst zu wenig über das »common good« wisse. 48 Eine klassische Referenz dafür ist Robert Filmer (1588–1653), der Locke zum Widerspruch gereizt hat. Zu Kants Kritik an der »väterlichen« Regierung s.u., Kap. IV.1. 49 Auch deswegen ist der »Supreme Court« für Rawls das »Exemplar of Public Reason« (1993, 231ff.).
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Die Frage ist nur, wie weit sich diese Lizenz dehnen lässt. Damit ist eine dritte Frage aufgeworfen: Wer entscheidet, was ein »good purpose« ist? Wenn Künstler sich auf provozierende Weise äußern, wer legt fest, ob und bis wann der verfolgte Zweck »gut« ist? Können Versuche der Herrschenden, sich unliebsame Kritiker vom Halse zu halten, sich nicht auf derart vage Einschränkungen stützen? Das hängt davon ab, was George mit »gut« genauer meint. Wäre es ein feststehendes inhaltliches Ziel (etwa: die Festlegung auf eine bestimmte Religion), so wäre der Vorwurf sicher berechtigt. Interessanterweise jedoch ist hier gerade kein Gut vorausgesetzt, das unabhängig von der Mitsprache der Bürger festgestellt werden könnte: »Almost any … community needs constant communication about the matters of common interest that constitute the common good of that community. … The avoidance (or rectification) of unjust or otherwise immoral policies by people of goodwill is powerfully served by permitting, indeed, encouraging, vigorous debate, criticism, and dissent« (George 1993: 202); »all who comprise the community have a basic right to equal concern and respect from those in authority over them. … To be taken in account, people must communicate their feelings, and, therefore, must be free to do so« (203).
George könnte also erwidern, es gehe ihm gerade nicht um das Stillstellen von Kritik, sondern ihre Ermunterung; nicht um das Erdrücken der Gefühle, sondern ihre Mitteilung; nicht um das Durchdrücken eines Zieles gegen den Willen der Bürger, sondern die Feststellung ihres gemeinsamen Willens, auch mithilfe der Medien (208f.). Nur dann nämlich könne es zur gemeinsamen Verwirklichung des Guten kommen, wenn sich die Gemeinschaft nicht nur über gemeinsame Vorgehensweisen verständige (eine kommunikative Mittelrationalität), sondern auch über die Ziele, die es anzustreben gelte (eine kommunikative Zweckrationalität). In diesem Punkt ist die politische Theorie von George weiter als seine Praxis, denn in der Praxis, die sich an neokonservativen Themen der Sexualität festgebissen hat, lässt George an einigen Stellen gerade keine Debatten über das Gute mehr zu, obwohl gerade diese Themen überaus kontrovers sind (Sullivan 2006: 73ff.). Das ist, wie fairerweise hinzuzufügen ist, keineswegs überall so. Dass es für George und Finnis »moral absolutes« gibt, heißt nicht, dass jede moralische Frage damit gelöst ist. Interessanterweise lässt George andere Themen wie Todesstrafe, Krieg gegen Irak oder Sozialpolitik offen: »The ›rights‹ to education and health care are another matter, George told his seminar. … Those questions, George said, go beyond the application of moral
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principles. You can get all the moral principles dead right and not have an answer to any of those questions« (Kirkpatrick 2009: 6).
Seine politische Theorie hat an dieser Stelle einiges für sich: Sie befürwortet die Redefreiheit aus eigenen Gründen und bringt Kriterien dafür ins Spiel, wann eine ansonsten schützenswerte Redefreiheit vernünftigerweise eingeschränkt werden darf, nämlich dann, wenn es Individuen oder der Gemeinschaft schadet. Das erinnert an John Deweys Demokratietheorie, welche Demokratie ebenfalls als »reflexive Kooperation« (Honneth 1999) versteht und dafür den Medien eine zentrale Rolle als Meinungsbildungsinstrument zuschreibt. Dieser deliberative Verweis auf die Medien enthält bereits perfektionistische Annahmen: Schon Dewey (1927) wollte zwar den technokratischen Elitismus Lippmanns kritisieren, musste für das Zustandekommen der »Great Community« jedoch ebenfalls voraussetzen, dass die Medien diesen Zweck – der Ermöglichung der rationalen Bildung eines Gemeinwillens – tatsächlich nachkommen.50 George kann daher auch die Presse- und Versammlungsfreiheit mit perfektionistischen Gründen stützen und im Zweifelsfalle begründet begrenzen: »An overbroad and content-neutral right [to assemble, CH] might leave the government in a state of frustrated ineffectuality, afraid to take proper steps to combat wrongful conduct which it fears is also protected conduct« (George 1993: 219).
Das ist wohl wenig kontrovers – erinnert sei nur an die deutschen Versuche, die NPD zu verbieten. Brenzliger wird es hingegen beim Recht auf Privatsphäre, einem liberalen Glutkern. Auch hier gilt die Doppelstrategie von Begründung und Begrenzung. Eine Privatsphäre (George nennt es »interiority«, 211) sei wichtig für die Selbstentwicklung der Individuen (»Individual self-development«): »To achieve valuable personal integration, people typically need a significant measure of security form invasions of their private space as well as their private records and information« (1993: 214).
Ohne eine solche könne es keine wertvolle Kooperation geben, da Kooperation stets eine zwischen eigenständigen Personen sei. Dieses Recht wird
—————— 50 Sogar nach Jürgen Habermas muss ja nicht nur die Öffentlichkeit bestimmte Dinge »lernen«, sondern werden auch die Individuen durch diese Mediennutzung politisch ›perfektioniert‹: Sobald sich »Leser, Hörer und Zuschauer … auf kulturelle oder politische Programme einlassen …, setzen sie sich gewissermaßen autopaternalistisch einem Lernprozess mit unbestimmtem Ausgang aus. Im Verlauf einer jahrelangen Lektüre bilden sich neue Präferenzen, Überzeugungen und Wertorientierungen aus« (2008: 133).
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auch auf Gemeinschaften ausgedehnt (Familien, Firmen, Vereine etc.). Wenn diese Privatsphäre allerdings zu wertlosen Tätigkeiten genutzt werde, haben sie kein »moralisches Recht« mehr (215). Es gibt dann nur noch einen pragmatischen Grund, sie zu schützen: wenn sie bereits verletzt werden muss, um festzustellen, ob die Tätigkeit wertvoll oder wertlos ist, dann gibt es einen starken Grund dafür, sie nicht zu gefährden. Gibt es aber starke Anhaltspunkte für ein wertloses oder unmoralisches Verhalten, hat George wenig Skrupel: »There is a descriptive sense of privacy [im Gegensatz zum normativen Verständnis, CH] … which includes all sorts of wrongful concealment, unjust refusals to release information that others are entitled to have, manipulation, lying, and so forth. Activities of this sort are valueless and merit no protection as such … There is no moral compulsion to respect the privacy of a terrorist who is building a bomb, or a gang of thieves planning a robbery, or even parents who are abusing or neglecting their children« (George 1993: 215).
Brenzlig an dieser Stelle ist der konservative Subtext, den George nicht an dieser Stelle, aber an einer anderen etwas weiter vorher durchblicken lässt. Dort werden – erneut – sexuelle Praktiken, die mit den Moralvorstellungen dieses Naturrechts nicht übereinstimmen, auf eine Stufe mit Dieben und Terroristen gestellt, da auch dieses Verhalten den Schutz der Privatsphäre nicht für sich in Anspruch nehmen könne: »Liberals typically suppose that governments violate fundamental human rights when they ban or unduly restrict such things as abortion, contraception, pornography, fornication, and sodomy. … In landmark cases, federal courts have struck down state laws restricting abortion, contraception, and pornography as unconstitutional violations of a ›right to privacy‹« (95).
Die Folgerung ist klar: Da dies für George keine wertvollen, sondern unmoralische Tätigkeiten sind, stehen sie nicht unter dem Schutz der Privatsphäre. Menschen, die so etwas tun, haben kein Recht auf eine Privatsphäre, da diese vom Wert der dort praktizierten Dinge abhängt. Das ist nun tatsächlich ein Paternalismus: George möchte das Gute auch dieser Menschen, nur ist es ein Gut, von dem sie gar nichts wissen wollen. George bestreitet gar nicht, dass dies paternalistisch sei, sondern lediglich, dass dieser Paternalismus ungerecht sei: »The paternalism involved in a decision to intervene in person’s lives to prevent them from demeaning, degrading, or destroying themselves by their own wrongful choices might very well, as Finnis suggests, be motivated precisely by an appreciation of their equal worth and dignity« (97, nach Finnis 1981: 222f. und 1987).
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Hier wird also nicht nur eine Meinung darüber geäußert, dass z.B. Onanie unmoralisch sei, sonders es wird darüber hinaus die These vertreten, dass es anzustreben sei, dass Staaten ein solches Verhalten verböten. Das ist starker Tobak – Rawls belegt ein solches Verhalten (»attempting to impose their own comprehensive doctrine, which a majority of other citizens who follow public reason do not accept«) mit seinem schlimmsten Wort: es sei »unreasonable« (Rawls 1993: lvii; s.u., III.2). Solche Stellen müssen in der Tat hellhörig dafür machen, wenn Georges Grundrechtskatalog – wie wir oben sahen – mit dem einzigen »civil right« schließt, dem ein »basic good« direkt korreliert. Denn dieser Umstand macht dieses Recht gegenüber den anderen, jeweils nur bedingten Rechten stärker (es ist »absolut«, 222). Es handelt sich um das Recht auf Religionsfreiheit, deren Gebrauch wir in der Manhattan Declaration bereits kennen gelernt haben. Dieser Kampf bleibt in der abgekühlten theoretischen Fassung nicht nur greifbar, er bestimmt auch den Aufbau der Güter und Grundrechte. In gewisser Weise ist diese Politisierung der Theorie konsequent für eine Auffassung, die Rawls’ These bestreitet, es könne weltanschaulich neutrale Grundlagen der Politik geben. Zugleich jedoch widerstreitet dies dem eigenen Anspruch, nicht parteilich, sondern rein rational zu argumentieren.
Zwischenfazit einer Herausforderung Obwohl Georges perfektionistische Grundlegung der civil rights zunächst überzeugend klingt, solange sie theoretisch bleibt, schwingt dabei ein paternalistischer Subtext mit, der sich hermeneutisch rasch entschlüsseln lässt, sobald man die Kontexte berücksichtigt. Dieser Perfektionismus stützt sich auf eine restriktive katholische Sexualmoral, die nicht als persönliche Glaubenssache aufgefasst wird, sondern als allgemein verbindliche Moralvorstellung auch solchen Menschen aufgezwungen werden soll, die nicht dieser Meinung sind; die nicht oder auf andere Weise katholisch oder christlich sind.51 Wohlgemerkt: Nicht der Glaube soll ihnen aufgezwungen werden, wohl aber bestimmte – jedoch stark umstrittene – Kernelemente der Moral, die nach einer sehr speziellen Auslegung aus ihm folgen. Das
—————— 51 George würde natürlich bestreiten, dass es sich um eine »Meinung« handelt; so wie viele andere vermutlich sagen würden, das allgemeine Tötungsverbot sei kein bloße Meinung, sondern eine feste moralische Grundlage allen menschlichen Zusammenlebens (mit Ausnahme der Todesstrafe und von Kriegen), die darum mit Staatsgewalt erzwingbar sei. George dehnt diesen Bereich lediglich weiter aus.
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entspricht ironischerweise dem »Übersetzungsvorbehalt«, den Habermas als Faustregel aus der Rawlsschen Theorie abgeleitet und kritisiert hat.52 George hält sich, heißt das, an diese liberale Regel: »Auch wenn die Beiträge von religiöser Seite in der politischen Öffentlichkeit keiner Selbstzensur unterliegen, sind sie auf kooperative Übersetzungsleistungen angewiesen. Denn ohne eine gelingende Übersetzung besteht keine Aussicht, dass der Gehalt religiöser Stimmen in die Agenden und Verhandlungen staatlicher Institutionen Eingang findet und im weiteren politischen Prozess ›zählt‹« (Habermas 2005: 138).
Was lässt sich aus dieser ersten Diskussion eines waschechten Perfektionisten lernen? Zunächst dies, dass die Kritik an freischwebenden Konzeptionen auch auf den Perfektionismus ausgedehnt werden muss. Man hat ihn solange noch nicht voll erfasst, wie man nicht weiß, was aus ihm praktisch-politisch folgen würde. Genau diese Ebene wird von den weiter unten betrachteten Perfektionisten gering geachtet oder als Anwendungsfrage missdeutet, obwohl sie gerade für den Perfektionismus entscheidend ist. Nicht nur, damit der Leser versteht, was überhaupt gemeint ist, braucht es einen »Hof« empirischer Beispiele, sondern schon auf der theoretischsystematischen Ebene nimmt der Perfektionismus sozialtheoretische und anthropologische Überlegungen in Anspruch, die daher klar ausgewiesen werden sollten. Dieses Desiderat müssen wir in die Folgekapitel hinübernehmen und zur Not selbst verlängern, was in der jeweiligen Theorie empirisch vorausgesetzt ist oder werden muss, um Sinn zu machen. Zweifelhaft geworden ist schon jetzt, ob diesem konservativen Perfektionismus abstrakt geantwortet werden kann, wie dies Rawls in überaus einflussreicher Weise versucht hat. Dieser ersten Antwort auf den konservativen Perfektionismus werden wir uns nun zuwenden.
—————— 52 Rawls’ Versuchs, religiöse Anliegen aus der Politik auszusortieren, sei »unzumutbar« (Habermas 2005: 135).
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2. Skepsis gegenüber dem Guten: Die Neutralitätsthese Rawls’ Neuentwurf als missglückte Antwort auf Michael Sandel In seiner berühmten Kritik von 1982, die schon George zitierte, hatte Michael Sandel behauptet, dass Rawls in der ersten Version seiner Gerechtigkeitstheorie von 1971 eine eigene Theorie des Guten voraussetze: eine ›Metaphysik‹ des Selbst, die es als von allen Zusammenhängen und Bindungen unabhängigen Akteur modelliere, der in der Folge erst seine Ziele »wählen« würde (wie ein Konsument Güter wählt).1 Die Aussagen über die gerechte Gesellschaft in der Theory of Justice seien daher nur eine Verlängerung eines bestimmten moralischen Ideals: »It is precisely because we are free and independent selves, capable of choosing our own ends, that we need a framework of rights that is neutral among ends«.2 Sandel empfand das als problematisch, weil es die falsche Vorstellung des Selbst war und damit eine falsche Theorie des Guten verkörperte, der er eine andere, bessere Theorie an die Seite stellen wollte.3 Für Rawls jedoch hatte diese Kritik noch eine andere Bedeutung. Schon in der ersten Version hatte er sich für einen Primat des Rechten vor dem Guten eingesetzt: »For the self is prior to the ends which are affirmed by it; even a dominant end must be chosen from among numerous possibilities. … We should therefore reverse the relation between the right and the good proposed by teleological doctrines and view the right as prior« (Rawls 1971: 491).
Mit dem Nachweis, dass seine Theorie des Rechten selbst von einer Theorie des Guten abhing – im späteren Jargon: dass seine erste Version ein »comprehensive liberalism« war (Rawls 1993: 37, vgl. xvii), schien das ganze Projekt inkonsistent zu sein. Es bedurfte daher eines Versuches, die Theorie der Gerechtigkeit auf eine nochmals abstraktere Stufe zu heben. Bereits die erste Version wollte den bereits abgehobenen Kontraktualismus von Locke und Rousseau auf eine höhere Abstraktionsebene stellen (1971: 3/1975: 19). Dass der neue Entwurf nun noch abstrakter sein soll, klingt zunächst ungewöhnlich – immerhin steht er in dem Ruf, realistischer zu sein als der erste, weil er sich der »politischen Kultur« öffnet und die Verständnisse weniger theoretisch modelliert (nicht mehr durch Anleihen bei
—————— 1 Sandel 1998: 118f.; in Malachuk 2005: 14; cf. Sandel 1982: 165f. 2 Die Abhängigkeit von der orthodoxen neoklassischen Ökonomie war von Marxisten ebenfalls früh moniert worden, was leider unterging. Siehe dazu Henning 2005: 463ff. 3 Siehe noch Sandels alternative Theorie der Gerechtigkeit von 2010.
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rational choice und Spieltheorie, wie 1971), sondern sie nun als »implizit« gegeben annimmt (1993: 13, 223).4 Allerdings wird bei dieser Interpretation übersehen, dass Rawls gerade versucht, sich von einer eigenen Theorie des Guten (oder »comprehensive doctrine«) zu lösen. Eine solche wäre im Alltagsleben noch irgendwie greifbar, selbst wenn wir die spezielle Version nicht teilen würden. Doch Rawls möchte nun vielmehr eine davon gelöste, »freistehende« Konzeption entwerfen. Damit geht er den Weg vom inhaltlichen »Guten« zum davon unabhängigen »Gerechten«. Dadurch wird die Theorie noch abstrakter. Für den Perfektionismus bedeutet dies, dass er keine eigene inhaltliche Kritik bekommt wie noch 1971. Vielmehr wird er von vornherein (wenn man will: apriori) ausgesondert. Diese Aussonderung vollzieht sich nicht mehr über Inhalte innerhalb einer materialen Theorie, sondern nur noch über den Typus von Theorie, dem der Perfektionismus zugerechnet wird. Da der Perfektionismus eine Theorie des Guten ist, soll er zumindest in politischen Fragen, wie sie Rawls versteht (Fragen, die »constitutional essentials« wie die Grundstruktur betreffen, 1993: 11; 227f.), nichts mehr zu sagen haben – unabhängig davon, was genau er eigentlich zu sagen hätte. Daher kann es überraschen, dass der Perfektionismus auch in dieser Version ein Hauptgegner bleibt. Bereits auf den ersten Seiten des neuen Buches, unter dem Titel »fundamental ideas«, bemerkt Rawls, dass es zu einer Konzeption der politisch-liberalen Gerechtigkeit in seinem Sinne gehöre, dass die »basic rights, liberties and opportunities« einen Vorrang hätten vor anderen Forderungen – »especially with respect to claims of the general good and of perfection (1993: 6). Der »Anti-Perfektionismus« (George 1999: 197) ist ein überaus prägender Zug des Rawlsschen Werkes. Interessanterweise beginnt eine Verteidigung des Perfektionismus gegen die »modern culture of skepticism« (Malachuk 2005: 11) mit der Beobachtung, dass Rawls in der Umstellung seiner Gerechtigkeitstheorie zwischen 1971 und 1993 verschweige, welch große Rolle die kommunitaristische Kritik dafür gespielt habe. Tatsächlich beinhaltet der Wandel zwischen den Büchern eine Antwort auf Kritiken. Es ist zunächst eine Antwort auf Sandel. Rawls bescheinigt Sandel ein »Missverständnis«: »I believe this to be an illusion caused by not seeing the original position as a device of representation. The veil of ignorance … has no specific metaphysical impli-
—————— 4 Dadurch wird das Buch übrigens eher konservativer, da es noch weniger Mittel gibt, »presently accepted general beliefs« (Rawls 1993: 224) zu hinterfragen.
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cations concerning the nature of the self; it does not imply that the self is ontologically prior to the facts about persons that the parties are excluded from knowing. We can … enter this position at any time« (Rawls 1993: 28).
Sandel hat wenig Grund, davon beeindruckt zu sein: Zunächst deswegen, weil die Behauptung, dass »wir« jederzeit in den Urzustand hinein könnten, genau das zeigt, was Sandel kritisieren möchte – nämlich dass das Selbst hier noch immer als ungebunden gedacht wird. Wenn wir theoretisch unterstellen, die Gesellschaft sei das Ergebnis von Wahlhandlungen ungebundener, ›autochthoner‹ Akteure, die jederzeit alles zur Disposition stellen könnten, kann das zu einer Glorifizierung der bestehenden Verhältnisse führen, da wir damit die »bargaining advantages« (23) und Vorurteile fortabstrahieren, die es in der Realität nun einmal gibt. Rawls’ Versuch, sich den bestehenden Verhältnissen zumindest über die Berücksichtigung dessen anzunähern, was die Leute faktisch glauben (224), wird durchkreuzt von der alten Idee, eine gerechtigkeitsrelevante Objektivität sei am besten durch Unkenntnis der Fakten herzustellen.5 Zwar gibt es manche »Fakten«, die Rawls zulassen möchte (etwa die der »commonsense political sociology, 1993: 193, vgl. 119 und 225), aber andere Fakten wie die soziale Lage oder kulturelle Hintergründe der Akteure weist er zurück.6 Sein Konzept der »Objektivität« hat sich von den Fakten unabhängig erklärt: Es ist bereits erfüllt, wenn eine Auffassung »reasonable« ist – wenn man annehmen kann, dass die Mitbürger sie im Prinzip ebenfalls annehmen könnten (was jedoch auch George und Finnis von ihren Konzepten glauben): »With his, political liberalism has an account of objectivity that suffices for the purposes of a political conception of justice … it need not go beyond its conception of a reasonable judgement« (116).
Genauso wie es bei Theorien des Guten im Urzustand nicht wichtig sei, was die Leute glauben, sondern dass sie es glauben (s.u., II.1), so ist es für die Objektivität von Auffassungen nicht wichtig, was sie besagen, sondern dass sie von den Bürgern ausgesagt werden. Das wiederholt den Vorwurf Sandels nur mit anderen Worten. Zudem ist es kaum hilfreich, Sandel eine »Illusion« zu bescheinigen, wenn Rawls einen Atemzug später selbst eine
—————— 5 Oder wird er so bestätigt? Der Glaube der Menschen muss nicht auf Fakten basieren. 6 Informationen, die aus den Universitäten und Wissenschaften kommen, sind für Rawls »nonpublic reasons«, zählen also politisch nicht (221). Das wirft die Frage nach der Entscheidungsregel auf, nach der Rawls »Fakten« zulässt. Wenn es nur solche sind, die seine Theorie stützen können, so wäre dies ein Verifikationismus.
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Illusion beschwört: der Naturzustand sei lediglich ein Mittel der Darstellung (»a device of representation«). Rawls sagt explizit, anscheiend ohne sich der Ironie bewusst zu sein: »wir simulieren«: »When … we simulate being in the original position, our reasoning no more commits us to a particular metaphysical doctrine about the nature of the self than our acting a part in play, say of Macbeth« (Rawls 1993: 27).
Diesem Beispiel entgeht der Witz der Theatermetapher: natürlich stellen wir keine Metaphysik des Selbst auf, wenn wir einmal Macbeth spielen. Doch dass wir im Alltag heute jederzeit Rollen spielen müssen, auch solche, die uns nicht liegen, sondern die uns ökonomische Sachzwänge in steigendem Maße aufzwingen und kaum mehr eine »Rollendistanz« (Goffman) erlauben, das hat durchaus Konsequenzen für die Subjekte – und damit auch für die Vorstellung davon, was Subjektivität überhaupt ist (s.o., IV.4). Es untergräbt die nicht-simulierten, wenn man will: die ›authentischen‹ Bindungen, die Menschen haben (ähnlich MacIntyre 1999). Und schließlich ist das zweite Buch von Rawls (1993), wie wir sehen werden, erneut derart voller Bezüge auf das Gute, Tugenden, Werte und Ideale, dass die Kritik von Sandel auch in diesem Punkt im Recht bleibt – es wird eine Theorie des Guten verallgemeinert und gegen andere Theorien gestellt, mit dem Argument, dass sie nicht nur partikular, sondern vielmehr allgemein und vernünftig sei, während andere dies nicht seien. Das kann nur so lange funktionieren, wie man den anderen Theorien nicht erlaubt, sich ebenfalls zu universalisieren und Freiheit und Gleichheit auf ihre Weise auszubuchstabieren. Warum es nicht möglich sein soll, eine utilitaristische, intuitionistische oder perfektionistische Theorie der Demokratie und der Freiheitsrechte zu formulieren und gegen Einwände zu verteidigen (also als »reasonable« zu erweisen), das nachzuvollziehen fällt unbefangenen Lesern etwas schwer. Um etwas Last von Sandels Schultern zu nehmen, sei auf eine weniger bekannte Kritik hingewiesen. Schon Kai Nielsen formulierte Kritikpunkte, die auf Rawls’ spätere Wende vorweisen: Zunächst wendet Nielsen (1977: 132) ein, dass das Konzept geschwächt werde, wenn es keine Argumente für die Wahl der Grundsätze gebe. Daneben sei die Konstruktion des Urzustands allzu durchsichtig: »To set it up so that they must do so, and then to point out that such people will choose the principle of greatest liberty rather than the principle of perfection, is too obvious a gerrymandering to require further comment« (Nielsen 1977: 134).
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Dass diese Wahl jedoch für »rational, impartial people in everyday life« gerade nicht einleuchtend sei, gibt Anlass für ein »seriously questioning the use of that methodological device« (Nielsen 1977: 133; siehe George). So hat Rawls 1993 versucht, sich den realen Gegebenheiten anzunähern. Sogar Rawls’ eigene Theorie des Guten, die das ganze Buch antreibt, wird bereits hinterfragt: »Why should we accept as normative for humankind the considered convictions of his particular group?« (Nielsen 1977: 136). Die Kritik von Sandel und anderen muss so stark gewirkt haben, dass Rawls es sich zur Aufgabe macht, sie auszuhebeln (»[t]o rebut claims of this nature«, 1993: 29). Er tut dies, indem er die Zweiteilung zwischen Theorien des Guten und des Gerechten weiter ausbaut und nun ganz auf die zweite Hälfte setzt. Es entsteht ein grundlegender epistemischer und moralischer Dualismus: Auf der einen Seite, die es nicht mehr in den politischen Liberalismus schafft, stehen (in den Worten von Rawls) Theorien des Guten, Doktrinen, Metaphysiken und Religionen, Gründe, Wahrheiten und Transzendenzannahmen. Auf der anderen Seite stehen Ideen, Ideale, Prinzipien, Pflichten und eine bestimmte Form der Vernunft.7 Diese »public reason« (1993: 212ff.) ist zugleich der Filter, der das eine vom anderen trennen soll. Public reason meint dabei eine Form der Vernunft, die nicht nur die eigenen Interessen verfolgt, wie nach Rawls’ Verständnis ›die‹ Rationalität (50),8 sondern die auch eine gewisse »moral sensibility« mitbringt (51) und sich in andere hineinversetzen kann. Man darf in politischen Debatten, zumindest wenn es um »constitutional essentials« geht, nur solche Vorschläge machen, von denen man annehmen kann, dass alle Mitbürger sie mittragen könnten. Das bezieht sich neben Menschen in öffentlichen Ämtern und Parteien auch auf Wähler: »Thus, the ideal of public reason not only governs the public discourse of elections insofar as the issues involve those fundamental questions, but also how citizens are to cast their vote on these questions« (Rawls 1993: 215, vgl. 219).9
Rawls sagt genauer: vernünftig ist nur das, von dem man vernünftigerweise annehmen kann, dass die anderen es vernünftigerweise ebenfalls annehmen können würden (1993: li):
—————— 7 Hier wird deutlich, warum Rawls als Kantianer gilt. Genauer handelt es sich um Prinzipien der Gerechtigkeit und der Legitimität (1993: 243), Pflichten der Toleranz und der »civility« (242), Ideale der Demokratie (253) und der öffentlichen Vernunft sowie um Ideen u.a. der wohlgeordneten Gesellschaft (35) und Reziprozität (16). 8 Hier scheint Rawls nach wie vor von Annahme des rational choice geprägt zu sein. 9 Ist es besonders liberal, Menschen vorzuschreiben, wie sie zu wählen haben?
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»it is normally desirable that the comprehensive philosophical and moral views … should give way in public life. Public reason … is now best guided by a political conception the principles and values of which all citizens can endorse« (1993: 10) oder »can reasonably be expected to endorse« (225, ähnlich 137, 140, 217, 243).
Hier wird der Gebrauch des Wortes »vernünftig« tautologisch.10 Wir bräuchten daher ein Kriterium dafür, um zu entscheiden, wann eigentlich eine Auffassung von anderen mitgetragen werden kann (oder wann wir vernünftigerweise annehmen können, dass sie sie vernünftigerweise mittragen würden). Genau ein solches Kriterium hatte George vermisst: »This means that each of us must have, and be ready to explain, a criterion of what principles and guidelines we think other citizens (who are also free and equal) may reasonably be expected to endorse along with us. We must have some test we are ready to state as to when this condition is met« (Rawls 1993: 226).
Was könnte ein solches Kriterium sein? Man könnte, wie es George vorgeschlagen hat, über den Inhalt der Aussagen gehen und behaupten, das, was von uns mit Gründen als wahr angenommen wird, sollte auch von anderen als wahr erkannt werden können. Wir können ja erwarten, dass die anderen die Wahrheit einsehen. Über den Anspruch auf Politizität kann ich dann nur entscheiden, wenn ich mich in die Niederungen der Empirie begebe (um welche es in Georges eigenen Behauptungen nicht gut bestellt ist). Rawls jedoch hat die Wahrheitsansprüche der Theorien des Guten verabschiedet (218) und muss daher einen anderen Weg gehen. Bei diesem Weg allerdings eskaliert seine Neigung, Tautologien zu bemühen: »I have elsewhere suggested as a criterion the values expressed by the principles and guidelines that would be agreed to in the original position« (227). Der Urzustand soll helfen, die richtige Gerechtigkeitstheorie zu wählen (nämlich seine), da in ihm noch andere Theorien zur Auswahl stehen. Doch um dies leisten zu können, sollen Theorien des Guten aus ihm gerade herausgehalten werden. Um den Urzustand zu definieren, brauche ich daher bereits dasjenige Kriterium, dass nun erst aus dem Urzustand hervorgehen soll. Hier verstrickt sich Rawls in merkwürdig zirkuläre Argumentationsketten. Nicht nur setzt er voraus, was gesucht wird (ein Kriterium dafür, wann eine Anschauung erwarten darf, von anderen mitgetragen zu werden – wenn er nicht einfach seine eigenen Vorstellungen an diese Stelle setzen möchte), er genügt auch seinen eigenen Maßgaben nicht:
—————— 10 Tautologien gibt es einige, wie hier: »The political conception is to be … political, not metaphysical« (Rawls 1993: 10).
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Pikanterweise gibt Rawls zu, dass das Kriterium für die Festlegung dieser Grenze, welche ja bestimmt, was politisch zugelassen wird und was nicht, selbst nicht von allen Bürgern mitgetragen wird. »Many will prefer another criterion. Of course, we may find that actually others fail to endorse the principles and guidelines our criterion selects. That is to be expected« (Rawls 1993: 227).11
Wenn wir keinen Grund haben für die Annahme, dass die Anderen unser Kriterium mittragen würden, dürften wir es nach Rawlsschen Maßstäben nicht in die politische Auseinandersetzung einbringen; schon gar nicht in eine Schiedsrichter-Theorie, die begrenzen möchte, welche Argumente in einer solchen Auseinandersetzung zählen sollen und welche nicht. Denn eine solche Theorie ist nicht nur politisch, sie ist meta-politisch, weil sie die Spielregeln der Politik betrifft (»constitutional essentials« im Wortsinne). Das Setzen der Spielregeln ist kein schwächerer, sondern ein stärkerer Sinn von Politik als das bloße Spielen nach Regeln. Man kann sich daher kaum des Eindruck erwehren, dass dieser Neuentwurf Mühe hat, gegen die bleibende Kritik von Sandel etwas aufzubieten. Sandel nämlich hätte keine Mühe, ein solches Kriterium anzubieten – auch wenn er es für seine eigene Theorie nicht braucht: Wir können dann annehmen, dass die anderen unsere Vorschläge mittragen können, wenn wir auf dem Boden einer gemeinsamen, aber inhaltlich fundierten »public philosophy« stehen (Sandel 2006). Diesen Punkt hat auch Joseph Raz aufgeworfen, und dazu einen weiteren: »even though different people differ in their conception of the good, it does not follow that in a given culture … there are no common elements in their varying conceptions of the good. Such common elements need not be excluded by the veil of ignorance since their presence does not jeopardize the social role of the doctrine of justice. Second, in particular it is possible that there is a wide measure of agreement concerning the modes of reasoning by which ideals of the good are to be evaluated« (Raz 1986: 128).
Selbst dann also, wenn es eine verbindende »public philosophy« noch nicht gibt (wie im Urzustand), oder nicht mehr gibt (wie in der entsolidarisierten Gesellschaft), lässt sich annehmen, dass die Menschen eine solche wollen und daher beschließen könnten, sie nach einer von allen geteilten Methode zu suchen (Raz 1986: 126). Auf diesem Spielfeld scheint das Lager von Sandel nach wie vor der Sieger zu bleiben.
—————— 11 Siehe bereits 1971: 14: »The problem of the choice of principles, however, is extremely difficult. I do not expect the answer I shall suggest to be convincing to everyone«.
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Rawls’ Neuentwurf als Antwort auf Finnis und George Neben dieser missglückten Antwort auf Sandel kann man Rawls’ Neuentwurf auch als Antwort auf die Ideen von Grisez, Finnis und George lesen. Besonders an Stellen, die deutlich machen sollen, wie der vorgeschlagene Filtermechanismus zwischen allgemein-politikfähigen und partikular-weltanschaulichen Doktrinen genau funktioniert, lassen sich Bezüge auf konservativ-religiöse Moraltheorien mit Händen greifen. Um diesen Bezug einzuordnen, ist vorab zu vergegenwärtigen, dass es – dem ersten Augenschein entgegen – erstaunliche Parallelen zwischen diesen Theorien gibt: Es beginnt damit, dass den »basic goods« bei Finnis und George bei Rawls »basic liberties« gegenüberstehen (1993: 331ff.). Diese Basisdaten legen in beiden Ansätzen fest, wie stark ein bestimmtes Recht jeweils werden kann.12 Korreliert ihm nichts mit dem Adjektiv »basic«, hat es weniger Wert als wenn das der Fall ist. Unter diesen »basic goods« oder »liberties« haben einige einen »absoluten« Status.13 Das Wissen um diese Dinge beruht in beiden Konzeptionen auf der Annahme einer gemeinsamen Menschenvernunft (»common human reason«, Rawls 1993: 137, 220). Die Herabstufung der Gefühle, die bei George und Finnis so unangenehm aufgestoßen ist, findet sich in anderer Form auch bei Rawls (1993: 190). Und schließlich ist sogar der Anspruch vergleichbar: Es soll grundlegend klar gemacht werden, worum es in der Politik geht, um ihr damit zugleich Richtung und Grenzen zu weisen. Das soll keine These über ein Abhängigkeitsverhältnis oder eine Verwandtschaft zwischen beiden Ansätzen aufstellen, sondern lediglich plausibilisieren, dass theoretisch derart parallel aufgebaute und zugleich politisch entgegengesetzte Ansätze zumindest eine gewisse Sensibilität füreinander aufweisen dürften. So erklärt sich vielleicht, dass Rawls sich ein Hauptthema dieser Schriften herausgreift, um zu zeigen, wogegen seine Theorie gerichtet ist. Sehen wir uns das näher an. Das Schlimmste, was Rawls sich in diesem Buch vorstellen kann, ist ein unvernünftiger Gebrauch von Macht. Daher wird »Unvernunft« schon jenseits der Macht zu etwas Bedrohlichem; also schon dann, wenn eine
—————— 12 Diese dienen sogar bei Rawls einer Entwicklung (332). Die »primary goods« (1993: 178ff.) haben in der Neuauflage eher einen untergeordneten Status. 13 Bei Rawls ist zwar keine einzelne der basic liberties »absolut« gegen eine andere (295), wohl aber sind sie dies zusammen gegen andere Ansprüche: »They have an absolute weight with respect to reasons of public good and of perfectionist values« (Rawls 1993: 294). Sie haben dies für Rawls, weil sie so gewählt würden, aber die Frage bleibt offen: warum würden sie gewählt?
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Gruppe gar nicht die Macht hat, sondern lediglich Programme aufstellt. Das mag paranoid klingen, dabei hat es etwas Vergleichsweise beruhigendes an sich: Anders als Foucault kann sich Rawls nicht vorstellen, dass Menschen auch im Namen der Vernunft beherrscht, ausgeschlossen oder unterdrückt werden. Als habe es keine Vernunftkritik gegeben, sind die Fronten hier klar: Man muss nur die Unvernunft ausschließen, und man ist auf der sicheren Seite. Worin besteht allerdings die Unvernunft? Sie besteht darin, Werte und Prinzipien zu vertreten, von denen man nicht (vernünftigerweise) erwarten kann, dass die anderen Bürger sie (vernünftigerweise) mittragen würden.14 Sollten solche Menschen zur Macht kommen, würde von ihnen daher ungerechtfertigte – also unvernünftige Macht ausgehen: »Beyond this, reasonable persons will think it unreasonable to use political power, should they possess it, to repress comprehensive views that are not unreasonable, though different from their own« (Rawls 1993: 60, ähnlich 61).15 »When there is a plurality of reasonable doctrines, it is unreasonable or worse to want to use the sanctions of state power to correct, or to punish, those who disagree with us« (1993: 138).
Rawls gibt nun zu, dass mit diesem Vernunftfilter noch nicht determiniert ist, welche Entscheidung genau getroffen wird, denn es bleiben in der Regel noch verschiedene Möglichkeiten. Wie die Balance verschiedener vernünftiger Werte zu treffen sei, bleibe offen und sei – gut protestantisch – eine Frage des individuellen Gewissens (243). Oder doch nicht? Rawls ist hier nicht ganz klar. Es gebe nämlich auch Fälle, in denen schon die Balance eigentlich vernünftiger Werte unvernünftig werde: Obwohl nur »vernünftige« Werte im Spiel sind, kann dann nicht erwartet werden, dass ihre Rangordnung von allen mitgetragen würde. Dieser Fall sollte eigentlich unmöglich sein: Erstens, weil in eine Gewissensfrage nicht weiter eingegriffen werden darf, und zweitens, weil das Anbringen vernünftiger Argumente nicht garantiert, dass eine bestimmte Entscheidung nach diesen Argumenten getroffen wird. Es geht ja nur darum sicherzustellen, dass beide Seiten ihre Vorschläge auf eine Weise formulieren, die der jeweils anderen Seite
—————— 14 Für die bloße Erwartung, dass die Anderen etwas mittragen würden, müssen diese Anderen nicht gefragt werden, zumal wenn die Definition von »Vernunft« eigens für diesen Zweck konstruiert ist. 15 Unvernünftige Doktrinen darf man unterdrücken, auch wenn sie nicht an der Macht sind? Ist es für Dritte »vernünftig«, wenn unvernünftige Machthaber andere unvernünftige Gruppen unterstützen? So unterstützen einige Nicht-Nazis Hitler dennoch, weil er als eine Versicherung gegen den als noch schlimmer beurteilten Bolschewismus galt.
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zumindest die Möglichkeit lässt, zuzustimmen – oder mit einer Abstimmungsniederlage zu leben. Es wird immer Entscheidungen geben, die nicht von allen mitgetragen werden. Dass Bürger verschiedene Rangordnungen vernünftiger Werte vornehmen, sollte im »politischen Liberalismus« daher der Normalfall sein. Sonst wäre Rawls gezwungen zu behaupten, nur einstimmig beschlossene politische Entscheidungen (die extrem selten sind) seien rechtens. Dennoch behauptet Rawls, es gäbe solche Fälle einer »unvernünftigen« Rangordnung vernünftiger Werte. Zur Veranschaulichung behandelt Rawls in einer Fußnote die Abtreibung. Damit sind wir wieder bei George. Die Werte, die hier ins Spiel kämen, seien der Wert des Lebens, die Reproduktion der Gesellschaft und die Gleichheit der Frauen (nicht: ihr Selbstbestimmungsrecht). Wohlgemerkt: All diese Werte sind von der Instanz der »public reason« bereits abgesegnet worden. Und nun behauptet Rawls, dass darüber hinaus »reasonable«, also im Rechnen auf allgemeines Einverständnis, entschieden werden könne, wie diese Werte in der Politik anzuordnen seien: »any reasonable balance of these three values will give a woman a duly qualified right to decide whether or not to end her pregnancy during the first trimester. The reason for this is that at this early stage of pregnancy the political value of the equality of women is overriding« (Rawls 1993: 243 Fn.).
Was geschieht hier? Rawls sagt nicht: ich bin dieser Meinung, und zwar aus dem-und-dem Grund. Vielmehr sagt er ohne weitere Angabe von Gründen:16 Diese Meinung ist die einzig vernünftige. Das heißt im Umkehrschluss: wer anderer Meinung ist, ist unvernünftig. (Damit sind wir doch bei Foucault angelangt.) Ihm wird nicht mit Argumenten begegnet, sondern er wird aus der Diskussion ausgeschlossen. Das ist eine seltsame Stelle.17 Rawls geht von einer materialen Rangordnung von Werten aus, für die er Argumente anbringen müsste – eben weil sie material ist. Stattdessen gibt er seine Entscheidung als »vernünftig« in dem Sinne aus, dass jeder zustimmen müsste – obwohl gerade hier von vornherein klar ist, dass nicht alle zustimmen würden, da dieses Thema in den USA umstritten ist wie kaum ein anderes. Wir haben es nicht nur mit einer versteckten Abqualifizierung der weltanschaulichen Gegner als unvernünftig zu tun, sondern
—————— 16 Der zweite Satz variiert nur, was der erste schon setzt: er sagt: Das Recht der Frau hat Vorrang, weil es Vorrang hat. Das verwechselt eine Wiederholung mit einem Grund. 17 Im katholischen Jargon heißt das: Eine der Freiheiten ist eben doch absolut: die Selbstbestimmung der Frau. Denn ihr wird das »Lebensrecht« des Embryos, ebenfalls eine »basic liberty«, geopfert. Warum soll eine solche Argumentation »unvernünftig« sein?
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auch mit einer für seine Theorie überaus heiklen Stelle – denn stützt dies nicht erneut den Vorwurf, dass hier lediglich eine bestimmte Theorie des Guten die Schutzzone des Neutralen sucht, um sich desto wirkungsvoller gegen andere Theorien des Guten durchzusetzen?18 Diese Fußnote hat beim katholischen Gegenüber gehörigen Zorn ausgelöst.19 Darum kommt Rawls in einem späteren Vorwort darauf zurück; jedoch ohne seine Position zu verändern. Weiter ist er der Auffassung, es gebe ein »reasonable argument« für ein Recht auf Abtreibung (wofür er eine Quelle zitiert), während er hinter relativierenden Formeln (»Suppose now, for purposes of illustration«) zugleich nahelegt »that there is no equally reasonable balance, or ordering, of the public reasons that argues for the denial of that right« (lvi, Fn.). Wenn er im Fließtext dazu sagt, man müsse in solchen Patt-Situationen einfach wählen (»simply vote«, lv; wohl im Sinne einer Volksabstimmung), dann ändert das seine Position ebensowenig, denn die »public reason« geht ja mit oder ohne Wahl davon aus, dass »alle« Bürger eine bestimmte Auffassung unterschreiben würden. Glaubt Rawls also, es gebe vernünftige Argumente für, aber nicht gegen ein Recht auf Abtreibung, so ist das bei seinem Verständnis von Vernunft gleichbedeutend mit der Aussage: Es gab bereits eine Wahl, und sie fiel für ein solches Recht aus. Die Sache ist also für Rawls immer schon entschieden: »the outcome of the vote is to be seen as reasonable [sic] provided all citizens of a reasonably just constitutional regime sincerely vote in accordance with the idea of public reason. … Some may, of course, reject a decision, as Catholics may reject a decision to grant a right to abortion. They may present an argument in public reason for denying it and fail to win majority. … They can recognize the right as belonging to legitimate law and therefore do not resist it with force. To do that would be unreasonable: it would mean their attempting to impose their own comprehensive doctrine, which a majority of other citizens who follow public reason do not accept« (Rawls 1993: lvi f.).
Was würde Rawls jedoch sagen, wenn die Wahl gegen ihn ausfällt? (Was die Schwulenehe angeht, wechselt die Politik der US-Staaten ständig, auch durch Volksabstimmungen.) Er käme in eine Zwickmühle: Entweder müsste er diese Entscheidung dann als vernünftig bezeichnen, was ihm aber schwerfallen dürfte, da er an anderer Stelle eine materiale Wertordnung dagegenstellt. Oder er müsste eine rechtmäßig zustande gekommene
—————— 18 Ich will keine bestimmte Entscheidung nahelegen, sondern nur darauf hinaus, dass diese Frage ohne weitere empirische Informationen nicht zu entscheiden ist. 19 Siehe George 1999: 196ff.; George/Wolfe 2000: 51ff.; Finnis 2011: 256–275 (cf. II.1).
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Entscheidung als unvernünftig hinstellen. Beides stellt seine Theorie vor Probleme. Der Verdacht kommt auf, dass diese Position weder Fisch noch Fleisch ist: weder verlässt sie sich auf den Wählerwillen, da dieser ja unvernünftig sein kann, noch vermag sie anzugeben, worin diese Vernunft denn bestehen soll – außer eben darin, dass etwas gewählt würde. So etwas kann man nur solange behaupten, wie nicht tatsächlich gewählt wird. Denn wird gewählt und anders entschieden, entfällt jedes »vernünftige« Argument dagegen – jedenfalls solange man »reasonableness« derart eng an die Zustimmung der anderen koppelt, wie Rawls das tut. Müsste Rawls in diesem Fall nicht aus der Deckung kommen und sagen: Seht her, da ist eine Entscheidung gefallen, die falsch ist, und hier sind meine Gründe dagegen? Genau das kann er seiner Theorie nach jedoch nicht.20 Darum ist sie eine unkritische Theorie. Das hatte Auswirkungen auf nachfolgende Theorien: auf Martha Nussbaum wie auf Axel Honneth, weniger aber auf Habermas (2005), der sich an dieser Stelle deutlich von Rawls absetzt. Möglicherweise ist es nicht legitim, von dieser Stelle auf die ganze Theorie zurück zu schließen, da dies ein »heißes« Thema ist, bei dem die Emotionen hochschießen. Dennoch ist sie aufschlussreich für die Theorie: Sobald es konkret wird – und dass es das werden muss, hatten wir aus dem letzten Kapitel als Weisung mitgenommen – wankt die Kernunterscheidung zwischen reiner politischer Vernunft und unreiner weltanschaulicher Unvernunft. Das ist deswegen für unsere Perfektionismusdiskussion relevant, weil Finnis und George paradigmatische Vertreter der konservativen Variante des Perfektionismus sind. Gegen diese hat sich die Strategie, auf einen Filter zu setzen, der Theorien des Guten aus der politischen Auseinandersetzung heraushält, nicht bewährt. Umso weniger ist ein Erfolg zu vermuten, wenn es um perfektionistische Theorien geht, die gegenüber Freiheit und Gleichheit offener sind (III.3). Die Behauptung, der politische Liberalismus sei »freistehend« (1993: 10, 12) und unabhängig von Theorien des Guten, lässt sich nur schwer durchhalten. Das hat gleich zwei Nachteile: Erstens ist in der politischen Auseinandersetzung nichts gewonnen, denn dieser durchsichtige strategische Zug überzeugt nur die eigenen Anhänger, nicht aber die weltanschaulichen Gegner. Und zweitens wird damit versäumt, in die inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem Gegner einzutreten, welche vor Rawls noch ein wichtiger Gegenstand der umfassenden (»comprehensive«) politischen Philosophie war (Sypnowich 2012).
—————— 20 Sie schließt solche Fälle, oder gar die, die anderer Meinung sind, als »unreasonable« aus.
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Ist der Perfektionismus eine sektiererische Theorie des Guten? Das Wanken der zentralen Behauptung der Unabhängigkeit des Gerechten vom Guten ist aber nur die eine Seite, an der die von Rawls aufgemachte Front zwischen politischem Liberalismus und Perfektionismus bröckelt: Auch auf der anderen Seite, der Zuordnung des Perfektionismus zu sektiererischen Weltanschauungen, die vor der »public reason« nicht bestehen könnten, gibt es Zweifel, wie nun zu zeigen ist. Den notwendigen Partikularismus des Perfektionismus hatte Rawls schon 1971 behauptet: »The parties do not share a conception of the good by reference to which the fruition of their powers or even the satisfaction of their desires can be evaluated. They do not have an agreed criterion of perfection that can be used as a principle for choosing between institutions.21 To acknowledge any such standard would be, in effect, to accept a principle that might lead to a lesser religious or other liberty, if not to a loss of freedom altogether to advance many of one’s spiritual ends« (Rawls 1971: 288/1975: 363).
Wie Rawls bei der Gleichheit unterstellt, der Perfektionismus müsse zwangsläufig anti-egalitär sein (1975: 365), und damit einen Großteil des tatsächlichen Perfektionismus verfehlt, so meint er hier, er müsse zwangsläufig illiberal werden. Das setzt allerdings voraus, dass dieser nur bestimmte Entwicklungen fördern kann, aber keine selbstbestimmte Entwicklung oder ganzheitliche Förderung der Individuen. Was bei den Gütern möglich ist, nämlich über die Einführung von »all-purpose-means« Ungerechtigkeiten zu vermeiden (denn wozu diese Mittel gebraucht werden, obliegt den Individuen selbst), sollte eigentlich auch bei Talenten möglich sein. Das war zumindest die klassische Idee der »Bildung«. Man sollte vermuten, der Perfektionismus müsse sich für Rawls, nach dieser doppelten Radikalkritik von 1971, endgültig erledigt haben. Das ist seltsamerweise nicht der Fall. Wir haben gesehen, dass der Perfektionismus für Rawls noch 1993 eine große Rolle spielt, obgleich er ihn auch hier ablehnt. Vermutlich liegt das daran, dass Rawls in ihm einen starken Konkurrenten sieht, dem er sich, wie wir vorgreifend sagen können, sogar anverwandelt. Er ist deswegen so ein starker Gegner, weil er theoretisch (und das kommt im Rawlsschen Universum einem Ritterschlag gleich) auch im Urzustand gewählt werden könnte, wie folgende Stelle verrät:
—————— 21 Dieses fehlt, weil Rawls das per Definition aus dem Urzustand ausschließt. Das besagt für die Realität wenig. Das obige Argument bezog sich übrigens auf Lohngerechtigkeit. Der unmittelbare Sprung von dort in die Religionsfreiheit erscheint etwas gewagt.
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»if we can find a list of liberties which, when made part of the two principles of justice, leads the parties in the original position to agree to these principles rather than to the other principles of justice available to them, then what we may call the ›initial aim‹ of justice as fairness is achieved. This aim is to show that the two principles of justice provide a better understanding of the claims of freedom and equality in a democratic society than the first principles associated with the traditional doctrines of utilitarianism, with perfectionism, or with intuitionism. It is these principles … which are the alternatives available to the parties in the original position« (Rawls 1993: 292: cf. 1971: 14).
Was Rawls hier auf seine repetitive Art sagt ist dies: Den Parteien im Urzustand stehen zwar nicht viele Informationen zur Verfügung – die soziale Lage oder Weltanschauung der von ihnen Vertretenen etwa (»the particular comprehensive doctrine of the person each represents«, 24, cf. 395) sind ihnen 1993 genauso unbekannt wie schon 1971. Dennoch stehen ihnen vier verschiedene Gerechtigkeitsprinzipien zur Auswahl, und darunter ist noch immer der Perfektionismus. Das bedeutet jedoch, dass er nicht einfach eine neben vielen anderen Theorien des Guten sein kann, denn diese werden über den (neuen) epistemischem Filter schon vorab ausgesondert. Er hat offensichtlich einen anderen Status. Darum ist die Kritik von den Freiheitsrechten aus nicht ganz konsistent: Immerhin ist der Perfektionismus in den Urzustand hineingeraten; er muss also hinreichend allgemein sein und entgeht damit sowohl der Kritik von 1971, dass er zwangsläufig ein partikulares Gut verallgemeinern würde, wie auch derjenigen von 1993, dass er als Theorie des Guten gar nicht berücksichtigt zu werden verdiene. Doch warum wird er nicht »gewählt«? Darauf gibt es 1993, wo sich Rawls materiale Argumente weitgehend verbietet, keine befriedigende Antwort mehr. Er sagt nur, dass perfektionistische Prinzipien für die Politik nicht mehr zählen, nachdem seine Variante gewählt wurde; aber das zeigt noch nicht, was zu zeigen ist. Die Parteien müssen immer schon seine Variante gewählt haben, um so wählen zu können – ein weiterer Zirkelschluss: »The priority of liberty implies in practices that a basic liberty can be limited or denied solely for the sake of one or more other basic liberties, and never … for reasons of public good or of perfectionist values« (Rawls 1993: 295).
Aber warum sollte die Rawlssche Variante überhaupt gewählt werden? Es wäre seltsam, wenn sie wegen der »list of liberties« gewählt würde, wie Rawls hier mehr andeutet als ausführt: »Now if but one of the alternative principles of justice available to the parties guarantees equal liberty of conscience, this principle is to be adopted« (1993: 311);
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»freedom of association is required to give effect to liberty of conscience« (313, ähnlich 292).
Warum wäre das seltsam? Erstens lässt sich schwer unterstellen, dass die Leute zuallererst diese Freiheiten haben wollten, ohne bereits vorauszusetzen, was erst zu zeigen wäre – denn dies unterstellt ja bereits, dass die Menschen im Urzustand diejenigen Prinzipien wählen, die diese Vorrangregel aufstellt. Die zu beantwortende Frage war jedoch, warum sie das tun oder tun sollen (»is to be adopted«, sagt Rawls autoritativ). Das ist einmal mehr tautologisch und sagt sinngemäß nur: Weil die Menschen für einen Vorrang der Freiheit sind, wählen sie Prinzipien des Vorrangs der Freiheit. Das beantwortet nicht, warum sie dafür sein sollten. Hier treffen die Einwände von Sandel gegen die erste Version von 1971 noch immer. Zur Erinnerung – dieser hatte bemerkt: »[G]iven the situation, the parties are guaranteed to choose the right principles … their situation is designed in such a way that they are guaranteed to ›wish‹ to choose only certain principles … the principles agreed to are just because only (the) just principles can be agreed to« (Sandel 1982: 127; s.u. zu Nielsen 1977).
Ebenso wenig zeigt dies, was mit dem »if« im vorletzten Zitat nur als Eventualität angenommen wird, nämlich dass diese Freiheiten nur von den Rawlsschen Prinzipien »garantiert« werden können (»only the two principles of justice guarantee the basic liberties«, 319). Warum sollten die anderen das nicht ebenfalls können? Eine Liste von bürgerlichen Grundfreiheiten ließe sich – wie George vorgemacht hat – auch von perfektionistischer Seite formulieren; ebenso von utilitaristischer oder »intuitionistischer« Seite. Rawls müsste an irgendeiner Stelle inhaltlich zeigen, warum das nicht oder nicht genügend der Fall sein kann – doch ich sehe nicht, wo das der Fall wäre. Rawls denkt sich die Grundfreiheiten schließlich nicht aus, sondern entnimmt sie, wie er selbst sagt, der politischen Kultur. (Und dort nehmen sie alle möglichen Menschen in Anspruch, keineswegs nur Rawlsianer.) Ebenso wenig spricht übrigens eine zu erhoffende soziale Gleichheit für die Rawlsschen Grundsätze, denn die neue Version lässt das Differenzprinzip – mehr oder weniger – fallen.22
—————— 22 Rawls ist sich auch hier nicht ganz einig: Zunächst sagt er zwar, unter Verweis auf das Differenzprinzip: »All these elements are still in place, as they were in Theory« (1993: 7). Weiter hinten lässt er das Differenzprinzip jedoch im Stich, da es nicht unter die »constitutional essentials« falle, die Gegenstand einer »public reason« sein könnten (228f.; auch in den Gründen, warum seine Theorie gewählt würde, ist davon keine Rede mehr,
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Und schließlich kann man den Perfektionismus auch nicht deswegen ablehnen, weil er zu viel kosten würde (Rawls befürchtet »a severly and costly apparatus of penal sanctions«; 1993: 317), denn Kostengründe spielen, wie Rawls noch auf derselben Seite betont, im Urzustand keine Rolle. Es bleibt also bei der zentralen Frage, warum die Parteien im Urzustand gerade dies wählen sollten, bei Annahmen (»if«, »suppose« etc.) und Setzungen. Das hat die frühe Kritik von Nielsen bereits ähnlich formuliert: »Why must it be the case … that rational and impartial people with a capacity for the sense of justice must opt for the priority of a principle of equal liberty rather than the priority of a principle of perfection when the two are in conflict? As far as I can see, Rawls has done nothing to show that they must or even that they should« (Nielsen 1977: 135).
Wenn es keine weiteren Gründe gegen den Perfektionismus gibt als die bisher erörterten, dann steht die Rawlssche Ablehnung des Perfektionismus auf erstaunlich schwachen Füßen.
Perfektionistische Elemente bei Rawls Rawls ist somit zwar der berühmteste, überraschenderweise aber nicht der stärkste Kritiker des Perfektionismus. Das könnte daran liegen, dass er selbst (heimlich oder offen) selbst einen Perfektionismus vertritt.23 Ein genaueres Hinsehen zeigt nämlich: Rawls kritisiert zwar einen starken oder strikten Perfektionismus, zugleich jedoch integriert er zahlreiche Elemente eines ›schwachen‹ Perfektionismus in seine eigene Theorie. Ihm kann also gar nicht daran gelegen sein, den Perfektionismus in Grund und Boden zu kritisieren. Er muss lediglich stärkere Versionen kritisieren. Zumindest müsste er das, wie Galston bereits 1991 forderte: »To the extent that justice as fairness rests on a moral ideal … Rawls must defend his theory both against its competitors and against the sort of objections he elsewhere raises against notions of rationally justified final aims. That is, he must enter into precisely that arena of conflicting perfectionist claims that the formal structure of justice as fairness was designed to sidestep« (Galston 1991: 129).
—————— 363ff.). Warum nicht? Und warum beruft sich Rawls dann auf egalitäre Momente, wenn er erläutert, warum im Urzustand seine Prinzipien gewählt würden (317ff.)? 23 Zu Rawls’ »heimlichem Perfektionismus« Jentsch 2009: 41ff., cf. Haksar 1979 und Pauer-Studer 2000: 219ff.
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Zum einen formuliert William Galston damit einen Widerspruch: Rawls wollte materiale Argumente vermeiden, verwendet nun aber selbst solche. Zum anderen fordert er, da Rawls nun materiale Argumente verwendet, auch Begründungen für diese. Es fruchtet nicht, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Parteien im Urzustand genau das wählen würden, was Rawls vorschlägt, denn dies zeigt wenig und lässt sich zudem bestreiten. Gehen wir langsam vor. Welches »moralische Ideal« wird von Rawls zugrunde gelegt, und zu welchem Zweck? – Galstons behauptet dazu, dass neben der Rolle des Guten oder »intrinsischer Güter« im allgemeinen speziell die perfektionistischen Elemente in der zweiten Version24 nicht nur erhalten geblieben, sondern sogar stärker geworden seien: »Not only have existence, purposiveness, and social rationality received explicit recognition as intrinsic goods, but also the account of moral personality has provided the foundation for the recognition of freedom and justice as ends in themselves – that is, as essential aspects of our human good. In the process, justice as fairness has verged on a kind of perfectionism« (Galston 1991: 148). »[T]he reconstructed theory of the Dewey lectures [Rawls 1980, später überarbeitet in Rawls 1993] is a kind of perfectionism … it prescribes, as valid for all, a single, substantive, eminently debatable ideal of moral personality that gives pride of place to the capacity for just action« (Galston 1991: 129, cf. 92).
Das moralische Ideal ist also eines der moralischen Personalität – als werde dem Vorwurf von Sandel 1982 durch Affirmation begegnet. Genauer gesagt wird dieses Ideal, obwohl es laut Galston nicht von allen Menschen geteilt wird,25 nicht nur für bindend erklärt, sondern es wird zur Aufgabe der gerechten Grundstrukturen (vulgo: des Staates) gemacht, die Ausbildung und Entwicklung dieser »capacities« bei den Bürgern zu sichern (»secure the development and exercise of the capacity for a sense of justice«, Rawls 1993: 315). Erst dies ist die eigentlich perfektionistische Dimension: Es geht nicht nur um irgendwelche Güter, sondern um die Förderung bestimmter Fähigkeiten. In der Tat spricht Rawls nun offen davon, dass die Parteien im Urzustand Prinzipien wählen müssten, die die Aufrechterhaltung eines »vernünftigen« Pluralismus garantierten. Dazu gehört auch die Ausbildung der zwei moralischen Anlagen, dem Sinn für das Gute und
—————— 24 Galston legt, wie auch George und Raz, Rawls 1980 zugrunde. 25 Galston nennt religiöse Fundamentalisten (1991: 130). Das stärkt sein Argument kaum, denn diese will Rawls ja weitgehend aus dem politischen Prozess ausschließen.
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dem für das Gerechte (der »capacity for a sense of justice« und der »capacity for a conception of the good«, 34, 312ff., 332): »Let us first note that given the conception of the person, there are three kinds of considerations the parties must26 distinguish when they deliberate concerning the good of the persons they represent. There are considerations relating to the development and the full and informed exercise of the two moral powers, each power giving rise to considerations of a distinct kind, … and, finally, considerations relating to a person’s determinate conception of the good« (Rawls 1993: 310).
An dieser Stelle versteht man übrigens, warum Nussbaum, die wegen ihrer frühen Schriften zum capability approach unter Paternalismusverdacht stand, auf dieses neutralistische Projekt von 1993 aufspringen konnte (s.o., III.2): Es bedarf nur noch weniger Änderungen, um hier weitere förderungswürdige Fähigkeiten und zu verteilende Güter einzutragen. So spricht bereits Rawls von »human growth« als einem Gut, dass allgemein zustimmungsfähig sei (1993: 178).27 Doch dieses Projekt ist keineswegs so neutral wie es sich gibt. Denn wie genau lautet Rawls’ neues Argument? Rawls traut den Parteien um Urzustand in der neuen Version die Einsicht zu, dass es später weltanschauliche Gegensätze zwischen ihnen geben wird, die sich nicht ausräumen lassen. Ein friedliches Miteinander soll dennoch ermöglicht werden, und dazu brauche es bei allen Bürgern, über das Kalkül im Sinne der Spieltheorie oder »rational choice« hinaus, noch genau diese beiden moralischen Kräfte. Zwar kommt Rawls, wie oft, in seiner Beweisführung auf dasselbe zurück, was er vorher schon thematisiert hatte: die »social conditions necessary for the development and exercise of this power« (314) führen für Rawls abermals (nur) zur Wahl der Rawlschen Grundsätze. Die Annahme ist, dass diese Kräfte nur dann gedeihen können, wenn die »basic liberties« gewährleistet seien, was wiederum, wie wir sahen, per Setzung nur bei Rawls’ Lösung der Fall sei. 28 Doch die Beschränkung allein auf diese »capacities« ist zu hinterfragen: Für die Ausbildung solch komplexer Fähigkeiten reicht es keineswegs, dass
—————— 26 Das »given« zeigt das vorausgesetzte Ideal, auf das Galston anspielt, während das »must« veranschaulicht, wie strikte Vorgaben Rawls den Menschen macht und damit die Ergebnisse in seinem Sinne vorwegnimmt. 27 Dass er dies in einer »John Dewey Lecture« tut, ist sicher kein Zufall: Sowohl »growth« wie dessen »conditions« waren für Dewey zentrale Termini (s.u., IV.2). 28 Man bemerke die abermalige Zirkularität: Rawls’ Grundsätze setzen diese Kräfte voraus, und weil sie sie voraussetzen, werden die Grundsätze gewählt. Das zeigt wenig, es legt nur nahe, dass andere Grundsätze andere Kräfte beanspruchen würden. Eine Verkettung von Hypothesen ergibt noch kein zwingendes Argument.
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die Bürger die negativen Freiheiten (»basic liberties«) haben, die Rawls ihnen zugesteht, sondern möglicherweise müssen weitere Freiheitsermöglichungsbedingungen hinzukommen. Doch obgleich Rawls merklich in eine perfektionistische Richtung schwenkt (und wie Green und Dewey von den »social conditions« der moralischen Kräfte spricht, 1993: 313), ist die Argumentation abermals verkürzt: Erstens wird schlicht gesetzt, dass sich die Menschen genau auf die Ausbildung dieser Kräfte einigen würden. Mit anderen Worten: Ist die Berücksichtigung von »capacities« einmal ermöglicht, ist die Einschränkung zu schwach begründet. Erfahrungsgemäß bedarf es für ihre Ausbildung und Entwicklung weiterer »social conditions«. Das jedenfalls war der Punkt der Verteidiger der »positiven Freiheit« von T.H. Green und John Dewey (s.u., Kap. IV.2). Solche empirischen Einreden lassen sich schwer »konstruktivistisch« vom Tisch wischen: Rawls räumt ja ein, dass seine (neue) Konzeption an vielen Stellen auf die Berücksichtigung von »Fakten« angewiesen ist (s.o., Fn. 4). Dies lässt sich weitertreiben: Wenn es schon erlaubt ist, die Ausbildung von Kräften bei der Rechtfertigung politischer Strukturen eine Rolle spielen zu lassen, warum sollten dann nicht auch die Ausbildung und Förderung weiterer Fähigkeiten eine Rolle spielen? Warum nicht auch Empathie und Gemeinsinn oder die Entwicklung einzelner Talente fördern? »Some might wish to argue that the ideal of the moral person should incorporate a wider range of virtues (e.g., those sketched in Aristotle’s Ethics). It is by no means clear why a sense of justice should be emphasized whereas courage and a variety of social virtues are altogether excluded from Rawls’s model conception« (Galston 1991: 122).
Oder warum sollte man, in die andere Richtung gedacht, nicht aus Furcht vor weitergehenden Forderungen perfektionistische Entwicklungsargumente ganz abweisen? Die Wahl gerade dieser Grundkräfte ist für unbefangene Leser schwer nachzuvollziehen. Sie werden ja nur von denjenigen (kontingenten) Prinzipien der Gerechtigkeit vorausgesetzt, deren Wahl es ihrerseits erst zu begründen gälte. Es stehen stets noch andere zur Auswahl. Der Umweg über die Notwendigkeit einer Entwicklung der moralischen Kräfte stärkt die Wahl dieser Grundsätze nicht, sondern veranschaulicht im Gegenteil erneut, dass diese Wahl von bestimmten Vorstellungen des Guten abhängt. Statt diese als allgemein vertretbar zu behaupten, gälte es sie einmal zu begründen. Aus der Sicht von Sandels Kritik formuliert: Rawls muss diese Kräfte unterstellen, damit die Menschen im Urzustand die von ihm vorgesehene Lösung tatsächlich einsehen.
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Dass sie anderer Meinung sein könnten ist nicht vorgesehen.29 Diese Konstruktion kann im Sinne von Thomas S. Kuhn (1962) als ›Stützbau‹ eines angreifbaren Theoriegebäudes interpretiert werden. Mit ihr trudelt dieser Bau allerdings, wenn auch ungewollt, immer weiter in Richtung des eigentlich abgelehnten Perfektionismus. Zudem wird schlicht gesetzt, dass eine bestimmte Gesellschaftsform – natürlich die von Rawls präferierte – der Ausbildung dieser Kräfte besonders förderlich sei. Ob das zutrifft, ist eine empirische Frage. Möglicherweise reicht es nicht, die Bürger mit ihren Freiheiten sich selbst zu überlassen, in der Hoffnung, dass sie dann schon von selbst zu diesen Fähigkeiten kämen. Hätten wir damit nicht auch die Lizenz, diejenigen, die nicht über sie verfügen oder diese Güter ablehnen, vom politischen Prozess auszuschließen – wie es im Liberalismus beim Fehlen anderer ›Güter‹ (etwa dem Eigentum) lange der Fall war? Galston weist darauf hin, dass Rawls vielmehr eine Art politisches Erziehungsprogramm annehmen muss: »A member of a well-ordered liberal society cannot object to state-governed tutelary practices designed to inculcate a sense of justice, for ›in agreeing to principles of right the parties in the original position consent to the arrangements necessary to make these principles effective in their conduct‹ [Rawls 1971: 515]. The more seriously liberalism takes its commitment to practical rationality, the more blurred becomes the line separating the liberal state from the tutelary, ›perfectionist‹ state committed to a fuller theory of the good« (Galston 1991: 95; vgl. Rawls 1993: 199).
Solch ein Programm vertrüge sich schlecht mit dem strikt verstandenen Neutralismus, wie ihn die Lehrbücher dem politischen Liberalismus zuschreiben. (Gemeint ist meist keine Neutralität der Effekte einer Politik, sondern eine weltanschauliche Neutralität der Rechtfertigungen einer Politik, s.u.) In der Tat: Das wenige, was Rawls in der neuen Version darüber aussagt (1971 war das noch kein Thema), ist keineswegs ein kämpferischer Neutralismus. Einige Versionen der Neutralität wehrt Rawls sogar ab. Buchstabieren wir das aus für die Neutralität der Effekte (1), Mittel (2), der Prozeduren (3) und der Ziele (4).
—————— 29 »If the arguments are sound, then it should not matter what anyone (reasonable or otherwise) has to say« (Quong 2011: 167). Als erster hat wohl – erneut – Sandel das gesehen: »Passages that first seemed to describe an agreement in the voluntarist sense can now be seen to admit a cognitive interpretation as well. Where at first Rawls writes as though ›the choice … determines the principles of justice’ … (12), in other places he writes as though the parties have merely to acknowledge principles already there. … Although some reference to choice remains, the parties are described less as willing agents than as subjects who perceive the world in a certain way« (Sandel 1982: 130f.).
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(1) Rawls’ Neuansatz will nicht neutral im Sinne der Effekte sein, denn solche ließen sich einfach nicht vermeiden: »Neutrality of effect or influence political liberalism abandons as impracticable« (1993: 194). (2) Er ist auch nicht neutral im Sinne der Mittel. Gegen Galston, der politische Neutralität auf diese Weise beschreibt, bemerkt Rawls: »justice as fairness is not neutral in this way« (1993: 191, Fn.). Mittelneutralität, auf die Galston hier abhebt, war ein wichtiges Argument liberaler Philosophien: »This position is, of course, compatible with a theory of the good as neutral universal means; in this vein, Dworkin speaks of ›resources and opportunities‹, and Ackerman of infinitely malleable ›manna‹« (Galston 1991: 81).30
Und Rawls spricht vergleichbar von »income and wealth« (1993: 187).31 Auch bei Rawls ist die Neutralität bestimmter Mittel ein Argument für die Einigung auf bestimmte »primary goods« und »all-purpose means«: »The main idea is that primary goods are singled out by asking which things are generally necessary as social conditions and all-purpose means to enable persons to pursue their determinate conception of the good« (Rawls 1993: 307).
Die Absage an die Neutralität der Mittel ist also cum grano salis zu nehmen: sie ist nur insofern richtig, als der Neuansatz von 1993 weniger ökonomistisch ist als die Version von 1971, sondern sich mehr um Freiheitsrechte dreht. Doch die sind moralisch noch höher geladen als das Geld.32 (3) Auch die prozedurale Neutralität weist Rawls ab. Sein Neuansatz sei deswegen nicht prozedural neutral, weil er sich durchaus auf »Konzeptionen des Guten« beruft. Doch diese werden sogleich als Ideen ausgegeben, die alle Menschen in einer Kultur teilen könnten (1993: 186 u.ö.), ohne dass dies weiter begründet würde.
—————— 30 Rawls zitiert eine frühere Aufsatzform dieser Stelle von Galston. 31 Galston fügt das in einer Fußnote auch hinzu (1991: 313, Fn. 5). 32 Zumindest ist Geld aus einer utilitaristischen Perspektive moralisch nicht aufgeladen, wie Sandel sie Rawls’ zuschreibt: »Where justice as fairness rejects utilitarianism as the basis of social, or public morality, it has no apparent argument with utilitarianism as the basis of individual, or private morality« (Sandel 1982: 166). Nach Simmel (1900: Kap. 6) hängt Geld als rein formales Medium mit den liberalen Begriffen von (wählendem) Individuum und (Wahlfreiheit gewährender) Gesellschaft zusammen. Dennoch kann Geld negative Folgen haben (etwa eine Kommodifzierung und Entqualifizierung sozialer Beziehungen oder eine Förderung von Korruption, nicht nur in der Entwicklungshilfe). Das macht eine Besinnung darauf nötig, welche Ziele (»Güter«) mit diesem nur scheinbar ›reinen‹ Mittel eigentlich einmal angestrebt werden sollten.
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»Justice as fairness is not procedurally neutral … the view as a whole hopes to articulate a public basis of justification for the basic structure of a constitutional regime working from fundamental intuitive ideas implicit in the public political culture … It seeks common ground – or if one prefers, neutral ground – given the fact of pluralism. … But common ground, so defined, is not procedurally neutral ground« (Rawls 1993: 192).
Ob die von Rawls vorgeschlagenen Kandidaten tatsächlich »common ground« sind, lässt sich, wie wir sahen, bezweifeln.33 Seine »fundamentalen« Ideen von der Gesellschaft (als einer großen Firma, in der man zum wechselseitigen Vorteil zusammenarbeitet) und von der Person (als atomistischer Wahlinstanz, die bestimmte moralische Vermögen mit ihren Vorteilskalkülen zusammenstimmen lässt) sind umstritten und genügen daher den eigenen Vorgaben – nämlich von allen mitgetragen zu werden – nicht. Damit geht eine gravierende Verschiebung der Fragestellung einher: Es kann angesichts dieser starken Voraussetzungen nicht mehr um die Frage gehen, ob Theorien des Guten eine Rolle in der Theorie der Gerechtigkeit oder, allgemeiner, in der politischen Philosophie spielen sollen. Diese Frage wird, entgegen dem Lehrbuchwissen,34 von Rawls selbst bejaht. Sondern es geht nun vielmehr um die Frage, welche Theorien des Guten dies sein könnten. An dieser Stelle kann ein ›stärkerer‹ Perfektionismus ansetzen – und damit zugleich auf andere Weise als Rawls auf den konservativen Rechts-Perfektionismus von George antworten. (4) Selbst die wichtigste Form der Neutralität, die der Zielsetzung (»neutrality of aim«, Raz 1986: 114f.), gilt bei Rawls nur bedingt. Wenn man es als Chancengleichheit für jede Konzeption des Guten verstehe, gelte diese Neutralität vielleicht (»justice as fairness may be neutral in aim«, 193). Doch das nicht in jedem Fall, denn bestimmte Theorien des Guten entwickeln sich in der von Rawls angepeilten Gesellschaft gerade nicht weiter, sie werden also durchaus – obzwar eher passiv – aussortiert, ohne dass dies von Rawls (1993: 196f.) bedauert oder entschuldigt wird.35 Das
—————— 33 Marxisten, Feministinnen, Kommunitaristen und Grundeinkommensbefürworter haben relevante Gründe aufgeführt, warum die Kandidaten von Rawls anzufechten sind. 34 So meint Pauer-Studer 2000: 220, die Kritik von Galston beruhe auf einem »Missverständnis«, da die Rawlssche Idee der Person ja noch immer verschiedene Theorien des Guten offen lasse. In der Tat: Manche ja, manche nicht. Das ändert jedoch nichts daran, dass sie selbst eine Theorie des Guten verkörpert (Galston nennt sie rationalistischen Humanismus) – und Rawls streitet das gar nicht ab. 35 »The easy assumption that only ›undeserving‹ ways of life lose out in a liberal society is unworthy of serious social philosophy« (Galston 1991: 96).
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kann durchaus beabsichtigt sein und wäre dann nicht mehr »neutral« in der Zielsetzung. Wenn man »neutrality of aim« als Zurückhaltung des Staates hinsichtlich der bewussten Förderung bestimmter Weltanschauungen verstehe (»to favor or promote any particular comprehensive doctrine«, 193), dann sei der politische Liberalismus zwar mit Sicherheit zielneutral, denn das sei bereits mit dem Vorrang des Gerechten vor dem Guten abgegolten. Hier atmet das verstörte Lehrbuchwissen hörbar auf – doch zu früh, denn genau das wird sogleich wieder hinterfragt.36 Wenn der Staat so etwas bewirke, ohne es als Vorsatz anzugeben (»make it more likely« anstelle von »intended to favor«, 193), dann sei Rawls’ Position nicht zielneutral: »political liberalism … may still affirm the superiority of certain forms of moral character and encourage certain moral virtues« (194). Auf die zu erwartende Nachfrage, ob nicht genau das bereits Perfektionismus sei, kommt die gewohnte Antwort, dass dies solange nicht der Fall sei, wie die Werte »politisch«, also allgemein zustimmungsfähig seien: »Thus, justice as fairness includes an account of certain political virtues … The crucial point is that admitting these virtues into a political conception does not lead to the perfectionist state of a comprehensive doctrine« (Rawls 1993: 194). »Thus, if a constitutional regime takes certain steps to strengthen the virtues of toleration and mutual trust, say by discouraging various kinds of religious and racial discrimination …, it does not thereby become a perfectionist state … Rather, it is taking reasonable measures to strengthen the forms of thought and feeling that sustain fair social cooperation between its citizens regarded as free and equal. This is very different from the state’s advancing a particular comprehensive doctrine in its own name« (1993: 195).
Diese Abgrenzung steht auf schwachen Füßen, da sie auf unbewiesenen Annahmen beruht: Eine Theorie des Guten ist, wie wir gesehen haben, dann verallgemeinerungsfähig, wenn sie politisch ist. Aber diese Annahme ist zirkulär, denn sie ist erst dann politisch, wenn sie verallgemeinerungsfähig ist. Wir wissen damit noch nicht, wann eine Theorie des Guten verallgemeinerungsfähig ist. Dass perfektionistische Theorien, als Theorien des Guten, dies per se nicht sein können, wäre erst noch zu zeigen. Bei Rawls wird dies durch eine sprachliche Umstellung mehr suggeriert als gezeigt, da
—————— 36 Kymlicka, der von Rawls (1993: 27 Fn.) für seine Sandelkritik gelobt wird (obwohl sie darin besteht, dass Sandel, Kymlicka 1989: 42 zufolge, einen gravierenden Fehler von Rawls nicht bemerke), urteilt im selben Buch über den Vorrang des Rechten: »Rawls and a perfectionist do not disagree over the relative priority of the right and the good. They just disagree over how best to define and promote people’s good« (1989: 35).
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er vom Perfektionismus eher von einer »comprehensive doctrine« als von einer Theorie des Guten spricht. Das stellt ihn in die Nähe einer Religion; und da Religionen stets bestimmte Religionen, also per Definition partikular sind (»a particular religion«, 195), wird er damit zugleich sektiererisch (»sectarian character«; 180; vgl. Quong 2010).37 Doch wer sagt eigentlich, dass der Perfektionismus eine partikulare Religion (oder dieser zu vergleichen) ist? Warum sollte man ihn nicht ebenfalls als verallgemeinerungsfähige Theorie des Guten entwerfen? George hat das getan, und dies tun auch andere (II.3). An dieser Stelle wird die Grenze des Rawlschen Projektes zum Perfektionismus tatsächlich fließend (wie Galston sagt). Die Abgrenzung vermag immer weniger zu überzeugen. Vielmehr lädt sie gerade zu Bemäntelungsstrategien ein: Die Einschränkung, dass Politiken sich dann auf das Gute berufen dürfen, solange dies Gute »politisch« sei (oder publik, oder reasonable, oder alles zusammen), betrachtet ja nicht die Politik selbst, sondern nur die vorgetragenen Gründe für die vorgeschlagene Politik – und die lassen sich, je nach Publikum, ganz verschieden vortragen (daher die Wichtigkeit von spin-doctors und Medienberatern): »[T]he focus on reasons opens up a potential gap between public utterances and private intentions. For example, recent Supreme Court legislation … has raised the question whether facially neutral justifications are merely cloaks for underlying sectarian aims« (Galston 1991: 102).
Es mag mit diesen kumulierten zusätzlichen Problemen des Neuansatzes zu tun haben, dass sich liberale Perfektionismusgegner wie Steven Lecce (2008: 201ff.) von diesem Buch ab- und wieder der ursprünglichen, stärker kontraktualistischen Version von 1971 zugewandt haben. Das hat sogar Rawls selbst getan, der in seinem »Neuentwurf« von 2001 an das Buch von 1971 anknüpft als sei nichts gewesen. Allerdings haben sich auch Freunde des Perfektionismus auf dieses frühere Werk gestützt – etwa Jentsch (2009: 41ff.) oder schon Haksar (1979),38 und der bereits zitierte Galston titelt (2002: 39): »comprehensive, not political«. Wie steht es also um den eigenen Perfektionismus im früheren, weniger um Kompromisse mit bestehenden Weltanschauungen bemühten Werk? Rawls spricht selbst darüber:
—————— 37 Das ist ein seltsamer Schluss: Werden damit nicht alle Religionen zu Sekten erklärt? Sogar der religiöse bestimmte Perfektionismus bei George ist insofern nicht sektiererisch, als er Freiheit für alle Religionen fordert. 38 »Rawls brings in perfectionism through the back door: the view that an autonomous life is an essential part of human well-being is a kind of perfectionism« (Haksar 1979: 166, ähnlich 262; ähnlich Cavell 2004: 176).
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»[A] certain ideal is embedded in the principles of justice, and the fulfillment of desires incompatible with these principles has no value at all.39 Moreover we are to encourage certain traits of character, especially a sense of justice. Thus the contract doctrine is similar to perfectionism in that it takes into account other things than the net balance of satisfaction and how it is shared. … At the same time, they manage to define an ideal of the person without invoking a prior standard of human excellence. The contract view occupies, therefore, an intermediate position between perfectionism and utilitarianism« (Rawls 1971: 287).40
Wenn dies eine Mittelposition einnimmt, kann man sagen, dass Rawls’ Position in Abgrenzung zu stärkeren Varianten eine schwache Version des Perfektionismus ist: Er setzt in der politischen Philosophie Ideale voraus und bewertet damit bestimmte Lebensweisen, er hat objektive Wertmaßstäbe (etwa den Vorrang der Freiheit vor dem Nutzen, 230) und verlangt nach einer Charakter-Erziehung der Bürger. In der Nennung des Selbstrespekts als eines der »primary goods« kommt sogar ein direkter Aristotelismus zum Zuge – nämlich im sogenannten »Aristotelischen Prinzip«: »[H]uman beings enjoy the exercise of their realized capacities (their innate or trained abilities), and this enjoyment increases the more the capacity is realized, or the greater its complexity« (Rawls 1971: 374). »When activities fail to satisfy the Aristotelian principle, they are likely to seem dull and flat, and give us no feeling of competence or a sense that they are worth doing. A person tends to be more confident of his value when his abilities are both fully realized and organized in ways of suitable complexity and refinement« (386f.).
Wenn die möglichst weitgehende Entwicklung und Ausübung der eigenen Fähigkeiten ein primäres Gut ist und die primären Güter für die Formulierung der politischen Theorie eine Rolle spielen, so ist das erneut nahe an der Wunschliste der Perfektionisten (Haksar 1979: 201). Näher ausbuchstabiert wird dieses Gut als Teilnahme am öffentlichen Leben: Wenn Menschen von bestimmten Ämtern ausgeschlossen würden, heißt es nun, wären sie »debarred from experiencing the realization of self which comes from a skillful and devoted exercise of social duties« (Rawls 1971: 73; dazu Jentsch 2009: 41ff.). Obwohl auch Eigentum eine solche Selbstachtung zu verschaffen vermag (Rawls 2001: 180), lässt sich dies in der ökonomielastigen Version von 1971 noch als eine Art Recht auf (gute) Arbeit lesen –
—————— 39 Dieses (negative) Aussondern »wertloser« Lebensformen ist für Raz 1986 bereits perfektionistisch. Bei Rawls geht es allerdings eher um ungerechte Praxen (1971: 232). 40 Rawls scheint zu übersehen, dass es auch utilitaristische Vertreter des Perfektionismus gibt (etwa Hurka oder lange vor ihm Robert Owen 1813).
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zumal wenn die Arbeitsteilung in einer Gesellschaft als kollektive Gattungsverwirklichung verstanden wird: »Different persons with similar or complementary capacities may cooperate so to speak in realizing their common or matching nature. When men are secure in the enjoyment of the exercise of their own powers, they are disposed to appreciate the perfections of others, especially when their several excellences have an agreed place in a form of life the aims of which all accept« (Rawls 1971: 459).
Diese Art der Kooperation stelle sogar die »preeminent form of human flourishing« dar (1971: 463). Da Rawls seine Gerechtigkeitskonzeption als langfristige Ermöglichung einer solchen Kooperation begreift (als stabiler, da fairer), kann man darin eine perfektionistische Rechtfertigung der Gerechtigkeit sehen. Diesen produktivistischen und pathetisch klingenden Gattungsperfektionismus führt Rawls (1971: 459f./1975: 568f.; vgl. 1993: 320f.) an Marx vorbei auf Wilhelm von Humboldt zurück, der bereits Mill beeinflusst hatte. Kommt dieser Punkt 1993 entökonomisiert daher,41 so macht Rawls im Neuentwurf von 2001 (deutsch 2006) wieder klar, dass es tatsächlich um Arbeitsethik geht: »Bei der Ausarbeitung der Fairness-Konzeption der Gerechtigkeit sind wir davon ausgegangen, dass alle Bürger normale und lebenslang voll kooperierende Mitglieder der Gesellschaft sind. … Diese Voraussetzung impliziert nun, dass alle bereit sind zu arbeiten und ihren Anteil an den Bürden des sozialen Lebens zu tragen« (274).
Der Perfektionismus ist also bereits 1971 nicht nur auf einer Begründungsebene anzutreffen, sondern auch auf der Beispiel- und Anwendungsebene auf verschiedenen Bereichen präsent. Das anti-perfektionistische Selbstverständnis verblasst demgegenüber merklich. Um es dem Perfektionismus nicht zu einfach zu machen, sollten wir daher, bevor wir an dessen liberale Neuentwürfe gegen und nach Rawls herangehen, noch einen Blick auf Verteidiger der Neutralität neben Rawls werfen. Vielleicht können diese das Argument der Neutralität des Staates stärker machen als jener.
—————— 41 »Thus self-respect presupposes the development and exercise of both moral powers and therefore an effective sense of justice« (Rawls 1993: 318) – hier werden keine wirtschaftlichen Voraussetzungen mehr benannt; »kooperieren« kann man auch außerhalb der Arbeit (in der Demokratie, in der Familie oder in Vereinen).
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Liberaler Neutralismus neben Rawls Nach der Lehrbuch-Auffassung leben wir in einer Welt des kulturellen Pluralismus, in der der Staat neutral sein müsse, um keine Theorie des Guten in der Rechtfertigung einer Gesetzgebung zu benachteiligen. Er könne dies sein, da es »reine« politische Grundsätze gebe, die von allen Bürgern eines demokratischen Staates geteilt werden können. Charles Larmore, einer der zentralen Referenzautoren für das Neutralitätsprinzip, baut dafür eine weitere Unterscheidung ein, die Rawls so nicht macht: Der Pluralismus ist im Grunde selbst noch eine bestimmte Theorie des Guten (Larmore schreibt sie Isaiah Berlin zu, Nussbaum 2011b Raz), auf die man sich nicht festlegen muss, um Neutralist zu sein: »objective value is ultimately not of a single kind but of many kinds« (Larmore 1996: 154). Rawls und Larmore zielen also nicht auf eine pluralistische Haltung ab, sondern auf die Pluralität verschiedener Ansichten vom Guten. Das sieht nach Haarspalterei aus, doch der Unterschied kann in der Praxis wichtig werden. Vereinfacht ist der Unterschied der, dass einmal eine Person folgendes sagt: (I) Hans sagt: »A, B und C sind gut.«
Bei Rawls dagegen würden drei verschiedene Personen folgendes sagen: (II) Franz sagt: »A ist gut.« (III) Inge sagt: »B ist gut.« (IV) Kurt sagt: »C ist gut.«
Worin besteht der Unterschied? Im ersten Fall haben alle ein Recht auf ihre Vorliebe, da alle Varianten als Gut gelten – solange Hans die Regeln gibt. Im zweiten Fall allerdings können die drei Personen in Streit geraten. Rawls und Larmore würden behaupten, es sei sogar wahrscheinlich, dass im zweiten Fall Personen II bis IV die Güte der jeweils anderen anzweifeln. Sie sagen eigentlich folgendes: (V) Franz sagt: »Nur A ist gut, nicht aber B und C; daher ist Aussage I falsch.« (VI) Inge sagt: »Nur B ist gut, nicht aber A und C; daher ist Aussage I falsch.« (VII) Kurt sagt: »Nur C ist gut, nicht aber A und B; daher ist Aussage I falsch.«
Man würde also im Grunde keine Person antreffen, die Aussage I teilt. Sie wird von jemandem getroffen (Hans), der über den drei anderen Personen steht und versucht, für sie eine Meta-Konzeption zu finden, die alle drei Einzel-Konzeptionen miteinander verträglich sein lässt. (Hans ist hier »der Staat«). Aber genau deswegen kann das als Paternalismus aufgefasst werden, denn jede einzelne Person wird auf eine Theorie des Guten ver-
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pflichtet, die sie möglicherweise ablehnt. Franz will nicht behaupten müssen, dass B ebenfalls Wert hat, etc. – das betrifft ihre »externen Präferenzen«, ihre Vorlieben betreffs des Verhaltens der anderen Menschen (s.u. zu George). Nichtraucher beispielsweise möchten typischerweise, dass alle anderen ebenfalls nicht rauchen. Die Freiheit einer jeder Person, ihrer Konzeption zu folgen, wird im Pluralismus also erkauft um den Preis eines Eingriffs in die Konzeption dieser Person. (Ist das bei Rawls denn anders?) Noch weiter verschärft sich das Problem in der Interpretation von Gerald Gaus (2003). Nehmen wir den möglichen, aber nicht häufigen Fall an, dass Aussage I tatsächlich von den drei (bzw. vier) Personen unterschrieben werden kann – das würde Aussage I.b ergebe: (I.b) Nicht nur Hans, auch Franz, Inge und Kurt sagen: »A, B und C sind gut.«
Nach Gaus wäre dies noch keine Lösung. Denn selbst dann, wenn alle A, B und C als irgendwie wertvoll ansähen, würden sie sich nicht darüber einigen können, was die richtige Rangfolge dieser Werte sei:42 »The crucial problem is the ranking of values« (Gaus 2003: 157). Unterstellt wird hier, dass eine Politik stets Entscheidungen treffen muss und nicht alle Möglichkeiten gleich behandeln kann. Doch selbst diese Gleichbehandlung könnte wieder gegen die Auffassung von Franz, Inge und Kurt sprechen, denn diese könnten ja sagen: (I.c) Franz, Inge und Kurt sagen: »A, B und C sind gut, aber nicht gleich gut.«
Was tun in einer solchen Situation? Die Lehrbuch-Antwort besagt, dass Aussage (I), sofern es sich (wie wir annahmen) um eine Rechtfertigung für Politik handelt, gar keinen Bezug auf irgendeine Konzeption des Guten (A, B oder C) enthalten darf. In diesem Sinne soll sie ›neutral‹ sein: sie soll ihre Hände in Unschuld waschen, aber dennoch soll das Wasser für jede Partei noch sauber sein, um im Bild zu bleiben. Am Ende sollen also Franz, Inge und Kurt ihrer je eigenen Konzeption folgen dürfen, ohne dabei von den anderen behindert zu werden, jedoch auch ohne dafür (mit Hans) gegen ihre Überzeugung sagen zu müssen, dass die jeweils anderen ebenfalls einem veritablen »Gut« folgen. Doch wie soll dies zugehen? Es gibt innerhalb der Vertreter eines Neutralismus (mindestens) fünf verschiedene Antworten. Das Problem daran ist nicht nur, dass diese Antworten nicht übereinstimmen: Schon jede für sich ist instabil.43 Welche Möglichkeiten sind das?
—————— 42 Darin erinnert an das Arrow-Paradox; siehe auch Rawls’ Fußnote zur Abtreibung. 43 Stabilität ist eine der Bedingungen, die gerechte Institutionen nach Rawls erfüllen sollen.
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Vermeidung und moralische Auszeichnung des Eigenen Wir haben gesehen, dass Rawls eine Methode der Vermeidung bevorzugen würde (1993: 12), wenn er könnte. Doch er kann nicht. In der Politik vermieden werden sollte, näher gesagt, die Bezugnahme auf alles, was tendenziell umstritten ist. Das sind aus der Sicht von Rawls alle Theorien des Guten außer seiner eigenen. Denn diese ist auf die (aus seiner Sicht) richtige Weise moralisch. Die erste Variante ist also die, auf eine ausgezeichnete Theorie des Guten zu setzen, die als »common ground« unterlegt werden darf, um dann alle anderen auszuschließen. Eine solche Konzeption widerspricht sich performativ: entweder sind Theorien des Guten erlaubt oder nicht. Sie macht jedoch für sich selbst eine Ausnahme. Warum sollten die anderen Parteien nicht dergleichen tun? So etwas muss einen Paternalismusverdacht wecken. Zumindest wird diese Position damit instabil, denn gerade bei politischen Amtsträgern untergräbt eine solche Praxis – für sich selbst eine Ausnahme von Regeln zu machen, die für alle anderen gelten sollen – die Legitimität demokratischer Institutionen. Vielleicht kann über bestimmte Theorien des Guten tatsächlich eine Einigkeit unterstellt werden (wenngleich eher nach dem Diskurs darüber als davor). Von dieser Möglichkeit zehren einige Zweige des Perfektionismus (III.3). Doch ohne nähere Argumente lässt sich kaum entscheiden, welche Theorien das sein sollen. Es ist nicht ohne weiteres einzusehen, warum gerade ein Teilnehmer am Diskurs das Recht haben soll, seine Position als die einzig richtige aufzustellen. Rawls beansprucht damit ein »privileged insight into the moral universe« (Ackermann 1980: 10). Hier nützt auch die Behauptung nichts, alle anderen würden ihm folgen müssen, wenn sie nur vernünftig wären. Diese Strategie verschlimmert das Problem eher, da sie den abweichenden Meinungen nicht nur das Recht auf die eigene Meinung (und damit den gleichen Respekt) streitig macht, sondern sogar die Vernunft abzusprechen scheint (s.o. zur Abtreibungsdebatte). Epistemische Auszeichnung Neben der moralischen Auszeichnung einer bestimmten Theorie des Guten als der einzig richtigen gibt es, wie wir sahen, die Möglichkeit einer epistemischen Auszeichnung. Gemeint ist die Frage, was man wissen kann: Theorien des Guten sind demzufolge nur als partikulare denkbar – wir wissen zwar, was gut (für uns) ist, aber dieses Wissen ist schon aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht verallgemeinerbar. Demgegenüber
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wird Fragen des »Gerechten« ein anderer epistemischer Status zugesprochen – sie müssen, heißt das, nicht erst universalisiert werden (was Gefahr läuft, andere Menschen zu bevormunden), da sie von Haus aus bereits universal gelten. Zumindest muss man das annehmen, wenn man die Trennung zwischen dem Guten und dem Gerechten strikt liest. In diesem Sinne hat Gerald Gaus folgende Antwort anzubieten: Da ein wirklicher Konsens höchst unwahrscheinlich ist – und eine »neutrale« Region damit zu dünn wäre, um eine Politik zu tragen –, soll es bereits ein bloß möglicher Konsens tun. Die Frage, wie man über dieses »bloß möglich« soll entscheiden können, wird erkenntnistheoretisch umformuliert: »Given the actual disagreement in our western societies over liberal ideas,44 it is manifest that justificatory liberalism cannot explicate ›publicly acceptable‹ principles as those to which each and every member of our actual societies, in their actual positions, actually assent. If that is the test of public justification, justificatory liberalism is most unlikely to vindicate substantive liberal principles. Justificatory liberals require a normative theory of justification – a theory that allows them to claim that some set of principles is publicly justified, even given the fact that they are contested by some« (Gaus 1996: 3; s.u., II.3.c).
So hat der Rawlsche Neuentwurf zwei Seiten, die sich unterschiedlich stark machen lassen: Entweder wird es aus Respekt gegenüber jedermann zu einem moralischen Erfordernis, die eigenen Überzeugungen zurückzustellen, wenn die anderen sie nicht teilen können. (Ob sie das können oder nicht ist allerdings bereits eine Frage der Erkenntnis.) Oder aber die bleibenden – gerechtigkeitsrelevanten – Prinzipien werden als solche ausgezeichnet, die vorgeblich »freistehend« von jedermann eingesehen werden können. Dies soll auch unabhängig von den jeweiligen moralischen Überzeugungen möglich sein, auch wenn dunkel bleibt, wie man sich das vorzustellen hat. Rawls bemerkt dazu zweideutig: »being reasonable is not an epistemological idea (though it has epistemological elements)« (62). Obwohl sonst all unser Wissen vage und umstritten ist (»all our concepts … are vague«, 56), wird für die politische Gerechtigkeit ein Sonderbereich »politischer« Erkenntnisse behauptet, die jedermann zugänglich sein soll.45
—————— 44 Im Detail steckt auch hier ein Selbstzweifel: Die Uneinigkeit erstreckt sich nicht nur über Theorien des Guten, sondern auch über solche des Gerechten (»liberal ideas«). 45 Wenn »politisch« dabei nur bedeutet, dass es auch von anderen akzeptiert werden kann, ist das eine epistemische Verkürzung »des Politischen« (Rawls 1993: 374). Zur Kritik am »epistemic turn« neben Lecce (2008: 201ff.) auch Sher 1997: 140ff.
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Damit soll zwar auch der moralischen Seite des gleichen Respekts genüge getan werden; doch die eigenen Ansichten vom Guten werden so nicht (nur) moralisch, sondern (auch) erkenntnistheoretisch ausgezeichnet. Damit allerdings haben wir erneut nichts gewonnen, denn wir hatten schon gesehen, dass dieser Zusatz von jeder Partei zu ihrer Theorie des Guten hinzugefügt werden kann. Alle können behaupten, dass die anderen, wenn sie nur »vernünftig« wären, ihnen würden zustimmen können. Zudem ist diese Position zirkulär (Lecce 2008: 203), denn die Frage, was »vernünftig« heißen soll, ist ja gerade das, was in Frage steht und die Parteien der Theorie zufolge entzweit. Sogar in der hagiographischen Cambridge Companion to Rawls ist zu diesem Punkt zu lesen: »[Rawls] does not ever try to define the concept of ›reasonableness‹. This can be frustrating for the reader, since the concept is so crucial to Rawls’s argument and is used by him in several different ways« (Freeman 2003: 31).
Schweigen Eine entschiedenere Variante, die bereits die Konsequenzen aus den absehbaren Ambivalenzen zog, findet sich bei Bruce Ackerman. Seiner Idee des »conversational restraint« zufolge (1980: 10) sind alle Themen, bei denen es potentielle Meinungsverschiedenheit gibt, tatsächlich aus dem politischen Gespräch auszuscheiden. Wovon man nicht einvernehmlich sprechen kann, davon muss man schweigen. Ackerman kommt ohne eigene Begründung dafür aus, weil er meint, es gäbe schon genügend landläufige Begründungen für diese Enthaltungspraxis (»countless pathways of argument«, 1980: 355f.). Der diskursmüde Neutralist geht davon aus, dass bei einer Uneinigkeit zu Beginn des Gesprächs (oder gar davor) zu erwarten ist, dass diese auch am Ende nicht ausgeräumt sein wird: »When you and I learn that we disagree about one or another dimension of the moral truth, we should not search for some common value that will trump this agreement; nor should we try to translate it into some putatively neutral framework; nor should we seek to transcend it by talking about how some unearthly creature might resolve it. We should simply say nothing at all about this disagree and put the moral ideals that divide us off the conversational agenda of the liberal state« (Ackermann 1989: 16). »Being reasonable … has ceased to seem a guarantee of unanimity. On these matters of supreme importance, the more we talk with one another, the more we disagree« (Larmore 1996: 122).
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Ackerman richtet sich gleich gegen drei Ansätze: Ausgeschlossen ist für ihn erstens die Suche nach einem »common value that will trump this agreement« (1989: 16). Das verstellt nicht nur den Weg der autoritären Naturrechtler, die meinen, für alle anderen sprechen zu können, sondern auch den von Rawls und Larmore, denn sie gebrauchen die Worte »neutral« und »common« äquivalent (Rawls 1993: 192; Larmore 1996: 135, 145). Ebensowenig sollen wir zweitens versuchen, den Streitpunkt in eine abgekühltere Sprache zu übersetzen (»translate it into some putatively neutral framework«). So etwas vertrat später Habermas.46 Drittens sollen wir die Frage nicht auslagern an Spekulationen darüber, »how some unearthly creature might resolve it«. Auch dieser Ausweg ist bei näherem Hinsehen nicht weit hergeholt. Denn liest man »unearthly« prosaisch als ›utopisch‹, lässt sich darunter der künftige Konsens verstehen, der z.B. bei Nussbaum (2006: 388; 2011: 79; s.u., III.2) als Platzhalter des fehlenden wirklichen Konsenses dient. Personen, die derart zustimmen können sollen, sind »unearthly«, da sie keine wirklichen Personen, sondern nur Modellindividuen sind, die die Theorie mangels Realität in die Zukunft projiziert.47 Die Schwäche der von Ackermann antizipierten und abgewiesenen Positionen macht seine Interpretation umso plausibler. Daneben spricht, alltagspraktisch gesehen, tatsächlich einiges dafür, entflammbare Materialien dem Kontakt zu entziehen. Dies stellt, trotz scheinbarer Nähe zu Habermas,48 eine Umkehrung der Diskursethik dar, unter deren Einfluss Charles Larmore stand. Ein Diskurs wird sinnlos, wenn keine Einigung in Sicht ist. Habermas (2005; 2012) hat darum Zweifel an dieser Lesart geäußert. Tatsächlich lässt sich diese Umkehrung nur solange vertreten, wie man eine hartnäckige Starrsinnigkeit der Beteiligten unterstellt (»people … simply cannot change their ends«, so Malachuk 2005: 15) oder diese theo-
—————— 46 Habermas sprach, durchaus Rawlskritisch, von einer »Übersetzung« (2005, s.u., II.3). Politische Forderungen mit religiösen Hintergründen seien auch dann vertretbar, wenn sie als religiöse auftreten, solange sie in eine säkulare Sprache übersetzt und damit den anderen Gesprächsteilnehmern verständlich gemacht werden können. (Dies müssen nicht die Gläubigen selbst vollbringen, die damit möglicherweise überfordert wären.) 47 Ch.S. Peirce, von dem dieser Gedanke wohl abgeschaut ist, hatte mit dem künftigen Konsens der Experten kein Kriterium für Wahrheit liefern wollen (denn dafür müssten wir bereits wissen, was die künftigen Experten entscheiden würden – und wie soll das zugehen?), sondern lediglich eine Definition von Wahrheit. 48 Für Habermas sollte eigentlich das bessere Argument gewinnen. Von ihm bleibt nur die Ableitung von »commitments« aus den Regeln des Diskurses: etwa die Verpflichtung, die eigenen Überzeugungen auszuscheiden, wenn sie auf keinen Konsens rechnen können (Gaus 2009). Das können alle oder keine sein.
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retisch gar zementiert. Genau dies wird hier aber als Tatsache (»factum«) unterstellt. Das Subjekt wird gedacht »as incapable of altering in any way its private conception of the good« (Malachuk 2005: 3). Doch was kurzfristig eine heilsame Regel für unangenehme Begegnungen sein mag (»I rather not talk about it«, Golish/Caughlin 2002), lässt sich schon auf der Mikroebene nicht auf Dauer stellen. Familienbande, die sich zur Regel machen, nur über ›das Gute‹ zu sprechen und alles Unschöne auszusparen, werden irgendwann die Erfahrung machen, dass die Gemeinsamkeiten erlöschen. Eine Familie wird auch durch solche Angelegenheiten zusammengehalten, die nicht jedes Mitglied gleich beurteilt. Warum soll das ein Grund sein, darüber nicht mehr zu sprechen? Ist der Austausch verschiedener Perspektiven nicht gerade der Sinn eines solchen Gesprächs, und die Möglichkeit solcher Gespräche das Besondere an einer Familie? Wenn Meinungsverschiedenheiten nicht mehr thematisiert werden, gibt es immer weniger Gemeinsames mehr zu regeln, und somit entfällt irgendwann der Grund, warum eine Familie sich überhaupt noch treffen soll, wenn es nicht nur der geschönten Erinnerung halber passieren soll. Wenn das zu Regelnde nicht geregelt wird, kann das zu Problemen mit der Außenwelt führen. Wenn es hingegen mangels Diskurs kurzerhand von den Familienoberen autoritär entschieden wird, ist damit der Familienfrieden dahin; zumindest besteht die Gefahr, dass einige Familienglieder sich abspalten werden, da sie sich übergangen fühlen. Das Nicht-Darüber-Reden ist also schon im Mikro-Politischen Alltag keine Problemlösung. Ähnliches und Schlimmeres ist daher zu erwarten, wenn man diese Regel auf die politische Ebene überträgt. Nicht nur erlischt die Möglichkeit, gemeinsame Belange zu regeln und Bande auch da herzustellen, wo eine moralische Uneinigkeit zu vermuten ist. Und wo gibt es diese nicht? Schon die Kompetenz zur politischen Auseinandersetzung wird gefährdet: Wie soll man überhaupt den politischen Diskurs erlernen und einüben, wenn nur über Dinge gesprochen werden darf, bei denen von vornherein Einigkeit herrscht? Woher soll man von einer vorgängigen Übereinstimmung überhaupt wissen? Man mag einwenden, dass diese Gesprächsvermeidung über Kontroverses zumindest bei Rawls nur für »constitutional essentials«, also für Verfassungsartikel gelten soll.49 Aber selbst dann ist zu fragen: Wie hat man sich die Gründung einer solchen Verfassung vorzustellen, wenn nicht als streitbare Angelegenheit? Das nimmt eine seltsame Idealisierung von
—————— 49 Zur Kritik an dieser Einschränkung siehe Arneson 2003.
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(realen) Verfassungen vor: Eine Verfassung entsteht, um Einheit zu stiften. Sie kann daher nicht selbst Ausdruck einer vorgängigen Einigkeit sein; andernfalls könnten Verfassungen niemals scheitern. Die idealisierte Annahme entspricht jedenfalls nicht der historischen Genese von Verfassungen: Die Verfassung stellt selbst eine Einigung dar (in hartnäckigen Streitfragen zumindest eine solche auf Verfahrensregeln), die im und durch das Streitgespräch entstanden ist.50 Mit der Ackermann-Regel könnte eine solche Verfassung niemals zustanden kommen, und auch der normale politische Verkehr unterhalb der Ebene der Verfassungsgebung würde schnell erlahmen, würde alles Divergierende beschwiegen. Politik der ruhigen Hand Gerald Gaus zieht mit dankenswerter Klarheit die Konsequenz aus dieser Sackgasse: Er gibt gegenüber dem naheliegenden Einwurf, dieses Vermeidungsprinzip müsse zum Erliegen der Staatstätigkeit führen, da so gut wie nichts übrig bleibe, was auf diese Weise neutral sei (eine »complete state inaction«, so Weinstock 1999: 47), die Radikalität des Prinzips zu: »liberal neutrality is a radical principle and severly limits what a state can pursue« (Gaus 2003: 159). Würde dieses Prinzip tatsächlich gelten, was für Gaus nicht der Fall ist, hätte das gravierende Folgen. Der Neutralismus ist für ihn nicht nur eine idealisierende Rechtfertigung der bestehenden Praxis (wie für Rawls), sondern würde starke Veränderungen nach sich ziehen, denn: »liberal neutrality precludes most contemporary legislation« (2003: 160). Es könne zum Beispiel kein politisches Rauchverbot geben (»no state policies discouraging smoking will be justified«, 158). Von der gegenwärtigen Sozialpolitik, die, wie Gaus zustimmend zitiert, »irretrievably perfectionist« sei (162), wäre nur weniges aufrecht zu erhalten: »it is doubtful that much in the way of public policy survives the neutrality test« (157). Eine von diesem radikalen Prinzip angeleitete Praxis (besser: NichtPraxis) wäre konsequente Post-Demokratie: es könnte, da nur Weniges faktisch neutral ist (»justificatory liberalism is most unlikely to vindicate substantive liberal principles«, Gaus 1996: 3), über fast nichts mehr ent-
—————— 50 Die »constitutional essentials« gingen dem Konsens über die Verfassung in den USA voraus und kamen nicht konsensual zustande (die Federalist Papers wurden als Abweichung hervorgebracht). Man bemerke die Parallele zur Idealisierung der gründenden Akte bei Hannah Arendt und Ranciere sowie die Nähe des Begriff »freestanding« (1993: 374f.) zu Mannheims (1929) Idee »freischwebender« Intellektueller.
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schieden werden. Daher würde einfach kaum mehr regiert. Die Frage ist nur, wem diese Entpolitisierung und Deregulierung dienen würde. Was wäre für etablierte Vertreter mächtiger Interessen bequemer, als die eigenen Inhalte und Methoden als neutral und gerecht hinstellen zu können? Aus der Sicht älterer Perfektionisten wie T.H. Green und John Dewey wäre damit nur den außerpolitisch Mächtigen gedient, denn im Kapitalismus würde dem Abbau staatlicher Macht eine Verfestigung ökonomischer Macht korrelieren, die zu mehr Ungleichheit und Ausbeutung führte (s.u., IV.3). Das muss nicht vorzuziehen sein, ja es wäre aus der Sicht der letzten Variante des liberalen Neutralismus (der von Dworkin) nicht einmal mehr neutral. Damit eskaliert die Uneinigkeit innerhalb der scheinklaren Lehrbuchformel der Neutralität. Sehen wir aber noch diese letzte Variante an. Neutralität als Gleichheit Ein wichtiger Vertreter des Neutralitätsprinzip ist der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin.51 Sein Artikel »Liberalism« von 1978 gilt als Gründungsdokument der neueren Diskussion zur Neutralität (Wall/Klosko 2003: 3f.). Auch seine Schriften passen nicht recht in das Lehrbuchschema, nach dem der Staat deswegen neutral sein müsse, weil alle Menschen als Freie und Gleiche ein gleiches Recht auf ihre jeweilige Auffassung vom Guten hätten (Larmore 1987: 43f.; 1996: 134f.). Es ist zwar richtig, dass Dworkin mit Rawls am Anfang der Ahnenreihe dieser Auslegung des gleichen Respekts steht. Doch ihm zufolge unterscheiden sich der neutralistische und der egalitaristische Liberalismus – und es ist gar nicht ausgemacht, dass sich der Egalitarist Dworkin wirklich für den neutralistischen entschieden hat: »there are in fact two basic forms of liberalism and the distinction between them is of great importance.52 … Liberalism based on neutrality takes as fundamental the idea that government must not take sides on moral issues, and it supports only such egalitarian measures as can be shown to be the result of that principle. Liberalism based on equality takes as fundamental that government treat its citizens as equals, and insists on moral neutrality only to the degree that equality requires it« (Dworkin 1985: 205, verfasst 1983).
Sollte Dworkin damit recht haben, dass eine liberale politische Philosophie nur entweder primär neutralistisch oder primär egalitaristisch sein kann,
—————— 51 Nicht zu verwechseln mit dem Namensvetter Gerald Dworkin. 52 Zu dieser Unterscheidung im historischen Sinne Freeden 1978 und Paul/Miller 2007.
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würde das ein neues Licht auf den Wandel bei Rawls werfen: Dann nämlich wäre seine Position von 1993 deswegen weniger egalitaristisch, weil sie neutralistischer ist als die erste, die sich stärker auf einen »comprehensive liberalism« gestützt hatte. Diesen egalitären Liberalismus, wie den von Kant und Mill, betrachtet Rawls 1993 nunmehr als ›oppressive‹: »A society united on … the reasonable liberalisms of Kant or Mill, would likewise require the sanctions of state power to remain so. Call this the ›fact of oppression‹« (Rawls 1993: 37). Nach Dworkins These wäre die neue Version deswegen als weniger egalitär einzustufen, weil sie nun bewusst neutralistisch ist, oder sein möchte. Im Umkehrschluss könnte dies heißen, dass ein perfektionistisch inspirierter Liberalismus mehr Raum für Gleichheit hat als ein neutralistischer (eine These, die in der Folge noch plausibler wird). Ein Beispiel dafür ist Dworkin selbst: Er ist in den frühen 1980er Jahren mit einer Artikelserie hervor getreten, die einen starken Egalitarismus vertreten hat – stark deswegen, weil er die von Amartya Sen in seiner Tanner-Lecture (1979) aufgeworfene »equality of what«-Frage mit der Gleichheit der Ressourcen beantwortete.53 Im Gegensatz zur Gleichheit des Wohlbefindens oder der Chancen kann man diese Art von Gleichheit messen, und sie macht für die Menschen selbst einen spürbaren Unterschied. Denn es meint nicht lediglich Rechtsgleichheit oder eine dehnbare Gleichheit der Berücksichtigung (»equal respect«, Larmore 1996: 134ff.), sondern eine auch ökonomisch umgesetzte Gleichheit aller Bürger. Von Neutralität ist dabei wenig die Rede. Dworkin hat später, ebenfalls in einer Tanner-Lecture (verfasst 1990, nun in Dworkin 2000: 237ff.), seinen Egalitarismus auf eine sichtbar an den Perfektionismus angelehnte Theorie des Guten gestützt.54 Im Mittelpunkt steht das an John Dewey erinnernde »challenge«-Modell des guten Lebens (2000: 253f.): Inhärent gut sind menschliche Lebensvollzüge demnach dann, wenn sie sich Herausforderungen stellen und diese meistern. Das würde die oben behauptete Verbindung zwischen Egalitarismus und Perfektionismus stützen. Zwar möchte Dworkin seinen Egalitarismus, und das läuft dieser einfachen Entgegensetzung zuwider, zugleich auch als »neutralistisch« ansehen – zumindest in einer schwachen Weise (2000: 281f.), in der die Neutralität einen abgeleiteten Wert hat (»moral neutrality only to the degree that equality requires it«, Dworkin 1985: 205, s.o.):
—————— 53 Dworkin 2000: 65ff., verfasst 1981; vgl. Ladewig 2002. 54 Vgl. die perfektionistische Auslegung der Idee des gleichen Respekts bei Haksar 1979: 8.
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»Equality of resources aims at neutrality in a different sense:55 it aims that the resources people have available, with which to pursue their plans or projects or way of life, be fixed by the costs of their having these to others, rather than by any collective judgment about the comparative importance of people or the comparative worth of projects or personal moralities« (2000: 154, von 1987).
Prosaischer ausgedrückt heißt das: Institutionen sind dann neutral gegenüber verschiedenen Menschen bzw. Werturteilen über diese, wenn sie allen in etwa dieselben Ressourcen zur Verfügung stellen. Diese Forderung nach einer Ressourcengleichheit mag zu dem guten Namen des Neutralismus unter den liberalen Philosophen beigetragen haben, die sich progressiv und sogar als Egalitaristen verstehen (obwohl keineswegs klar ist, was genau das meint).56 Schon in dem klassischen Papier von 1978 behauptete Dworkin, traditionell linke Themen wie der Sozialstaat ließen sich am besten neutralistisch rechtfertigen: »The liberal must be tempted, therefore,57 to a reform of the market through a scheme of redistribution that leaves its pricing system intact but sharply limits, at least, the inequalities in welfare that his initial principle [equal concern and respect, 190, CH] prohibits. No solution will seem perfect. … In either case, he chooses a mixed economic system – either redistributive capitalism or limited socialism« (Dworkin 1985: 196, verfasst 1978).
Ähnliches gilt sogar für den damals wichtiger werdenden Naturschutz: »the liberal … believes that the conquest of unspoiled terrain by the consumer economy is self-fueling and irreversible, and that this process will make a way of life that has been desired and found satisfying in the past unavailable to future generations, and indeed to the future of those who now seem unaware of its appeal. He fears that this way of life will become unknown, so that the process is not neutral amongst competing ideals of the good life, but in fact destructive of the very possibility of some of these. In that case, the liberal has reasons for a program of conservation that are not only consistent with his constitutive morality, but sponsored by it« (Dworkin 1985: 202, verfasst 1978).
Allerdings ist dies nun eine ganz andere Idee von Neutralität, als sie von Rawls und Larmore behauptet wird. Dworkin möchte eine Neutralität der
—————— 55 Zuvor ist die Rede von Neutralität im Sinne der »equally-easy form of neutrality«: »each kind of life [is] equally easy to lead« (Dworkin 2000: 154). 56 Bei Rawls meint es Rechtfertigung von Ungleichheit (s.u., III.1). Die Offenheit dieses Terms macht es leicht, sich unter dieser Schirm zu stellen – zur Kritik von rechts siehe Kekes 2002, von links Callinicos 2000. 57 Weil es im Kapitalismus unverdiente Ungleichheiten gibt, etwa durch Erbschaften.
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Effekte – eine Gleichheit im Ergebnis, eine Art realer Chancengleichheit (oder »effective freedom«, Dewey): Einmal ausformuliert hinsichtlich der ökonomischen Lebenschancen, einmal hinsichtlich der Verwirklichung von Lebensentwürfen auch zukünftiger Generationen. Wenn man allerdings meint, dass der beste Weg dahin die Neutralisierung von Theorien des Guten ist, so sitzt man einer Äquivokation auf. Dies ist keineswegs dasselbe. Aus der Neutralität der Rechtfertigung, der zufolge man z.B. keine sozialistischen Ideale anstreben oder zur Rechtfertigung heranziehen darf, da diese sicher nicht von allen Bürgern geteilt werden, folgt am ehesten eine Untätigkeit des Staates, mit dem voraussehbaren Ergebnis einer marktinduzierten ökonomischen Ungleichheit. Die Neutralität der Ergebnisse hingegen setzt Eingriffe eines Staates voraus. Das Ziel einer Ressourcengleichheit, das hier die staatliche Politik anleiten soll, ist keineswegs selbst neutral, sondern ist eine umstrittene Theorie des Guten – eine Art vorsichtiger Sozialismus (der Liberale sei zugleich »reluctant capitalist« und »reluctant socialist«, so Dworkin 1985: 196). Ähnlich, nämlich ergebnisorientiert und an Vorstellungen des Guten angelehnt (und damit anders als Rawls und Larmore), versteht Dworkin die von ihm bevorzugte Neutralität noch zwei Jahrzehnte später: »Once again, however, we must be careful not to misunderstand the form of neutrality that citizen equality, properly understood, demands. It does not demand that political procedures be constructed so that bad arguments can be as effective as good ones and jingles as powerful as reasons, or so that candidates without knowledge or convictions or qualifications have maximal opportunity to hide those embarrassing failings. The neutrality at which we should aim is almost exactly the opposite: It requires a scheme that allows citizens to judge the structure, merits, and appeal of all candidates and ideas, including the worst financed and initially most unpopular of these, and the proposed scheme58 would serve that conception of neutrality much more effective [!] than unregulated television and radio politics can« (Dworkin 2000: 384, verfasst 1999).
Dworkin sieht sich dennoch als liberalen Neutralisten – ursprünglich hatte er ja gesagt, Liberale dürften eigentlich keine Theorie des Guten zugrunde legen, selbst gegenüber dem »television-watching, beer-drinking citizen« (Dworkin 1985: 191, verfasst 1978). Doch hält ihn das nicht von der Unterstützung einer starken Umwelt-, Sozial- und Bildungspolitik ab. Das zeigt nochmals, dass das Neutralitätsideal weder in sich klar ist (es wird
—————— 58 Das Ziel an dieser Stelle ist es »[to] limit campaign expenditures« (Dworkin 2000: 382).
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unterschiedlich ausbuchstabiert), noch zu vergleichbaren Konsequenzen führt (es kann zum Libertarismus führen wie bei Gaus, zum mainstreamLiberalismus wie bei Rawls oder zu einem Sozialstaats-Liberalismus wie bei Dworkin). Es dient noch nicht einmal dazu, Theorien des Guten auszusondern – sowohl bei Rawls und Larmore wie auch bei Dworkin wandern Theorien des Guten explizit in die »neutrale« Theorie hinein. Wenn dieser Kanal einmal offen ist, ist jedoch die Debatte eröffnet, welche Theorien das sinnvollerweise sein können. Es gibt prima facie keinen Grund mehr, perfektionistische Kandidaten von vornherein auszuschließen. Damit können wir uns nun der materialen Debatte zuwenden, ohne uns dem Verdacht auszuliefern, die liberale Norm des gleichen Respekts zu unterwandern. Wie weiter? Kommen wir damit zu einem Zwischenfazit: Dem verbreiteten Eindruck entgegen ist die Neuauflage der Rawlsschen Theorie keine neutrale Theorie und nicht einmal klar vom Perfektionismus abzugrenzen. Die Abgrenzung funktioniert lediglich über die Behauptung, das »Gute«, auf das die eigene Theorie sich stützt, und die Tugenden und moralischen Kräfte, die sie fördern will, seien allesamt »politisch«, weil verallgemeinerbar. Der (stärkere) Perfektionismus sowie andere konkurrierende Theorien des Guten seien dies nicht; doch nähere Gründe dafür erfahren wir nicht. Ob der Perfektionismus aus der Rawlsschen Perspektive abzulehnen ist, hängt daher einerseits davon ab, inwieweit die Fiktion eines Urzustands oder einer »reinen« politischen Vernunft gegen die Kritik von Sandel, George und anderen verteidigt werden kann. Lässt sich ein »overlapping consensus« auch ohne die artifiziellen Modellbauten eines Urzustands oder die seltsame Forderung einer »reinen« Vernunft erzielen? Immerhin stehen diese unter dem begründeten Verdacht, sie seien eigens so konzipiert worden, damit nur die Rawlssche Variante gewählt werden kann, und damit – so die Kritik – am Ende die Rawlssche Theorie des Guten recht behält. Das mag theoretisch elegant sein, vermag aber Andersdenkende nicht zu überzeugen, zumal wenn am Ende gar nicht inhaltlich für sie argumentiert wird. Zum anderen hängt diese Frage von der näheren Gestalt des Perfektionismus ab; aber darüber haben wir bisher noch nicht viel gehört. Entsprechen die tatsächlichen Perfektionismen wirklich den Zerrbildern, die Rawls von ihnen zeichnet? Das werden wir gleich untersuchen.
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Obwohl Rawls’ zweites Hauptwerk in anderen Hinsichten (etwa für die Debatte mit dem Kommunitarismus) ein intellektuelles Ereignis war, das bis heute wirkt, hat es sich gegen den Perfektionismus als stumpfe Waffe erwiesen. Im Gegenteil, es wirkt wie eine Art Durchlauferhitzer auf dem Weg zu diesem. Vollzieht man die Überlegungen des Buches mit, bleibt der Schritt zu einem ausgewachsenen Perfektionismus am Ende klein. Daneben sahen wir, dass auch das Neutralitätsideal seinen Zweck nicht erfüllt: Es dient in der Literatur als eine Art Gummi-Ideal, das vom Sozialismus bis zum Nachtwächterstaat reicht, und es hat nicht dazu geführt, Theorien des Guten aus der liberalen Konzeption der Politik abzuweisen. Erinnern wir uns, dass der Anlass für die epistemologische Wende die Tatsache einer radikal-konservativen Theorie des Guten war, die den Perfektionismus als »allgemeine« Theorie formulierte und davon eigenartige politische Lizenzen ableitete. Nach alldem, was wir nun gelernt haben, ist die Antwort mit einem Umweg über Theorien der staatlichen Neutralität nicht von Erfolg gekrönt: die Frage bleibt offen, warum nur bestimmte Argumente von vornherein ausgesondert werden sollen, wenn doch die eigene Theorie auf strukturell ähnlichen Annahmen aufruht. Die Theorie der staatlichen Neutralität macht den Eindruck einer liberalen Selbstversicherung, die zwar oft wiederholt wird, aber darum nicht überzeugender wird. Sie führt nicht darum herum, die Argumentation auf der materialen Ebene, der Theorie des Guten, wieder aufzunehmen. Was bleibt also von der Forderung nach einer staatlichen Neutralität? Es bleibt die Forderung, dass ein Staat seine Handlungen gegenüber allen Bürgern rechtfertigen muss – und zwar möglichst mit guten Gründen, die alle Bürger zumindest nachvollziehen können müssen. (Für dieses ›Können‹ der Bürger darf allerdings sogar der liberale Staat sorgen.) Ob dies nicht auch perfektionistische Gründe sein können, haben wir nun zu fragen. Kommen wir damit zu den Versuchen, diesem erhobenen liberalen Zeigefinger aus dem Weg zu gehen und sich der Sache selbst zu widmen – dem perfektionistischen Verständnis des guten menschlichen Leben und der Frage, wie es politisch am besten ermöglicht werden kann.
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3. Perfektionistische Neuansätze Nehmen wir zum Einstieg in die Betrachtung neuerer perfektionistischer Entwürfe nochmals den Religionsfaden auf, auf den wir im letzten Kapitel anhand von Rawls gestoßen waren. Das dient als vorlaufende ›Flurbereinigung‹, damit keine falschen Erwartungen transportiert werden. Niemand geringeres als Jürgen Habermas hat den Finger auf den wunden Punkt von Rawls gelegt, der in dessen Behandlung der Religion besteht – was Auswirkungen auf die Behandlung des Perfektionismus hat. Bei Habermas, bei dem sich in letzten Jahren ein erstaunlich bewegliches Nachdenken über solche Fragen bemerkbar macht, hat diese Frage drei Dimensionen: Erstens hat Habermas (1999: 65ff.) gegen Rawls’ ›zweites Hauptwerk‹ schon zu dessen Lebzeiten eingeklagt, dass man religiöse Menschen nicht mit dem Kriterium des öffentlichen Vernunftgebrauchs aus der politischen Auseinandersetzung ausgrenzen dürfe. Eine solche Exklusion aus dem Politischen stelle es jedoch dar, wenn religiöse Menschen nicht mehr mitsprechen dürften – oder wenn sie, sofern sie dazu intellektuell in der Lage sind, ihre Anliegen nur noch in einer säkularen Sprache artikulieren dürften, die ihnen selbst angesichts mancher Themen vielleicht gerade nicht als angemessen erscheine. (Man wird sich etwa noch des Spruches »Schwerter zu Pflugscharen« erinnern, nach Joel 4, 1.9.) Dies stellt für Habermas nicht nur gegenüber diesen Menschen eine fragwürdige Praxis dar, sondern führe zweitens zu einer Abblendung von Themen, die für den politischen Diskurs von hoher Bedeutung sein können – obwohl sie dem Rawlsschen Kriterium von Publizität nicht genügen, denn natürlich sind nicht alle Bürger Christen oder Angehörige einer bestimmten Konfession. Als Beispiel nennt Habermas pikanterweise die Menschenrechte, die er auf einen christlichen Gedanken – die Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott – zurückführt.1 Wenn es stimmt, dass zentrale Momente des westlichen Politikverständnisses nicht völlig von religiösen Vorverständnissen zu trennen sind,2 ist es tatsächlich ein verarmtes Verständnis von Politik, wenn man sich von vornherein gegen diese Art
—————— 1 Das wird uns bei Wall (s.u.) und Honneth noch beschäftigen (s.u., III.3). 2 Anstelle von Anspielungen auf Carl Schmitt, der für Habermas (z.B. 2012: 115ff. und 243ff.) von bleibender Wichtigkeit ist, möchte ich auf Habermas’ Beobachtung verweisen, dass sich dies sogar bei Rawls selbst so verhält: seine Jugendaufsätze zeigen bereits Konturen der späteren »politischen« Gerechtigkeitstheorie, obwohl sie noch stark religiös geprägt sind (Habermas 2012: 257ff.).
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von Argumenten versperrt. Immerhin könnten sie auch dann wegweisend sein (woher soll man das vorab wissen, wenn man nicht in einen Diskurs darüber eintritt?), wenn sie nicht bereits in adäquater Weise in eine säkulare und allgemein nachvollziehbare Sprache »übersetzt« worden sind, oder wenn dies nicht in Gänze möglich sein sollte. In unserem Zusammenhang am wichtigsten ist jedoch die dritte Dimension. Habermas stellt in Frage, warum das, was für Rawls hinsichtlich der Religion evident scheint (und schon dies wird von Habermas angezweifelt) – nämlich dass sie aufgrund ihres Unterdrückungs-, ja Bürgerkriegspotentials aus dem politischen Diskurs auszuscheiden sind –, umstandslos auf alle anderen »Theorien des Guten« übertragen werden soll: Dass »Rawls die Moral ihres Allgemeinheitsanspruches entkleidet und der Religion zuschlägt«, sei eine »kontraintuitive Entkernung der praktischen« Vernunft« (Habermas 2012: 275). Sogar die liberalen Theorien von Kant und Mill haben für Rawls sektiererischen und potentiell »oppressiven« Charakter. Das ist ein weiterer Schluss, den Habermas nicht mitmachen möchte. Es stellt keine zwingende Annahme dar, Religionen als intrinsisch partikularistisch zu verstehen; also nur für ihre Anhänger verbindlich, für alle anderen jedoch ein »Ärgernis« (1. Kor 1, 23). Selbst wenn wir dies annähmen, wäre nicht einzusehen, warum man die Vermeidung der Religionen in der Politik auf alle Moralen ausdehnen sollte. Die meisten davon sind überaus weltlich orientiert (das gilt für die Tugendethik, der Utilitarismus3 oder die Alltagsmoral des common-sense), sie wollen universalisierbar sein und bringen von sich aus keine großen Hindernisse mit, die eine allgemeine Verständlichkeit verunmöglichen würden – im Gegenteil, sie sind teilweise überaus didaktisch dargestellt. Und um mehr als eine allgemeine Verständlichkeit kann es der »public reason« nicht gehen, da ein faktischer Konsens, wie sogar Rawls zugibt, weder real noch wahrscheinlich ist. Man muss mit der entsprechenden Moral ›nur‹ eine politische Maßnahme gegenüber allen Bürgern rechtfertigen können. Aber genau auf solche »Anwendungen« hin sind die meisten Moralen ja von sich aus bereits angelegt. Dies sind von überraschender Stelle artikulierte Gründe dafür, warum gegenüber dem Perfektionismus keineswegs von vornherein eine Abwehrhaltung am Platze ist – zumindest dann nicht, wenn es sich um keine Sekte
—————— 3 Wie wir sahen, stand dieser in der ersten Version (Rawls 1971) sogar im Urzustand zur »Wahl«, er kann also – wie der Perfektionismus – für Rawls keine einfache »Theorie des Guten« wie alle anderen sein.
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handelt;4 ja selbst dann, wenn es auch christliche Formen des »Perfektionismus« gegeben hat und im Falle von Robert George noch gibt.5 Kommen wir damit zu einer neuen Runde der Auseinandersetzung, diesmal mit säkularen Reaktualisierungen des Perfektionismus. Dafür bringen wir eine Fragestellung aus den Vorkapiteln mit. Aus vorangehenden Kapiteln hatte sich nämlich eine Spannung ergeben: Der erzkatholisch-perfektionistische Ansatz wurde von George 1993 meisterhaft auf den Punkt gebracht. Im Ausgriff auf eine materiale Theorie des Guten zog er weitreichende Folgerungen für die Politik, ohne sich dabei als »Antiliberaler« zu blamieren, da er eine eigene perfektionistische Begründung der Grundrechte vorlegen konnte; eine fundiertere sogar als Rawls, der diese von angreifbaren Fiktionen und zurechtgestellten Abstraktionen abhängig macht. Die Reaktion von Rawls (wenn nicht auf George selbst, so doch auf diese Art von Naturrechtstheorien)6 hatte nicht in einer direkten Entgegnung auf derselben materialen Ebene bestanden, sondern in einem Versuch, Theorien wie derjenigen von George von vornherein das Wasser abzugraben. Theorien des Guten, so hieß es nun, hätten in der Begründung zumindest der wesentlichen Bestandteile des Politischen (»constitutional essentials«) keinen Raum mehr. Warum eigentlich nicht? Weil sie, so die Setzung von Rawls, per se nicht von allen Bürgern zu unterschreiben wären. Doch warum dies eigentlich so sein soll, blieb weitgehend offen – zumal Rawls für diese neue Position erneut selbst eine Theorie des Guten in Anspruch nahm. Damit verpflichtet er sich eigentlich auf genau das, was er umgehen wollte – und zum Nachteil der Leser wie der eigenen Sache tatsächlich umgeht: auf einen Diskurs zur Sache, nämlich zur Frage, welche Theorien des Guten für alle Bürger als vernünftigerweise vertretbar gelten könnten und warum. Solange diese Frage nicht beantwortet ist, hat Rawls gegen George und andere materiale Gegner wenig in der Hand. Damit jedoch auch andere Wege in den Perfektionismus eröffnet, die auf der materialen Ebene vielleicht eine Antwort auf die Herausforderung von George und vergleichbare konservative Ansätze parat haben. Das wird in der Folge an Thomas Hurka (a), Georg Sher (b) und Steven Wall (c)
—————— 4 Die Unterscheidung zwischen Sekten und Kirchen (Troeltsch 1912) ist im amerikanischen Kontext weniger von Belang als in Ländern mit staatlich gestützen Kirchen. 5 Siehe zu diesem Kontext Foss 1946, Peters 1956 und Passmore 1970. 6 Wir wir sahen, hatte es zumindest bei Nussbaum – ebenfalls 1993 – eine einprägsame Begegnung mit George gegeben. Die umstrittene Fußnote zur Abtreibung bei Rawls 1993 deutet darauf hin, dass auch er ähnliche Gegner – oder besser: Konkurrenten, denn er spricht sie nicht direkt an – vor Augen gehabt haben dürfte.
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überprüft. Unser Blick fällt dabei zunächst auf Thomas Hurka, der ebenfalls im Jahre 1993 einen großen perfektionistischen Wurf vorgelegt hat, und dem ein egalitärer Ruf vorauseilt (so jedenfalls wird er in der englischsprachigen Rezeption verstanden). Gelingt es ihm, George und Rawls auf materialer Ebene entgegenzutreten?
Thomas Hurkas Neuauflage aus dem Geist des Utilitarismus Der kanadische Philosoph Thomas Hurka, dem wir im Nietzsche-Kontext nochmals begegnen werden (s.u., III.2), hat im Jahre 1993, in dem die Bücher von George und Rawls erschienen, ebenfalls ein Buch vorgelegt, das den Perfektionismus in den thematischen Mittelpunkt rückt. Bereits zuvor waren Werke erschienen, die den Perfektionismus als ein Thema unter anderen behandelten (wie Haksar 1979, Raz 1986 oder Griffin 1986), doch erst Hurka rückte das Thema in den Mittelpunkt einer Monographie. Wie er selbst als eine der Motivationen zu diesem Buch angibt, hat Hurka tschechische Wurzeln. Da bereits Kanada sozialstaatlicher ist als die USA, mag dieser doppelte Abstand (Kanada und Tschechien) zu Hurkas Distanz zum US-amerikanischen Selbstverständnis beigetragen haben. Überhaupt ist die philosophiehistorische Dimension des Perfektionismus für ihn im Unterschied zu vielen anderen eine Anregung, sich mit dieser »central tradition« (George 1993: 19) zu beschäftigen: »Any view so prominent in our tradition deserves investigation« (Hurka 1993: 4). Dabei begegnen wir aufgrund von Hurkas historischem Bewusstsein einem weiteren Bekannten, nämlich dem topos der menschlichen Natur.7 Diese wird uns bei Rousseau, bei MacIntyre sowie bei John Dewey erneut begegnen. Hurkas Neuformulierung des Perfektionismus geht bewusst auf die menschliche Natur zurück, da es dem Perfektionismus seit Aristoteles darum gegangen sei, das gute Leben als Entwicklung der menschlichen Natur zu denken. Das sei der perfektionistische Grundgedanke: »what is good, ultimately, is the development of human nature« (Hurka 1993: 2, cf. 26). Ähnlich wie bei Nussbaum zu vermuten ist und wir anhand von Sher entwickeln werden, behauptet Hurka einen sachlichen Zusammenhang zwischen dem Bezug auf die menschliche Natur und der
—————— 7 Oder besser deswegen: Die Berührungsangst mit Theorien der menschlichen Natur ist philosophisch eine junge Erscheinung (Pinker 2002). Ein historisch bewusstes Philosophieren kann diese Angst hinterfragen.
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Tendenz zu einem starken verteilungsbezogenen Egalitarismus: »some egalitarian liberalism – perhaps socialist, perhaps social-democratic – is the natural consequence of Aristotelian perfectionism« (Hurka 1993: 148). Der Grund dafür ist in der Tradition spätestens seit Rousseau bekannt: Werden die bestehenden sozialen Ungleichheiten zwischen den Menschen nicht länger naturalisiert, d.h. fälschlich als Ergebnis naturgegebener Unterschiede der Talente oder einer sonstigen höheren Wertigkeit verklärt (sozialer Rang, Verdienst etc.), lassen sie sich schwerer philosophisch rechtfertigen (IV.1). Daher die traditionelle Annahme, auf die sich Hurka – allerdings ablehnend – bezieht: »people’s natural abilities are the same« (166). Wir werden zu prüfen haben, ob Hurka den Befürchtungen von Rawls und Nussbaum, mit einer anthropologischen (oder ›metaphysischen‹) Grundlegung könne im Effekt ein Freiheitsverlust einhergehen, wirksam entgegentritt. Tatsächlich werden wir – wie bei anderen Autoren, etwa bei Raz oder Wall – Zweifel anmelden müssen, aber dies nicht wegen des Naturbezugs, sondern wegen der letztlich zu schwach ausgeprägten Freiheitstheorie, die wiederum auf das Fehlen eines qualitativen Individualismus zurückgeht. Streng genommen gewinnt Hurka durch seinen Naturbezog noch nicht einmal einen Egalitarismus, sondern muss diesen von außen hinzukaufen – aber das ist schon zu weit vorgeblickt. Schauen wir zunächst auf die Gesamtanlage des Buches, um uns nicht in Einzelheiten zu verlieren. Wenn es dem Perfektionismus um eine Entwicklung der menschlichen Natur geht, dann bedarf es nach Hurka einer neuartigen philosophischen Theorie jener Natur des Menschen, und zwar einer, welche die historischen Fallstricke des Perfektionismus vermeide. Aus Hurkas Sicht ist der Perfektionismus nämlich nicht wegen seiner Grundidee in Verruf geraten – der Entwicklung der menschlichen Natur, die eine einleuchtende und im Alltag häufig begegnende Idee sei –, sondern wegen fragwürdiger Zutaten zu diesem Grundgedanken. Darum scheidet er seiner Auffassung nach unwichtige Zutaten (»accretions«, 23ff.) von der Theorie ab. Diese Methode ist zunächst bestechend, da dieser Purismus vielleicht tatsächlich eine gegenüber liberalen Einwänden stichfeste Version des Perfektionismus freilegen könnte. Doch kommt es in der Umsetzung zu seltsamen Phänomenen: Erstens, weil Hurka in der Gesamtanlage die Theorie, die er zunächst von normativen Einbettungen reinigt, im hinteren Teil mit neuen normativen ›Beilagen‹ versieht, um den Perfektionismus als »moral theory« auszuformulieren. Es handelt sich um keine radikale Entnormativierung, sondern lediglich um einen normativen Blutaustausch. Einerlei, ob die neue
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Einbettung überzeugender ist als die alte (sie ist jedenfalls weniger eng mit dem Grundmodell verbunden, da sie ihr äußerlich beigefügt wird), stellt das die Methode der Purifizierung in Frage. Und zweitens deswegen, weil Hurka auch in den einzelnen Punkten nicht konsequent ist – er behauptet im hinteren Teil des Buches anderes als er vorn ankündigt.8 Neutralizing Perfectionism Schauen wir uns diese abgelehnten ›Zutaten‹ zur Grundidee genauer an. Darunter firmiert erstens eine Absage an die Thomistische Idee von Realitätsgraden (»as goodness increases in degree, so does being or reality«, 23). Erst das Vollkommene sei daher in Gänze wirklich, wie es noch bei Spinoza hieß. Diese seltsame Lehre (»strange doctrine«) sei fallenzulassen, wenn sie nichts begründe oder keine moralischen Anleitungen enthalte – und offensichtlich ist Hurka dieser Auffassung, wenn er diese Lehre als ersten der Fälle nennt, ohne die man auskommen sollte (»are best done without«). Allerdings greift Hurka wenig später selbst auf Argumente zurück, die von einem Entwicklungspotential sprechen (»potential for development«, 46) und verschiedene »degrees of perfection« zulassen. Zwar wehrt er die Identitätsthese ab (die besagt: »a foetus is identical to a future adult«, 46) und versucht, ohne einen Aristotelischen Begriff der Potentialität auszukommen.9 Allerdings kommt er nicht umhin zu behaupten: »Although foetuses are not humans [!], they are descended from humans and may later turn into humans. They are closer to the human species than to any other species and can therefore be classified almost-humans« (Hurka 1993: 47).
Ist aber das Wort »turn into« klarer oder unmetaphysischer als das Wort »develop into«? Hurkas Purifizierung macht eine klare Sache, nämlich den Umstand, dass Babies sich normalerweise zu Menschen entwickeln, unklarer als es sein müsste. Nun erst muss man erklären, wie sie diese denkwürdige Verwandlung vollbringen, wenn sie nicht (wie Neugeborene anderer Spezies) die Anlage haben, sich so zu entwickeln. Hurka gewinnt durch seine Abscheidung der Potentialität also nichts, vielmehr verliert er etwas
—————— 8 Das mag der Preis von Büchern sein, die aus früheren Texten zusammengestellt sind. Die Hälfte der Kapitel aus Hurka 1993 erschien zwischen 1987 und 1992 bereits separat. Hurka hat zwei dieser Aufsätze erneut publiziert in Hurka 2011: 37ff und 139 ff. 9 »I am not certain that the concept of potential required by the theory is available and will therefore assume that it is not« (Hurka 1993: 46). Wir sind wieder bei der Abtreibung.
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Zentrales, nämlich die Inklusion von Foeten und Dementen in die Gattung Mensch (siehe z.B. Nussbaum 2006). Eine solche können selbst radikale Utilitaristen zugeben. Hurka nimmt jedoch die Einteilung von Peter Singer (1979), die u.a. von Norbert Hoerster und Dieter Birnbacher aufgegriffen wurde, nicht auf: nämlich die Unterscheidung zwischen Menschen – als Angehörigen der Gattung – und voll rationalen Personen. Auf diese Weise können die Rechte der Menschen auch auf Individuen ausgedehnt werden, die nicht im Vollbesitz ihrer rationalen Kräfte sind. Dies wird bei Hurka unnötig erschwert, indem er noch nicht oder nicht mehr voll rationalen Menschen die »Menschheit« schlicht abspricht. Dadurch wird der Entwicklungsbegriff jedoch kaum klarer. Und so kommt er später selbst wieder auf eine Position zurück, die besagt: »what matters morally in a foetus or baby is that it develops its capacities it later life« (Hurka 1993: 47). Auch Hurka spricht letztlich von einer Entwicklung der Anlagen. Daher erfolgt die Ablehnung der altmodischen Sprache von Seinsgraden zu voreilig. Im zweiten Punkt möchte Hurka, unter Berufung auf die üblichen Verdächtigen (Bernard Williams und Alasdair Macintyre, s.o., IV.2), den Bezug auf eine »teleological biology« vermeiden (30). Daran stört Hurka die Verbindung der Entwicklungsargumente mit Moral: »on no admissable concept of nature does a conventionally good human always develop human nature more than a conventionally bad one« (30). Das bringt die »ethische Irrationalität« der Welt (Max Weber) auf den Punkt: Auch skrupellose Menschen können sich blendend entfalten. Einige Berufe sind dazu möglicherweise besonders angetan (siehe die Kritik an der Förderung des Egoismus durch den Markt, 188) Nietzsches ›Herrenmenschen‹ können sich nur deswegen voll entwickeln, weil sie sich über die Moralvorurteile der anderen hinwegsetzen (s.o., III.1). Auf »Renaissance lives« (88) kommt Hurka als Vorbild zurück. Aber was soll es dann heißen, dass er seinen Ansatz als »Aristotelischen« versteht (40)? Letztlich verlangt seine Theorie die bestmögliche Entwicklung der menschlichen Physis (was an die Medizin delegiert wird) sowie der theoretischen und praktischen Rationalität. Aus diesen »three intrinsic goods« besteht die »general perfectionist idea«, die Hurka ausbuchstabieren möchte: »physical perfection, which develops our physical nature; and theoretical and practical perfection, which develop theoretical and practical rationality« (51). Unter die letztere fällt sogar die vita actica, das praktische Leben als Politiker (»it is intrinsically good to administer other people«, 133). Das ist nahe an den Lebensformen des Aristoteles. Warum lehnt Hurka dann das zentrale Argument von Aristo-
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teles (»to identify human’s function with the development of their … rationality«, 24) ab? Erneut besteht ein seltsames Ungleichgewicht zwischen der Absage an Aristoteles vorn und dem eigenen Aristotelismus hinten. Das Dritte, was Hurka vermeiden will, sind die »natural tendency doctrines« (24). Für Hurka gibt es keinen Grund, eine natürliche Tendenz in Richtung einer Perfektionierung anzunehmen, wie es etwa Condorcet, Adam Ferguson oder William Godwin taten (die Hurka nicht nennt, s.u., IV.1). Unter diese Rubrik fallen bei Hurka verschiedene Vorgänger: Einerseits geschichtsteleologische Ansätze wie bei Hegel oder – Hurka zufolge – Marx; andererseits wunschtheoretische, die entweder annehmen, die Menschen hätten von sich aus den Drang, sich zu entfalten, wie es z.B. Horney, Fromm und Rogers annahmen, die Hurka ebenso wenig nennt (s.o., IV.3; stattdessen kommen Thomas von Aquin und Nietzsche vor, 25), oder solche die meinen, die Menschen hätten zumindest Freude daran (dafür nennt er Spinoza und Rawls, 25). Lust könne die Entwicklung der Anlagen zwar begleiten, aber nicht begründen, dass diese gut ist: »[P]erfectionism cannot concern wellbeing (Hurka 1993: 17; cf. 61); »this life is good only because it develops human nature and not because it involves satisfaction« (26). »Pure perfectionism does not find intrinsic value in pleasure, not even pleasure in what is good, nor does it find intrinsic disvalue in pain« (190).
Bei der Ablehnung dieses weiteren »Zusatzes«, der Perfektionierungs-Lust, ist Hurka konsequenter als in den ersten beiden Punkten. Denn dieser antihedonistische Purismus ist tatsächlich nicht-Aristotelisch. Bei Aristoteles ist das höchste Ziel die Eudaimonie, die nicht nur Lust mit einschließt, sondern selbst die höchste, weil nachhaltigste Form des Glücks darstellt. Die Lustferne des Perfektionismus sei, so Hurka, allzu oft fehlinterpretiert worden. Es gibt eine sehr lange Geschichte des »misreading« (26) – wenn man diese mit Aristoteles anheben lässt, sind das Heideggersche Dimensionen: »Despite the contrary indications in their works, Plato, Aristotle, Marx, and Green have all been read as concerned ultimately with pleasure or desire-fulfillment« (26). Wenn alle, die eine Perfektionierung mit Lust verbinden, sachlich daneben liegen, bleiben allerdings nicht viele Vertreter eines ›reinen‹ Perfektionismus im Sinne Hurkas übrig. Er zählt Plato, Aristoteles, Marx und Green dazu, Thomas von Aquin, Ernest Barker oder Hegel schon nicht mehr. Interessanterweise fällt Hurka dieser Fehlinterpretation selbst zum Opfer, wenn Angelika Kallhoff im
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Vorbeigang behauptet, Hurka begründe »die moralische Forderung nach Perfektionierung der Fähigkeiten« mit der utilitaristischen Vorstellung, »es gelte, das Glück einer möglichst großen Zahl von Menschen zu maximieren« (Kallhoff 2010: 161). Dieses Missverständnis hat sich wohl deswegen in diese Hurka-(Nicht-)Lektüre verlängert, weil seine Rede von »Maximierung« und »Aggregierung« dem Utilitarismus abgeschaut ist. Hurka erbt von diesem die Fixierung auf Berechenbarkeit, aber was gewogen, maximiert, vergleichen und summiert wird, ist bei ihm etwas deutlich anderes.10 Unter die abzulehnenden »desire-doctrine« als Variante der Theorien einer natürlichen Tendenz zur Perfektionierung fällt bei Hurka schließlich der metaethische Naturalismus, welcher versucht, moralische Aussagen durch den Bezug auf vormoralische Naturtatsachen zu begründen (nach Hurka ein logischer Fehler, 28). In Wirklichkeit seien diese Naturalisten (etwa Thomas von Aquin, Bradley und erneut Aristoteles, 29) ebenfalls Wunsch-Erfüllungs-Theoretiker, denn ihre »natural tendency to develop their nature [is] reflected in a desire at least extensionally directed at this end« (29). Die Begründung der geforderten Perfektionierung werde erst durch die Annahme erzielt, alle Menschen strebten sie von sich aus ohnehin an: »all desire their own perfection« (ein Zitat von Thomas von Aquin, 29). Doch eben dies weist Hurka ab. Er weist zumindest diese Variante des metaethischen Naturalismus zurück. Warum allerdings, das leuchtet wiederum nicht recht ein, wenn doch zugleich sein ganzes Projekt auf einer Theorie der menschlichen Natur beruht und so selbst naturalistisch argumentiert. Ist denn ein natürliches Verlangen keine Natur? Und was wäre eine menschliche Natur, die keine Verlangen hat? Warum soll man ›Begierden‹ (desires) überhaupt aus der Moraltheorie tilgen? Befassen sich die ersten drei Zutaten, die Hurka abscheiden möchte (natürliche Anlagen, die teleologische Biologie und natürliche Tendenzen), mit der menschlichen Natur, so behandeln zwei weitere Zutaten eher sozialethische Positionen. Ein vierter Punkt, den Hurka loswerden möchte, ist die »positive Freiheit« (23). Was ist nun gegen sie einzuwenden?
—————— 10 Die Maximierung bezieht sich bei Hurka keineswegs auf Lust (wie Kallhoff 2010: 161 Hurka zuschreibt), sondern auf die Perfektionierung (»the greatest perfection«, Hurka 1993: 55). Die Lektüre von David Norton, die sich bei Kallhof anschließt, überzeugt ebensowenig: Es gelinge ihm nicht, auf fünf Seiten (Norton 1985) sein Programm der Selbstverwirklichung zu begründen. Das muss er auch nicht, da er dies zuvor auf vierhundert Seiten getan hat (Norton 1976) – was Kallhof nicht rezipiert.
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»Philosophers may define terms as they wish, but such ›positive‹ accounts of freedom are highly contentious. If they add nothing specifically moral to perfectionism – and again they do not – they should be set aside« (Hurka 1993: 23).
Das Argument der positiven Freiheit war bei T.H. Green und John Dewey eine philosophisierte Form der Sozialstaatlichkeit: Es forderte neben der bloß negativen Freiheit von äußeren Schranken, die manchmal nur auf dem Papier besteht (oder darin, unter der Brücke zu schlafen), die tatsächlichen Voraussetzungen dafür, das tun zu können, was man möchte (s.u., IV.3). Positiv heißt hier: über die bloße Abwesenheit von Schranken hinausgehend (daher »real freedom«, Van Parijs 1995.) Dazu gehört auf der einen Seite die psychologische Sicherheit (in die negative Sprache rückübersetzt, eine Freiheit von Angst – zu Freud äußerst sich Hurka allerdings ebenfalls skeptisch, 50), auf der anderen Seite das Verfügen über die nötigen Ressourcen, zumindest einen Zugang zu ihnen. Es ist abermals eine seltsame Komposition, dass Hurka weiter hinten selbst eine Umverteilung verteidigt (»material security is one condition for modest perfection«, 171), wobei er sogar auf das Vokabular von positiv und negativ zurückgreift: »we can provide causally necessary conditions or conditions that make another’s excellence more likely. Negatively, we can refrain from killing another or disrupting her projects. Positively, we can sometimes give aid or supply resources« (1993: 65).
Hurkas Re-Import neuer normativer Gehalte aus dem Utilitarismus Es gibt noch eine fünte Tendenz, die Hurka über das Kapitel »Accretions« (23–36) hinaus ablehnt: Das ist der »Moralismus« der perfektionistischen Tradition – die Annahme also, eine Verwirklichung ihrer Natur könne die Menschen irgendwie ›moralischer‹ machen: »Moralism is present in the perfectionism of Aristotle, Aquinas, and Green, and it dominates that of Kant. In my view it is a fundamental error. Humans are by no means necessarily virtuous, and if moralism implies that they are, it embodies a clear falsehood« (Hurka 1993: 19).
Hurka will also nicht nur einzelne traditionelle moralische Gehalte aus seiner Theorie fernhalten, sondern schon das Vorhaben, überhaupt moralische Gedanken mit Theorien von einer Natur des Menschen zu verbinden. Die Frage ist nur, ob er diesen vehementen Anti-Moralismus durchhalten kann. Denn er steht in seltsamem Kontrast zu vorigen Äußerungen, die den Perfektionismus als »an important moral option today« (4) und seine
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Theorie darüber als »moral theory« (4, 6) verstehen. Wie passt das zusammen? Einerseits soll die menschliche Natur wertfrei beschrieben werden. Dann lässt sich nichts Normatives aus dieser Beschreibung folgern (29): »And no argument with purely descriptive premises and an evaluative conclusion can be valid, for its conclusion contains an element not present in its premises«. Andererseits will er auf anthropologischer Grundlage einen Beitrag zur Moraltheorie liefern. Daher scheint Hurka vor der Amoralität seiner Konzeption regelrecht zurückzuschrecken und diese nachträglich zügeln zu wollen. Amoralisch ist vor allem der Umstand, dass sich auch ein Verbrecher verwirklichen könne, indem er seine kriminellen Fähigkeiten entwickelt – wie es Leszek Kolakowski einmal auf den Punkt gebracht hat: »Der Mensch kann sich selbst vielfältig verwirklichen – einer hat das Potenzial, um heiliger Franz zu werden, ein anderer hat das Potenzial, Hitler zu werden. Sollen wir denn sagen, dass unsere Aufgabe darin besteht, jedem Menschen sein Potenzial verwirklichen zu lassen, unabhängig davon, welches Potenzial es ist« (2000)?
In der technisierten Sprache von Hurka heißt der Einwand »wrong-properties objection« (9f.; 48f.). Hurkas Antwort darauf lautet: Es könne nicht darum gehen, die ›falschen‹ Anlagen zu verwirklichen, sondern eben die ›richtigen‹: solche, die »intrinsically worth developing« seien (18). Aber woher weiß ich, was falsch und richtig ist, wenn moralische Urteilskriterien aus der Beschreibungssprache eliminiert werden? Hier verdichtet sich der generelle Widerspruch des Buches: Nach der Exstirpation der Moral aus dem Perfektionismus und der Natur werden diese, da Hurka den resultierenden Amoralismus nicht akzeptieren mag, wieder re-moralisiert. Am Anfang dessen steht ein Erschaudern über die amoralischen Konsequenzen: »Although humans are essentially rational, their rationality can be realized as much in skillful burglary as in philanthropy … .Without moralism, a fully agent-relative perfectionism can permit and even require acts that diminish others’ perfection, as long as they advance the agent’s. This is morally unacceptable« (62).
Eine Moralität, die vor diesen radikalen Konsequenzen zurückschreckt, kann allerdings keine perfektionistische mehr sein, denn es geht ja um die Begrenzung des so gefassten Perfektionismus. Aber welche ist es dann? Es handelt sich wohl am ehesten um einen Reflex des Utilitarismus: Wie im strengen Utilitarismus nicht die eigenen (subjektiven) Bedürfnisse im Vordergrund stehen, sondern die globale Nutzensumme maximiert werden soll, bezieht sich auch die Forderung einer Perfektionierung bei Hurka auf
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alle Menschen. Es soll ohne Ansehen der Person geschehen. Darum entwickelt Hurka den Perfektionismus als akteursneutralen: »Aristotelian perfectionism cannot capture these convictions [forbidding harm to others’ good, CH] if it is fully agent-relative, but it can if it is agent-neutral. Then each agent’s duty to develop his own rationality is constrained by an equal duty to preserve and promote rationality in others« (62).
Das ist eine Erbschaft aus dem Utilitarismus, dem es nicht nur um die Maximierung des Nutzens ausgewählter Gruppen ging, sondern um die des Gesamtnutzens. Es kommt dieser Übertragung zufolge für den Einzelnen nicht nur auf die Perfektionierung seiner selbst an (das wäre akteursrelativ), sondern sie soll sich auf alle erstrecken: »it tells agents to care equally about the perfection of all« (62). Darin kann man auch ein Echo des »gleichen Respekts« von Dworkin sehen (s.o., II.2), obwohl es, wie wir sehen werden, keine nennenswert egalitären Folgerungen nach sich zieht. Hier fragt sich, ob Hurka nicht genau das tut, was er sich und anderen zuvor verboten hat, nämlich sich bei den Vorstellungen davon, was Natur ist, von Überlegungen einer moralischen Wünschbarkeit leiten zu lassen (»to let moral considerations affect one’s claims about what falls under a concept of nature once it is defined«, 20). Damit wäre die Konzeption zirkulär, denn Hurka möchte einerseits die Moral mit dem Perfektionismus begründen (von einer »foundation for morality« und »ethical bedrock« ist die Rede, 32). Wenn dieser umgekehrt bereits durch eine Moral zurechtgestellt ist, drehen wir uns im Kreis. (Ähnliches gibt es bei Nussbaum, s.o., III.2.) Mit der akteursneutralen Anlage handelt sich Hurka noch etwas ein, nämlich die Austreibung des Individualismus aus seiner Konzeption. Das ist ein hoher Preis. Wenn Perfektionierung als Gut unabhängig davon ist, wer genau sich entwickelt, dann ist das nicht nur lustfeindlich; der Einzelne hat auch keinen Anlass mehr, bei sich selbst zu beginnen. Die Idee der »Selbstverwirklichung«, die an vielen Stellen der Tradition im Mittelpunkt stand (Hurka nennt Green und Bradley, es gibt noch andere, s.u., IV.3), weist er konsequent ab (64, vgl. 29). Das wirkt erneut auf den Naturbegriff zurück: Hurka fasst Natur als »Wesen« (»nature is essence«, 21), aber unter den möglichen Instanzen, die als Essenz für den Perfektionismus von Bedeutung sind, ist nun nichts Individuelles mehr – eine weitere Austreibung ›traditioneller‹ Gehalte, die außerordentlich weit geht: »This idea of individual perfection is at least coherent, but it does not have plausible consequences. … When we consider individual natures as they actually are, there seems little promise in individual-essence perfectionism« (15).
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Mit diesem an Feuerbach erinnernden Gattungsperfektionismus (s.u., IV.4) ist Hurka jedoch noch immer nicht zufrieden, denn auch hier schreckt er vor den Konsequenzen – einer Pflicht zur Selbstaufgabe zugunsten anderer – zurück; kommt es ihm doch gerade auf die Wiederentdeckung der traditionellen »Pflichten gegen sich selbst« an (5, 62f.). Wie lassen sich diese ohne einen emphatischen Individualismus retten? Bei Hurka hängt dies an dem Charakter der Güter, deren Struktur sie wieder an die Individuen zurückbindet: »In perfectionism … the good is largely active« (59). Es handelt sich folglich, mit Heidegger gesprochen, um eine ›jemeinige‹ Praxis, die ein jeder nur für sich selbst vollziehen kann. Auf diese Weise kommt wieder eine »Asymmetrie« zwischen dem ›Ich‹ und den anderen hinein: »[E]ach person’s doing must be largely her own, reflecting her own energy and commitment. Others can avoid interfering with her activity, and they can offer encouragement and needed resources [das ist die Idee der positiven Freiheit, s.o.]. Yet, they can rarely produce her perfection themselves: Past a point, her achievement of active goods must be her own« (64).
Es sind, genauer gesagt, nicht die eigenen und unverwechselbaren Güter der Person, denn die Güter sind nach wie vor generell (15). Erst ihr Erreichen ist allein durch die jeweilige Person zu erlangen.11 Daniel Weinstock spricht an dieser Stelle von agent-relativity – eventuell um Hurka zu ärgern, denn die möchte Hurka (1993: 63) eigentlich ausschließen: »judgments of perfection are not absolute, but, rather, are partly a function of the particular aptitudes and predispositions of given individuals« (Weinstock 1999: 48). Diese Bezogenheit auf die eigene Verfasstheit der Individuen schleicht sich bei Hurka also durch die Hintertür wieder ein. Allerdings kommt dies in der Selbstrepräsentation der Theorie kaum vor. Das ist zum einen eine weitere Inkonsistenz, und anderen eine offene Flanke nach außen, gegenüber dem Rawlsschen Liberalismus. Denn Hurka stuft – immerhin konsequent – die Bedeutung der individuellen Autonomie, verglichen mit der liberalen politischen Philosophien, herunter, und dies nicht zuletzt aufgrund des Fehlens eines qualitativen Individualismus. Wenn die Individuen sich nicht wesentlich voneinander unterscheiden, brauchen sie auch keine aufwendigen Schutzrechte voreinander. Hurkas Perfektionismus »does not guarantee individual rights« (190), nicht einmal ein solches auf Leben: »Averaging perfectionism can tell people to end their lives« (74, vgl. 137). Hurka distanziert sich zwar – nicht
—————— 11 Dworkin nennt dies »endorsement-constraint«, s.o. die Kritik bei Wall 1998.
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zuletzt wegen dieser kontraintuitiven Folgen – von dem Perfektionsaggregationsprinzip via Durchschnittsbildung, das er an dieser Stelle diskutiert; aber das nur für extreme Fälle (83). Sein Gegenvorschlag des »wohlgerundeten Lebens« (84ff.; Hurka 2011: 37ff) verlässt sich nicht mehr nur auf Durchschnitte, lässt sie aber als Weg offen. Dies wirft die Frage auf, die Hurka nicht beantwortet, wo die Grenze eines lebenswerten Lebens liegen soll. Die problematische Dimension bleibt erhalten: »there can be intrinsic value in acts that harm many people by diminishing their perfection or, at the extreme, killing them […] acts of harming can be good« (137). Wozu, wenn alles am Erreichen objektiver, von außen zu beurteilender Werte liegt, überhaupt noch Autonomie? Für Hurka brauchen Menschen die Autonomie lediglich instrumentell für ihre Entwicklung. Ebenso brauchen sie dafür jedoch auch anderes, möglicherweise mit der Autonomie in Widerstreit stehendes. Die Autonomie ist für Hurka daher lediglich ein Gut unter anderen. Sie genießt keinerlei Vorrang mehr, weder (wie bei Rawls 1971) einen unbedingten lexikalischen, noch einen minimal-lexikalischen als Schwellenwert oder als notwendige Bedingung für andere Güter: »A plausible broad perfectionism, then, can treat autonomy only as one good among others, which may sometimes be outweighed. It therefore cannot endorse an absolute liberty principle, but it can endorse a non-absolute principle« (149). »Because it values autonomy for the same reason it values other goods, as a realization of rationality, it cannot plausibly treat autonomy as special among goods, for example, as lexically prior to or a condition of goods« (152).
Eine Konsequenz ist, dass Autonomie durch andere Werte ausgestochen werden kann: »Even if autonomy has some value, it cannot have so much as to outweigh all Mozart’s music« (149). Dieses Fehlen einer ›ontologischen‹ Individualitätskonzeption, die sich in einem abgeschwächten Autonomieverständnis ausdrückt, schwächt Hurkas originelle Kritik am liberalen Neutralitätsprinzip ganz unnötig. Diese Kritik lautet in aller Kürze wie folgt: Was Hurkas Theorie nach gut ist, ist qua Objektivität gut für alle und benachteiligt so keinen. Erstens gebe es also eine Theorie des Guten – seine –, die den Pluralismus überwindet, den der Liberalismus für so grundstürzend hält: »There is substantial agreement about the good – more, I would say, than about the contentious theories of justice advocates of neutrality go on to defend« (Hurka 1993: 163; vgl. Sher 1997: 144). Zweitens sei diese Theorie des Guten keineswegs mit Zwang verbunden (obzwar sie nicht absolut anti-paternalistisch sei: »perfectionism has no
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absolute objection to paternalism«, 158), wie oft unterstellt werde, da sich dieses Gut politisch zwanglos fördern lasse: »There is much non-coercive promotion of the good that perfectionism approves« (159). Wie wir sehen werden kehren beide Punkte später bei Sher wieder. Doch warum kommen sie bei Hurka nicht zur Geltung? Weinstock (1999: 51) meint dazu, Hurkas Kritik am Neutralismus stehe deswegen auf schwachen Füßen, weil sie sich auf die Annahme eines Wahrheitsfundamentes stütze, dass es höchstens in der Wissenschaft geben könne, aber gerade nicht in Fragen der Moral: »People form beliefs not only about matters concerning which there can be either direct or indirect empirical confirmation, but also about matters of value. And it will be much more difficult, maybe even impossible, to be clear about what will count as success in the formation of such beliefs« (Weinstock 1999: 51; vgl. Lecce 2007: 127).
Weinstock hat einen Punkt getroffen: Hurka möchte normative Fragen möglichst auf deskriptive Fragen herunterbringen. In der Ausführung hält er dies jedoch, wie gesehen, keineswegs durch. Am Ende stützt sich Hurka selbst auf normative Überlegungen. Das Problem wird durch die nachträglichen normativen Zugaben nur abgemildert: Hurka sieht in evaluativen Fragen keinen großen Spielraum für Abweichungen unter den Individuen und misst diesen abweichenden Meinungen keine große Bedeutung bei, weil er ›subjektive‹ Meinungen über Werte nicht für ausschlaggebend hält. Die ›objektive‹ Theorie, die er formuliert, ist nach seinem Verständnis nicht deswegen immun gegen die Kritik des liberalen Neutralismus, weil es Verständigung auch über das Gute geben könne (wie später bei Sher), sondern weil abweichende Meinungen ohnehin kein großes Gewicht haben: Der Perfektionist behält selbst dann recht, wenn Einzelne das nicht einsehen.12 »The perfectionist ideal … is an ideal people ought to pursue regardless of whether they now want it or would want it in hypothetical circumstances, and apart from any pleasures it may bring« (Hurka 1993: 17).
Hurkas Antwort wäre also, dass Weinstocks Kritik auf einer subjektiven Werttheorie aufruht, die er ausgeschlossen habe, so dass die Kritik an seiner Theorie vorbeischramme.13 Doch warum sollte eine ›objektive‹ Theorie der Werte von individuellen Unterschieden absehen müssen? Kann man
—————— 12 Das ließ sich allerdings auch bei den Neutralitätsdenkern am Ende nicht vermeiden: auch diese verlassen sich auf einen fiktiven oder künftigen Konsens, den es so nicht gibt. 13 »Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen können, da erklärt jeder den anderen für einen Narren und Ketzer« (Wittgenstein, ÜG 611).
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Objektivität nicht so fassen, dass sie Individualität ein- statt ausschließt? Nach meiner Diagnose scheitert Hurkas Neuentwurf an dieser begrifflichen Hürde – und zwar unnötigerweise. Solange Weinstocks Insistieren auf dem Individualismus recht behält, wieviel bleibt dann noch von Hurkas Perfektionismus? Das ist die Schwächung der Kritik, von der oben die Rede war: sie macht seine Theorie unnötigerweise abhängig von einer vorindividualistischen (und, wie wir sehen werden, überzeitlichen) Theorie des Menschen. Diese Begründung macht das Begründete schwächer, nicht stärker. Die Diagnose der utilitaristischen Ersatzmoralität ist damit bislang bescheiden. Doch das ist noch nicht alles: Es gibt noch eine zweite Infusion mit neuen moralischen Gehalten, diesmal aus dem Intuitionismus. Sehen wir zu, was diese mit dem ›gereinigten‹ Perfektionismus anrichtet. Hurkas Re-Import normativer Gehalte aus seinen Intuitionen Bislang blieb die Frage offen, wie Hurka genau zu seinem Wahrheitsfundament der objektiven Wertungen kommt, das den Pluralismus gegebener Wertungen zu überwinden beansprucht. Weinstock unterstellt, dass Hurka dies empirisch versteht (»the theory’s empiricism«, 1999: 50). Ob es Einigkeit über Fragen des Guten gibt oder nicht, lässt sich in der Tat nur empirisch herausfinden – über Meinungsumfragen oder Diskurse. Alles andere wären mehr oder weniger willkürliche Setzungen (wie es sie z.B. bei Rawls gibt). Aber »empirisch« ist nicht dasselbe wie »deskriptiv«; denn es gibt auch eine deskriptive Metaphysik (z.B. bei Peter Strawson). Auf eine solche – nicht auf kontingente empirische Fakten – scheint es Hurka abgesehen zu haben. Für ihn sind Wissensbestände, die »faktisch« sind, nicht solide genug, da sie historisch wandelbar sind. Auch sie gehören zu den verzichtbaren Zutaten des Perfektionismus (»factual doctrines … can be only accretions to perfectionism«, 26). Das Wissen über das Wesen des Menschen, das Hurka beansprucht, gelte hingegen immer: »The human essence contains the properties humans possess in every possible world where they exist and, on standard assumptions, possess essentially in every such world. … If our essence is attractive in the actual world, it is attractive in all worlds, and perfectionism is attractive in all worlds, too« (Hurka 1993: 22).
Solche Ansprüche lassen sich nicht auf empirische Weise erheben. Empirische Fakten werden von Hurka zuweilen sogar als Hindernis begriffen.14
—————— 14 Der Zusatz »obscured by empirical facts« kommt zweimal vor (Hurka 1993: 59f., 64f.).
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Obwohl sie zur Begründung situierter Handlungsempfehlungen herangezogen werden soll, soll seine Theorie des menschlichen Wesens nicht nur wertfrei und vorindividualistisch sein, sondern auch überzeitlich. Damit trifft eher die andere Kritik von Weinstock zu, welche Hurkas Thesen vorwirft, sie seien »at a level too abstract and general to guide policy« (Weinstock 1999: 53; ähnlich Yuracko 2003: 33f.).15 Damit ist die wichtige Frage angesprochen, wie eine überzeitliche und wertfreie Metaphysik des Menschen beanspruchen kann, Politik anleiten zu wollen, zumal wenn sie vorher alle normativen Elemente von Vorgängertheorien ausgetrieben hat. Im Grunde könnte sie das nicht, solange sie wirklich wertfrei bliebe. Sie ist jedoch ›frei‹ nur von denjenigen Bewertungen, die es in der Tradition gegeben hatte, auf die sich Hurka stellenweise gleichwohl beruft. Sie ist aber, wie wir sahen, nicht frei von neuen normativen Zugaben. Neben dem utilitaristischen Input gibt es ein zweites Einfallstor moralischer Gehalte über die von außen beigebrachten Intuitionen. Auf zwei verschiedenen Stationen der Produktionskette mengt Hurka in seiner perfektionistischen Baustelle dem Präparat via Intuitionen Normatives hinzu: Schon auf der basalsten Ebene, nämlich der Definition des Wesens, das die Moraltheorie fundieren soll, kommen zwei verschiedene Bestandteile zusammen: Erstens das explanatorische Verständnis des Wesens (34), demzufolge wesentlich für etwas das ist, was dieses etwas zu erklären vermag.16 Soweit stehen wir im vormoralischen Bereich. Wir können aber zu Wesensaussagen zweitens über ›unsere‹ Intuitionen kommen: »we discover essential properties by making intuitive judgments in thought experiments involving candidate members of a kind« (33f., nach Kripke 1980). In Hurkas scheinbar moralinfreie Bestimmung des Wesens des Menschen gehen also seine Intuitionen mit ein. Die Ebene der Intuitionen ist nun nicht nur, wie Hurka zurecht argwöhnt, in vielen Fällen von der Ebene der vorgängigen und verinnerlichten Erklärungen (also dem ersten Bestandteil der Wesenserklärung) abhängig und damit selten eigenständig (34). Sie ist zudem, anders als die explanative Ebene, voller moralischer Urteilsgewohnheiten. Denn unter unseren gewohnten Urteilsformen, die zu Intuitionen gerinnen, sind stets moralische Urteile enthalten. Und die sind für Hurka als weitere Prüfinstanz der eigenen Theorie wichtig: »a substan-
—————— 15 Nicht ganz nachvollziehen kann ich, wie ein Empirismus »too abstract« sein kann. 16 Hurka bezieht sich dafür, wie auch Nussbaum, auf Hilary Putnam (1975).
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tice defence of perfectionism … must show that the theory coheres with our intuitive moral judgments at all levels of generality« (31).17 Scheinbar hat die Amalgamierung moralischer Intuitionen in die ansonsten bewertungsfreie Beschreibung des Wesen des Menschen noch nicht für die angestrebte »moral theory« ausgereicht, so dass es einen weiteren Zustrom von Moral braucht. Als Grund dafür lässt sich die nach wie vor anti-egalitäre Tendenz ausmachen, die Hurka zu stören scheint. Doch wie kann der normativ angereicherte Perfektionismus noch immer gegen egalitaristische Ideen ausgerichtet sein, obwohl doch bereits einiges an Normativität in die Konzeption des menschlichen Wesens und die weitere Ausgestaltung der Theorie eingeht (durch Anleihen beim Utilitarismus und Intuitionen über das menschlichen Wesen)? Es könnte daran liegen, dass gerade die Zusätze diese Tendenz erzeugen, und nun als Gegengift neue Zusätze erfordern, wenn Hurka ein bestimmtes Ziel vor Augen hat. Rekapitulieren wir: Zunächst haben wir gesehen, dass die Konzeption einen Umweg über die menschliche Natur macht, wie wir ihm später bei Nussbaum begegnen werden (der Nussbaum schließlich dazu bewog, auf Natur zu verzichten): Der Bezug auf die menschliche Natur kann bei Hurka nur deswegen Moral ›begründen‹ (und dieser Anspruch, dass das »ideal of human nature« die »foundation for all morality« sein soll, wird bis zur letzten Seite aufrechterhalten, 191), weil bereits in die Beschreibung ihres »Wesens« Moral eingelassen ist. Dabei kam es zu einem ›Blutaustausch‹ der Moral: ältere normative Anthropologien wurden bewusst abgelehnt, wenig später jedoch durch neue moralische Beimengungen ersetzt. Aber welche Moral ist dies? Ein zentrales Element war die »agent-neutrality« (62ff.). Hurka hatte sie eingeführt, um unmoralische Folgen auszuschließen: Wenn es für mich nicht nur darum geht, mich selbst zu entwickeln, sondern auch alle anderen (was für Hurka heißt: Die Gesamtperfektion muss steigen), dann kann ich mich nicht länger auf deine Kosten verwirklichen: »If an act that harms others does more to set back their perfection then it does to advance the agent’s – as it normally will – then the act is wrong« (62).18
—————— 17 Die Moraltheorie namens »Intuitionismus« spielt bei Rawls (1971) eine Rolle. Autoren sind Ross, Prichard oder Robert Audi. ›Unsere‹ Intuitionen laufen allerdings nicht erst Alarm, wenn Menschen sich auf Kosten anderer selbst verwirklichen (Hurka 1993: 62), sondern bereits, wenn Hurka Babys oder Behinderte zu »Fast-Menschen« erklärt (47). 18 Wäre es moralisch richtig, wenn dieser Schaden die Perfektion der anderen fördert?
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Wir haben gesehen, dass mit dieser wohlmeinenden Weichenstellung eine eigenartige Verkennung des Individualismus einhergeht, die sich negativ auf die Schätzung der Freiheitsrechte auswirkt. Sie hat aber noch eine zweite fatale Wirkung hinsichtlich der Verteilungstheorie: Im Gegensatz zu der Intuition, die Hurka gehabt haben mag (wenn alle zählen, kümmern sich alle um alle: »to care equally about the perfection of all«, 62), schlägt diese Weichenstellung gegen Gleichheitsambitionen aus. Denn solange man davon ausgeht, dass die Menschen unterschiedlich begabt sind, bleibt es eine sinnvolle Annahme, den höher Begabten mehr Ressourcen zu geben, wenn ihre Umsetzungsquote von Ressourcen in Perfektionierung höher ist, denn damit steigt auch die Gesamtsumme an Perfektion. Diese Rechtfertigung von Ungleichheit bleibt akteursneutral (»giving equal weight to equal gains in the lifetime value of all people«, 75; vgl. 83, 161). Gerade durch die Akteursneutralität zählt nicht mehr jeder Einzelne. Den Ausschlag gibt vielmehr eine anonyme, schwer zu messende Summe. Selbst der Nietzscheanische Ansatz (von Hurka mit Rawls »maximax« genannt, da den Besten das Meiste gegeben wird), kann als akteursneutral gelten: »Technically it is agent-neutral because it assigns the same moral goal to persons« (77). Hurka hält seinen akteursneutralen Perfektionismus zu Unrecht für »distributively neutral« (78, 165): Dieses distributiv Neutrale ist dieselbe Position wie das Maximax, solange man davon ausgeht, dass es unterschiedliche Verteilungen schon in der (natürlichen) Begabung gibt. Es ist neutral nur insofern, als es nicht von vornherein einer Gruppe mehr verspricht als einer anderen. Post factum tut es das jedoch sehr wohl: »It is not plausible to prefer a small gain in excellence by the least excellent to a large gain by the best, for example, a small gain in musical achievement by a beginning music student to a large gain by Mozart« (Hurka 1993: 79).19
Es scheint mir genau dieser unbeabsichtigte Drift in eine anti-egalitäre Richtung zu sein, der zur zweiten Portion von Perfektionismus-fremden Intuitionen führt. Denn wenn die Intuitionen abermals zum Zuge kommen, dienen sie nicht als Baumaterial, sondern als Korrekturinstanz des Gebäudes. So ruft Hurka »some broadly egalitarian intuitions« an:20
—————— 19 Oben musste Mozart gegen die Autonomie herhalten, hier nun gegen die Gleichheit. 20 Rawls, Dworkin oder Stefan Gosepath gehen von der »Gleichheitspräsumption« aus: solange keine Gründe für Ungleichverteilung vorliegen, seien Ressourcen gleich zu verteilen. Zu rechtfertigen ist nur die Ungleichheit.
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»Many of us have a broadly egalitarian view about economic distribution: We favour roughly equal distributions of material resources, ones that give everyone a chance at a valuable life« (77, cf. 82).
Denn verteilungstheoretisch lasse der Perfektionismus nach Hurka offen, ob er distributiv »neutral« (d.h. auf empirische Annahmen angewiesen) oder direkt anti-egalitaristisch zu verstehen sei. Klar sei nur: von sich aus egalitaristisch könne er nicht sein (79): »the understandable principles run from [distributive] neutrality to anti-egalitarianism, and egalitarianism is not plausible« (1993: 79). Da diese Position den mitgebrachten egalitaristischen Intuitionen nicht gerecht wird, lässt Hurka ein Feuerwerk egalitaristischer ›standards‹ aus der Tradition abbrennen, die er nicht weiter begründet – obwohl er doch eigentlich Argumente aus der Tradition aus seinem eigenen Entwurf abscheiden wollte. So verderbe der Markt den Charakter (er könne einen »damaging egoism« herbeiführen und verspreche falsche Werte, 188), und die individuelle Entwicklung benötige ein Umfeld, das nicht zerspalten sein darf: »When a system so consistently pits people against each other, how can relations between them not suffer?« (188). Obwohl Hurka zeitlose Aussagen über das menschliche Wesen treffen will, hält er die Frage, wie zu verteilen sei, für eine weitgehend empirische (die einmal so, einmal anders ausfallen könne): Beispielsweise sei es offen, ob und inwieweit sich Talente unterschieden – weil sie dies nicht beantworte, sei seine bevorzugte Position »neutral«. Die Theorie wäscht ihre Hände in Unschuld und überlässt es der Empirie – d.h. den Experten –, wie über diese Fragen zu urteilen sei.21 An dieser Stelle also, der politischen Umsetzung, hat Weinstocks Empirismusvorwurf wieder recht: »What division of resources a distributively neutral perfectionism favors depends on three empirical issues: whether and how far people’s natural abilities differ, whether resources are more useful for higher or for lower perfections, and whether perfection is competitive or co-operative« (165).
Hurka legt sich aufgrund empirischer Vermutungen auf folgendes fest: »that most people have some significant abilities; that resources are more important for lower than for higher perfection ... and that ... each person is best able to develop in conditions where all can develop« (189).
Ein weiterer Punkt für den Egalitarismus ist der abnehmende Perfektionsnutzen von Ressourcen: Selbst wenn es höher begabte Menschen gäbe, die
—————— 21 Hurka (1993: 168) thematisiert kurz Howard Gardners Kritik am IQ-Tests.
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mit mehr Ressourcen mehr Perfektion produzieren könnten als andere, habe diese Zunahme einen Deckel, so dass es irgendwann wieder maximierungs-rational sei, den weniger Talentierten mehr zu geben (›mehr‹ heißt allerdings nicht gleich viel). Mehr nütze irgendwann nicht mehr, während man für eine bescheide Perfektionierung nicht viele Ressourcen brauche: Man muss überleben, sich materiell sicher fühlen (169) und über hinreichend Freizeit (»freedom from material toil«, 169) verfügen, um ›experimentieren‹ zu können (170). Diese Freizeit wird in einer Andeutung sogar als alternative ›Währung‹ für höhere Begabungen ins Spiel gebracht: Wer mehr könne, brauche im Grunde nicht mehr Geld, sondern mehr Zeit für die Entwicklung dieses Talentes. Dieses Argument kennt auch die Arbeitskritik der Grundeinkommensbefürworter. Mit alldem macht Hurka die Verteilung von anderen Faktoren als den rein perfektionistischen abhängig – etwa sozialethischen, wie hier deutlich wird: »We want al humans to live informed, intelligent lives, not just some elite« (79). Damit ähnelt Hurkas Position in Sachen Gleichheit interessanterweise derjenigen Position, die Rawls (1971) als »schwächeren« Perfektionismus entwirft, indem er nämlich in dieser Frage gerade keine perfektionistischen Maßstäbe anlegt, sondern andere, nicht-perfektionistische. Was an diesem Perfektionismus egalitär ist, stammt also gar nicht aus dem Perfektionismus: »Diese gemäßigtere Theorie nimmt ein Perfektionsprinzip nur als eines von mehreren innerhalb einer intuitionistischen Theorie. Es muss gegenüber diesen intuitiv abgewogen werden. Wie weit eine solche Auffassung perfektionistisch ist, hängt also davon ab, welches Gewicht den Errungenschaften der Kultur gegeben wird« (Rawls 1975: 360).
Die am weitesten gehende Forderung bei Hurka lautet »substantial ressources for all« (161). Das ist jedoch nicht dasselbe wie ›equal ressources for all‹. Damit ist Hurkas Position nicht mehr egalitaristisch im traditionellen Sinne (wie die Rede von »material equality« vermuten ließe, 189), sondern eher prioritaristisch und damit non-egalitaristisch. Trotz aller Theoriearbeit und allem Bemühen um Exaktheit22 sind wir so, normativ betrachtet, wieder im liberalen Neutralismus angekommen: Wenn jedes Talent gleich zählt, verdient jede Tätigkeit denselben Respekt. Aufgrund dieses gleichen Respektes hatte Dworkin den »television-watching, beer-
—————— 22 Hurka ist oftmals um Quantifizierbarkeit bemüht: er möchte Zustände intrapersonal nach ihrem Perfektionsgrad messen (»two units of theory equal equal three of practice«, 1993: 85) und Wissen durch »number of thruths she knows« quantifizieren (100).
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drinking citizen« (Dworkin 1985: 191, verfasst 1978) ursprünglich gegen der Perfektionismus in Schutz genommen. Wenn ein Leben, das von Bier und Fernsehen geprägt wird, gut genug ist, gibt es keine weitere Handhabe für Umverteilungsforderungen (denn Bier und Fernsehen sind billig zu haben) oder mehr Geld für öffentliche Bildungsinstitutionen. Es solle keinen interpersonalen Ausgleich (»balancing«) geben: »the best perfectionism should confine its balancing to single lives« (97; anders Rawls 1975: 568). Die Intuitionen, die Hurka importiert, sind nicht nur nicht-perfektionistisch (d.h. unabhängig artikuliert), sie sind in der Konsequenz auch nonegalitär. Das wird auch an der uneinheitlichen Bewertung von Talenten deutlich: Für ihn unterschieden sich bestimmte Talente wie etwa das vielstrapazierte musikalische beträchtlich (obzwar nicht so sehr, wie »Aristotle and Rashdall« glaubten), doch da es viele verschiedene Talente gebe, hätten die anderen Menschen noch eine Chance, das wieder auszugleichen. »But this talent can be any among many – scientific, musical, athletic, or personal. This variety in turn suggest that people’s overall abilities should be closer to equal. … The more routes there are to perfection, the better chance each has to travel by one« (Hurka 1993: 167).
Das allerdings passt kaum zu anderen Stellen: So sagt Hurka etwa, Kunst sei besser als Catchen (160), ja er stellt sogar Kriterien für die Wertigkeit von Tätigkeiten auf (dominance, extend, precision, 123f.) – was dazu führt, andere anleiten zu wollen (63): »If there are better and worse ways others can live, our duty must be to help them live better. It must be to help develop in them what is most worth developing«. Auch die als Korrekturinstanz eingeschleusten weiteren Intutionen lassen diesen Perfektionismus also nicht zugunsten der sozialen Gleichheit ausschlagen. Da dies jedoch Hurkas Ziel war (78), fällt das Fazit ernüchternd aus: Es gibt, sowohl was die Autonomie, als auch was die Gleichheit angeht, keine gute Bilanz zu verbuchen. Am Ende führt Hurka diese Minuspunkte so auf: »Pure perfectionism does not find intrinsic value in pleasure, not even pleasure in what is good«, d.h: dieser Perfektionismus hat asketische, wenn nicht gar lustfeindliche Züge. »It does not view moral virtue as intrinciscally preferable to moral vice«, d.h: er ist, obgleich als »moral theory« entworfen, grundsätzlich amoralistisch; »it favours equal distributions of resources only in certain contingent circumstances«, d.h: er ist eigentlich nicht egalitaristisch, sondern in der Regel für eine Ungleichverteilung (wenn auch abgemildert durch die genannten Fremd-Theorien); und schließlich: »It does not guarantee individual rights« (190).
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Wenn man zur Ausgangsfrage zurückkehrt: Gelingt es, gegen Rawls einen Perfektionismus zu entwerfen, der nicht, wie derjenige von George, in kulturellen Fragen erzkonservativ und (obzwar noch im Rahmen des Liberalismus) anti-modern ist; dann muss man diese Frage verneinen. Hurkas Theorie versteht sich zwar als egalitär, aber sie läuft in der Konsequenz eher auf eine Variante des Prioritarianismus zu. Das stützt eher New Labour als den New Liberalism (Freeden 1978). Was daran noch egalitär ist, ist dies nur insofern, als es nicht perfektionistisch ist. Es gelingt Hurka nicht einmal, die von Rawls und anderen gesetzten Liberalitätsstandards einzuholen. Man wird den Verdacht nicht los, dass die Bürger – vielleicht mit Ausnahme von Homosexuellen – mit einem Perfektionismus a la George noch besser fahren würden: Immerhin war es George gelungen, die Freiheitsrechte perfektionistisch zu rekonstruieren. Nach dieser Runde der Auseinandersetzung ist zu erwarten, dass unter Voraussetzung moderner liberaler Werte (wie der Autonomie) der Liberalismus ›gewinnen‹ würde. Es gibt keinen guten Grund, politisch auf diese prekäre Konzeption umzustellen. Bei so viel intellektueller Energie ist das ein trauriges Ergebnis. Wie sieht es bei den anderen Kandidaten aus?
George Shers Neuauflage aus dem Geist des Aristotelismus George Shers Buch Beyond Neutrality (1997) ist das zweite der drei Klassiker des neuen Perfektionismus. Es ist ein überaus durchdachtes Buch, das den Perfektionismus ebenfalls nicht nur als Theorie des Guten reetablieren möchte, sondern auf dieser Basis zugleich eine politische Philosophie formuliert. Gelingt es Sher, die Fallstricke zu vermeiden, die wir bisher identifiziert haben? Wir sahen bei Hurka, dass der Bezug auf die menschliche Natur ein aussichtsreicher Kandidat ist, um Objektivitätsansprüche des Perfektionismus einzulösen, dass aber die liberalen Einwände zu Recht bestehen: Auf der einen Seite haben die untersuchten perfektionistischen Konzepte von George und Hurka, die sich auf Natur zurückbeziehen, tatsächlich eine konservative und tendenziell antiliberale Schlagseite aufgewiesen – und bei der Frage der Gleichheit sah es kaum besser aus. Auf der anderen Seite scheuen liberalere Ansätze wie die von Rawls, obwohl sie ebenfalls (schwächer) perfektionistische Elemente aufweisen, vor offenen Bezügen auf die menschliche Natur zurück, so dass sie kaum mehr vom ›subjektivistischen‹ Liberalismus zu unterscheiden sind, die gar keine perfektionistische Politik gestatten mögen.
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Liest man das Buch von Sher als Ganzes, nicht als Steinbruch entweder anstößiger oder wohlgefälliger Zitate, macht sich eine ähnliche Leseerfahrung bemerkbar wie bei Hurka. Waren es bei jenem Unstimmigkeiten zwischen den Versprechungen im vorderen Teil des Buches und deren Einlösung im hinteren Teil, so verändert sich der Gehalt von Shers Buch ebenfalls, wenn man es von hinten nach vorn liest. Anders als bei Hurka allerdings lässt sich bei Sher produktiv an diese internen Spannungen anknüpfen. In meiner ›holistischen‹ Relektüre werde ich aus diesem Buch daher Ideen entwickeln, die Sher möglicherweise gar nicht in dieser Weise im Sinn hatte (siehe Sher 2012), die sich jedoch durch eine Lektüre ›gegen den Strich‹ stringent aufweisen lassen. Dabei geht es um drei Dinge: Um die Begründung objektiver Wertansprüche; um die nähere Gestalt einer solchen Epistemologie des Guten, die bei Hurka schon angeklungen war; und um den Entwurf eines liberal-egalitaristischen Perfektionismus auf anthropologischer Grundlage. Kurz gesagt gelingt Sher nämlich genau das, was Hurka anstrebte, aber misslang, obwohl Sher dies gerade nicht anstrebte. Anders als andere perfektionistische Entwürfe, die versuchen, sich an das neutralistische Schema einzupassen und einen hybriden NeutralitätsPerfektionismus auszubilden (s.u., Fn. 78), möchte Sher über die Neutralität hinaus (daher der Titel Beyond Neutrality). Nur wenn das menschlich Gute mehr ist als eine Sache des Geschmacks, ist es Sher zufolge legitim, mit Hilfe der Politik etwas von diesem Guten herbeizuführen. Folgende Fragen sind von dieser Position zu beantworten – sie dienen den folgenden Zeilen daher als Gliederung: An erster Stelle steht der axiologische Aspekt. Welches sind die menschlichen »Güter« (wenn es mehr als eines gibt), und was macht sie gut? Und warum sollte dieser Ansatz gegenüber seinen Konkurrenten – subjektivistischen oder kommunitaristischen Werttheorien – vorgezogen werden? Es folgt die epistemologische Frage: Wie kann man eigentlich von diesem Guten wissen? Und schließlich gilt es, die politischen Auswirkungen dieser radikalisierenden Relektüre auszubuchstabieren. Wer mit Shers Buch bekannt ist, dem dürfte aufgefallen sein, dass die genannte Reihenfolge die seine buchstäblich auf den Kopf stellt: Sher nämlich beginnt mit der Epistemologie (Kapitel 6), kritisiert dann konkurrierende Theorien (Kapitel 7 und 8) und entwickelt dann erst die Gehalte seiner eigenen Theorie (Kapitel 9). Meine Lesart stellt Sher, wie der junge Marx gesagt hätte, vom Kopf auf die Füße, indem es vom Konkreten (der Theorie des Guten) zum Abstrakten (dem Theorievergleich und der Epistemologie) aufsteigt.
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Axiologie: Was ist gut, und warum? Für Perfektionisten hängt das (für uns) Gute nicht unmittelbar davon ab, was Menschen fühlen, begehren oder begehren würden, wenn sie wohlinformiert wären (dazu Wessels 2011), sondern auch von darüber hinausgehenden Werten. Deswegen gilt der Perfektionismus in der Sekundärliteratur als ›objektive‹ Theorie des Wohlbefindens.23 Obwohl Shers Thema weder das Wohlbefinden noch das Glück ist, teilt er diese anti-subjektivistische Tendenz hinsichtlich der Werte: Dem architektonischen Grundstein des Buches nach muss der Perfektionismus gegen den ›selektiven Skeptizismus‹ der subjektivistischen Werttheorien argumentieren, welche die »actual or ideal desires, choices, or enjoyments« (Sher 1997: 8) der Individuen als Wertquelle (»source of value«, 164) begreifen. Dieser Theorie zufolge begehren wir x nicht deswegen, weil es wertvoll ist, sondern wir es ist wertvoll, weil wir es begehren.24 Zurecht nimmt Sher an, dass die neutralistische Position recht stark wäre, wenn diese Annahme stimmen sollte. Denn wenn Werte nur für Individuen gälten, nicht aber für politische Gemeinschaften, dann hätten Staaten wesentlich weniger Grund zu handeln (von Weinstock und Gauss wird sogar eine »complete state inaction« als Folge des Neutralismus ins Spiel gebracht, s.o., II.2). Stimmt das? Die erste Frage, die es für Perfektionisten zu beantworten gilt, wenn sie sich dieser verbreiteten Annahme entgegenstellen, ist die, was eigentlich als gut gelten soll und warum (Kraut 2007). Ein einfacher Weg, hier Einverständnis herzustellen, ist die elenktische Frage, was denn nicht gut sei. Sher nennt hierfür »servility, self-abasement, and coarse and indelicate activities and sensibilities« (1997: 184), »lives of ignorance, idleness, and depravity« (179) oder einen Zustand des öffentlichen Lebens »when our manners are unrestrained, our streets filthy, and our language imprecise and undiscriminating« (213). Selbst wenn einige nicht damit einverstanden sein werden, dass »an endless diet of punk rock or sitcoms« oder »images of casual sex and routine violence« (213) Ausdruck einer »coarse, vulgar public culture« seien (212, Sher sagt auch »boorish« 184),25 werden doch die meisten in Urteilen wie dem folgenden übereinstimmen: »sleeping in alleyways and trading oral sex with strangers for intervals of drug-induced euphoria are simply not good ways for humans to live« (179).
—————— 23 So bei Parfit 1984: 493ff.; Griffin 1986: 56ff.; Sumner 1996: 60ff.; Fenner 2007: 103 ff. 24 Diese Position gibt es nicht nur im Utilitarismus, sondern auch bei Nietzsche, Sartre oder Habermas. 25 Zentral ist das »endless«: Selbst wer Punkmusik mag, kann ihr nicht pausenlos zuhören.
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Schwieriger ist es, dies positiv zu wenden, denn solche Urteile bleiben oft formal. Wenn Sher beispielsweise schreibt, dass »some traits, activities, and ways of relating to people really are superior to others« (3), oder »some ways of being really are better than others« (ix), dann erfahren wir zwar, dass »gut« sich hier nicht auf Dinge bezieht, sondern auf Charakterzüge und Aktivitäten (»traits and activities«, 2, 198). Doch wir möchten wissen, welche von diesen Dingen in seiner »very traditional list of the elements of a good life« (8) enthalten sind. Dafür nennt Sher beispielsweise folgendes: – »values of virtue, excellence, and reason« (7), – »decency and good taste« (212), – »the civility and quality of public discourse or the character and achievements of ... citizens« (x), – »lives of autonomy, accomplishment, virtue, and knowledge« (179), – »a sustained commitment to any serious project, from seeking a cure for cancer to being a good parent« (177), oder – »aesthetic appreciation, a refined sensibility, outstanding individual achievements, philosophical insight and other ›useless‹ intellectual activities, and modes of interaction involving mutual understanding and shared or merged interests« (184). Diese Aufzählung guter Dinger scheint unabschließbar zu sein. Doch Sher ist optimistisch, dass wir die »constituents of a good life« (200) erschöpfend definieren und auflisten können. Dafür übernimmt er eine Liste von Derek Parfit. Sie besteht aus Folgendem: »moral goodness, rational activity, the development of one’s abilities, having children and being a good parent, knowledge, and the awareness of true beauty« (201; Parfit 1984: 499).26 Damit wissen wir, was für Sher das menschlich Gute ist. Wir wissen jedoch noch nicht, warum diese Dinge (und nur diese) gut sind. Die Idee ist, dass ihre Güte aus ihrem »inhärenten« Wert (9) resultiert. Anders als intrinsische Werte seien inhärente Wert nicht gut an sich, sondern gut für uns (in Bezug auf uns). Sie haben, anders gesagt, eine Quelle. Für Sher ist diese Quelle des Wertes ihr Beitrag zum Erreichen unserer fundamentalen Ziele (»fundamental goals«, 204, 208, 216 u.ö.). Das ist noch nicht das Ende der Begründungskette. Denn wie übertragen diese Ziele einen Wert?
—————— 26 Sind damit alle »Güter« erfasst? Es fehlt die »civic participation« (11), möglicherweise deswegen, weil sie nicht von allen Menschen für gut gehalten bzw. praktiziert wird, wie bereits Benjamin Constant (1828) formuliert hat (siehe sowie III.1). Zu alternativen Güterlisten siehe II.1, Fn. 23 und III.2, Fn. 10.
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Sie tun dies durch die Verbindung mit unseren »fundamental capacities« (209). Das ergibt zusammen eine rekursive Kette von guten Tätigkeiten zu inhärenten Werten, von diesen Werten zu fundamentalen Zielen, und von diesen Zielen zu den grundlegenden menschlichen Fähigkeiten. Wir können nicht weiterfragen, denn das ist schlicht »our constitution« (239); es ist der rauhe Boden, an dem sich unser Spaten zurückbiegt (nach Wittgenstein 1953: §107 und § 217). Sher fasst seinen Ansatz daher so zusammen: »while the value of a trait or activity does depend on certain facts about the individual who has or engages in it, the relevant facts concern neither his actual nor his ideal desires, choices, or enjoyments, but certain broad capacities that all members of his species share. On this account, the good life for humans is the one that most fully realizes these fundamental capacities« (Sher 1997: 8).
Diese wenigen Zeilen verraten bereits, dass Sher einen – wie es neudeutsch heißt – fundationalistischen Ansatz vertritt – also einen, der eine abschließende Begründung zu liefern versucht (was aus der Mode geraden ist).27 Allerdings ist nicht auf Anhieb klar, wie sich ein Wissen über das gute Leben für die Menschen aus der Verwirklichung ihrer grundlegenden Fähigkeiten (»realization of their fundamental capacities«, 9) extrahieren lässt. Wie funktioniert dies? Sher entwickelt zunächst ein Kriterium für Fundamentalität: »a fundamental capacity will be one whose exercise is both near-universal and near-inescapable« (202, cf. 229). Da dies ein eng gefasstes Kriterium ist, sieht Sher lediglich drei solcher Fähigkeiten: Eine angeborene »capacity to understand the world« (203), eine zweite für »practical activity«, und eine dritte »[to] form and sustain social bonds« (205): »[As] we cannot avoid trying to understand the world, we also cannot avoid thinking about how to act in and upon it« (Sher 1997: 204). »[We] appear to be essentially social creatures« (206).
Diese drei Fähigkeiten sind die theoretische und praktische Rationalität wie bei Hurka (und Aristoteles), und drittens die Sozialität.28 Sie führen umstandslos zu dreien der Ziele, die Parfit vorgegeben hat, nämlich zum Wissen, zur rationalen Aktivität (was andere »autonomy-related goods« mit
—————— 27 Zum »Postfundamentalismus« Marchart 2010; Fumerton 2010. Dieser setzt trotz seines Namens erstaunlich traditionell auf Ontologie, Wahrheit, ja sogar Ursprung, Wesen etc.. 28 Das erinnert an die alte Einteilung der Vermögen in Denken, Wollen und Fühlen. Ähnlich Kraut 2007: 137: »A flourishing human being is one who possesses, develops, and enjoys the exercise of cognitive, affective, sensory, and social powers (no less than physical powers)«. Sher geht es nicht um Grundbedürfnisse (wie Assiter 2003: 53ff.).
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einschließt, 205), und »being a good parent« (was, wenn es »generalisiert« wird, 205, auch andere wertvolle Beziehungen stiften sollte).29 Es bleiben noch drei Kandidaten der Liste übrig (der moralische Charakter, die Entwicklung der Fähigkeiten und der Sinn für echte Schönheit). Sher sagt zwar, alle Menschen hätten die »capacity to pursue each« (207). Dennoch sind sie nicht fundamental in seinem Sinne, weil wir sie zumindest im Prinzip vermeiden können. Sie seien allerdings fundamental genug, weil sie helfen, die drei anderen, echt fundamentalen Fähigkeiten zu realisieren: Eine Fähigkeit zu entwickeln »would greatly increase our chances of achieving fundamental goals«, so dass es auf derivativem Weg selbst ein fundamentales Ziel wird (208).30 Um die rationale Tätigkeit zu entwickeln, müssen wir für die richtigen Gründe sensibel (»receptive«) sein, unter denen häufig moralische (209) sowie, wenn auch seltener, ästhetische Gründe sind (204f., 211). Daher helfen uns ein Sinn für echte Schönheit und ein moralischer Charakter, die richtigen Gründe zu sehen und aufgrund richtiger Entscheidungen zu handeln. Damit sind die sechs fundamentalen Ziele durch die Ausbildung der drei fundamentalen Fähigkeiten erklärt. Dieser Ansatz von fast-universalen und fast-unvermeidbaren Zielen des Handelns ist nicht ›objektiv‹ im Sinne eines naiv gelesenen Plato oder Max Scheler. Es gibt nicht irgendwo ›draußen‹ in der Welt Werte, die lediglich entdeckt werden müssten. Die Objektivität liegt vielmehr in der pragmatisch gelesenen Natur der Subjekte. Sie müssen gewisse Dinge tun, und damit sind für Sher die Ziele dieser Handlungen (sowie die damit verbundenen Handlungen, Charakterzüge und Beziehungen) objektiv wertvoll.31 Erst die Berücksichtigung der menschlichen Natur garantiert, dass wir nicht nur über momentane Begierden oder kulturelle Sonderpraktiken reden. Dieses wichtige Element bei Sher möchter dieser selbst allerdings eher kleinreden. Ein verkürzter Dualismus in der Werttheorie Nun mag eine objektive Theorie des menschlich Guten in sich stimmig sein, und dennoch kann fraglich bleiben, warum man sie anderen Theorien vorziehen sollte. Um dies zu zeigen, muss Sher gegen gängige Werttheorien argumentieren, sowohl gegen subjektivistische wie gegen deren kommunitaristische Kritik. Obwohl Sher an beiden Fronten Boden gewinnt,
—————— 29 Die politische Partizipation ließe sich in den letzten beiden unterbringen (s.o., Fn. 27). 30 Auf die Parallele zu Kants Metaphysik der Sitten (1797) sei hingewiesen (s.u., Kap. III.1). 31 Das ähnelt dem »generic principle« bei Gewirth (1978). Vgl. Sher’s »generic aim« (205).
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behält in beiden Versuchen letztlich der Subjektivismus – also eine der kritisierten Parteien – die Oberhand. Das liegt daran, dass er den dritten Weg zwischen Kommunitarismus und Subjektivismus, den er in seiner Anthropologie faktisch betritt, in seiner Methodenreflexion außer Acht lässt.32 Die Werttheorie des Kommunitarismus behauptete gegen subjektivistische Theorien, dass ›das Selbst‹ nichts Vorgegebenes ist, sondern eher als Produkt seiner sozialen Kontexte zu verstehen ist, worunter in diesem Fall insbesondere die kulturellen Werte hervorgehoben werden. Diese Theorie des ›social self‹ (Bakhurst/Sypnowich 1995) hat Auswirkungen auf die Werttheorie: Wenn der Kontext als Ermöglichungsbedingung die Autonomie der Individuen übertrumpft, dann kann die Werthaftigkeit nicht aus den isolierten Individuen und ihren Präferenzen entstehen. Hier ist es der Kontext (eine bestimmte Kultur, Religion, Sprache etc.), der bestimmt, was als wertvoll gilt. Aber ist das eine sinnvolle Behauptung? Sher diskutiert drei Varianten dieser kommunitaristischen These und verwirft jede von ihnen. Am Ende bleibt er daher beim liberalen Credo, dass Individuen die »fundamental moral units« sein (156, »basic moral subjects«, 171, cf. 12f.). Das überrascht, denn es ähnelt der subjektiven Werttheorie, gegen die Sher doch argumentiert (176ff.). Wir müssen also genauer hinsehen. Innerhalb der kommunitaristischen These, dass das Selbst »sozial konstituiert« sei (157), unterscheidet Sher drei Varianten, die er »causal, conceptual and ontological« (159) nennt und mit Charles Taylor (a), Alasdair MacIntyre (b) und Michael Sandel (c) in Verbindung bringt.33 Vereinfacht gesagt geht es darum, unter welchen Dingen gewählt werden kann (a), was tatsächlich gewählt wird (b) und wer der Wählende ist (c); oder kürzer: der Inhalt, der Akt und das Wahlsubjekt (166).34 Shers Argumente sind klar: (a): Eine Ursache ist nicht mit ihrer Wirkung identisch, daher mache der Einfluss einer Gesellschaft auf das, was zur Wahl steht, die Gesellschaft nicht zur Quelle der Werte. Sogar für Taylor zähle noch immer der »Wert der Autonomie« (161), egal was die Optionen sein mögen.35
—————— 32 Sher erlaubt sich methodisch nur »the smallest … departure from subjectivism« (239). 33 Kausaler Einfluss meint, dass die Gesellschaft »preferences, traits, and options« (Sher 1997: 159) prägt, begrifflich werden unsere »attitudes, preferences, or choices« (159) beeinflusst, und ontologisch meint die Prägung bis in den »Kern« der Person (160), so dass sie nicht mehr von ihren »choices, attitudes, and traits« (159) zu unterscheiden ist. 34 Für Yuracko 2003: 51ff. und Sandel 2007 ist das Wahl-Paradigma insgesamt fraglich. 35 Sher (161) zitiert: »freedom and individual diversity can only flourish in a society where there is general recognition of their worth« (Taylor 1985: 207, ähnlich Joseph Raz).
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(b) Auch der begriffliche Einfluss, der auf unsere Vorlieben wirkt, macht die Gesellschaft nicht zur Wertquelle: ein solcher Einfluss ermögliche bestimmte Handlungen (als »framework«, 164), aber determiniere sie nicht: »the individual’s actual desires or choices remain decisive« (165). (c) Und gegen Sandels These, dass das Selbst durch soziale Ziele konstituiert werde, wendet Sher ein, dass es zwischen zufällig-belanglosen Wahlakten und unseren »constitutive ends« (174) eine breite Palette gebe.36 Da wir unter vielen Zielen durchaus wählen können (170), sind wir erneut beim Individuum als »source of value« angelangt. Für Sher bleiben Individuen also »morally basic« (162). Müsste er aufgrund seiner objektiven Theorien nicht Reserven gegen einen Subjektivismus in der Werttheorie haben? An dieser Stelle zeigt sich etwas Merkwürdiges: Methodisch betrachtet weicht Shers Behandlung des Kommunitarismus von der Behandlung anderer Themen ab. Gegen zwei andere Themen des Wertsubjektivismus nämlich: die Autonomie von Wahlhandlungen und die Angst vor Unterdrückung, geht er anders vor. Er nennt sie das Argument vom »Wert der Autonomie« (i) und vom »Respekt vor der Autonomie« (ii, 16). Wenn er diese zwei ablehnt, rekurriert Sher auf ein Drittes, was den Dualismus sprengt. Ihm zufolge scheitern beide Argumente deswegen, weil (gegen i) andere Werte außer der Autonomie politisch unterstützt werden können, ohne die Autonomie anzutasten, und dies (gegen ii) ohne einen »unterdrückerischen oder ausbeuterischen« Staat (17). Kunsterziehung etwa unterdrückt niemanden. In beiden Fällen hinterfragt Sher die behaupteten Dualismen (›entweder Autonomie oder andere Werte‹ oder ›entweder Neutralität oder Unterdrückung‹), indem er Möglichkeiten aufzeigt, die nicht in diese vereinfachten Schemen passen. Das ist eine geschickte Strategie. Gegen den Kommunitarismus jedoch greift er darauf nicht zurück. An dieser Stelle akzeptiert er den von den Kommunitaristen angebotenen Dualismus, demzufolge Werte nur entweder durch die Individuen oder durch die Gemeinschaft entstehen könnten. Wäre dem so, müsste man hier Stellung beziehen. Da Sher gegenüber dem Individualismus loyal ist, entscheidet er sich gegen die kommunitaristische Werttheorie. Damit allerdings gibt er im Interesse individueller Entscheidungen Boden an den liberalen Subjektivismus ab, der davon abstrahiert, wie ein autonomes Subjekt überhaupt zustande kommt. Aber ist der Wert des Individualismus tatsächlich an einen Wert-Subjektivismus gebunden?
—————— 36 Sher unterläuft den Dualismus, indem er eine dritte Option anbietet (dazu gleich mehr).
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Bei der Auseinandersetzung mit dem Kommunitarismus landet Sher also bei einem Subjektivismus, der seinem Anliegen seltsam zuwiderläuft. Wenn er nicht dem Sog erliegen möchte, der vom Wertsubjektivismus zum Neutralismus führt, dann ruft das nach einer Kritik des Subjektivismus.37 Im achten Kapitel zum Subjektivismus bringt Sher tatsächlich einige Argumente in diese Richtung. Ein zentraler Punkt ist, dass der Subjektivismus auf einer Verkettung von Metaphern beruhe (197), aber nicht erklärt habe »how value motivates, what makes value claims true, and how value is created« (176; »no adequate story has been forthcoming«, 198). In der Tat. Aber an welche Seite in diesem Dualismus sollen wir uns nun halten? Ein verkürzter Dualismus in der Epistemologie Erstaunlicherweise schließt Sher an einer anderen Stelle, nämlich wenn es um Epistemologie (140ff.) geht, erneut mit einer subjektivistischen Position. Auch dort müssen wir genauer hinsehen, denn das läuft seinen selbstgesteckten Zielen abermals zuwider. Dem hegemonialen liberalen Narrativ zufolge können ›wir‹ (das politische Kollektiv) nicht auf allgemeine Weise vom Guten wissen, da kein rationaler Konsens darüber zu erwarten sei, welcher der konkurrierenden Geltungsansprüche der ›wahre‹ sei. In Rawls’ Idee des »reasonable pluralism« werden Konzeptionen des Guten nur auf lokaler Ebene geteilt; sie gelten also nur für Individuen oder kleine Gruppen. Sie scheinen subjektiv zu entstehen; ob durch individuelle oder kollektive Subjekte.38 Diesen epistemischen Link zwischen dem Subjektivismus und der Neutralität kannten bereits klassische liberale Theoretiker: So meinte Kant, dass das Glück subjektiv und daher unklar sei und keine verlässliche Grundlage für eine Politik abgeben könne (s.o., IV.1). Innerhalb dieses politico-epistemologischen Narrativs unterscheidet Sher erneut drei verschiedene Argumente. Der Zweifel an den Geltungsansprüchen von Wertaussagen könne begründet werden durch »a scepticism about all beliefs«, »a scepticism about all normative beliefs«, oder eine Skepsis nur hinsichtlich »particular conceptions of the good« (142f.). Für Sher rechtfertigt keine dieser Annahmen die liberale Neutralitätsthese. Die ersten beiden machten keinen Unterschied zwischen dem Guten und dem Gerechten (149), so dass Liberale daraus nichts gewinnen. Nur die dritte bedarf einer genaueren Betrachtung. Das epistemologische Prinzip dahinter
—————— 37 Zur Differenz Atomismus/Individualismus Pettit 1993: 117ff. und Taylor 1985. 38 Intersubjektive Werte sind als die einer Gruppe weder objektiv noch universal.
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sei eine Kohärenztheorie, denn Ansprüche hinsichtlich des Gerechten würden von Rawls und anderen durch den Bezug auf ein unterstelltes »reflective equilibrium« gerechtfertigt (145). Doch »coherentism sets no principled limits« (150) zwischen Fragen des Guten und des Gerechten: beide können diesen Test überstehen oder nicht. Wenn wir auf diese Weise etwas über das Gerechte erfahren können, sollten wir auch etwas über das Gute lernen können. Wenn das letztere nicht möglich sei, dann sei es auch das erstere nicht (144, cf. 17). Sher hat hier einen Punkt getroffen: Es gibt wenig Anlass, bei eigenen Überzeugungen einen Unterschied zwischen dem Guten und dem Gerechten zu machen, solange diese Annahmen mit den übrigen Überzeugungen zusammen passen. Gegen den »selektiven Skeptizismus« (143) der liberalen Philosophie ist das ein triftiger Einwand: Es zeigt, dass ein Wissen vom Guten auf derselben Ebene liegt wie ein Wissen vom Gerechten. Doch dieses starke Argument bringt für Shers Ansatz auch zwei Nachteile: Erstens bringt es Sher in eine geradezu arbiträre Position eines anything goes: »From a coherentist perspective, we are never running out of things to say« (151, cf. 201). »[C]oherentism implies that anyone who seeks to justify a given belief has virtually unlimited resources on which to draw … he can appeal to its deductive, explanatory, probabilistic, or analogical relations to any of his other beliefs« (150).
Führt diese Beliebigkeit nicht von der drängenden epistemischen Frage ab, wie ein Wissensanspruch überhaupt begründet werden könnte? Zweitens wird der Kohärentismus von Sher als Subjektivismus begriffen: Nach Sher hänge es lediglich davon ab »what the subject believes« (145, cf. 151). Das einzige Kriterium, dessen es bedarf, damit eine normative Annahme den Test besteht, ist die Kohärenz mit anderen Annahmen eines Subjektes. Der Preis dafür ist, dass beide Ansprüche nun kohärenztheoretisch gedeutet werden. Das ist ein Problem, denn solange das Wissen über das Gute kohärenztheoretisch begründet wird, bleibt es lediglich subjektivistisch. Habermas hatte einen anderen Weg gewählt, um Gerechtigkeitsfragen von Fragen des Guten abzugrenzen: wichtig dafür sei nicht die Kohärenz innerhalb eines Subjektes, sondern der Konsens zwischen Subjekten. Ohne dass Sher diese Position anspricht, hätte er auch darauf eine Antwort parat: In vielen Fällen gibt es einen Konsens gerade über Fragen des Guten.39
—————— 39 Sher nennt die Verurteilung von anstößigem (»indecent«) Verhalten in der Öffentlichkeit (112, 155). Anfügen ließe sich Rancières Bedenken, dass Ansprüche auf einen Konsens andere Menschen ausschließen können.
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Zudem sind, wie schon Hurka feststellte, Fragen des Gerechten meist genauso umstritten, wie es Rawls von Fragen des Guten behauptet (144). Der unterstellte Konsens über das Gerechte bleibt eine Fiktion. Der Gedanke sticht: Wenn schon eine reale historische Gemeinschaft keine eindeutigen Festlegungen von Werten ›produzieren‹ kann, wie sollte eine nur gedachte und rationalistisch zurechtgestellte Gemeinschaft von Sprechern es dann hinbekommen? Das erscheint doch mehr als zweifelhaft. Tertium Datur Wo stehen wir inzwischen? Sher hat gegenüber kommunitaristischen und subjektivistischen Werttheorien einiges gewonnen. Doch was genau hat er gezeigt? Bislang behält der Subjektivismus recht: Es sieht noch immer so aus, als seien die »actual desires or choices« (236) des Individuums die Quelle der Werte, und auch die Epistemologie, die Sher vorschlägt, bleibt subjektivistisch. Zeugt dies nicht gegen den Perfektionismus? Solange wir nur zwei Kandidaten zulassen (subjektivistische und kommunitaristische Theorien) sieht das unvermeidlich aus, will man nicht vom liberalen Pfad abkommen. Allerdings ist es gerade nicht das, worauf Sher aus sein kann. Zwar kritisiert Sher kommunitaristische Thesen zurecht, wenn sich in ihnen ein Kollektivismus versteckt (171). Allerdings hätte er darauf auch anders reagieren können, indem er – wie anderswo – einen dritten Weg aufzeigt, der den zur Wahl stehenden Dualismus unterminiert. Ich meine, dass seine Theorie ein solches Drittes tatsächlich ausformuliert. Es gibt also einen dritten Kandidaten, der Shers Position stärken kann. Mit ihm folgt nicht mehr zwangsläufig, dass Werte aus den Individuen entstehen müssen (was Wasser auf die Mühlen des Subjektivismus wäre), wenn sie nicht aus den Gemeinschaften entstehen; und ähnlich, wenn die Ansprüche nicht mehr lediglich auf einem subjektiven Glauben über die Kohärenz der eigenen Annahmen beruhen. Ein solches Argument findet sich in Shers Buch allerdings erst in späteren Abschnitten (201ff.). Deswegen spielt es noch keine Rolle in den bisher angesprochenen Themen, die in vorderen Abschnitten abgehandelt werden. Das ist jedoch kein systematischer Grund. Liest man das Buch von hinten nach vorn (oder im Wissen um das Spätere noch einmal), lassen sich diese Dinge an der Stelle anbringen, wo sie am meisten gebraucht werden – in der Werttheorie und Epistemologie. Der dritte Kandidat ist die von Sher entwickelte Anthropologie (»human nature«, 201). Seinem Ansatz wird also nichts Fremdes imputiert. Warum
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ist dieses Dritte wichtig? Nehmen wir das Beispiel des Kommunitarismus. Ihm fällt es schwer, andere Werte aus den sozialen Beziehungen herzuleiten als diese Beziehungen selbst (was ihm einen konformistischen Zug verleiht), weil er soziale Beziehung nicht als Ort, sondern als Ursache der Wertrealisierung ansieht. Erklären wir Werte allerdings unter Rekurs auf die menschliche Natur, dann heißt das, dass es wertvoll ist, seine menschlichen Anlagen zu realisieren (»capacity fulfillment«, Gewirth 1998); und dass Gemeinschaften als »gut« bewertet werden können, wenn sie eine solche Realisierung unterstützen. Doch realisieren ist nicht erschaffen: wir können zwar davon sprechen, dass soziale Beziehungen dabei helfen können, menschliche Potentiale freizusetzen, doch weder Gesellschaft noch Individuum erzeugen das Potential. Um eine Karriere als Pianist zu machen, braucht es neben dem individuellen Mut und der sozialen Unterstützung auch ein Talent dazu (»native talent«, 208); es kann nicht einfachhin ›erfunden‹ werden (wie Rose 1999 suggeriert).40 »Selbstverwirklichung« meint also einmal die Einsicht, welche Talente wir haben, und dann deren Entwicklung (was eine Menge Arbeit sein kann; Sher nennt es »strenuous«, 208). Wenn die praktizierte Lebensform ein individuelles Potential ›trifft‹, kann das eine nachhaltige Zufriedenheit nach sich ziehen. Aber weder hat sich das Individuum dann selbst erschaffen, noch ist es ein bloßes Produkt der Gesellschaft, denn auch die Natur spielt hier eine Rolle. Wenn diese dritte Sphäre berücksichtigt wird, die sowohl die Gesellschaft wie auch das Individuum transzendieren kann, lässt sich im Sinne Taylors gegen den liberalen Atomismus sagen, dass Selbstverwirklichung auf etwas Überindividuelles verwiesen ist, ohne damit kontingente soziale Traditionen zu totalisieren. Die Individuen gewinnen vielmehr eine Ressource, gesellschaftlichen Zwängen zu widerstehen.41 Das würde Ähnliches erreichen wie Sher, indem es den Konformitätsdruck des sozialen Selbst relativiert, ohne jedoch dabei dem Subjektivismus das Feld zu überlassen. Ähnlich verhält es sich in der Epistemologie: Sher stellt die verbreitete Annahme in Frage, wir könnten etwas über das Gerechte wissen, während wir nichts Allgemeines (Politikfähiges) über das Gute wissen könnten. Sein
—————— 40 »Has he [the individual, CH] talent to serve mankind – to contribute to the perfection of the human soul – more as a musician than in any other way? Only if he has will he be justified in making music his main pursuit« (Green 1883: 469). 41 Ähnlich Marks 2005: 118ff. (gegen Taylor) sowie Menke 2005: 334ff. (im Blick auf Herder). Von »je eigenen natürlichen Besonderheiten« bei gleichem moralischen Wert spricht auch Jentsch 2009: 100f., 130; s.u., IV.2 und IV.3.
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Gegenargument ist, dass beide epistemologisch miteinander stehen und fallen: Behauptungen über Gerechtigkeit sind genauso umstritten wie solche über das Gute (38f.). Allerdings bleibt offen, wie wir von diesem Guten wissen können. Sher nimmt an, dass die Beschreibung menschlicher Güter bereits die erkenntnistheoretische Frage beantwortet: »By actually doing what I have said can be done, I shall try to back up my claim that that conceptions of the good pose no special epistemological problems« (153). Doch das ist nur zur Hälfte richtig: Etwas zu wissen (oder zu wissen glauben) mag die Frage beantworten, ob wir etwas wissen können, aber es beantwortet noch nicht die Frage, wie wir es wissen. Doch eben dies ist die eigentlich relevante Frage. Solange sie nicht beantwortet ist, kann das beanspruchte Wissen noch immer bloße Meinung sein. Immerhin geht es um einen Objektivitätsanspruch. Es bedarf also eines stärkeren epistemologischen Fundamentes, doch eben dieses scheint zu fehlen. Wenn Sher seine »near-universal, near-unavoidable goals« (229) entwickelt, wird das Wissen von ihnen schlicht vorausgesetzt. Dabei glaubte Sher, dass dies im Rahmen einer kohärenztheoretischen Erkenntnistheorie geschehe. Doch das entspricht keineswegs dem, was Sher selbst tut. Anders als Rortyanische Postmodernisten, die explanatorische Ansprüche gegen Narrative und Bilder eingetauscht haben, hält Sher klar am Erklärungsanspruch fest. Er fragt ja, warum etwas gut ist. Im Rahmen der Antwort tut Sher mehr, als er selbst ausweist: Er ordnet keineswegs nur bestehende Annahmen neu an (im Sinne eines Überlegungsgleichgewichtes). Vielmehr bezieht er sich auf reale Entitäten, und solche überschreiten das Reich der Annahmen: Die Rede ist von »empirical claims« (240), »hard data« (184), »facts about the world« sowie von »various facts about human psychology and human nature« (201). Sher bezieht sich also auf die Wissenschaften. Ein solches Vorgehen übersteigt die Kohärenztheorie: Erstens nämlich ist das Wissen darum, dass etwas eine Tatsache ist (ein »fact«), nicht länger ein bloßer Glaube (»belief«). Vielmehr müssen wir, wenn so etwas vorkommt, unsere vorigen Annahmen um den neuen Fakt herumordnen.42 Zweitens sind diese Fakten in Shers eigenen Worten nicht irgendwelche Tatsachen neben anderen. Vielmehr handelt es sich um »fundamentale« Dinge (202, 207). Eine Kohärenztheorie hat für Fundamente keinen Raum (145, Fn. 16). Sher geht keineswegs kohärenztheoretisch vor. Sein Glaube,
—————— 42 So müssen Annahmen darüber, was ich mit meinem Geld machen kann, sich nach den Fakten meines Bankkontos richten; Annahmen über meine Beziehung zu jemanden sich nach dessen realen Gefühlen, etc.
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dass dies der Fall sei, passt nicht zu dem, was er de facto tut. Zudem ist der in den Kohärentismus involvierte Subjektivismus unverträglich mit seinem Ziel einer objektiven Theorie des Guten. Es besteht kein Anlass, dieser Theorie zu folgen, denn sobald er Fakten über die menschliche Natur aufruft, ist Sher keineswegs mehr mit ›reiner‹ Ethik befasst, sondern mit einem empirischen Unterfangen (241). Sogar W.O. Quine, Shers Kronzeuge für den Kohärentismus in Sachen Ethik, ließ diesen hinter sich, wenn es um empirische Wissenschaften ging: »Science, thanks to its links with observation, retains some title to a correspondence theory of truth; but a coherence theory is evidently the lot of ethics« (Quine 1979: 475). Was tut Sher stattdessen? Was für eine Art von Wissen repräsentieren seine Sätze über fundamentale Ziele des Menschen? Das Ans-Licht-Bringen der Fakten (oder, mit dem jungen Heidegger, der »Faktizität«) des menschlichen Lebens war das Programm der ethischen Anthropologie von Aristoteles an. Sher folgt also einem ausgetretenen und respektablen Pfad (»well-worn path«, 202). Erstaunlicherweise kann sich Sher mit diesem Gedanken nicht anfreunden: Seine Vorbehalte gegenüber Aristoteles und Neo-Aristotelikerinnen wie Nussbaum (225) sind deutlich. Sher möchte »Aristotle’s metaphysical essentialism« (19, cf. 239f.) und dessen »metaphysische Biologie« vermeiden (226; MacIntyre 1984: 163; s.u., IV.1). Heißt das nicht, über den Menschen jenseits seiner Natur sprechen zu wollen? Dies liefe dem objektiven Zug der Theorie deutlich zuwider. Das Ausweichen vor der menschlichen Natur ist inkonsistent. Zudem hing sogar in der Aristotelischen Anthropologie die Entwicklung menschlicher Anlagen gerade nicht allein von der mitgebrachten Natur, sondern auch von kulturellen Rahmenbedingungen und individuellen Entscheidungen ab.43 Es gibt eine Plastizität des Potentials und eine Pluralität von Entwicklungswegen. Darum treten die Prägung des Charakters und die sozial vergleichende Betrachtung (etwa von Verfassungen) in den Vordergrund. Es wäre verfehlt, bei Aristoteles nur die Natur sehen zu wollen, statt ihre Verbindung mit sozialen und individuellen Faktoren zu beachten.
—————— 43 Selbst wenn es philologisch Parallelen zu den naturphilosophischen Schriften gibt (vgl. Müller 2006: 73), ergeben sie unabhängig von der Metaphysik Sinn (Rentsch 1990: 290). Nach Kallhoff ist selbst die Biologie bei Aristoteles nicht metaphysisch: »Der Vielfalt des Lebendigen wird kein binäres oder gar metaphysisch fundiertes Systematisierungsverfahren übergestülpt. Vielmehr wird versucht, ein durch Beobachtung und Vergleich erworbenes Wissen über einzelne Lebewesen so theoretisch zu bestimmen, dass Konkretheit und Systematik in Einklang gebracht werden können« (2010: 87).
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Was heißt das für die Werttheorie? Shers Theorie ist objektiv, weil sie von einer menschlichen Natur ausgeht, die »species-specific goals« (198, cf. 155) kennt: Demzufolge ist es wertvoll, menschliche Anlagen zu realisieren und Potentiale freizusetzen. Das ist der zentrale Unterschied zu subjektivistischen Ansätzen, die sich allein auf individuelle Entscheidungen verlassen, sowie zu kommunitaristischen Ansätzen, die sich allein auf die Rahmenbedingungen verlassen wollen. Da ist etwas, das verwirklicht werden kann, nämlich die Fähigkeiten, von denen Aristoteles und Nussbaum sprechen. Das ist kein schwarzer Baselisk in-der-Welt, doch ebenso wenig ist es nichts. Es handelt sich um einen begrenzten Spielraum von Möglichkeiten, die in Abhängigkeit vom kulturellen Umfeld und individuellen Entscheidungen verwirklicht werden können. ›Weise‹ Entscheidungen und zuträgliche Bedingungen sind deswegen so wichtig, weil wir wollen, dass sich diese Anlagen gut entwickeln. Die Güte dieser Bedingungen und Entscheidungen lässt sich empirisch beobachten und vergleichen.44 Nicht zufällig hat die Wiederentdeckung von Aristoteles im Spätmittelalter den entstehenden Wissenschaften einen Schub verliehen: Schon Aristoteles arbeitete weitgehend empirisch. Es besteht also kein Anlass, aus Angst vor der Natur des Menschen oder einer Metaphysik in einen Subjektivismus zurückzuweichen. Die Berücksichtigung der menschlichen Natur spielt, um es auf den Punkt zu bringen, hinsichtlich der Werte die Rolle eines Seinsgrundes, und hinsichtlich des Wissens von solchen Werten fungieren die Wissenschaften als Erkenntnisgrund. Politik: Anthropologie der Gleichheit, Sozialtheorie der Freiheit Doch was, wenn der Widerwille gegen Theorien der menschlichen Natur gar nicht theoretisch, sondern politisch motiviert ist? Liberale befürchten, dass Vorstellungen von ›dem‹ Menschen automatisch unsere Möglichkeiten beschränken (eine Sorge um die Freiheit) oder in naturalistischen Rechtfertigungen von Ungleichheit resultieren könnten (eine Sorge um die Gleichheit, Pinker 2002: 141ff.). Im Gegensatz zu Vorgänger-Perfektionismen wie denen von George oder Hurka ist diese Sorge bei Sher unbegründet. Im Gegenteil, erst wenn das über die menschliche Natur Gesagte stärker
—————— 44 Um nur Wilkinson 2005 oder NEF 2009 zu nennen.
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zur Geltung kommt, zeigt sein Perfektionismus seine egalitären und liberalen Kanten.45 Das gilt es nun kurz aufzuzeigen. Bislang haben wir Shers Gedanken über die Natur des Menschen von den späten Partien des Buchs an frühere Partien reimportiert, wo sie gefehlt haben. Das hat seine Epistemologie von einem (subjektivistischen) Kohärentismus in eine (objektive) Korrespondenztheorie transformiert, die gegenüber empirischen Daten offener ist und damit seine Werttheorie gegen konkurrierende subjektivistische und kommunitaristische Theorien gestärkt hat. Was bedeutet das nun für die Politik, die immerhin im Titel des Buches vorkommt? Nach dem liberalen Narrativ würde jede Politik, die sich auf Vorstellungen vom Guten bezieht, die individuelle Autonomie untergraben (denn was gut für A ist, mag schlecht für B sein, so dass A und B selber bestimmen sollten, was sie tun wollen),46 und sie würde einige Bürger anderen vorziehen und damit ›despotisch‹ werden. Daher hat Rawls den Perfektionismus als ungerecht zurückgewiesen, da ihm zufolge der Meisttalentierte am meisten bekäme (s.u., III.1). Es gibt jedoch eine versteckte Prämisse für diese Schlussfolgerung, die zu hinterfragen ist: Der Perfektionismus führt nur unter der Annahme einer natürlichen Ungleichheit unter den Individuen zu radikal ungleichen Verhältnissen. Die neutralistische Erzählung setzt also ein ›metaphysisches‹ Dogma voraus.47 Doch Shers Anthropologie muss dieses Dogma keineswegs einkaufen. Man muss sich nicht zwischen Gleichheit und Individualismus entscheiden, denn das egalitäre Szenario fördert beides. Das ist erneut ein Beispiel für die Methode des Untergrabens allzu einfacher Dualismen – hier von Freiheit gegen Gleichheit. Wenn Sher sich mutiger auf seine Theorie der menschlichen Natur berufen würde, müsste er auf diese Idee menschlicher Gleichheit stoßen. Denn wie die Objektivität des Ansatzes ihn auf die menschliche Natur verweist, weil die ausgewählten Charakteristika sonst nicht »near-unavoidable« wären, so muss er auch eine natürliche Gleichheit unterstellen, denn andernfalls wären die Ziele nicht »near-universal«. Das hat Auswirkungen auf die Verteilungstheorie, die in diesem Buch eher vernachlässigt wird (ein »loose end« nennt es Sher, 243): Wenn die Individuen sich in ihrer natürlichen Ausstattung nicht sehr unterscheiden, verletzt die Vorstellung davon, was gut für alle ist, keines von ihnen. Selbst wenn die
—————— 45 Nach Yuracko 2003: 34ff., bleibt Sher in praktischen Fragen zu sehr in der Deckung. 46 »[E]veryone does not place his happiness in the same thing« (Locke 1689: 268). 47 Das gilt noch für die Luck-Egalitarians, denn für sie verdienen nur natürliche Ungleichheiten einen Ausgleich, nicht aber die sozialen, die aus ihrer Sicht ›verdient‹ sind.
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individuellen Ausprägungen sich unterscheiden, setzt ihre Entwicklung bei allen gleichermaßen voraus, dass hinreichend Ressourcen zur Verfügung stehen. Der Hinweis darauf, dass die sozialen Unterschiede nicht auf die Natur zurückgehen, erweist den unterschiedlichen Individuen denselben Respekt – und das vermag ihre Individualisierung am besten zu unterstützen. Jemand könnte beispielsweise sagen: ›Wir sind alle gleich, weil wir alle Menschen sind, und verdienen daher alle dieselben Bedingungen‹. Das erlaubt es allen, auf ihre Weise sie selbst zu sein oder zu werden.48 Die Sorge um die Freiheit hat im gegenwärtigen Anti-Perfektionismus sogar noch mehr Gewicht als die um die Gleichheit. Ein voreiliger liberaler Reflex weist jeden Anspruch auf ein Wissen um die menschliche Natur ab (Pinker 2002). Dem vorzuziehen wäre jedoch Shers Methode eines Unterlaufens zu einfacher Alternativen (hier zwischen Metaphysik und Agnostizismus, als gebe es keine anderen Formen des Wissens). Warum nicht das verfügbare Wissen über den Menschen nutzen, statt sich auf diese verkürzte Alternative einzulassen? Diese Verwiesenheit auf Sozialforschung ist ein wichtiger Unterschied zwischen dem Perfektionismus und dem Liberalismus. Kein Liberalismus hat bislang versucht, die eigenen Annahmen soziologisch zu ›beweisen‹. Liberale Autoren wie Hayek oder Rawls argumentieren primär normativ, ohne Bezug auf die Sozialwissenschaften (abgesehen von idealisierten Modellen des reinen Marktes). Das erklärt, warum der Perfektionismus eine komplizierte Angelegenheit ist: Er kann nicht bei Modellen und normativen Schreibtischentwürfen stehen bleiben, sondern muss sich in die Abgründe der Anthropologie und Sozialtheorie werfen, um solide Fundamente zu erlangen. Im Gegensatz zu Rawls und Hurka zeigt sich Sher gegenüber diesen »Fakten« jedoch überaus offen.49 Das Beste, was eine von einem solchen Wissen angeleitete politische Gemeinschaft tun kann, ist die Schaffung von »institutions or social forms that make the favoured way of life possible or enable it to flourish« ist (Sher 1997: 61). Das vermindert die individuelle Freiheit nicht. Es muss ein Individuum nicht tangieren; es sei denn, man hat starke ›externe Präferenzen‹ hinsichtlich des Verhaltens der Anderen – aber das ist eine vormoderne Haltung. Die Verwirklichung dieser Güter ist Sache der Individuen, es macht daher keinen Sinn, sie politisch zu erzwingen. Sozialtheorie und
—————— 48 Wir werden in Kapitel IV.1 die perfektionistische Tradition eingehender betrachten, um diesen sich bei Sher nur abzeichnenden Punkt mit Inhalt zu füllen. 49 Traditionelle perfektionistische Argumente – etwa bei Ferguson, Condorcet, Godwin, Marx oder Dewey (s.o., IV.2 und 4) waren oft in Sozialtheorien eingebettet.
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Freiheit müssen einander folglich nicht in die Quere kommen. Oder ist das zu schnell geschlossen? An dieser Stelle taucht eine neue Sorge auf: Selbst wenn eine perfektionistische Politik die Freiheit der Individuen nicht antastet, zeigt dies noch nicht, warum sie umgesetzt werden sollte. Sozialtheorien sind unpersönlich; es könnte daher der Eindruck entstehen, dass der Perfektionismus zwar dem Kollektiv zugutekommt, nicht aber den Individuen. Wenn, anders gesagt, eine Politik der menschlichen Natur nur der Gattung helfen würde, nicht aber den Individuen, würde wohl keiner sie befürworten, selbst wenn sie niemandem schaden würde. Inwiefern bleibt Shers anthropologischer Ansatz also der liberal-individualistischen Perspektive treu? Und soweit er das tut, wie vermittelt er dies mit der objektiven Perspektive? Sher versucht das umstrittene Vokabular der menschlichen Natur zu vermeiden, doch das löst das Problem nicht, das keines der Ausdrucksweise, sondern der Sache ist. In der Definition von »fast universellen und fast-unvermeidlichen Zielen« macht auch ein »poor man’s Aristotelianism« (241) Annahmen über die menschliche Natur. Sher kommt einer Antwort nahe, wenn er eine »depth requirement« aufstellt, welches besagt: »the relevant goal must stand in some appropriate relation to the person himself« (234). Leider nur trägt das nicht weit, denn diese Auflage ist schon mit der Spezieszugehörigkeit erfüllt. Das Ziel müsse nur eines sein, dass niemand vermeiden könne: »then questions about whether any or all of those persons ought to pursue it, or whether it is worthy of their pursuit, simply do not arise« (238). Das beantwortet die Frage nicht, inwieweit diese fundamentalen Ziele von den Individuen qua Individuen (als Einzelne, nicht nur als Vertreter der Gattung) vertreten werden können.50 Damit bleibt das Problem bestehen: Wie kann man vermeiden, dass die Rede von der menschlichen Natur nicht irgendwann doch individuelle Belange überlagert und erdrückt? Auf diesen Einwand gibt es drei Antworten: Erstens sagt die Annahme eines allgemeinen Potentials nicht, dass seine individuelle Realisierung am Ende alle Individuen unterschiedslos zu Objekten macht. Für RenaissanceIndividualisten wäre es undenkbar, Individualität und Allgemeinheit gegenüberzustellen: Individualität wird nicht durch Ablehnung von Regeln entwickelt, sondern durch deren Beherrschung (Sherwood 2007). Sogar wenn eine Pianistin vom selben Lehrer denselben Unterricht erhalten hat wie eine andere, können beide durch die Beherrschung der Schule einen
—————— 50 Zum quantitativem und »qualitativem Individualismus« Simmel (1901).
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eigenen Stil ausbilden. Es ist ein postmodernistischer Schnellschuss, menschliche Natur und Individualität einander gegenüberzustellen.51 Zweitens verrät ein Blick in die Ideengeschichte, dass die menschliche Natur nicht nur als die eine, von allen geteilte angesehen wurde (als ob sie also in einer Spezieszugehörigkeit aufginge). Zumindest einige Autoren meinten, dass Teile der menschlichen Natur selbst individuell seien – wir werden diesem Gedanken sogleich bei Wall (sowie in IV.3) begegnen. Drittens schließlich können Individuen, sobald diese dritte Sphäre als eigenständige Wertquelle verortet wird, ihre partikularen Gemeinschaften sowie bestimmte dominante Vorstellungen vom Selbst überschreiten. Dies macht ihre Freiheit stärker, als wenn nur das Subjektive oder nur die Gemeinschaft als Wertquelle zur Verfügung stünden. Das Individuum erhält eine Ressource, dem gesellschaftlichen Druck etwas entgegenzustellen, und zwar eine, die es im liberalen und kommunitaristischen Denken nicht gibt. Sher hat gute Gründe, das individualistische Element im Perfektionismus hervorzuheben, aber daraus folgert er zu Unrecht, dass er deswegen seinen normativen Naturalismus kleiner machen müsste, wenn es um Werttheorie und Epistemologie geht. Es ist konsistenter, und zugleich sowohl liberaler als auch egalitärer, hier entschiedener zu sein und zuzugeben, dass der Perfektionismus auf einer wohlbegründeten Theorie der menschlichen Natur beruht. Bei Sher ist das Ergebnis also spiegelverkehrt zu dem von Hurka: Waren wir an Hurkas Buch mit hohen Erwartungen herangegangen, weil er als Egalitarist gilt und keine Berührungsängste gegenüber Theorien der menschlichen Natur hat, hat er im Ergebnis weder den Egalitarismus noch den Naturalismus durchgehalten – und trotzdem keine wirklich brauchbaren Resultate erzielt. Shers Buch hingegen, welches selbst in Anwendungsfragen eher tief stapelt, hat sich als stärker erwiesen als gedacht – sowohl hinsichtlich eines Naturbezugs als auch hinsichtlich egalitärer Folgerungen. Diese Folgerungen mussten dem Text allerdings gegen Shers eigenes Selbstverständnis entlockt werden. Er selbst trägt diese radikalisierende Lesart nur zum Teil mit (siehe Sher 2012). Daher müssen wir die hier angedeuteten Gedanken noch weiterentwickeln (in Teil IV). Dabei wird es vor allem um die Frage gehen, wie man von der anthropologischen und sozialtheoretischen Fundierung zu konkreten politischen Forderungen gelangen kann. Kommen wir jedoch erst zum dritten neueren Klassiker.
—————— 51 Taylor 1991 kritisiert Foucault und Derrida für die Konstruktion solcher Gegensätze; Nussbaum ebenfalls Foucault sowie Judith Butler (s.u., III.2).
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Steven Walls Perfektionismus der Autonomiebedingungen Von Steven Wall stammt nicht nur der jüngste der drei Klassiker zum Perfektionismus, er ist auch der jüngste der drei Autoren (neben Hurka und Sher). Das merkt man etwa daran, dass er versucht, das Thema weiter zu besetzen – durch die Herausgabe eines Sammelbandes fünf Jahre später (Wall/Klosko 2003) und eine Reihe von Nachfolgeaufsätzen. Unter anderem hat sich Wall dabei eine Debatte mit dem radikalen Neutralisten Gerald Gaus geliefert.52 Halten wir uns aber zunächst an die Grundlagen, seine bisher einzige Monographie von 1998. Diese ist zur Hälfe eine Kritik an Rawls 1993. In diesem Teil formuliert Wall eine originelle und überaus mutige Position, derzufolge es legitim ist, eine Theorie des Guten auch dann umzusetzen, wenn ihr nicht alle folgen können. Das ist zwar nur vorbereitend gemeint, aber dies hat es in sich. Von Interesse ist, wie Wall die durch diese Kritik gewonnene Lizenz zum perfektionistischen politischen Philosophieren in Konkretion umsetzt. Es gibt dabei einige zunächst verstörende Elemente – verstörend sind sie aber nur, weil Wall nicht dem typischen Bild eines linksliberalen amerikanischen Akademikers entspricht, sondern im Politischen eher moderat konservative Töne anschlägt. Das bestätigt ein gängiges Vorurteil gegenüber dem Perfektionismus, das sich uns bislang schon an George und (wider Willen) an Hurka bestätigt hat – und manche dazu verleitet, ihn ohne genauere Anhörung apriori zu verwerfen (nämlich durch die formale Aushebelung, die wir an Rawls kritisiert haben). Es sollte jedoch nicht dazu verleiten, Walls Argumente zu verwerfen, bevor sie näher analysiert wurden. Ich möchte dieses Werk in drei Schritten genauer ansehen: Hinsichtlich der Metaethik der ›externen‹ Gründe, weil uns das im Kontext von Axel Honneth und der radikalen Aufklärung erneut beschäftigen wird (III.3 und IV.1); hinsichtlich der sich bereits bei Sher abzeichnenden Systematik dreier Wertquellen, die bei Wall in zwei verschiedenen ›Sets‹ von Autonomiebedingungen auftauchen; und schließlich hinsichtlich der Vorschläge zur politischen Umsetzbarkeit, die bei Wall nähere Kontur annehmen. Externe Gründe: Zur Legitimierbarkeit politischer Moral Aus den vorigen Kapiteln bringen wir einen Katalog von Fragen mit. So ist zu fragen, inwiefern das Dilemma zwischen George und Rawls – zwischen
—————— 52 Wall 2009; Wall 2010b; vgl. Gaus 2009; 2010: 229ff.
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einer materialen Theorie des Guten, die allzu konservativ ausschlägt, und der Diskursverweigerung als liberaler (Nicht-)Antwort darauf – sich mithilfe von Wall besser beantworten ließe. Interessanterweise kommt Wall des Öfteren auf Religionen (1998: 196), insbesondere den Katholizismus, zu sprechen (47) und greift sogar das Streitthema der Abtreibung auf (32ff., 79). Doch weniger die Einzelpositionen, die Wall durchscheinen lässt, sind das wichtige daran (etwa im Streit mit Gaus); eher ist es die metaethische Erörterung, in die er seine Position einbettet. Wall wiederholt den Punkt, um den es ihm geht, in unzähligen Varianten. Prosaisch gesagt handelt es sich um folgendes Problem: Jeder Mensch hat moralische Überzeugungen, nach denen er handelt. Doch obwohl die Moral Regeln des Umgangs miteinander benennt, unterscheiden sich die Vorstellungen von Moral (inklusive der dazugehörigen ›Theorien des Guten‹), die die Menschen haben. Nun ist es ein Prinzip des Liberalismus, dass der Staat oder die Gemeinschaft sich möglichst wenig in das Leben der Einzelnen einmischen sollte. Das ergibt eine Grundspannung: Diese Zurückhaltung kann nicht soweit gehen, dass jeder nur seinen Regeln folgt; denn es bedarf zumindest einiger gemeinsamer Regeln.53 Besonders die Moral verlangt, dass alle sich an sie halten (das macht ihre Universalierbarkeit aus). Das ist keine Prinzipienreiterei, sondern hat einen pragmatischen Sinn: Wenn es z.B. kommunales Land gibt, das nach bestimmten Regeln von allen genutzt wird, kann nicht einfach Einer nach einer anderen Moral leben und sich dieses Land plötzlich ›privat‹ aneignen. Eine solche ›Landnahme‹ wäre aus Sicht der anderen unmoralisch; solange bis sich die neue Regel (Einzelne dürfen sich Gemeingüter privat aneignen) irgendwann durchsetzt – vermutlich erst dann, wenn nicht mehr genug für alle da ist. Miteinanderhandeln ist also nicht möglich, wenn jeder einer anderen Moral folgt. Der liberale Lösungsversuch war, das Problem zu umgehen: Moral wird zur kulturellen Frage, ja zur Privatsache erklärt. Vielleicht rührt daher die euphemisierende Formel des ›guten Lebens‹, da sich dieses besser ins private Leben bannen lässt (es erinnert an die ›gute‹ Flasche Wein vor dem Kamin, die jemand dem Bier vor dem Fernseher vorziehen mag, ohne damit anderen).54 Die wenigen verbleibenden gemeinsamen Regeln werden dann zur ›Gerechtigkeit‹, die nun ›politisch‹ verstanden wird – allerdings mit dem tautologischen Kriterium, dass nur diejenigen Regeln öffentlich zu
—————— 53 Ob formell oder informell, legalisiert oder über Verhaltenserwartungen habitualisiert. 54 Außer, er äußert sich öffentlich dazu, wie Peer Steinbrück es Ende 2012 tat. Zu Dworkins »beer-drinking, tv-watching citizen« siehe II.2.
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rechtfertigen sind, die von allen rational unterschrieben werden könnten. Das sagt zweimal dasselbe: nur die Regeln können von allen akzeptiert werden, die von allen akzeptiert werden können. Wir haben gesehen, dass dieser Versuch, den gordischen Knoten per Handstreich – nämlich durch die Unterscheidung privat/politisch – zu lösen, hinkt. Es gelingt Rawls nicht, die Idee stimmig zu machen. Perfektionisten wie George und Hurka haben dann versucht zu zeigen, dass es moralische Angelegenheiten gibt, die von allen verstanden werden können und daher politisch gefordert und gefördert werden dürften. Wall geht nun anders vor, und das unterscheidet ihn am markantesten von den anderen Perfektionisten. Ich möchte es überspitzt vorwegnehmen. Wall vertritt nicht mehr diese (Shersche) Position: Es gibt eine allgemeine Theorie des Guten, also lasst uns diese umsetzen!
Er vertritt vielmehr eine radikalisierte – oder realistischere – Fassung: Es gibt keine allgemeine Theorie des Guten, die alle unterschreiben könnten. Dennoch dürfen wir eine Theorie des Guten, wenn sie wohlbegründet ist, auch umsetzen.
Es sollte zwar eine vernünftige (»sound«) Theorie des Guten sein, aber man muss nicht jeden überzeugen, bevor sie politisch umgesetzt werden darf. Das ist eine originelle Position, die viel Provokationspotential birgt. Sehen wir daher genauer hin, wie Wall vorgeht. Zunächst wendet Wall in seiner Rawlskritik ein, dass die Behauptung einer ›neutralen‹ Sphäre des Politischen, in der alles immer schon im Voraus entschieden ist, da alle rationalen Menschen sich einig wären, nicht in allen Fällen zu haben ist. Solche Angelegenheiten bleiben jedoch oft nach wie vor ›politisch‹ und müssen geregelt werden. So kann man nuklearen Abfall nicht einfach liegen lassen, nur weil man sich nicht einig wird.55 Pikanterweise veranschaulicht Wall dies mit dem Beispiel der Abtreibung, das zwischen Rawls und George für gewaltige Spannungen gesorgt hatte: »A government can permit or prohibit the practice of abortion. It cannot do both and it cannot do either. It must come down on one side or the other. Assuming abortion is a controversial practice in a given society, its citizens will have no choice but to promote controversial political action« (Wall 1998: 33).
—————— 55 Beispiele sind Fragen der Verteilungs- und Verteidigungspolitik, Todesstrafe, Erziehung und »affirmative action« (Caney 1995; Chan 2000; Rasmussen/DenUyl 2005: 166f.).
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Genau darin war Rawls in den Fettnapf getreten, weil er an diesem Beispiel versucht hatte, eine umstrittene Frage als immer schon in seinem Sinne vorentschieden darzustellen.56 Man könnte die Charakterisierung ›des Politischen‹, die dies nicht sehen will, als ›Pasta-Theorie‹ des Politischen charakterisieren. Denn die Beispielebene, die das liberale Politikbild prägt, scheint in etwa so zu liegen: Der eine will Tomatensosse zu seinen Pasta, die andere Carbonara. Aufgrund des wechselseitigen Respekts darf aber keiner den anderen zwingen, seine Soße zu essen. Deswegen bleibt es dabei, dass jeder sein Süpplein kocht. Es gibt keine ›Volksküche‹, die für beide kocht.57 Das Politische kommt nicht zustande. Es darf bezweifelt werden, ob sich politische Probleme so konzipieren lassen. Eine solche Möglichkeit des Ausschlusses strittiger Fragen aus dem Raum des Politischen gibt es weder bei Einzelfragen, noch bei den »constitutional essentials«, die sich für Wall (1998: 42, 49, 78) ohnehin nicht klar von den ›normalen‹ Fragen abgrenzen lassen. Die ›Pasta-Theorie‹ der Politik ist also deswegen verfehlt, weil sich nicht jede umstrittene Frage auf private Tische zurückbiegen lässt. Es ist vielmehr ein Kennzeichen des Politischen, dass sich politische Angelegenheiten nicht auf private Wahlhandlungen zurückführen lassen. Doch damit sind sie nicht per se über Konsense geregelt; auch wenn man sich dies gern einreden würde. Am Pasta-Bild lässt sich eine wichtige Differenz erläutern, die Wall einführt: Es gibt zwei Versionen, mit denen der Perfektionismus diesem Bild entgegentreten kann. In dem einen Szenario gibt es eine Wahrheit, in dem anderen gibt es keine. Wall scheint dem ersten Szenario nahezustehen, wenn er sagt: »We want (and should want) our political life to be based on true doctrines about the world (178, eine Politik der Wahrheit). Wir sieht das Beispiel unter dieser Annahme aus? Nehmen wir an, es ließe sich nicht vermeiden, dass die Streithähne zusammen essen, da nur ein Herd zur Verfügung steht. Es stünde außerdem fest, dass Tomatensoße viele Vitamine hat und antidepressiv wirkt, dass Sahnesoße dagegen dick macht und Ei leicht verdirbt, weswegen Carbonara manchmal Magenschmerzen bereitet. Eigentlich ist der Fall damit entscheiden. Der Liberale würde selbst dann noch sagen müssen, dass gar nicht gekocht werden darf, weil sonst die Tomatenpartei die Meinung der Carbonarapartei nicht respektieren würde
—————— 56 Wenn in diesem Fall Rawls’ Urteil und die Realität – in der dies umstritten bleibt – derart auseinanderklaffen, könnte das bei anderen Versicherungen ähnlich verhalten. 57 Gemeinsame Mahlzeiten hieß sogar Aristoteles gut, der Verteidiger des Privateigentums (Pol 1272a 12; vgl. Hirschman 1997 sowie den Film Zusammen! von Moodyssonn 2000).
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(wie Wall 83ff. am Beispiel von Larmore 1988 erläutert). Der Carbonarapartei werde nämlich die Fähigkeit abgesprochen, sich eine eigene Meinung zu bilden; und sei es eine nachweislich falsche. Der Perfektionist dagegen wäre nach Wall aus zwei Gründen berechtigt, für beide Parteien Tomatensoße zu kochen: Erstens, weil die zweite Partei sich über keinen Schaden beschweren kann – für die Tomatensoße sprechen eben bessere Gründe.58 »If the Reds’ principles are correct and if the Reds are justified in believing they are correct, then it is hard to see how the Greens could have a legitimate grievance« (Wall 1998: 82). »We should not give weight to harms which are only harms because people have false beliefs« (89).
Und zweitens, weil die Kinder beider Familien hungrig von der Schule kommen und etwas zu essen brauchen. Die Kinder wären in diesem Fall unschuldige Opfer, wenn die Elternpaare die Sache nicht regeln können: »If they do not enforce these views, injustice will result« (86f.). Wall geht von einer Symmetrie zwischen Eingreifen und Nichteingreifen aus. Die Begründungslast (»justificatory burden«) liegt nicht allein beim »would-beinterferer«, auch das Nichteingreifen braucht eine Begründung.59 Folglich ist Nichtkochen ist keine Option, weil eine Entscheidung her muss, und weil auch das Nichtentscheiden eine Entscheidung wäre – und zwar die schlechteste. Tertium non datur. »We ought to conclude, then, that when controversial moral issues are at stake the state cannot realistically avoid controversial political action. Here its failure to act is as significant as the action it takes … there is no way to avoid promoting controversial political results« (Wall 1998: 37).
Dieses Politikbild erinnert von fern an Carl Schmitts Dezisionismus, demzufolge ebenfalls eine Entscheidung her muss, die so zum Wesen des Politischen wird. Der Unterschied ist jedoch, dass es Wall gerade darauf ankommt, eine solche Entscheidung möglichst gut zu begründen.60 Wenn es Kriterien für einen ›Ausnahmezustand‹ (Schmitt 1922: 11) gibt, ist er keiner mehr. In der Tat ist es ganz normal, dass Menschen über Politisches unterschiedlicher Meinung sind. Bei Carl Schmitt hingegen – ebenfalls ein Feind der »Neutralisierungen« (Schmitt 1932) – stand ein Wertnihilismus hinter dem Drängen auf Entscheidung (zumindest theoretisch; praktisch hat er
—————— 58 Vgl. Thaler/Sunstein 2009 sowie der bekannte Brokkoli-Boykott an englischen Schulen. 59 Wall 2010: 125; ähnlich bereits Peter Singer zur bengalischen Hungerkrise (1972). 60 ›Rechtfertigen‹ passt nicht, denn nach Wall würden nicht alle das akzeptieren. Mit einer Rechtfertigung ist also gar nicht so viel gewonnen, wie etwa Rainer Forst unterstellt.
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gleichwohl ›starke Wertungen‹ in seine Theorien eingebaut). Bei Wall ist also keineswegs ein Schmittianismus am Werk wie etwa bei Mouffe (2005). Man kann sich kein besseres Entscheidungskriterium denken als den Bezug auf eine verbürgte Wahrheit, die den Streit klar entscheiden würde.61 Allerdings ist die Annahme der Neutralisten die, dass es in solchen Fällen gar keine ›Wahrheit‹ gebe (de gustibus non est disputandum, s.u., Fn. 12). Das wird mit unterschiedlichen Szenarien begründet: Aufgrund eines Skeptizismus (wir wissen nichts Sicheres von Werten), eines Pluralismus (alle Werte sind gleich wahr), eines Relativismus (Werte gelten nur für die Gruppe, die an sie glauben) oder eines Non-Kognitivismus (Wahrheit ist für Wertfragen die falsche Kategorie).62 Ein Buch namens Against Perfectionism befindet z.B., die Perfektionisten verstünden nicht, dass es »rival truthclaims« gebe (Lecce 2008: 127). Die Streitfrage könne für Liberale unmöglich unter Bezug auf (nur) eine Wahrheit gelöst werden. Das erwägt auch Wall. Die zweite Variante wird daher nicht epistemisch, sondern moralisch aufgezogen. Selbst wenn es keine wissenschaftliche Begründung für eine der beiden Gerichte gäbe, bliebe in diesem Beispiel der Entscheidungsdruck bestehen. Wall wählt für diese Frage eine drastischere Beispielebene: er nennt den Zwang zur vegetarischen Ernährung (d.h. ein Verbot, Tiere zu schlachten), Verbote der Abtreibung und der Beihilfe zum Selbstmord (75 Fn., 78 Fn.). Man darf diese Beispiele nicht missverstehen als das, was Wall den Menschen vorschreiben will; er möchte lediglich anzeigen, um welche Sorte von Fragen es hier geht. Letztlich sagt er also ›nur‹, dass solche Fragen entschieden werden müssen, und dass dies nur durch materiale Argumente entschieden werden kann (»we need to know the details of the particular case at hand«, 77). Es ist daher nicht vorab eine dieser Politiken auszuschließen. Kehren wir dafür zu unserem Pastabeispiel zurück. Die Tomatenpartei darf auch dann Tomatensoße kochen, wenn es keinen harten Wahrmacher gibt: »Sometimes people will rightly conclude that they must make demands – and attempt to enforce them – on others even when these demands cannot be justified to all« (Wall 1998: 118).
—————— 61 Die Neutralisierung, die Schmitt meint, ging ebenfalls durch Natur vonstatten: Das Naturrecht und der Bezug auf Naturwissenschaft im 17. Jahrhunderts sollten auf säkulare Weise konfessionale Kriege dadurch vermeiden, dass keine Partei der anderen eine religiöse Weltsicht aufzwingt (s.o., IV.1). Der Neutralismus des 20. Jahrhunderts hat (mit Ausnahmen, Rassmussen/Den Uyl 2005) selbst diese Naturannahmen fortneutralisiert. 62 Zum Skeptizismus oben bei Sher (Fn. 39), zum Pluralismus Kapitel II.2 und III.2.
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Was genau berechtigt dies? Im Grunde nimmt Wall die Liberalen nur beim Wort: wenn es kein externes Entscheidungskriterium für die Berechtigung von Ansprüchen über das Gute gibt, dann sind die Ansprüche beider Parteien gleich berechtigt.63 Entscheidet nun eine Partei für beide, weil eine Entscheidung her muss, dann behandelt sie die andere nicht ungerecht. Es geht nach Gerechtigkeitsprinzipien zu, selbst wenn die Anschauungen der anderen Seite nicht in allem geteilt werden. Das ist eine ganz normale politische Auseinandersetzung, in der es immer Sieger und Verlierer gibt: »So long as the principles being enforced fall within the range of principles that are sound, no one is treated unjustly or unfairly« (Wall 1998: 81). Das trifft im neuen Beispiel auf beide Seiten zu. Sogar wenn die Gegenpartei eine Abstraktionseben höher wandert und behauptet, sie würde einer Maßnahme unterworfen, die sie mit guten Gründen (nämlich ihren eigenen Prinzipien) anfechten könne, ändert sich nichts. Das Ganze würde ›nur‹ zu einer Gerechtigkeitsfrage (statt zu einer über das Gute), doch hier verhielte es sich genauso: Wenn umstritten bleibt, was gerecht sei, und jede Seite gute Gründe hat, hat die entscheidende Seite (wer es auch sei), nach wie vor gute Gründe, und damit genügend Berechtigung zu handeln, wenn es sein muss. Auch ohne Konsens oder eine nachweisliche Wahrheit hat die Gruppe, die entscheiden kann, das Recht, nach ihren Gründen vorzugehen (wenn sie welche hat). Das würde die andere Gruppe genauso machen: »no injustice would be done if either side imposed their principles on the other side. This conflict over justice would resemble other political conflicts … where reason has nothing to say, e.g. whether a political society should build a public park or a football stadium with public money« (Wall 1998: 81).
Könnte man hier einen Paternalismusvorwurf anbringen? Immerhin zwingt eine Gruppe die andere zu etwas, was diese dezidiert nicht möchte. Wall ist nicht so naiv, dass er das nicht sehen würde. Der Vorwurf lässt sich in seinem Buch mit drei Argumenten kontern: einer Abwägung, einer Unterscheidung von Schadenstypen, und einer Bewertung der Folgen: Erstens würde dieser Vorwurf die liberale Alternative – nämlich die Nichthandlung, die noch schlechtere Folgen hätte – unterschlagen.
—————— 63 Walls Beispiel geht im letzteren Fall davon aus: »The Red’s principles [im Beispiel: das Prinzip, Tomatensoße zu kochen, CH] are no more sound than the Green`s principles« (79, fünfter Fall); während es im ersten Fall heißt: »The Red’s principles are sound, and the Reds have good reasons for believing they are sound« (79, erster Fall – was impliziert, dass die Prinzipien der Grünen nicht genauso vernünftig sind).
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Zweitens entstünde der gezwungenen Gruppe zwar möglicherweise ein symbolischer Schaden (»symbolic harm«, 89), doch wenn die zwingende Gruppe auf die Durchsetzung ihrer Prinzipien verzichte, geschehe reales Unrecht, und das wiege schwerer (90). Unter »symbolic harm« fallen solche Angelegenheiten, die wir bei George ›externe Präferenzen‹ genannt hatten – Vorlieben also, die nicht das eigene Verhalten, sondern das Verhalten anderer betreffen; etwa wenn Nichtraucher nicht nur selbst nicht rauchen, sondern auch wollen, dass niemand anders raucht (ähnlich bei Gegnern der Abtreibung oder von Schweinefleischkonsum): »A symbolic harm occurs when when a person’s sense of self-worth is wounded by the actions of others because he holds a set of beliefs that confer meaning on these actions« (Wall 1998: 89).
Damit ist eine der ausstehenden Antworten auf George gefunden. Denn für George ist klar, dass Homosexualität (eines seiner Lieblingsbeispiele) ein ebenso unmoralisches wie unvernünftiges Verhalten ist, dass sie damit nicht nur den Praktizierenden, sondern auch den Beistehenden einen Schaden zufügt (»immorality is in principle harmful«; George 1993: 168), und wir damit über eine »justification to use coercion« (168) verfügen, um sie zu verbieten. Für Wall liegt die Sache anders. Wenn ich mich gekränkt fühle, weil anderen etwas erlaubt wird, was ich gar nicht tun möchte (etwa ihre Homosexualität auszuleben, obwohl ich das für falsch halte), wäre das ein »symbolischer« Schaden. Denn es betrifft nur meine Vorlieben bezüglich des Verhaltens anderer. Wenn ich hingegen als Homosexueller daran gehindert werde, meinen Neigungen nachzugehen, wäre das ein realer Schaden. Es ist klar, dass das Interesse der Homosexuellen Vorrang hat vor dem symbolischen Schaden, den Homophobe erleiden, wenn Homosexuelle mehr Freiheit erlangen. Ähnlich verhält es sich mit dem »symbolischen« Schaden, den rassistische Weiße erlitten, wenn Schwarze mit ihnen im Abteil saßen, in Abwägung mit dem realen Schaden der Schwarzen, denen der Zugang zu bestimmten Abteilen verwehrt wurde. Kommt es zu einem Vergleich beider Schäden, ist klar, dass der reale Schaden schwerer wiegt als der symbolische. Drittens schließlich übergeht der Paternalismusvorwurf das politische Potential dieser Position. Eigentlich wäre nämlich zu fragen, wie die Tomatenpartei überhaupt in die Position kommt, Soße für alle zu kochen. Hier weicht Wall zunächst aus:
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»the further issue of how it is that the Reds got into a position to impose authoritatively their principles on the Greens … raises a host of further questions that need not detain us here« (Wall 1998: 82).
Wall geht es an dieser Stelle nicht um Demokratietheorie (die Frage, wie jemand dort hinkommt), sondern um die Frage, was diejenige, die einmal dort angekommen ist, aus Sicht der politischen Philosophie legitimerweise tun darf. (Das zweite ist mit dem ersten keineswegs beantwortet.) Es ist legitim, die Frage, wie die Einen in die Position kommen, über die Anderen zu entscheiden, offen zu lassen. In einer Demokratie können wir davon ausgehen, dass dies mit rechten Dingen zugeht. Es handelt sich gerade nicht um eine Ermächtigung für eine Zwangsherrschaft über alle Carbonara-Liebhaber. Es lässt sich genauso gut als Aufruf zur Partizipation lesen. Denn wenn es keine Gerechtigkeitsfrage ist, die »die Vernunft« (81) für uns lösen kann, bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als sich selbst an der Auseinandersetzung zu beteiligen. Das berührt eine weitere unserer mitgebrachten Fragen: Die Rawlssche Strategie gegen George war es, sich nicht auf die materiale Ebene zu begeben, sondern eher ›quasi-transzendental‹ zu zeigen, dass es die gegnerische Position eigentlich gar nicht geben dürfte. Praktisch betrachtet kann das depolitisieren: Wenn »die Vernunft« im Vorhinein entscheiden kann, wer sprechen darf und wer nicht, bedarf es keiner weiteren Schritte mehr. Doch nach Wall ist dies keine Option (»reason has nothing to say«, 81, denn in dieser Frage gibt es keine externen Kriterien). Damit wird es zur Sache einer ›normalen‹ politischen Auseinandersetzung, die wie im PastaBeispiel unter Entscheidungsdruck steht: Entweder Park oder Stadium (81) – oder nicht entscheiden und gar nichts bauen. Wohlwollend gelesen ist das partizipativ. Es transportiert folgende Botschaft: Wenn euch etwas nicht gefällt, appelliert nicht an ›die Vernunft‹, um es transzendental zu verunmöglichen, sondern setzt euch für eure Belange ein! Überzeugt die anderen!
Welches der beiden Beispiele sollen wir zur Grundlage nehmen – das mit oder das ohne Wahrheitsanspruch? Was man bräuchte, um vom letzteren Beispiel ohne archimedischen Punkt zum ersten (mit Kriterium) zu kommen, wäre nicht etwa ein moralischer Realismus – wenn damit gesagt wird, dass es ›moralische Tatsachen‹ geben soll, die irgendwo in der Welt herumschwirren. Diese metaphysische Hintergrundannahme würde die materiale Annahme, die ohnehin schon umstritten ist, nur noch umstrittener machen. Sondern es geht Wall, wie wir sahen, um externe Gründe.
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Das meint solche Gründe, die ein Akteur für eine Handlung selbst dann haben kann, wenn sie in seinem (bisherigen) Motivationsset nicht vorkommen. Dies wird in vielen Strömungen der neueren kritischen Theorie, die »immanent« bleiben möchte, ausgeschlossen (Williams 1981; McDowell 1995; s.u., III.2). Es handelt sich um Gründe, die es A erlauben, für B zu entscheiden, selbst wenn B die Gründe nicht teilt. Gäbe es solche Gründe, wäre der Pflock für die Tomatensoße leicht eingeschlagen – also für die Position, die es erlaubt, im Zweifelsfall für andere mit zu entscheiden, wenn entschieden werden muss und man dafür vernünftige Gründe hat. Vernünftige Gründe meint hier, dass es keine subjektive Geschmacksfrage wäre, sondern eine von wahr oder falsch (Wall 1998: 86). Dann wäre der Fall für die Perfektionisten einfach – sie könnten folgenden starken Einwand gegen die Neutralisten machen: »We can make a moral demand on a person if we offer her reasons that we sincerely believe are sound, even if she is incapable of appreciating their force« (116). Dieser Einwand hängt allerdings von der philosophisch umstrittenen Annahme von »external reasons« ab. Darum weicht Wall erneut zurück: »If it can be shown that at least some external reasons exist, the objection would remain standing. However, I shall not try to show this here. The topic is much too big for present concerns« (Wall 1998: 117).
Wall weicht also zum zweitenmal zurück, was seine Position zu schwächen scheint. Wir wissen daher nicht, ob es für Wall externe Gründe gibt oder nicht. Doch kann man ihm in diesem Fall ebenfalls den Rücken stärken: Wall lässt die Frage nicht wirklich offen (auch wenn das Zitat dies behauptet). Er formuliert an anderen Stellen seine Position so klar, dass man schließen muss, dass genau dies seine zentrale Annahme ist. Es sei nur eine dieser Stellen zitiert, damit sich dies nachvollziehen lässt. Wall charakterisiert den liberalen Neutralismus als Ausklammerungsstrategie – alles Umstrittene werde in Klammern gesetzt (»bracketing strategy«, 44ff.): »people often want to use political power to advance their ideals and values. Believing these ideals and values to be sound and worthy of support, they naturally seek to give political expression to them. Thus, the bracketing strategy demands a special type of restraint. It asks people to refrain from doing what they believe they have good reason to do« (Wall 1998: 30).
Was hat Wall hieran auszusetzen? Man könnte dies mit Habermas als unnötige Exklusion auffassen, wenn alle Menschen mit Idealen aus der Politik ausgeschlossen würden. Untergründig scheint Wall skandalisieren zu
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wollen, dass man der liberalen Agenda zufolge nicht politisch vertreten dürfe, wovon man überzeugt sei. Das mag zwar wertkonservativ klingen, würde jedoch auch eine Gesetzgebung im Interesse von Schwulen oder Frauen ausschließen, denn jedesmal hätte sicher irgendjemand Gründe, sie abzulehnen. Shers starker Punkt liegt erst in der Paraphrasierung der liberalen Position: Ihr zufolge glauben die Leute, sie hätten gute Gründe dafür (das ist der schon von Sher kritisierte Wertsubjektivismus). Solange dies nicht mehr als nur ein Glaube wäre, hätten die Liberalen mehr Recht. Aber: »value and belief in value can come apart« (196). Der Fehler der (Rein-)Liberalen ist es also, Politik auf Treu und Glauben zu stützen – auf die subjektiven Überzeugungen, die bei Rawls’ im Vordergrund stehen, wenn er politische Prinzipien auf solche eingrenzt, die der »public acceptability« unterliegen (113).64 Doch ein von allen Bürgern geteilter »Glaube« kann noch immer falsch sein, wie ein drastisches Beispiel (das Deutschland um 1935 als Konsensdiktatur) veranschaulicht: »an unjust political order is not made better simply by the fact that its citizens identify with its governing principles« (121; ähnlich Sayer 2011: 136). Damit wirft Wall dem Liberalismus das Ausblenden externer Gründe aus der Politik vor. Er hält es für falsch, prozeduralen Argumenten immer einen Vorrang vor inhaltlichen Argumenten einzuräumen (91). Natürlich will er weder eine Expertokratie noch einen rigiden Tugendterror einführen – das stünde in Widerstreit zu seiner Verteidigung der Autonomie, zu der wir noch kommen. Er möchte vielmehr vermeiden, alles auf das Soziale als normative Instanz zu reduzieren. Denn genau dies scheint aus dem liberalen Neutralismus zu folgen: Obwohl dieser im Namen der individuellen Freiheit auftritt, hat der Einzelne in diesem Denken politisch gar keinen Raum, seine Besonderheit zu vertreten. Das solle privat geschehen (und dagegen zog, obzwar nicht im Gewand des Individualismus, schon der Kommunitarismus zu Felde). Man könnte es so zuspitzen: Die idealisierende Vorstellung, politisch dürfe nur das überhaupt artikuliert werden, was von vornherein Aussicht auf Konsens hat, transportiert versteckt, weil transzendentalisiert, aber darum nicht weniger mächtig, die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit. Nur dass diese Mehrheit im Wunschbild der liberalen Philosophen eben ›liberal‹ in ihrem Sinne ist.65
—————— 64 Das erinnert an die Idee der »Transparenz der Wahrheit« bei George (II.1). 65 Auch Radikalkonservative können das von sich behaupten. Die Wertbegründungsinstanz im liberalen Denken ist eher das atomisierte Individuum. Das Erdrückende kommt erst
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Im ersten, Rawls-kritischen Teil findet Wall dafür unterschiedliche Formulierungen – sie gehören noch nicht zur eigenen Programmatik. Zu fragen sei etwa, ob wir die Übereinstimmung über etwas stets höher veranschlagen sollten als die Frage, ob es richtig sei (»to value agreement over correctness«, 74); oder ob stets die »subjektive« vor der »objektiven Rechtfertigung« (102) vorzuziehen sei.66 Und wenn die letzte Frage bleibt, ob alle Meinungen respektiert werden, würden inhaltliche Argumente nicht mehr mit Erwägungen über politische Höflichkeit (»civility«) abgewogen, sondern die »civility« entscheide allein darüber, was politisch getan werden kann (die »civility consideration« siegt über die »content consideration«, 79f.). All diese Formulierungen laufen auf die Unterstellung hinaus, dass es tatsächlich so etwas wie die »right reason« gebe (102, ein Term des katholischen Naturrechts). Was Wall darunter versteht, zeigt erst der zweite Teil, der eine perfektionistische Verteidigung der personalen Autonomie liefert. Es folgt nichts ›Schlimmes‹, wie ein Rawlsianischer Reflex befürchten könnte. Die Politik, die Wall auch gegen Widerstände umzusetzen bereit ist, wäre eine solche, die die personale Autonomie der Einzelnen stützen und fördern möchte (205ff.) – wir werden noch darauf kommen. Drei Wertquellen und zwei Sorten von Autonomiebedingungen In einem späteren Papier greift Wall (2010a) die offengelassene Frage nach den »externen Gründen« wieder auf. Hier nimmt er eine Kombination von Wertinstanzen außerhalb des Sozialen vor. 1998 schien auf den ersten Blick vieles darauf hinzudeuten, dass die Wertbegründungsinstanz nicht nur bei den liberalen Gegnern, sondern auch bei Wall selbst vor allem sozial ist: Als wertvoll erschien primär die westliche Gesellschaft, denn erst sie – wie Wall mit Raz urteilte – verlieh der personalen Autonomie als zentralem Baustein eines guten Lebens in dieser Gesellschaft ihren Wert. 12 Jahre später sagt er jedoch gegen den Liberalen Gerald Gaus (1996), dass sich eine Begründung von Normen allein auf intersubjektive Weise, etwa durch einen fiktiven Vertragsschluss, nicht sinnvoll denken lasse. Normen würden dabei entweder immer schon vorausgesetzt, oder sie kämen gar nicht zustande:
—————— dadurch zustande, dass die Modellindividuen aller Eigenheiten entkleidet werden und so nur in ihrer Eigenschaftslosigkeit alle gleich sind; eine ›einsame Masse‹ im Sinne Riesmans. 66 Bei der subjektiven Rechtfertigung zählt nur, was eine Person zu einem Zeitpunkt glaubt; es ist der Punkt der internen Gründe oder der immanenten Kritik in Variation.
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»It is sometimes alleged that moral reasons are ›constructed‹ out of an appropriate intersubjective procedure. Crudely, no one can have warranted moral beliefs from the first person standpoint because morality is constituted by intersubjective agreement under appropriate conditions. […] Either the requirements of the intersubjective procedure are characterized in moral terms or they are not. If they are, then the procedure does not constitute moral truth. If they are not, then there is little reason to have confidence in the outcome of the procedure« (Wall 2010a: 137).
Was ist die Alternative zur sozialen Konstruktion? Wall vertritt hier, pikanterweise gegen seine liberalen Gegner, einen Individualismus: An die Stelle der Sozialität als Wertquelle tritt das Subjekt – der »first-person standpoint« (2010a: 136; anspielend auf Darwall): »Citizen X … should not try to reason from the standpoint of others, but reason from his own standpoint« (Wall 2010a: 137; vgl. schon Wall 1998: 58). Vom Standpunkt der anderen denken, damit ist der vorlaufend-angepasste Moralkonformismus à la Rawls gemeint, den wir bereits kritisiert haben. Es ist nicht leicht zu sehen, was genau Wall sagen möchte. Folgende Lesart scheint mir Sinn zu machen: Selbst wenn über den genauen Gehalt von Normen in sozialen Kontexten debattiert wird und dieser sich ändern kann, ist damit weder gesagt, dass Sozialität die einzige Quelle der Norm ist (weder ihrer Geltung noch ihres Gehaltes) – das ist eine genetische Frage. Noch ist damit dem Subjekt die Verantwortung genommen, selbst über die Anwendungsfrage zu befinden – das ist eine Anwendungsfrage. »Sapere aude«: Sinn der Kantischen Moral war es ja, Individuen zum Selbstdenken und -Entscheiden, also zur Autonomie aufzurufen. Wall insinuiert, dass das Narrativ von der sozialen Konstruktion der Moral die individuelle Autonomie wieder in einen vorkantischen Konformismus zurückbiegen kann. Wenn die Einzelne vor moralrelevanten Entscheidungen steht, wäre der Rat eines Sozialkonstruktivisten, so wäre dieser Gedanke auszufüllen: Sieh, wie es die anderen tun! Denn nur was in unserer Kultur immanent ist, also immer schon gilt, ist für deine Handlung triftig.
Dagegen möchte Wall daran festhalten, dass das Gewissen des Einzelnen unvertretbar die moralische Instanz bleibt. Dafür könnte er sich auf Kant berufen.67 Vom Lehnstuhl aus kann man ex post natürlich einwenden, dass der Gehalt der Normen, die zur Anwendung kamen, auch sozial beeinflusst war. Aber das beantwortet nicht die Frage, welche Norm in dieser Situa-
—————— 67 Das tut er nur mittelbar, indem er (gegen Thomas Nagel, später Charles Larmore) dem Gegner den Kant-Bezug streitig macht: »his appeal to Kant does not work« (1998: 83).
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tion auf welche Weise zur Anwendung kommen sollte. Der Verweis auf die Intersubjektivität der Moralgenese ist kein Zug im moralischen Sprachspiel, er leistet keinen sinnvollen Beitrag. Wird dennoch versucht, ihm etwas praxiswirksames zu entlocken, dann hat das fatale, nämlich konformisierende, unreflektiert konservierende Folgen. Eine solche Schlussfolgerung scheinen diese Andeutungen jedenfalls nahezulegen. Worauf kann sich das Subjekt dann berufen? Walls Position ähnelt dem, was wir bereits an Georges Rawlskritik gesehen hatten: Gegen diese bringt weder eine rekonstruierende Erzählung über die Genese von Normen, noch eine aprioristische Aussortierung unliebsamer Typen von Normen, sondern nur der Bezug auf materiale Gründe – ein »substantive defense« (Wall 2010a: 139).68 Auf diese Weise sind die beiden anderen Wertquellen, (Sozialität und Personalität), miteinander verklammert: Das Subjekt kann sich in einer bedrängenden Situation auf substantielle Gründe stützen und mit diesen Gründen dem Zwang der Sozialität gegebenenfalls widerstehen. Walls Beispiel dafür stammt von 1787: Hätte ein Amerikaner sich damals der Theorie der »public justification« (142) verschrieben, hätte er keine Möglichkeit gehabt, die Sklaverei nicht zu unterstützen.69 Unter solch substantielle Gründe sind auch solche zu rechnen, die sich auf die menschliche Natur zurückbeziehen. Das sagt Wall im neuen Aufsatz nicht, aber eine weitere Analyse des zweiten Teils des Buches kann zeigen, dass so etwas von seiner Theorie möglich ist. Im Vergleich zu Sher fällt nämlich auf, dass Wall die dritte Wertqulle sofort zugibt. Musste gegen Sher aufwendig gezeigt werden, dass neben der subjektiven und der sozialen Dimension der Bezug auf eine natürliche Dimension des Menschen als dritte Quelle der Werte und als Ermöglichungsgrund eines guten Lebens zu betrachten ist, gibt Wall diese wertproduktive Trinität ohne Probleme zu: »People’s talents are a product of their genetic endowment, their cultural surroundings and their own efforts to develop different aspects of their own personality« (Wall 1998: 151, vgl. 156). Diese Einbezug der menschlichen Natur führt Wall keineswegs auf einen genetischen oder sonstigen naturalistischen Determinismus (»capacities and talents … can be developed in different ways«, 142). Im Gegenteil: Ihm ist klar, dass die beiden anderen Faktoren – die individuellen Entscheidungen sowie die sozialen Einflüsse – ebenso zu berücksichtigen sind.
—————— 68 Deswegen muss der Perfektionismus, so hatten wir oben gesagt, sich auf Sozialtheorie und Anthropologie stützen (»we need to know the details« sagt auch Wall 1998: 77). 69 Ähnlich Sayer 2011: 99f. sowie die Partien zu Godwin und Condorcet in III.1.
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Diese Position ist nicht so überraschend, wie es scheinen mag. Denn diese Dreiheit war bereits in der alteuropäischen Philosophie bekannt.70 Alle drei Dimension spielen in Walls Buch konzeptionell große Rollen, daher ist wichtig, von Anfang an diesen Dreier-Zusammenhang zu sehen, um keinen der im kommenden Getümmel auftauchenden Gedanken (die soziale Prägung, die Selbstformung oder den Naturalismus) überzubewerten. Der Hauptbogen des Buches wird allerdings von keinem dieser drei getragen, sondern von der personalen Autonomie. Das Buch ist um das »Charakterideal« der personalen Autonomie herumgebaut (128), da Wall der Meinung ist, ihre Berücksichtigung mache seinen Perfektionismus zu einem liberalen (127). Der Unterschied eines liberalen Perfektionismus zum Liberalismus-ohne-Perfektionismus ist erst die genauere Stellung der Autonomie. Sie ist für Wall, wie er stets betont, »zentral« (131, 144f., 175 u.ö.) und »wichtig« (130, 150). Doch sie ist ein bedingter, kein unbedingter Wert (121), nicht der letzte oder höchste Wert, dem alles andere zu opfern sei (oder der, wie es philosophisiert heißt, einen »lexikalischen Vorrang« hätte, 188), sondern einer, der selbst von anderen Werten abhängt. Ist dies bereits ein Anhaltspunkt, um erneut zu versuchen, den Pflock des Konservatismusvorwurfs einzuschlagen? Eine Einschränkung der individuellen Autonomie klingt ja nach Heteronomie oder gar Paternalismus. An dieser Stelle wäre das ein unbedachter Reflex. Wall veranschaulicht seinen Punkt mit Beispielen zu verschiedenen Grenzen der Autonomie: Es seien Fälle denkbar, in denen mehr Autonomie den Menschen nicht gut tue (159f., vgl. 185). Hier wird der axiologische Dreiklang erneut durchgespielt: Zuviel Autonomie könne einer Person aus natürlichen, sozialen oder persönlichen Gründen zum Nachteil gereichen. Wall nennt: – eine Person mit angeborener Angststörung, deren Lebensqualität durch die ›Zumutung‹, entscheiden zu müssen, drastisch verringert würde; – eine weitere Person mit anerzogenen kriminellen Neigungen, die durch mehr Freiraum nur noch krimineller würde. Für ihn wäre es also besser, weniger autonom zu sein; – schließlich eine Person, die sich selbstverschuldet ins Unglück gebracht hat, der also die Autonomie letztlich ebenfalls geschadet hat (159f.).
—————— 70 Cicero unterteilte natürliche, soziale und individuelle ›Rollen‹ im Selbst (De officiis I.107, 114); und noch Pestalozzi formulierte: »Also bin ich ein Werk der Natur, ein Werk meines Geschlechts, und ein Werk meiner selbst« (Pestalozzi 1797: 85; s.u., in IV.2).
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Der Gedanke, dass es ein Zuviel des Guten geben kann (›nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen‹), ist nichts speziell Konservatives. Hinsichtlich der Möglichkeit eines ›Zuviel‹ an Freiheit wurde etwa von Richard Sennett (1998) beschrieben, wie Menschen durch zuviel »Flexibilität« entwurzelt und entfremdet werden; ähnlich hat Alain Ehrenberg (2004) analysiert, wie zu viele Freiheiten zur Erschöpfung führen können; während John O’Neill (1998) darauf aufmerksam gemacht hat, dass zu viel marktförmige Freiheit sich nicht gut auswirkt.71 Keinen dieser drei würde man deswegen unter Konservativismusverdacht stellen. Autonomie ist für Wall, wie für andere, also »bedingt« (conditional). Streng genommen ist sie bei Wall sogar doppelt bedingt. Wenn die Autonomie selbst von etwas abhängt, hat sie Gründe. Positiv gewendet beansprucht die Rede von Grenzen der Autonomie also, Quellen dafür angeben zu können, warum und wann die Autonomie gut ist. Daneben artikuliert Wall jedoch noch einen weiteren Bedingungsgedanken, der untersucht, wie Autonomie überhaupt entstehen kann. Es gilt also, genetische und axiologische ›Bedingungen‹ der Autonomie zu unterscheiden, die die unterschiedlichen Fragen beantworten wie etwas entsteht, und woher etwas seinen Wert bezieht. Betrachten wir zunächst das axiologische Bedingungsgefüge der Wertquellen. Wenn Autonomie nicht mehr gut ist, wenn sie auf Grenzen natürlicher, individueller oder sozialer Art stößt, dann ist sie umgekehrt (so ist zu schließen) dann gut, wenn sie sich im Einklang mit diesen drei Faktoren entwickelt. Wall führt diesen Gedanken primär mit Bezug auf das soziale Element aus. Vielleicht rührt das konservative ›Geschmäckle‹ daher, doch das täuscht, wie wir sahen, da Wall eine Verabsolutierung kritisiert. Generell ist der Wert der Autonomie für Wall davon abhängig, dass sie zu etwas Wertvollem genutzt wird. Diese Annahme teilt Wall mit seinem Doktorvater Joseph Raz (und seinem Doktoranden-Vorgänger George): »autonomy is not the only component of a good life, and its value derives from its contribution to a fully good life« (Wall 1998: 188). »The value of full autonomy is dependent on some other values« (121; vgl. 130; Raz 1986: 381, 411 oder 417).
Welches Wertvolle haben Wall und Raz dabei im Hinterkopf? Es geht ihnen primär um die westlichen Gesellschaften (Wall 1998: 164ff.; Raz 1986: 390ff.). Die durch sie ermöglichten Lebensformen werden von ihren Bür-
—————— 71 »[T]he virtues of the autonomous character need to be contrasted not only with vices of deficiency, but also those of excess« (O’Neill 1998: 71).
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gern als wertvoll erachtet. Da die Autonomie hierin (wie bei Nussbaum) eine Art ›architektonische‹ Funktion einnimmt, ist sie ebenfalls wertvoll: »if we value … the social forms of modern western societies, then we have reason to cherish and support the ideal of autonomy that these social forms sustain« (Wall 1998: 175). Wall und Raz sind keine Soziologen, aber immerhin kommt eine rudimentäre Theorie der westlichen Gesellschaft zum Vorschein (166f.). So etwas hatten wir bei Sher ja verlangt. Nach Wall gibt es sechs Kennzeichen westlicher Gesellschaften, die die personale Autonomie zentral machen: geographische (1) und soziale Mobilität (2), technische Innovationen (3), Säkularisierung (4, das meint hier die Abwesenheit einer Staatskirche; Religionsfreiheit und gelebte Religionen hingegen gibt es), einen Wertepluralismus (5) sowie eine Bindung an die Menschenrechte (6). Um in einer solchen Gesellschaft ›blühen‹ zu können, muss man autonom sein: »to flourish in societies marked by these six features people need to realize the ideal of autonomy at least to some substantial degree« (168, im Original kursiv). Daher gilt es aus perfektionistischen Gründen, die Autonomie der Bürger zu stärken (145). Hier kommt die Wertquelle des Sozialen deutlich zum Ausdruck: Autonomie ist ein Wert, weil die Gesellschaft, in der sie ein Wert ist, Wert hat. Das heißt aber nicht, dass Gesellschaft (als das Bedingende) stets gewinnen würde, wenn Gesellschaft gegen Autonomie (als dem Bedingten) stünde. Allerdings bekommt sie, verglichen mit liberalen Positionen, etwas mehr Gewicht. Das kann ein Blick auf Walls Kritik an Dworkins Argument des »endorsement constraints« erhellen. Für Dworkin und andere wie Will Kymlicka ist eine Aktivität nur dann wertvoll für jemanden, wenn er die Aktivität selbst wertschätzt, und zwar aufgrund eigener Überzeugungen.72 Für Wall beruht dieses »endorsement constraint«, das den Neutralitätsgedanken unterstützen soll, auf einer Übertreibung. Streng genommen schließe es nämlich aus, dass Menschen Dinge tun, die sie wertschätzen, einfach weil sie so sozialisiert wurden. Es erscheine aufgrund dieser moralisierenden Zurechtstellung schon als verwerflich, sein Leben nicht von Grund auf selbst entworfen zu haben. Aber das hat niemand. De facto sei es möglich und normal, dass das Leben von Menschen auch dann Wert hat, wenn sie es nicht komplett aktiv und atomistisch selbst entworfen haben, sondern sich (wie Dewey und Gehlen annahmen) in vielen Dingen von Gewohnheiten treiben lassen, auch solchen, die man von anderen
—————— 72 Wall (1998: 189) zitiert dafür Kymlicka (1990: 203f.): »a person’s life is improved only if he leads it from the inside and according to his own beliefs about what is worthwile«.
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Menschen unbedacht übernommen hat: »In following the habits of her parents and grandparents, Sarah leads her life from the inside« (191). Das meint, dass sie selbstbestimmt genug lebt, um ihrem Leben »Wert hinzuzufügen«. Rein kommunitäre Werttheorien können also konservierend wirken; Wall selbst zieht eine solche »conservative conclusion« (174): »so long as we believe that our social forms are as good as, or rationally incommensurable with, other possible social forms, we should not change them« (174). Eine konkrete Auswirkung davon ist, dass Wall die Immigration beschränken möchte, und zwar auf Asyl für akut Bedrohte und Familiennachzug (228f.), um bewährte soziale Formen in den (Nicht-)Einwanderungsländern zu erhalten. Hier wird der Hintergrundkonservatismus manifest. Doch ein Konservatismus folgt keineswegs notwendig aus diesem Ansatz, denn die ›haltenden Mächte‹ (Hans Freyer) des Sozialen sind in diesem Buch gerade nicht die Einzigen. Ihre Macht wird durch die anderen beiden Dimensionen gebrochen. Wall negiert das Argument, Menschen seien in ihrer Identität und ihren ›Projekten‹ von ihrem sozialen Umfeld abhängig. Selbst wenn der Raum für Entscheidungen begrenzter ist als eine ideale Theorie es annehme, träfen Menschen de facto trotzdem selbst ihre Entscheidungen – auch solche, die ihre Leben ändern: »this is borne out by the everyday occurences, at least in western societies, of people changing their careers, taking up new hobbies and terminating personal relationships« (Wall 1998: 154).
Solche Selbst-Transformationen sind für Wall begrüßenswert (es ist keine Sennettsche Kritik der Entwurzelung oder des »drift«), weil sich darin die persönliche Autonomie der Menschen trotz einer großen Macht des Sozialen ausdrückt (s.u., IV.3). Individualismus als Wert kann also der sozialen Form als Wertquelle widerstehen. Diese individuelle Dimension wird sogar noch stärker gemacht. Es gibt bei Wall ein weiteres Ideal, von dem die Autonomie ihren eigenen (instrumentellen) Wert bezieht: die Selbstverwirklichung. In ihr Wall sieht Tugenden wie »self-determination« und »independent-mindedness« (137) kulminieren. Autonomie »constributes significantly to the achievement of a further ideal, the ideal of self-development« (130). Wall argumentiert also dort weiter, wo Hurka aufgehört hatte, da ihm der qualitative Individualismus fehlte, und wo Sher strauchelte, indem er keine Verbindung zwischen seinem Individualismus und seiner Anthropologie erzielte. Die Selbstverwirklichung wird von Wall nämlich mit einem Naturargument von Natur und Gesellschaft abgehoben. Gerade weil
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die Menschen mit je besonderen Anlagen ausgestattet sind (die sie nicht ›gleicher‹ oder ungleicher, sondern unverwechselbarer und individuell machen), ist es wichtig, nicht nur die sozial gewollten Charakterzüge und die allgemeinen natürlichen Anlagen zu verwirklichen: »Those who achieve self-development fully realize their [!] talents and potentialities. They choose and successfully pursue projects that fit their natures, agree with their innate proclivities and bring to fruition their skills and capacities as they emerge from the interaction of their native endowments and their culture« (130); »while people share some common capacities and abilities, they differ markedly in others; and to achieve self-development they need to develop their distinctive abilities as well as the ones they share with everyone else« (152).
Es gibt also ein starkes Argument für die Begrenzung sozialer Zwänge (worunter auch ›Subjektkulturen‹ und Subjektivierungszwänge zu rechnen sind) und für die Entwicklung und Förderung der Entwicklung gerade der individuellen Besonderheiten, und dieses Argument liegt in der individuellen Seite der menschlichen Natur. Hier berühren sich Anthropologie und Individualismus; also Natur und Freiheit. Natur taucht zweimal auf: Einmal als allgemeine menschliche Natur, in Form bestimmter menschlicher Fähigkeiten (z.B. »cognitive skills«, 132), die es zu verwirklichen gilt. Damit wird die lustferne Askese Hurkas vermieden: man darf ruhig »Freude und Befriedigung« (159) an der Selbstentwicklung sowie der Entfaltung anderer empfinden (»we often can share in their accomplishments«, 158). Die Idee der Selbstverwirklichung macht jedoch nur Sinn, wenn der allgemeine Anteil begleitet wird von einem individuellen. Natur liefert also auch ein Fundament der qualitativen Individualität – sie entwickelt sich, wie Wall immer wieder betont, in der Kultur, aber sie ist nicht kulturell ›konstruiert‹, weil es dann nur geringe individuelle Unterschiede geben könnte. Charles Taylor und Christoph Menke haben diese expressivistische Idee bis auf Herder zurückverfolgt: »Die grundlegende Einsicht von Herders geneaologischer Betrachtungsweise besagte, dass das Subjekt vor seiner sozial erworbenen Gestalt einen dunklen Grund natürlich-individueller Kräfte in sich trägt. Das ist die Einsicht, die Herder kritisch gegen eine Gleichsetzung ohne Rest von Subjektivierung und Sozialisierung richtet« (Menke 2005: 346).
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Ähnliches kannte bereits die Stoa und gibt es noch heute in der positiven Psychologie.73 Mit dieser Systematik einer Trinität von Wertbedingungen ist der Konservativismusvorwurf ebenso abgewehrt wie eine Totalisierung des Individualismus (die ebenfalls zur Tyrannei der Mehrheit führen kann) und ein naturalistischer Determinismus. Damit sind wir bei der Politik. Die Frage der politischen Anwendung Das Soziale spielt nicht nur bei den axiologischen Bedingungen der Autonomie eine Rolle, indem der Wert bestimmter Gesellschaften der Autonomie einen Wert verleiht, sondern auch bei den genetischen. Wall nennt vier solcher Bedingungen. Davon zitierte ich zunächst nur die letzte: »autonomous people need … (d) an environment that provides them with a wide range of eligible pursuits to choose from« (132).
Offensichtlich ist diese letzte Voraussetzung der Autonomie sozial: Wenn autonome Menschen ihre Lebensweise wählen können müssen, dann setzt das voraus, das überhaupt etwas zur Wahl steht. Für eine autonome Lebensweise müssen also verschiedene (wertvolle) Betätigungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.74 Solche kann ein Individuum unmöglich aus sich selbst schaffen, sondern es ist auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen und ein unterstützendes Umfeld angewiesen – studieren können viele Menschen nur dann, wenn es funktionsfähige Universitäten, genügend Studienplätze und keine hohen Studiengebühren gibt; eine musikalische Seite entwickeln nur dann, wenn sie dazu angehalten und angeleitet werden.75 Hier steht zum einen Humboldts Idee des Pluralismus Pate, den schon J.S. Mill und Raz (1986: 376) aufgegriffen haben: »Allein außer der Freiheit erfordert die Entwickelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres ... Mannigfaltigkeit der Situationen« (Humboldt 1792: 10). Zum anderen klingt der Gedanke der ›positiven Freiheit‹ an (den Humboldt eigentlich vermeiden wollte), der Freiheit zu oder für etwas, für welche Institutionen verantwortlich sind – denn ein solches »option set« (188)
—————— 73 S.u., Fn. 71 und IV.3; siehe auch Rasmussen/DenUyl 2005: 80, 86f. 74 Dreht Wall hier das Bedingungsverhältnis nicht wieder um? Demnach ist eine Gesellschaft dann wertvoll, wenn sie Autonomie ermöglicht, während zugleich die Autonomie wertvoll sein soll, weil sie in derselben (wertvollen) Gesellschaft vonnöten ist. 75 Mozart, der bei Hurka öfter Pate stand, kommt erneut zum Zug (152); ebenso die Musikerziehung (192f.).
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kann kein Individuum aus sich selbst schöpfen. Dass tatsächlich an positive Freiheit gedacht ist, wird an späteren Wendungen deutlich: »Promoting autonomy … requires more than merely complying with a series of negative injunctions. It calls for positive [!] efforts to help others develop the capacities and skills needed to realize the ideal of autonomy as well as positive efforts to ensure that their environment gives them access to a rich and varied range of options« (Wall 1998: 206; siehe bereits Hurka 1993: 171).
Dem Modell der positiven Freiheit folgt Wall also schon bei der Nennung der vier genetischen Autonomiebedingungen. Schauen wir daher auf den Rest des Zitates. Was brauchen autonome Menschen nach Walls noch? »(a) the capacity to choose projects and sustain commitments« (132):
Schon bei den Theoretikern der positiven Freiheit – vor allem John Dewey und T.H. Green – hatte diese sowohl äußere wie ›innere‹ Komponenten (s.u., IV.2). Die Ausbildung sowohl der praktischen Rationalität als auch der Bindungsfähigkeit, ohne die man ein eigenes Leben nicht führen kann, sind solch innere Komponenten. An dieser Stelle nennt Wall außerdem – wie schon Sher – natürliche Fähigeiten. Die »general capacities necessary for project pursuit« (132) sind allgemein menschlich (152), sie hat in der Regel eine Jede. Doch sie müssen in sozialen Verhältnissen entwickelt werden. Das erinnert an die Idee der perfectibilité (siehe IV.1). »(b) the independence necessary to chart their own course through life and to develop their own understanding of what is valuable and worth doing« (132):
Damit ist zunächst die negative Freiheit benannt, die Freiheit von äußeren Eingriffen. Doch versteht Wall darunter keineswegs nur die negative Freiheit, jedenfalls nicht, wenn damit nur die Freiheit von Zwang erfasst wird. Vielmehr bedürfe es für eine solche Unabhängigkeit auch der Freiheit von Manipulation (138, 191),76 welche keinen offenen Zwang ausübe, sowie der Eigenständigkeit (»the virtue of independent-mindedness«, 138, mit Adorno als ›Mündigkeit‹ zu übersetzen). Hier geben sich soziale und individuelle Bedingungen also die Hand. Der spätere Aufsatz setzt erneut an dieser Stelle an und behauptet – gegen Gaus –, dass nicht nur der Eingriff in das Leben einer Person rechtfertigungspflichtig ist (d.h. nur dann unternommen werden darf, wenn es dafür schlagende Gründe gibt), sondern auch
—————— 76 Hier wird eine bewusste und bejahte, obzwar nicht vollends ›autonome‹ Übernahme von Gewohnheiten von einer verdeckten Infiltrierung (Manipulation) unterschieden.
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das Unterlassen eines Eingriffs, der ein Gut hätte schützen oder schaffen können (Wall 2010a: 125; er zitiert dafür Thomas Nagel, 131): »if someone desperately needs my help next door and I continue to iron my socks, then my action plausibly requires justification« (Wall 2010a, 130). Wall denkt also primär an soziale Bedingungen der Autonomie: »some coercive interventions are necessary to secure the social conditions for autonomous agency. The state’s failure to undertake coercive measures to secure these conditions then could be viewed as inimical to autonomy« (Wall 2010a: 132).
In Zitat (b) wird die nicht-nur-negative Freiheit allerdings auch individuell gewendet; deutlich tritt die individuelle Dimension neben die Soziale. Es ist für die Ausbildung von Autonomie wichtig, nicht jederzeit sozialen Üblichkeiten zu folgen, sondern darüberhinaus auch eine eigenständige Person zu sein, und sein zu können. Individuen müssen ihre eigene Weltsicht allererst entwickeln (»develop their own understanding«, 132, s.o.). Wall berührt deutlich die Tugendethik, aber in einer individualistischen Wendung – als »Tugend« versteht er neben der Eigenständigkeit auch die »authenticity« (137, mit Joel Feinberg 1986: 33 und natürlich Taylor). Diese individuelle Lebensführungskompetenz wird noch mit einer dritten Autonomiebedingung reflektiert. »(c) the self-consciousness and vigor to take control of their affairs« (132):
Zur individuellen Dimension gehört auch eine Freiheit von Angst dazu (sowohl von äußeren Bedrohungen, 134, als auch von inneren Ängsten und Störungen, 139). Neben der genannten Fähigkeit zum treffenden Wählen aus (a) kann man darunter die charakterliche Stärke verstehen, eigene Lebenspläne durchzuführen und zu -stehen. Was heißt all dies nun für die Praxis? Interessanterweise ist Wall nicht unter den drei Perfektionisten, die von der feministischen Rechtstheoretikern Kimberley Yuracko dafür gerügt werden, dass sie so abstrakt, vage und praxisfern bleiben – Yuracko (2003, s.o., Fn. 46) richtet diesen Vorwurf an Raz, Hurka und Sher; nicht aber an Wall. In der Tat gibt es bei Wall einiges zu holen. Buchstabieren wir dies aus. – Hinsichtlich der oben diskutierten Legitimation politischen Handelns auch bei Uneinigkeit über Fragen des Guten lässt sich folgendes Fazit ziehen: Wall gelingt es, gegenüber seinen Vorläufern eine neue Position zu beziehen. Es handelt sich nicht mehr um die von Raz, Hurka und Sher vertretene Position, die idealtypisch gegen die liberale Verkürzung auf gerechtigkeitstheoretische Erwägungen für das Politische folgendes einwendet:
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A) Einen Moment bitte: Es gibt doch (anders als ihr voraussetzt, ohne das je zu zeigen) eine verallgemeinerungsfähige Theorie des Guten (nämlich die meine), also lasst sie uns umsetzen! (Zumindest wäre das nach euren Kriterien legitim.)77
Wall vertritt vielmehr die folgende, darüber hinausgehende Position: B) Es gibt vernünftige Theorien des Guten. Diese darf man, entsteht die Entscheidung legitim, auch umsetzen, wenn nicht alle sie unterschreiben würden.
Es sollte sich bei B) zwar um die bestmögliche Theorie handeln – hierum sollte dann ein Wettbewerb auf materialer Ebene entstehen. Doch muss ich nicht jeden überzeugen, um sie in die Politik einzubringen und gegebenenfalls auch umzusetzen. Das sieht nun prima facie noch illiberaler aus als A), denn es scheint die anderen nun sogar ohne Konsensfiktion zwingen zu wollen. Doch ist diese Konzeption nicht notwendigerweise illiberal, wie ein philosophischer Reflex es wird hinstellen wollen. Folgende Punkte lassen sich dagegen anführen: eine Selbstanwendungsargument (1), ein Blick auf die Empirie (2), eine Umkehrung der liberalen Gleichung (3) sowie die Struktur eines moralischen ›Fortschritts‹ (4). (1) Mit einigem Recht lässt sich das Argument des gleichen Respekts, der nach Ansicht der Philosophisch-Liberalen nur in ihrem Sinne ausschlägt, gegen sie wenden: Nehmen wir an, dass es tatsächlich denkbaren Widerspruch zu fast allen Gesetzen gibt, auch solchen, bei denen sich Liberale das nicht vorab denken können – und davon können wir in der ›nicht-idealen‹ Welt mit Wall ausgehen. Verlangt der Respekt gegenüber den Überstimmten dann nicht, dass ich diese Möglichkeit auch theoretisch zugebe? Wenn ihre Theorie genauso vernünftig ist, können sie in der nächsten Runde versuchen, ihre Ansicht durchzusetzen. Sie werden damit nicht länger pathologisiert, sondern haben schlicht eine Auseinandersetzung verloren. C’est la vie. In einer solchen Theorie sind die Widersprechenden besser ›aufgehoben‹ als in einer, die ihnen schlicht die Rationalität abspricht und damit aus dem Politischen exkludiert – wie das in der Rawlsschen Theorie unausgesprochen geschieht. (2) Daneben wird eine solche Sicht der politischen Praxis demokratischer Länder empirisch gerechter: Auseinandersetzungen über Fragen des Guten sind eher die Regel als die Ausnahme, doch heißt das de facto nur
—————— 77 Kann der Perfektionismus damit seinerseits Neutralität beanspruchen, da er nur einen »common ground« (Rawls) benennt? Sher würde es verneinen; siehe aber Marneffe 1998, Clarke 2006, Lowry 2009, Wall 2010b sowie Schefczyk 2012.
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selten, dass nicht entschieden wird. Viele politische Fragen sind dafür zu drängend (s.u., Fn. 56), nur dass die ›ideale Theorie‹ dafür keinen Blick hat. (3) Wall macht sich damit ein weiteres Argument zunutze, dass bei Raz, Hurka und Sher bereits angelegt ist, von ihnen aber nicht systematisch genutzt wird. Die epistemologische Strategie der Perfektionisten war folgende: Theorien des Guten liegen epistemisch auf demselben Level wie Theorien des Gerechten, daher ist ihre unterschiedliche Behandlung in der Politik nicht gerechtfertigt. Das sind im Grunde genommen zwei Thesen. Einmal wird damit gesagt, Theorien des Guten seien genauso verallgemeinerbar wie Theorien des Gerechten. Daraus haben Raz, Hurka und Sher eine Lizenz abgeleitet, im Windschatten der liberalen Politik der (politischen) Gerechtigkeit noch eine perfektionistische Politik des (allgemeinen) Guten hinterhersegeln zu lassen. Daneben steckt darin die Umkehrthese, dass Theorien des Gerechten genauso umstritten seien wie Theorien des Guten. Wenn Theorien des Gerechten nach liberaler Ansicht allerdings trotzdem umgesetzt werden dürfen, weil es für sie gute Gründe gibt, dann lässt sich daraus gegen den Strich gelesen folgern, dass sich mit dem gleichen Recht umstrittene Theorien des Guten vertreten und gegebenenfalls umsetzen lassen müssten. Diese Konsequenz zieht Wall – und man kann dies stützend anfügen, dass diese beiden Konsequenzen ebenfalls epistemisch auf einer Ebene liegen. Nur haben vorangehende perfektionistische Entwürfe diese Konsequenz nicht gesehen oder sind vor ihr zurückgeschreckt. (4) Schaut man erst einmal auf die Praxis, liegt ein weiterer Punkt nahe: Gerade Anliegen, die über bereits bestehende Selbstverständnisse hinausgehen – mit anderen Worten: progressive Anliegen – lassen sich aller Wahrscheinlichkeit nach nur so durchsetzen. Sind Liberale tatsächlich an »moralischen Fortschritten« (Honneth 2010: 223) interessiert, können sie sich dieser pragmatischen Ungemütlichkeit nicht ernsthaft verschließen. Man denke etwa daran, wie in den USA die Einführung der obligatorischen Krankenversicherung durch Obama (fast 130 Jahre nach Bismarck) von ihren Gegnern als ›faschistisch‹ verteufelt wird. Hier hofft man vergeblich auf einen Vorab-Konsens. Auch Verbesserungen für Minderheiten wie Schwule, Frauen, Schwarze oder (bislang ›illegale‹) Migranten müssen in den meisten Fällen gegen die Mehrheitsmeinung durchgesetzt werden. Selbst Liberale würden hier, sobald sie die Philosophie »beiseite« liegenlassen (MEW 3: 218), kaum an der ›objektiven‹ Berechtigung solcher Maßnahmen auch mangels öffentlicher Akzeptierbarkeit zweifeln. Ein Konservativismus ist von diesem Perfektionismus keineswegs von vornherein zu befürchten.
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In welche Richtung er politisch ausschlagen würde, kommt im Einzelfall auf die Güte der materialen Argumente an. Dieser Diskussion darf sich die politische Philosophie nicht aus Berührungsangst verschließen. Über die Trinität der Wertquellen hingegen lässt sich hinsichtlich der politischen Anwendung Folgendes sagen. Wall schlägt drei Strategien vor, wie eine perfektionistische Politik vorgehen könnte. Kennzeichnend für alle drei ist, dass sie umstritten sein können (und die Maßnahmen von Philosophisch-Liberalen daher prima facie abgelehnt werden müssten, wenn nicht Hilfsbauten an die Theorie es doch wieder erlauben sollen), dass sie aber mit den politisch-liberalen Grundprinzipien dennoch verträglich sind. Diese drei Wege lauten in aller Kürze: »Promoting autonomy« (205ff.): Wenn personale Autonomie ein zentraler Wert in westlichen Gesellschaften ist (instrumentell wie intrinsisch), sollten diese Gesellschaften diesen Wert politisch fördern. Um das zu konkretisieren, bringt Wall das Beispiel einer Schulpflicht für Kinder solcher Eltern, die diese nicht in öffentliche Schule schicken wollen. Wall rechtfertigt den staatlichen Zwang, der in solchen Fällen zur Wirkung kommt, mit der Autonomie, die durch die Beschulung für die Kinder allererst ermöglicht würde. Ihnen würden ohne solche Erziehung ›genetische‹ Grundbedingungen der personalen Autonomie fehlen, etwa das Verfügen über verschiedene Optionen (die sie schlicht nicht kennen würden) oder die Fähigkeit, sich eigenständig zwischen verschiedenen Optionen zu entscheiden. Dies ist zwar ein Zwang, und ein (mit guten ›internen‹ Gründen) angefochtener noch dazu, doch wird es deswegen noch nicht zu einem illiberalen Unternehmen, denn die Kinder werden ja nicht daran gehindert, in die Lebensform der Eltern einzutreten. Sie sollen dies lediglich selbstbestimmt tun. Die Schule ist irgendwann zu Ende (an jedem Tag, und nach einigen Jahren gänzlich). Kehren die Kinder danach zurück, tun sie das auf eigenen Wunsch. Die Lebensform der Eltern wäre damit noch wertvoller geworden. Kehren sie hingegen nicht zurück, dann liegt der Schluss nahe, dass es sich um eine Lebensform handelt, die autonome Menschen nicht anstreben und die daher keinen staatlichen Schutz (wie Ausnahmen von der Schulpflicht) verdient. »Promoting the good« (213): Wall kennzeichnet diesen Weg als »Type (2) perfectionism« (197), da der Staat hier mehr tun darf als im ersten Beispiel. Es geht darum, Tätigkeiten zu fördern, die einer verlässlichen Theorie nach gut für die Menschen sind, selbst wenn sie nicht von allen angestrebt werden und nicht der Autonomiebildung dienen. Sie sollen gefördert
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werden, weil sie Wert haben und einem blühenden Leben dienlich sind. Als wertvolle Option für eine Lebensform sind sie mittelbar autonomierelevant – aber man muss nicht gleich Künstler werden, wenn man Museen besucht. Walls Beispiel dafür ist die Kunstförderung (d.h. die Finanzierung öffentlicher Museen und Künstler-Stipendien). Verträglich mit dem Liberalismus ist diese Praxis für Wall deswegen, weil niemand gezwungen wird, in das Museum zu gehen, und andere Praxen damit nicht verhindert werden. »Discouraging the bad« (219ff.): Hier wird es etwas umstrittener, denn Raz’ und Walls Theorie zufolge haben autonome Handlungen keinen Wert, wenn sie einer ›schlechten‹ Praxis nachgehen. Es würde zwar Autonomie einschränken, wenn so etwas verboten würde, aber es wäre ein Zweig der Autonomie, der für sie keinen Wert hätte. Das ist ein heißes Eisen – doch spricht Wall gar nicht von Verboten, sondern von Erschwernissen (»discouraging«, wörtlich entmutigen).78 Das ist deswegen liberalismusverträglich, weil jeder noch immer die Freiheit hat, dieser Praxis nachzugehen – nur ist dafür ein Preis zu zahlen. Es geht Wall dabei – das ist sogar noch ›liberaler‹, wenn man will – um die Schaffung von Gegenanreizen (»to create and help sustain a social ethos that is hostile to their consumption«, 221). Sein Beispiel macht das klar: Er tritt für eine regulierende und restringierende Drogenpolitik ein, wenn durch den Konsum einer Droge die Menschen Gefahr laufen, in der Verfolgung ihrer »Interessen« (219) geschädigt zu werden – also kein gutes, geschweige denn ein autonomes Leben mehr führen zu können. (Tatsächlich werden Alkohol und Nikotin in vielen Ländern hoch besteuert.) Die Stärke dieser perfektionistischen Rechtfertigung ergibt sich aus der Schwäche der liberalen: Offensichtlich nämlich gibt es genügend Menschen, die solche Drogen nehmen wollen.79 Wenn ein Wunsch bereits ein (guter) Grund zu handeln ist (was Raz bestreitet), dann hätten sie (guten) Grund, gegen diese Verbote zu sein und für ein Recht auf Selbstschädigung einzutreten. Dennoch liegen solche Verbote vor, und das heute in verstärktem Maß. Die Rechtfertigung dafür ist für Wall perfektionistisch, wenn im Hintergrund Vorstellung von einem blühenden Leben stehen.80
—————— 78 Wall nennt »legal penalties and fines, restrictions on advertising, discriminatory taxation, public service announcements designed to discourage consumption« (219, Fn.). 79 Siehe meine Analyse von Breaking Bad in Henning 2015. 80 Wall nennt noch ein viertes Beispiel, das ich vernachlässige, weil es den Punkt »promoting the good« wiederholt. Wall möchte wohl etwas provozieren (es ist »more controversial«, 226). Es geht um die angesprochen Begrenzung der Migration (»restrict immigration«, 226), die schon Raz diskutiert hat. Der perfektionistische Grund dafür ist die Er-
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In keiner dieser drei Anwendungsmöglichkeiten ist vorgesehen, dass eine Gruppe einer anderen vorschreiben soll, wie sie leben soll. Zwar wird Zwang ausgeübt, aber ein solcher, der entweder niemanden schädigt (1, 2), oder (3) für deren schädigenden Effekt es gute perfektionistische Gründe gibt – so gute, dass sie das Gewicht möglicher Einwände (und damit den Wert der »civility«) überwiegen. Warum haben diese drei Anwendungsmöglichkeiten etwas mit den drei Wertquellen zu tun? Die Antwort ist verblüffend einfach: Ohne übersystematisieren zu wollen, kann man nämlich – Wall weiterführend – sagen, dass sich in den drei Typen der Anwendung die drei Wertquellen spiegeln. Schauen wir noch einmal hin: Bei der Autonomieförderung geht es darum, der einzelnen Person zu helfen, einen autonomen Lebensstil auszubilden. Im Mittelpunkt steht offensichtlich das Individuum, das in b) als eine der drei Wertquellen auftrat. Bei der Förderung des Guten geht es darum, wertvolle Praktiken zu schaffen und Kulturen zu erhalten. Solche Praktiken vollziehen sich in den meisten Fällen in Gemeinschaft. Es geht um Vereine, Orchester oder öffentliche Räume, und alles dieses spielt sich im Sozialen ab. Damit begegnet uns die zweite der benannten Wertquellen wieder. Und bei der Abschreckung vom Schlechten schließlich geht es darum, die Menschen in ihrer Lebensführung so zu stützen, dass sie ihrer eigenen Natur besser widerstehen können. Die dahinterstehende Annahme ist, dass Menschen viel mehr und öfter Alkohol trinken, wenn dieser billiger ist und es eine Kultur des Trinkens (›binchdrinking‹) gibt. Die Menschen tun es nicht immer, weil sie es wirklich (Harry-Frankfurterisch) wollen, sondern oft auch, weil sie nicht anders können – oder zumindest nur schwer vermeiden können, zumal wenn ein hohes Suchtpotential dazukommt. Damit begegnet uns die dritte der Wertquellen: die menschliche Natur. Zwar tritt sie als etwas auf, dem widerstanden werden soll (und das kann, wenn es zur Askese entartet, etwas Negatives sein, wie wir gegen George und Hurka einwandten). Doch bietet auch hier eine Überlegung über die menschliche Natur Anhaltspunkte für ein politisches Handeln, und damit ist die dritte Wertquelle berührt.
—————— haltung einer guten Lebensform. Perfektionistisch dagegenhalten ließe sich, dass mit der Kultur der Migranten neue »Optionen« für das ›alten‹ Bürger geschaffen werden.
III. Gesellschaft, Natur und Selbst in alternativen Ansätzen
Das letzte Kapitel zum gegenwärtigen Perfektionismus hat mehreres erbracht. In der Gegenüberstellung mit der wichtigsten Kritik, dem liberalen Neutralismus, hat sich gezeigt, dass diese keineswegs so stark ist, wie das gängige Verständnis will. Im Gegenteil: Zum einen nimmt diese Kritik stellenweise selbst in Anspruch, was sie kritisieren will, und ist damit nicht konsistent. Im unmittelbaren Vergleich wird darüber hinaus deutlich, dass die Frage, warum gerade dieses und nicht jenes ›Gute‹ angenommen wird, vom Perfektionismus ausführlicher beantwortet wird, während der Neutralismus sich zuweilen auf Setzungen verlässt, die er ›unserer‹ Kultur entnehmen zu können glaubt – und damit trotz vertragstheoretischer Anlage einen seltsamen Positivismus an den Tag legt. Zum anderen wurde deutlich, dass die »politische Gerechtigkeit« (Rawls 1993) der eigentlichen Gefahr, die vom bisher betrachteten Perfektionismus von rechts ausgeht, nicht hinreichend begegnet – nämlich dass er eine philosophische Begründung für einen radikalen Konservativismus liefert, die genauso verallgemeinerbar zu sein beansprucht wie der Neutralismus. Rawls’ Methode des Vermeidens zogen wir es vor, auf gleicher Ebene – nämlich auf der Ebene perfektionistischer Theorie – eine liberale und egalitäre Version entgegenzustellen, die durch bessere Argumente und nicht durch Abstraktionen überzeugt. Nun wurde beim genaueren Hinsehen allerdings deutlich, dass dies leichter gesagt als getan ist: Gerade die philosophischen Hoffnungsträger nämlich enttäuschten. Der perfektionistische Neuentwurf von Hurka (1993) etwa vermochte weder zur Gleichheit noch zur Freiheit zu kommen. Und fehlte in der Rawlsschen Theorie ein realistischer Bezug zur realen Gesellschaft und bei Hurka ein qualitativer Individualismus, so fehlte gerade im ›anthropologischen‹ Perfektionismus von Sher (1997) in vergleichbarer Weise ein ausgewiesener Bezug zur menschlichen Natur. Erst die genauere Lektüre von Steven Wall (1998) hat neue Wege aufgetan.
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Diese betrafen nicht nur die Legitimierung politischen Handelns auch unter Bedingungen nicht konsensfähiger Fragen, sondern daneben, systematisch wichtiger, die Verklammerung der ontologischen Ebenen von Natur, Gesellschaft und Individualität mit den Werten von Freiheit, Gleichheit und Entfaltung. Die genauere Verbindung blieb allerdings skizzenhaft. An dieser Stelle gilt es nun weiter zu fragen: Gibt es jenseits ›stark‹ perfektionistischer Theorien vielleicht Ansätze (am besten solche mit Berührungspunkten zum Perfektionismus), die helfen können, diese Ideen weiter zu entwickeln? Es gibt dafür Kandidaten: hinsichtlich der menschlichen Natur ist dies Martha Nussbaums Fähigkeitenansatz (III.1); hinsichtlich der gleichen Gesellschaft John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie (in der Version von 1971, III.2), und hinsichtlich der »Selbstverwirklichung« ist es der imposante Theorieentwurf von Axel Honneth, welcher in allem, was er noch zu sein beansprucht, zugleich Bedingungen einer individuellen Selbstverwirklichung mit angeben möchte (III.3). Diese drei Großentwürfe werden wir auf der Suche nach Argumenten durchkämmen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Keiner dieser drei Ansätze hilft weiter. Im Gegenteil: bei Martha Nussbaum fehlt die Natur, bei Rawls die Gesellschaftstheorie und bei Honneth das Selbst.
1. Rawls’ Nietzsche, Cavell und Hayek: Ungleichheit und Gesellschaft Platon hat in seiner Politeia eine der Denkmöglichkeiten in der Gerechtigkeitstheorie zu der Figur des Trasymachos verdichtet (sowie zum Kallikles im Gorgias), für den Gerechtigkeit eng an Macht gekoppelt ist: »Ich behaupte nämlich, das Gerechte sei nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren« (Platon, Politeia 338c). Wenn gerecht das ist, was dem Starken nutzt, dann erscheint die Rede von Normen wie der Gerechtigkeit nur als eine Formel, die reale Kräfteverhältnisse bemäntelt. Zwar war das für Platon keine gangbare philosophische Erklärung der Gerechtigkeit; doch der Gedanke tauchte seither immer wieder auf – selten offen zwar, aber zumindest als Vorwurf an die jeweiligen »Starken«, die das Recht zu ihren eigenen Gunsten einsetzen. In einem Atemzug genannt wird Thrasymachos zuweilen mit Friedrich Nietzsche; artikulierte doch auch Nietzsche eine Moralkritik, die dem »Starken« (was immer man darunter verstehen mag) mehr
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Raum einräumen wollte und zumindest die landläufige Moral als ein Instrument der »Schwachen« ansah, den Starken Zügel anzulegen. Diesem Denken zufolge sind die Starken, anders als die »Schwachen«, nicht auf Normen angewiesen, und eine Kritik der Moral soll den Starken dazu verhelfen, sich von den Normen der Schwachen zu befreien – und sich damit selbst zu befreien, zu finden und zu entwickeln. Rawls (1971) zitiert nun Nietzsche als abschreckendes Beispiel dafür, was ein perfektionistisches Denken anrichten würde, wenn es in verteilungstheoretischen Überlegungen eine Rolle spielen würde. Diese Einordnung ist in nachfolgenden Debatten wirkmächtig geworden: die Skepsis vieler Autoren gegenüber dem Perfektionismus dürfte nicht zuletzt von dieser Lesart beeinflusst worden sein. Daher muss sie überprüft und korrigiert werden. Das soll die Möglichkeit einer perfektionistischen Position eröffnen, die kein Feind der sozialen Gleichheit mehr ist. Das bietet sich auch insofern an, als Rawls’ Nietzschekritik jüngst selbst in die Kritik geraten ist – sowohl Nietzsche wie auch der Perfektionismus werden nun gegen Rawls’ Kritik verteidigt. Daher ist zu fragen: Auf welche Weise ist Nietzsche ein Perfektionist, und wie hängt das mit seinen unübersehbaren Parteinahmen gegen die soziale Gleichheit zusammen? Hat Rawls Nietzsches Anti-Egalitarismus zu recht auf seine perfektionistischen Ansichten zurückgeführt? Oder ist der Perfektionismus der Gleichheit nicht mehr zugetan als Nietzsche, aber auch mehr als Rawls einzuräumen bereits war? Im Folgenden wird dem Rawlsschen Vorwurf zunächst durch den Nachweis der Wind aus den Segeln genommen, dass seine eigene Theorie keineswegs so egalitär ist wie meist angenommen. Sie weist vielmehr Parallelen zum erklärten Anti-Egalitaristen Friedrich Hayek auf – und sogar zu Nietzsche selbst. Sodann wird die Verteidigung Nietzsches durch Stanley Cavell diskutiert; wobei sich zeigen wird, dass Rawls’ Kritik an Nietzsche letztlich doch berechtigter war als Cavells Verteidigung, daraus allerdings die falschen Konsequenzen zieht.
Gleichheit statt Perfektionierung? Eine fehlgehende Sortierung Rawls gilt in der breiten Sekundärliteratur, die sich mit seinem Werk befasst oder es in die eine oder andere Richtung weiterentwickelt, meist als Egalitarist.1 Doch schon hier gilt es zu differenzieren: Diese Einordnung
—————— 1 Das gilt freilich für sein erstes Hauptwerk von 1971 mehr als für spätere Werke.
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trifft vor allem zu in Bezug auf Autoren, die nach ihm oder in Bezug auf ihn weniger egalitaristische Positionen ausgearbeitet haben.2 Im Vergleich mit früheren egalitaristischen Positionen allerdings (s.u., IV.1) fällt Rawls’ Position eher ab: ihnen gegenüber werden gesellschaftliche Umverteilungen eher begrenzt, nicht nur in der praktischen Umsetzung, sondern schon im angestrebten Ideal. Das hat einen zentralen Grund: Es gibt bei Rawls – abgesehen von der Sorge um die Stabilität der Gesellschaft, die einen konformistischen Trend hat – kein qualitatives Maß mehr dafür, wofür und wann soziale Gleichheit eigentlich sinnvoll ist. Daher ist sie sehr weitgehenden Kompromissen ausgesetzt. Ältere Befürworter der Gleichheit waren davon ausgegangen, dass gleichere Lebenslagen der Menschen deswegen anzustreben seien, weil dies bessere Entfaltungsmöglichkeiten sowohl für (bisher) Arme wie auch für (bisher) Reiche schaffen würde, und damit auch der Gesellschaft insgesamt zuträglicher sei. Daher waren nicht nur perfektionistische Aufklärer wie Helvetius und Condorcet, sondern auch Literaten wie William Morris, Oscar Wilde oder Jack London egalitär eingestellt (Henning 2013b). Mit diesem Maß lässt sich recht klar angeben, wie weit eine soziale Gleichheit anzustreben ist: nicht bis zu Uniformierung, denn die würde die menschliche Entfaltung und Kreativität einschränken; aber immerhin so weit, bis es allen Menschen gleichermaßen möglich ist, ihre Anlagen zu entfalten – und damit auch einen besseren Zugang zu erstrebenswerten Positionen zu erhalten. So argumentierte zum Erschrecken damaliger Eliten progressive Politik noch bis in die 1970er Jahre.3 Bei Rawls hingegen gibt es wichtigere Dinge als die soziale Gleichheit: einerseits die Freiheit (sie genießt einen ambivalenten Vorrang – vor der Gleichheit, nicht aber vor der Effizienz; 1975: 250, 274ff.); andererseits die ökonomische Effizienz selbst. Beide Größen bringen ihre eigenen Probleme mit sich: Es wird in diesem frühen Buch nie ganz klar, was »Freiheit« eigentlich heißen soll: Den Vorrang hat der erste Grundsatz (283), also »das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Freiheiten, das für alle möglich ist« (336) – daher der Name »Freiheitsgrundsatz« (250).
—————— 2 Etwa Nozick 1974 oder Buchanan 1991; auch Kommunitarismus und Schicksalsegalitarismus strebten im Effekt eher weniger als mehr Umverteilung an: ersterer, weil es ihm mehr um kulturellen Zusammenhalt als um Güter ging, letzterer, weil für ihn soziale Ungerechtigkeiten prima facie »verdient« sind und nur unverdiente Ungleichheiten ausgeglichen werden sollten (dazu Wolff 2007). 3 Vgl. F.X. Kaufmann 2003: 160ff.; Thompson 2007; s.o., IV.2, zu T.H. Green.
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Das klingt tautologisch: Eingeklagt wird nicht Freiheit, sondern ein Recht auf Freiheit; also eine Freiheit, Freiheit zu haben. Seltsam daran ist zudem, dass eben diese Freiheit trotz Vorrangregel doch wieder eingeschränkt werden kann, etwa wenn das »Gesamtsystem« gestärkt werden muss (eine vage Formel) oder wenn die »ungleiche Freiheit … für die Bürger mit weniger Freiheit annehmbar« ist (283). Dies scheint eine Käuflichkeit nicht auszuschließen – ältere Kritiker hatten ja bemängelt, dass die Konsumgesellschaft die Menschen nicht politisch befreie, sondern ihnen die Selbstbestimmung für ein Linsengericht abkaufe. Diese Käuflichkeit wird durch die Idee der »Effizienz« keineswegs abgemildert: »Alle sozialen Werte – Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung« dürfen ungleich verteilt werden, solange dies »jedermann zum Vorteil gereicht« (Rawls 1975: 83). Was für ein Vorteil oder welche »Aussicht« (85) könnte dies sein, da es ja schlecht wieder Freiheiten, Chancen, Einkommen oder Mittel zur Selbstachtung sein können? »Jedermann zum Vorteil« kann nur den ökonomischen Gesamtnutzen meinen, etwa im Sinne eines ökonomischen Wachstums. Diese Käuflichkeit der Werte in der theoretischen Anlage läuft dem behaupteten Vorrang der Freiheit schon begrifflich zuwider. Übrig bleibt jedenfalls nach dieser doppelten Hintanstellung der Gleichheit (hinter »Freiheit« und Effizienz) nur noch ein quantitatives Maß für ausgleichende Gerechtigkeit, und zwar ein schwaches – es geht nicht darum, wie viel jemand bekommt, oder wie dies im Verhältnis entweder zu den realen Bedürfnissen oder zu dem Einkommen der anderen steht, sondern es zählt vor allem, ob er mehr bekommt als er in der vorigen Runde bekommen hat, oder was er in einem fiktiven Szenario ohne soziale Ungleichheit (sprich: dem damaligen Realsozialismus) bekommen würde. Leitend wird bei Rawls daher schon auf der Ebene abstrakter Grundlagen die eigentlich pragmatische Maxime, dass soziale Ungleichheit solange unproblematisch ist, wie auch die Schlechtestgestellten davon irgendwie ›profitieren‹ (aus der Sicht des Theoretikers). Im Ergebnis wird eine weitergehende Umverteilung abgelehnt; die soziale Ungleichheit kann solange weiter steigen – und das sogar exzessiv –, wie am Ende für die Ärmsten nur irgendein »Vorteil« zu sehen ist. Nicht nur reicht es aus, wenn von 100 gesellschaftlich neu produzierten Werteinheiten 99 an die Bessergestellten und nur eines an die Ärmsten geht (bereits das ist ja eine Besserstellung).4
—————— 4 Diese Occupy-Zahlen sind nach Oxfam 2014 keineswegs unrealistisch
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Eine besonders zynische Lesart könnte sogar Lohnkürzungen damit rechtfertigen, da die Alternative ja als noch schlechter hingestellt werden kann und die de facto verschlechterten Bedingungen gegenüber der Arbeitslosigkeit noch eine relative Verbesserung darstellen. (So wurde beispielsweise bei den Bankenrettungen argumentiert.)5 Hieran gibt es viel zu kritisieren: Erstens wird Gleichheit nicht länger qualitativ, als Bedingung und Bestandteil eines gelingenden Lebens, sondern nur quantitativ als eine Frage der umzuverteilenden Güter verstanden, die nicht einmal mehr in einem Verhältnis zu Menschen (etwa ihren Bedürfnissen, Rechten oder Verdiensten), sondern nur in einem Verhältnis zu anderen Gütern stehen.6 Zweitens fallen mit dem Fokus auf Sekundärverteilung (310) politische Fragen der Gerechtigkeit der primären Verteilung, also auch der Verteilung struktureller Macht, weitgehend unter den Tisch, obwohl sie vor Rawls von der politischen Philosophie noch gestellt wurden.7 Das gilt auch für weitere Parameter der Gleichheit wie gleiche Achtung, gleiche Möglichkeiten zur Partizipation, gleicher Zugang zu öffentlichen Gütern etc.: Zwar werden sie anfangs genannt, doch scheint es bei genauerem Hinsehen, als wären sie für Rawls durch das vage – und ökonomistische – Differenzprinzip und den wenig verlässlichen Vorrang der Freiheit bereits abgegolten. (Das wird unten noch näher demonstriert.) Drittens schließlich zelebriert Rawls’ Buch den Abschied vom Reflexionsniveau der 1960er Jahre hinsichtlich der Ideologieanfälligkeit gerade der ökonomischen Wissenschaften. Rawls übernimmt unbesehen zahlreiche problematische Auffassungen von Wirtschaftstheoretikern und ›schmuggelt‹ sie als scheinbar ›neutrale‹ Annahmen in den Urzustand hinein. Nun geht es hier nicht um grundlegende Rawlskritik. Das Augenmerk soll vielmehr darauf gelegt werden, dass Rawls’ egalitaristisch motivierte Kritik am Perfektionismus von 1971 nur eine Variante desselben in den Blick bekommt und die andere, egalitäre ausblendet. Fragen wir aber zunächst, wie berechtigt die Kritik an dieser einen Variante ist – vielleicht ist sie ja so schlagend, dass sie andere Varianten gleich mit betrifft.
—————— 5 Diese Kritik ist nicht neu, siehe bereits Steinvorth 1999 und Henning 2005: 462ff. 6 Derart kritisierten etwa Amartya Sen, Martha Nussbaum oder Elizabeth Anderson. 7 Wie kommt es überhaupt zur vorliegenden Verteilung? Gehen einer Einkommensverteilung nicht Ungleichheiten in Macht und Vermögen voraus? Ist das Lohnverhältnis nicht bereits ein Ausdruck dieser strukturellen Ungerechtigkeit, statt der Optimalität des Marktes, wie Rawls voraussetzt? G.A. Cohen hat diese Aspekte in die Rawlssche Theorie wieder einzubringen versucht; fraglich bleibt, wie weit dies möglich ist.
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Rawls’ Kritik an Nietzsches Perfektionismus Rawls (1971) zitiert Friedrich Nietzsche in § 50 mit den folgenden Sätzen: »Die Menschheit soll fortwährend daran arbeiten, einzelne große Menschen zu erzeugen«.8 Perfektionistisch daran ist laut Rawls die Maxime, dass das aus Gerechtigkeitsgründen zu Maximierende in diesem Ansatz nicht das Wohlbefinden der Bürger oder die Befriedigung von Grundbedürfnissen sein soll, sondern »die menschlichen Errungenschaften auf dem Gebiet der Kunst, Wissenschaft und Kultur«, also eine sachliche Exzellenz in Form von Ergebnissen. Zwischen diesen beiden Zielen (»große Menschen« erzeugen vs. Errungenschaften maximieren) besteht nur bedingt ein Zusammenhang – nur dann nämlich, wenn es so etwas wie »große Menschen« überhaupt gibt, wenn sie kulturell oder wissenschaftlich produktiv sind und wenn nur sie die gesuchte Exzellenz zu erzielen in der Lage sind. Ob Nietzsche alle diese Annahmen geteilt hat, ist fraglich: Sicher ging er von der Existenz großer Menschen aus – Schopenhauer gehörte ja wie Richard Wagner zu jenen Exemplaren, denen Nietzsches Verehrung galt. Doch bezieht die zitierte Stelle den »Wert« auf die Menschen selbst, nicht auf ihre Erzeugnisse. Für Nietzsche, dessen Auffassungen diesbezüglich sich wandelten, waren »große Menschen« wohl weniger die Gelehrten, eher schon die Freidenker, und die müssen vielleicht gar nichts produzieren, jedenfalls nicht aus professionellen Gründen. Auch stand Nietzsche in späteren Werken dem Geniekult zunehmend skeptisch gegenüber. Doch lassen wir diese Unschärfe zwischen großen Menschen und einer Vermehrung der Errungenschaften für einen Moment beiseite (wir kommen darauf zurück). Worin besteht nun Rawls’ Nietzschekritik? Rawls bemängelt zweierlei: Erstens könne diese Konzeption, da sie eine Rangordnung vornehme, zum »völligen Verlust der Freiheit« führen (1975: 362). Gemeint ist die Freiheit, im privaten Bereich eigene Wertmaßstäbe zu haben; im öffentlichen Bereich geht Rawls von einem Konsens über die Grundprinzipien aus. Das zeigt erneut Rawls’ seltsamen Freiheitsbegriff: sie wird nicht politisch verstanden, sondern in Begriffen von Wahl und Präferenz. Die Menschen möchten ihre eigenen Wertmaßstäbe nicht verlieren, die für Rawls per Definition nur bei Fragen des »Guten« radikal unterschiedlich sind (»Die Parteien haben keine gemeinsame Vorstellung vom Guten«, 362).9
—————— 8 Rawls 1975: 360; nach Nietzsche KSA I: 838f., der sich hier auf Schopenhauer bezieht. 9 Im politischen Bereich gibt es dieses Problem für Rawls deswegen nicht, weil er eigens für diesen Zweck einen spezifischen Sinn für und daher einen Konsens über die Prinzipien der Gerechtigkeit unterstellt (eine überaus angreifbare Unterstellung, siehe II.2).
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Zweitens würde es »sehr ungleiche Rechte und Chancen« mit sich führen (365), weil der Perfektionismus versuchen müsse, die »Summe der inneren Werte« zu maximieren und die »Mittel zur Förderung Hochbegabter« dafür »unbeschränkt wachsen« müssten (365). Exzellente würden Riesengehälter oder -Stipendien beziehen, der Rest der Bevölkerung hätte das Nachsehen. Das vorgeblich Nietzschesche »Perfektionsprinzip« ist also weder mit der Rawlsschen »Freiheit« noch mit der Rawlsschen »Gleichheit« verträglich. Dass man alle drei Bereiche (Freiheit, Gleichheit, Perfektion) auch anders verstehen kann, wird in der Folge klarer werden. Ungeachtet seiner eigenen Vorgabe, auf einer noch »höheren Abstraktionsebene« als die bereits hypothetischen Gesellschaftsverträge von Locke, Rousseau und Kant zu sprechen (1975: 27), fügt Rawls an vielen Stellen sachhaltige Informationen ein, die zudem überaus umstritten sind. Eine dieser Annahmen, die ihn weit von Rousseau und anderen entfernt (IV.1), ist die einer natürlichen Ungleichheit. Woher wissen er und die Menschen im Urzustand eigentlich von ihr? Rawls geht ja davon aus, dass die Menschen nicht aufgrund von Erfahrungen im realen Leben, sondern schon im Urzustand den »Grundsatz der kulturellen Perfektion« ablehnen würden (1975: 280 Fn., vgl. 481). Interessanterweise würden sie dagegen die »Grundsätze des Paternalismus« annehmen (281) – der Perfektionismus wird also nicht wegen möglicher paternalistischer Konsequenzen abgelehnt (zu dieser Unterscheidung Buckley 2009). Hier liegt ein gedanklicher Schnitzer versteckt. Denn gerade die erkenntnisleitende Fiktion des Urzustandes hat es den genannten Autoren ermöglicht, sich eine unverstellte »Natur des Menschen« vorzustellen; und im Ergebnis kamen sie auf die Annahme einer natürlichen Gleichheit aller Menschen, die ihrer Differenzierung in Klassen und Stände vorausliegt.10 Wenn Rawls anstelle dessen nun von einer natürlichen Ungleichheit ausgeht (z.B. 364), hat er die Absicht des Kontraktualismus auf den Kopf gestellt. Zudem hat Rawls für diese Auffassung eine hohe Beweislast zu erbringen: Dass Faktoren wie Gesundheit, Körpergröße und sogar die Intelligenz zu weiten Teilen durch soziale Umstände beeinflusst werden, dürfte kaum bestritten werden. Je mehr Einfluss der Kulturalismus gewinnt (also die These, dass all jenes ›sozial konstruiert‹ sei), desto weniger bleibt als natürliches Substrat zur Erklärung sozialer Ungleichheiten übrig,
—————— 10 »Es ist wahrlich leicht einzusehen, dass viele der Unterschiede, welche die Menschen voneinander abheben, für natürlich gehalten werden, während sie doch eigentlich nur von der Gewohnheit und den verschiedenen Lebensweisen herrühren, welche die Menschen im gesellschaftlichen Leben angenommen haben« (Rousseau 1754: 89).
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und desto mehr spricht für die ungefähre Gleichheit des natürlichen Potentials. (Das schließt nicht aus, dass Individuen in verschiedenen Gebieten begabt sind; daher haben sie ein gleiches Recht auf eine freie Entwicklung.) Wie kommt Rawls zu diesem so kontraintuitiven Schluss? Ich vermute, Rawls übernimmt ihn aus der hegemonialen Wirtschaftstheorie seiner Zeit, welche – nach ihrerseits egalitären Anfängen – eine Domäne der sozialen Ungleichheit geworden ist, die zu Legitimationszwecken von der Annahme einer natürlichen Ungleichheit ausging.11 Es ist nicht etwa naturwissenschaftlich ›erkannt‹ worden, dass die Menschen von Natur aus ungleich sind – eher das Gegenteil ist der Fall (Pinker 2002: 141ff.). Vielmehr haben sich die sozialen Ungleichheiten in der ideologieanfälligen ökonomischen Wissenschaft theoretisch ›naturalisiert‹, also in Form einer »Konzeption des Guten« kristallisiert, die sich als »neutral« ausgibt. Diese Kristallisation übernimmt Rawls unbesehen. Ich will das nur anhand eines Vertreters dieser Denkungsart diskutieren – anhand von Hayek. Rawls, Hayek, Nietzsche: Ein Dreieck der Ungleichheit Friedrich A. Hayek (1899–1992) ist ein überaus einflussreicher Theoretiker, der offen über die normativen Hintergrundannahmen der hegemonialen Ökonomie gesprochen hat. Obwohl die beiden als weltanschauliche Gegner gelten, hat sich Hayek in seinem späteren Werk zustimmend zu Rawls geäußert.12 In der Tat stehen sie sich näher, als man glauben darf, wenn man den Lehrbüchern folgt. Gegenüber früheren Egalitaristen von Dewey bis Tawney verblassen die Unterschiede sogar. Da diese Einschätzung nicht verbreitet ist, seien die Gemeinsamkeiten ausbuchstabiert. Die Parallelen erstrecken sich von der Beschränkung auf die »Grundstruktur« (1) über das Differenzprinzip (2) und den soziologischen Agnostizismus (3) bis zur Verklärung der sozialen Ungleichheit als gerechtigkeitsstiftend (4). (1) Die Parallele beginnt mit einer grundlegenden Orientierung in der Gerechtigkeitstheorie. Zwar teilt Rawls Hayeks weitgehende Skepsis gegenüber diesem Begriff nicht (nach Hayek 1976: 100 ist die Rede von sozialer oder ökonomischer Gerechtigkeit sinnlos). Doch will Rawls sie wie
—————— 11 Dazu Levy/Peart 2005, Thompson 2007. »In einer längst verfloßnen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen« (Marx, MEW 23: 74). 12 Er bemerkte: »differences between us seemed more verbal than substantial … we agree on what is to me the central point« (Hayek 1976: xiii).
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jener nur in der »Grundstruktur« verankert sehen. Einen Satz von Rawls, der dies zu belegen scheint, zitiert Hayek gleich zweimal: »Put another way, the principles of justice do not select specific distributions of desired things as just, given the wants of particular persons. This task is abandoned as a mistake in principle, and it is, in any case, not capable of a definite answer. Rather, the principles of justice define the constraints which institutions and joint activities must satisfy if persons engaging in them are to have no complaints against them. If these constraints are satisfied, the resulting distribution, whatever it is, may be accepted as just (or at least not unjust)« (Rawls 1963: 102, zitiert in Hayek 1976: 100 und 166).
Dies ist in der Tat die non-egalitäre Grundidee einer vertragstheoretischen und prozeduralen Gerechtigkeitskonzeption. Ihr Gegenstand ist lediglich die Grundstruktur der Gesellschaft: »Ist einmal das Problem der Verteilung als das der Schaffung von Rahmeninstitutionen erkannt, so erkennt man, dass die herkömmlichen [die alten egalitaristischen, CH] Vorschriften kein eigenes Gewicht besitzen« (Rawls 1975: 314, vgl. 23f., 108).
Diese ordnungspolitische Fixierung allein auf »Rahmen« hat in der Folge von Hayek meist dazu geführt, weitergehende politische Maßnahmen, wie sie egalitäre Strömungen gefordert und teilweise schon praktiziert hatten, abzulehnen (so noch in der sog. Wirtschaftsethik nach Karl Homann). (2) Weiter hat bereits Hayek den Gedanken formuliert, dass soziale Ungleichheit für die Schlechtergestellten (im ökonomischen Sinne) besser und daher gerecht ist, solange sie mit davon profitieren. Das tun sie bei Hayek automatisch: er betrachtet die ökonomische Ungleichheit als unverzichtbaren Motor des »Fortschritts« (1960: 56). Dieser Fortschritt komme irgendwann auch bei »den Ärmeren« an (die daher nicht erst durch diesen Fortschritt arm geworden sein können, wie für Marx, MEW 23: 657ff.): »Auch die heute Ärmsten verdanken ihr relatives materielles Wohlsein den Folgen vergangener Ungleichheiten« (58). »Ein großer Teil der Aufgaben der Reichen dient … zur Deckung der Kosten des Experimentierens mit neuen Dingen, die in der Folge den Ärmeren zugänglich gemacht werden können« (Hayek 1960: 57; vgl. in kulturalistischer Wendung auch Friedman 1962).
Genauer gesagt komme dieser Vorteil nur dann bei den Ärmsten an, wenn das Geld bei den Reichen, die mit Geld umzugehen wissen, konzentriert werde. Er sei umso größer, je höher die Ungleichheit ist. Verringere man die Ungleichheit kurzfristig, benachteilige man die Ärmsten auf jeden Fall langfristig (62, das ist stets ökonomisch gemeint). Das sei gerade im Inte-
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resse der Ärmsten keinesfalls anzuraten.13 Dieser Punkt findet sich bei Rawls fast unverändert wieder: eine Umverteilung sieht er nur für den (nach eigenen Prämissen unwahrscheinlichen) Fall vor, dass das ökonomische Wachstum nicht zum Vorteil der Ärmsten ausfalle. Doch das sieht keine weitere Maßnahmen vor, denn hier geht es um die »Grundstruktur«. Zwar heißt es: »Die Gerechtigkeit geht der Pareto-Optimalität vor« (Rawls 1975: 100), doch dies bezieht sich auf den vorangehenden Satz: »Ist freilich die Grundstruktur ungerecht, so gestatten diese Grundsätze Änderungen, die die Aussichten einiger Bevorzugter verschlechtern können« (100). Sogar solch abgeschwächte Änderungen werden durchgängig begrenzt durch die unausgewiesene Annahme, nur eine ungleiche Gesellschaft könne Wachstum erzeugen (1975: 320). Gemeint ist stets nur, dass die Schlechtestgestellten einen »Vorteil« aus der Ungleichheit ziehen können. Gegen weitere konkrete Maßnahmen wendet sich Rawls nicht etwa deswegen, weil sein Abstraktionsgrad sie nicht in Blick bringt. Er benennt sie vielmehr recht genau (etwa Mindestlohn, progressive Einkommenssteuer und Erbschaftssteuer, 310ff.) und lehnt sie für den Normalfall aufgrund seiner Prämissen ab – Prämissen, die er mit Hayek teilt. (3) Auch bei der Begründung, warum politische Institutionen keine »Theorie des Guten« wie den Perfektionismus verfolgen dürften (wohl aber eine bestimmte ökonomische Theorie, die ebenso umstritten ist), wandelt Rawls in Hayekschen Bahnen: Es herrscht eine grundlegende Skepsis gegenüber der Erkenntnis eines für alle ›Guten‹. Dies sind im Grunde zwei Annahmen: Erstens eine hinsichtlich der begrenzten Erkenntnisfähigkeit der Menschen – in seltsamem Kontrast mit dem gleichzeitig beanspruchten Wissen über ökonomische »Gesetze« und deren moralischer Wünschbarkeit, die schlicht unterstellt wird: Der Verstand eines Menschen reiche niemals aus, »alles dazu voll zu erfassen …, dessen der Verstand eines anderen urteilsfähigen Menschen fähig ist« (Hayek 1960: 114). Und zweitens hinsichtlich der Wandelbarkeit und Subjektivität der Konzeptionen des Guten: Es müsse offen gelassen werden, ob andere Generationen nicht ganz andere Werte vertreten würden (47f.). Der Übergang zum, oder die Kapitulation vor dem reinen Markt erfolgt dann recht rasch – als sei dieser vom historischen Wandel ausgenommen:
—————— 13 Diese Setzung lässt schwer halten: Skandinavien etwa, das Hayek (1960: 62) als Beleg für seine These nennt, hat in späteren Jahrzehnten mit einer vergleichsweise hohen sozialen Gleichheit gute Wachstumsraten erreicht, während es im Gegenteil Hinweise darauf gibt, dass soziale Ungleichheit das Wirtschaftswachstum aufhalten kann (Faigle 2011).
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»Weil jeder Einzelne so wenig weiß, und insbesondere, weil wir selten wissen, wer von uns etwas am besten weiß, vertrauen wir darauf, dass die unabhängigen und wettbewerblichen Bemühungen vieler die Dinge hervorbringen, die wir wünschen werden, wenn wir sie sehen« (Hayek 1960: 40).
Die entscheidende Pointe der Hayekschen Konzeption, nämlich aufgrund der unzureichenden Erkenntnisfähigkeiten der Menschen die Koordination weitestgehend der »spontanen Ordnung« von Marktkräften zu überlassen, wird bei Rawls philosophisch sublimiert übernommen: er argumentiert schlicht unter der Voraussetzung »eines Marktes mit Konkurrenz« (Rawls 1975: 92). Vorangehende Egalitaristen (wie Hobhouse 1911: 98ff.) hatten gerade diese Voraussetzung hinterfragt. Für Rawls ist die ganze Gesellschaft ein einziger Markt (»ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil«, welcher darin besteht, »eine größere Menge von Gütern« zu erzeugen«, 1975: 105f.). Hier wird ein zuvor in der progressiven politischen Philosophie bereits landläufiges kritisches Potential beispielhaft – und mit Nachwirkungen bis heute – unterboten. (4) Schließlich scheint es, als habe Hayek Pate gestanden für eine der Lesarten des zweiten Grundsatzes, welche Rawls einführt – die »natürliche Freiheit« (92). Zwar will Rawls Hayeks puristische Lesart (eine rein formale Chancengleichheit) überschreiten, doch übernimmt er von ihr wesentliche Prämissen und die Differenz zu Hayeks Lesart bleibt letztlich minim; zumindest wenn man sie mit älteren egalitaristischen Positionen vergleicht. Am Ende geht auch Rawls von einer natürlichen Ungleichheit der Menschen aus und hält es für gerecht, wenn die Ärmeren im Geiste von den höheren natürlichen Begabungen der anderen ökonomisch profitieren; wenn auch in viel geringerem Maße als diese selbst. (Das kommt übrigens nicht nur Hayek, sondern – wie im nächsten Abschnitt zu zeigen ist – sogar Nietzsche recht nahe.) Das gilt es zu erläutern: Der »zweite Grundsatz« der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie besagt, dass soziale Ungleichheiten solange »gerecht« seien, wie sie (a) »zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen« (Rawls 1975: 81). Teil (a) ist für Rawls unproblematisch, unterschiedlich lesen lasse sich jedoch Teil (b), der von Chancengleichheit handelt. Die Lesart der »natürlichen Freiheit« verlangt hier lediglich eine »formale Chancengleichheit in dem Sinne, dass jeder wenigstens die gleichen gesetzlichen Rechte auf vorteilhafte Positionen hat« (92). Jeder darf sich de jure auf jede Position bewerben. Ob er reale Chancen auf sie hat (eine »effective freedom«, Dewey), steht hingegen nicht zur De-
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batte. Das wäre in etwa die Position von Hayek und ähnelt der ›bloß formellen‹ Freiheit, gegen die schon der Marxismus Sturm gelaufen war. Hayek hatte gewarnt, dass »ein Versuch, Gleichheit zu erzwingen, kaum eine andere Folge haben kann, als dass manche verhindert werden, die Erziehung zu erhalten, die sie sonst erhalten würde« (1960: 118). Und das sei, folgt man der Logik seines Ansatzes, für alle schlechter, weil dann die Begabten weniger produktiv wären. Daher sei es »weder möglich, noch wäre es wünschenswert, alle mit denselben Aussichten beginnen zu lassen, weil das nur erreicht werden könnte, indem manchen Möglichkeiten genommen werden, die nicht allen geboten werden können« (1960: 503).
Das ist der »leveling-down«-Einspruch gegen mehr soziale Gleichheit. Gegen diese Konzeption wendet Rawls zu Recht ein, dass die »Anfangsverteilung« der realen Chancen »stark von natürlichen und gesellschaftlichen Zufälligkeiten beeinflusst« werde.14 Dies erregt Rawls’ Widerwillen, weil die Verteilung dieser Chancen »unter moralischen Gesichtspunkten willkürlich ist«: Die natürlichen (genetischen) und gesellschaftlichen (familiären, kulturellen) Bedingungen, in die ein jeder Mensch geboren wird, sucht sich niemand aus und »verdient« sie daher nicht (»Der Begriff des Verdienstes ist hier nicht am Platze«, 125). Nun sei jede Position, die nur eine der beiden Zufälligkeiten zu vermindern trachte, »instabil« (95), da sie die jeweils andere unberücksichtigt lasse: Die »liberale Auffassung« (93) versucht nur gesellschaftliche Einflüsse, die »natürliche Aristokratie« (94) nur die Einflüsse der angeborenen Talente auszugleichen.15 So würden entweder nur natürliche oder gesellschaftliche Ungleichheiten korrigiert. So läuft die Argumentation auf eine Position zu, die beiden moralischen Intuitionen entgegenkommt. Sie »fordert zur Suche nach einer anderen Deutung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze auf« (94). Das könnte nun heißen, dass alle Ungleichheiten ausgeglichen werden sollen. Fängt man bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Grundstruktur bei Null an, wie es in einem »Naturzustand« möglich wäre (historisch war die Eröffnung dieser Denkmöglichkeit eine der revolutionären Funktionen der kontraktualistischen Fiktion), ist diese Idee keineswegs abwegig. So hatte der sozialistische Grundsatz »Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder
—————— 14 Rawls 1975: 92. Damit sind die gesellschaftlichen Vorurteile (im Sinne Bourdieus), die auch dann wirken, wenn die realen Gegebenheiten ähnlicher sind, noch gar nicht erfasst. 15 Im Sinne der luck-egalitarianism; mit dem politischen Gebrauch des Wortes (bei James Harrington im 17. und Thomas Jefferson im 18. Jahrhundert) hat das wenig zu tun.
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nach seinen Fähigkeiten« (Cabet 1848: 1; MEW 19: 21) genau so etwas im Sinne: Niemand hätte in einer solchen Verteilung Nachteile von Unterschieden in seinen realen Chancen zu erwarten. Das ist keineswegs utopisch: Zumindest in Familien oder auf dem Campingplatz (G.A. Cohen 2009) kommt dies durchaus zum Tragen; daher auch die politische Sprengkraft des Ideals der »Brüderlichkeit« schon bei den frühen Christen.16 Dieses Ideal lässt sich in größeren Gemeinschaften möglicherweise schwer umsetzen, aber es lässt sich recht einfach denken; und allein das zählt hier, beginnt Rawls doch mit nicht weniger abstrakten und bewusst weltfernen Gedankenspielen. Lässt man sich auf den Schleier des Nichtwissens einmal ein, liegt die Frage nahe: Warum sollten Menschen, wenn sie wirklich nichts über sich und ihre künftige Situation wissen würden, nicht unter solchen – nämlich egalitären – selbstgegebenen Grundsätzen leben wollen? Der Textbefund früherer utopischer Entwürfe (aber auch zeitgenössischer, denkt man etwa an Science Fictions, Bould 2009) spricht jedenfalls dafür. Zunächst scheint Rawls’ eigener Ansatz, die »demokratische Gleichheit«, dieser utopischen Dimension tatsächlich entgegenzukommen (sie wurde daher anfangs als sozialistisch empfunden): Sie geht von einer nicht nur formalen, sondern »fairen Chancengleichheit« aus (Rawls 1975: 95) und unterstellt: »Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten sollten ähnliche Lebenschancen haben« (93). Falls es unähnliche Fähigkeiten geben gibt, würden diese wohl nicht ausgeglichen, sondern wären Anlass für Ungleichverteilungen. So wird schon das Ideal gegenüber dem ökonomischen Einspruch, der Behauptung einer natürlichen Ungleichheit, abgeschwächt. Immerhin sollen gesellschaftliche Ungleichheiten in ihrer Wirkung abgefedert werden. »Faire Chancengleichheit« gibt es jedoch nur »zusammen mit dem Unterschiedsprinzip« (95). Was heißt aber »zusammen mit«? Wenn noch ein anderes Prinzip zum Zuge kommt, lassen sich so unterschiedliche Prinzipien miteinander verbinden, ohne einander in die Quere zu kommen? Das hängt davon ab, was dieses zweite Prinzip genau will. Das Differenzprinzip besagt – wie schon angetönt –, dass jede natürliche oder soziale Ungleichheit auch zum Vorteil der am Schlechtestgestellten ausfallen müsse. Hier wird nicht nur eine natürliche, sondern nun auch eine soziale
—————— 16 Weber 1922: 350. Der Vorwurf, dieses Ideal sei weltfremd (mit Weber: akosmistisch), lässt sich zurückgeben: Rawls’ Bild der Gesellschaft als harmonisches »Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil« (105) ist dies ebenso. Wird dort ein geschöntes Ideal der Familie auf Gesellschaft übertragen, so hier eines der Firma. Zur Kritik an der Brüderlichkeit auch Thomä 2008.
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Ungleichheit vorausgesetzt (deutlich etwa 98f.), was in Spannung zur »fairen Chancengleichheit« steht. Dennoch meint Rawls unerfindlicherweise, dies und nicht das brüderliche Teilen entspreche dem »Brüderlichkeitsideal« (127). In einer Familie praktiziert würde das bedeuten, dass der große Sohn dann eine Aufstockung des Taschengeldes um 50% erhalten darf, wenn er seiner kleinen Schwester einen Bruchteil davon abgibt, etwa 5%.17 Das genügt für Rawls bereits, um von Gerechtigkeit zu sprechen. Das ist eine weitreichende Abschwächung der egalitären Implikationen, die die »faire Chancengleichheit« allein nach sich ziehen würde. Wie lässt sich diese weitere Abschwächung schon des Ideals eigentlich begründen?18 Ein Grund ist, dass in die Formulierung der grundlegenden Gerechtigkeitsintuitionen pragmatische Argumente hineinragen, die dem polit-ökonomischen und diskursiven Momentanzustand einer konkreten Gesellschaft entstammen (den USA von 1971), von denen man nach eigenen Prämissen eigentlich nichts wissen dürfte. Wenn das Differenzprinzip als der Gerechtigkeit letzter Schluss erscheint,19 so ist eine Frage der Anwendung in die Grundlegung hineingerutscht (Rawls 1975: 98f.; Sen 2009: 61). Die Frage, welche Verteilung, abstrakt genommen, gerecht wäre, liegt auf einer anderen Ebene als die, wie sich der Gesamtoutput einer Volkswirtschaft maximieren lässt. Bindet man die Fragen so eng zusammen wie Rawls, braucht man weder Urzustand noch Neutralität. Wenn Rawls scheinbar nebensächlich zur materialen Chancengleichheit sagt: »In der Praxis ist es unmöglich« (1975: 94), so untergräbt er damit die Konstruktion seiner Theorie: Im Urzustand, den er eigens einführt, um sich den Blick nicht von empirischen Zufälligkeiten vernebeln zu lassen, gibt es per Definition keine so geartete »Praxis«. Dass etwas unter gegebenen Umständen nicht »realistisch« sei (nach welchen Kriterien?), kann der nicht sagen, der die gegebenen Umstände aus der Suche nach Gerechtigkeitsprinzipien ausgeschlossen hat. Sie können daher nur in der Anwendung eine Rolle spielen, nicht aber – wie hier – in der Grundlegung. Methodisch gesehen stellt diese Vermischung der Abstraktionsebenen die Anlage der gesamten Theorie in Frage. Wie ist dies zu erklären?
—————— 17 Sagen wir, er bekommt 10 $ die Woche, sie nur 5. Rawls-gerecht ist es dann, wann er in der neuen Runde 14,75 bekommt, sie 5,25. Er hätte dann sein schon eingangs doppelt so hohes Taschengeld um 47,5 % erhöht, sie ihres nur um 5%. Die 5% Abgabe ist der Tribut, den er für die Rechtfertigung der Ungleichheit zu zahlen hat. Dennoch hat sich ihre Ungleichheit vom Verhältnis 2 zu 1 auf 2,8 zu 1 vergrößert (um 40%). 18 Es geht immer noch um »ideale Theorie«, die Wahl der Grundsätze (Rawls 1975: 277). 19 Das tut es etwa in der Darstellung von Hinsch (2006).
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Ich nehme an, dieses ›Wissen‹ schlüpft deswegen in die Grundlegung hinein, weil Rawls selbst es als unumstritten und neutral ansah. Es ist indes keines von beiden. Die pragmatischen Elemente sind so spezifisch wie angreifbar: eine faire Chancengleichheit ließe sich unter gegebenen Bedingungen »nur unvollkommen durchführen« (1975: 94). Angesichts der unterstellten praktischen Unmöglichkeit, eine »faire«, d.h. auch materiale Chancengleichheit umzusetzen, kann man die Wendung »zusammen mit« (95), von der wir ausgegangen waren, folglich nicht als Zusatz, sondern nur als Ersetzung der materialen Chancengleichheit lesen. »Fair« wird im übrigen Buch vor allem das Differenzprinzip genannt; von materialer Chancengleichheit, die Rawls ja gewählt hatte, ist auf über 500 Seiten kaum mehr die Rede. Klar ist damit nicht nur, dass hier ein Widerstreit vorliegt, sondern auch, in welche Richtung er aufgelöst wird: Materiale Chancengleichheit würde etwa verlangen, dass für eine gute Ausbildung nicht viel Geld nötig ist, solange das Geld ungleich verteilt ist.20 Die fehlende Umsetzung dieser moralisch evidenten, aber pragmatisch vorgeblich »unmöglichen« (und darum schon in der idealen Theorie fallengelassenen) Intuition soll, so muss man schließen, durch das Differenzprinzip abgefedert werden. Damit jedoch ist man praktisch der »natürlichen Freiheit« (sprich: Hayek) nahe gekommen. Denn gerade die theoretisch fixe Bindung des Vorteils der Schlechtestgestellten an ein ökonomisches Wachstum, und des Wachstums an soziale Ungleichheit, führt dazu, dass es wünschenswert sein muss, dass die angeblich schon von der Natur Bevorzugten ihre Talente zum Vorteil aller nutzen können. Gerade das »Brüderlichkeitsideal« (127) verlangt also, dass die von der Theorie vorausgesetzte natürliche Ungleichheit ökonomisch möglichst weitgehend ausgenutzt wird. Für die Schlechtestgestellten kommt am Ende nicht mehr heraus als ein »Existenzminimum« (311).21 Diese Überlegungen waren recht komplex, daher fasse ich erneut zusammen, worin genau die (gewollten oder ungewollten) Parallelen zu Hayek liegen: Rawls geht wie Hayek von einer natürlichen Ungleichheit aus, und schließt wie dieser, dass die vorgeblich höher Begabten ökonomisch produktiver sind. Da er Gerechtigkeit primär ökonomisch versteht, ist es für ihn wie für Hayek besser, wenn diese Menschen sich ökonomisch weitge-
—————— 20 Das kann bedeuten: mehr und bessere öffentliche Schulen, Stipendien, Abschaffung von Studiengebühren und Bekämpfung ethnischer Vorurteile, bis hin zur »affirmative action«, deren Zeitgenosse Rawls war. 21 Ein solches gab es sogar in viktorianischen Gesellschaften und wurde selbst von Hayek (1960: 386 ff.) und Friedman (1962: Kap. 12) vorgeschlagen. Wir gewinnen also nichts.
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hend ungehindert entfalten können – beide unterstellen einen ökonomischen Automatismus, der die Vorteile der Reichen irgendwann unten ankommen lässt (prima facie ließe sich immerhin annehmen, dass der Reichtum der einen auf Kosten der anderen erfolgt; oder zumindest oben konzentriert bleibt). Deswegen möchten beide Gerechtigkeitsüberlegungen auf die »Grundstruktur« einer Gesellschaft beschränken. Und schließlich werten beide Autoren diese vier Aussagen nicht als angreifbare empirische ›claims‹ einer spezifischen historischen Situation, sondern als ein höheres unumstrittenes »Wissen«, welches jedem Akteur – sogar im Urzustand, in dem er sonst gar nichts weiß – wenn nicht unterstellt, dann wenigstens zugerechnet wird. Bei beiden geht mit dem Wissen über die Segnungen des Marktes eine Unmöglichkeit einher, über Fragen des Guten etwas derart sicher wissen zu können, dass man darauf eine (andere) Politik gründen könnte. Damit immunisiert sich diese Ideologie wasserdicht gegen Kritik. Rawls wäre nicht Rawls, würde er sich nicht in einigem von Hayek unterscheiden: Dieser etwa lehnt die materiale Chancengleichheit kategorisch ab, Rawls hingegen bringt ihr Sympathie entgegen und lässt lediglich in der Praxis wenig von ihr übrig. Auch bringt Rawls einige nichtökonomische Aspekte hinein wie etwa die »Selbstachtung« (die für die Bildungspolitik eine Rolle zu spielen habe, 1975: 128; 479ff.). In einem zentralen Punkt geht er jedoch mit Hayek konform: Maßgeblich für beide Versionen ist die Prämisse, dass es ein natürliche Ungleichheit der Menschen, und das heißt auch der Klassen gibt (zu den Schlechtestgestellten gehört bei Rawls nicht zufällig die »Arbeiterklasse«, 98f.). Nur dann nämlich ist das pragmatische Argument glaubhaft, eine materiale Chancengleichheit sei in der Praxis unmöglich: Würde eine bestimmte Anzahl der Menschen, die bislang keine gute Ausbildung genossen, dies in Zukunft tun, und würden sie aufgrund ihres ähnliches Potentials auf vergleichbare Weise ›produktiver‹, könnte die Gesellschaft davon insgesamt profitieren. Es erscheint nur dann als eine unnütze Investition, wenn man von vornherein von einer natürlichen Ungleichheit ausgeht. Für die alten Egalitaristen hatte dieses Argument keine Schlagkraft, da sie voraussetzten, dass Menschen unter ähnlichen Bedingungen auf ähnliche Weise blühen würden (siehe IV.1). Das ist für perfektionistische Egalitaristen sogar ein Selbstwert; es ließe sich aber auch utilitaristisch rechtfertigen: Selbst wenn nicht alle Geförderten sich im engeren Sinne wirtschaftlich betätigen würden, hätte die Gesellschaft kulturell und atmosphärisch einen »Nutzen« davon, der sich insgesamt auszahlen würde.
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Mit dieser Ablehnung ist Rawls nun nicht nur Hayek recht nahe, sondern – against all odds – auch Nietzsche, dessen von Rawls unterstellter Elitismus eigentlich der Grund war, den Perfektionismus abzulehnen. Damit zeigt sich mehr und mehr, dass die Gemengelage vertrackter ist, als das gängige Lehrbuchwissen es hinstellt.22 Der nächste Abschnitt legt dar, dass Rawls’ Position derjenigen Nietzsches ebenfalls erstaunlich nahe kommt: Beide erträumen eine Gesellschaft, in der die ›Großen‹ sich entfalten können, weil das auch zum Vorteil der ›Kleinen‹ ist. Der Unterschied ist, dass Nietzsche (als deutscher Gelehrter des 19. Jahrhunderts) dies nicht primär ökonomisch versteht. Rawls kritisiert Nietzsche zwar – wie sich herausstellen wird – zu Recht, teilt mit Nietzsche jedoch gerade die problematischsten Elemente: die natürliche Ungleichheit und ein darauf aufbauendes Gesellschaftsbild. Kommen wir damit endlich zu Nietzsche.
Wie egalitär ist Nietzsches Perfektionismus? Blicken wir zunächst auf Rawls’ Verdikt gegen Nietzsche zurück, welches diesen als Anhänger einer herzlosen Ergebnismaximierung auf Kosten der Schwachen hinstellt. Rawls deutet Nietzsche als Verteilungstheoretiker, der die Kultur als eine zu maximierende Einheit versteht, die durch die Verteilung von Ressourcen zu Gunsten der Begabten maximiert werden könne. Dagegen ist nun mehreres eingewandt worden:23 Zunächst, dass es Nietzsche gar nicht um Verteilung von Gütern ging, er also kein »Gerechtigkeitstheoretiker« in diesem Sinne ist (Cavell 2010: 252). Sodann könne man Nietzsche wohlwollender als einen Humanisten lesen, dem es zwar um die Erzeugung einzelner »großer Menschen« gehe, der damit aber jeden Einzelnen ansprechen und zur Weiterentwicklung haben anhalten wollen.24 Das könne zwar nicht in den bestehenden kulturellen Institutionen geschehen – auch dies übersehe Rawls –, da sie aus der Sicht Nietzsches zu oberflächlich seien (Cavell 1990: 48; 2010: 242; das spielt auf die Dekadenztheorie
—————— 22 Gängige Stereotypen lauten etwa: Hayek ist für die Freiheit, Nietzsche dagegen; oder: Hayek ist neoliberal, Rawls sozialdemokratisch, Nietzsche harmlos, weil unpolitisch. 23 Ich beziehe mich auf die pro-perfektionistischen Neulektüren von Nietzsche: Nach Cavell 1990: 48ff.; 2010: 239ff. etwa Conant 2001 (2014), Hurka 2007 und Lemm 2007. 24 Cavell 1990: 51; 2010: 250. Die »Menschlichkeit« nennt Nietzsche immerhin den »unantastbaren heiligen Tempelschatze« (Nietzsche 1874: 368); doch entfahren ihm auch Ausdrücke wie »Oh Humanität! Oh Blödsinn!« (KSA 5: 54); später beschränkt Nietzsche sich – klar rassistisch – auf eine nur »arische Humanität« (KSA 6: 101).
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an). Doch das Ziel bleibe perfektionistisch: es gehe um die Freisetzung der individuellen Entwicklung (»wirkliche Befreiung«, KSA 1: 338) mit dem Ziel der »Erzeugung des Genius« (386). Dies wird von Cavell »moralischer Perfektionismus« genannt, weil er meint, eine solche individuelle Befreiung sei für moralfähige Individuen nötig. Genau genommen steht also nicht einmal ein moralischer Perfektionismus zur Debatte, sondern nur ein moralermöglichender (etwa im entwicklungspsychologischen Sinne). Wir werden das Nietzsches Existenzialismus nennen. Die Frage der gerechtigkeitstheoretischen Konsequenzen bleibt jedoch auch nach dieser Anti-Kritik virulent: Gesetzt, man könnte Nietzsche tatsächlich derart verharmlosend ›liberal‹ deuten, würde diese Konzeption nicht letztlich doch zu sozialer Ungleichheit führen, wie Rawls vermutet, oder hat Cavell mit der Behauptung recht, dass dies eine demokratische und vielleicht sogar egalitäre Konzeption ist?25 Das hängt vor allem davon ab, was Nietzsche selbst vertreten hat. Wie hält er es mit der Gleichheit? Sehen wir uns Nietzsches eigene Position an, sofern sich die Gedanken seiner verschiedenen Phasen auf einen Nenner bringen lassen. Nietzsche als Erzieher Was bedeutet es also zu sagen, Nietzsche sei ein »Perfektionist«, und wie steht dieses Credo bei ihm in Zusammenhang mit Fragen der Gleichheit? Beginnen wir mit seiner klassischen Schrift Schopenhauer als Erzieher, von der die jüngere Diskussion ihren Anfang nahm. Das von Rawls (1975: 360) aus einer Sekundärquelle gebrachte und von Cavell, Conman und Lemm weiter durchdeklinierte Zitat wurde 1874 publiziert, also in einer recht frühen Phase von Nietzsches Schaffen. Hier spricht Nietzsche von Kultur als Perfektionierung. Er nennt sie, fast dialektisch, »Vollendung der Natur«: »Es ist dies der Grundgedanke der K u l t u r, in sofern diese jedem Einzelnen von uns nur Eine Aufgabe zu stellen weiß: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und außer uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten« (KSA 1: 382; 1874, Hervorhebung im Original).
Als »Vollendung der Natur« (siehe thomistisch Blanchete 1992) wird kurz vorher die »Bildung« bestimmt (314). Das bedeutet zweierlei: Der Mensch ist ein Naturwesen, kann für eine gute Entwicklung jedoch nicht allein auf
—————— 25 So jedenfalls deutet ihn Lemm 2007: 9f.; Cavell ist mit diesem Ausdruck sparsamer.
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Natur vertrauen, sondern muss ihr »nachhelfen« (407).26 Das könnte man nun so lesen, wie es Cavell vorschwebt, nämlich als eine keineswegs elitäre, sondern an alle Menschen (»jeden Einzelnen«) gerichtete Aufforderung, nicht nur andere Genies (»außer uns«), sondern auch sich selbst (»in uns«) durch Kunst, Religion und Philosophie weiter zu entwickeln. Tatsächlich ist dies die Ausgangsfragestellung des Aufsatzes; nur heißt das bei Nietzsche nicht, dass er die Fragestellung auch durchhält. Anfangs wird festgestellt, dass »Jede junge Seele … bei Tag und Nacht« den Zuruf »sei du selbst!« höre (KSA 1: 338), ihm aber in den meisten Fällen aus Faulheit und Konformismus zu entfliehen versuche.27 Daher bedürfe die junge Seele eines echten Erziehers, der die Seele nicht konformistisch eingliedere, sondern ihr – man könnte sagen: maieutisch – zu ihrem Eigensten verhelfe; ihr also ermögliche, »nach eignem Maaß und Gesetz zu leben« (339), statt sich allzu sehr von der Anerkennung der anderen abhängig zu machen.28 Arthur Schopenhauer nun, um den es in diesem Aufsatz geht, sei deswegen ein guter »Erzieher«, weil er durch seine Bücher Nietzsche selbst genau dies ermöglicht habe – er war ihm Vorbild, ohne ihn einzuengen. Seine Eigenständigkeit zeigt Nietzsche ironischerweise darin, dass er in diesem Aufsatz über Schopenhauer kaum etwas von Schopenhauer referiert oder gar übernimmt. Dieses Eintreten für eine erzieherische Freisetzung individueller Eigenheiten wäre ein zwar exzentrisch und lautstark auftretender, aber der Sache nach recht konventioneller Bildungsindividualismus, für den man sich nicht unbedingt auf den Rabauken Nietzsche beziehen müsste: ähnliches findet sich schließlich bei Rousseau, Goethe, J.S. Mill und anderen. Dem entspricht allerdings der weitere Textbefund keineswegs. Andere Schriften (s.u.) widerstreiten der Auffassung diametral, es gehe einzig um die »die volle und freie Entwicklung jedes Individuums« (Marx, MEW 23: 618). Und schon im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes wird diese Auffassung auf
—————— 26 Diese Forderung einer Korrektur der Natur steht in Spannung zum später angestrebten Jasagenkönnen. Den Begriff der »Vollendung« benutzt Nietzsche erstaunlich oft. 27 »Werde, der du bist!« sagte schon Pindar. Man wird an den »Ruf des Gewissens« bei Heidegger erinnert (1927: 272; ein Bezug auf Pindar in Heidegger 1929: 77), der etwas ähnliches sagt: Er sagt gerade nichts Moralisches (das Schuldigwerden an Anderen ist ein »vulgäres« Verständnis des Gewissensrufes, 1927: 282), sondern bezeugt das »eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins« (301), wie Heidegger seine Version der Selbstwerdung nennt, welches stets durch das »Verfallen an das ›man‹ bedroht ist (175). 28 Das findet man bei Otto Gross und Heidegger noch ähnlich: Das Dasein »wählt sich seine Helden« (Heidegger 1927: 386). Heute übernimmt solche Aufgaben ein Therapeut.
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bedeutsame Weise qualifiziert, so dass es am Ende kein konventioneller Bildungsindividualismus mehr bleibt – die »Gelehrten«, denen etwa noch Fichte eben diese Aufgabe zugeschrieben hatte,29 sind ja geradezu das Hauptfeindbild dieser Schrift (vgl. 393ff.) wie vieler späterer Werke. Zwei Seiten nach der von Rawls zitierten Stelle spricht Nietzsche klar von einer Zweiteilung in »große« Menschen und den Rest, die »Masse«. Hier betritt Nietzsche erstmals Rawls’ Terrain der Verteilungstheorie; und die Botschaft ist klar: Nietzsche möchte das Augenmerk nicht in die Breite, sondern vor allem auf die Spitze gelenkt wissen, und bezieht sich dafür auf das Vorbild der Natur (die es im Menschen zu vervollkommnen gelte): »Eigentlich ist es leicht zu begreifen, dass dort, wo eine Art an ihre Grenze und an ihren Übergang in eine höhere Art gelangt, das Ziel ihrer Entwicklung liegt, nicht aber in der Masse der Exemplare30 und deren Wohlbefinden …, vielmehr gerade in den scheinbar zerstreuten und zufälligen Existenzen, welche hier und da einmal unter günstigen Bedingungen zustande kommen; und ebenso leicht sollte doch wohl die Forderung zu begreifen sein, dass die Menschheit, weil sie zum Bewusstsein über ihren Zweck kommen kann, jene günstigen Bedingungen aufzusuchen und herzustellen hat, unter denen jene großen erlösenden Menschen entstehen können« (Nietzsche, KSA 1: 384).
Von der Herstellung solcher »günstigen Bedingungen« für eine gute Entwicklung sprachen auch Vertreter der positiven Freiheit – allerdings in einem anderen Sinne (IV.2). Herstellen heißt jedenfalls, dass es überlegte menschliche Anstrengungen und gezielte politische Eingriffe geben soll, um den Übergang in eine »höhere Art« zu beschleunigen. Nietzsche meint, man solle nicht weiter die Natur walten lassen (im Sinne eines kruden Darwinismus), sondern ihr unter die Arme greifen. Das muss nicht im Sinne der Eugenik geschehen (der Nietzsche allerdings nähersteht, als es seinen Anhängern lieb sein kann).31 Es könnte auch im Sinne eines politischen
—————— 29 Der Gelehrte ist für Fichte nicht nur selbst »der höhere [!] und bessere Mensch«, sondern er arbeitet auch an der »Vervollkommnung der Gattung« (1794: 306). 30 An diesem Wort »Exemplar« hat sich die Debatte festgebissen (Conant 2001: 192f.; Cavell 2010: 250; Lemm 2007: 15f.), um durch Rekurse auf den Begriff »Exemplar« z.B. bei Platon und Kant zu zeigen, dass Nietzsche kein kruder Darwinist sei. Doch damit lässt sich letztlich nicht mehr zeigen, als dass die Großen (die ein – exemplarisches – Beispiel abgeben) und die Kleinen (die sich ein Beispiel nehmen sollen) noch derselben Gattung angehören. Das ist nicht eben viel, jedenfalls ist das noch lange nicht egalitär. 31 So spricht er von einer »Blutvergiftung«, welche »die Rassen durcheinander gemengt« habe (KSA 5: 269), und von Prozessen der »Ausscheidung« zugunsten der »Reinigung der Rasse« (KSA 3: 212; vgl. Losurdo 2008 I, 580ff.).
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Perfektionismus gelesen werden: Nietzsche spricht (noch) nicht biologistisch von Maßnahmen der »Zucht«.32 Lediglich eine andere Kulturpolitik scheint beabsichtigt. Sie soll weniger standardisiert sein und der individuellen Entwicklung mehr Raum geben. Im Alltag mag das oft zu kurz kommen, im pädagogischen Denken allerdings ist das seit Rousseau und Pestalozzi kein neuer Gedanke. Doch wie egalitär wäre diese Politik? Zu Nietzsches Gunsten ist festzuhalten, dass die Konzeption prima facie nicht auf Ausschluss eines Großteils der Menschen beruht, wie man angesichts des antiken Vorbilds befürchten könnte.33 Bei Nietzsche hätten sich an dieser Stelle zunächst alle an der Schaffung der Bedingungen zu beteiligen. Wer allerdings kommt in ihren Genuss? Cui bono? Wer sind die »großen Menschen« (und die es werden können), die von dem Kollektivismus der Schaffung von Bedingungen profitieren? Nietzsche ist an dieser entscheidenden Weichenstellung nicht konsistent: Einerseits gibt es scheinbar egalitäre Partien auch in der Nutzung: Zwar besteht die »erste Weihe der Kultur« (KSA 1: 385), die im Prinzip allen zugänglich ist, zunächst nur in der Unterordnung unter ein Ideal. Für manche mag das Ideal innen liegen, als höheres Selbst, für die anderen bleibt es außen: »Diese Einzelnen sollen ihr Werk vollenden – das ist der Sinn ihres Zusammenhaltens; und alle, die an der Institution teilnehmen [das ist bereits eine Elite, von der sich Nietzsche nochmals absetzt, CH], sollen bemüht sein, durch eine fortgesetzte Läuterung und gegenseitige Fürsorge, die Geburt des Genius und das Reifwerden seines Werks in sich und um sich vorzubereiten« (KSA 1: 402f.).
Sie sollen also sich innerlich und die Welt äußerlich nicht für sich, sondern für die Nachfolge der großen Einzelnen bereit machen. Sie sollen also gerade nicht sich verwirklichen: »Nicht wenige … sind zu diesem Mithelfen bestimmt und kommen nur in der Unterwerfung unter eine solche Bestimmung zu dem Gefühl, einer Pflicht zu leben« (KSA 1: 403).
Die »zweite Weihe« besteht im Übergang von innen nach außen, einer Art ästhetischer Urteilskraft: »Der Einzelne soll sein Ringen und Sehnen als das Alphabet benutzen, mit welchem er jetzt die Bestrebungen der Menschen ablesen kann« (386), die dritte im Schritt zur »That«. Selbst dieser »Kampf für die Kultur« (386) kann noch in dienender Nachfolge geschehen.
—————— 32 Später sprach er offener von der »Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste« (KSA 5: 192, von 1886; vgl. KSA 11: 533; KSA 12: 71). 33 Siehe hingegen die Distanzlosigkeit zu Platons Staat bei Cavell 2010: 473ff.
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Nietzsche wirft seiner Zeit also nicht vor, dass sie anderen zu sehr nachfolgt, sondern dass sie den falschen nachfolgt. Es gelte dagegen, zunächst die Bedingungen für »wahre« Größe zu schaffen, um diesen Großen dann nachzufolgen. Das berührt den Geniekult, der damals nicht nur vom Wagner-Verehrer Nietzsche, sondern auch von Thomas Carlyle, R.W. Emerson und anderen praktiziert worden ist.34 Seltsamerweise geht Nietzsche in dieser Schrift dennoch, zumindest dem Anschein nach, von einer ungefähren Gleichheit der Anlagen zum »Genie« aus: Es sei »jeder Mensch ein einmaliges Wunder« (337f.), und noch überraschender: »Ein Jeder trägt eine produktive Einzigkeit in sich, als den Kern seines Wesens« (359). Damit käme Nietzsche der Sozialphilosophie des Bildungshumanismus wirklich nahe. Doch dies ist nicht durchgängig die Position dieser Schrift. Andere Stellen gehen von einem werthaften Unterschied auch in den Begabungen aus: so gibt es erste, zweite und drittrangige Begabungen, die sich auf das Dienen beschränken sollen (403). Selbst wenn es vielleicht »Jede junge Seele« heimlich anstrebt (338), hat für Nietzsche durchaus nicht jede das Zeug dazu. Dass jeder eine Begabung hat, heißt noch nicht, dass jede Begabung gleich viel wert ist. Vermutlich greift Nietzsche diese Position der verhassten »Gelehrten« also nur auf, um sie zu modifizieren und in Richtung natürlicher Ungleichheit zu drehen – eine rhetorische Eigenheit, die für Nietzsche ebenso typisch ist wie für Rawls. Die rhetorische Invokation von Termini, die das Wohlwollen der Leser gewinnen sollen (captatio benevolentiae), die aber weder durchgehalten werden noch so gemeint sind, wie die Leser sie (anfangs) verstehen mögen, ist in der Nietzscheliteratur oft unterschätzt worden.35 Der Gesamteindruck dieser Schrift schlägt somit eher in Richtung einer natürlichen Ungleichheit aus: Es gibt Menschen, und zwar eine »Masse« davon, die kein »höheres Exemplar« (384) darstellen, die nicht zu den »seltensten und werthvollsten Exemplaren« (384) gehören – und die das auch gesagt bekommen sollen:
—————— 34 Schmidt 1985 II: 129ff.; zum Geniegedanken im 18. Jahrhundert s.u., IV.1. 35 So sublimiert Zerm 2005 die verstörenden Elemente (etwa Nietzsches Fokus auf Herrschaft der Großen und Unterdrückung der Kleinen, auf Macht und das Ausleben auch der niederen Regungen) in eine metaphysische oder moralische Lesart; Begriffe wie »Tugend« oder »Moralität« hingegen, die bei Nietzsche eine neue Bedeutung annehmen, werden verstanden, als seien sie kongruent mit unseren Begriffen davon. Diese Vorgehensweise ist weder textimmanent noch von der Forschungslage her haltbar. Zerm 2005 baut auf der versöhnlichen Lesart von Walter Kaufman und Volker Gerhardt auf; zur Kritik dieser liberalisierenden Lesarten Aschheim 1998; Losurdo 2008.
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»Und gerade diese Gesinnung sollte in einem jungen Menschen gepflanzt und angebaut werden, dass er sich selbst gleichsam als ein misslungenes Werk der Natur versteht« (KSA 1: 385).
Diese ›kleinen‹ Exemplare haben allerdings noch die Möglichkeit, ja sogar die Aufgabe, zum Steigbügelhalter der großen zu werden und den Lebenssinn darin zu finden, ihr »Herz an irgend einen großen Menschen« zu hängen (385; ihnen »zum Vortheil« leben). Auch sie werden inkludiert, doch profitieren sie davon höchstens in zweiter Linie. Die »Menschlichkeit« des humanistischen Nietzsche kommt damit keineswegs allen Menschen (der »Menschheit«) zu, sondern ist eher als ein Wert zu verstehen, der sich in den Menschen manifestieren kann oder nicht (bzw. nur graduell); den nur wenige Menschen erkennen und noch weniger leben können.36 Dies unterscheidet die wenigen von den »Vielen«. Es sind also alle angesprochen (»für uns alle«, 344), aber nicht alle in derselben Weise: Eine allgemeine Inklusion ist noch keine Inklusion als Gleiche.37 Nietzsche sieht noch einen zweiten »natürlichen« Unterschied zwischen Individuen, nämlich hinsichtlich der »Kraft« und dem Willen, der Faulheit und dem Konformismus zu widerstehen (hier das heroische Moment, das ähnlich bei Carlyle und Emerson auftaucht und auf Heidegger und Sartre vorweist). Wenn in diesem Text von »schwächeren Naturen« die Rede ist, liegt der Unterschied nicht nur im zu entwickelnden Potential, sondern auch in der Kraft, den konformistischen Lockungen der ›intersubjektiven Anerkennung‹ zu widerstehen (»weshalb alle werdenden großen Menschen eine unglaubliche Kraft verschwenden müssen, um sich nur selbst durch diese Verschrobenheit hindurch zu retten«, KSA 1: 407; vgl. KSA 9: 506; Cancik 1998: 71f.). Die »großen Menschen« müssen keineswegs die Begabtesten sein; vielleicht sind es nur die mit dem größten Mut zur eigenen Entwicklung, dem dicksten Fell, dem größten Ego und dem schlechtesten Gehör. Soziale Bindungen oder Mitleid sind dabei nur hinderlich. Das führt wieder auf Cavells Einwand zurück, dass Rawls Nietzsche gerechtigkeitstheoretisch missdeute. Dieser Einwand trifft nicht zu. Denn sofern dieser Mut zur Eigentlichkeit von natürlichen oder sozialen Zufälligkeiten wie etwa dem Elternhaus oder den Bildungschancen abhängt,
—————— 36 Ähnlich Lemm 2007: 15, mit Bezug auf Simmel (allerdings nennt sie die Menschlichkeit gerade »Menschheit«). Nietzsche selbst unterscheidet eine »Menschheit« (1874: 360), die »entarten« kann (369), von der echten – und seltenen – »Menschlichkeit« (344, 368). 37 Diesen Unterschied zwischen Allgemeinheit und Gleichheit übersah Krebs 2002: ›alle haben Rechte‹ und ›alle haben die gleichen Rechte‹ ist keineswegs äquivalent.
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greift Rawls’ Einwand gegen Nietzsche durchaus.38 Diese sozialen Vorteile sind in keiner Weise »verdient«; es sei denn, man geht – wie Nietzsche es zuweilen tut – Lamarckistisch von einer Vererbung erworbener Eigenschaften aus.39 Auch Vanessa Lemm ist zu widersprechen, wenn sie mit Cavell annimmt, Nietzsches Kulturideal sei egalitär, da der »höhere Mensch« lediglich das »höhere Selbst« (KSA 1: 385, 340f.) darstelle. Selbst wenn dem so wäre, würde diese Stelle eine vorsoziale Angelegenheit im Subjekt betreffen und sozial gar nichts aussagen.40 Eine Identität zwischen empirischem Ich und höherem Selbst innerhalb einer Person lässt noch auf keine Gleichwertigkeit verschiedener Personen schließen. Von einer solchen kann selbst in dieser frühen und vergleichsweise ›harmlosen‹ Schrift keine Rede sein. Es ist nicht ganz eindeutig, ob Nietzsche die behauptete Ungleichheit zwischen den Menschen hier der Natur zuschreibt: wie wir gesehen haben, dementiert Nietzsche seinen anti-egalitären Naturalismus in einigen Wendungen selbst. Doch wie weit sie tragen, bleibt offen. Der von Poststrukturalisten geschätzte experimentelle Denkstil führt leider auch dazu, dass Gedanken nicht zu Ende gedacht und Widersprüche unaufgelöst bleiben. Der Vorwurf des Elitismus lässt sich jedenfalls nicht so leicht entkräften, wie Cavell anzunehmen scheint. Ebenso wenig entspricht es der Textlage, dass Nietzsche erst nach 1874 zu einem »Aristokraten« geworden sei (siehe Brandes 1890, Losurdo 2008): Selbst wenn es in diesem Text Belege für die These gibt, dass jeder Mensch das Potential dazu habe, »seinen« Genius zu entwickeln, haben nur wenige den Mut und die Kraft dazu – und noch weniger verfügen über die »Bedingungen«, die eine solche Existenz auch real ermöglichen könnten. »Sein« Genius ist, wie die gleich zitierte »Männlichkeit« zeigt (siehe Fn. 44), durchaus nicht geschlechtsneutral – und kann außerdem die Entwicklung eines anderen Menschen meinen. Solcher Uneindeutigkeiten bewusst, nennt Lemm diese Konzeption mit einigem Wohlwollen aristokratisch und »demokratisch« (2007: 14). Damit soll der eigenartige Doppelcharakter erfasst werden: Diese Ausführungen gehen einerseits von einer natürlichen Ungleichheit aus (»Werk der Natur«,
—————— 38 Nietzsche macht die Bildungsinstitutionen für die Mediokrität seiner Zeit mitverantwortlich, es ist also nie nur die Natur, die darüber entscheidet, wie viel »Kraft« jemand gegen den Konformismus aufbringt. 39 »Oft fand ich den Sohn als des Vaters entblößtes Geheimnis« (KSA 4: 128); »es gibt Menschen, welche die Erben und Herren dieses langsam erworbenen vielfachen Reichtums an Tugenden und Tüchtigkeiten sind« (KSA 11: 260; auch Cancik 1998: 71f.). 40 So deutet Stekeler (2005: 408ff.) sogar Hegels Dialektik von Herr und Knecht.
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KSA 1: 385), lassen aber andererseits die Schlechtergestellten – als Exemplare derselben Gattung, die ebenfalls ihre (kleinen) Begabungen haben mögen – nicht im Stich: Die von der »natürlichen Lotterie« (Rawls 1975: 94) vorgeblich weniger reich Beschenkten werden noch insofern mit in das gemeinschaftliche Perfektionsgeschehen eingebunden, als sie das Werk des Genius immerhin unterstützen dürfen. Ob das bereits demokratisch ist (so auch Conant 2014: 99f.), möchte ich bezweifeln. Genau das ist zu diesem Zeitpunkt allerdings Nietzsches Verständnis von Kultur: Alle (»eine mächtige Gemeinsamkeit«, 382) helfen Einigen und bestaunen dann ihr Werk, an dem sie durch diese Unterstützung teilhaben.41 Mittelbar können sich dadurch auch die Schlechtergestellten verbessern; sofern sie nämlich – wie Nietzsche voraussetzt, oder vielmehr herbeiwünscht – in einem selbstlosen und dienstbaren Leben aufblühen können, also durch den Kulturdienst zu ihrem »höheren Selbst« gelangen (»helft mir alle, es zu erreichen«, 385; deutlich auch die »Selbstthätigkeit« für das Ideal, 381).42 Wenn alle Menschen eine Anlage zum Genius haben (die mehr oder weniger groß sein kann), obwohl es weniger sind, die auch über die Hilfsanlage der »Kraft« verfügen, sich vom Alltag zu lösen (selbst eine Nachfolge kann mit vielen Opfern verbunden sein; umso mehr das Schaffen), so können jedenfalls schon mehr als nur eine kleine Elite die »erste Weihe der Kultur« erreichen. Ob sie das auch wollen würden, hätten sie selbst darüber zu befinden, mag fraglich bleiben: In dieser Kultur wird klar zwischen Großen (Selbstständigen) und Kleinen (Konformisten) unterschieden. Im Unterschied zu den realen Großen der Wilhelminischen Gesellschaften bleiben diese von Nietzsche imaginierten »Großen« allerdings seltsam ortlos: sie sollen unabhängig vom Markt, vom Staat und von bestehenden Kulturinstitutionen leben und schaffen (die sämtlich einer harschen und ressentimentgeladenen Kritik unterliegen).43 Es fragt sich, was für eine Lebensform übrig bleibt, um »die Entwicklung des Genius« voranzutreiben – hier wirft die manische Soziophobie des »Zarathustra« bereits ihre Schatten voraus. Im Gegensatz zu späteren Werken ist Nietzsche hier aber noch Philosoph genug, um eine Begründungspflicht für starke Behauptungen zu empfinden und wenigstens ex-
—————— 41 Vielleicht stand die anfangs unterwürfige Beziehung Nietzsches zu Wagner hier Modell. 42 Siehe Wolters 1909 sowie Heinrich Manns Figur Dietrich Hessling im Untertan (1914). 43 Von Ressentiments darf man sprechen, weil Nietzsche sich von den »Gelehrten«, die er scharf angreift, soeben vernichtende Kritiken eingehandelt hatte – Willamowitz-Moellendorf etwa hatte seine Geburt der Tragödie als unwissenschaftlich hingestellt.
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emplarische »Bedingungen« (KSA 1: 408) für eine solche Entwicklung aufzuführen, die das benennen, was durch »ein bewusstes Wollen« (387) herbeizuführen wäre. Im Wortlaut: »Freie Männlichkeit des Charakters,44 frühzeitige Menschenkenntnis, keine gelehrte Erziehung, keine patriotische Einklemmung, kein Zwang zum Brod-Erwerben, keine Beziehung zum Staate – kurz Freiheit und immer wieder Freiheit« (411).
Nietzsche ist dann leider nicht mehr Philosoph genug, um sich darum zu bekümmern, dass dies teilweise weniger Bedingungen als vielmehr selbst schon wünschenswerte Ergebnisse der Entwicklung benennt, oder die Frage zu klären, wie sich Bedingungen zu Ergebnissen und Ergebnisse zu Bedingungen verhalten sollen. Gleichwohl möchte ich diese Sammlung von Bedingungen und Zielen aufgreifen und verstehen als Eigenständigkeit, Menschen- und Weltkenntnis (statt Formel- und Faktenwissen), Kosmopolitismus sowie ökonomische und politische Unabhängigkeit. Daher ist Cavell zu guter Letzt auch darin zu widersprechen, dass Nietzsche kein Verteilungstheoretiker im Sinne von Rawls sei. Zumindest wenn man Nietzsches Gedanken verlängert, lässt sich aus diesem Text folgern, dass im Interesse der guten Entwicklung der Individuen – einerlei wie viele es sein mögen – auch eine gute ökonomische Versorgung vonnöten ist, um die sich zu sorgen hätte, wer die gute Entwicklung vom Zufall unabhängig machen will. »Kein Zwang zum Brod-Erwerb«, das ist Wasser auf die Mühlen von Philippe Van Parijs (1995) und anderen, die eine »reale Freiheit« im ökonomischen Sinne fordern (s.u., IV.2). Zwar hat Cavell recht damit, dass es nicht um finanzielle Förderung der bestehenden Kultur geht, sondern vielmehr um die Unabhängigkeit, ja Abgeschiedenheit von der bestehenden Kultur und dem Umkrempeln derselben aus der Distanz. Doch auch eine solche Neu- oder Umschaffung bedarf der Ressourcen. Bei Schopenhauer – wie bei Simmel, Horkheimer und anderen – kamen diese von einem reichen Vater; ein typischer Fall von Zufallsglück (»brute luck«), über das Nietzsche, glauben wir dem Motiv der Korrektur und Vollendung der Natur, gerade hinaus will. Fassen wir den bisherigen Befund zusammen: Nietzsche ist hier zwar kein moralischer Perfektionist im Sinne von Cavell (denn es geht ihm noch nicht um Moral), wohl aber ein politischer: Er formuliert das Ziel, den
—————— 44 Diesen wunden Punkt kann man von der durchschlagenden Frauenfeindlichkeit etwas ablösen, wenn man darunter die an Schopenhauers Vater abgelesene Eigenständigkeit versteht. Für das weibliche Gegenteil stehen Eitelkeit und Schöngeisterei (408, s.u., Fn. 58).
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Hochbegabten und Willensstarken (was nicht identisch ist) eine möglichst weitgehende und eigenständige Entwicklung zu ermöglichen. Das ist nur insoweit nicht elitär, als es sich gegen die bestehenden Eliten wendet; doch es verfolgt (wie später Otto Gross) die Idee einer imaginären Gegenelite von Individualisten, die diese Elitenposition viel mehr ›verdient‹ (nicht durch Werke, sondern durch Zuschreibung von ›Wert‹) und daher ausbauen dürfte. Er begründet das auch mit den Verbesserungen, die das für die vorgeblich weniger Begabten und Willensstarken mit sich bringen würde, sofern sie sich diesem Ideal unterordnen und zusammen eine »Kultur« bilden würden – das Programm einer autoritären ›Sozialintegration‹ durch Kultur. Und er formuliert Bedingungen, die eine solche Entwicklung fördern können und durch bewusste Anstrengungen herbeizuführen seien. Offen bleibt nur die Frage, ob diese Bedingungen allen Bürgern zukommen sollen, zumindest allen angehenden männlichen Bildungsbürgern, oder lediglich der kleinen Gruppe von Menschen, die laut Nietzsche mit hohen Begabungen und der Kraft zur Durchsetzung ausgestattet sind (einer Auswahl der Auswahl – doch wer ist der Wählende?). Wie hält es der Perfektionist Nietzsche also mit der Gleichheit? Soll man in diesem frühen Text mehr auf die egalitären Einstiegsformeln oder auf die antiegalitäre Durchführung geben? Die Uneindeutigkeit dieses Textes lässt sich vielleicht beheben, indem andere Werke aus jener frühen Phase konsultiert werden. Umso besser, wenn diese unveröffentlicht blieben, da hier abmildernde Zugeständnisse an das Publikum zum Zwecke der captatio benevolentiae weniger zu erwarten sind. Vielleicht lässt sich dort den Fragen nachgehen, wodurch genau die »höheren« oder »großen« Menschen sich eigentlich auszeichnen und wie eine Unterstützung der Genies durch die ›Unterlinge‹ eigentlich aussehen sollte, was genau also die »günstigen Bedingungen« (384) für ihr Zustandekommen sein sollen, die Nietzsche am Beispiel von Schopenhauers Entwicklung nur angedeutet hat. Nietzsche ›unplugged‹: Der griechische Staat, Zarathustra – und die Juden In dem drei Jahre zuvor verfassten Text »Der griechische Staat« (1871) fand Nietzsche deutlichere Worte. Dort spricht Nietzsche quasi ohne ›Maulkorb‹: Es ist hier klarerweise die Natur, die die Menschen in diese zwei Lager teilt: die großen Menschen werden als »Genius« geboren, die anderen von der Natur mit einem »Staatsinstinkte« (KSA 7: 333; KSA 1: 764) versehen, der diese »schwächeren Kräfte« (KSA 1: 764) dazu bringt,
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sich den Starken anzuschließen. Sogar was sie dann zu tun haben ist überdeutlich. Ganz offen naturalistisch und essentialistisch – wie Nietzsche überhaupt gegenüber Wesensaussagen (etwa über das Wesen des »Weibes«, KSA 7: 170) viel weniger Skrupel hat, als seine postmoderne Leserschaft wahrhaben mag – heißt es, es sei dem Wesen der Natur gemäß, »dass die Triumphzüge der Kultur nur einer unglaublich geringen Minderheit von bevorzugtern Sterblichen zugute kommt, dass deswegen der Sklavendienst der großen Masse eine Notwendigkeit ist, wenn es wirklich zu einer rechten Werdelust der Kunst kommen soll« (KSA 7: 333). »Damit es einen breiten, tiefen und ergiebigen Erdboden für eine Kunstentwicklung gebe, muss die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderheit, über das Maß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, das Lebensnot sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrückt sein … Das Elend der mühsam lebenden Menschen muss noch gesteigert werden, um einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen« (KSA 1: 764).
Auch dieser Konzeption geht es also noch nicht primär um einen Kampf gegen die Masse, nicht um eine Exklusion der »Viel-zu-Vielen« (KSA 4: 61), sondern um ihre Inklusion – aber in ein System der Ausbeutung. Das ist nun eine überaus deutliche Verteilungstheorie; hätte sich Rawls hierauf gestützt, hätte er gegen Cavell recht behalten. Die nicht-genialen Menschen werden instrumentalisiert im Namen der künstlerischen Entwicklung Weniger; im Vordergrund stehen die Werke (damit behält Rawls’ Lesart recht) sowie die Erzeugung eines künstlerischen Bedürfnisses nach ihnen. Die moralische Implikation dieses weit getriebenen Gedankens ist, dass ein Individuum als solches gar keinen Wert, keine »Würde« hat, solange es keinen Mehrwert für dieses gesamtgesellschaftliche Exzellenzcluster, dieses Eliten-Fördersystem größter Stufenleiter erbringt: »jeder Mensch … hat nur soviel Würde, als er, bewusst oder unbewusst, Werkzeug des Genius ist« (KSA 1: 764). Das ist erneut kein exklusiver Perfektionismus nur für Eliten, sondern ein inklusiver – aber inklusiv sehr wohl zu ihren Gunsten. Und auch hier wird die Verteilungstheorie in eine Kulturtheorie eingebettet: Die sklavische Mitarbeit der restlichen Menschen erfordert es nämlich, dass diese Menschen nicht nur durch Zwang, sondern auch sinnhaft in dieses System eingebunden werden: sie müssen dafür erzogen werden, ihre eigene Ausbeutung sinnhaft bejahen zu können. Es braucht »vom Staate gepflegte Volksempfindungen« und eine »Erziehung aller zum Genuss des Kunst-
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werkes« (KSA 7: 167; wobei diese »alle« im antiken Denken, auf das sich Nietzsche hier bezieht, nur alle Bürger, und gerade nicht die »Sklaven« und sonstigen Arbeitenden einbezog). Nietzsche war darin in gewisser Weise sogar modern. Ein solcher Gedanke war im 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, man findet eine autoritäre Sozialintegration in Variation beispielsweise auch bei Robert Mohl: »Die Herstellung eines freundschaftlichen Verhältnisses zwischen Fabrikherren und Arbeitern ist nur unter der doppelten Voraussetzung möglich, einmal, dass alle Misshandlungen und Unterdrückungen der letzern unbedingt aufhören; zweitens, dass denselben die feste Ueberzeugung gegeben wird, es sey ihr wahres Interesse mit dem der Herrn ein und dasselbe« (Mohl 1835: 121).
Sie müssen hierüber »immer wieder belehrt werden« (Mohl 1835: 123).45 Eine eigenständige Bildung oder gar Selbstverwirklichung der Nichtkünstler um ihrer selbst willen ist hingegen keineswegs Zweck, sondern höchstens ein mögliches Nebenprodukt. Auch in diesem Punkt wird Nietzsche nun deutlicher: Würde eine Bildung der unteren Schichten verfolgt, hätte sie sogar negative Konsequenzen: der »Unschuldstand des Sklaven« würde durch »Unselige Verführer« vernichtet (KSA 1: 764). In dieser radikal naturalistischen und anti-egalitären Position (Grundrechte sowie die »Gleichberechtigung aller« seien schlicht eine »Lüge«) steht dieses frühere Werk in Spannung zu Schopenhauer als Erzieher, zumindest zu seinen versöhnlich gestimmten Anfangspartien. Doch es steht in Kontinuität zu seinen späteren, zwar veröffentlichten, aber nunmehr ebenso ungeschützten Werken. Nehmen wir dafür etwa den Zarathustra – die Annahme, dass Nietzsche sich in späteren Werken gemildert habe,46 lässt sich daran kaum bestätigen: »Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht vermischt und verwechselt werden. Denn so redet m i r die Gerechtigkeit: ›Die Menschen sind nicht gleich.‹ Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe zum Übermenschen, wenn ich anders spräche? Auf tausend Brücken und Stegen sollen sie sich drängen zur Zukunft, und immer mehr Krieg und Ungleichheit soll zwischen sie gesetzt sein« (KSA 4: 130, von 1883). »Vor dem Pöbel aber wollen wir nicht gleich sein. Ihr höheren Menschen, geht weg vom Markt!« (KSA 4: 356, von 1885).
—————— 45 Nach Jackson 1979 müsste auch Rawls so agieren, um Arbeiter von seinen Grundsätzen zu überzeugen. Arbeiter ›sinnhaft‹ sozial integrieren möchte noch Honneth 2010: 94ff. 46 So jedenfalls liest ihn Conway 1997, der im Zarathustra eine Wende vom politischen zum milderen moralischen Perfektionismus sieht (siehe Lemm 2007: 22, Fn. 5).
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Bei alledem war Nietzsche hinreichend vom zeitgenössischen Rassismus imprägniert, um die Unterteilung in ›höhere‹ und ›niedere‹ Menschen zuweilen in die paranoide Zweiteilung Juden (inklusive ihrer »zweiten Potenz«, den Christen, KSA 12: 500) und Arier (KSA 5: 262) münden zu lassen. Nicht zufällig finden sich Sätze wieder dieser aus dem Nachlass in der fragwürdigen späteren Editionen als Wille zur Macht wieder (dort 657): »Ich lehre: dass es höhere und niedere Menschen giebt, und dass ein Einzelner ganzen Jahrtausenden unter Umständen ihre Existenz rechtfertigen kann – d.h. ein voller reicher großer ganzer Mensch in Hinsicht auf zahllose unvollständige Bruchstück-Menschen. Ich lehre: die Heerde sucht einen Typus aufrecht zu erhalten und wehrt sich nach beiden Seiten, ebenso gegen die davon Entartenden (Verbrecher usw.) als gegen die darüber Emporragenden. Die Tendenz der Heerde ist auf Stillstand und Erhaltung gerichtet, es ist nichts Schaffendes in ihr« (KSA 11: 278; von 1884).
Bei allem Schillern und aller Inkonsistenz von Nietzsches Texten, die ich nicht als Stärke werten mag, kann an der grundlegend gegenmodernen Haltung auf der Grundlage der Annahme einer natürlichen Ungleichheit der Menschen kein Zweifel bestehen. Nietzsche selbst wurde zwar immer unsicherer, was daraus eigentlich für Folgen zu ziehen seien. Die zweifelnden, geradezu ›zarten‹ Aphorismen der späteren Zeit legen davon Zeugnis ab: »[D]er Wille zum Nichts ist Herr geworden über den Willen zum Leben … – ist das wahr? ist nicht vielleicht eine größere Garantie des Lebens, der Gattung in diesem Sieg der Schwachen und Mittleren? … – und möchten wir eigentlich eine Welt, wo die Nachwirkung der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, Biegsamkeit fehlte?« (KSA 13: 323; von 1888).
In dieser Linie wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Nietzsche sich auch kritisch gegenüber dem zeitgenössischen Antisemitismus und Rassismus geäußert habe. Das ist zwar richtig, aber daraus lässt sich gerade nicht folgern, dass Nietzsche nicht selbst Antisemit und Rassist war.47 Es ist kaum zu übersehen, dass Nietzsches Philosophie eine Melange verschiedenster Hassbewegungen enthält: Bei allen Relativierung blieb Nietzsche frauenfeindlich, anti-liberal, anti-demokratisch, anti-sozialistisch,48 stark vom Rassismus etwa Gobineaus beeinflusst49 und bei allem Anti-Antisemi-
—————— 47 Wenn Ottmann 1987: 262 folgerte: »Nietzsche war nicht Antisemit«, so ist solchen Verharmlosungen deutlich zu widersprechen (Tugendhat 2000). 48 »Nietzsches Antisozialismus ist eine der fraglosen Kontinuitäten seiner geistigen Biographie« sagt auch Ottmann (1987: 300), der gegenüber Lukacs’ Deutung sonst kritisch ist. 49 Siehe die Untersuchungen von Marti 1993, Cancik 1995, 1998 und Losurdo 2008.
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tismus auch judenfeindlich. Es lässt sich nicht metaphysisch oder moralisch umdeuten oder entschärfen, wenn Nietzsche etwa sagt: »Die Juden – ein Volk, ›geboren zur Sklaverei‹ … – mit ihm beginnt der Sklaven-Aufstand in der Moral« (KSA 5: 116). Zu explizit ist das nicht nur gegen die Juden, sondern eben auch gegen die Moral gerichtet. Ihm war die konkrete Gestalt dieser Hassbewegungen zu »pöbelhaft«, er wollte Rassismus und Judenhass nicht zugunsten enger nationalstaatlicher oder gar christlicher Ziele eingespannt wissen – ging es doch um »die Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste« (KSA 5: 192). Doch es bleibt rassistisch, wenn Nietzsche in diesem Zusammenhang Juden für ihren »Geist« und ihr »Geld« lobt und mit »stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschtums … zum Beispiel der adelige Offizier aus der Mark« (KSA 5, 192) verheiraten will (»hinzuzüchten«). Das Ziel ist gerade hier gegen Juden gerichtet: Es geht ihm um die Begrenzung des Judentums in seiner bestehenden Form. Deutschland habe »reichlich genug Juden« und »das deutsche Blut Noth … auch nur mit diesem Quantum ›Jude‹ fertig zu werden« (KSA 5: 192; siehe Cancik 1998: 76f.). Warum dieser Ausflug in die unerfreulichen Gefilde des Nietzscheschen Denkens? Weil ohne diesen Kontext nicht zu erfassen ist, was moralischer und politischer Perfektionismus bei Nietzsche heißt. Als das letzte Wort dieses Perfektionismus ist vielleicht dieses Bonmot zu nehmen: »Suchen wir uns die aus, die uns Freude machen und fördern sie und fliehen vor den Anderen – das ist die rechte Moralität!« (KSA IX: 250). Hier werden die entscheidenden Faktoren auf den Punkt gebracht: Antiuniversalismus (ein partikulares »wir« entscheidet), Ästhetizismus (es entscheidet nach Kriterien nicht der Moral oder der Menschlichkeit, sondern ob es diesem »wir« gefällt), radikale Verteilungsungleichheit (einige werden gefördert, andere bekommen vermutlich gar nichts)50 sowie die erneute Umwertung der Werte (»Moralität« besteht nicht länger in einer Solidarität mit den Schwachen, sondern in deren Ausschluss). Wenn Rawls sich aus Gerechtigkeitserwägungen gegen diese Philosophie wendet, hat er Nietzsche – trotz Unschärfen im Verständnis von Kultur – sehr richtig verstanden. Daran ändert auch die gezeigte Parallele in seiner eigenen Position wenig. Nietzsche lässt sich also nicht als Egalitarist umdeuten, um seinen Perfektionismus zu retten – zu eng sind Ungleichheit und Entfaltung bei ihm ver-
—————— 50 »Man soll die Bettler abschaffen« (KSA 3: 185) meint kaum nur deren Armut.
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klammert. Doch es lassen sich in diesem anti-egalitären Entwurf immerhin Gedanken freilegen, die andere Dimensionen berühren. Cavells Nietzsche: Der Existentialist Nun ist eine Nietzschekritik aus gerechtigkeitstheoretischen Erwägungen heraus nichts Neues. Rawls’ Ablehnung von Nietzsche steht sogar in einer gewissen Kontinuität im egalitaristischen Denken: Insbesondere sozialistische Autoren hatten sich, auch wenn es immer wieder Annäherungsversuche an den ›Bruder Nietzsche‹ gab, zumindest seit Franz Mehring und Georg Lukács mehrheitlich von Nietzsche abgewendet; das bedarf angesichts von Nietzsches menschenverachtenden Äußerungen kaum der Erklärung. Es verwundert eher, dass es immer wieder so viele Anhänger von Nietzsche gab und noch gibt. Nicht alle von ihnen dürfen als naive Verfechter einer Moralin- (und »Judain«-)freien Feier der Macht, einer skrupellosen Ausbeutung und einer menschenverachtenden Polemik gegen alles vermeintlich Schwache, Niedere und Kleine gelten – vor allem gegen Frauen, Juden und Arbeiter, aber auch gegen Bourgeois, Chinesen etc.: »Dass ihr verachtetet, ihr höheren Menschen, das macht mich hoffen« (KSA 4: 357). »Ich liebe die großen Verachtenden« (KSA 4: 17). Die bleibende Anhängerschaft geht nicht nur auf die verharmlosende Rezeption etwa im französischen Poststrukturalismus zurück, welche Nietzsche auf seinen Skeptizismus festlegte und als Anarchisten (man darf sagen: fehl-)interpretierte.51 Denn neben der faschistischen NietzscheRezeption – die keinesfalls ein glattes Missverständnis war, sondern ›nur‹ eine selektive Lesart pflegte – hat es immer wieder Verehrer von Nietzsche auch in der Arbeiterbewegung, dem Judentum, der Frauenbewegung (Schlüpmann 1984/2012) und sogar im bürgerlich-liberalen Lager gegeben. Wie lässt sich das erklären? Hier kommen wir auf Cavell zurück, denn vermutlich ist die attraktive Seite von Nietzsches Werk weniger seine politische als vielmehr seine existentialistische Dimension (»Werde, der du bist«, KSA 4: 295; vgl. KSA 8: 340; 9: 555). Wie wir schon sahen, nennt Cavell dies Nietzsches »moralischen Perfektionismus«, obwohl, oder besser weil er an vielen Stellen eher Emerson als Nietzsche beschreibt. Diese Zuschreibung scheint mir verfehlt (ähnlich Saar 2007b): Es ist ein einzelgängerischer, ja geradezu autistischer Perfektionismus (Einsamkeit spielt eine
—————— 51 Vgl. Taylor 1989: 487f.; Frank 1993: 119ff.; Taureck 2000: 241ff.; sowie Rehmann 2004.
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überaus große Rolle); und damit weit entfernt von einem »moralischen«. Im Gegenteil: Wenn Cavell etwa meint, Nietzsches Werk könne helfen, Menschen wenn nicht moralisch, so doch moralfähig zu machen, dann geht das an der zutiefst moralkritischen Intention Nietzsches ebenso vorbei wie an der politischen Problematik der neuen »Herren-Moral« (KSA 5, 208), die Nietzsche im Abschied von der alten (Sklaven-)Moral schmieden wollte. Wenn Nietzsche von der neuen Moralität spricht, hat das mit konventionellen Moralverständnissen kaum mehr etwas zu tun, außer in dem grundlegenden Sinn, dass es um Verhaltensregeln geht – wie er selbst treffend zusammenfasst: »Meine Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet: nicht auf eine individualistische Moral« (KSA 12: 280).52 Diese existentielle Dimension von Nietzsches Texten lässt sich erst entziffern, wenn man die Moral (ob alt oder neu) heraushält. Richtig beobachtet ist nämlich das Interesse an individueller Autarkie im weniger vorals vielmehr außermoralischen Sinn (jenseits von Gut und Böse): Es geht Nietzsche, soweit es ihn um »das Subjekt« geht, um die Fähigkeit zur Führung eines eigenen Lebens, jenseits von Beengungen durch falsche Skrupel und eine erstickende soziale Anpassung. Der zu vermeidende Fehler sei: »Sich zu früh anpassen« (KSA 12: 277). Dabei geht es negativ um eine Destruktion überkommener Subjektverständnisse (Saar 2007a: 98ff.), aber nicht, um hinterher ein willenloses Partikel im Getriebe der Notwendigkeit zu sein (obwohl Nietzsche hier ebenfalls nicht eindeutig ist und auch einer »Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen« das Wort redet, KSA 2: 103), sondern um desto entschiedener sein eigenes Leben führen zu können. In diesem Zusammenhang ist ein seltsamer Zug der Nietzscheschen Selbstklärung zu benennen, nämlich seine Publikumsbedürftigkeit. Hinsichtlich des Selbstbildes ist eine gewisse Theatralität zu bemerken, die der Sache keinen Dienst erweist. Nietzsche braucht ein Publikum, obwohl er gerade dieses zugleich andauernd bestreitet bzw. es beschimpft. Gewiss ist
—————— 52 Was bei fremdsprachlichen Autoren noch verständlich ist, da die Fülle der Konnotationen nicht immer präsent sein mag, ist es bei deutschsprachigen Moralisierungen Nietzsches nicht mehr. So spricht Zerm 2005 von Missverständnissen und Fehlinterpretationen von Nietzsche, setzt sich aber weder mit kritischer Nietzscheliteratur, noch mit der Frauen-, Juden-, Arbeiter-, Sozialisten- und Fremdenfeindlichkeit in den Texten auseinander. Es reicht angesichts erdrückender Befunde nicht hin, zu setzen, Nietzsches Philosophie verweise »immer nur auf den Einzelnen« (242) und beziehe sich »nicht auf die Ebene des Sozialen, sondern auf jene des individuellen Selbstvollzugs« (209). Sicher gibt es solche Dimensionen bei Nietzsche auch; aber es gibt nicht nur sie. Siehe Fn. 62.
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jedes Selbstverhältnis in Beziehungen zu anderen eingelassen: ein jeder muss sich täglich präsentieren, in alle möglichen Rollen schlüpfen, von denen man sich dann – wieder anderen gegenüber – distanzieren kann. Unweigerlich wirkt jeder auf andere und muss sich für diese Wirkungen im Zweifelsfalle rechtfertigen. Doch geht es jemandem primär um ein Selbstverhältnis, sollte er Änderungen daran dann nicht mit sich selbst abmachen? Wozu braucht es da ein Publikum? Es würde nur wieder dazu führen, dass eine neue Rolle angelegt wird, das Selbstverhältnis wird nur inszeniert und ist damit keines mehr. Warum dann aber ständig davon reden – und die Rede davon zugleich selbst sabotieren? Mit dieser individualistisch-nonkonformistischen Philosophie steht Nietzsche anderen Denkern wie Rousseau, Kierkegaard oder J.S. Mill nahe (die ebenfalls in ihren Schriften von sich selbst berichten). Worin liegt die Besonderheit seiner Version? Das positive Ziel ist am besten als ein ganzheitliches Selbstverhältnis zu begreifen, ein Verständnis von sich also, welches keine Dimensionen des eigenen Seins mehr abspaltet und unterdrückt. Es besteht daher weniger im Ergreifen des »höheren Selbst«, wie es 1874 noch konventionell heißt, sondern eher im Ergreifen der tieferen, vormals als animalisch empfundenen Dimensionen des »Selbst« – der leiblichen Dimension des Selbstseins. Nietzsche geht sogar soweit, einem solch vorbewussten Identitätskern die eigentliche Subjektrolle zuzuschreiben – ähnlich übrigens wie es im 20. Jahrhundert metaphysizierende Hirnforscher wie Gerhard Roth und Wolf Singer mit dem Gehirn taten: »Das Selbst sagt zum Ich: ›hier fühle Schmerz!‹ Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr leide – und eben dazu soll es denken … dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich. … Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst« (KSA 4: 39f.).
Der anti-essentialistische Vorbehalt gegenüber dem Selbstverwirklichungsmodell eines »inneren Kerns«, den etwa Menke (2005: 310) äußert, scheint also ausgerechnet auf Nietzsche, den Vordenker der Postmoderne, zuzutreffen – mehr jedenfalls als auf übliche Verdächtige wie Kant, Dewey oder die positive Psychologie. Lesen wir diese Partien jedoch wohlwollend, treffen wir auf eine interessante Dimension – die Gefühle. Diese spielen im Perfektionismus auch an anderer Stelle eine zentrale Rolle (bei Rousseau und Condorcet, Dewey und Maslow etwa; näheres in Kapitel IV).
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Nietzsche als Gefühlstheoretiker. Eine Psychologisierung Das protestantische Kulturchristentum, wie Nietzsche es erlebte, mit seiner Sinnenfeindlichkeit und Dogmatik von Sünde und Schuld, ist auch in den existentialistischen Partien das Feindbild (KSA 3: 80; 6: 74f.). Im Umkehrschluss geht es Nietzsche offensichtlich um eine Aneignung der traditionell eher ignorierten, unterdrückten oder verteufelten leiblichen Dimensionen – kurz: der Affekte.53 Diese sind zwar nicht selbst die »Vernunft«, doch kann von einer leiblichen Vernunft nur dann die Rede sein, wenn beide, »Sinn und Geist«, integriert werden und damit dem wahren »Selbst«, was immer es näher sein mag, zum Durchbruch zu verhelfen: »Der Leib ist eine große Vernunft« (KSA 4: 40). Die leiblichen Regungen spielen für Nietzsche nicht nur im politisch-moralischen, sondern sogar im erkenntnistheoretischen Kontext eine Rolle: »[J]e mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, … um so vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache, unsere ›Objektivität‹ sein. Den Willen aber überhaupt eliminieren, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hieße das nicht den Intellekt castrieren?« (KSA 5: 365, von 1886).
Könnte man dieses Ziel von den problematischeren Aspekten, die bei Nietzsche stets mitschwingen, isolieren, so würde es schlicht heißen: »Wir dürfen die Sinne lieben« (KSA 13: 447). Dieses Ziel, ein »ganzer Mensch« zu sein (KSA 1: 350), kann man auch dann nachvollziehen (wie es etwa Lukács tat), wenn man Nietzsches gehässige Polemiken gegen alle möglichen Menschengruppen nicht unterschreibt. Genau dieses Ziel der Aneignung der eigenen Leiblichkeit – das einen in Konflikt mit der moralischen Mehrheit bringen konnte – teilten viele Menschen mit Nietzsche. Unter ihnen waren auch die Frauenbewegung und andere Reformbewegungen; akademischer etwa die Lebensphilosophie oder die Psychoanalyse. Eine Nietzschelektüre konnte als Befreiung empfunden werden, da sie den verschütteten Zugang zur eigenen Natürlichkeit und Affizierbarkeit freilegen half (eine Art neuer Sensibilität, Marcuse 1969: 43ff.). Doch dies geschah auf fragwürdige Weise: Es ermunterte nur dann zu einem ausgeglicheneren Selbstverhältnis, wenn man sich selbst als »höherer Mensch« zu sehen
—————— 53 Nietzsche ist auch in diesem Punkt nicht ganz konsistent – die unterdrückten Regungen müssten ja, sollen sie derart befreiend wirken, solche sein, die nicht sozial konstruiert oder sozial wegerzogen wurden. Das sind sie für ihn nicht immer: »Unsere Triebe Affekte werden uns da erst gelehrt: sie sind nichts Ursprüngliches!« (KSA 9: 509).
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bereit war (und wer ist das nicht?). Es stärkte das eigene Selbstbild durch die Abwertung aller anderen. In dieser Öffnung gegenüber den Affekten kann man aber auch, und das würde den Enthemmungs-Gestus etwas relativieren, eine Nähe zu Spinoza erblicken. »Das Streben nach Selbsterhaltung ist die Voraussetzung aller Tugend«, zitiert Nietzsche ihn zustimmend (KSA 9: 517). Zwar wäre eine innere Ausgeglichenheit noch keine Perfektion, doch würde sie die Betreffenden immerhin in die Lage versetzen, von den eigenen Befindlichkeiten abzusehen und sich um etwas Gehaltvolles in der Welt zu bekümmern (Constant 2014: 136) – und darin zu einer eigenen Verbesserung zu kommen.54 So hat Dewey Selbstverwirklichung begriffen, und so lässt sich auch Zarathustras Ausspruch verstehen: »ich trachte lange nicht mehr nach Glücke, ich trachte nach meinem Werke« (KSA 4: 295). Gerade eine stärkere Beachtung der eigenen Leiblichkeit kann dazu verhelfen, nicht jedem einzelnen Impuls nachzugeben und so zum Sklaven der körperlichen Eingebungen zu werden. Diese herrschen nämlich, wird dem leiblichen Wohlsein zu wenig Beachtung geschenkt, über den Umweg der Ressentiments indirekt umso stärker und wirken sich dann schädlich aus. Insofern gehört eine Beachtung der Gefühle und ihrer Meisterung zu einem sachhaltigen Perfektionismus hinzu. Allerdings hat man den Eindruck, dass Nietzsche in seinen Schriften erst auf dem Weg dahin ist. Und er hält das Ziel für so unerreichbar, dass erst ein höherer Mensch, ein Übermensch, es würde erreichen können. Manche seiner Texte lassen sich (wie Texte Rousseaus) als ein Psychogramm lesen. Sie sind dabei philosophisch interessant, nicht weil sie durchdacht sind – daran hapert es mitunter, wie wir gesehen haben –, sondern weil sie die Probleme einer ganzen Generation auf den Punkt zu bringen verstanden. Nietzsche selbst scheint seine Gefühle, wo er sie in seinen Texten zulässt – und das tut er mit unverkennbarem Genuss –, nicht recht im Griff zu haben. Gerade das emanzipierte Zulassen eigener Gefühle bedarf der Selbstkontrolle, und diese geht Nietzsche oft ab: Ausbrüche von Ekel oder Scham, böswillige Ausfälle gegen Personengruppen und dergleichen entglei-
—————— 54 Es erscheint heute anachronistisch, eine Aneignung der eigenen Leiblichkeit zu fordern; durch die Allpräsenz des ungehemmten Ausdrucks leiblicher Regungen werden heute eher Rufe nach einer neuen Keuschheit, zumindest nach einer stärkeren Achtung der Privatsphäre laut (Sennett 1974, Illouz 2009).
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ten ihm immer wieder und können textlich nur mühsam gezähmt werden.55 Ein weiterer Anhaltspunkt für dieses Nicht-mit-sich-Fertig werden ist, dass Nietzsche das eigentlich harmlose Ziel eines Zulassens der eigenen Affekte »böse« nennen muss; als könne er die christliche Verteufelung der Affekte nicht verwinden. Er kann sie nicht ablegen, sondern nur umwerten: »Das Böseste ist nöthig zu des Übermenschen Bestem« (KSA 4: 356); »alle bösen Affekte müssen da sein« (KSA 9: 235). »Mit einem überlegnen Auge wünscht man … die immer größere Herrschaft des Bösen, die wachsende Freiwerdung des Menschen von der engen und ängstlichen Moral-Einschnürungen, das Wachstum der Kraft, um die größten Naturgewalten – die Affekte – in Dienst nehmen zu können« (KSA 12: 580).56
Hätte Nietzsche sein Ziel erreicht und könnte wirklich jenseits von Gut und Böse, von einer vollbrachten Entmoralisierung der Affekte aus sprechen, bestünde kein Anlass mehr, Affekte als das Böse zu bezeichnen. Warum auch? Diese merkwürdige Liebäugelei mit dem Bösen (die bei Dostojewski, den Nietzsche als Geistesverwandten empfand, wiederkehrt) deutet vielmehr darauf hin, dass Martin Heideggers Äußerung etwas richtiges traf, Nietzsche habe das, wogegen er kämpfte, nur umgekehrt. Statt die Moralisierung zu unterlaufen, wird sie beibehalten und mit umgedrehten Vorzeichen versehen: das vormals »Böse« ist jetzt gut und das Gute böse. Das ist zu einem Gutteil berechtigt: dieser Sinn von Böse entspricht dem bisherigen Verständnis davon – nicht jeder affektive Ausbruch wird ja zu Unrecht verteufelt: Nietzsche rechnet unter die zu befreienden Affekte nämlich auch und gerade das Grausamste (»alle furchtbaren Eigenschaften … die tigerartige Vernichtungswut«; KSA 7: 399).57 Angepeilt ist der »aktive, der angreifende, übergreifende Mensch« (KSA 5, 309): »Wir müssen wünschen, dass das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte, dass wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden« (KSA 8: 93). Doch ist das nicht alles – Nietzsche benennt auch die zarten Dinge des Lebens: »gerade die Affekte der Liebe, der Güte, des Mitleids«; »der Reichtum an Person, die Fülle in sich, das Überströmen und Abgeben, das ins-
—————— 55 So kann der Bezug auf (imaginierte) Gerüche bei Nietzsche sogar an die Stelle von Argumenten treten:: »Wir würden uns ›erste Christen‹ so wenig wie polnische Juden zum Umgang wählen: nicht dass man gegen sie auch nur einen Einwand nöthig hätte … Sie riechen beide nicht gut« (KSA 6: 223; siehe 240 das »übelriechende Judain«). 56 Es mag mit solchen Regungen zu tun haben, dass Monster so faszinieren (IV.4, Fn. 42). 57 Lukács 1954: 244ff. hat diesen gewollten Barbarismus betont. Ottmann hingegen versucht, die »blonde Bestie« (KSA 6: 99; KSA 5: 275f.) als ein primär »moralphilosophisches Schlagwort« zu lesen, als »ein Symbol des freien Geistes« (Ottmann 2000: 206).
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tinktive Wohlsein und Jasagen zu sich« (KSA 12: 530; KSA 1: 333f., KSA 6: 160; unwillkürlich denkt man an das Turiner Pferd). Nietzsches Vorstellung der »höheren Menschheit« war nicht nur der brutale »Verbrecher« (obwohl er mit dieser Figur kokettierte), sondern enthielt auch Elemente des sensiblen und verletzlichen Intellektuellen: »Es giebt über dem Dampf und Schmutz der menschlichen Niederungen eine höhere hellere Menschheit, die der Zahl nach eine sehr kleine sein wird … : man gehört zu ihr, nicht weil man begabter oder tugendhafter oder heroischer oder liebevoller wäre, als die Menschen da unten, sondern weil man kälter, heller, weitsichtiger, einsamer ist, weil man die Einsamkeit erträgt, vorzieht, fordert als Glück, Vorrecht, ja als Bedingung des Daseins, weil man unter Wolken und Blitzen wie unter seines Gleichen lebt, aber ebenso unter Sonnenstrahlen, Thautropfen, Schneeflocken und allem, was nothwendig aus der Höhe kommt« (KSA 12: 321f.).
Sinnvoller als die Umkehrung von böse und gut, wenn auch mit geringerem rhetorischen Effekt, wäre die Ausdehnung der Adiaphora, der sittlichen Neutralität gewesen; die Eröffnung eines Bereichs menschlichen Seins, der nicht länger moralischen Bewertungen anderer Menschen unterliegt. Schon Lukrez hatte damit den Menschen das Leben leichter machen wollen (Taylor 1989: 181, 345). Die sexuelle Revolution im 20. Jahrhundert hat, zusammen mit Liberalisierungsschüben im kulturellen Bereich, genau das vollbracht.58 Heute gilt es zumindest in westlichen Ländern in der Regel weder als ›böse‹, noch im Umkehrschluss als moralisch gut, etwa eine sexuelle Beziehung einzugehen oder seine sexuelle Orientierung zu verändern. Nietzsche, dem man eine solche Befreiung von Herzen gewünscht hätte, sprach sich hingegen offen gegen die Ausstattung der »Weiber« mit mehr Rechten aus, er polemisierte gegen Genüsse, sofern sie einer breiteren Bevölkerung zur Verfügung standen, und richtete sich in seinen Stereotypen ›typisch‹ männlicher und weiblicher Muster regelrecht ein.59 Gerade Nietzsche legt damit ein seltsam antagonistisches Verständnis von Geist und Gefühl an den Tag: Dieses Bild vom Selbst hat noch Angst vor den »bösen« Gefühlen und konstruiert so – entgegen den eigenen Intuitionen – einen Antagonismus von Geist und Körper, als müsse man sich zwischen ihnen entscheiden. Es ist eine problematische Konzeption dieses affektfreundlichen Selbst, wenn Stephanie Zerm folgert, »die Negation auch nur einer einzelnen unserer Willensäußerungen« bedeute »die Nega-
—————— 58 Zum Unwillen der Kritischen Theorie übrigens (dazu Henning 2011f). 59 »Die Dummheit in der Küche; das Weib als Köchin« (KSA 5: 172); vgl. in der Folge von Nietzsche noch Otto Weiningers Hass auf Juden und Frauen (und sich selbst).
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tion des gesamten Selbst, das wir sind« (2005: 61). Auf diese Weise lässt sich die alte Moral nicht mehr denken, darin war Nietzsche immerhin konsequent: diese setzt ja voraus, dass manche Affekte wie etwa Neid, Rachsucht oder Wut nicht den Handlungsimpuls abgeben dürfen. Doch selbst die nicht-moralische Autonomie ist nicht mehr einzuholen, wenn die betreffende Person sich als ein Reiz-Reaktions-Apparat versteht, der stets den jeweiligen Eingebungen folgen muss (aus Angst vor Triebunterdrückung und der folgenden Desintegration des Selbst). Ein solches Subjekt wäre gerade nicht mehr autonom, da es – im Idiom Harry Frankfurts – keine Wünsche zweiter Ordnung ausbilden könnte, die sich auf Wünsche erster Ordnung auch negativ beziehen sollen. Ein Raucher könnte niemals aufhören zu rauchen, eine freiwillige Diät oder gar ein frühes Aufstehen wären unmöglich. Tatsächlich scheint Nietzsche diese Affektkontrolle an manchen Stellen gänzlich bekämpfen zu wollen.60 Doch wohin würde eine solche Zügellosigkeit moralisch führen? Wenn Nietzsche ein zügelloses Verhalten der Starken gegen die Schwachen wieder salonfähig machen möchte, begegnet die Ungleichheit an zentraler Stelle wieder: Nur durch die klare Markierung dieser zwei Menschengruppen ist dafür gesorgt, dass die Zügellosigkeit nicht schlimmere Schäden anrichtet. Die Distanz, die eine »Kluft« zwischen »die oberste und die niedrigste Art« einziehen will, hat diesen Sinn, die Oberen vor den Niederen zu schützen (KSA 12: 207; KSA 6: 136), und damit auch vor dem eigenen Gewissen. Nietzsche betreibt hier eine hemmungs- und uferlose Externalisierung: in einer universalen, wohl kathartisch gemeinten Fremdzuschreibung werden alle möglichen Menschengruppen beschuldigt (die Gelehrten, die Christen, Juden, Sozialisten, Frauen etc.). Schuld an der Misere sind immer die anderen. Es ist kein Ausdruck eines stabilen und belastbaren Selbstverhältnisses, wenn man für korrekturbedürftige Unebenheiten des eigenen Auftretens, etwa im Blick auf die leiblichen Regungen, ständig Andere haftbar macht.61 Das Selbstverhältnis, das eine solche Revision des Selbstbildes stiften würde, setzte man sie in die Praxis um, wäre das eines eitlen und nicht länger sozial kompatiblen Alpha-Männchens. Dies steht im Widerspruch zur Forderung nach Selbsttätigkeit, denn im Grunde schiebt man alles, vor allem die eigene Verantwortung, an die anderen ab. Auch im Innersten von Nietzsches Philosophie, dem Subjektverständnis, hat sich
—————— 60 Wie so oft bei Nietzsche findet sich auch das Gegenteil: »die Unfähigkeit, auf einen Reiz nicht zu reagiren, ist selbst bloß eine andre Form der Degenerescenz« (KSA 6: 86). 61 In dieser Linie könnte man auch fordern, Frauen hätten sich zu verhüllen.
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damit die Grundüberzeugung einer Ungleichheit zwischen den Menschen eingenistet. Das Nietzschesche Herren-Subjekt darf nämlich, anders kann man hier nicht schließen, seine Ego-Dynamik auf Kosten der ihn Umgebenden ausleben, weil diese anderen ›niedere‹ Existenzen sind.62 Dies kann man nicht egalitär nennen, und selbst für die sich als Herrenmenschen verstehenden darf als fraglich gelten, ob dies »günstige Bedingungen« für eine gute Entwicklung der individuellen Anlagen wären. Nietzsches Denken bleibt zwar in vielem schemenhaft und widersprüchlich, doch zwei zentrale und verbundene Annahmen sind die Verbesserungsbedürftigkeit und die Ungleichheit der Menschen. Nietzsche denkt menschliche Verbesserung in Verbindung mit Ungleichheit: Sie soll ungleich erfolgen, und soziale Ungleichheit ist zugleich ein Mittel, das die Weiterentwicklung der wenigen, die sie verdienen, zu fördern vermag. Sonst wäre kaum verständlich, warum Nietzsche sich die Freisetzung der leiblichen Dimensionen nur in Absonderung von der Mehrzahl der Menschen und im Abschied von den modernen Strömungen von Demokratie, Rechtstaat, Liberalismus, Sozialismus und Feminismus denken konnte, die doch ähnliche Ziele hatten. Der Ekel, den Nietzsche gegenüber so vielem und so Vielen empfunden haben muss (oder zumindest artikuliert hat), hat offensichtlich zu einem Widerwillen geführt, diese Schätze an die »Vielen« zu verschleudern. Der Unterschied, den Nietzsche zwischen höheren und niederen Menschen macht, zieht sich sogar durch bis in die Philosophie der Leiblichkeit. Der Rawlssche Vorbehalt lag also – gegen Cavell – richtig. Was bleibt nun vom Existenzialismus? Wie die Nähe zu Hayek schon verdeutlichen konnte, liegt Nietzsche, der sich gern als Außenseiter stilisiert hat, gerade mit seinem Anti-Egalitarismus in einem starken gesellschaftlichen Trend (Schmidt 1985 II: 134ff.). Der Pathos der Eigentlichkeit verblasst angesichts dieses Konformismus bis zur Kenntlichkeit. Ähnliches gibt es noch heute – Rawls selbst hatte solche Nietzscheaner in Gestalt von Charles Murray vor sich, der in der Bell-Curve den Nachweis zu führen suchte, dass alle Bemühungen, in der amerikanischen Bildungspolitik eine Chancengleichheit herzustellen, an der ungleichen natürlichen Begabung verschiedener sozialer Schichten scheitern müssten.63
—————— 62 Oder besser: seine Es-Dynamik. Während Lemm (2007) Nietzsches Sozialtheorie entschärfen will, indem sie sie als Aussage über ein Selbstverhältnis begreift, wird in meiner Lesart das von Nietzsche vorgeschlagene Selbstverhältnis zu einem katastrophalen, weil es – umgekehrt – an der katastrophalen Beziehung zu den anderen abgelesen wird. 63 Murray 1965, vgl. Murray 2007 zur Vorgeschichte des »Exzellenz«-Gedankens.
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Nietzsche und seine Quellen: Der verleugnete andere Perfektionismus Nun fällt auf, dass Nietzsches Quellen diesen Zusammenhang keineswegs so erratisch sahen wie er selbst – Nietzsche hat stark vereinseitigt und überzogen. Nehmen wir etwa die Diagnose von Alexis de Tocqueville von 1835/1840, die auch J.S. Mill beeinflusst hat. Schon er hatte Bedenken angemeldet gegenüber der großen Vermittelmäßigung, der »fortschreitenden gesellschaftlichen Einebnung« (Tocqueville 1984: 586), die er kommen sah – oder, wie es Helmut Schelsky später ausdrücken würde, der nivellierten Mittelstandsgesellschaft: »In Amerika herrscht durchweg ein Mittelmaß allgemeinen Wissens. Alle Geister haben sich diesem angenähert, die einen durch Aufstieg, die andern durch Abstieg« (60f.). Tocqueville sah allerdings zwei unterschiedliche »bedeutsame politische Folgerungen« (1984: 62) vor: »man gewährt entweder jedem Bürger Rechte oder keinem« (61). Davon ist bei Nietzsche, der von sich sagte, er habe »die Schule von Tocqueville durchgemacht«,64 nur die eine Variante angekommen, die Cäsaristische Perspektive einer »unumschränkten Macht« (1984: 62; siehe Nietzsche, KSA 12: 73f.). Die andere Variante, die tatsächliche »Herrschaft des Volkes« (Tocqueville 1984: 62), wie sie sich gerade in den USA entfaltete und die sogar Marx zum Umdenken brachte,65 nahm Nietzsche als Möglichkeit für Europa nicht zur Kenntnis, oder wollte sie nicht zur Kenntnis nehmen. Dabei hatte Tocqueville durchaus einen Blick für den Perfektionismus. Er stellt am Beispiel von Amerika fest, dass die praktisch überaus wirksame Vorstellung der »menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit« (517) durch die herrschende soziale Gleichheit unter den Menschen ungeheuer verstärkt werde. (Gemeint ist neben dem Bildungsstand die politische Gleichheit und die der Chancen auf Reichtum). Eine politische Gleichheit kann für ihn durch die gleiche mittlere Bildung der menschlichen Vervollkommnung nur förderlich sein: »Mit dem Verschwinden der Kasten und der Annäherung der Klassen … entsteht vor dem menschlichen Geiste das Bild einer idealen und stets fliehenden Vervollkommnung. … Es ist kaum glaublich, was diese philosophische Theorie von der unbegrenzten Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen alles bewirkt und wie erstaunlich sie sogar jene beeinflusst, die, stets nur dem Tun und nicht dem Denken zugewandt, sich in ihrem Handeln danach richten, obgleich sie sie nicht kennen« (Tocqueville 1984: 518).
—————— 64 Brief an Franz Overbeck vom 23.2.1887, zitiert nach Schmidt 1985 II, 138. 65 Siehe etwa den Brief von Marx an Lincoln von 1864 (MEW 16: 18f.).
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Tocqueville, selbst einer sich auf Geburt berufenden Elite entstammend, hat einen ungleich klareren Blick für den sozialen Kontext der Verwendung des Wortes »Natur« als der sozialpsychologische Zergliederer Nietzsche. Sie diene dem alten Kontinent als Schutzwall gegen die perfectibilité: »[D]ie aristokratischen Völker … glauben an Verbesserung, nicht aber an Umwandlung … sie überzeugen sich gern, dass sie ungefähr die Stufe von Größe und Wissen erreicht haben, die unsere unvollkommene Natur zulässt; und da sich rings um sie nichts rührt, stellen sie sich gern vor, alles sei in bester Ordnung. Das führt alsdann dazu, dass der Gesetzgeber beansprucht, ewige Gesetze zu erlassen« (Tocqueville 1984: 517 f.).
Bei allen Bewertungen und Vorurteilen, die auch Tocqueville gegenüber der Gleichheit anbringt (z.B. 581ff.), lässt er sich nicht davon abhalten, bis auf die ökonomische »Basis« der Gleichheit durchzugreifen (z.B. das »Erbgesetz«, 59) – auch dies sucht man bei Nietzsche vergebens. Oder nehmen wir, um eine zweite Quelle als Vergleich zu betrachten, den konservativen Basler Historiker Jacob Burckhardt, mit dem Nietzsche gut bekannt war. Auch er sprach von einer »Vollendung der Persönlichkeit« (1860: 128ff.), und es ist bekannt, dass Nietzsches Faszination hinsichtlich der Renaissance-Päpste von Burkhardt inspiriert war (»Raubmenschen« wie Cesare Borgia hatten es Nietzsche offensichtlich angetan, KSA 5: 117). In der Tat heißt es bei Burkhardt, wenn es um die Bedingungen geht, unter denen der »allseitige Mensch« (1860: 128) entstehen könne, dass es zunächst »die Individualität des Tyrannen« sei (1860: 124), die sich in der Renaissance »im höchsten Grade« entwickelt habe, wenn auch nicht, ohne (wie in Nietzsches früher Konzeption) die »rücksichtslos ausgenutzten« Talente dabei mitzunehmen (»des Geheimschreibers, Beamten, Dichters, Gesellschafters«, 124). Offensichtlich liegt hier eine politische Ungleichheit vor, wegen der, wie Burkhardt bezeichnenderweise folgert, die Menschen »am sittlichen Charakter Einbuße erlitten« haben (125). Ungeachtet dessen sei unter diesen unpolitischen Umständen bei einer Vielzahl von Menschen eine Entwicklung im »individuellen Charakter« festzustellen: »gerade innerhalb der allgemeinen politischen Machtlosigkeit gediehen wohl die verschiedenen Richtungen und Bestrebungen des Privatlebens um so stärker und vielseitiger« (Burkhardt 1860: 125).66
—————— 66 Eine unpolitische »machtgeschützte Innerlichkeit« (Thomas Mann) im Sinne der individuellen Vervollkommnung vertrat auch Benjamin Constant: »Persönliche Unabhängigkeit« spielt sich in der Privatsphäre ab, sie wird von der »politischen Freiheit« abge-
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Burkhardt sieht sogar in der (Gleichheit unter den Untertanen schaffenden) Tyrannei gute Entwicklungschancen, so am Beispiel des Höflings: »Die innere Triebkraft, die ihn [den Cortigiano nach Castiglione, CH] bewegt, bezieht sich … nicht auf den Fürstendienst, sondern auf die eigene Vollendung« (362). Er beschreibt, wie sich unter der Form der politischen Ungleichheit im Italien der Renaissance eine soziale Angleichung vorbereitet und langsam durchsetzt, die der Entwicklung der Individuen ungemein förderlich ist. Am Beispiel des Ruhmes spricht Burkhardt sogar explizit von der »Gleichheit der Stände vor der Tyrannis oder vor der Demokratie … dieses Bodens aber bedurfte es, um jenes neue Element im Leben zum Keimen zu bringen« (133). Gleich sind die Menschen für diese beiden Denker (Burkhardt und Tocqueville) also sowohl in der Demokratie wie in der Tyrannis, nur einmal mit, einmal ohne Rechte (siehe Rousseau in IV.1). Im Vergleich zu seinen Quellen ist Nietzsche also im doppelten Sinne extrem: von den zwei Formen der Gleichheit, der freien demokratischen, für die die USA im 19. Jahrhundert ein Vorbild abgaben, und der unfreien despotischen, erhofft sich Nietzsche im Interesse der guten Entwicklung der Menschen nur die zweite und bekämpft die erste. Und innerhalb der zweiten Variante übersieht er geflissentlich die bei Burkhardt nahezu dialektisch beschriebenen Auswirkungen auf die Beherrschten: auch diese nämlich können selbst unter solchen politisch unfreien Bedingungen unter Umständen zumindest kulturell gedeihen.67 Bevor man dem anti-egalitären Perfektionismus einen egalitären Anti-Perfektionismus entgegenstellt (was Rawls’ Selbstverständnis gewesen sein mag), dabei aber den Egalitarismus selbst aufs Spiel setzt, weil er seine alte Begründung verliert, wird bei einer näheren Betrachtung von Nietzsche der Blick frei auf einen Perfektionismus, der der Gleichheit zwischen den Menschen wesentlich mehr Raum lässt – und ihr zugleich eine solidere Begründung verschafft. Beispiele für einen solch egalitären Perfektionismus werden in Kapitel IV rekonstruiert.
—————— setzt (Constant 1819: 383). »Wir sind Menschen der Moderne; jeder von uns will seine Rechte genießen und seine Fähigkeiten entwickeln, wie es ihm gut erscheint und soweit er es tun kann« (387). Jeder bräuchte daher »Zeit … für seine Privatinteressen« (392). 67 Loewe (1937) behauptete in anderer Form einen Trade-off zwischen diesen Dimensionen, und Pocock (1975) sah Florenz als tugendethische Vorschule für die Demokratie.
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2. Das Schwinden der Natur bei Martha C. Nussbaum Im letzten Kapitel zu Nietzsche ist in einem Zitat von Tocqueville erneut die Rolle der Natur angeklungen, die dort mit politischem Stillstand assoziiert und daher gegen Perfektionierungsbemühungen ins Spiel gebracht wird. Wir hatten oben anhand von Hurka, Sher und Wall gesehen (II.3), dass die menschliche Natur allerdings für den Perfektionismus selbst recht wichtig ist, da sie eine eigenständige Wertquelle verspricht. Allerdings stießen wir mehrfach auf eine konservative Ausrichtung dieses Denkens, wenn Naturargumente als Unterstützung für eine rigide Moral benutzt werden. Schon aus diesem Grund lohnt es sich, einen Blick auf die als naturalistisch und zugleich progressiv geltende Philosophin Martha C. Nussbaum zu werfen. Gelingt es ihr, den Perfektionismus mit ihrem aristotelischen Naturalismus neu zu begründen und zugleich mit dem philosophischen Liberalismus zu versöhnen? Die Antwort fällt, um es vorwegzunehmen, zweimal negativ aus: Von den Anfängen abgesehen ist sie bei näherem Hinsehen weder Perfektionistin noch Naturalistin. Leider kann ein Perfektionismus auf der Suche nach Wegen, die Natur perfektionistisch in Richtung von Freiheit und Gleichheit zu lesen, von ihr daher wenig lernen. Doch immerhin kann man vielleicht erfahren, wo bei ihr der Hase im Pfeffer liegt. Wir müssen uns diese einflussreiche und fast-perfektionistische Variante der Gegenwartsphilosophie daraufhin näher ansehen. Wir werden beim Nachvollzug ihrer Entwicklung einen folgenreichen Bruch erkennen, der den gänzlichen Abschied vom Perfektionismus wie vom Naturalismus vollzieht, die Theorie aber keineswegs besser macht.
Ist der Neoaristotelismus ein Konservativismus? Die Aristoteles-Renaissance in der deutschsprachigen Philosophie seit den 1960er Jahren hinterließ einen konservativen Eindruck.1 Das ist kein Provinzialismus, denn auch im internationalen Raum waren Rückgriffe auf Aristoteles oft konservativ geprägt – wir sahen es bereits am Beispiel des neuen Naturrechts von Finnis (II.1). Dieser Eindruck wird von Autoren wie MacIntyre gebrochen: Er bekennt sich zwar offen zum Katholizismus
—————— 1 Schnädelbach 1986 bezog sich bei seiner Diagnose (anknüpfend an Jürgen Habermas) auf Joachim Ritter, Manfred Riedel oder Günter Bien. Eine wichtige Rolle hatten zuvor die Heidegger-Schüler Arendt und Gadamer gespielt. Siehe dazu Gutschker 2002.
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und nennte sich selbst einen Thomisten, doch er hat als Marxist angefangen (MacIntyre 1953; 1970; Blackledge/Davidson 2009) und lässt bis in spätere Schriften eine Nähe zu revolutionären Ideen erkennen (MacIntyre 2006: 145ff.; Knight 2007: 102ff.; siehe IV.2). Mit dem Bekanntwerden der Arbeiten von Martha Nussbaum wurde eine klare Verortung des NeoAristotelismus im politischen Spektrum erst recht erschwert: Sie bezog sich auf Aristoteles, und im gleichen Atemzug auf den jungen Marx. In den ersten Versionen ihres »Fähigkeiten-Ansatzes« versuchte sie, eine Rechtfertigung der »Sozialdemokratie« direkt aus Aristoteles abzuleiten (Nussbaum 1988; 1990). Sie zitiert dort Aristoteles’ Politik (1324a 23–25; 1325a 7ff.) mit der interpretativen These, dies sei eine Art antiker Verteilungsegalitarismus, in der »eine politische Verfassung die Aufgabe hat, dem Volk … die für ein im vollen Sinne gutes menschliches Leben notwendigen Bedingungen zur Verfügung zu stellen«. Diese Konzeption sei »breit insofern, als sie auf das gute Leben von vielen Menschen … und nicht nur einer kleinen Elite ausgerichtet ist; tief insofern, als sie auf eine Totalität der Tätigkeiten abzielt, die ein gutes Leben ausmachen« (Nussbaum 1988, deutsch 1999: 90f.). Dies muss hellhörig machen: vielleicht beruhen die scheinbar klaren Einordnungen von Philosophien in politische Lager (vgl. Habermas 1980, 1985) zuweilen auf zu groben Rastern. Oder ist, um Habermas nicht unter Wert zu verkaufen, im deutschsprachigen Rahmen mit Konservativismus die Sozialdemokratie immer schon mitgemeint? Das wäre gar nicht abwegig: So waren viele Denker des sog. ›Ritterkreises‹, die als ausgemachte Konservative gelten – Joachim Ritter selbst, daneben Hermann Lübbe und andere – Sozialdemokraten (Hacke 2006). Martha Nussbaum wurden, wie wir sehen werden, gerade wegen dieses redistributiven Ansatzes ähnliche Vorwürfe gemacht: sie sei staatsgläubig, ja paternalistisch, und traue den Individuen nicht genügend Selbstsorge zu (Gutschker 2002: 452f.).2 Zu dieser zunächst kontraintuitiven Gleichung von Sozialdemokratie und Konservativismus passt allerdings, dass sich MacIntyre wie Nussbaum für die klassische Bildung einsetzen; in der Annahme, damit dem moralischen Verfall des Spätkapitalismus etwas entgegensetzen zu können. Es ist kein Widerspruch, wenn ein Wertkonservativismus (im Gegensatz zum Strukturkonservativismus) im Interesse der Bewahrung der Werte hinsicht-
—————— 2 Knoll 2009 dagegen stellt ihre Aristotelesrezeption in Frage: Dieser sei als »Egalitarist« missverstanden (siehe Gutschker 2002: 448). Gegen den Vorwurf, sie sei eine Non-Egalitaristin (den Arneson 2000:47 erhebt, indem er ihren Ansatz »satisficing« nennt, und den Krebs 2002 positiv gewendet hat), wehrt sich Nussbaum (2000d: 125f.; s.u., Fn. 33).
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lich politischer Strukturen progressive Forderungen stellt. Im Unterschied zu den »kompensatorischen Geisteswissenschaften«, welche der junge Habermas (1968) bei Joachim Ritter und anderen Neoaristotelikern erblickt hatte, holen MacIntyre und Nussbaum aus den klassischen Geisteswissenschaften anderes heraus als nur den Trost der Philosophie. Vielmehr bekommt die opponierende Haltung im Rückgriff auf die Tradition Anleitungen, wie sie praktisch und politisch werden kann. Ein solcher Weg von der humanistischen Intellektualität in die Politik wurde, wie Habermas selbst anhand von Heinrich Heine beklagte, von deutschen ›Denkern‹ nur unwillig betreten – und wenn doch, dann leider häufig in reaktionären Richtungen.3 »Amerika, du hast es besser«: Es empfiehlt sich auch auf dem Gebiet der Klassikerauslegung, in einer nachholenden ›Westbindung‹ die angelsächsische Diskussion zu konsultieren. Bei Nussbaum haben wir es also mit einer sozialdemokratisch denkenden Philosophin zu tun, die diese Position im Rückgriff auf klassische Texte zu rechtfertigen vermag und damit die gewohnten akademisch-politischen Fronten durcheinanderwirbelt. In diesen Wirbel ist sie allerdings selbst geraten, denn ihr Denken weist eine merkwürdige ›Kehre‹ auf. Die gilt es im Kontext des Perfektionismus zu studieren.
Nussbaums Bruch mit ihren perfektionistischen Anfängen Vielleicht haben wir mit diesem politischen Subtext, der beim Verfassen und Rezipieren von Philosophie (zumal der politischen) stets mitläuft, den Grund für Nussbaums radikalen Wandel ausgemacht. In ihren frühen Schriften zum Fähigkeitenansatz4 bezieht sie sich nämlich nicht nur affirmativ auf Aristoteles, sie verteidigt auch scheinbar altmodische Positionen wie den Essentialismus und die Natur des Menschen: »Ich vertrete eine offen universalistische und ›essentialistische‹ Konzeption« (Nussbaum deutsch 1999: 178, verfasst 1993). »The Aristotelian essentialist claims that a life that lacks any one of these, no matter what else it has, will be lacking in humanness. So it would be reasonable to take these things as a focus for concern, in asking how public policy can promote the good of human beings« (Nussbaum 1992: S59)
—————— 3 Um an Schopenhauer, Nietzsche oder Heidegger zu erinnern. Vgl. Habermas 1987: 25ff. 4 Etwa in Nussbaum 1992 und 1993 (sowie deutsch 1993), auch in 1988, 1990 und 1995.
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Der Oxforder Philosoph David Charles machte es ihr daher nach ihrem ersten Entwurf zum Capability Approach zum Vorwurf, dass diese Position perfektionistisch sei: »[E]thics and politics, thus conceived, aim at perfecting human nature« (Charles 1988: 185). Als Vorläufer eines solchen Denkens nennt er »Green, Nettleship. Newman, and Barker« (187). Daraufhin brachte Nussbaum ihre Position eine Zeitlang selbst in die Nähe des Perfektionismus – nun aber affirmativ: Sie spricht von einem »Ansatz der liberalen Perfektionierung« (deutsch 1993: 353). Sie erläutert: »Es ist die Kluft zwischen den potentiellen menschlichen Fähigkeiten und ihrer vollen Entfaltung, die einen moralischen Anspruch begründet« (dt. 1999: 206, von 1993). Als Gewährsmänner für diesen Perfektionismus nennt sie Aristoteles, daneben oft den jungen Marx und später auch J.S. Mill, sowie, wenig überraschend, T.H. Green und Ernest Barker: »Es ist völlig zutreffend, dass meine Aristoteles-Interpretation sehr den Interpretationen der britischen Sozialisten Green und Barker ähnelt, was ich nie verhehlt habe« (Nussbaum 2000c: 147; vgl. 2000d: 110; 2002a: 19). »Green and Ernest Barker were not known to me when I developed the view, but the discovery of similarities of approach has been illuminating« (2011a: 124).
Sogar Henry James sei ein Perfektionist (2000c: 137), zumindest habe er eine »liberal perfectionist aspiration« (2000d: 116).5 Die Sekundärliteratur behandelt Nussbaum daher nicht selten ebenfalls als Perfektionistin.6 Doch dabei blieb es nicht: In neueren Schriften gibt sie sich nämlich wie selbstverständlich als eine politische Liberale im Sinne von Rawls aus.7 Das verträgt sich nicht so leicht mit dem perfektionistischen Anspruch. Sevérin Deneulin, die diesen Bruch genauer untersucht hat, datiert ihn ebenfalls auf die späten 1990er Jahre: »In the late 1990s Nussbaum radically shifted the overall horizon of her capability approach« (Deneulin 2002: 8). Deneulin bezieht sich dabei vor allem auf einen Aufsatz von 1998, in dem es heißt: »I now understand the list of central human capabilities as the core of a specifically political form of liberalism, in the Rawlsian sense. I imagine that citizens of many different comprehensive conceptions can all endorse the items on this list, as
—————— 5 Eine längere Henry James-Lektüre befindet sich bereits in Nussbaum 1990. 6 Etwa Arneson 2000; Pauer-Studer 2000: 223ff.; Gutschker 2002: 443, Deneulin 2002, Jentsch 2010 oder Couto 2014, 62f.; indirekt z.B. auch Sumner 1996: 79 Fn. 7 Sie tut dies vor allem im Rawls gewidmeten Buch von 2006, siehe aber bereits Nussbaum englisch 1999: 9f., 55ff. (in der deutschen Übersetzung 2002: 15ff.) und 2000a.
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things that are essential to a flourishing human life, whatever else that life also pursues and values« (Nussbaum 1998: 284f.).
Obwohl Nussbaum freimütig einräumt: »my thinking has undergone numerous shifts« (2000d: 102), ist dieser Wandel besonders einschneidend. Denn der Rawlssche Liberalismus ist genau diejenige Position, für die ihre früheren Texte, in denen sie offensiv für einen Essentialismus eintrat, so provozierend sein musste,8 und von der aus der Perfektionismus noch in gegenwärtigen Schriften kritisiert wird. Im politischen Liberalismus sind, wenn es um die Rechtfertigung einer politischen Ordnung geht, Bezugnahmen auf eine Theorie des Guten – wie die Aristotelische AnthropoEthik eine ist – nicht vorgesehen. Schon die frühe Kritik, die David Charles an Nussbaums Ansatz übte, stellte hier eine Unverträglichkeit fest. Diese Kritik erhob nämlich noch einen weiteren einflussreichen Vorwurf – neben dem, es handele sich um Perfektionismus: Diese Konzeption sei mit dem späteren Rawls nicht verträglich. Diesem zufolge könne es nämlich in modernen pluralistischen Gesellschaften kein »unforced agreement about the good« mehr geben (Charles 1988: 202). Das legte nahe, dass sich in Nussbaums Konzeption ein heimlicher Paternalismus verstecke, der sich mit dem Rawlsschen Liberalismus nicht vertrage. Folgt man dieser Diagnose, dann übt der »universalist account of central human functions, closely allied to a form of political liberalism« (2000a: 5) einen Spagat, der nicht gut gehen kann. Wir haben auf der einen Seite eine dicke »Theorie des Guten«,9 welche essentialistisch von der Natur des Menschen ausgeht und von hier aus einen Katalog der förderungswürdigen Güter aufstellt. Diese sollen die politischen Institutionen zur Grundlage ihrer Politik machen, um damit die Fähigkeiten der Menschen zu verbessern. Das ähnelt dem, was katholische Naturrechtler schon länger vertraten und auch im sozialdemokratischen Diskurs der 1970er Jahre präsent war.10 Auf der anderen Seite, dem Rawlsschen Liberalismus, herrscht hingegen die Überzeugung vor, dass eine Politik sich überhaupt nicht nach einer Theorie des Guten richten dürfe und die politische Philosophie sich darum
—————— 8 Zuvor war sie um Absetzung vom älteren Rawls bemüht, den sie verteilungstheoretisch und utilitaristisch liest (Nussbaum dt. 1999: 28, 34f., 61, 72 und 93). 9 So wird »thick« übersetzt in Nussbaum dt. 1993: 333, in dt. 1999: 28 heißt es »stark«. 10 Siehe Finnis 1980: 85ff. sowie (obzwar nicht katholisch) Galston 1980. Nussbaum dt. 1999: 80ff. bezieht sich auf die skandinavische Politik der 1970er. In der deutschen Sozialdemokratie gab es in den 1970er Jahren ebenfalls eine Diskussion zur »Lebensqualität« als Ziel politischer Planung (Eppler 1974; F.X. Kaufmann 2003: 160ff.). Interessant ist dabei erneut der Schulterschluss zwischen links und rechts.
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auch nicht um diese zu bekümmern habe, da es keine einheitliche Vorstellung des Guten für alle Bürger geben können: »Equal citizens have different and indeed incommensurable and irreconcilable conceptions of the good« (Rawls 1993: 303, s.o., Kap. II.2). Politik und Philosophie sollten sich weitgehend zurückhalten und sich auf inhaltslose Prozeduren beschränken. Leitend für diese Methode der Vermeidung (»method of avoidance«, Rawls 1993: 12; Nussbaum 2011b: 16) ist die Assoziation, nur so lasse sich der gleiche Respekt gegenüber allen Bürgern durchhalten. Wie kann man von einem zum anderen wechseln, ohne in diesem Gegensatz zerrieben zu werden? Perfektionistische Neuansätze sind gehalten, sich zunächst mit Rawls als ihrem philosophischen Gegner auseinanderzusetzen, um entweder zu zeigen, dass Rawls an einer Stelle irrt, oder um gegen den Augenschein doch eine Verträglichkeit beider Positionen nachzuweisen. Wie auch immer dies geleistet wird, klar ist an dieser Stelle, dass es misstrauisch stimmen muss, wenn eine perfektionistische Position unkommentiert zu Rawlsschen Mitteln greift, ohne ihre Inhalte umzustellen.
Konturen der Kehre Hier stellen sich zwei Fragen: Wodurch ist dieser Wandel – den Nussbaum erstaunlich wenig thematisiert – motiviert? Und jenseits der historischen Entwicklung der Theorie ist zweitens zu überprüfen, ob eine solche Doppelposition systematisch überhaupt haltbar ist. Kann man beidem zugleich gerecht werden, der Theorie des Guten wie der liberalen Enthaltsamkeit, und falls ja, wie geht das zu? Sehen wir uns für den Wandel die frühe Nussbaum genauer an, die noch ungeschützt auf die menschliche Natur Bezug nimmt. Wir überspringen die Schriften vor der Capability-Zeit, da es primär um den Fähigkeitenansatz geht.11 Diese Phase beginnt 1987, nach ihrer Schrift über Fragility of Goodness (1986), mit ihrer von Amartya Sen vermittelten Tätigkeit als »Research Advisor« bei WIDER, einem Forschungsprojekt der Vereinten Nationen.12 Eine frühe Übersetzung ins Deutsche macht den essentialistischen Zug gut deutlich. Hier berichtet sie, wie sie »[z]eitgenössische Angriffe gegen den ›Essentialismus‹ … mit Bestürzung beobachte« (1993: 324) und diese daher verteidigen möchte:
—————— 11 Zu den ›Frühschriften‹ (etwa Nussbaum 1978 und 1986) vgl. Gutschker 2002: 404ff. 12 Das World Institute for Development Economics Research (UNO-WIDER) in Helsinki.
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»›Essentialismus‹ wird in der akademischen Welt … allmählich zu einem unanständigen Wort. Essentialismus – worunter ich hier die Auffassung verstehe, dass das menschliche Leben bestimmte zentrale und universale Eigenschaften besitzt, die für es kennzeichnend sind – wird von seinen Gegnern mit Unkenntnis der Geschichte und mit mangelnder Sensibilität für die Stimmen von Frauen und Minderheiten in Verbindung gebracht. Ohne lange Begründung wird er gewöhnlich mit Rassismus und Sexismus und mit ›patriarchalischem‹ Denken überhaupt in Verbindung gebracht, während extremer Relativismus und Traditionalismus als Rezept für den gesellschaftlichen Fortschritt angesehen werden«.13
Wegen solcher Stellen nimmt man gewöhnlich an, Nussbaum sei eine der wenigen Philosophinnen (neben der 2010 verstorbenen Philippa Foot und Rosalind Hursthouse), die sich affirmativ auf die Natur des Menschen beziehen. Doch dieser Eindruck täuscht. Hier kommt eine Rezeptionsverzerrung durch die deutsche Editionslage zum Zuge: Nussbaum ist im deutschsprachigen Bereich bekannt geworden durch zwei kleine Bücher: Zunächst durch einen Sammelband zur Kommunitarismusdebatte von 1993, der weite Verbreitung fand. In ihm ist die erste deutsche Übersetzung von Nussbaum enthalten. In diesem Aufsatz – den sie mit kleinen Veränderungen noch mehrfach publiziert – ist Nussbaum ganz die kämpferische Essentialistin: sie wendet sich gegen die poststrukturalistische Verabschiedung der Natur und stellt fest, dass diese Haltung politisch zu einer Koalition mit Traditionalismus und Hierarchie führt. Dieser Angriff ist insofern eine gute Verteidigung, als die Vorbehalte gegen den Essentialismus selbst weniger theoretisch als vielmehr politisch motiviert sind.14 Diesen schwarzen Peter gibt sie zurück. Sie betont in kühner Geste, »dass wir ohne eine solche Darlegung keine angemessene Grundlage für eine Darlegung sozialer Gerechtigkeit und der Ziele der gesellschaftlichen Verteilung besitzen. Mit einer solchen Darlegung besitzen wir dagegen die – gegenwärtig dringend benötigte – Grundlage für eine globale Ethik und eine … internationale Begründung der Verteilungsgerechtigkeit« (Nussbaum dt. 1993: 327).
Hier kann man den Eindruck bekommen, jemand mache sich die Aristotelische Position ungebrochen zu eigen. Dieser anthropologischen Grundlage traut Nussbaum erstaunlich viel zu. Zwar hat sie inhaltlich von Anfang an Vorbehalte, denn natürlich möchte sie Frauen, Handwerker und Mig-
—————— 13 Nussbaum deutsch 1993: 326; vgl. 1992: 205; 1993: S49; sowie deutsch 1999: 178f., wo stets von der Konferenz über Werte und Technik berichtet wird. 14 Nussbaum nennt das Übergehen kultureller Unterschiede, die Einschränkung der Autonomie und die Exklusion von Minderheiten (1992: 208f.; deutsch 1993: 329f.).
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ranten nicht länger von der politischen Mitsprache ausschließen (1999, 109, verfasst 1988). Methodisch allerdings ist das Ausgehen von menschlichen Grundfunktionen Aristoteles’ Anthropo-Ethik sehr ähnlich.15 Gerade in der inhaltlichen Absetzung von Aristoteles hinsichtlich der Ausgrenzung bestimmter Gruppen greift sie methodisch auf dieselben Fundamente zurück wie jener: Wenn jemand »von Natur aus« (1999: 109, Hvg. im Original, verfasst 1988) dieselben »Grundfähigkeiten« habe – und das hätten Sklaven und Frauen, auch wenn Aristoteles anderes behaupte –, dann könne man diesen Menschen nicht länger ausschließen oder benachteiligen, da diese Fähigkeit das »Kriterium für die Verteilung« (111) sei. Das Argument, mit dem Aristoteles in eine moderne Richtung hin korrigiert wird, ist also ein Ausgriff auf eine angeborene Ausstattung mit Grundfähigkeiten – auf eine menschliche Natur. Erst nach dieser Korrektur, die keine sein will, scheint schließlich folgendes Ideal als das ›wahre‹ Ziel des Aristoteles auf: »die Förderung des guten menschlichen Lebens und die volle Entfaltung der natürlichen Anlagen eines jeden Menschen« (114). Der Unterschied zum historischen Aristoteles besteht in der egalitären Erweiterung (»eines jeden Menschen«), der Unterschied zu späteren Versionen bei Nussbaum im Fehlen der »Schwelle«: Die volle Entfaltung (die »Totalität der Tätigkeiten«, dt. 1999, 80) ist noch perfektionistischer gemeint als die Entwicklung nur bis zu einer Schwelle hin.16 Doch im Verlauf der Entwicklung dieses Gedankens über die Jahre hinweg geschieht etwas merkwürdiges, und zwar zunächst unmerklich: In späteren Versionen dieses Textes kommt der Essentialismus zunächst in Anführungsstriche,17 später wird er durch den Term »Universalismus« ersetzt.18 Dieser meint zwar etwas ähnliches, nämlich dass die behaupteten Normen überall auf der Welt gelten sollen. Doch hat er keinen Bezug auf eine menschliche Natur mehr nötig: Universal kann auch eine Meinung sein, die von Men-
—————— 15 Zum direkten Vergleich Müller 2006: 147ff.; Kallhoff 2010: 197ff. 16 Die Kritik von Knoll 2009 ist allerdings abzuweisen: Nussbaum ist durchaus klar, dass Aristoteles selbst kein Egalitarist war, nur meint sie bei ihm Gedanken freilegen zu können, die über die historisch-zufälligen Vorurteile seiner Zeit hinausreichen. Dieser Gedanke ist hier noch die gleiche menschliche Natur – denn es muss »ein objektives Bewertungsverfahren« geben (Nussbaum deutsch 1999: 120). 17 Etwa in Nussbaum deutsch 1999: 178, 181; verfasst 1993. 18 In Nussbaum dt. 1999: 181 sagt sie »universalistisch«, wo in einem sonst fast identischen Text »essentialistisch« stand (Nussbaum dt. 1993: 326). (Die Wendung lautet jeweils: »Auf meine eigene, essentialistische/universalistische Weise sage ich…«). In Engl. 1999: 35–47, wo diese Partien erneut verwendet, heißt es durchgehend »universalism«.
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schen in den meisten Kulturen geteilt wird (etwa die Überzeugung, dass es Geister gibt oder Frauen minderwertig sind), ohne dass wir damit schon wissen, ob diese Überzeugung auch wahr ist oder den Menschen gut tut. Weiterhin werden in die Theorie nach und nach »liberale« Sicherungen eingebaut: dazu gehören etwa die »Schwelle«, an der die erziehende Staatstätigkeit aufhören soll, sowie die »Wahlfreiheit«, die den Bürgern hinsichtlich dessen eingeräumt wird, ob und wie sie ihre einmal anerzogenen Fähigkeiten tatsächlich nutzen (daher die Betonung des Unterschieds zwischen »functionings« und »capabilities«, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit). Beides lässt sich jedoch noch in der alten Version vertreten. Doch ob es tatsächlich so liberal ist, wie Nussbaum glaubt, ist weniger sicher. So ist beispielsweise für Vertreter einer sexuellen Enthaltsamkeit undenkbar, die Fähigkeit anerzogen zu bekommen, »Möglichkeiten zu sexueller Befriedigung zu haben«.19 Die Freiheit, sie nutzen zu können oder nicht, heißt in ihrer Sprache ›Versuchung‹, und gerade sie gilt es zu vermeiden.20 Zum Vergleich mache man sich klar, dass schon die Möglichkeit, später ein Instrument zu spielen oder sich zu einer Religion zu bekennen, in der Regel voraussetzt, dass man bereits als Kind in diese Richtung trainiert wurde. Ich habe nicht mehr die »Wahl«, Konzertpianist zu werden, wenn ich erst mit 18 Jahren beginne. Bereits das Anerziehen einer Fähigkeit ist eine Art Zwang. Dagegen hilft der Hinweis wenig, man müsse diese nicht ausüben oder könne sie später unterschiedlich nutzen. Ob dieses Anerziehen gerechtfertigt ist oder nicht ist damit nicht entscheiden. Es hilft nichts, diesen Zwang »liberal« verschleiern zu wollen; er bleibt was er ist. Eine weitergehende Liberalisierung betrifft nicht nur die Anwendung der einmal anerzogenen Fähigkeiten, sondern die Begründung der Theorie; nicht den praktischen Ausgang der Theorie, sondern den theoretischen Eingang. Für die Begründung nämlich spielt in der späteren Version die Natur des Menschen, von der die Theorie einmal ausging, keine Rolle mehr. Dieses Schwinden der Natur aus Nussbaums Denken wird in jüngeren Werken mit erstaunlichen Worten gekrönt. 2006 spricht sie davon, wie »alle Spezies kooperative und wechselseitig unterstützende Beziehungen unterhalten. Die Natur entspricht diesem Ideal nicht und hat ihm nie entsprochen. Ganz
—————— 19 Nussbaum deutsch 1999: 57, vgl. 200; das ist Nr. 2 in der Liste. 20 Das Argument kehrt in der Bioethik wieder. Sandel (2007) etwa argumentiert, bestimmte Wahlmöglichkeiten dürfe man gar nicht erst haben, weil bereits das Haben einer Wahl (behalte oder verkaufe ich mein Kind) moralisch verwerflich sei.
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allgemein gesprochen ist daher eine allmähliche Ersetzung des Natürlichen durch das Gerechte nötig« (Nussbaum 2006: 400, nach der Übersetzung von 2010: 538).
Das ist weder der Naturbegriff des Aristoteles, noch derjenige der Naturwissenschaften, sondern es erinnert am ehesten an biblische Visionen des Reiches Gottes. Kooperative und wechselseitig unterstützende Beziehungen aller Spezies sind ein biblisches Gerechtigkeitsideal: »Wolf und Lamm werden beisammen weiden; und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind … Man wird nicht übeltun noch verderbt handeln auf meinem ganzen heiligen Gebirge, spricht Jehova« (Jesaja 65.25).
Zwar ist gegen Bibelbezüge in der politischen Philosophie nichts einzuwenden. Doch der Naturbegriff ist aus dem Human Capability Approach nun komplett gewichen. Wie konnte das geschehen? Wenn man Nussbaums Werke Revue passieren lässt, lässt sich der Naturschwund konsequent nachverfolgen. Dies kann dem deutschsprachigen Betrachter jedoch entgehen, weil sich die Rezeptionslinien überkreuzen: 1999 erschien mit Sex und Social Justice ein beeindruckendes Werk, in dem Nussbaum sich dem Liberalismus bereits weitgehend geöffnet hatte. Sie ist weiterhin kämpferisch, diesmal etwa gegen reaktionäre Naturrechtler (engl. 1999: 299ff.), doch vom Essentialismus ist keine Spur mehr. Vielmehr versucht sie nun den Feminismus als »liberales« Unterfangen zu erweisen (Nussbaum dt. 2002: 15ff.). Zeitgleich aber erschien die zitierte deutsche Übersetzung von früheren Aufsätzen (Nussbaum dt. 1999), in denen dieser Schwenk zum Liberalismus noch nicht zu erahnen ist. Das dürfte den Eindruck des deutschen Lesepublikums lange überwogen haben. Kommen wir an dieser Stelle auf die Eingangsfragen zurück: Warum ist sie von ihren anthropologischen Anfängen abgerückt, und wie kann sie es tun, ohne den capability approach aufzugeben? Dieser setzt ja auf eine Entwicklung der Fähigkeiten von Menschen in aller Welt und bedarf daher einer transkulturellen Grundlage. Ein Grund, warum Nussbaum von der alten Version abgerückt ist, ist ihre zunehmende Orientierung weniger nur an Kant (die Kantische »Würde« ist 2006 zentral), sondern vor allem an John Rawls. In einem Paper (2011b) entscheidet sie sich explizit für dessen »politischen Liberalismus« und spricht sich klar gegen den perfektionistischen Liberalismus aus. Der Perfektionismus, von dem sie sich hier absetzt, ist allerdings nicht der von Mill, Marx, Green und Barker sowie Henry James, mit dem sie sich vorher verglichen hatte (s.o., Fn. 5). Dieser ist inzwischen von Autoren wie Thomas Hurka, George Sher und Steven Wall moderni-
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siert worden; aber darüber äußert sich Nussbaum nicht. Den kritisierten »Perfektionismus« schreibt sie vielmehr Isaiah Berlin – dem Kritiker der positiven Freiheit – und Joseph Raz zu. Er bestehe nach Nussbaum (2011b) hauptsächlich darin, dass die Menschen eine bestimmte Theorie (den Pluralismus) anerzogen bekommen müssten, um tolerant sein zu können – nämlich den Glauben daran, dass verschiedene Theorien (oder Kulturen) zugleich ›wahr‹ sein könnten (s.u., II.1). Christen müssten z.B. annehmen, dass die jüdische Religion genauso wahr ist wie die ihre, um das Judentum »tolerieren« zu können. Doch dass Menschen so etwas glauben könnten, sei unwahrscheinlich. Man müsste sie dafür – so verstehe ich die Stoßlinie des Aufsatzes – zunächst umerziehen. Damit hat Nussbaum zwar in der Sache recht: In der Tat gibt es wohl wenig Anhänger dieser Auffassung, während es viele Menschen gibt, die sich als tolerant bezeichnen lassen. Das besagt allerdings noch nichts gegen den Perfektionismus von Mill, Green und anderen aus, denn dieser war unabhängig von einer pluralistischen Metaphysik der Moral. (Autoren wie Sher oder Hurka behaupten vielmehr das Gegenteil, nämlich dass sich über ›das Gute‹ eindeutige Erkenntnisse gewinnen lassen.) Es ist daher aufschlussreich, dass sie sich schon 11 Jahre zuvor vom Perfektionismus abgrenzt, den ihr Richard Arneson zugeschrieben hat: »Arneson is wrong to think that my theory is in any interesting sense perfectionist« (Nussbaum 2000d: 128). Was bei ihr perfektionistisch sei, sei es auch bei Rawls. Sie sei »perfectionist only in the sense in which Rawls always maintained that there was an element of perfectionism in his own theory; namely, that not all satisfactions count for political purposes, and central importance is attached to choice« (2000d: 128).
Was genau hatte Arneson behauptet? Er hatte versucht, den Perfektionismus gegen die Anwürfe zu verteidigen, dieser sei notwendig elitär und paternalistisch. Als Perfektionismus begreift er dabei folgendes: »I shall stipulate that for the purposes of this essay a perfectionist doctrine of human good holds that what is good for its own sake for a person is fixed independently of her attitudes and opinions toward it, that it constitutes an ideal way to live that an individual might attain to a greater or lesser extent, and that in principle cardinal interpersonal comparison of the amount of good that different individuals achieve for themselves over the course of their lives is possible« (Arn. 2000: 38).
Dabei hat Arneson folgende Wahrnehmung von Nussbaums Ansatz bis dato (d.h. inclusive dem »liberalen« Buch Nussbaum 2000a), welche es nahelegt, von Perfektionismus zu sprechen:
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»Nussbaum explicitly advocates taking the relevant capabilities for social justice purposes to be those picked out as having value by an objective theory of human good« (Arneson 2000: 47).
Dass es sich bei ihr um eine objektive Theorie des Guten im Zusammenhang der Gerechtigkeitstheorie handelt, kann Nussbaum schwerlich bestreiten. Zumindest nach seiner eigenen Definition von Perfektionismus ist Arneson damit im Recht, wenn er dies Perfektionismus nennt. Denn eine objektive Theorie des Guten ist erstens »fixed independently of … attitudes and opinions« (Arneson 2000: 38, s.o), sonst wäre sie keine objektive Theorie, zweitens beschreibt sie »an ideal way to live« (sonst wäre es keine Theorie des Guten). Das dritte Kriterium, die Möglichkeit, mit dieser Theorie normative Vergleiche anzustellen (»cardinal interpersonal comparison«, nicht nur zwischen Personen, sondern auch zwischen Staaten), nennt Nussbaum noch in der jüngsten Systematisierung als Vorteil (2011a: 18f., 69; auch wenn sie es eher der Variante von Amartya Sen zuordnet und selbst eher in Richtung Gerechtigkeitstheorie strebt). Was kann es also bedeuten, dass Nussbaum dieser Zuschreibung widerstrebt? Es dürfte heißen, dass sich ihre Theorie zwischenzeitlich so stark gewandelt hat, dass sie keine objektive Theorie des Guten mehr darstellen möchte. Epistemologisch nämlich stellt sie, kurz gesagt, auf eine andere Grundlage um (Deneulin 2002, 10f.). Es ist nicht mehr die allen kulturellen, religiösen und moralischen Deutungen vorangehende und sie ermöglichende Natur des Menschen, von der sie das Wissen über die zu entwickelnden Fähigkeiten bezieht, sondern sie geht nun von einem »überlappenden Konsensus« im Sinne von Rawls aus21 – also von kulturellen Erzählungen, die in einer Meta-Theorie derart gefiltert werden, dass vom Guten eigentlich keine Rede mehr sein darf. »Ich habe die Rawlssche Idee eines ›sich überschneidenden Konsenses‹ verwendet, um die von mir gemeinte Art von Konvergenz zu beschreiben. Somit unterscheiden sich die beiden Konzeptionen nur in Nuancen, während in substantiellen Fragen Übereinstimmung herrscht« (Nussbaum 2000c: 149).
Doch damit nimmt sie an, was Rawls gerade ausgeschlossen hatte, nämlich dass es zwischen verschiedenen Kulturen eine Übereinstimmung über inhaltliche Fragen geben kann: »We can get a consensus« (Nussbaum 2000a, 83). Mit dem Naturbezug hat sie allerdings das Instrument verloren, das ihre Theorie zu mehr als einer Sammlung von Meinungen über etwas
—————— 21 Siehe z.B. Nussbaum; 2000a: 5, 14, 76, 104f.; 2006: 86, 163, 388f; oder 2011a: 79.
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hätte machten könnte. Daher kommentiert Thomas Gutschker diese Umstellung: »Dieses Ergebnis käme einer Sensation gleich« (2002: 438). Rawls war ja deswegen in Sachen Theorie des Guten enthaltsam, weil man auf diesem Gebiet aufgrund des Pluralismus gerade keine Einigung erzielen könne. Hier unterscheiden sich also keinesfalls nur Nuancen. In den früheren Schriften war die Idee des Konsenses bewusst gerade nicht die Rawlssche: hier spricht Nussbaum noch von einer inhaltlichen »convergence across cultures« (1992: S54), die es zwischen »Mythen und Geschichten« aus verschiedenen Kulturen gebe (dt. 1999: 188, vgl. 1996: 455): »Elsewhere [in Nussbaum 1900, CH] I have called this account of the human functions the ›thick, vague theory of the good‹. … The name is also chosen to contrast John Rawls’s ›thin theory of the good‹ … By contrast, my Aristotelian conception is concerned with ends and with the overall shape and content of the human form of life« (Nussbaum 1992: S54).
Das läuft auf eine Konvergenz zwischen verschiedenen Theorien des Guten hinaus, die es nach Rawls nicht geben kann. Nur zur Erinnerung, warum das Unterstellen einer Konvergenz im Inhaltlichen nicht politischliberal im Sinne von Rawls ist: Natürlich denkt jede Partei (nicht nur die sozialdemokratische Recht-auf-Bedürfnis-Erfüllungs-Politik), dass ihre Theorie des Guten von allen anderen unterstützt werden sollte. Aber da das jede Partei denkt, kommt es auf diese Weise zu jenem weltanschaulichen Konflikt, den Rawls umgehen möchte – daher schließt seine Idee des »politischen« Konsenses Theorien des Guten von Anfang an aus. Es ist also ein stark gegen den Strich gebürsteter Rawls, wenn Nussbaum in der späteren Phase meint, sie könne trotz der Ausgangsbasis von einem Ansatz, der politisch liberal im Sinne von Rawls ist, auf einen inhaltlichen Konsens rechnen – nicht nur gesellschaftsintern, sondern sogar global (kritisch dazu etwa Charusheela 2009): »We don’t have to contract for what we need by producing; we have a claim to support in the dignity of our human need itself. Since this is not just an Aristotelian idea [besser: not even, CH], but one that corresponds to human experience, there is good reason to think that it can command a political consensus in a pluralistic society« (Nussbaum 2003: 54f.).
Liest man genauer, scheint das Problem trotz Nussbaums Optimismus durch. Denn genommen existiert dieses Fundament noch gar nicht: Ein solcher Konsens, sagt Nussbaum, soll erst in der Zukunft entstehen:
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»The capabilities approach is a form of political liberalism: it relies on the idea that an overlapping consensus of the reasonable comprehensive doctrines can emerge over time to support and sustain the political conception« (Nussbaum 2006: 388).
Das heißt aber: das Fundament der Theorie existiert noch gar nicht. Sie lebt auf Kredit und macht Anleihen auf die Zukunft. Aber kann sich eine Theorie, die heute etwas zu sagen haben möchte, von so kontingenten Dingen wie dem eventuellen Zustandekommen eines weltweiten kulturellen Konsenses über Ethik und Anthropologie abhängig machen? Ratsam ist es nicht, das sieht auch Nussbaum. Sie schwächt daher abermals ab: eigentlich müsse es den Konsens auch in der Zukunft nicht wirklich geben, sondern man (wer?) müsse sich lediglich vorstellen können, dass es einen solchen in der Zukunft geben könnte. »One need only show that over time it is plausible to imagine that it might become a reality« (2011a: 79). Wir haben es hier mit einer dreifachen Abschwächung zu tun: es sollte plausibel (statt sicher) sein, dass man sich vorstellen kann (statt dies zu wissen), dass es möglicherweise (statt gewiss) einen solchen Zukunftskonsens einmal geben kann. Doch wie soll ein fiktiver und in die Zukunft verlegter Konsens eine Theorie begründen? Er bräuchte weitere Quellen, damit diese Suggestion überzeugen kann: »we do not have to show that the consensus exists at present; but we do need to show that there is sufficient basis for it in the existing views« (2006: 388). Damit sind wir wieder bei der theoretischen Basis angekommen. Auch künftige Konsense brauchen Argumente. Wenn sie in der Zukunft überzeugen sollen, müssten sie das schon in der Gegenwart können. Damit erweist sich der Verweis auf einen möglichen künftigen Konsens als Umweg, der argumentativ wenig leistet.22 Wo sind diese Argumente? Worauf basiert die Konsensfiktion der »political conception«, wenn sie sich auf keine Theorie über die Natur des Menschen mehr stützen darf, sie aber auch kein Ergebnis eines überlappenden Konsenses sein kann, da es einen solchen noch nicht gibt?23
—————— 22 Bei Peirce war der künftige Konsens kein Kriterium der Wahrheit – was auch gar keinen Sinn machen würde –, sondern diente der Definition von ›Wahrheit‹. 23 Sachlich sind zwei Dinge zu unterscheiden: Einmal die Frage nach dem Inhalt dieses Konsenses. Den kennen wir bereits: es ist die Zehnerliste der Fähigkeiten (s.o., II.1, Fn. 24). Daneben ist zu fragen nach Argumenten für die Annahme, dass es einen solchen Konsens geben wird, und aus welchen Gründen gerade diese Liste konsensfähig sein soll.
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Die halbierte Natur Schaut man sich entsprechende Stellen genauer an, an denen es um die Begründung des Modells geht, stellt man rasch fest, dass Nussbaum es an diesem zentralen systematischen Punkt sehr eilig hat und auf andere Schriften von sich verweist, die jedoch ebensowenig zum Punkt kommen. Sie möchte gegebene Vorstellungen einer Gesellschaft kritisieren, wenn sie nicht mit ihren Vorstellungen übereinstimmen: »we gravely mistrust society as it is, and would like to scrutinize possibilities that lie outside of it, in search of norms of a flourishing life« (Nussbaum 1994: 31). Dabei verlässt sie sich auf die scheinbare Selbstverständlichkeit von Naturargumenten, die aber zugleich gar keine Naturargumente sein wollen und sich damit selbst desavoieren. Naturargumente sollten es sein, da es um die Menschen in ihrer Eigenschaft als Gattungswesen geht, um ihre grundlegenden Möglichkeiten und Entwicklungspotentiale, die von kulturellen Deutungen nicht verstellt, übersprungen, verdrängt oder abtrainiert werden können. Naturargumente wollen es aber nicht sein, da die verschiedenen kulturellen Deutungen nach liberalem Selbstverständnis nicht belehrt, verbessert oder übergangen werden sollen. Es ›darf‹ nicht metaphysisch oder ›extern‹ argumentiert werden. »The species norm is evaluative, as I have insisted; it does not simply read of norms from the way nature actually is. But once we have judged that a capability is essential for a life with human dignity, we have a very strong moral reason for promoting its flourishing and remove obstacles for it« (Nussbaum 2006: 347)
Man muss Martha Nussbaum dankbar sein, dass sie in ihrer Entwicklung neben der »Würde« nicht noch ein weiteres vages Wort aufgreift: sie setzt nicht auf die »zweite Natur«, wie einst Adorno und heute John McDowell. Nussbaum hat als Altphilologin ein anderes Ass im Ärmel, um den kritikeröffnenden Naturbezug und den paternalismusvermeidenden Meinungsinternalismus zugleich in ihrer Theorie zu verstauen. Dieses Ass soll Natur als »evaluativ« und damit kulturimmanent erscheinen lassen, soweit uns diese Kultur zusagt, zugleich aber Werturteile einer Gesellschaft transzendieren, sofern sie unangenehm sind. Es ist der »antike Naturbegriff«: »Ancient accounts of ›nature‹, especially of ›human nature‹, are value ladden accounts. They select some aspects of human beings and their lives as especially important or valuable, deciding only then that a certain element should be counted as part of our nature« (Nussbaum 1994: 30, vgl. 497).
Demnach kann sich ein Ansatz, der sich auf Meinungen der Menschen stützt, zugleich als eine Theorie der menschlichen Natur verstehen, weil
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Natur – zumindest im ›antiken‹ Verständnis nach Nussbaum – in nichts anderem besteht als diesen wertenden Meinungen über sie. Als »Natur des Menschen« zähle dasjenige, wovon alle Menschen glauben, dass es wertvoll sei: »the notion of human nature in my theory is explicitly and from the start evaluative, and, in particular, ethically evaluative« (Nussbaum 2006: 181). Doch dieser Naturbegriff hat mindestens vier Probleme: Erstens ist ein solches Verständnis der menschlichen Natur unvollständig, solange ihr Elemente fehlen, die vielleicht nicht angenehm, aber dennoch eine natürliche Möglichkeit sind (die Fähigkeit zu töten, zu quälen, zu betrügen etc.). Warum sollen Wesenszüge des Menschen, die wir als schlecht beurteilen, nicht als Natur zählen? Diese kann man auch benennen, ohne sie in christlicher Sprache als »sündhaft« zu verstehen. Ähnliches gilt für Gebrechen: sie gehören dazu, ohne dass jemand sie als »wertvoll« deuten würde. (Darauf gehen Hurka und MacIntyre.) Zweitens bleibt die Fragen offen, wer die Wahl der »guten« Seiten eigentlich treffen soll (gibt es Experten, oder sind es traditionelle Gemeinschaften?); und drittens die, welche Kriterien bei dieser Wahl zählen sollen. Denn sie können weder durch Konsens, noch durch Naturbezüge gerechtfertigt werden, da beide an dieser Stelle systematisch ausstehen. Auch der Hinweis auf die »Würde« hilft kaum weiter, solange dieser ebenfalls vage Begriff unbestimmt bleibt. Viertens ist ein solches Verständnis von Natur – selbst wenn es das der Antike gewesen sein sollte – heute nicht mehr haltbar. Magensäure oder Alzheimer gehören zum Menschen, aber sie sind deswegen nicht das, was »wir« von ihnen glauben. Niemand im Westen würde sich in solchen Dingen auf die Meinungen der »Besten« verlassen wollen (einen Ältestenrat oder eine Ethikkommission). Wissenschaft verfügt über einen anderen Modus des Wissens als die hermeneutische Sammlung von Vorurteilen, die davon ausgeht, dass »Wahrheit immer schon in den Erfahrungen der Menschen enthalten ist«.24 Sie erwägt die Möglichkeit, dass alle unsere Vorurteile falsch sein können und wir unsere Vorstellungen einer kopernikanischen Revolution unterziehen müssen. Wir mögen von diesen Dingen durch die Wissenschaft wissen (denn wir können weder Magensäure noch Alzheimer als solche sehen),25 doch weder werden sie aus dem konstruiert, was andere von ihr sagen; noch sind sie damit irgendwie »evaluativ«.
—————— 24 Gutschker 2002: 408. Ähnlich dachten Konservative wie Heidegger und Gadamer (409). 25 Hilary Putnam spricht schon bei Angewiesenheit des Wissens auf Vermittlung durch Experten von Internalismus. Dies schließt Wissenschaften ein, während Philosophie bei Nussbaum und Honneth nur sagen darf, was in moralischen Vorstellungen angelegt ist.
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Ein stoischer Seitenzweig Trotz der genannten Unstimmigkeiten, und obwohl dem capability approach auch moderne Ideen Pate standen, wie Bezüge auf Hilary Putnam oder W.O. Quine zeigen,26 scheint Nussbaum die Versicherung attraktiver, die Idee sei »antik«, oder spezieller: Aristotelisch (noch 2006, 85f.). Doch ist es richtig, ein solches Denken »Aristotelisch« zu nennen? Nussbaum ist der Auffassung, Aristoteles sammle nur Meinungen (endoxa) ein: »This question is answered like any other Aristotelian ethical question: namely, by looking at the evaluative beliefs of the many and the wise«.27 Doch aus einer Sammlung von Meinungen kann nicht mehr herauskommen als ein repräsentatives Abbild dessen, was die Leute eben denken.28 Das muss in ethischer Hinsicht nicht richtig sein, wie Nussbaum an anderer Stelle zugibt. Vor allem das Problem der »adapted preferences« bereitet ihr dabei Kopfzerbrechen. Meinungen (doxai) können falsch liegen, auch wenn es Meinungen über uns selbst sind: »existing desires, instutions, and preferences are socially formed and far from totally reliable« (Nussbaum 1994: 488). Gutschker (2002: 436f.) weist darauf hin, dass die Evolution von Nussbaums Gedanken einen Irrzweig hat, der sich von Aristoteles löst und eher der Stoa zuwendet. Denn genau das war für die Stoa der Grund, über den Meinungs-Sammler Aristoteles hinauszugehen: »they feel they must leave Aristotle behind« (Nussbaum 1994: 101). Ein Irrzweig ist dies deswegen, weil die strauchelnde Hauptlinie wenig später einen anderen Weg beschritt – den Rawlsschen Liberalismus. Auf die Stoa griff Nussbaum im Kontext ihrer Theorie der Emotionen von 2001 nochmals zurück. Hier jedoch experimentiert sie mit einer stärkeren philosophischen Arznei, die nicht mehr, wie ihr Aristoteles, dialogisch bei Meinungen haltmacht, sondern im Sinne der Stoa therapeutisch ist (daher Therapy of Desire). Zum einen ist damit ein stärkerer Bezug auf Natur verbunden, denn diese selbst (secundum naturam vivere), und nicht mehr die kummulierte Meinung über sie, liefert nun die Normen der Gesundheit (»medical norms of health«, 1994: 29). «[T]he full flourishing of our moral and social nature can be imagined as full activity expressive of our most important capabilities, without impediments that would act as barriers to that self-realization. It is in this sense that nature may still, in the
—————— 26 Etwa in Nussbaum 1992: S50; dt. 1999: 301f.; und engl. 1999: 263. 27 Nussbaum 1988: 177, dt. 1999: 122; zur Methodik 1986: 240ff; Gutschker 2002: 408f. 28 Ich teile die Auffassung Müllers (2006: 123), dass Aristoteles noch eine zweite, naturalistische Herangehensweise hat (s.u., IV.2).
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ancient accounts, be opposed to culture: for many cultures are sources of impediments for human flourishing« (Nussbaum 1994: 31)
Zum anderen ist damit eine Asymmetrie zwischen Arzt und Patienten, zwischen Philosoph und Schülern verbunden (Nussbaum 1994: 27). Darin erblickt Gutschker einen Paternalismus: Der Arzt als Halbgott in Weiß hat Macht über die Patienten, solange diese sich der Therapie unterziehen. Der Ausgriff auf Natur, den sie hier erprobt, bietet einen Ausweg auf das Problem der »adapted preferences«, denn falsche Einstellungen lassen sich, versteht man Philosophie medizinisch, therapieren. Zugleich aber droht der Vorwurf des Paternalismus, dem eine Philosophin mit Recht entgehen möchte. Nur lässt sich das eine nicht ohne das andere haben. Wohl aus diesem Grund hat Nussbaum diesen verschärften Naturbezug nicht weiterverfolgt. Den Vorwurf eines Paternalismus (den Gutschker 2002: 453 auch an ihrer Staatskonzeption diskutiert) wollte sie sich vermutlich nicht aussetzen. Sie hat diesen starken Naturbezug darum rasch wieder abgeschwächt. Gegen Alasdair MacIntyre (1981) und Bernard Williams (1985) betont sie wenig später: Der »Begriff des Menschen«, von dem sie ausgehe, bedeute »keine Forderung nach einer metaphysischen oder biologischen Definition, sondern nach einer besonders tiefgreifenden Erforschung von Werten« (Nussbaum 1996: 455; ähnlich 1988: 177; dt. 1999: 122). Zum Naturbezug hieß es bereits in einem frühen Aufsatz, es sei eine Frage der normativen Wertung, ob etwas als Natur zu verstehen sei – erst kommen die Werte, dann die Natur: »[W]hether a certain function is or is not a part of our human nature is a certain special sort of evaluative question, namely, a question about whether that function is so important that a creature who lacked it would not be judged to be properly human at all« (Nussbaum 1988: 177, übersetzt in Nussbaum dt. 1999: 122).
Schon in der frühen Phase, vor ihrer liberal-inhaltsvermeidenden Wende (»method of avoidance«), unterfüttert Martha Nussbaum ihre politischmoralische Theorie mit Aussagen über die Natur des Menschen, die eigentlich gar keine Natur des Menschen kennen, sondern selbst ganz und gar moralisch sind. Schon hier bezeichnet sie ihren eigenen Ausgriff auf die Natur des Menschen als rein evaluativ: »Norms follow from an account of ›nature‹ because the account is normative to begin with« (Nussbaum 1994, 30). Von der Natur selbst sei nichts zu lernen: »We use the term ›nature‹ in multiple and slippery ways« (1999: 255, unter Bezug auf J.S. Mill). Ähnliche Stellen gibt es durchgehend, hier etwa in Texten von 1993 und 2006:
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»The conception of flourishing is thoroughly evaluative and ethical« (2006: 366). »Aristoteles versucht nicht, die menschliche Ethik auf ein neutrales Fundament wissenschaftlicher Fakten zu gründen, die außerhalb der menschlichen Erfahrung und Interpretation liegen. Vielmehr geht es ihm darum, in den Erfahrungen von Menschen zu vielen Zeiten und an vielen Orten bestimmte Elemente auszumachen, die besonders weitgehend und tiefgehend geteilt werden« (in dt. 1999: 261).
Allerdings hatte Nussbaum in dem Buch über die Stoa normative VorSelektionen eigentlich als unmöglich bestimmt. Zwar hatte sie die Stoiker dahingehend korrigieren wollen, dass man schlechte Gefühle unterdrücken lernt, ohne die guten Gefühle zu verlieren (»elimination of anger, while still rejecting their more general attack on passions such as love, fear, and grief«, Nussbaum 1994: 508; vgl. Gutschker 2002: 430). Sie hatte aber schließlich eingesehen, dass eine solche Wünsch-dir-etwas-Natur zumindest mit den Stoikern nicht zu machen ist (»To a great extent, this attempt failed«, 1994: 509). In der Systematik des capability approach kehrt aber genau diese »evaluative« Natur-die-keine-sein-will an zentraler Stelle zurück. Die Ergebnisse der Stoa-Studie haben keine weiteren Auswirkungen gehabt. Von dem kurzen Ausflug in die Stoa abgesehen gibt es in dieser Theorie in keiner Phase eine philosophische oder wissenschaftliche Dimension, die etwas über die Natur des Menschen aussagen könnte (2009: 222). Es geht primär um Werthaltungen. Dann aber könnte man ebenso gut direkt diese Wertungen beschreiben und sich den Umweg über die Natur sparen. Er trägt argumentativ keinerlei Last. Es macht allerdings wenig Hoffnung auf Konsens, Werte im interkulturellen Vergleich zu beschreiben. Der Umweg über eine Natur, die keine ist, wirkt daher wie ein Versuch, Skeptiker unterwegs abzuschütteln, in der Hoffnung, dass ihnen auf dem langen Hin- und Rückweg die Puste ausgeht und sie die Verfolgung abbrechen. Nussbaum, Butler und die Zirkel um die Natur Nun scheint Nussbaum vor den relativistischen Konsequenzen zurückzuschrecken. Sie ist zwar erstaunlich weitgehend Konstruktivistin – dass Werte durch Gemeinschaften entstehen und nur in gelten, ist ja ein normativer Konstruktivismus.29 Doch andere Konstruktivistinnen, die das noch offener vertreten, kritisiert sie vehement; und zwar nun wieder mit einem
—————— 29 Siehe den Titel Konstruktionen der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge (Nussbaum 2002b). Auch die Familie oder sexuelle Normen seien nicht von Natur aus da, sondern eine »Creation of State Action« (2000a: 261).
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Ausgriff auf Natur. Ganz ohne Naturbezüge scheint es doch nicht abzugehen. So zeiht Nussbaum in einer seltsamen Überkreuzung ausgerechnet Alasdair MacIntyre der Naturvergessenheit: Dieser habe nicht nur Aristoteles unter Wert verkauft, sondern damit einhergehend auch die menschliche Natur: »human beings all have bodily appetites and find it at times difficult to keep them under control« (2012: 66, von 1989). Dies war ihre frühe Phase. Erstaunlicherweise bringt sie diesen Punkt jedoch noch zehn Jahre später an, nach ihrer Kehre. So spricht sie 1999 davon, jede Kultur vollziehe sich »within constraints imposed by biology« (engl. 1999: 256). Manche Dinge seien »urgently connected with survival« (264) oder hätten, wie die Fettsucht, natürliche Auswirkungen auch jenseits kultureller Signifikanten (438, Fn. 73). Im selben Jahr verfasst Nussbaum eine polemische Besprechung von Judith Butler, die starken Widerspruch auslöste. Auch hier spricht sie von »tendencies« und »abilities that are in some sense prior to their experience in a gendered society« (2012: 207, verfasst 1999). Vor aller sozialen Konstruktion, und damit vor allen geteilten oder nicht geteilten Meinungen über Werte, liege ein natürliches Fundament des Menschen: »Culture can shape and reshape some aspects of our bodily existence, but it does not shape all the aspects of it« (208). Judith Butler sei nicht nur deswegen eine schlechte Philosophin, weil sie nicht schreiben könne oder weil sie den emanzipatorischen Anspruch auf eine scheinradikale Dimension der »Signifikanten« zurückziehe, sondern vor allem, weil sie diese natürliche Dimension voraussetzen müsse, sie aber zur gleichen Zeit in ihrer radikalkonstruktivistischen Theorie nicht zulassen könne – und diesen Widerspruch nicht einmal bemerke: »Butler does in the end want to say that we have a kind of agency, an ability to undertake change and resistance. But where does this ability come from, if there is no structure in the personality that is not thoroughly power’s creation?« (Nussbaum 2012: 207, verfasst 1999).
Ohne an dieser Stelle auf Butler einzugehen, meine ich, dass dieser Review trotz seiner Schärfe etwas getroffen hat. Die Ironie daran ist allerdings, dass man den zitierten Punkt auch Nussbaum vorwerfen kann: Sie nimmt ja ebenfalls eine Natur in Anspruch, die sie zugleich in ihrer Theorie nicht zulassen mag, da der Bezug auf sie ihr entweder zu metaphysisch (»metaphysisch-paternalistisch« heißt es in Nussbaum dt. 1999, 45) oder zu szientifisch vorkommt. Auch die Wissenschaft ist Nussbaum (wie schon Rawls) verdächtig, betont sie doch, dass es ihr gerade nicht um ein »neutrales Fundament wissenschaftlicher Fakten« gehe, da diese »außerhalb der menschli-
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chen Erfahrung und Interpretation« liegen könnten (dt. 1999, 261, verfasst 1993; das ist freilich der emanzipative Witz von Naturargumenten). Dennoch schlüpft ihr Naturalismus an vielen Stellen ungewollt wieder hindurch. Stellen wie diese z.B. zeigen zumindest eine Sehnsucht nach Natur: »For Kant, only humanity and rationality are worthy of respect and wonder; the rest of nature is just a set of tools. The capabilities approach judges instead, with the biologist Aristotle [!], that there is something wonderful and wonder-inspiring in all the complex forms of life in nature« (Nussbaum 2006: 347).
Die liberale Tendenz der Naturvermeidung überwiegt jedoch eindeutig. In einem zentralen Text nach dem Paradigmenwechsel legt sie etwa wieder Wert auf die Feststellung, ihre Aristotelische Theorie sei nicht »deduced from natural teleology« (Nussbaum 2000a: 76), sondern als evaluative – wie die Rawlssche – »freestanding« (76) und »intuitive« (77):30 »The basic intuition from which the capability approach begins, in the political arena, is that certain human abilities exert a moral claim that they should be developed. Once again, this must be understood as a freestanding moral idea, not one that relies on a particular metaphysical or teleological view. Not all actual human abilities exert a moral claim, only the ones that have been evaluated as valuable from an ethical viewpoint« (2000a: 83; vgl. 2006: 366).
Eine solche Auffassung sei keine »metaphysical biology« (2000d: 118; »weder biologisch noch metaphysisch«, dt. 1999: 189), sondern leite nur einen ethischen Wert aus einem ethischem Wert ab (»deriving ethical value from ethical value«, 2000d: 118). Diese Auffassung hält sie weiter durch: »In the human case, the capabilities view refuses to extract norms directly from some facts about human nature. … we must begin by evaluating the innate powers of human beings, asking which ones are the good ones, and the ones that are central to the notion of a decently flourishing human life, a life with human dignity« (Nussbaum 2006: 366).
Doch das ist offensichtlich zirkulär und zeigt erneut, dass der Bezug auf eine menschliche Natur keine argumentative Funktion hat: Wenn uns eine wertgeladene Theorie des Guten sagen muss, was von dem menschlichen Anlagen als Natur zugelassen werden soll und was nicht, dann kann man diese Theorie nicht gleichfalls auf eine solche Natur gründen.
—————— 30 Vgl. Nussbaum 2006: 173f. Die intuitionistische Unterströmung kommt in Nussbaum’s Methoden-Potpouri regelmäßig vor: »its guiding intuition is that we recognize as human people who do not share our own metaphysical and religious ideas« (engl. 1993: 223).
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Sogar in einem Text von 1995, in den sie Fragen nach der menschlichen Natur in anderen Texten ausgelagert hat,31 heißt es, jeder »account of what it is to be a human being … is an evaluation of elements of lives« (1995: 93). Erneut stützt sie sich primär auf Erzählungen: »These stories … ask us to evaluate the role of promising, of other-related responsiveness, of trust and sociability, in our sense of identity« (Nussbaum 1995: 98). »They are matters for communal judgement and decision, not for independent investigation and discovery. They are thoroughly internal to the community, and they serve to explain it to itself« (1995: 101).
In der Antwort auf diesen Text antwortet Bernard Williams brüsk: »What about human biology?« (Williams 1995: 195). Ein biologisches Wissen über die menschliche Natur, wie es die empirischen Wissenschaften anbieten (die keine Metaphysik sind), ist für diese Philosophie offensichtlich nicht mehr relevant. Damit kappt ausgerechnet der capability approach die philosophische Verbindung zu den Lebenswissenschaften. Wenn an die Stelle die lokale Kultur-Immanenz tritt (»internal to the community«), dann droht nicht nur die behauptete Universalität dieses Ansatzes verloren zu gehen. Schlimmer noch, es wird erneut zirkulär. Der erste Zirkel bestand darin, dass eine erste Ethik aus den menschlichen Eigenschaften die guten herausliest, und eine zweite Ethik ihr Verständnis von »gut« dann aus diesen Eigenschaften abliest. Ethik schließt aus Ethik und nennt es Natur. Der zweite schlechte Zirkel besteht darin, dass eine universale WerteGemeinschaft, die durch diesen Ansatz allererst geschafften werden sollte, von diesem Ansatz nun seinerseits vorausgesetzt wird. Denn sollen Werte, die »internal to the community« sind, in irgendeiner Weise universal sein, so müsste das auch die community sein. Davon sind wir allerdings weit entfernt, und solange das nicht der Fall ist, kann dieser Ansatz wenig dazu beitragen, dass es in diese Richtung weitergeht.32 An die Stelle der Universalität tritt so der Gegensatz kultureller Meinungen innerhalb und zwischen Gemeinschaften (Gutschker 2002: 439f.). Damit kann die Theorie schwerlich noch eine eigene Position beziehen: sie muss sich auf Vorgegebenes verlassen, obwohl sie eigentlich aufgebrochen war, eingespielte Vorurteile zu kritisieren.
—————— 31 Sie verweist darauf bereits 1992: Fn. 14f. 32 Zwar kommt Nussbaum 1997: 50ff. kosmopolitisch daher, doch sei es ein »serious misreading« und »simply wrong«, ihre Theorie »Cosmopolitanism« zu nennen (2011a: 92).
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Auf diese Schwäche der Kritik wies bereits Richard Arneson hin. Ihm ging es eher um die Vagheit des Ansatzes, aber die Kritik lautet ähnlich: »Nussbaum suggests that the pluralism about value and limited commensurability in her account of the good support liberal tolerance. This would be nice, but is not so. If there are many goods in life whose relative value is impossible to rate, and many types of life that are incommensurable, then many different life choices by an individual will not be subject to the criticism that a better choice is identifiable, but by the same token, different types of regime, illiberal and liberal, providing different combinations of kinds of lives distributed differently across persons will be invulnerable to criticism to the same extent. From lack of commensurability what follows is not liberal tolerance but lack of a basis for critique of regime choices as well as individual choices« (Arneson 2000: 49).
Zuviel offenzulassen kann also bedeuten, nichts zu sagen zu haben – und dann nichts mehr entgegnen zu können, wenn die Theorie auf unerfreuliche Weise genutzt wird. Nussbaum antwortet auf diesen Vorwurf, indem sie zwei verschiedene Vorwürfe gegeneinander ausspielt. Damit wird aber keiner von beiden widerlegt. Gegen Arnesons zitierten Vorwurf, ihr Ansatz sei auf eine Weise unbestimmt »that makes its political principles hopelessly indeterminate« (Nussbaum 2006: 185) antwortet sie, ihre Theorie fordere doch sehr bestimmt, dass die Entwicklung aller zehn Fähigkeiten bis zu einem gewissen Grad gewährleistet werden müsse: »all ten of these plural and diverse ends are minimum requirements of justice, at least up to the threshhold level« (185). Wenn der umgekehrte Vorwurf aber sagt, dass die Wahl ausgerechnet dieser zehn Fähigkeiten, die jeder Staat bei seinen Bürgern zu entwickeln habe, will er gerecht sein, als zwangsweise zu verwirklichende Fähigkeiten ein Eingriff in die Freiheit der Individuen sowie in die Selbstbestimmung anderer Kulturen sei, sagt sie wiederum: »it is not a single idea of flourishing, as in Aristotle’s own normative theory, but rather an idea of a space for diverse possibilities of flourishing« (2006: 182). Mit der ersten Antwort gibt sie dem zweiten Vorwurf recht (sie habe ein bestimmte Idee des menschlichen Blühens), mit der zweiten Antwort dem ersten Vorwurf (sie lasse Raum für ganz verschiedene Entwürfe zu leben und zu regieren).33
—————— 33 Diese Merkwürdigkeit, dass Nussbaums Gegenargumente nur für den Moment zu gelten scheinen, zeigt sich auch andernorts. So antwortet sie auf Arnesons Vorwurf, sie sei Non-Egalitaristin, in 2000d: 125: »I don’t believe I ever said this«. Einige Jahre später schreibt sie jedoch, als habe dieser Schlagabtausch gar nicht stattgefunden: »my theory speaks only of a social minimum and does not address inequalities above that (very ample) social floor« (Nussbaum 2006: 178f.). Genau das hatte Arneson ihr vorgeworfen.
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Ähnlich verhält es sich mit der Doppelstrategie, einerseits auf einen zukünftigen Konsens zu setzen, den es noch nicht gibt, und andererseits darauf zu vertrauen, dass im Grunde alles, was diesen Konsens ausmachen wird, bereits »internalistisch« in den Selbstverständnissen der »community« gegeben ist: »there is little that is not ›internal‹ to India, once we get a sufficiently complex idea of its traditions« (Nussbaum 2000a: 49). Jedes dieser beiden Standbeine ist für sich zu schwach, die Theorie zu tragen, aber zusammen bringen sie ebensowenig weiter, da sie nicht recht zusammenpassen wollen. Solange Nussbaum noch auf eine menschliche Natur gesetzt hatte, hatte die Hoffnung auf einen Konsens zumindest ein fundamentum in re, mit dem sich mögliche problematische Werte noch korrigieren ließen. Mit dem Vertrauen lediglich auf Werte »internal to the community« (1995: 101) ist diese Hoffnung geschwunden. Das Faktum des Pluralismus erwischt die neue Fassung daher kalt. Andrew Sayer (2011: 136) urteilt daher ähnlich: »If we equate flourishing and suffering with whatever any given culture defines them as, then we have a form of relativism«. Damit steht Nussbaum wider Willen der konservativen Ausrichtung des Neoaristotelismus wesentlich näher, als es zunächst den Anschein hat. Denn ein Verbleiben bei den Vorurteilen der Gemeinschaft hatte es bereits bei Gadamer und anderen gegeben. Wir sind also durch diesen alternativen Ansatz in der Sache nicht weitergekommen.
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3. Selbstverwirklichung ohne Selbst: Zur Kritik der Anerkennung This above all: to thine own self be true And it doth follow, as the night the day, Thou canst not then be false to any man. Hamlet Der Perfektionismus ist unter anderem bei Wall, Sher und Nietzsche als eine Entwicklungsethik deutlich geworden, die sich in der Zielvorstellung vorrangig an Individuen richtet, während sie Gemeinschaften als Ermöglichungsbedingungen eines gelingenden Lebens in den Blick nimmt. Gemeinschaften sind demnach kein Selbstzweck, dem Individuen sich stets unterzuordnen haben, sie sind allerdings auch kein bloßes Beiwerk, das man haben kann oder auch nicht, sondern sie bilden eine zentrale Voraussetzung für eine gute Entwicklung, und sie sind zudem der bleibende Ort für die Selbstbetätigung entwickelter Individuen. Diese Verbindung von Individuum und Gemeinschaft führt auf die dritte wichtige philosophische Frage, wie Entfaltung begriffen wird. Was entwickelt sich eigentlich in einer guten Entwicklung? Gibt es ein Selbst, das sich im Zweifelsfall auch gegen Zumutungen der Gemeinschaft verwirklichen kann? Oder besteht eine gute Entwicklung lediglich in einer gelungenen Rollenübernahme, wie es im Anschluss an G.H. Mead etwa in der intersubjektivistischen Sozialphilosophie von Jürgen Habermas hieß? Diese Frage nach dem Status der Individualität hat viele Facetten und kann in unterschiedlichen Begrifflichkeiten verhandelt werden.1 Um sich nicht in diesen Details zu verlieren, gehen wir nach der pragmatischen Maxime vor, der zufolge – verkürzt gesagt – wichtig an einem Begriff dasjenige ist, was einen praktischen Unterschied macht. Welchen Unterschied würden verschiedene Positionen hinsichtlich dieser Frage in der Praxis machen? Die Extreme bilden folgende zwei Varianten: Entweder wird gelungene Identitätsbildung als Enkulturation, als »Sozialintegration« begrif-
—————— 1 Philosophische Debatten darüber gibt es etwa unter den Rubriken Philosophie der Person, des Selbstbewusstseins, des Individualismus oder der Identität. Daneben wurde eine Kommunitarismusdebatte über die Beschaffenheit von Individuen geführt: sind sie als präferenz- und vernunftbegabte, aber ansonsten atomistische Aktivitätszentren zu begreifen, oder als immer schon in soziale Kontexte und Geschichten verstrickte Wesen, die sich gegen diesen Hintergrund kaum abheben? Beides ist nicht recht stringent.
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fen. Das würde bedeuten, dass ein Individuum sich in bestehende Praktiken und Institutionen hinein entwickelt. Es übernimmt die es umgebende Kultur und darf dann als entwickelt gelten, wenn es diese »Allgemeinheit« in sich (oder sich für diese) entwickelt hat; und entsprechend »gut« entwickelt, wenn es es dabei möglichst weit bringt und möglichst viele Gebiete davon abdeckt. Oder Entwicklung wird als etwas radikal Individuelles begriffen, sodass ein Hineinwachsen in das Allgemeine schon als Hindernis einer Selbstwerdung gelten kann.2 Zu entwickeln wäre hier weniger etwas Allgemeines als vielmehr das Eigene. Es handelt sich weniger um Aneignung der Kultur, sondern eher um eine Entfaltung des Selbst in der und durch die, aber gegebenenfalls auch gegen die vorgefundene Kultur. Beide Positionen sind in dieser überspitzten Form leicht zu kritisieren: Während die radikal individualistische Position von einem vorsozialen Selbstkern auszugehen scheint, der sich irgendwo ›in‹ der Person befinde und nur darauf warte, in Abwendung von anderen ›freigelassen‹ zu werden – eine vorhandenheitsmetaphysische und antisoziale Annahme (Honneth 2011a: 70); so kann das Individuelle an der Entwicklung in der anderen Position gänzlich aus dem Blick geraten und eine seelenlose Entwicklung zum Ergebnis haben, welche die Individuen mehr zu (obzwar kultivierten) Automaten als zu selbstmächtigen Aktivitätszentren machen würde. Das war bereits der Vorwurf Kierkegaards an Hegel und Stirners an Marx.3 Beides sind unattraktive Positionen – mit Granovetter (1985) könnte man von über- und untersozialisierten Positionen sprechen. Doch wenn beide Wege nicht gangbar sind, wie kann man sich Individualität dann vorstellen? Wie verwirklicht sich ein Selbst, und wie kann man diesen Prozess sinnvollerweise beschreiben, ohne in eines der metaphysischen Denkbilder zu geraten, die so unheilvolle Folgen zu haben scheinen? Als Aufhänger für diese Frage bietet sich die Diskussion über die Frage an, was philosophisch unter »Selbstverwirklichung« zu verstehen sei. Dieser Begriff ist auch im Alltag gebräuchlich und steht für eine Geisteshaltung, die man den alternativen 1960er und 70er Jahren zuschreibt – ging es doch damals in
—————— 2 Das Motto »Macht kaputt was Euch kaputt macht« (Ton Steine Scherben 1970) liegt auf der Linie von Adornos Diktum: »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen« (GS 4: 43). 3 Die Liste ließe sich fortführen – man denke an J.S. Mills Entwicklungskrise oder die Kritik Erich Fromms am Konformismus. Ängste vor einer solchen Erziehung wurden auch in Reaktion auf Amy Chua (2011) laut. Wittstock (2011) etwa setzt der von Chua verlangten »Perfektion« der Kinder ihre »Selbstentfaltung« entgegen.
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einem antiautoritären Aufbruch darum, sich den »Muff von 1000 Jahren« vom Hals zu schaffen und endlich man selbst sein zu können.4 Gerade wegen dieser Praktiken und ihrer Nachwehen ist der Begriff jedoch in Verruf geraten, weil er nicht nur traditionsfeindlich und ein wenig beliebig klingt, sondern auch exzentrischen und anti-sozialen Praxen das Wort reden könnte. Besonders konservativen Kreisen scheint eine Selbstverwirklichung etwa von Frauen nur auf Kosten der sozialen Pflichten zu haben zu sein.5 Andererseits würden viele Menschen wohl eher auf Bestandteile der ›Hochkultur‹ verzichten als Einbußen in ihrer Selbstverwirklichung zu machen – also eher auf eine Subvention der Oper als auf eine von Kindertagesstätten. Philosophisch kommt der Begriff erstaunlich selten vor – wie wir gleich sehen, meinte Hegel ihn anders (als Verwirklichung des Geistes), und Marx benutzt ihn nur einmal, in den Grundrissen (MEW 42: 512; vgl. MEW 3, 122). Weiter verbreitet war er im angelsächsischen Neo-Hegelianismus, etwa bei T.H. Green und dem jungen John Dewey (Kap. IV.2). Von hier aus wanderte er in die humanistische Psychologie, wo er in den 1950er Jahren bei Autoren wie Maslow und Rogers zu einem terminus technicus wird, der die alternativen Praktiken der 1960er Jahre vorwegnahm (Kap. IV.3).6 An dieser Stelle soll stellvertretend für andere Theorien die Einholung des Subjekts in die Allgemeinheit thematisiert werden, wie sie in der Folge von Hegel in den Intersubjektivitätstheorien der späteren kritischen Theorie weitergeführt wurde, und zwar anhand der Aneignung Hegels bei Axel Honneth.
Das Hegelsche Allgemeine: Selbstverwirklichung bei Axel Honneth Ich möchte für die Diskussion eine Verwendungsweise des Begriffes aufnehmen, die jüngst in expliziter Anknüpfung an Hegel vorgenommen worden ist, nämlich in der Anerkennungstheorie von Axel Honneth. Honneth liest die praktische Philosophie Hegels (1992 des jungen Hegel, 2001 und 2011a des Hegels der Rechtsphilosophie) nicht als spekulative Metaphysik des Geistes, sondern als normativ aufgeladene Entwicklungstheorie
—————— 4 Die Dialektik zeigt schon die Wendung »man selbst sein können«: Bei Heidegger sind das »man« und das eigentliche »Selbstseinkönnen« einander eigentlich entgegengesetzt. 5 Etwa im Film Kramer vs. Kramer (Robert Benton 1979), in dem die Frau nur durch ihre Abwesenheit glänzt, die dadurch erklärt wird, dass ihre Rolle als Mutter sie in ihrer Selbstverwirklichung einzuengen scheint (siehe auch Honneth 2011a, 164). 6 Begriffsgeschichtlich Gerhardt 1989, systematisch Schlette 2013 (20ff. zu Honneth).
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von Individuen. Es handele sich bei der Sittlichkeit um einen »langgezogenen Bildungsprozess« (Honneth 2001, 99). Da dieser Prozess normativ bewertet wird und dafür politische Institutionen in Anschlag gebracht werden, darf Honneths Neo-Hegelianismus als perfektionistische Theorie gelten.7 Eine Auseinandersetzung mit ihm steht darum ohnehin an. Das folgende Kapitel wird zeigen, dass dieser beeindruckende systematische Ansatz keine egalitäre Kritik mehr artikulieren kann und zu wenig individualistisch ist, um einem liberalen Selbstverständnis gerecht zu werden. Er macht sich auf ähnliche Weise für eine individualistische Kritik angreifbar, wie sie gegen ein vereinnahmendes Allgemeines geltend gemacht worden ist – bei Hegel etwa von Seiten Kierkegaards und Stirners.8 Honneths Theorie war von Anbeginn an Hegel orientiert.9 Dabei fällt gegenüber früheren Lesarten Hegels in der Kritischen Theorie auf, dass Honneth gerade das verteidigt, was Autoren wie Marcuse, Adorno oder Oskar Negt eher zu überwinden trachteten – nämlich Hegels Apologie bestehender Institutionen, etwa des bürgerlichen Rechts, als Verwirklichungen »der Vernunft«, die vom älteren Hegel und den Rechtshegelianer weltverbessernden Ambitionen entgegengesetzt wurde. Honneth möchte genau an diesen, wie man sagen könnte: Versöhnungs-Hegel anknüpfen, und zwar im Namen der Kritischen Theorie, in deren Tradition sich Honneth immer wieder stellt.10 Dass ist eine Wanderung auf einem schmalen Grat. Doch warum ist Hegel so wichtig für Honneth? Er betrachtet »Hegels Rechtsphilosophie als Theorie der Gerechtigkeit« (2001, 17 ff.; vgl. 2011a: 20f.) und sieht die Hauptaufgabe der »Agenturen der Verwirklichung von Gerechtigkeit« darin, »sich im Namen der Gerechtigkeit für eine Verbesserung der Anerkennungsbedingungen« einzusetzen (2010: 68). In der Ausführung fächert er entlang der Hegelschen Dimensionen von Familie, Staat und bürgerlicher Gesellschaft »Sphären der Gerechtigkeit« auf (Honneth 2001, 93ff.; von ihm Liebe, Recht und Solidarität genannt, 1992: 148ff.; cf. 2010: 159f.). Ein jeder solle anerkannt werden als Mensch (in der Familie), als Staatsbürger (im Recht) und als Kooperationspartner (auf dem Markt), und zwar jeweils nach anderen Kriterien (kurz: nach Bedarf, Rechten und
—————— 7 Explizit z.B in Honneth 2007: 39; 2010: 40; vgl. 2001: 106: »Selbstvervollkommnung«. 8 Immer noch verlässlich dazu ist die Zusammenfassung bei Löwith (1941: 118ff., 312ff.). Man kann mit Hans-Ernst Schiller (2006) vom Individuum im Widerspruch oder mit Robert Pippin (2005) von einer Persistence of Subjectivity sprechen. 9 Zur grundlegenden Idee, den jungen Hegel als Intersubjektivitätstheoretiker zu lesen, bereits Habermas 1968a: 16ff.; zur Anerkennungstheorie Hegels Siep 1979, Wildt 1982. 10 Etwa in Honneth 2000b: 88ff.; 2005; 2007 und in Frazer/Honneth 2003: 273ff.
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Leistung).11 Anerkennung und Gerechtigkeit hängen also eng zusammen, denn die »Verteilung« der Anerkennung in den verschiedenen Sphären ist die gegenüber Rawls ausdifferenziertere Gerechtigkeitstheorie. Wichtig in unserem Zusammenhang ist nun, dass die verschiedenen Formen von Anerkennung, um die es in diesen Sphären jeweils geht, zugleich auch als Voraussetzungen einer »Selbstverwirklichung« behandelt werden: »Insofern stellt die Rechtsphilosophie Hegels eine normative Theorie gesellschaftlicher Gerechtigkeit dar, die in Form einer Rekonstruktion von notwendigen Bedingungen der individuellen Autonomie zu begründen versucht, welche sozialen Sphären eine moderne Gesellschaft umfassen oder bereitstellen muss, um allen ihren Mitgliedern die Chance einer Verwirklichung zu gewähren« (Honneth 2001, 34). »Die Möglichkeit, diese aus Anerkennung hervorgehenden [!] Persönlichkeits-aspekte zu etablieren, ist eine normative Voraussetzung dafür, die Einrichtung einer Gesellschaft als gerecht bezeichnen zu können« (Honneth 2011b, 40).
Selbstverwirklichung spielt also eine zentrale Rolle, doch ist sie – wie schon bei Hegel – eng in das Prozessieren von Institutionen verstrickt, die zudem als Strukturen »der« Vernunft oder der Allgemeinheit begriffen werden. Mit Löwith gesprochen: »Sichbilden ist ein Sichheraufbilden des Individuums zum allgemeinen Wesen des Geistes«.12 Für Hegel war das kein Problem: für ihn war bei Selbstverwirklichung nicht von Individuen, sondern vom Geist die Rede. »Nur wenn wir den Geist in dem geschilderten Prozess der Selbstverwirklichung seines Begriffs betrachten, erkennen wir ihn in seiner Wahrheit« (Hegel, Enzyklopädie III, Zusatz zu § 379). Es entwickeln sich also keine Individuen, sondern Institutionen. Aber lässt sich diese Geist-metaphysik umstandslos in die moderne Sozialtheorie übertragen, ohne damit den Status des individuellen »Selbst« zu gefährden? Betrachten wir zunächst den Grundriss von Honneths Theorie: Sie ist zentriert um den Begriff der Anerkennung, der bei Hegel zwar vorkommt, aber einen untergeordneten systematischen Status hatte13 und auch bei Honneth trotz (oder wegen) seiner systematischer Bestrebungen ausgesprochen weit ist. Die Grundidee von Honneth, der wie Habermas auch entwicklungspsychologisch argumentiert, ist, dass Individuen sich nur dann entwickeln können, wenn ihnen von außen bestimmte Haltungen signalisiert
—————— 11 Zur Trinität von Mensch, Untertan und (Wirtschafts-)Bürger bei Kant s.u., Kap. IV.1. 12 Löwith (1941: 312) »Die Bildung zielt also darauf ab, das Individuum durch Verzicht auf seine Eigenheiten heraufzubilden und einzubilden in das ›Element der Sache‹« (316). 13 Anders sieht dies Schmidt am Busch (2011).
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bzw. praktisch entgegengebracht werden. Die Grundfrage ist also: was soll die Außenwelt für ein Individuum tun, damit dieses ein freies Subjekt werden kann?14 Eine aufgegliederte ›Lieferstruktur‹ von Anerkennungen ist die Antwort. Dieser Begriff umfasst sowohl die emotionale Zuwendung in der Familie wie die politischen Rechte, die der Staat entgegenzubringen habe (hier anerkennt nicht das Individuum den Staat, sondern der Staat das Individuum), die negativen Freiheiten eines Marktteilnehmers sowie neuerdings die Anerkennungsbeziehung der »Freundschaft« (Honneth 2001: 113). Der Intersubjektivismus dieser Konzeption geht soweit zu sagen, dass es ohne solche Anerkennungen gar keine Subjektivität geben könne. Diese sei vielmehr selbst intersubjektiv konstituiert (Honneth 2010: 280ff.). Anerkennung ist also nicht nur Hilfsmittel gelingender Selbstwerdung, sondern Ursache derselben. Dieser hohe Anspruch an die Intersubjektivität war schon bei Habermas umstritten.15 Honneth verfolgt diese Idee seit Jahrzehnten mit Nachdruck, weil er hier eine empirische Fundierung moralischer Theorien sieht: Weil Menschen tatsächlich solche Ansprüche auf Anerkennung erhöben, sich diese aber auch moralphilosophisch als vernünftig erweisen lassen (das Wirkliche soll vernünftig und das Vernünftige wirklich sein), habe die Moralphilosophie endlich einen Halt in der sozialen Realität. Diese Haltung ist ein Erbe der älteren kritischen Theorie, die anfangs radikale politische Änderungen für nötig hielt, solche Forderungen aber nur solange als opportun ansah, wie sie tatsächlich jemand verfolgte (in diesem Fall: »das Proletariat«). Diese Haftung in der Realität war Horkheimer und Adorno verloren gegangen; erst Habermas hat sie dann in der kommunikativen Ethik wiedergewonnen, doch zum Preis der Formalität und Prozeduralität. Honneth möchte nun im Geiste Hegels die »Wirklichkeit des Begriffs« zumindest negativ, in geteilten Erfahrungen der Missachtung, aufweisen.
—————— 14 Bedorf (2010: 76, 157) kritisiert hieran, dass es Honneth nicht um die Andere um ihrer selbst willen gehe, sondern dass sie nur einen Umweg auf dem Weg des Selbst zu sich bilden. Die Anlage bleibt, so kann man diesen Punkt zuspitzen, subjektphilosophisch. 15 Wichtig war der Einwand von Dieter Henrich und Manfred Frank, dass Intersubjektivität das Zustandekommen von Subjektivität gar nicht erklären kann, da ich mich selbst bereits kennen muss, um mich in der Reflexion wiedererkennen und von den vielen Objekten, die mir in der Welt begegnen, unterscheiden zu können. Eine solche Einsicht ist unvertretbar. Das bedeutet nicht, dass Intersubjektivität unwichtig wäre – im Gegenteil, für ein Verständnis sozialer Fakten ist ihre »Gemachtheit« elementar. Es bedeutet allerdings, vom Anspruch einer Allerklärung Abstand zu nehmen. Dazu gleich mehr.
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An der Ausdifferenzierung drei verschiedener Anerkennungsformen hängt Honneth eine Menge anderer Dinge auf. Zunächst stellen, wie wir sahen, die jeweiligen Formen von Anerkennung – aufgrund von Liebe, Recht oder Leistung – zugleich Gerechtigkeitsnormen dar: in der Familie wird nach Bedürfnis verteilt, in der Politik nach gleichen Rechten, auf dem Markt nach Leistung. Das soll aber auch eine Gesellschaftstheorie sein: die Rede ist von einer Institutionalisierung in verschiedenen sozialen Sphären – der Familie, des Staates und des Marktes –, daneben eine Subjektphilosophie: verschiedene Aspekte der Person werden unterschieden, die in diesen Sphären durch die jeweilige Anerkennung erst ermöglicht werden sollen: Selbstvertrauen in der Familie, Selbstachtung im Recht und Selbstschätzung in der Arbeit. Die theoretische Absicht ist also merklich systematisch: Möglichst vieles soll von nur einem Ansatz erledigt werden. Die Anerkennungstheorie beansprucht durch diese Verklammerung von Themen zugleich Theorie der Handlung, der Moral, der Gesellschaft, der Gerechtigkeit sowie der Selbstverhältnisse zu sein. Doch dies ist noch nicht alles: Diese Theorie möchte bei alledem das, was sie einerseits beschreibt, zugleich kritisieren, indem sie den beschriebenen Prinzipien einen »Geltungsüberhang« unterstellt (2003: 278; 2010: 224f.). Sie beansprucht also, auch noch Sozialkritik und Zeitdiagnose zu sein. Insofern dieser Überhang (ein »normatives Potential«, 2010: 223f.) den »moralischen Fortschritt« (2003: 218) antreibe, enthält dieser Ansatz schließlich noch eine Geschichtsphilosophie: eine »robuste Fortschrittskonzeption« (2010: 115) oder »Geschichtsteleologie« (2011a: 22), und zwar eine sehr optimistische (darin anders als Horkheimer und Adorno). Für eine einzige Theorie ist das ausgesprochen viel. Das hat nicht nur Vorteile: Die Konturen der Moral-, Subjekt-, Gesellschafts-, Gerechtigkeits- und Geschichts-philosophie und schließlich der Kritischen Theorie sind nicht klar gegeneinander abgegrenzt, sondern scheinen in einem Gesamtansatz, der zugleich beschreiben, erklären, kritisieren und therapieren (2001, 70ff.) möchte, ineinander zu verschwimmen. Dem Leser droht so zu entgehen, was genau eigentlich wie erklärt werden soll, denn irgendwie wird alles erklärt, aber stets auf dieselbe Weise. Gegen solche Großansprüche philosophischer Theorien hatte die Postmoderne einmal misstrauisch machen wollen. Folgendes Diagramm veranschaulicht die Anlage dieses Systems in vereinfachter Form (ähnlich Honneth 1992: 211). Die drei an Hegel abgelesenen Anerkennungsdimensionen orientieren sich zunächst an dem Gut, das
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die Anerkennung ausmacht bzw. transportiert (durch Liebe, Zuerkennung von Rechten oder für eine bezahlte Arbeit wird Anerkennung gezollt). Sie beziehen sich zugleich auf Gesellschaftssphären (»Grundinstitutionen«), auf Gerechtigkeitsnormen und auf »Bedingungen« gelingenden Selbstseins. Soziale Sphäre
Gut
Aspekt der Person
Gerechtigkeitsmodus
Familie
Liebe, Zuneigung
Selbstvertrauen (Bedürfnis)
Bedürfnis (als claim)
Staat
Recht, Bürgerstatus
Selbstachtung (Vernunft)
Recht (Gleichheit im Zugang zum, nicht im Wir)
Selbstschätzung (Wert)
Leistung (gerechtfertigte soziale Ungleichheit)
Bürgerliche Ge- Arbeit, Geld sellschaft, Markt (Solidarität)
Dimensionen der Anerkennungstheorie Weil sie zu viel auf einmal will, droht dieser Theorie ein Zirkel: Die Normen sollen bereits in der Gesellschaft »immanent eingelassen« sein (Honneth 2010: 85), zugleich aber soll Gesellschaft durch solche Normen erzeugt werden. Damit werden weder die Normen noch die Gesellschaft erklärt, sondern beide werden stets schon vorausgesetzt – und damit in ihrer Besonderheit kaum mehr kritisch hinterfragt. So lässt sich normativ nur ein schon gegebener Konsens »rechtfertigen«. Es geht eher darum, alte Bestände zu verteidigen (vor allem »normative«) als neue zu schaffen. Konstruiert wird zuweilen auch eine Kontinuität zu Theorien von Marx, die ja ihrerseits in der Folge von Hegel standen.16 Obgleich Honneth selbst jede einzelne Theorie von Marx mit begrifflichen Überlegungen abweist,17 versucht er auch an ihn anzuknüpfen; jedoch weniger inhaltlich als theorieästhetisch: vorbildlich an Marx sei vor allem sein System – er habe eine Theorie entwickelt, in der »Gesellschaftsanalyse« und »Emanzipationstheorie« aus einem Guss seien (1989: 94). Der »Begriff« Arbeit, der das bei Marx leiste, wird zwar zurückgewiesen, aber an seine Stelle tritt wieder ein Begriff, die Anerkennung, die nun ähnliches leisten soll. Erneut besteht die Anknüpfung vor allem im (tatsächlichen oder hineingelesenen) Systemcharakter im Sinne des Idealismus. Das kann einerseits einschnürende Effekte für den Eigensinn der Individuen haben; andererseits ist schon der
—————— 16 Siehe Emmanuel Renault, Jean-Philippe Deranty und H.-C. Schmidt am Busch in Zurn/ Schmidt am Busch 2009; zur Rolle von Marx für Habermas Honneth 2009. 17 Ich halte seine marxkritischen Überlegungen für verfehlt, dazu näher Henning 2014.
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Systembau recht brüchig, wie ich im Folgenden zeigen möchten. Folgende Punkte werde ich dabei kritisch benennen: Die Eindimensionalität der so rekonstruierten Gerechtigkeitsnormen; die Abhängigkeit »immanenter« Normlektüren von früheren Kämpfen, das Fungieren der Anerkennung als Zugang zu Systemen (statt als Korrektiv innerhalb derselben), den Effekt der Normalisierung durch Anerkennung, das Umschlagen des »Geltungsüberhangs« in Ideologie und schließlich in alldem das eigenartige Fehlen radikalerer Normen in diesem Theoriebau. Obwohl diese Kritik recht umfassend ist, soll sie hier in aller gebotenen Kürze formuliert werden. Auf dieser Grundlage wird dann der für diese Arbeit zentrale Kritikpunkt verständlich: dass hier ein Selbst fehlt, so dass der Perfektionismus von der Anerkennungstheorie in diesem Punkt nur wenig lernen kann.
Eindimensionale Gerechtigkeitsnormen und das Zehren vom Früheren Ein erster Kritikpunkt thematisiert den Preis der hohen Systematizität: Gerade der Wille zum System führt dazu, dass Argumente im Detail zuweilen blass wirken oder gar an der Empirie vorbeigehen. Es kann zu schematisierenden Beschreibungen und deduktiven Überschreibungen der Eigenlogik von Phänomenen kommen.18 Wie geht das zu? In Honneths Ausdrucksweise einigen sich nicht Menschen aufgrund einer problematischen Praxis auf Normen, sondern umgekehrt: eine Handlungssphäre »kristallisiert« sich um Normen herum (Honneth 2011b: 37). Moral erscheint so als »Basis« der Gesellschaft (2003: 177; vgl. 2011a, 20). Damit wird Marx von den Füßen zurück auf den Kopf gestellt. Wenn jedoch mit der Unterscheidung von Ansprüchen der Individuen zugleich eine Ausdifferenzierung von Gesellschaftssphären behauptet wird, muss diese Unterscheidung in der Konsequenz recht blockhaft ausfallen. Die jeweiligen Gerechtigkeitskriterien (Recht, Leistung, Bedarf; Toens 2003) können dann je nur in der entsprechenden Sphäre gelten, denn gerade ihr Nur-HierGelten macht diese Sphären aus. Es kann folglich in jeder einzelnen Sphäre nur diese eine Gerechtigkeitsnorm eingeklagt werden – in der Arbeit z.B. nur die Leistung (2003: 165f.), in der Liebe nur das Bedürfnis, im Staat nur Rechte.
—————— 18 Marx störte an Hegel diese spekulativ-deduktive Überrationalisierung; Stirner und Kierkegaard versuchten eine Rettung der individuellen Dimension vor dem System.
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Es wäre demnach nicht möglich, innerhalb der Arbeitswelt mit Rechten oder mit Bedürfnissen zu argumentieren. De facto jedoch wird dort eine Anerkennung von Rechten und von persönlichen Besonderheiten (Zuwendung vom Chef, von Kunden oder von Kollegen) erwartet;19 ebenso wie z.B. rechtlich in das Familienleben eingegriffen wird oder Bedürfnisse politisiert werden können. Für die Anerkennungstheorie ist das ein empirisches und ein systematisches Problem zugleich. Würde zugegeben, dass sich die Kriterien überschneiden, taugen sie nicht länger dazu, gesellschaftliche Wertsphären gegeneinander abzugrenzen, und der Anspruch auf Gesellschaftstheorie fällt. Wird auf einer Trennung beharrt, wird ein Gutteil der Empirie wegabstrahiert. Hier gibt es eine starke systematische Spannung. Auch hinsichtlich der Bewertung der Empirie wirft diese Spannung Fragen auf: Soll man das Heranbringen ›externer‹ moralischer Ansprüche in anderen Feldern im Sinne von Michael Walzers Sphärentrennung abweisen? Das würde beispielsweise angesichts der ›postfordistischen‹ Entgrenzung von Arbeit und Leben Sinn machen, die vielfach mit den Überforderungen und Burnouts in Zusammenhang gebracht wird. Your Boss is not your mother (Mandel 2006). Eine solche Forderung nach Einhaltung der Grenzen wäre jedoch normativ und kann nicht nochmals mit einer Ausdifferenzierung von Wertsphären begründet werden, da diese Ausdifferenzierung offensichtlich gar nicht durchgehend zu beobachten ist. Aber womit begründet man solch Forderungen dann? Bei Fragen des Rechts in der Arbeit wäre eine solche Abweisung hingegen kontraintuitiv: sie könnte die Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten (Schutz- wie Mitbestimmungsrechten), die ohnehin schon zu beobachten ist, noch unterstützen. Oder nehmen wir die Thematisierung von Bedürfnissen innerhalb der politischen Sphäre: Würde sie abgewiesen, könnte dies die Delegitimierung von Bedürfnisansprüchen im Sozialstaat vorantreiben. Da die Frage, worauf im Falle der Bedürftigkeit ein Recht besteht, überaus umstritten ist, könnte das auch eine neoliberale Umstellung des Sozialstaats auf den Leistungsgedanken zur Folge haben – wie im Fall der workfarePolitik (Henning 2009b, 2012d). Es gibt für Honneth allerdings einen systematischen Grund, auf der Sphärentrennung zu beharren: Würden verschiedene Kriterien in einer Sphäre zugelassen, kann es zu Widersprüchen kommen. Nehmen wir das Beispiel der Arbeit, das öfter wiederkehrt (etwa 1980; 1992; 2010, 78ff.):
—————— 19 Siehe dazu Dubet 2008 sowie Schultheis 2010.
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Argumente, die von der Idee der Rechtsgleichheit ausgehen, würden dazu führen, allen Arbeitenden gleiche Rechte, gleichen Zugang zu Gehaltserhöhungen etc. zu garantieren.20 Argumente, die vom Verdienst einzelner ausgehen, würden zu radikal ungleichen Einkommen führen (davon abgesehen, dass eine »Leistung« in der Wirtschaft nicht so einfach festzustellen ist). Das widerspricht sich – und fatal daran ist, dass beides Anerkennungsforderungen sind (Dubet 2008). Die vereinheitlichte Theorie führt zu Widersprüchen, weil sie sich allzu Disparates einverleibt hat. Wenn sie solche internen Widersprüche vermeiden will, muss sie aus theoriebautechnischen Gründen radikale Schnitte legen. Doch damit gibt sie die Wirklichkeit seltsam verstellt wieder. Das begründungsbedürftige Beharren auf der strikten Trennung der Wertsphären angesichts ihrer Durchkreuzungen hätte, wie gesehen, überwiegend konservierende Folgen. In der Tat wehrt Honneth zuweilen – darin konsequent – Eingriffe des Rechts in Familie und Wirtschaft ab (2010: 66; obwohl das ein Hauptthema des jüngsten Buches ist). Das steht nun weder in der Kontinuität des neuen Liberalismus, der sich primär um einen Schutz der Verletzlichen bemühte (Goodin 1985), noch in der Tradition einer markt- und herrschaftskritischen Theorie, in die sich Honneth selbst stellt, sondern in der des Wirtschaftsliberalismus etwa von Hayek (s.u., III.1). Das wirft die Frage auf: Was genau möchte diese Theorie eigentlich sagen? Man kann den Eindruck bekommen, sie selbst leide an Unbestimmtheit (Honneth 2001). Eigentlich beabsichtigt sie, die kritische Theorie fortzusetzen und für einen »moralischen Fortschritt« einzutreten. Doch in der Ausführung bleibt es an vielen Stellen bei Rechtfertigungen tatsächlicher (»normativer«) Errungenschaften. Daher liest sich das letzte Buch (2011a) wie eine philosophisch abstraktifizierte Sozialgeschichte der Bundesrepublik (Möllers 2011): Erzählt wird, was wirklich geschah, doch wirkt es, als hätten anstelle der Menschen Normen gehandelt und sich verwirklicht. Nicht was wirklich geschah wird erzählt, sondern was dem Moralphilosophen in der Rückschau daran wichtig erscheint. Das könnte nun daran liegen, dass Honneth seine Analyse bewusst auf die Rekonstruktion »immanenter« Normen beschränkt (2011a: 21f.). Das folgt einem speziellen Verständnis von Immanenz. Es meint nicht die Normen, die funktional im Sinne der Institutionen sind, sondern solche, die im Gedankenexperiment einer gesamtgesellschaftlichen Rechtfertigung
—————— 20 Das war in Gehaltstabellen der Fall, die mit Dienstjahren automatisch anstiegen.
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dieser Praxis zum Zuge kommen würden (2011a, 333). Wenn Honneth unterstellt, der Arbeitswelt seien normative Forderungen »immanent eingelassen« (2010: 85), so meint er keine immanenten Gesetze des Marktes, sondern Ergebnisses eines Eingriffes in den Markt. Freilich kann der Markt mit oder ohne solche Eingriffe fungieren. Darum wären solche Eingriffe im Denken von Marx als externe Zutaten (Regulierungen) zu verstehen: »Ihre Formulierung, offizielle Anerkennung und staatliche Proklamation waren Ergebnis langwieriger Klassenkämpfe« (MEW 23: 299). Honneths »normativer Funktionalismus« (2011a: 332) hingegen betrachtet die Eingriffe als notwendig, damit Märkte überhaupt ›funktionieren‹ können.21 Eingreifen kann man jedoch in ganz verschiedener Weise, es hat daher etwas Occasionalistisches, nur eine dieser Eingriffsweisen (etwa die von Durkheim, nicht die von Schmoller oder Marx beschriebene) als immanent auszugeben. Wenn aber politische Eingriffe in den Markt von der Theorie ebenfalls als dem Markt »immanent« betrachtet werden, dann fragt sich, warum – wenn schon eingegriffen wird – nicht gleich mehr gefordert wird. Honneth fordert mit Hegel einen Subsistenzlohn und einen Sinn in der Arbeit (2010: 89f.). ›Der Markt‹ garantiert von Haus aus allerdings nichts dergleichen. Öffnet man den Fokus nur ein wenig, so sind Löhne unterhalb des Subsistenzlevels keineswegs die Ausnahme. Der Fakt, dass Arbeitgeber nicht für das Wohlbefinden der Arbeitnehmer verantwortlich sind, machte ja gerade den ökonomischen Vorteil der Arbeitsgesellschaft gegenüber der Leibeigenschaft aus. Das Geforderte ist also ein Eingriff. Gibt es Gründe dafür, dass dieser so bescheiden ausfällt? Wenn Honneth mit »immanent« die Ansprüche (84) und Erwartungen (94) der Menschen meint, warum soll man ihre tatsächlichen Erwartungen auf ein Minimum herunterschrauben? Warum bei Subsistenz stehenbleiben, warum nicht noch höhere Gewinn-beteiligungen, mehr Mitspracherechte und Kündigungsschutz fordern? Hegels »bürgerliche Ehre« erfordert neben dem Subsistenzlohn zweitens, dass die eigene Arbeit von anderen als »Beitrag zum allgemeinen Wohl« (Honneth 2010: 91) verstanden werden kann. Das Gefühl eines Beitrags zum Gemeinwohl ließ sich jedoch auch über Orden, Fackelmärsche oder verordnete Feiern in der Brigade inszenieren – ein zeitgemäßes Pendant ist der ›Mitarbeiter des Monats‹. Die »normativen« Forderungen, die auf diese Weise »immanent« aus der Arbeit herausgelesen werden, lie-
—————— 21 Normative Ansprüche seien »zugleich Reproduktionsbedingungen der jeweils gegebenen Gesellschaft« (Honneth 2011a, 20; vgl. 333 und öfter).
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ßen sich in autoritären Regimen vielleicht besser erfüllen als im gegenwärtigen Kapitalismus; zumal dann, wenn die »Urteile der Beschäftigen« (101) nur eine untergeordnete Rolle spielen sollen. Ein denkbarer Grund für den programmatischen Minimalismus ist, dass diese Theorie nur Ergebnisse vergangener Kämpfe reformulieren, aber keine neuen Inspirationen geben kann, da diese stets umstritten sind (was sie nach der Rawlsschen Maxime aus der politischen Philosophie ausschließt) und aus dem Horizont der Gegenwart ›extern‹ erscheinen. Die selbstgestellte Forderung, die Normen der Kritik müssten der untersuchten Gesellschaft bereits als Vernunftanspruch immanent sein, führt letztlich dazu, dass nur diejenigen Normen rekonstruiert werden können, die dem Kapitalismus bereits regional abgetrotzt worden sind; ob durch die Arbeiterbewegung oder eine staatliche Sinngebungspolitik (Rituale, Pfründe etc.). Die Immanenzforderung zehrt also von früheren Kämpfen. Rekonstruiert werden jedoch nur die Ergebnisse dieser Kämpfe, nicht aber die Argumente, mit denen sie erfochten wurden. Frühere Generationen konnten sich für ihren Kampf auf keine »Geltungsüberhänge« oder immanente Vernunftansprüche berufen; sie mussten materiale Argumente bemühen, die damals allein schon deswegen »extern« waren, weil sie nicht verwirklicht und von mächtigen Gesellschaftsklassen wirkmächtig bekämpft wurden. Wo solche Argumente fehlten oder nicht gehört wurden, musste man auf die Straße gehen und Fakten schaffen. Spätestens wenn der sozialdemokratische Konsens des 20. Jahrhunderts untergraben wird und sozialstaatliche Gewohnheiten damit wieder ›extern‹ werden, stellt sich die Frage nach den sachlichen Argumenten der Kritik in alter Schärfe. Reicht es, wenn man das Schwinden der alten Einhegungen beklagt (Honneth 2011b)? Es wäre ein schwaches Kritikmodell, wenn nur gegen den schlechten neuen Kapitalismus der ›gute‹ alte gestellt würde (vgl. Lessenich 2009). Welche Möglichkeiten hat dieser Ansatz, die neuen, flexibilisierten Arbeitsformen kritisch einzuordnen? Die Wendung, die hier begegnet, ist die »Paradoxie« (Honneth 2002). Das meint, dass die eingeklagte Verwirklichung von Normen nicht das gebracht hat, was im Stadium der Forderung damit assoziiert worden war. Das ließe auch Rückschlüsse auf eine allzu unkritische Ausgangstheorie zu: vielleicht hat sie zu unbedarft Idealisierungen für bare Münze genommen? Der Weg einer Selbstkritik der Theorie wird nicht beschritten, stattdessen wird die Paradoxie in die Wirklichkeit hineingelesen.
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Ein und dieselbe Norm erscheint nun als gut und schlecht zugleich (»positive und negative Momente vermischen« sich, 2010: 233). Gut ist sie ex ante, in der »ursprünglichen Absicht« (2010: 233), schlecht ist sie ex post, nach ihrer weiteren »Verwirklichung« (232). Die eingelöste Forderung erweist sich nicht als das »ursprünglich« Gewünschte. Historisch gesehen begegnet eine solche Reaktion in vielen Bewegungen: ursprünglich war x (der Sozialismus, das Christentum, die Europäische Union – oder in diesem Fall Ideale wie Autonomie oder Selbstverwirklichung) eine gute Idee, ihre Umsetzung aber wird abgelehnt, weil nun auch Schattenseiten sichtbar werden. Fundamentalistische oder reformatorische Bewegungen versuchen dann, zu den »Ursprüngen« zurückzukehren. Nun hat eine Gesellschaftstheorie wie die Marxsche, die davon ausgeht, dass eine Verwirklichung des Überschusses der Normen dasselbe noch einmal ergeben würde, mit diesem ›paradoxen‹ Ergebnis kein Problem: Insofern diese Normen im Kapitalismus bereits wirklich sind (und daher nicht als Konserve einer heilen Welt zu begreifen sind), 22 ist es keine Überraschung, dass ihre »Intensivierung« (123) eine Intensivierung des Kapitalismus mit sich bringt. Ein Problem stellt dies lediglich für eine Theorie dar, die von einer Verwirklichung normativer Überschüsse einen »moralischen Fortschritt« erwartet hatte.23 Was die Anerkennungstheorie angesichts des neuen Geist des Kapitalismus (Boltanski/Chiapello 1999) eigentlich an Kritik anzubringen hat, ist noch ungeklärt: Es kann keine Forderung nach einer weiteren Verwirklichung derselben Normen sein, hat sich doch gezeigt, dass dies unerwünschte Ergebnisse zeitigt. Ebenso wenig kann es ein Zurück zu den alten Zuständen sein, waren doch in diesen die gewünschten Normen noch weniger verwirklicht. Das ist ein Dilemma. Und schlimmer: stimmt die Diagnose, dass die gewohnten Anerkennungsmuster (Leistung, Bedarf und Recht) heute »erodieren«, dann verliert eine Kritik, die diese als immanent versteht (2010: 85), schnell die Berechtigung. Denn veraltete Werte wären als extern einzustufen und blieben damit »folgenlos« (82). Dennoch beschwört ein jüngerer Aufsatz (2011b) genau diese alten, erodierenden Werte herauf. Woran soll man sich nun halten?
—————— 22 Wie soll eine Norm zugleich »zugrunde liegen« und »kontrafaktisch« sein (Honneth 2010: 87, 95)? Liegt sie einer Praxis zugrunde, ist sie wirklich, ist sie kontrafaktisch, will sie die Praxis verändern und muss sich dafür auf etwas außerhalb ihrer berufen können. 23 Die festgestellten Paradoxien könnten auch aus einer zu abstrakten Theorie folgen, die Widerstreitendes in sich vereint. Sie als Deskription »realer Paradoxien« zu verstehen, käme übrigens in die Nähe des dialektischen Materialismus, zumal wenn die Paradoxien als Form von »Widersprüchen« definiert werden (Honneth 2010: 233).
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Anerkennung als Zugang zu Systemen und der Effekt der Normalisierung Diese Diagnose drängt auf einen Vergleich mit der älteren Kritischen Theorie: Dieser zufolge bin ich als Markteilnehmer frei, ausgebeutet zu werden – dagegen hilft keine der drei Anerkennungsnormen, weder Leistung noch Recht oder Liebe. Bereits die Marxsche Kritik artikulierte den Verdacht, dass moderne Rechtsverhältnisse lediglich die ›Form‹ bereitstellen, in denen sich der Klassenkampf im Kapitalismus vollzieht. Märkte stellten für Marx als schillernde Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft den angestammten Ort liberaler Normen dar: Freiheit und Gleichheit als Tauschpartner sind hier in der Tat ›immanent‹ (MEW 23: 189f.).24 Bis dahin kommt eine Forderung nach Anerkennung: sofern ich etwas anzubieten habe oder über effektive Nachfrage verfüge, kann ich Markteintrittsschranken bis zu einem gewissen Grad überwinden. Warum aber sollte ich das anstreben? War die Marktlogik nicht einmal selbst das Kritisierte? Man denke an das Phänomen der Kommodifizierung: soziale Beziehungen können durch ihre Vermarktlichung gerade diejenige Qualität einbüßen, die sie so wertvoll macht (Hochschild 2001). Oder nehmen wir die Ausbeutung: diese wird unter der Rubrik der »Leistung«, die durch die Marktlöhne angezeigt wird (und damit anerkennende Wertschätzung zum Ausdruck bringen soll), verdeckt. Sie findet nach Marx im Bereich des Arbeitsprozesses statt, welcher – wie Slavoj Zizek an Filmen zeigt – opak ist. Da es ein verbreitetes Phänomen ist, dass Produktivitätszuwächse in weit höherem Maße in die Gewinne gehen als in die Löhne, ist Ausbeutung keineswegs passé. Darüber schreitet eine Apologie des Marktes hinweg. Über das Fungieren der sozialen Systeme selbst, das damit angesprochen ist, wird bei Honneth wenig gesagt. Seine Kategorien wollen für historischen Wandel offen und daher hinreichend formal sein.25 Doch wenn Anerkennung eine formale Kategorie ist, die »stets schon gegeben« ist (Honneth 2010: 71), schließt dies nicht aus, dass in Anerkennungsbeziehungen Prozesse von Macht, Ausbeutung oder Unterdrückung am Werk bleiben. Anerkennung benennt also nur den Zugang zu diesen Systemen, nicht aber die Art und Weise, wie ich in diesen Systemen behandelt werde.
—————— 24 »Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, … sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit. Als reine Ideen sind sie bloß idealisierte Ausdrücke desselben, als entwickelt in juristischen, politischen, sozialen Beziehungen sind sie nur diese Basis in einer anderen Potenz« (Marx, MEW 42: 170; vgl. Maihofer 1992, Henning 2005: 454ff.). 25 Fraser 2003, vgl. Renault in Zurn/Schmidt am Busch 2009.
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Honneth möchte mit den drei Formen der Anerkennung diejenigen Normen artikulieren, die der modernen Gesellschaft tatsächlich als »Vernunftanspruch« immanent seien, nach denen immer schon gehandelt wird. Wem eine bestimmte Form von Anerkennung verwehrt wird, könnte sie demnach einfordern, sofern es dafür ein fundamentum in re gibt, welches darin besteht, dass andere Menschen diese Anerkennung in dieser Sphäre bekommen, oder sich an der gängigen Praxis ein anderweitiger Anspruch auf die verweigerte Anerkennung ablesen lässt. Die Kritik wird nicht länger gegen die Form der Vergesellschaftung als solche gewendet, sondern nur gegen Einzelfälle in dieser Gesellschaft, in denen die beanspruchte Norm, als deren Verwirklichung Gesellschaft begriffen wird, noch nicht in Gänze ausgerollt worden ist. Der Effekt dieser Kritik ist normalisierend: Sie kritisiert nur Fälle, in denen einer Norm zuwidergehandelt wird, und machte sich so zum Vollstrecker der ohnehin geltenden Normen.26 Menschen unterhalb des Proletarierstatus könnten demnach etwa die Forderung stellen, ebenfalls als Tauschpartner – als potentielle Arbeiter – »anerkannt« zu werden.27 Karikieren lässt sich dies als Wunsch, doch wenigstens ausgebeutet werden zu können. Diese Anerkennung würde »normativ« wenig mehr leisten als die Proletarisierung zu universalisieren. Es wäre eine Normalisierung, die mit moralischen Weihen versehen wird, weil der Schein der Begriffe normativ glitzert. Damit ist nicht viel gewonnen: Warum sollte ich jemanden, den ich als Tauschpartner »anerkenne«, nicht zugleich über den Tisch zu ziehen versuchen, wenn doch der Sinn eines Tausches die Maximierung von Gewinn ist? Warum sollte eine emotionale Anerkennung einer Frau etwa als Tochter ausschließen, dass ich sie zu steuern und zu manipulieren versuche? Warum sollte die formal gleiche Geltung des Rechts für alle in demokratischen Rechtsstaaten ausschließen, dass sich innerhalb des Rechtes soziale Ungleichheit ungehemmt fortsetzt? Der Große frisst den Kleinen auch mit legalen Mitteln. »Das Recht ist nur die offizielle Anerkennung der Tatsache« (Marx, MEW 4: 112). Genau dies ist in vielen Fällen die Praxis, die sich in Anerkennungsbeziehungen vollzieht. Der normative Begriff der Anerkennung steht diesen Praxen kaum entgegen, wenn er in diese bestehenden Praxen eingelassen ist und sie reguliert. Daran würde auch seine Totalisierung nichts ändern.
—————— 26 Dazu Henning 2011b. Für Honneth greift »normalisierende« Anerkennung auf veraltete Identitätszuschreibungen zu (2010: 121). Das wäre jedoch keine Normalisierung mehr, sondern eine Diskriminierung (wie das Lob, ›gute Hausfrau‹ zu sein). 27 Etwas Ähnliches tun in Frankreich die sans papieres (vgl. Rancière 2002).
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Die diagnostizierte Schwäche dieser Kritischen Theorie lässt sich auf ein angreifbares Verständnis von Normativität zurückführen. Die wichtigste Anerkennungsform im politischen Bereich dürften Rechte sein, weshalb der Anerkennungsdiskurs schon bei Hegel primär einer über Rechte war. Rechte allerdings können auf verschiedene Weise sozialtheoretisch interpretiert werden. Extrapoliert man eine Theorie der Gesellschaft aus den Normen einer Gesellschaft, so könnte man versucht sein, vom »Gelten« einer Norm auf das Ausstehen der »Verwirklichung« des Gehalts dieser Norm zu schließen. Dem liegt die begriffsrealistische Vorstellung zugrunde, der Gehalt eines normativen Ideals (das als »Begriff« von empirischen Unsauberkeiten gewissermaßen ›gereinigt‹ ist) lasse sich Eins zu Eins und top down in die Realität übertragen. Diese Metaphysik suggeriert, in der Geltung einer Norm sei ein »Geltungsüberhang« (2010: 224f.) ›gespeichert‹ und warte nur darauf, auf die Welt ergossen zu werden. Das ist allerdings ein juridischer Kurzschluss: Das Gelten des Tötungsverbots etwa bedeutet keineswegs, dass nicht mehr getötet wird. Es bedeutet lediglich, dass Tötung rechtlich geahndet und bestraft wird. Freilich würde die Geltung einer Norm erlöschen, wenn sich niemand mehr an sie hielte; doch sie hält zuvor reichlich Verstöße aus (Luhmann 1972). Das Gelten einer Norm schließt Zuwiderhandlungen gerade nicht aus, sondern reguliert diese. Wie es um die Gesellschaft wirklich steht, ist darum nicht schon an ihren Normen abzulesen. Es gibt keinen ›Geltungsüberhang‹ etwa des Tötungsverbots, der erzwingen könnte, dass irgendwann einmal niemand mehr getötet wird. Die Norm regelt ›nur‹, wie mit Tötungsdelikten umgegangen wird. Das ist schon viel. Das spezifische ›Mehr‹ der Sprache der Normen lässt sich anders erklären: Die Theorie der Institutionen im Anschluss an Maurice Hauriou und Arnold Gehlen etwa hat artikuliert, dass zum Fungieren moderner Institutionen eine »stabilisierende Fiktionalität« ihrer Normen gehört – eine symbolische Dimension, die nicht in ihrer Funktionalität aufgeht (Rehberg 1998). Dass Normen überschießen (etwa indem Verfassungen nicht nur auf das jeweilige Land, sondern auf die Menschheit bezogen werden), gehört zu ihrem Fungieren. Dieses Überschießen muss keineswegs auf eine weitere Realisierung angelegt sein.28 Die symbolische Ebene des Rechts hat eine eigene Grammatik, sie bedient sich einer Universalisierung, die sich nicht bruchlos in empirische Sätze überführen lässt; folglich auch nicht in Sätze über künftige Empirie.
—————— 28 Umstritten ist, ob Menschenrechte Erweiterungen staatlicher Grundrechte sind (Benhabib 2008), oder eine eigene Grundlage haben (vgl. Menke/Pollmann 2007: 98ff.).
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ALTERNATIVE ANSÄTZE
Motivationspsychologisch könnte man den ›Überschuss‹ mit Nietzsche zudem als eine Art ›Gleitmittel‹ betrachten. Man kennt den Eifer des Renegaten oder Konvertiten: Wer aufhört zu rauchen, möchte fortan, dass alle aufhören zu rauchen. Das Individuum vollbringt dies nur, wenn auch alle anderen es tun – es wird dann nicht in Versuchung geführt und glaubt, einer »universalen« Norm zu folgen. Manchmal verleiht erst der Glaube an die Universalität einer Norm die Kraft, ihr zu folgen (s.o. zu George, II.1). Vielleicht gehört das Evozieren einer Universalität zur sprachlichen Logik der Ethik hinzu. Nietzsche widersetzte sich aus diesem Grund dem Konformitätsdruck der Moral: er wollte nicht den Normalitätsstandards der »Vielen« unterworfen werden, die ihn eingemeinden wollten (III.1). Nach diesen alternativen Auffassungen (von Marx, Nietzsche und der Institutionentheorie) lösen sich historisch verschiedene Normen ab, die alle einen Universalitätsanspruch haben, ohne dass einer von ihnen jemals voll ›eingelöst‹ würde. Dieser Überschuss bezeichnet nicht noch ›etwas‹ über das Geltende hinaus, sondern ist der Modus ihres Geltens. Es ist der systematische Unterschied zwischen der Ebene reiner Normen und dem Gebiet ihrer Umsetzung, dass der begriffliche Kosmos der Normen reiner und edler aussieht als die Praxis, die sie reguliert. Es wäre ein Missverständnis der Geltung von Normen, den Überschuss über die faktische Geltung der Norm hinaus noch irgendwie ›realisiert‹ sehen zu wollen.29 Wenn Anerkennung »stets schon gegeben« ist (Honneth 2010: 71, vgl. 2005: 60), schließt das nicht aus, dass in Anerkennungsbeziehungen Prozesse von Macht, Ausbeutung oder Unterdrückung am Werk bleiben. Freilich kann man Rechtsverstöße mit der verletzten Norm kritisieren. Aber was heißt es philosophisch, gegen einen Normverstoß diese Norm nochmals zu wenden? Macht es sich Honneth nicht zur Aufgabe, das hermetische Gelten einer Norm einzufordern und ein Zuwiderhandeln in jedem Fall auszuschließen? Wenn es einen Anspruch auf Anerkennung gibt, müsste dieser in der Konsequenz möglichst immer erfüllt werden. Hier dürften liberalere Geister unruhig werden, denn wie soll eine solch rigide Normenkontrolle institutionell verankert werden, ohne zu mehr Überwachen und Strafen zu führen? Kann Freiheit nicht gerade im selbstbestimmten Bruch einer Norm bestehen, und eine freie Gesellschaft sich im Nichtüberwachen und Tolerieren von Verstößen manifestieren?30
—————— 29 Geuss nennt dies »an attempt to invent an illusory discourse about imaginary metaphysical entities so as to defend highly inegalitarian social structures« (in Honneth 2008: 127). 30 Deshalb schildern Western die Ausbreitung der Staatlichkeit ambivalent (Pippin 2010).
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Ideologisierung durch Geltungsüberhang und das Fehlen radikaler Normen Die aufgeworfene Frage lautet also: Ist ›mehr Anerkennung‹ wirklich immer besser? Dafür wäre zunächst zu zeigen, dass die vorgefundenen Normen stets wünschenswerte Folgen haben. Das ist bei der Anerkennung nicht immer der Fall: Auch Machtbeziehungen sind Anerkennungsbeziehungen, Anerkennung kann daher auch Herrschaft verstetigen. »Wer anerkennt, beansprucht damit zugleich die Legitimation, anerkennen zu können. Sie wird vom Anerkannten anerkannt, wenn dieser die Anerkennung annimmt« (Voswinkel 2001: 99).
Dieses merkwürdige Schillern der Anerkennung ist durch die Übersystematisierung zu erklären. Für Honneth haben dieselben Normen zwei verschiedene Aufgaben: sie konstituieren eine Gesellschaft, indem sie Praxen und Institutionen stiften, und sie sollen zugleich über diese Kristallisation hinaustreiben, weil stets noch mehr in ihnen stecke. Begriffe werden hier gewissermaßen als Normenkonserven rekonstruiert, die einerseits Gesellschaften konstituieren, andererseits aber einen Rest zurückbehalten, aus dem sich dann Fortschritt speist.31 Diese Hegelianische Anlage bringt es mit sich, dass die normativen Prinzipien, die diese Anerkennung verlangen, sich nur teilweise empirisch nachweisen lassen, da die Normen zugleich die jeweiligen Sphären der Gesellschaft konstituieren (Institutionen kristallisieren sich um Normen herum) und über sie hinausgehen sollen. Ist beides zugleich möglich? Und wie wäre eine solch seiend-überseiende Norm zu denken und nachzuweisen? Die Theorie des normativen Überschusses sollte zeigen können, dass zwischen bereits realisierten und noch zu realisierenden Normen eine Identität besteht. Da die Anlage an einer Identitätsbehauptung hängt – die Normen, die die Gesellschaft kritisieren können sollen, müssen identisch sein mit denen, die ihr »immer schon« zugrunde liegen –, ist nach der näheren Beschaffenheit des Geltungsüberhangs zu fragen. Wie hat man ihn sich vorzustellen? Was ›hängt‹ wo, und wie wirkt sich dieses In-Möglichkeit-Sein praktisch aus? Fragen wir zunächst pragmatisch nach den Konsequenzen. Welche Gesellschaft würde eigentlich herauskommen, wenn der unterstellte »Geltungsüberhang« der Anerkennungsnormen realisiert wäre? Die Antwort ist so deutlich wie ernüchternd:
—————— 31 Die physischen Metaphern übernimmt Honneth von Habermas, der oft Worte wie Keilriemen, Druck, Kraft oder Schub benutzt.
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ALTERNATIVE ANSÄTZE
»Gerecht wäre es mithin, … eine bestehend Sozialsphäre in der Weise einzurichten und gesellschaftlich auszustatten, wie es die ihr zugrundeliegende Anerkennungsnorm jeweils verlangt« (Honneth 2010: 71f.).
Es bleibt beim abstrakten Sollen, nur dass es sich nicht mehr auf Handlungen von Individuen, sondern auf ein Entgegenkommen der Gemeinschaft bezieht, was den Spielraum der Individuen mehr und mehr zu beengen scheint. Es liefe abermals auf die angesprochene Normalisierung der historisch jeweils gültigen Norm hinaus. Dies ergäbe praktisch einen Hochglanzprospekt der bestehenden Gesellschaft: Rekonstruiert wird das bürgerlich-kapitalistische System, wie es sich vor »der Vernunft«, was immer das sei, rechtfertigen ließe.32 Doch wenn das Selbstverständnis dieser Gesellschaft noch dann als vernünftig beschrieben wird, wenn es in der vorgefundenen Realität als nicht völlig realisiert gilt, dann nimmt diese Theorie den vernünftigen Schein als die eigentliche Wahrheit der Gesellschaft. Eine Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse durch ihre Idealisierung war für frühere Kritische Theorien eine Ideologie.33 Die Theorie normativer Potentiale sollte also erklären können, warum sie nicht lediglich einer Ideologie aufsitzt. Nun hat Honneth eine eigene – und von der üblichen Theorie abweichende – Vorstellung davon, was eine Ideologie ist.34 Sie reagiert auf Kritiken an dem Modell und nimmt zur Kenntnis, dass faktische Praktiken der Anerkennung häufig »nicht eine Ermächtigung der Subjekte, sondern im Gegenteil deren Unterwerfung bewirken« (2010: 103). Gemeint ist die »Suggestion eines positiven Selbstbildes« (103). Die Erklärung für solche »falschen« (107) Formen der Anerkennung besteht nun gerade darin, einen Hiatus, eine »Diskrepanz zwischen evaluativen Versprechen und materialer Erfüllung aufzufinden« (108, cf. 129). Was nun aber ist der Unterschied zwischen einem normativen Potential, das noch nicht verwirklicht ist, und einem evaluativen Versprechen, das noch nicht material erfüllt ist? Sind dies nicht nur verschiedene Worte für dasselbe Phänomen? Würde das nicht bedeuten, dass Honneths Theorie der Ideologie seine eigene Theorie beträfe?
—————— 32 Ein Anschlussprojekt dreht sich folgerichtig um den Begriff der Rechtfertigung. 33 Auch bei Rawls (1971) formieren idealisierte Vorstellungen das Bild der »wohlgeordneten Gesellschaft« (dazu Henning 2005: 463ff. sowie unten in III.1). 34 Diese Praxis, sich Begriffe für eigene Argumentationszwecke zurechtzulegen, begegnet auch bei Begriffen wie Verdinglichung (Honneth 2008) oder Entfremdung (2010: 82). So legitim diese Praxis ist, so wenig leistet sie bereits eine Kritik der Tradition. So kann ich etwa »Vermittlung« anders bestimmen als Hegel, aber das ist noch keine Kritik an ihm. Hegels Theorie kann meiner gegenüber noch immer die treffendere sein.
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In diesem Aufsatz zur »Anerkennung als Ideologie« jedenfalls wird der Unterschied »zwischen einer falschen, ›ideologischen‹› und einer richtigen, moralisch geforderten Form der Anerkennung« (2010: 107) daran festgemacht, ob die zugesprochene Anerkennung auch material erfüllt wird. Doch was heißt eine Anerkennung »bis zur materiellen Erfüllung vollenden« (130)? Für Honneth heißt es, die »institutionellen Vorkehrungen« für eine Realisierung müssten »mitgeliefert« werden (130). Da die behandelte Sphäre an dieser Stelle vor allem der Wandel der Arbeitswelt ist, ist zweierlei zu fragen: Erstens, ist es wirklich die Aufgabe der die Anerkennung aussprechen könnenden Stelle, dafür zu sorgen, dass der oder die auf eine bestimmte Weise Anerkannt-sein-wollende auch tatsächlich die Anerkennung verdient? Das würde der Anerkennung gerade den Witz nehmen, da sie nach Honneths Aufteilung im Bereich der Arbeit verdient werden muss. Das Subjekt bezieht ein »Selbstwertgefühl« (127) aus der von anderen ausgesprochenen Anerkennung in der Arbeit gerade deswegen, weil diese nicht von jedem erreicht werden kann (in Honneths Worten: sie muss »kontrastiv« sein, 122). Es kann daher nicht die Aufgabe der die Anerkennung verteilenden Stelle sein, dafür zu sorgen, dass alle in ihren Genuss kommen. Das ist in keiner Anerkennungssphäre der Fall, sie alle verfahren auf ihre Weise diskretionär: Die Anerkennung als Familienmitglied erfahren nur Familienmitglieder – ein Nichtmitglied hat keinen Anspruch auf die Liebe einer Frau, die nicht seine Mutter ist.35 Die Anerkennung als rechtlich gleichgestellte Mitbürger kommt nur den Bürgern dieses Landes zu; und Anerkennung für eine bestimmte »Leistung« verdienen nur diejenigen, die diese auch erbringen. Genau das ist die moralische Grammatik der Anerkennung. Für eine andere Art von Gleichheit oder sonstige Veränderungen müsste eigens argumentiert werden. Zweitens weist die wachsende Ungleichheit der Gehälter, die mit den flachen Hierarchien zugleich eingezogen ist (Honneth 2010: 234), darauf hin, dass es in den von Honneth angesprochenen neuen Arbeitsformen, solange nur die Anerkennungspraxis betrachtet wird, gar kein institutionelles Defizit gibt. Es wird genau das realisiert, was die neue Anerkennungsnorm verspricht: höhere Löhne und Karriereaussichten für diejenigen, die es vermögen, sich in der neuen »Arbeitssphäre« (126) erfolgreich zu positionieren und zu inszenieren. Verklausuliert gesagt: Bezahlt (und anerkannt) wird nach Leistung. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass dies aus der Sicht
—————— 35 Das wird in Michael Hanekes Film Caché (2005) auf erschütternde Weise geschildert.
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der Anerkennungstheorie keine Ideologie ist. Es werden zwar Menschen exkludiert, die der neuen Norm nicht gerecht werden,36 und die Inkludierten zur Selbstausbeutung getrieben, doch es wird keine versprochene Anerkennung vorenthalten. Die Subjekte gelangen ja »gegebenenfalls« – nämlich wenn sie von sich aus die Bedingungen erfüllen – »zu einem höheren Grad an Selbstwertgefühl oder Selbstachtung« (127). Die Praxis entspricht der neuen Norm weitgehend. Daher müsste eine Kritik, die es ernst meint, die neue Norm kritisieren, aber dazu müsste sie ›extern‹ argumentieren. Die ideologischen Fälle lassen sich von der Anerkennungstheorie nicht als ideologisch ausweisen. Wenn es der Anerkennungstheorie jedoch nicht gelingt, richtige von falschen Verwendungen der Anerkennung zu unterscheiden, dann trifft der Ideologieverdacht nicht nur auf einige wenige Fälle, sondern auf die ganze Theorie zu. Das, was scheinbar nur Ideologien leisten – nämlich Individuen »in die herrschende Gesellschaftsordnung einzubinden« (2010: 103), das beansprucht ja, wie wir sahen, auch die Anerkennungstheorie. Schließlich geht es ihr darum, Individuen mit denjenigen Ressourcen auszustatten, die sie für diese Gesellschaft (für Familie, Staat und Markt) tüchtig machen. Wo sind also die »normativen Potentiale« geblieben, nach denen wir gefragt hatten? Im Ideologieaufsatz geschieht etwas merkwürdiges: Als echte Anerkennungsbeziehungen werden nur diejenigen ›anerkannt‹, die auch ›material erfüllt‹ werden. Das heißt aber, dass an dieser Stelle der normative Überschuss wieder eingezogen wird. Echte Anerkennungsbeziehungen sind nur noch solche ohne einen Überschuss der Sprache über die Handlungen; solche also, die nicht »in bloßen Worten« aufgehen (2010: 110). Sind denn Sprechakte keine Handlungen? Nur Anerkennung ohne Überschuss entgeht dem Ideologieverdacht. Wo Anerkennung bereits material erfüllt sind, lässt sich aber nur schwer ein »mehr« einfordern. Gerade dieses Mehr über die faktischen Verhältnisse hinaus wird ja als Ideologie gekennzeichnet. Entweder gilt das für alle Formen von Anerkennung, sofern sie einen normativen Überschuss haben, oder die Annahme eines normativen Überschusses verliert ihren Sinn. Trotz dieser Inkonsistenzen scheint die Annahme zu sein, dass kritikwürdige Verhältnisse stets in einem Zuwenig an Anerkennung bestehen, Kritik und Fortschritt folglich in einem mehr daran. Doch was, wenn mir
—————— 36 »Leistung« ist zwar keine neue Norm der Arbeit, aber dass sie über Hierarchien hinweg tatsächlich überprüft (und nicht zugeschrieben) wird, und dass eine Untererfüllung des »Plans« (der Leistungsabsprache) tatsächlich Konsequenzen hat, das ist durchaus neu.
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Anerkennung gewährt wird und ich dennoch etwas auszusetzen habe? Ist dieser Fall überhaupt vorgesehen? Geht das, was die Menschen einfordern, tatsächlich immer in »Anerkennung« auf? Anerkennung ist stets umkämpft und kann daher niemals »allen« Mitgliedern in einer Gesellschaft in gleicher Weise zukommen.37 Gerade die zusätzlich eingeforderte Anerkennung kann der bereits realisierten widersprechen: Im Falle der Arbeit etwa gibt es entweder gleiche Rechte oder Sonderzahlungen für einige wenige. Es lässt sich also bei genauerem Hinsehen ein Bruch zwischen verschiedenen Normen feststellen, der durch die Eingemeindung in das anerkennungstheoretische Narrativ überdeckt wird. Teilweise sind die neu eingeforderten Dinge folglich nicht mehr kontinuierlich mit den alten Normen – es bedarf für einen Fortschritt daher neuer¸ nicht länger »immanenter« Argumente Dafür gibt es Beispiele: Allgemeine Rechte der Bürger (civil rights) etwa sind keine einfache Verlängerung partikularer feudaler Rechte, sondern eine neue Art von Recht, die feudalen Rechten ein Ende macht. Die Gleichberechtigung von Frauen, um ein anderes Beispiel zu nennen, dehnt ebensowenig die Herrschaftsbefugnisse von Männern auf Frauen aus (wen sollten sie nun auch beherrschen – die Kinder?), sondern macht paternalen Herrschaftsbefugnissen generell ein Ende. In beiden Fällen sind die neuen Normen etwas qualitativ anderes. Vielleicht kann man dies mit interpretatorischem Aufwand im Nachhinein als »Kampf um Anerkennung« umdeuten. Aber warum sollte man dies tun? Der beschriebene Wandel wäre kein Fortschritt im Sinne eines ›more of the same‹,38 sondern ein Bruch zwischen verschiedenen Weisen, Anerkennung zu verstehen (was dem Wort die definitorische Kraft raubt). Für eine vorantreibende Kritik an Institutionen müsste Bezug auf Normen genommen werden, die noch nicht verwirklicht sind und daher mit der verwirklichten Norm nicht identisch sein können (Boltanski 2009 nennt das im Gespräch mit Honneth »radikale Normen«). So ist etwa das Ideal der sozialen Gleichheit keineswegs ein bloßer »Geltungsüberhang« der Rechtsgleichheit. Rechtsgleichheit schließt soziale Ungleichheit keineswegs
—————— 37 In diesem Sinne bereits Dubet 2008 oder Bedorf 2010. 38 Frauen wurden schon zuvor anerkannt – als Frauen (Honneth 2010: 106f.). Davon mehr zu fordern, macht wenig Sinn. Ebenso wenig konnten sie wollen, als Männer anerkannt zu werden. Gewollt war vielmehr, die Beziehung der Geschlechter auf eine grundsätzlich neue Ebene zu stellen – Gleichberechtigung. Für die alte Bundesrepublik waren solch neue Normen ›extern‹: sie hatten ein Vorbild im durch die Westbindung ›legitim‹ gewordenen Rollenverständnis der Frau in den USA, das sich z.B. in Filmen zeigte (etwa bei Liz Taylor in Hot Tin Roof von 1958 oder Beverly Garland in Gunslinger von 1956).
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aus, sondern sichert und verstetigt sie in vielen Fällen. Ebensowenig geht sie aus der Familie hervor, die schon per Definition ›paternal‹ ist; noch aus dem Leistungsprinzip, welches die sozialen Ungleichheiten ebenfalls rechtfertigt. Die gar nicht so »feinen« Klassenunterschiede lassen sich durch das Anerkennungsmuster der Leistung jedenfalls nicht aufholen: im Gegenteil, sie nehmen wieder deutlich zu, obwohl die Arbeitszeiten der ›normal‹ arbeitenden Menschen zugleich länger und anstrengender werden. Eine Forderung nach sozialer Gleichheit müsste also entweder ›extern‹ begründet werden, was Honneth jedoch ablehnen dürfte, da die Normen »immanent« sein sollen und soziale Gleichheit noch nirgends enthalten ist. Oder sie wäre aufzugeben. Für letzteres finden sich einige Hinweise: An einer Stelle etwa kritisiert Honneth egalisierende Eingriffe des Rechts in die Eigenlogik von Familie und Markt (2010: 66). Gegen die zunehmende soziale Ungleichheit gibt es in der Anerkennungstheorie erstaunlich wenig Argumente. Für ›moralische Fortschritte‹ hat sie selbst wenig beizutragen. Greifen wir zu weiteren Verdeutlichen auf ein Beispiel aus II.2 zurück. Solange es der ›moral majority‹ der Zeitgenossen ungut erscheint, dass Männer eine intime Beziehung eingehen, so hätte eine Kritik daran als extern zu gelten. (›Unzucht zwischen Männern‹ war in der Schweiz bis 1942, in der Bundesrepublik gar bis 1969 verboten.) Haben sich hingegen gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften bereits eingebürgert, während normale Ehen immer häufiger geschieden werden, dann wäre es eine »immanente«, weil innerhalb zeitgenössischer Vorstellungen über Ehe verbleibende Kritik, zu verlangen, dass die Institution der Ehe auf diese Form des Zusammenlebens ausgedehnt werde. Diese rechtliche Gleichstellung wäre eine staatliche »Anerkennung« des moralischen Wertes dieser Lebensform, die sich gesellschaftlich ohnehin bereits etabliert hat. Aus der Sicht des Rechts kann man das »moralischen Fortschritt« nennen: das Rechtsinstitut der Ehe hat durch die vielen Scheidungen an Verbindlichkeit verloren, aber durch die Erfassung gleichgeschlechtlicher Paare an Geltungsumfang hinzugewonnen. Wie das Beispiel zeigt, erspart die Abweisung »externer« Kritik es dem Kritiker, sich allzusehr zu exponieren. Eine immanente Kritik muss lediglich benennen, was in der Lebenswelt ohnehin bereits gelebt und gedacht wird, nur (rechtlich, familiär oder gesellschaftlich) noch nicht ganz ›anerkannt‹ wird. Dafür bedarf es allerdings keiner ausgedehnten Beweisführung, es genügt ein Sinn für Zeitströmungen. Nun könnte das Fehlen dieser Dimension beabsichtigt sein. Honneth, der seine eigenen Themen stets in einer engen Auseinandersetzung mit der
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Gegenwartsphilosophie entwickelt, verdankt diese Abweisung externer Kritikmodelle seiner Beschäftigung mit dem Kommunitarismus, vor allem mit Michael Walzer (1990; 1991). Dieser hatte einen Zusammenhang behauptet zwischen Kritikformen, die sich über die Zeitgenossen erheben, und politischen Formen von Elitismus und Despotismus. Externe Maßstäbe liefen Gefahr, »ein elitäres Sonderwissen zu reklamieren, das leicht zu manipulativen Zwecken missbraucht werden kann« (Honeth 2000b, 73). Kritiker sollten es vermeiden, »ihrer eigenen Gesellschaft gegenüber so fremd« zu bleiben wie etwa Foucault, Gramsci oder Marcuse (77; eine anfechtbare Auswahl: Hatten nicht gerade diese drei eine große Breitenwirkung?). Honneth folgert daraus nun: »jede normative Kritik … setzt immer schon eine gewisse Affirmation derjenigen moralischen Kultur voraus, die in jener Gesellschaft vorherrscht: denn ohne eine solche Identifikation mit dem Werthorizont der kritisierten Kultur wäre der Kritiker gar nicht in der Lage, etwas als einen sozialen Missstand zu identifizieren, was auch von seinen Zeitgenossen potentiell als Unrecht wahrgenommen werden kann« (Honneth 2000b: 73; vgl. 2007: 59f.).
Immanent heißt hier also: immanent im Denken über die Gesellschaft, das zu einer Zeit verbreitet ist. Praktisch bleibt nach alldem offen, mit welchen theoretischen Mitteln es zu kritisieren wäre, wenn es trotz gewährter Anerkennung in den jeweiligen Bereichen zu einer bestimmten Zeit noch zu problematischen Verhältnissen kommt. Die Annahme, mit einer vollzogenen Anerkennung auf der Grundlage jeweils geteilter Werte sei »normativ« bereits alles gelöst, ist entweder verfrüht, oder sie vergisst zu zeigen, was erst zu zeigen wäre, dass es nämlich nur bestimmte Formen der Anerkennung sind, auf die diese Theorie insgeheim abzielt. Wenn aber eine Anerkennung als sozial »Gleiche« gemeint ist, als eigenständige Personen oder nicht-auszubeutende Kooperationspartner (so in 2011a, 352), dann müsste allererst für diese Gleichheit, Eigenständigkeit und Nichtausbeutung argumentiert werden, da sie gerade nicht »immanent«, d.h. realisiert sind. Etwas weiteres kommt hinzu. Gesellschaftlich geltende Werte inhaltlich zu rekonstruieren und als Grund ihrer eigenen Geltung anzugeben ist noch kein Hinweis darauf, dass Punkte, über die weitgehende Einigkeit besteht, auch berechtigt oder wert sind, verteidigt zu werden. An dieser Stelle vermisst man eine eigenständige Begründung und kritische Prüfung gesellschaftlich vorgegebener Normen. Dass die beschriebenen Gemeinschaften solche sind, in denen bereits Werte wie Freiheit und Gleichheit herrschen, in denen intakte Familien, ein ›freier‹ Markt und Rechtsstaatlichkeit gege-
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ben sind, das setzt Honneth voraus. Damit ließe sich ein älterer Vorwurf von Apel (1988) gegen Richard Rorty verlängern: es gibt hier keine Begründung von Normen. Es ist stets schon vorausgesetzt, dass sie gelten. Sie können nur dann »rekonstruiert« werden, wenn sie bereits etabliert sind.39 Doch dies ist kontingent. Angesichts der vielen Praxisformen, die gegen diese Normen verstoßen, braucht es inhaltliche Argumente für sie. Und was geschieht, wenn diese Werte selbst kritisiert werden sollen? Was, wenn eine ganze Gesellschaftsform zu kritisieren ist? Bei all diesen Fragen hilft der Geltungsüberhang nicht weiter. Erst eine weitere Dimension könnte innerhalb des Spektrums real existierenden Wertungen und Anerkennungspraxen den Unterschied zwischen erwünschten und unerwünschten Formen markieren. Genau dies geschieht aber nicht mehr. Es bedürfte gerade da, wo die geteilten Werte aufhören, eingehender Begründungen der Forderung eines moralischen Fortschritts. Wo diese fehlen, kann von einem Fortschritt nur noch deskriptiv die Rede sein. Was die Begründung angeht, begegnet also eine weitere Schieflage: »Begründet« wird nur dasjenige, was es schon gibt, nämlich bestehende Normen in bestehenden Institutionen – nur deswegen nämlich kann die Begründung »rekonstruktiv« vorgehen. Die entscheidenden Weiterungen hingegen, die es so noch nicht gibt, etwa die soziale Gleichheit (»allen ihren Mitgliedern«, 2001: 34, s.o.), werden gerade nicht begründet, obwohl gerade sie mit Sicherheit angefochten würden. Damit wird deutlich, dass an den entscheidenden Stellen Argumente fehlen; nämlich genau dann, wenn es in einer Gegenwart, die bereits von Anerkennung durchdrungen ist, weiterhin zu Phänomenen von Herrschaft und Ausbeutung oder Selbstausbeutung sowie zu deren ideologischer Rechtfertigung kommt; auch durch ein Vokabular der Anerkennung. Das ist kein Zufall, sondern folgt aus der metaethischen Anlage dieses Systems. Honneth legt sich auf einen »moderaten Wertrealismus« fest (2010: 116). Die Überlegung dabei ist folgende: Würde eine Anerkennung die anerkannten Werte erst konstruieren, so wäre es normativ nahezu willkürlich, wer welche Anerkennung für was verdienen würde. Es gäbe keine Überprüfungskriterien. Will man dies vermeiden, muss man unterstellen, dass die ausgesprochene Anerkennung auf wahrgenommene Werte ›in‹ den Anerkannten antworte, die bereits vor der Anerkennung existierten. Nur gibt es dabei ein Problem: Offensichtlich verändern sich die Wahrnehmungen
—————— 39 Im Gegensatz dazu verstehe ich »Rekonstruktion« nicht als Wiedergabe bestehender Konsense, sondern als Reformulierung von Argumenten der Tradition.
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solcher Werte historisch. Daher dürfe dieser Realismus kein ontologischer sein. Honneth benötigt also einen Realismus ohne Ontologie. Die zuzusprechende Anerkennung solle sich an einer Seinsgeschichte der Werte orientieren, demzufolge nur die Werte (zeitweilig) real sind, an die alle zu einer Zeit glauben. Das gleicht einer historisierten Konsenstheorie der Werte: »Hier scheint sich in der Tat kein anderer Ausweg anzubieten, als auf einen Wertrealismus zurückzugreifen, der mit dem Rest unserer ontologischen Hintergrundüberzeugungen nicht mehr vereinbar ist.40 Diese missliche Lage ändert sich freilich, wenn wir die Möglichkeit einräumen, dass derartige Werte lebensweltliche Gewissheiten darstellen, deren Charakter geschichtlichen Veränderungen unterliegen kann; es wären dann nicht unverrückbare, objektive, sondern historisch wandelbare Werteigenschaften, die wir an Personen (oder Gruppen) wahrnehmen können müssen, um auf sie im anerkennenden Verhalten richtig zu reagieren« (2010: 114).
Honneth postuliert damit ein historisches Sein idealer Annahmen. Der theoretische Konformismus, der »uns« die Annahme realer Werte verbietet, exemplifiziert das, was er beschreibt: er beruht seinerseits auf dieser epistemisch-moralischen Seinsgeschichte: Reale Werte, die die jeweilige Grundlage der historisch spezifischen Anerkennung darstellen, stellen für die Subjektive eine Art historischer »Schickung« (Heidegger) dar, und das scheint auch für die Denkbarkeit oder Nichtdenkbarkeit anderer Phänomene (der Ontologie der Werte) zu gelten. Eine »richtige« Anerkennung muss also diejenigen Werte zugrunde legen, die zu einer bestimmten Zeit eben gelten. Diese Position kann eine Petrifizierung zur Folge haben. Sogar wenn diese Werte Mutterschaft und Soldatenehre heißen,41 ist dagegen – versetzen wir uns nur »in die jeweilige Vergangenheit hinein« (106) – kaum etwas einzuwenden, da diese Werte eben damals »real« waren und ihre Anerkennung damit keine Ideologie (107): »Warum soll nicht der Sklave durch die Erfahrung, von seinen weißen Herren für die eigene Unterwürfigkeit geschätzt zu werden, zu einer Form von Selbstwertgefühl gelangt sein, die ihm zu einem gewissen Grad an innerer Autonomie verholfen
—————— 40 Die Absage an die Ontologie wird nicht aufgrund ausgeführter Argumente artikuliert, eher wird sie postuliert aufgrund eines theoretischen Gleichstroms: Die Annahme ist, dass ›wir‹ das ›heute‹ nicht mehr denken dürften, weil die relevanten Anderen es auch nicht tun. 41 Siehe die Bemerkungen über die »Wertschätzung, die der mutige, heroische Soldat genoss« (Honneth 2010: 106), die man fairerweise nicht kritisieren solle, solange »die Betroffenen selber« (107) das nicht täten. Hätte man sich 1968 daran gehalten, hätte es keine Proteste gegen die Väter gegeben; abgesehen davon, dass die Soldaten gar nicht die in erster Linie »Betroffenen« waren.
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hat? Und sind nicht die Frauen dadurch, dass sie als fürsorgende Mütter öffentlich Anerkennung fanden, partiell für jene Missachtung entschädigt worden, die ihnen durch die Vorenthaltung außerhäuslicher Rollen und Ämter zugefügt wurde«?
Die ›Wärme‹ der Anerkennung scheint an diesen Stellen ebenso wichtig zu werden wie die Frage, wie, als was und wofür genau jemand anerkannt wird. Honneth räumt zwar ein, dass die Nachwelt diese Praxen aufgrund veränderter Werte verurteilen kann (106). Allerdings hätten die Menschen selbst es damals nicht oder nur schwer tun können, und daher ist Honneth gegenüber dieser Art von ›externer‹ Kritik misstrauisch. Nun war der Umstand, dass Werte sich wandeln und damit relativ auf ihre Zeit sind, gerade der Grund für die Haltung des Subjektivismus – also der Annahme, dass es Werte nicht ›gibt‹, sondern sie lediglich subjektive Wertungen beschreiben, dass eine ontologische Sprache also auf Irrwege führt. Wenn Werte nur die Vorlieben bestimmter Menschen sind, muss ich Werten keine darüber hinausgehende Realität zuschreiben. »Werte drücken die Vorzugswürdigkeit von Gütern aus, die in bestimmten Kollektiven als erstrebenswert gelten und durch zielgerichtetes Handeln erworben oder realisiert werden können« (Habermas 1992: 311).
Der Vorteil dieser Konzeption ist, dass sie Individuen und Gruppen eine große Freiheit verschafft, abweichende Werte zu vertreten, denn es gibt in ihr kaum etwas, was selbstgemachten Werten entgegengehalten werden könnte (vielleicht ein Schädigungsverbot gegenüber Andersdenkenden).42 Dieser Vorteil stellt für Honneth jedoch theoriearchitektonisch einen Nachteil dar: wenn es offen bleibt, wer für was wie anerkannt wird, da die konstruierten Werte von der Theorie aus beliebig sind, lässt sich daraus kein System mehr bauen. Um die Gefahr einer Beliebigkeit zu vermeiden, braucht Honneth also etwas ›härteres‹ als bloß subjektive Präferenzen. Daher konstruiert er einen Mittelweg, demzufolge die Menschen an diese Werte nicht glauben, weil sie real sind, sondern sie real sind, weil vorgeblich ›alle‹ zu bestimmten Zeit an sie glauben (their esse is percipi). Dieser Mittelweg zwischen Wertobjektivismus und ontologiefreiem Subjektivismus möchte Vorteile kumulieren: Verbindlichkeit und historischer Wandel sollen in dem Modell enthalten sein. Doch das hat seinen Preis: Es kumuliert auch die Nachteile der jeweiligen Ansätze, die hier ineinandergeschoben werden. Lassen wir beiseite, dass dies den Konstruktivismus wiederholt, dem Honneth entgehen wollte: Werte sind real, weil
—————— 42 Zu subjektivistischen Wertkonzepte auch Krobath 2009: 43ff. und Werner 2002: 93ff.
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Menschen an sie glauben. Der Vorteil dieses subjektivistischen Modells allerdings, die Freiheit der Individuen vor einer Tyrannei öffentlicher Moralisierungen (legislating morality), wird gerade wieder preisgegeben. Denn wenn nur das Kollektiv der Konstrukteur seiner Werte sein kann, nicht aber ein Individuum, haben die Individuen oder Minderheiten diese Freiheit nicht mehr. Das Subjekt wird weiterhin normalisiert; nicht länger von objektiven Werten, sondern nun von hermetischen Wertegemeinschaften. Doch auch der Vorteil des objektivistischen Modells (des echten Wertrealismus) geht in der Synthese verloren: Mit dem Bezug auf Werte jenseits von subjektiven und historisch geformten Befindlichkeiten entfällt die unabhängige Korrekturinstanz, die von Platon bis Horkheimer die kritische Dimension des Philosophierens ausgemacht hatte: »Aufklären« kann nur derjenige wollen, der etwas zu sagen hat, was seinen Zeitgenossen nicht bereits präsent ist. Die einzig verbliebene korrektive Instanz bei Honneth sind die Urteile der anderen. Ihnen zufolge wäre ein Sokrates wohl immer im Unrecht.43 So hat diese Position aus zwei Gründen denjenigen Konformismus zur Folge, den Honneth selbst demonstriert (x »darf nicht« als y begriffen werden, heißt es z.B. in Honneth 2011a: 70): Subjekte haben gegenüber ihren ›Denkkollektiven‹ (Ludwig Fleck) kaum mehr epistemische Freiheiten, und auch für Außenstehende gibt es kaum mehr Möglichkeiten, die internen Bewertungspraxen der Kollektive zu kritisieren. Das ist ein hoher theoretischer Preis für eine Mittelposition. Zudem bleiben Fragen offen: Wie haben sich die Werte in so kurzer Zeit derart verändert können? Und woraus soll der sonst unterstellte Überschuss noch bestehen, wenn die historische »Realität« der Werte durch ihre »lebensweltliche Gewissheit« (114) konstituiert ist? Diese kann bei einem Überschuss sinnvollerweise gerade nicht gegeben sein, sonst wäre es kein Überschuss, sondern selbst schon realisierter Wert. Nimmt man den historischen Wert-Determinismus also beim Wort, hat das missliche Konsequenzen: Wir wären dann immer an diejenigen Werte gebunden, die – aus welchen Gründen auch immer – in unserer Gesellschaft gerade ›gelten‹.44 ›Extern‹ kann dann sogar das sein, was die Menschen selber glauben, wenn dies nicht von der Akademikerzunft als vernünftig bestätigt (anerkannt)
—————— 43 In der Verurteilung des Querulanten Sokrates waren sich Nietzsche und Sorel einig. 44 Man könnte unterscheiden zwischen »realisierten« (allgemein akzeptierten) und »verwirklichten« (material erfüllten, d.h. institutionell voll umgesetzten) Werten. Allerdings scheint die ›Realität‹ der Werte für Honneth bereits ihre zumindest teilweise ›Verwirklichung‹ (Institutionalisierung) vorauszusetzen.
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worden ist. Erstaunlicherweise nämlich ist für Honneth der Schluss von realen Ansprüchen »der Betroffenen« auf deren Rechtfertigungsfähigkeit ein »genetischer Fehlschluss« (2010: 84): Eine tatsächliche Artikulation politischer Ansprüche bleibe »bloß äußerlich« (2010: 83; cf. 86, 95, 101; 2000b: 115; 2003: 280f.). Äußerlich von was? Eine tatsächlich geäußerte Kritik kann ihrer eigenen Zeit schlecht äußerlich sein, sie ist ihr schon per Definition »immanent« (Kocyba 2011). ›Äußerlich‹ bleibt sie nur dem unterstellten Fachkonsens der Sozialphilosophen. »Den stummen Protesten der Beschäftigten, die gegen die Fremdbestimmung ihrer Tätigkeit aufbegehren, fehlt als solchen jener Zusatz an nachweisbarer Verallgemeinerbarkeit, der sie erst zu gerechtfertigten Maßstäben einer immanenten Kritik machen würde« (Honneth 2010: 88).45
Immanent bedeutete demnach weniger ›in‹ der Gesellschaft als in ihrer sozialphilosophischen – verallgemeinerten – Rekonstruktion. Doch warum werden »die Betroffenen« eigentlich als stumm dargestellt? Liegt der Mangel wirklich bei den Beschäftigen, oder nicht eher bei der Theorie, wenn sie den Protest der ›Subalternen‹ nicht wiederzugeben vermag (Neumann 2010: 124ff.)? Warum sind politisch artikulierte Ansprüche der Menschen solange nichts wert, wie sie nicht von der Philosophie lizensiert werden? In diesem theoretischen Konformismus meint das ›Externe‹ an einer Kritik also womöglich nur, dass sie den Horizont der eigenen Peers übersteigt. Darunter würden Theorien fallen, die vom Mainstream des Denkens abweichen; die eine weitergehende Kritik vielleicht begründen könnten, aber unter den als relevant betrachteten Theoretikern einer Zeit auf Ablehnung stoßen. Der- oder diejenige, der sie dennoch verträte, setzte damit die Anerkennung durch seine Fach- und Zeitgenossen auf’s Spiel. Das ist nun vielen derer so gegangen, die tatsächlich moralische »Fortschritte« vorbereitet haben: Von Sokrates über Galilei bis zu Rudi Dutschke. Hinweise auf einen theoretisch ›begründeten‹ Ausschluss Andersdenkender hatten wir bereits in Rawls’ späteren Schriften entdecken können (II.2). Nun entsteht zumindest der leise Verdacht, dass im Gewand der ›immanenten‹ Kritik eine ähnliche Kraft wirkt und Nonkonformisten in diesem Ansatz schlechte Karten haben. Das bringt uns wieder auf die Frage zurück, wie
—————— 45 Wie kann ein Aufbegehren stumm sein? Warum muss eine Kritik eigentlich schon vorab auf alle Menschen verallgemeinerbar sein? Und wer kann nach diesem Modell überhaupt entscheiden, wann etwas auf diese Weise ›gerechtfertigt‹ wäre?
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hier eigentlich Individualität begriffen wird. Denn Individualismus und Konformität lassen sich philosophisch nur schwer zusammenbringen.
Welches Selbst in der Selbstverwirklichung? Wie steht es also um die Individualität? Nehmen wir kontrafaktisch an, der postulierte Geltungsüberhang sei verwirklicht: ein jeder ist in Familie, Staat und Markt auf die gewünschte Weise »anerkannt« und damit ein fröhliches Vollmitglied der Gesellschaft. Gemalt wird damit ein ideales Subjekt im idealen Kapitalismus: Subjekte werden in eine bürgerliche Kleinfamilie geboren, von ihr umsorgt und marktfertig gemacht; sie werden in eine Nation akkulturiert, der sie dienen und die sie in einer Art ›Austausch‹ als Rechtsträger anerkennt, und sie finden ihre Selbstbestätigung, indem sie sich Jahrzehnte auf dem Arbeitsmarkt (den Honneth als einen Ort der Solidarität und Kooperation modelliert, wo man Beiträge zum Gemeinwohl ableistet) für andere aufopfern. Das alles dürfen sie dann als ihre »Selbstverwirklichung« begreifen. Die Individuen werden durch Familie, Staat und Markt bestimmt. Sie können also noch immer dominiert, entfremdet und verdinglicht sein; und sie können in alldem fremdbestimmt – nicht sie selbst – sein. Wie gesehen, verklammern sich in Honneths politischer Philosophie Gerechtigkeit und Selbstverwirklichung äußerst eng (sie verweisen »zirkulär aufeinander«, 2011a: 40). Eine gerechte Gesellschaft ist für Honneth eine, in der allen Menschen eine Selbstverwirklichung möglich ist. Die Bedingungen buchstabiert er mit Hegel institutionell aus. Selbstverwirklichung wird in dieser Systemanlage mit Ausdrücken wie »Verwirklichung ihrer Selbstbestimmung« oder »Bedingungen der individuellen Autonomie« (2001, 34) allerdings stets nur eingekreist. Offen bleibt in dieser Formulierung, ob von zwei verschiedenen Phänomenen die Rede ist, oder ob beide Ausdrücke das gleiche bezeichnen – und falls ja, was genau dann die terminologische Verschiebung eigentlich bezeichnet. Wenn in den austauschbaren Zitaten Selbstbestimmung dasselbe meint wie Autonomie, gilt das dann auch für die Ausdrücke »Bedingung« und »Verwirklichung«? Gehen wir einmal davon aus, dass die Bereitstellung von Bedingungen einer Verwirklichung ein erstrebenswertes Ziel ist. Was lässt sich genaueres über die »Selbstverwirklichung« finden? Der Schwerpunkt von Honneths Erläuterungen liegt erstaunlicherweise nicht auf diesem für ihn zentralen
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Begriff.46 Inspiriert ist er von Hegel, der – anders als Kant und Fichte – das »Reich der verwirklichten Freiheit« nicht bereits durch die Kantische Moral und ein republikanisches Recht gewährleistet sah (2010: 35), sondern noch weitere Wirkungsbereiche individuellen Lebens und Schaffens mit in die Rechtsphilosophie einholen wollte. Verwirklicht sei diese Freiheit erst dann, wenn auch »konkrete Institutionen« (39) erfasst würden.47 Diese Behauptung kann auf zwei Weisen gelesen werden: Einerseits könnte man sie, ohne Hintergedanken, einfach als die bessere, weil reichere Theorie lesen (Honneth bescheinigt Hegel die »weitaus umfassendere Absicht«, 2010: 36): Wer mehr erfasst, hat aus dieser Sicht Recht. Das scheint auch Honneths Interpretation zu sein. Andererseits könnte man gerade darin ein Selbstmissverständnis der Philosophie sehen: wenn eine postmetaphysisch aufgeklärte philosophische Theorie gar nicht beanspruchen kann, die Totalität des Wirklichen zu erfassen, würde der Versuch, es dennoch zu unternehmen, zu misslichen Konsequenzen führen: Erstens könnte eine Abhängigkeit der Wirklichkeit von der Theorie unterstellt werden (was zu einer idealistischen Unterschiebung primär geistiger oder moralischer Ursachen für gesellschaftliche Zustände führt), und zweitens würde der reale Freiraum der Individuen damit gerade nicht erweitert, sondern vielmehr eingeengt. Was die Individuen zu tun und zu lassen haben, wäre nämlich schon vorab theoretisch festgelegt. Tatsächlich gibt es Textbefunde, die solche Bedenken provozieren. So gibt Honneth dem ersten Hegelkritischen Verdacht Nahrung (dass sich das Sein nach dem Denken, die Wirklichkeit nach der Philosophie zu richten habe), wenn er nahe legt, in der modernen Welt gebe es unangenehme Dinge, die nicht auf reale Ursachen zurückzuführen seien, sondern auf ein falsches oder zu einseitiges Denken. Honneth nennt dafür »Zustände der Apathie oder des Unausgefülltseins« (2001, 72) oder »Pathologien der
—————— 46 Siehe Honneth 1992: 143, 280, 339 u.ö.; 2001: 35ff., 79ff.; 2002; 2010: 35ff.; 2011a: 39ff., 72ff., 234, 255 u.ö. 47 Honneths Kritik an Hegel beläuft sich 2001 darauf, neben Hegels drei Sphären von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat (47) weitere Kandidaten wie die Freundschaft zu nennen (108f.; vgl. 2011a: 237ff.). Er möchte noch umfassender vorgehen. Das berührt sich in der Tat mit perfektionistischen Konzepten (2010: 40), etwa den Listen von für ein »gutes Leben« notwendigen Gütern. 2011a unterscheidet Honneth eine »individualistische oder eine eher kollektivistisch« Form der Selbstverwirklichung (75), scheidet dann aber die individualistische von J.S. Mill aus (ohne sie abzulehnen), weil sie nur eine »individualistische Konzeption sozialer Gerechtigkeit« erlaubt (76, cf. 483). Diese gibt noch nicht die »sozialen Bedingungen der Verwirklichung reflexiver Freiheit« (78) an, um die es Honneth in dieser erneuten Reaktualisierung Hegels geht (80).
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rechtlichen Freiheit«, die im »Unvermögen der Akteure … liegen, den Sinn der ihnen durch das Recht eröffneten Handlungsspielräume angemessen zu verstehen« (2011a: 160; vgl. 206). Nur der philosophisch aufgeklärte Leser also kann den Pathologien der modernen Welt entkommen. Der Anspruch ist sogar noch größer: Eine Norm entwickelt sich nicht aus einer Praxis, sondern umgekehrt: erst aufgrund »gemeinsam für richtig gehaltener Grundsätze« (moralischer Prinzipien oder Normen) kann sich eine Praxis »überhaupt entwickeln und verstetigen« (Honneth 2010: 71). So wird die ganze moderne Gesellschaft begriffen als »Resultat einer Ausdifferenzierung von drei Anerkennungsformen« (2011a: 41; 2003: 163). Wenn die Normen allerdings nicht aus der Praxis stammen, sondern diese erst begründen, so fragt sich, wo sie wiederum herkommen. Hier lauert ein eigentümlicher Kollektivismus: Quelle der Normen kann weder ein reflektierendes Subjekt sein, da ein solches für Honneth immer schon »intersubjektiv« bestimmt ist; noch kann es die Natur sein, da es mit Hegel gelte, sich von »Bedürfnissen, Begierden und Trieben« zu distanzieren (Honneth 2001: 23, vgl. 40, 88; 2010: 259). So bleibt nur die Gemeinschaft, die sich auf bestimmte Werte festgelegt hat.48 Das gilt es einzusehen. Wenn heute »konzeptuelle Verwirrung« herrsche (Honneth 2001, 73), so könne allein die richtige Philosophie diese Verwirrung therapeutisch auflösen. Das hat wie bereits bei Hegel eine stark affirmative Schlagseite. Man könnte überspitzen: Die Welt muss nur anders interpretiert werden. »Mit der Einsicht in die Tatsache, dass die moderne Lebenswelt bereits ein ganzes Spektrum an freiheitsverbürgenden Interaktionsmustern enthält, die zusammengenonmen ›Sittlichkeit‹ genannt werden, ist mithin in einem präzisen Sinn eine therapeutische Funktion verknüpft: Die Leser und Leserinnen sollen sich in dem Augenblick, in dem sie die angebotene Deutung eines sittlichen Gehalts ihrer eigenen Lebenswelt akzeptieren, zugleich von der irreführenden Einstellung befreien, die sie bislang an der Verwirklichung ihrer Freiheit gehindert haben« (2001, 74f.; vgl. 2007: 32).
Die so verstandene Verwirklichung von Freiheit scheint mit dem Aufgeben weitergehender Ansprüche einherzugehen. Auch der zweite Hegelkritische Verdacht (dass eine allzu umfassende Theorie die Freiheitsspielräume der Individuen nicht ausweitet, sondern einengt) bekommt in diesen Texten einige Nahrung: Hier nämlich ist durch »universell gültige Aussagen«
—————— 48 So verstandene Werte leisten nicht, was Honneth von ihnen erwartet; nämlich diejenige Praxis zugleich kritisieren, deren Ausdruck sie sind. Konstituieren Werte eine Praxis, dann konstituieren sie diese Praxis. Man kann diese nicht nochmals mit ihnen kritisieren.
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(2001, 40) festgelegt, wie und wo eine individuelle Entwicklung sich zu vollziehen habe. Mehr noch, nicht nur das Was, sondern auch das Wo, Wann und Wieviel (die Verortung und der Rang) dieser Tätigkeiten ist so einzuhalten, wie die Theorie es vorsieht, sonst drohen die »Pathologien« – Einseitigkeiten von zu viel Moral oder zu viel Recht –, die der Philosoph nicht dulden mag (2001, 49ff.; 2010: 42f.; 2011a: 157ff., 206ff.). Wenn all das schon feststeht, so fragt sich, wo eigentlich in und neben all dem noch Individualität stattfinden soll. Wo wäre das Selbst der Selbstverwirklichung zu suchen? Dieses Selbst wäre jedenfalls, in den Worten von David Riesman (1956), kein innen-, sondern ein außengeleitetes; eine Person, die ihre Wertmaßstäbe vorrangig den jeweils gängigen Moden entnimmt. Folglich wäre die Selbstverwirklichung eigentlich keine Verwirklichung eines Selbst, sondern die Instantiierung der Gruppe im Subjekt (des types im token) – sprich: eine Subjektivierung im Sinne von Foucault: »Als Metapher für diesen außengeleiteten Typ wählt Riesman die ›Radaranlage‹ ([1956] 41), da er sich ausgestattet mit einem feinen Sensorium und einer unspezifischen, latent immer bereiten Anpassungsfähigkeit ständig nach den Signalen und Ansprüchen der ihn umgebenden Umwelt richte [s.o. zum theoretischen Konformismus, C.H.]. In hektischer Konkurrenz, immer auf dem Sprung, gehen bei seinem Kampf um Anerkennung [!] Selbstbildnis und Lebensstil in den wechselnden Forderungen der jeweils sozial relevanten Gruppen und den populären Trends wie Moden auf« (Ebeling 2000: 199).
Ähnlich wie David Riesman hat auch Isaiah Berlin früh vor derartigen Verständnissen von Subjektivität gewarnt, denn hier werde die Freiheit des Individuums mit seiner Akzeptanz durch die Zeitgenossen verwechselt. Ihm zufolge habe Anerkennung nichts mit individueller Freiheit zu tun, sondern eher mit der Verankerung im Kollektiv. Der Wunsch nach ihr sei verantwortlich dafür, dass Diktatoren Unterwerfung als Freiheit verkaufen könnten. Der Wunsch nach Auszeichnung kitzele den Ehrgeiz der Untergebenen in ein Anerkennungs- und Unterwürfigkeitsverhältnis hinein: »Dieses Verlangen nach Status und Anerkennung zielt jedoch nicht eigentlich auf die Freiheit des Individuums, weder im ›negativen‹ noch im ›positiven‹ Sinne des Wortes. … Der Wunsch nach Anerkennung zielt aber auf etwas anderes: auf Einheit, auf besseres Verständnis, auf Integration von Interessen, auf ein Leben in gemeinsamer Abhängigkeit und gemeinsamer Aufopferung. Erst die Verwechslung zwischen dem Wunsch nach Freiheit und dem intensiven, universellen Streben nach Status und Verständnis … macht es möglich, dass Menschen, die sich der Autorität von Oligarchen oder Diktatoren unterwerfen, behaupten können, dies mache sie auf irgendeine Weise frei« (Berlin 1958: 240f.).
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Eine ähnliche Kritik an Honneths zu weit gehendem Intersubjektivismus formulierte in jüngster Zeit der Autonomie-Theoretiker John Christman (2009a; b): Ihm zufolge ist Autonomie eine Kompetenz der Individuen, die gerade dann wichtig sei, wenn Ihnen soziale Anerkennung fehle. Christman zeigt das empirisch anhand von Emigranten, denen Anerkennungskulturen versagt bleiben und die dennoch autonom zu handeln in der Lage sind. Soziale Anerkennung könne daher kein Definiens individueller Autonomie sein, wie Honneth unterstelle. Sie sei eine hilfreiche Zugabe, die die Ausübung individueller Autonomie befördern könne, aber nicht selbst mit Autonomie zu verwechseln. Joel Whitebook (2001) schließlich pointierte, dass Honneths Argumentation an der Individualität vorbeischieße. Diese gehe in der Positionierung des Subjekts im sozialen Raum und der Wertschätzung durch andere nicht auf; sie beweise sich erst in der selbstbestimmten Absetzung von solchen Vorgaben. Ontologisch müsse man daher ein Selbst annehmen, dass mehr ist als seine sozialen Zuschreibungen. In der Auseinandersetzung mit Whitebook biegt Honneth (2010: 280ff.) den Vorwurf, bei ihm fehle das Selbst, in denjenigen um, man müsse ein »irrationales«, »vorsoziales« und »sozialfeindliches« Selbst voraussetzen. Er weist diese Annahme dann anhand von säuglingspsychologischen Überlegungen zurück: heute gehe man anstelle von frühkindlichen Allmachtsphantasien nur noch von einem »Verschmelzungszustand« aus, der bereits »intersubjektiv« sei (294). Ein Subjekt außerhalb der intersubjektiven Bezüge könne nicht gedacht werden. Gegen Whitebooks Annahme, in jedem Individuum sei trotz allem »ein untilgbarer Rest an … Impulsivität« anzutreffen (290, vgl. Turner 1976) und diese sei für eine Kritik an den Institutionen elementar – auch an denen, die in Honneths Theorie die Selbstverwirklichung allererst garantieren – , sagt das erst wenig aus. Der Einwand bleibt bestehen (daher die harsche Entgegnung auf diese Antikritik bei Whitebook 2006). Es ist also genauer hinzusehen. Nur auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass Honneth verschiedene Formen von »Verwirklichung« äquivok benutzen kann – verwirklicht werden soll nicht nur ein Selbst, sondern auch der freie Wille, verschiedene Freiheiten (individuelle wie soziale) oder die Vernunft; desweiteren die institutionelle Garantie, dass Individuen ihre verschiedenen »Aspekte« ausbilden können, was für Honneth bedeutet: eine gerechtere Gesellschaft.49 Solche Äquivokationen sind nur möglich,
—————— 49 Die Terminologie ist unscharf: neben Selbstverwirklichung ist synonym von Verwirklichung der individuellen Freiheit, der Vernunft, des freien Willens oder der Autonomie
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wenn ein Individuum nicht als individuelle Totalität, sondern als Instanz und Statthalter des Allgemeinen begriffen wird. So spricht Honneth in einem Atemzug von »Persönlichkeit« und von gesellschaftlicher »Stabilität« (2011b: 40f.). Nur unter dieser Voraussetzung sind »Verwirklichung der Vernunft«, »Verwirklichung der Freiheit« und »Selbstverwirklichung« austauschbar. Nur ein Selbst, das sich mit den allgemeinen Strukturen der Vernunft restlos identifiziert, kann sich bereits in jenen als verwirklicht und frei betrachten. (Es soll es schon in der Wortwahl nicht sein, sondern sich selbst als derartig betrachten können.) In der Terminologie von Manfred Frank (1986, 25) wäre dies nur ein besonderes, aus Allgemeinem abgeleitetes Selbst, nicht aber ein individuelles, als eigene Entität zu begreifendes. Wie hat man sich diese »organisierte Selbstverwirklichung« (Honneth 2002) vorzustellen? Durch die gesellschaftliche Schaffung und Verstetigung von Anerkennungskulturen werden Selbstschätzung, Selbstvertrauen und Selbstachtung der Individuen gewissermaßen garantiert. Die Individuen bilden dann, vereinfacht gesagt, die Effekte dieser Institutionen in sich aus. Wenn Subjekte in dieser Weise rein intersubjektiv begriffen werden, diese Intersubjektivität aber nicht nochmals nach (ihr »äußerlichen«) Normen theoretisch bewertet werden soll, dann liegt der Schluss nahe, dass mit der sozialen Konstitution der Subjekte – mit der Nutzung der bereitgestellten Möglichkeiten – bereits eine volle Selbstverwirklichung der Subjekte vorliegt. Auf diese Lesart sensibilisiert, fallen weitere Formulierungen Honneths ins Auge. Dazu gehört die eingangs zitierte Zusammenfassung des eigenen Standpunkts. Hier wird klar benannt, was genau die sozialen Bedingungen für das Subjekt leisten sollen, daher sei die Stelle in Gänze zitiert: »Zu den positiven Selbstverhältnissen des Selbstvertrauens und der Selbstachtung, die durch Anerkennung in den Sphären der Liebe und des Rechts gewonnen werden, tritt nun ein weiterer Persönlichkeitsaspekt hinzu: Mit der Erfahrung, für individuelle Talente und Fähigkeiten anerkannt zu werden, erwächst das praktische Selbstverhältnis der Selbstschätzung. Es sind diese drei positiven Selbstverhältnisse, die es Individuen erlauben, sich als bedürftige, vernünftige und wertvolle Personen zu begreifen« (2011b: 40f.).
Erst durch eine erfolgreiche Anerkennung in den drei Bereichen Familie, Staat und bürgerliche Gesellschaft erhalte ein Individuum also die Ressourcen seines wirklichen Seins (seiner Verwirklichung). Zugleich soll diese
—————— die Rede (2001: 17, 20, 29, 31, 36, 45 und 56). 2010 heißt es »Selbstachtung« (75, 77), »Verwirklichung sozialer Freiheit« (47) oder erneut »Ermöglichung individueller Autonomie« (58). Auch hier heißt Selbstverwirklichung Verwirklichung der Freiheit (35ff.).
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Subjekttheorie auch die Gesellschaft erklären, denn nur solche Individuen können eine solche Gesellschaft (die sie selbst ermöglicht) bilden: »Die Möglichkeit, diese aus Anerkennung hervorgehenden Persönlichkeitsaspekte zu etablieren, ist eine normative Voraussetzung dafür, die Einrichtung einer Gesellschaft als gerecht bezeichnen zu können. Die Gewährleistung und Institutionalisierung dieser Anerkennungsprinzipien ist demnach entscheidend für die gesellschaftliche Integration und Stabilität, denn die Unterstützung der sozialen und politischen Ordnung durch die Gesellschaftsmitglieder hängt, ebenso wie die Erbringung funktional erforderlicher Leistungen, von der Aussicht auf reziproke Anerkennung ab« (2011b: 40f.).
Wer durch Arbeit, Liebe und Recht Selbstschätzung, Selbstvertrauen und Selbstachtung erworben (bzw. von den anderen erhalten) hat, ist für Honneth bereits ein volles Subjekt – und damit selbstverwirklicht. Allein darin also besteht die Verwirklichung: »in jeder der drei Teilsphären ist das Subjekt jeweils mit einem Mehr seiner eigenen Persönlichkeit einbezogen« (Honneth 2001, 99). Individuen werden so zu Funktionsstellen des Systems. Doch wenn Individuen sich mithilfe von Familie, Staat und Markt als »bedürftige, vernünftige und wertvolle Personen« begreifen (2011b: 40), so ist das, wodurch sie definiert werden und sich definieren, das Bedürfnis der Familie, die Vernunft des Staates (2001, 99) und der Wert des Marktes. Dass es Werte außerhalb des Marktes (oder gegen ihn), dass es Vernunft außerhalb des Staates (oder gegen ihn), dass es Bedürfnisse außerhalb der Familie (oder gar gegen sie) geben kann, scheint in dieser Konzeption vielleicht nicht in der Intention, wohl aber in der systematischen Ausführung zu entfallen. Ein solches »für sich selbst Gattung« werden (Hegel in Honneth 2010: 32) war das erklärte Ziel von Hegel, und genau diese Selbst-Losigkeit war das berechtigte Einfallstor bereits der frühen Hegelkritik – bei Kierkegaard, Bruno Bauer, Stirner und Marx. Die Werte, die blieben, waren aus der Sicht der älteren kritischen Theorie als entfremdet (der Wert des Staates ist ein bloß abstrakt-allgemeiner), verdinglicht (der Marktwert ist kommodifiziert) und autoritär (vor allem in der Familie) hinterfragt worden. Davon ist in dieser Konzeption wenig übrig. Vor allem fehlt in dieser Konzeption das Selbst, das die Rede von Selbstverwirklichung einmal gemeint hatte. Dieses Fehlen hat hohe theoretische Kosten. Es handelt sich um eine Bildung allein in die Allgemeinheit hinein – in diejenige »Allgemeinheit«, die kontingenterweise das soziale Umfeld des Subjektes bildet. Das ist ein Erbe des Konformismus Hegels: »Was das Individuum betrifft, so ist oh-
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nehin jedes ein Sohn seiner Zeit« (Hegel Werke 7: 26). Eine andere, weitergehende Allgemeinheit, die ein Bezugspunkt gerade auch individueller Befreiungsbestrebungen sein könnte, würde weiterer Kriterien bedürfen, die aber gerade abgewehrt werden – im Falle aristotelischer Strategien als zu naturalistisch (Honneth 2000a), im Falle Kantianischer Strategien als zu universalistisch und damit »äußerlich« (Honneth 2010: 95, 83). Auch auf Wert- oder Kritikquellen wie eine bereits individuell zugänglich Vernunft (eine individuelle ›moral authority‹), eine »innere Natur« oder gar eine religiöse Offenbarung möchte dieser Ansatz bewusst verzichten. Damit manövriert sich diese Kritische Theorie in eine äußerst schwache Position hinein. Denn es ist gerade das nicht in diesen sozialen Vereinnahmungen aufgehende Selbst, welches die Widerstände gegen eine zu enge Integration in die Sozialsysteme hervorbringt, auf welche diese Theorie sich doch zugleich berufen möchte.50 In dem idealistischen Strudel, in dem sich Normen und Gesellschaft gegenseitig verschlingen, verschwindet das qualitative Verständnis von Individualität. Es gibt keinen Begriff eines »Selbst« jenseits seiner allgemeinen sozialen Bedingungen mehr. Philosophisch ist ein Unterschied zu machen zwischen der quantitativen Individualitätskonzeption, die bis ins 18. Jahrhundert Individuen als Repräsentanten des Allgemeinen begriff, und einem qualitativen Verständnis von Individualität, das jedes Individuum als je eigenes begreift.51 Mit dem Verlust der qualitativen Dimension von Individualität verliert der Begriff »Selbstverwirklichung« seinen Sinn – gemeint ist lediglich eine Akkulturation in die bestehenden Institutionen hinein, welche den Individuen verschiedene Formen von Bestätigung verspricht. Das mag für integrierte Einzelne angenehm sein, sagt aber weder gesellschafts- noch individualitätstheoretisch oder »normativ« allzu viel aus. Honneth kann in der oben zitierten Stelle zwischen »Bedingung« und »Verwirklichung« der individuellen Autonomie (2001: 34) also deswegen so bruchlos changieren, weil das, was er als Selbstverwirklichung bezeichnet, nur die Verwirklichung der Bedingungen meint. Damit stellt Honneths Theorie ein Beispiel für eine Theorie der Selbstverwirklichung ohne Selbst dar.52
—————— 50 Anders als in Honneth 2011a, wo institutionalisierte Normen im Vordergrund stehen, wollte Honneth sich zuvor zumindest auch auf reale Protestbewegungen berufen. 51 Vgl. Simmel 1901 und Frank 1991: 67ff. Klinger 1995: 117 ff. bezieht sich dafür auf Schleiermachers Monologe (1800 bzw. 1821), die gegen die Tradition die »Eigentümlichkeit des Einzelwesens« stark machen. 52 Angespielt wird damit auf die »Ich-Psychologie ohne Ich« bei zur Lippe 1975: 176ff. (siehe die Rechtswissenschaft ohne Recht bei Leonard Nelson 1919).
IV. Gesellschaft, Natur und Selbst im traditionellen Perfektionismus
Wir haben in vorangehenden Kapiteln verschiedene Mängel diagnostiziert. Zunächst sahen wir im Durchgang durch das Werk zentraler Autoren, dass es im philosophischen Perfektionismus der Gegenwart drei Fehlstellen gab: Es fehlten eine Philosophie der Natur, eine Theorie der Gesellschaft und eine Ontologie des Selbst. Damit einhergehend hatten wir auf der normativen Seite entsprechende Schwächen entdeckt: Ohne eine Philosophie der menschlichen Natur steht die Freiheit philosophisch auf schwachen Füßen, ohne eine Sozialtheorie die Gleichheit, und ohne eine Vorstellung eines unverwechselbaren Selbst, das es zu sein gilt, die Idee individueller Entfaltung (Kap. II). Ein weiterer Durchgang durch konkurrierende Ansätze, und zwar solcher, die selbst eine gewisse Nähe zum Perfektionismus aufweisen, konnte uns kaum weiterhelfen (Kap. III). An dieser Stelle soll uns nun eine Rückversicherung aus ›der‹ philosophischen Tradition weiterhelfen. Denn es hat lange Zeit perfektionistische Gedankengänge gegeben; angefangen von Aristoteles über eine christliche Interpretation und Veränderung dieses Denkens bis zu neuzeitlichen Wiederanknüpfungen an säkulare Theorien menschlicher Entwicklung etwa bei Leibniz und Christian Wolff, Mill und Marx oder John Dewey und Karen Horney. Uns ist es nun in drei Unterkapiteln um je eines dieser Sets zu tun. Wir beginnen mit der Gesellschaft, da sie für Menschen das ›Erste‹ ist, dem sie ausgesetzt sind – die Entdeckung einer natürlichen Dimension, die über das Soziale hinausreicht, sowie der Tiefendimension der eigenen Individualität setzen eine gewisse Sozialisierung bereits voraus. Den Anfang macht eine Vergegenwärtigung der radikalen Aufklärung des 18. Jahrhunderts (IV.1). Es geht darum, zentrale Stationen eines solchen Denkens, das perfektionistisch angeleitet und zugleich egalitär orientiert war, nach einer systematischen Verklammerung dieser beiden Ebenen abzusuchen. Zu Wort kommen nach Rousseau die beiden Linien seiner Aneignung: einer moderaten, ebenso nicht-perfektionistischen wie nicht-egalitären Lesart bei
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TRADITIONELLER PERFEKTIONISMUS
Kant wird der egalitäre Perfektionismus von Helvétius, d’Holbach, Adam Ferguson, Condorcet und William Godwin gegenübergestellt. Ein zweiter Anlauf unternimmt dasselbe mit den Themen der Natur und der Freiheit (IV.2). Als ›Gegengift‹ zu Martha Nussbaums Naturschwund (siehe III.2) dient zunächst eine Neulektüre von Alasdair MacIntyre, welche Natur und Ethik wieder enger aneinanderzubinden gestattet. Was das speziell für eine perfektionistische Freiheitstheorie heißen kann, zeigen die Analysen von John Stuart Mill und John Dewey. Gerade die Verankerung der Freiheit jenseits von sozialen Konstruktionen erlaubt es, der Gesellschaft Grenzen zu setzen – auch staatliche. Kapitel IV.2 schließt darum mit einer Verteidigung der »positiven Freiheit« ab. Ein drittes Kapitel entwirft gegen institutionalistische Vereinnahmungen, die gerade im Gewand des Perfektionismus einhergehen können (siehe III.2), eine Selbstverwirklichung-mit-Selbst (IV.3). Konsultiert werden dafür zentrale Figuren dieser Alternativlinie: Otto Gross, Karen Horney und Abraham Maslow. Schließlich wird in einem Kehraus der Zusammenhang aller drei Momente noch einmal im Werk von Karl Marx aufgewiesen (IV.4).
1. Gesellschaft und Gleichheit: Egalitärer Aufklärungsperfektionismus Beim Zusammenklang der Worte »Gleichheit« und »Perfektionierung« kommt sogleich eine zentrale Figur des 18. Jahrhunderts in den Sinn: JeanJacques Rousseau. In der Tat stammen von ihm wichtige Anregungen für das Denken der ganzen damaligen westlichen Welt. Doch wir werden sehen, dass der egalitäre Perfektionismus sich besser anhand anderer Autoren rekonstruieren lässt; vor allem solcher, die kritisch auf Rousseau reagiert haben. Der sozialtheoretisch informierte egalitäre Perfektionismus, der nun rekonstruiert wird, ist kein ›aufgewärmter‹ Rousseauismus, sondern eher eine Rousseau-Verarbeitung. Gleichwohl müssen wir zunächst die losen Fäden nachzeichnen, die Rousseau hinterlassen hat, um dann zu zeigen, zu welchem philosophischen ›Gewebe‹ sie weiterverarbeitet wurden. Wir werden untersuchen, wie der Faden bei so unterschiedlichen Denkern wie Kant, d’Holbach, Helvétius, Ferguson und Condorcet weitergesponnen wurde und sich dabei trotz einiger Unterschiede eine Konzeption herausschält, die sich mitnehmen lässt.
GESELLSCHAFT UND GLEICHHEIT
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Rousseau an der Schwelle zur Gleichheit Rousseau gilt als Egalitarist sowie als ›Erfinder‹ des Begriffs der perfectibilité, der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit. Beides ist nicht ganz korrekt: Vor Rousseau hatte Turgot diesen Terminus in Paris mit großer Breitenwirkung bereits seit 1748 eingeführt; zumindest mündlich,1 so dass Rousseaus Passagen bereits als Reaktion darauf zu lesen sind. Und Heinrich Meiers Kommentars zum zweiten Diskurs von 1984 hat die Sicht verbreitet, dass Rousseau gar kein Fürsprecher einer sozialen Gleichheit sein wollte – vielmehr sei die zentrale »theoretische Einsicht« die in die »fundamentale Ungleichheit« der Menschen gewesen (XIII): »Die Konzeption des Diskurses über die Ungleichheit selbst setzt von allem Anfang an eine fundamentale Ungleichheit voraus« (Meier in Rousseau 2008: XII). Auch andere Deutungen haben in Rousseau keineswegs den Egalitaristen sehen wollen, sondern vielmehr einen Vertreter der Ungleichheit, zumal zwischen den Geschlechtern: Rousseau habe den Frauen Mitschuld an der Degeneration der Gattung gegeben und in seiner Gegenwelt – dem Clarens aus der Neuen Heloise oder bereits im Emile – eine strikte Trennung der Erziehung wie der Lebenswelt der Geschlechter eingeführt (Winston 2005: 53ff.). Das ist mit dem modernen Egalitarismus (den Winston eher in Helvétius und Buffon verkörpert sieht) unverträglich. Nun hat Rousseau diese natural-inegalitäre Tendenz keineswegs geheimhalten wollten – in der Tat beginnt sein zweiter Diskurs von 1755 mit den Worten: »Ich sehe zwei Arten von Ungleichheit unter den Menschen: Die eine nenne ich die natürliche oder physische Ungleichheit, weil sie von der Natur eingeführt worden ist. … Die andere könnte man eine sittliche oder politische Ungleichheit nennen, weil sie von einer Art Übereinkunft abhängt« (Rousseau 1755/1996: 59).
Nach dem, was wir bei Nietzsche und Rawls sahen, liegt die Vermutung nahe, dass eine sich auf Natur zurückbesinnende Sozialphilosophie keinen Anlass haben wird, etwaige von Natur aus bestehende Ungleichheiten auszubügeln oder zu kompensieren (wie die Luck-Egalitaristen), sondern ihnen eher gesellschaftlich zum Durchbruch verhelfen will. Rousseau deutet so etwas in verschiedenen Texten an, etwa wenn er seinen AufklärungsGenossen vorwirft, sie hätten das Volk in die Wissenschaft und Kunst eingeführt, obwohl es keine Anlagen dazu hätte:
—————— 1 So Baum/Neumeister 1989, 239 (sie zitieren eine Condorcet-Biographie von 1863); Rohbeck im Vorwort zu Turgot 1990: 54 (er zitiert ein Dictionnaire von 1876) sowie Benner/Brüggen 1996. Hornig 1980 und Behler 1989, 67ff. finden es schon bei Leibniz.
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»Was sollen wir von diesen Kompilatoren denken, die in indiskreter Weise die Pforten der Wissenschaften aufgebrochen und in ihr Heiligtum eine unwürdige Masse hineingeführt haben, während es doch zu wünschen wäre, dass man alle, die es in der Literatur nicht weit bringen können, gleich beim Eintritt abgewiesen hätte« (Rousseau 1750: 59)?
Setzt das nicht voraus, dass sich hinter der ungleichen Erziehung (es geht um die Frage, wer künstlerisch erzogen werden soll und wer nicht) ein unterschiedliches Talent steckt? Dass also eine natürliche Ungleichheit den Anfang macht? Die Annahme eines unterschiedlichen Talents stünde deutlich im Kontrast zur Annahme der »gleichen intelligenten Begabung der Menschen«, den der fleißige Leser Karl Marx (MEW 2, 137f.) der französischen Aufklärung zuschrieb. Sogar im zweiten Diskurs über die Ungleichheit heißt es bei näherem Hinsehen nicht, dass es gar keine soziale (»moralische«, also menschengemachte) Ungleichheit mehr geben soll, sondern vielmehr nur, dass diese der vorangehenden, doch kleineren natürlichen Ungleichheit entsprechen sollte – eine Proportionalitätsthese zwischen natürlicher und sozialer Ungleichheit, die wohl auch ein Nietzscheaner unterschreiben könnte: »Es folgt ferner, dass die moralische Ungleichheit, die einzig durch das positive Recht autorisiert wird, überall dort in Widerspruch zum Naturrecht gerät, wo sie nicht der physischen Ungleichheit entspricht« (Rousseau 1755: 198f.).
Man könnte als das Ziel dieser Kulturkritik eine Position sehen, die die kulturellen Verfeinerungen gerade deswegen ablehnt, weil sie die ›natürlichen‹ Unterschiede zwischen den Menschen verfälscht und überspielt. Schließlich kritisiert Rousseau, »dass die persönlichen Eigenschaften zwar die Quellen der drei übrigen Arten der Ungleichheit sind [Reichtum, Rang, Macht, CH], dass jedoch der Reichtum als die letzte Art schließlich alle übrigen gegenstandslos macht« (Rousseau 1755: 192f.).
Hinter dem – vielleicht nicht politisch gemeinten, jedoch ›denkerisch‹ eingelösten – Motto Zurück zur Natur könnte ein Versuch stehen, natürliche Unterschiede (wieder) zur sozialen Geltung kommen zu lassen. Die Frage ist also: Was ist mit dieser »natürlichen« Gleichheit oder Ungleichheit genau gemeint? Nimmt man Rousseau wörtlich, so findet man hier keine klare Linie. So heißt es einerseits im Emile: »Im Naturzustand besteht eine tatsächliche und unzerstörbare Gleichheit« (1762a, 487). Demzufolge gibt es also gar keine natürliche Ungleichheit. Anders aber schreibt Rousseau im Gesellschaftsvertrag, der im selben Jahr erschien:
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»der Grundvertrag hebt nicht etwa die natürliche Gleichheit auf, sondern setzt im Gegenteil an die Stelle der physischen Ungleichheit, die die Natur unter den Menschen hätte hervorrufen können, eine sittliche und gesetzliche Gleichheit, so dass die Menschen, wenn sie auch an körperlicher und geistiger Kraft ungleich sein können, durch Übereinkunft und Recht alle gleich werden« (Rousseau 1762b, 57).
Rousseau setzt hier einer natürlichen Ungleichheit eine Rechtsgleichheit entgegen. Eben diese Rechtsgleichheit wird wiederum im Emile hinterfragt: »Im bürgerlich-gesellschaftlichen Zustand gibt es eine rechtliche Gleichheit, die trügerisch und leer ist, weil eben die Mittel, die zu ihrer Erhaltung bestimmt sind, dazu dienen, sie zu zerstören, und weil sich die öffentliche Macht mit dem Stärkeren vereint, um den Schwachen zu unterdrücken« (Rousseau 1762a, 487 f.).
Es ist also nicht nur unsicher, ob Rousseau von einer natürlichen Ungleichheit ausgeht, auch die Bewertung der rechtlichen Gleichheit unterscheidet sich in verschiedenen Schriften. Daher kann man eine ›echte‹, d.h. konsistent Rousseauische Auffassung zur Gleichheit nur konstruieren. Es macht immerhin Sinn zu sagen, dass Rousseau zwar ›kleine‹ natürliche Ungleichheiten zugibt – Rousseau nennt z.B. das Alter. Aber erstens wird behauptet, dass diese durch ›die‹ Gesellschaft vergrößert und diese größeren Unterschiede dann fälschlich als natürliche ausgegeben würden. Und zweitens wird dies kritisch gesehen, was durchaus (gegen Meier) auf das Ziel einer egalitäreren Gesellschaft hindeutet – egalitär nicht nur in rechtlicher, sondern auch in sozialer und ökonomischer Hinsicht. Versuchen wir diese Deutung durch einige Stellen plausibel zu machen. Die These, dass die vorliegenden sozialen Unterschiede nicht natürlich genannt werden können, sondern sozial sind, bringt Rousseau etwa hier zum Ausdruck: »Es ist tatsächlich nicht schwer zu beweisen, dass viele Unterschiede der Menschen für natürlich erachtet werden, obwohl sie doch eigentlich nur von den Gewohnheiten und den verschiedenen Lebensweisen herrühren, welche die Menschen in der Gesellschaft angenommen haben. … Man wird finden, dass der Unterschied von Mensch zu Mensch im Naturzustand weit geringer gewesen sein muss als in der Gesellschaft und dass die vom Menschengeschlecht eingeführte Ungleichheit die natürliche weit übertreffen muss« (Rousseau 1755: 157f.).
Der Unterschied ist dabei nicht nur geringer gewesen, da ihm die ›biopolitische‹ Ausformung durch Markt und Staat, von der später (190f.) die Rede ist, noch fehlte.2 Er habe außerdem auch »gar keinen Einfluss gehabt«
—————— 2 Biopolitik deshalb, weil Rousseau die sozialen Unterschiede zuweilen ›natürlich‹ nennt: »So wächst mit der Vereinigung unmerklich die natürliche Ungleichheit« (1755: 173).
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(159), d.h. sich nicht in eine politische oder soziale Ungleichheit übersetzen lassen, da hier ein jeder Mensch die Freiheit gehabt habe, sich dem Einfluss des vermeintlich Stärkeren zu entziehen. Die These ist dann, dass Markt und Staat (»die Einführung der Gesetze und der Eigentumsrechte«, 190) diese Ungleichheit wesentlich gesteigert habe. Die These wird sogar noch stärker, wenn Rousseau die Menschen als gänzlich ›denaturiert‹ ansieht (er spricht z.B. von einer »Ansammlung erkünstelter Menschen …, die in der Natur nicht vorkommen«, 197). Denn dies ist nicht nur Disproportionalität, sondern es gibt gar kein Verhältnis mehr zwischen natürlicher und sozialer Ungleichheit. Wenn ein junger, gebrechlicher König über einen erwachsenen Krieger herrscht, dann korrespondiert dem physisch nichts mehr. Das Politische stellt das Physische schlicht auf den Kopf. Rousseau steht diesen Steigerungen und Verfälschungen der kleinen natürlichen Unterschiede durch die großen sozialen nun doch kritisch entgegen: »Hieran erkennt man deutlich, was von jener Ungleichheit zu halten ist, die heutzutage bei allen zivilisierten Völkern herrscht. Wie man die Ungleichheit auch immer erklärt: Es läuft dem Naturgesetz zuwider, dass ein Kind über einen Greis befiehlt, ein Kluger unter der Leitung eines Schwachsinnigen steht und eine Handvoll Menschen im Überfluss lebt, während die ausgehungerte Menge das Notwendigste entbehrt« (Rousseau 1755: 199).
Der Gesellschaftsvertrag ist zumindest in Sachen Gleichheit als Antwort darauf zu verstehen (was beim Thema der »natürlichen Freiheit« schwieriger fallen dürfte).3 Der Vertrag fordert ja nicht nur eine rechtliche Gleichheit (1762b, 57), sondern darüber hinaus auch eine politisch zu erzeugende ungefähre soziale und ökonomische Gleichheit – als Verlängerung der natürlichen und Ermöglichungsbedingung der rechtlichen Gleichheit: »was nun die Gleichheit anbelangt, so ist unter diesem Wort nicht zu verstehen, dass alle eine durchaus gleich große Kraft und einen genau ebenso großen Reichtum besitzen, sondern dass die Gewalt jede Gewalttätigkeit ausschließt und sich nur kraft der Gesetze und der Stellung im Staate äußern darf,4 dass ferner kein Staatsbürger so reich sein darf, um sich einen andern kaufen zu können, noch so arm, um sich verkaufen zu müssen. … Weil der Lauf der Dinge stets auf der Zerstörung der Gleichheit ausgeht, deshalb muss gerade die Kraft der Gesetzgebung stets danach trachten, sie aufrechtzuerhalten« (Rousseau 1762b, 83).
—————— 3 Rousseau fordert im Gesellschaftsvertrag die völlige Aufgabe der Freiheit eines jeden (1762a, 50, 54), zuvor hieß es, derlei sei »mit der Natur des Menschen unvereinbar« (45). 4 Die Bedingung der Selbstaufgabe ist »für alle gleich« (1762a, 50) – eine Rechtsgleichheit.
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Diese politische Kritik der sozialen Ungleichheit, die schon bei Aristoteles begegnet,5 nehmen die kulturkritischen Schriften bereits vorweg: Hier ist es zwar noch nicht die Fähigkeit zur Selbstregierung eines Gemeinwesens, sondern eher die Auswirkung auf den Charakter der Einzelnen, die die Kritik antreibt; doch der Gegenstand der Kritik (der Sozialkritik hier, der ›Künstlerkritik‹ dort) ist derselbe. Es ist die soziale Ungleichheit: »Der Luxus drückt den Bauer zu Boden und richtet den Bürger zugrunde, nur um eine Menge Diener und Schurken zu ernähren, die er selbst zu Dienern und Schurken gemacht hat« (1755: 217, Anmerkung IX).
In Sachen Gleichheit lässt sich Rousseau also, entgegen der anti-egalitären Attitüde, egalitaristisch drehen. Es ist ein republikanischer Egalitarismus, wie ihn Elisabeth Anderson (1999) gegen Rawls stark gemacht hat. Aber wie sieht es mit dem Perfektionismus aus? Rousseaus Gedanke der perfectibilité meint nicht, wie wir es von Aristoteles’ Idee der spezifisch menschlichen »Vollkommenheit« kennen, die Einübung in bestimmte Lebensformen und Tugenden, um damit zu einem erfüllten Leben zu kommen, das andere – Vorbilder – zuvor schon ähnlich gelebt haben. Es meint vielmehr die bloße Möglichkeit, sich selbst und seine Umwelt zu verändern. Diese stellt weder einen Drang dar, der sich von allein durchsetzt, noch ein normatives Ziel, dass der Philosoph der Wirklichkeit gegenüberstellen müsste – vielmehr ist es eine Möglichkeit, die zufällig freigelegt wurde: »Wir haben gesehen, dass sich nichts selbst entwickeln konnte, weder die Fähigkeit, sich zu vervollkommnen, noch die gesellschaftlichen Tugenden und alle übrigen Potenzen des natürlichen Menschen. Dazu mussten viele äußere Ursachen und Zufälle zusammentreffen, die ebensogut hätten ausbleiben können« (1755: 159).
Ist sie aber einmal entwickelt, dann entwickelt sie alles weitere – weshalb sie auch als »Fähigkeit, Fähigkeiten zu entwickeln« umschrieben wird (Benner/Brügger 1996: 20): »Diese Eigenschaft entwickelt nach und nach, mit Hilfe der gegebenen Verhältnisse, alle übrigen Fähigkeiten« (1755: 133). Diese perfectibilité ist nun wesentlich schwieriger zu ›retten‹, denn allzu deutlich ist, dass für Rousseau mit dieser transformativen Meta-Fähigkeit das Übel der korrupten Gesellschaft überhaupt erst möglich wurde: »Es wäre traurig für uns, wenn wir sehen müssten, dass diese vorzügliche und fast unbegrenzte Fähigkeit des Menschen die Quelle seiner Leiden sei, dass sie ihn im Laufe der Zeit aus dem ursprünglichen Zustand reiße, in dem er seine Tage ruhig
—————— 5 Z.B. Aristoteles, Pol V.1 . Rousseau stellt dem zweiten Diskurs ein Aristoteleszitat voran.
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und unschuldig hätten dahinfließen können, dass sie ihn schließlich zum Tyrannen seiner selbst und der Natur gemacht habe« (134).
Es ist nicht ganz klar, was das für Rousseau eigentlich heißt. Da er keine philosophische Systematik hat, wollte er die Unstimmigkeiten womöglich gar nicht auflösen, wenn auflösen bedeutet, es begrifflich aufzurollen und durch Unterscheidungen abzufangen. Es handelt sich um ein praktisches Problem, das durch Unterscheidungen nicht aus der Welt ist. Doch das macht es nicht einfacher, denn welche ›Praxis‹ könnte hier abhelfen? Rousseau wollte nicht ganz zurück zur Natur, wenn das heißen soll: »auf die Bäume zurück« (wie Franz Joseph Strauß es Jutta Dittfurth einmal vorhielt). Wohl aber hatte Rousseau gesellschaftliche Veränderungen im Sinn; und dabei spielte eine Rückbesinnung auf die fragile menschliche Natur eine wichtige Rolle. Die perfectibilité ist ein zartes Pflänzchen, das es vor der überall drohenden Korruption zu beschützen gilt, denn diese geht mit nichts Geringerem einher als der Vergesellschaftung selbst. Man kann die Vergesellschaftung nicht vermeiden, man kann sie nur zu steuern suchen. Doch das ist eine vertrackte Aufgabe, zumal wenn es selbstbestimmt geschehen soll. Diese verwickelte Problemstellung kann verständlich machen, dass es ausgerechnet im Emile, einem Buch, das eigentlich eine »negative Erziehung« vertritt,6 zu einer erziehenden Überwachung und Lenkungsabsicht kommt; und dass ausgerechnet der Gesellschaftsvertrag, der eine Staatsform finden will, in der jeder »so frei bleibt wie vorher« (1762b, 49), protototalitaristische Züge aufweist (der Einzelne hat, anders als bei Hobbes, keine Handhabe mehr, gegenüber dem Gemeinwillen eine abweichende Meinung zu vertreten), da »jeder, der dem Allgemeinwillen den Gehorsam verweigert, von dem ganzen Körper zum Gehorsam gezwungen werden soll« (53). Das ist im Grunde eine theoretische Bruchlandung. Bevor wir weitergehen und schauen, wie diese explosive Mischung von Gedanken weiter verarbeitet wurde, gilt es innezuhalten und zu fragen: Gibt es nicht alternative Lesarten, die uns erlauben, diese Diagnose von Widersprüchen und Ausweglosigkeiten zu überschreiten und Auswege aufzuzeigen? Wenig überzeugend sind in dieser Hinsicht zwei Arbeiten, die die »perfectibilité« im Titel tragen: Rainer Bolle etwa deutet die perfectibilité moralisch und meint, nur eine der Freiheit förderliche ›Verbesserung‹ sei tatsächlich eine Vervollkommnung (Bolle 2012, 115). Das verlängert eine
—————— 6 »Eines der besten Mittel zur rechten Bildung ist es, alles so lange wie möglich herauszuzögern« (Rousseau 1762a, 480, vgl. 454)
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Kantianisierende Rousseau-Lesart, wie sie etwa Ernst Cassirer vorgeschlagen hat, und erinnert zudem an die Strategie von Joseph Raz, der die Autonomie nur dann für wertvoll hält, wenn sie zum Guten genutzt wird. Aber warum sollte man die perfectibilité gegen den Textbefund moralisch aufladen? Dies bringt Rousseaus Punkt, dass gerade die Vervollkommnung selbst die Degeneration bewirkt, um seine Pointe. Sie ist nicht normativ als ›das Gute‹ von dem Sündenfall zu trennen: »Fasst man das zusammen, so wird man in der Gründung und Vervollkommnung der Gesellschaft die Ursachen finden, weshalb die Zahl der Menschen immer geringer wird, wie mehrere Philosophen festgestellt haben« (Rousseau 1755: 217; vgl. 1750: 51 u.ö.).7
Diese ›Dialektik‹ nicht der Aufklärung, sondern der Perfektibilität, die Bolle hier verfehlt, wird von Ernst Behler wie folgt auf den Punkt gebracht: »Rousseau ist dabei zweifellos ein wichtiger Vorläufer [der Romantik, CH] gewesen, zumal sich die Idee der Perfektibilität bei ihn in jenem antagonistischen Verhältnis von Leidenschaft und Vernunft vorgebildet findet, das sich nicht als linearer Fortschritt der Vernunft denken lässt, sondern gleichzeitig [!] die Verluste, die Verstümmelungen und Entartungen, die von der Vernunft verursacht wurden, zum Vorschein bringt« (Behler 1989: 61).
Ebenso wenig wie Bolles Kantianisierende Moralisierung überzeugt die Hegelianisierende ›Aufhebung‹ der perfectibilité, wie sie Ursula Reitemeyer verfolgt. Ihr zufolge bilden die philosophisch schwer zu vermittelnden Ebenen von Natur, Vernunft und Geschichte »im Prinzip der Perfektibilität [eine] aufgehobene Einheit« (1996: 108). Es handele sich um eine naturphilosophische Grundlegung der Geschichtsphilosophie, in der die Perfektibilität als »das die Geschichte ermöglichende Prinzip« jedoch selbst nicht mehr historisch sein kann, sondern nur natürlich – aber das »eben nur hypothetisch bzw. theoretisch« (109).8 Ich bezweifle, dass Rousseau bereits die neukantianische Fragestellung teilte, wie Geschichte angesichts der Natur überhaupt denkbar oder wie in wissenschaftstheoretischer Hinsicht »Pädagogik als Wissenschaft möglich« sei (111). Als Rousseauexegese bringt es wenig, bestehende Widersprüche in die höhere Einheit eines
—————— 7 Das ist keine Aussage über Demographie, sondern über Entmenschung (oder Entfremdung der Menschen von sich selbst) – einer der angesprochenen Philosophen ist Diogenes von Sinope, der mit einer Laterne auf dem Markt nach Menschen suchte. 8 Die perfectibilité sei »zwar nicht ungeschichtlich, aber doch ahistorisch« (so auch Rohbeck in Turgot 1990: 55).
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Begriffes ›aufzuheben‹, wenn dieser Begriff die Spannung allererst ausgelöst hat. Wie kommen wir an dieser Stelle also weiter?
Rousseau mit Aristoteles Eine bemerkenswerte Rousseaustudie von Jonathan Marks (2005) räumt gleich mit mehreren überkommenen Deutungsschablonen zu Rousseau auf.9 Marks zeigt auf, dass Rousseau keineswegs der elliptische Extremist ist, für den die gängige Rezeption ihn hält: Manche Rezipienten halten Rousseau entweder seine Verherrlichung eines vorsozialen Naturzustandes aus dem Zweiten Diskurs vor (einen nonkonformistischen Anarchismus); oder seine Auslieferung der Bürger an den Gemeinwillen im Gesellschaftsvertrag (einen republikanischen Proto-Totalitarismus). Beide Positionen sind denkbar radikal: eine völlige Gesellschaftslosigkeit hier, eine totale Vergesellschaftung dort. Nur lassen sich beide Positionen unmöglich zugleich vertreten. Als hermeneutisch sensibilisierter Leser rekonstruiert Marks dagegen einen anderen Rousseau, für den bereits der Naturzustand problematisch ist. Damit verlagert sich die Ursache für die ›Zerrissenheit‹ des Menschen von der Gesellschaft zurück in die menschliche Natur. Der Vorteil dieser Lesart ist, dass man die radikale Trennung zwischen Natur und Gesellschaft nicht mitmachen muss. »Original man is not original« (2005: 25). Damit wird zugleich angedeutet, dass Rousseau selbst es kaum aporetisch gemeint haben könnte (37).10 Diese Lesart würdigt Rousseau als Theoretiker einer »natürlichen Künstlichkeit« des Menschen, um mit Helmuth Plessner zu sprechen. »Denn die Natur des Menschen ist Kunst« (Herder 1793: 96). Dieses Interpretament hatten z.B. Adam Ferguson und d’Holbach eigentlich gegen Rousseau ausgelegt (s.u.). Der Blick zurück birgt also eine Überraschung – entgegen den expliziten Versicherungen Rousseau ist es kein historischer Zufall, der die Menschen aus ihrer natürlichen Ruhe getrieben hat. Die Unruhe ist für Rousseau vielmehr Teil der Natur, und zwar der äußeren (in Form von Widrigkeiten) Natur11 wie der inneren (etwa zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, Eigenliebe und Mitleid, siehe Behler).
—————— 9 Eine »rettende Kritik« im Sinne Benjamins: Rousseau wird »recovered« (Marks 2005: 118). Gemeint sind u.a. die Lesarten von Cassirer, Leo Strauss und Charles Taylor. 10 Tatsächlich so gemeint hat es später – gegen Freud – Otto Gross, s.u., Kap. IV.3. 11 »Doch bald zeigten sich Schwierigkeiten, die der Mensch überwinden zu lernen musste« (Rousseau 1755: 162).
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Damit lassen sich Natur und Unruhe nicht länger als gut und böse auseinanderlegen. Doch auch der Blick nach vorn bringt Erstaunliches zutage: Marks’ Relektüre legt eine Unterscheidung frei zwischen Aussagen zum »Urzustand«, in dem es bereits problematische Züge des Menschen gibt, und zur »wahren Natur« des Menschen, die sich erst als Ziel einer gelingenden Erziehung einstellt. Marks liest Rousseau als perfektionistischen Teleologen: »human nature consists in an end or perfection … Rousseau’s understanding of nature is teleological« (Marks 2005: 38). Diese Re-Teleologisierung lässt sich belegen, wenn Rousseau – wie Aristoteles – von einer Erreichbarkeit spezifischer Vollkommenheiten spricht: »Nun waren all unsere Fähigkeiten entwickelt … und der menschliche Geist hätte beinahe die Stufe der Vollkommenheit erreicht, deren er fähig ist« (1755: 174). Diese Deutung ist ungewöhnlich – immerhin steht die »perfectibilité« meist für eine Entteleologisierung12 und wird überdies von Rousseau im Zweiten Discours eher negativ bewertet. Marks bemüht dafür zwei Methoden: Einerseits bedient er sich eines hermeneutischen Holismus. Er schöpft seine Deutung aus einer Gesamtsicht des Werkes. Vor allem im Emile, welches Rousseau als sein »größtes und bestes Buch« bezeichnete (Marks 2005: 4), findet er Belege. Andererseits lässt Marks sich von der Cambridger »history of ideas« anregen (Skinner 1996), welche die rhetorischen Strategien philosophischer Texte aus ihrem politischen Umfeld neu deutet. Das führt Marks zur These, die schon Meier in seiner klassischen Studie von 1984 vertrat, Rousseau habe dem Publikum zuliebe manche seiner Anschauungen in seinen Texten gewissermaßen »versteckt« (2005: 111) und dabei auch Widersprüche in Kauf genommen. Dass Rousseau auf rhetorische Mittel zurückgreift heißt für den systematisch interessierten Leser, dass manche seiner Behauptungen nicht bierernst gemeint waren, sondern eventuell der stärkeren Wirkung wegen aufgestellt wurden. Das nahm ihm bereits Helvétius übel: »Rousseau [hat] vielleicht die Exaktheit der Eloquenz aufgeopfert. So hat er sich in Widersprüche verwickelt, die er ohne Zweifel vermieden hätte, wenn er – als strengerer Beobachter seiner eigenen Ideen – diese aufmerksamer untereinander verglichen hätte« (Helvétius 1772: 263). »Er war ergriffen von der Schönheit seiner eigenen Rede, und so wurden die Grundsätze des Redners alsbald zu denen des Philosophen. Ganz seiner Liebe zum Paradox hingegeben, setzt er sich von da an über alles hinweg« (1772: 60).
—————— 12 So etwa Reitemeyer 1996: 112f.; Benner/Brüggen 1996, Bolle 2012: 115f.
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Es ist plausibel, darin eine Strategie zu vermuten. Systematisch interessant an dieser Lesart ist nun, dass die philosophischen Großthesen Rousseaus – der Egalitarismus und Republikanismus – hier als perfektionistisch fundiert erkennbar werden. »Der Mensch« ist für Marks’ Rousseau keineswegs als natürlicher schon glücklich, sondern er wird von widerstreitenden Antrieben geleitet. Zwischen diesen Kräften lässt sich allerdings eine Balance erreichen (55, 85), und dem dienen die ausgefeilte Erziehung und die politische Theorie. Erst diese glückliche Balance machen die »Perfektion« und das Glück des Menschen aus. Die Perfektionierungsfähigkeit weist uns also nach wie vor auf eine mögliche Vollendung hin. Die normative Folie des Gesamtwerks wird so als soziale Theorie des gelingenden Lebens auf anthropologischer Basis deutlich: Rousseaus Thema sei »the natural perfection of a naturally disharmonious being« (1, 56). Das pointiert drei Thesen: 1. Es gibt eine normative Redeweise von der erfüllten menschlichen Natur, die keineswegs in einer unerreichbaren, nur erdachten Vergangenheit liegt, sondern die den Menschen als Konstitution mitgegeben ist und auf Möglichkeiten für eine Erfüllung hinweist. Diese anthropologische Ethik ließ sich in der radikalen Aufklärung weiterführen. 2. Diese Perfektion liegt, wie Marks gegen Kantianische Deutungen (etwa bei Cassirer) hervorhebt, nicht »jenseits« der menschlichen Natur (also auch nicht, wie heute im Transhumanismus ist, in ihrer Überwindung), sondern sie verbleibt ›in‹ ihr und vermittelt ›nur‹ zwischen ihren Gegensätzen, etwa zwischen unverträglichen Gütern (Marks 2005: 12f.). 3. Bereits der Naturzustand ist unharmonisch und daher kein sinnvolles Ziel der Politik – es gibt also nicht den gravierenden Widerspruch im Werk. Rousseau wird vor allem dort emphatisch, wo er Zwischenstufen der Zivilisation, die goldene Mitte beschreibt: das »primitive Stadium« (im Unterschied zum Urzustand) oder damalige Schweizer Kommunen. Um nur an die entsprechende Partie im zweiten Diskurs zu erinnern: »Als das gesellschaftliche Leben begann … muss doch diese Zeit der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten die glücklichste und beständigste Epoche gewesen sein, denn sie hält zwischen der Trägheit des ursprünglichen Zustandes und der ungestümen Aktivität unserer Eigenliebe die richtige Mitte. Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr wird man finden, dass dieser Zustand den wenigsten Veränderungen unterworfen war und sich für den Menschen am besten eignete« (Rousseau 1755: 169).
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Systematisch bedeutet dies, dass Rousseau kein Schwarz-Weiß-Maler ist (die gute Natur hier, die schlechte Gesellschaft dort), sondern auch Grauzonen kennt. Er behauptet also, genauer gesagt, eine U-förmige Kurve der Zivilisation: Es gibt, in Termini des Glücks gemessen, einen Scheitelpunkt, zu dem es historisch erst einmal ›hinauf‹ geht. Freilich geht es dann auch wieder ›hinab‹, wenn es ›Zuviel des Guten‹ gibt (dazu bereits in Kap. III.2). Mit solch einer Konzeption lässt sich sozialphilosophisch arbeiten, da man nun Kriterien für eine ›gute Gesellschaft‹ formulieren kann, die sich – das wurde Condorcets Thema – sogar für die Zukunft als Ziel formulieren lassen. Es ist genau dieser Punkt, an dem eine empirische Sozialphilosophie in normativer Absicht (sive Soziologie) erforderlich wird, wie sie in der Folge von verschiedenen Aufklärern formuliert wurde.13 Zugleich erscheint es nach dieser Reinterpretation als denkbar, Rousseau in die Tradition des »politischen Aristotelismus« (Horn/NeschkeHentschke 2008) einzureihen, denn der so gelesene Rousseau kommt Aristoteles in einigen Punkten nahe: mit der Teleologie der menschlichen Natur, der Vorstellung von der Eudaimonie als Entwicklung dieser Natur, der Mesoteslehre (als der Vorstellung der goldenen Mitte, der Balance), sowie mit der republikanischen Staatslehre.14 Daneben wird die Perfektibilität von Rousseau genau an die Stelle gesetzt, die bei Aristoteles die Eudaimonia als »Ergon des Menschen« hat: sie soll den Unterschied zum Tier markieren. Dass Aristotelismus und Sozialtheorie sich nicht ausschließen, sondern aufeinander hindrängen, hatten wir bereits im Kapitel zu Sher gesehen. Nun kommt es darauf an, nachzuvollziehen, wie dies in der Nachfolge Rousseau genau zuging, und wie dabei eine perfektionistische Theorie der Gleichheit in den Mittelpunkt rückt.
—————— 13 Von der Aufklärung als Begründung der Soziologie im modernen Sinne sprechen Mensching 1970: 134, 207; F. Jonas 1968 I, 15ff.; Pankoke 1997 und Henning 2005: 190f. 14 Vgl. Velkley 2004; Horn/Neschke-Hentschke gehen nicht auf Rousseau ein, zwischen Hobbes und Hegel klafft eine Lücke. Diese Auseinandersetzung führt Marks nicht mehr; doch setzt er sich mit Charles Taylor auseinander. Marks zufolge erhebt Taylor Anschuldigungen gegen Rousseau, die viel eher auf dessen eigene Theorie zutreffen: Im Gegensatz zu Taylor (1991) habe Rousseau durch seinen Bezug auf die menschliche Natur ein Kriterium dafür, wann eine Lebensform »authentisch« sei – nämlich wenn sie der Natur der betreffenden Person entspreche, die sich z.B. in seinem Leib verkörpere (Marks 2005: 122). Dieses Kriterium erlaubt es, dem Zugriff der Gesellschaft auf das Individuum Grenzen zu setzen – Rousseau kenne im Gegensatz zu Taylor Schutzzonen für das Individuum (148). Diese fehlten Taylor, weil er als Quelle für eine authentische Identität nur die Gemeinschaft zulässt. Dann kann man sich schwerlich von ihr zurückziehen, ohne seine Identität zu gefährden (vgl. Neuhouser 2009).
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Der gemäßigte Kant, seine radikaleren Vorgänger und das Glück Das Rousseausche Erbe war schwierig anzutreten; einmal, weil Rousseau bis 1778 ein streitbarer Zeitgenosse der anderen Aufklärer blieb, vor allem jedoch aufgrund der Spannungen im Werk selbst. Der Anspruch, einer verfehlten Naturalisierung durch den Verweis auf die »wahre« Natur des Menschen entgegenzutreten, war bestechend, die Folgen dieser Theorie jedoch beklemmend: Nicht nur blieb bei Rousseau trotz des hypothetischen Sprungs aus der Geschichte in die Natur eine (wenn auch kleinere) Ungleichheit bestehen, die es in der Gesellschaft zu berücksichtigen gelte, daneben wurde die Perfektionierbarkeit des Menschen, die eigentlich – von Aristoteles her – als ein Weg zum »Glück« betrachtet wurde (siehe noch Burlamaqui 1763: 227), zugleich zu einer Quelle des Unglücks und des Verderbens. Und drittens hatte diese explosive Mischung bei Rousseau selbst zu autoritären und paternalistischen Tendenzen geführt. In der Folge soll uns vor allem die radikal-aufklärerische Aneignung interessieren, denn erst hier findet sich ein ›wirklich‹ egalitärer Perfektionismus. Doch was heißt »radikale« Aufklärung?15 Jonathan Israel – der damit vor allem Diderot, d’Holbach und Helvétius meint – macht den Unterschied schon daran fest, dass John Locke im Unterschied zu Spinoza, dem Ahnvater der Radikalen, die menschliche Gleichheit auf eine spirituelle reduzieren wollte (»equal before Christ but not equal in civil status«, Israel 2010: 93).16 Den Scheidepunkt verlegt er dabei auf 1770 (2010: 95). Das ist nicht unplausibel: Die Enzyklopädie war beendet und auch Rousseau hatte seinen beiden Diskurse, die Julie, den Emil und den Gesellschafsvertrag veröffentlicht; und in der sind Tat radikalisierende Werke um diese Zeit erschienen (Ferguson 1767, d’Holbach 1770, Helvétius 1772 und Smith 1776). Ich möchte dies in der Folge als ein Ringen mit Rousseau deuten. Rousseau stand mit seiner Theorie der weitgehenden natürlichen Gleichheit der Menschen gar nicht außerhalb, sondern mitten im Hauptstrom der Aufklärung. Ein Ideenhistoriker formulierte es so: »to be enlightened was to believe in the natural equality of all men« (G. Wood 2002, 102). So schrieb Hobbes bereits 100 Jahre vor Rousseau von einer ungefähren Gleichheit der Menschen, sofern es um die Naturausstattung geht (obwohl sie immer schon sozial überformt ist):
—————— 15 Von »radikaler« Aufklärung sprach vor Israel (2001) und Blom (2013) bereits Mensching (1970: 206). Zum Streit mit Rousseau Blom 2013: 151ff.; Israel 2010: 93ff. 16 Kritisch zur Einteilung bei Israel war Asal 2010; vgl. Israel/Mulsow 2014. Für Berman 2008 ist bereits die Bibel ein Gründungsdokument der Idee einer natürlichen Gleichheit.
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»Nature hath made men so equal in the faculties of body and mind, as that, … the difference between man and man is not so considerable as that one man can thereupon claim to himself any benefit to which another may not pretend as well as he« (Hobbes 1651, 183; Book I, Chapter XIII).
Diese Annahme teilte z.B. auch Adam Smith (den Forman-Barzilai 2010: 106ff. als Perfektionisten einstuft): »The difference of natural talents in different men is, in reality, much less than we are aware of; and the very different genius17 which appears to distinguish men of different professions, when grown up to maturity, is not upon many occasions so much the cause, as the effect of the division of labour. The difference between the most dissimilar characters, between a philosopher and a common street porter, for example, seems to arise not so much from nature, as from habit, custom, and education« (Smith 1776: Book I, Chapter 2).
Auch für Smith sind Unterschiede zwischen den Menschen nicht Ursache ihrer unterschiedlichen sozialen Stellung, sondern deren Folge. Sie können daher nicht zu deren Legitimation herangezogen werden wie bei Hayek, Nietzsche und Rawls (III.1). Allerdings war nicht die gesamte Aufklärung dieser Meinung. Dieser Punkt demonstriert, was den ›radikalen‹ Zweig der Aufklärung von seiner gemäßigten Varianten unterscheidet: es ist die natürliche Gleichheit. Die Rede von ihr macht einerseits einen Unterschied für die Reichweite der Gleichheit(en), welche für Recht, Politik und Wirtschaft gefordert werden; andererseits ändert sie das Denken über die Vervollkommnungsfähigkeit der Menschen und das mir ihr verbundene Glück. Es wird sich zeigen, dass das Denken über Glück geradezu eine Klammer darstellt zwischen Egalitarismus und Perfektionismus. Nehmen wir als Beispiel für die ›gemäßigte‹ Aufklärung Immanuel Kant. Wir werden an den Themen Glück, Gleichheit und Vervollkommnung sehen, dass Kant sich auf gravierende Weise von der radikalen Aufklärung unterscheidet. Beginnen wir mit dem Thema Glück, wie es sich vor Kant darstelle. Das Glücksdenken der radikalen Aufklärung Nimmt man das damals bekannte System der Natur von Baron d’Holbach (1770) als Ausgangspunkt, wird schnell deutlich, wie eng Gedanken über Glück, Moral und die menschliche Natur miteinander verknüpft waren. In deutlichem Anklang an Rousseau behauptet er:
—————— 17 Das wird ins Deutsche übersetzt als »Fähigkeit« oder »Begabung«.
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»Wenn man … die Menschen zur Natur zurückführte«, leite man sie »auf den Weg des Glücks« (d’Holbach 1770: 513): »Kehre denn zurück, abtrünniges Kind; kehre zurück zur Natur!« (603). Das meint keinen Urzustand, sondern die bleibende natürliche Verfasstheit des Menschen, die jede Politik zu berücksichtigen habe, die sie nicht ins Unglück führen wolle: »Die Moral, die nichts anderes ist als das Wissen um die Pflichten des in Gesellschaft lebenden Menschen, muss sich auf die universellen, unserer Natur innewohnenden Gefühle gründen, die so lange bestehen werden wie das Menschengeschlecht selber« (d’Holbach 1770: 497, cf. 500).
Die Moral ruht also auf einem Wissen um die menschliche Natur auf und hat Gefühle zum Thema;18 vor allem solche des Glücks, aber auch der Zuneigung, der Wertschätzung usw.: »Um nun wirklich glücklich zu werden, müssen wir die Zuneigung und den Beistand der Wesen zu gewinnen suchen, mit denen wir in Gesellschaft leben; diese fühlen sich nur in dem Maße verpflichtet, … unsere eigene Glückseligkeit zu fördern, wie wir geneigt sind, zu der ihrigen beizutragen« (d’Holbach 1770: 497).
Um sagen zu können, was das praktisch impliziert, muss man mehr über die jeweilige Form der Vergesellschaftung wissen – und damit werden die Anfangsgründe zur modernen Soziologie gelegt. Wie bei Rousseau ist es von hier nicht mehr weit zu einem politischen Aristotelismus. Das wird an Stellen augenscheinlich, die stark an Aristoteles (etwa NE 1.6 oder Pol I.2) erinnern: »Aber welches ist das Ziel des Menschen …? Sein Ziel ist es, sich zu erhalten und glücklich zu werden« (115). Wenn dieses individuelle Ziel des nachhaltigen menschlichen Glücks auch als Ziel der Politik dient, dann sind wir bei einem Perfektionismus angelangt. Denn nun wird der Staat die Bedingungen dazu ermöglichen, ja notfalls bereitstellen müssen, sowohl materiell wie durch ethische Charakterformung (die beiden Momente der ›positiven Freiheit‹, s.u., Kap. IV.3): »Wenn die Herrscher den zehnten Teil des Aufwands …, die darauf gerichtet sind, ihre Reiche zu verdummen, irrezuführen und zu unterdrücken, dazu benutzen würden, um sie aufzuklären und glücklich zu machen, so würden ihre Untertanen bald ebenso weise und glücklich sein, wie sie jetzt blind und elend sind« (126). »Politik sollte die Kunst sein, die Leidenschaften der Menschen zu ordnen und zum Wohle der Gesellschaft zu lenken« (d’Holbach 1770: 120).
—————— 18 Siehe Rothschild 2001: 198f. Condorcets Gattin Sophie hat Adam Smiths ›Gefühlsbuch‹ übersetzt. Sympathie und Gefühle finden sich bei den amerikanischen Progressiven sowie heute bei Martha Nussbaum wieder; siehe III.2 und IV.2.
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Das mag für einige bereits gefährlich klingen, da es auf eine moralisierende Umerziehung vordeuten könnte. Doch es gibt ein klares Kriterium dafür, ob die Politik einer Regierung gelingt oder nicht (und dann sollte sie verändert werden): das beständige Glück der Einzelnen. »Von ihr hängt es ab, ob Talente, Fleiß und Tugend aufblühen oder ersticken … Sitten sind die Gewohnheiten der Völker; diese Sitten sind gut, wenn sie ein beständiges und wahres Glück für die Gesellschaft zur Folge haben« (125).
Trotz ihrer Querelen befindet sich d’Holbach wie Rousseau mit dieser Glücksphilosophie im (radikalen) Hauptstrom der Aufklärung. Diese hatte das Glück der Menschen zu einem Hauptthema der politischen Philosophie gemacht. Die Bedingungen für ein menschliches Glück hatten sich erheblich verbessert. Darrin McMahon beschrieb die historischen Voraussetzungen für diesen Wandel so: In der Religion wurde irdisches Glück im 18. Jahrhundert (vorbereitet durch John Locke) nicht länger als Hindernis, sondern als Vorstufe der ewigen Seligkeit interpretiert; militärisch war das 18. ein vergleichsweise ruhiges Jahrhundert, und ökonomisch hatte sich durch die Ausbreitung von Handel und technischem Fortschritt (was sich in ein Mehr an Waren bei weniger Arbeitsaufwand übersetzte) bereits die »Konsumgesellschaft« angekündigt, in der man zuvor ungeahnte »Lüste« einfach kaufen konnte – in Form von Kolonialwaren, aufwendiger Kleidung oder einem Besuch im »Lustgarten« (McMahon 2006: 197ff.). Zudem hatte schon die italienische Renaissance die republikanische Selbstregierung wiederentdeckt, die ein politisiertes Glücksverständnis transportierte (Arendt 1963: 115ff.). Die Aufklärer insistierten nun darauf, dass weniger Glück verwirklicht sei als prinzipiell möglich wäre, da in vielen Regierungen noch ein obrigkeitlich-verzopftes und lustfeindliches Denken herrsche, angetrieben nicht zuletzt durch die Kirchen. Jeder aber habe »das Recht, auf seine Weise glücklich zu werden« (Diderot/D’Alembert 1751: 171). Die neuen Glücksmöglichkeiten führten so zu neuen Forderungen an die Politik. Da das Glück der Menschen als möglich erschien, konnte es nicht länger künstlich verknappt werden. Es wurde daher zu einer zentralen Forderung, möglichst viel davon zu gewähren, auch und gerade in der Politik, als deren Zweck und Ziel – wie bei Aristoteles – das Glück der Menschen galt; mit der revolutionären Pointe allerdings, dass eine Regierung bei Nichtgewährung des möglichen Glücks ihre Legitimität verlor: »da die Regierung dem Wohl der Gesellschaft zu dienen hat, ist es offensichtlich, dass diese die Macht zurückfordern kann, wenn es ihr Interesse verlangt« (d’Holbach 1770: 122, cf. 246, 272).
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Erfüllten Regierungen diese Aufgabe nicht oder zu wenig, verlor ihre Herrschaft an Legitimität und es durfte zur Revolution kommen. So argumentiert noch die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 mit dem Recht auf ein ungehindertes »pursuit of happiness« (vgl. d’Holbach 1770: 602), unter der bezeichnenden Annahme, dieses Recht sei »self evident« (McMahon 2006: 313ff.; vgl. d’Holbach 1770: 497; Thomä 2011). Eine kleine Blütenlese aus der politischen Philosophie verschiedener Länder im Abstand von je 20 Jahren vermag einen Eindruck davon zu vermitteln, ein welch zentraler Gedanke diese Glückspolitik war: »Die Menschen haben sich nur deshalb zur Gesellschaft zusammengeschlossen, um glücklicher zu sein; die Gesellschaft hat sich nur deswegen Souveräne gewählt, um wirksamer für ihr Glück und ihre Erhaltung zu sorgen« (Anonym, in Diderot/D’Alembert 1751: 949). »Every authority that is not exercised for the happiness of all can only be founded on imposture and force« (Chastellux 1772 II.10, in McMahon 2006: 217). »Wozu hätten sich Menschen vereinigt, als dass sie dadurch vollkommenere, bessere, glücklichere Menschen würden« (Herder 1793: 94)? »The end of government is to make the governed and the governors happy« (Owen 1813: 77).
Die Glücksskepsis bei Kant Einer der gewichtigsten Autoren der Aufklärung, der hier anderer Meinung war, war Immanuel Kant. Angesichts des überwältigenden und anhaltenden Zusammenklangs zwischen den progressiven Intellektuellen Europas und Nordamerikas jener Zeit19 drängt die Frage, was Kant eigentlich gegen eine staatliche Förderung des nachhaltigen Glücks der Menschen einzuwenden hatte. Warum wollte Kant das Glück der Bürger als Leitidee der Politik aufgeben? Wie kommt es angesichts einer europaweiten Bewegung, für die das Glück so wichtig war, zu dieser Skepsis? Es wäre unfair, Kant eine Glücksfeindschaft zu unterstellen.20 Dieses Argument ad personam geht nicht nur an der Sache, sondern auch an der Person Kants vorbei. Vielmehr erlegt sich Kant als moderner Philosoph ein strengeres Begründungsparadigma auf als vordem üblich: Es reicht ihm nicht mehr, wohlklingende Begriffe aneinander zu reihen (wie es Kant und Hegel Christian Wolff vorwarfen), sondern er möchte genauere Begründungen liefern,
—————— 19 Condorcet sprach von einer regelrechten »Phalanx« (zitiert aus Passmore 1970: 199). 20 Zu Kants Glücksbegriff siehe Forschner 1993, Schwaiger 2001 und Himmelmann 2003.
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wenn Staatszwecke formuliert werden.21 Und dies hält Kant nicht mehr für möglich. Er formuliert also eine theoretische Glücksskepsis. An manchen Stellen sieht es so aus, als halte Kant das Glück für ›bloß subjektiv‹:22 »Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welche ihm selbst gut dünkt« (Kant 1793: 145f.). »Wohlfahrt aber hat kein Prinzip« (Kant 1798: 87).
Individuell verschieden ist im letzten Zitat allerdings nur die Glückssuche (»pursuit of happiness«), nicht dieses selbst. Andere Stellen haben eine Vorstellung von ihm, die über subjektive Moment-Eingaben hinausgeht: »Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach)« (KrV A 806/B 834).
Kant bestimmt die Glückseligkeit als Idee, in der sich »alle Neigungen zu einer Summe vereinigen« (1785: 36/AA 389). Es ist »das Bewusstsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet« (KrV, AA V, 22); also fast im Sinne der Utilitaristen, die gedachte Summe alle denkbaren Lüste. Doch obwohl sich theoretisch sagen lässt, was Glück der Idee nach ist, gibt es ein weiteres Erkenntnisproblem, nämlich eines der Mittelrationalität. Der einzelne Mensch für sich kann nicht erkennen, was genau er tun müsste, um langfristig glücklich zu werden, weil ihm dafür das notwendige Wissen fehlt (es bedürfte einer »Allwissenheit«, moderner ausgedrückt: einer Selbsttransparenz nach innen, und perfekter Informationen von außen): »es ist ein Unglück, dass der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, dass, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals … mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche« (Kant 1785: 63/AA 417; vgl. 36f./399f.).
Das Problem ist daher im Grunde kein theoretisches, sondern ein praktisches: Nicht dass man nicht sagen könnte, was Glück der Theorie nach ist, sondern dass dieser Zustand, wenn er auf diese Weise bestimmt wird, aus anthropologischen Gründen gar nicht erreichbar ist (»welches unmöglich
—————— 21 »Die Moderne unterscheidet sich … durch die Radikalisierung der Ausweisungskriterien … Für Kant darf es nicht mehr im Unbestimmten bleiben, wie eine Klasse von Urteilen zu begründen ist« (Tugendhat 1984: 41). 22 Kant habe das Glück aus politischen Überlegungen ausgetrieben, indem er es »subjektiviert« habe (Steinfath 1998: 7; vgl. Hans Maier 1966). Zum Wertsubjektivismus II.2/3.
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ist«, KdU A 385). Wie spätere Theoretiker immer wieder neu ›herausfanden‹ (etwa Easterlin 1974 und Frey 2002 für die Ökonomie), gibt es eine Grenzkurve der subjektiven Lust: Es lassen sich nicht ständig alle Sinne reizen, ohne dass dabei eine Ermüdung und Überreizung eintritt: »so würde doch, was der Mensch unter Glückseligkeit versteht, und was in der Tat sein eigener letzter Naturzweck … ist, von ihm nie erreicht werden; denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden« (KdU, A 385).
Mutigere Glückstheoretiker wie Aristoteles oder Helvétius gaben diesen Umstand allerdings durchaus zu: Aristoteles (NE I.6) und Helvétius (1770) sahen ja, dass Menschen in ihren Gesellschaften am ehesten nach Lust und Reichtum streben würden, dass sie dies aber auf Dauer keineswegs zufrieden stellen würde. Gerade deswegen wird es ihnen zufolge aber zur Aufgabe der Philosophie, hier weiterzudenken. Warum soll das nach Kant nicht mehr möglich sein? Dies hat weitere praktische und politische Gründe. Zunächst komme dem, der sich ungeachtet der Unbestimmtheit des Glückes daran mache, das seine tatsächlich zu erstreben (wie Kant den Menschen an anderer Stelle ja zugesteht), die Dialektik des Glücks in die Quere. Sie besteht darin, dass sich Glück nicht direkt anstreben lässt: »In der Tat finden wir auch, dass, je mehr eine kultivierte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuss des Lebens und der Glückseligkeit abgibt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme« (Kant 1785: 31/395).23
Umso weniger ist Glück als Gegenstand einer Politik möglich, wenn man mit Kant darunter versteht, dass eine politische Instanz sich anheischig macht, Glück für andere definieren und es ihnen dann vorschreiben zu wollen – dies müsse einen »Despotismus« erzeugen: »eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder … sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß vom dem Urteile des Staatsoberhaupts … zu erwarten, ist der größte denkbare Despotismus« (Kant 1793: 145f.)
Dies wäre in der Tat gegen das von Diderot und Kant formulierte liberale Grundprinzip, welches verlangt, dass die freien und mündigen Individuen nach eigener Facon selig werden sollen. Daraus spricht also keine generelle Glücksfeindschaft, sondern nur eine Weigerung, Glück zu mehr als einer privaten Angelegenheit zu machen. Es ist Sache des Individuums, sein
—————— 23 Eine solche Idee nicht anstrebbarer Güter vertrat auch Jon Elster, siehe Henning 2008.
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Glück zu verfolgen; ja Kant bezeichnet dies geradezu als individuelle Pflicht: »seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht« (1785: 36/398). Die Frage der früheren Aufklärer und späteren Sozialreformer allerdings, wie die Menschen angesichts vielfacher kultureller und ökonomischer Hindernisse überhaupt zu der dafür nötigen Selbstbestimmtheit sollen kommen können, stellte sich Kant nicht. In diesem Punkt ist Kant ein veritabler Vordenker der Neutralitätsthese (besser: ein Vor-Nichtbedenker), die wir anhand von Rawls behandelt haben (s.o, III.1). Ich vermute, bei Kant hat diese Reflektionslücke damit zu tun, dass die menschliche Freiheit für ihn ›unbedingt‹ sein muss, auch sozial. Diese Annahme ist im Kontext der Moralphilosophie bestechend, denn wenn allein die Gesinnung über die Moralität einer Tat entscheidet, sollte das Motiv möglichst rein sein. Die Frage ist allerdings, ob sie unvermittelt in empirisch-politische Überlegungen eingetragen werden kann. Das wäre ein Kategorienfehler, eine Vermischung der Ebenen (Metábasis eis állo génos).24 Vielleicht werden die strengen Eintrittsbedingungen für die Moralphilosophie zu Unrecht auf die politische Philosophie ausgedehnt. Dass Glück nicht als moralisches Prinzip taugt heißt ja nicht, dass politische Überlegungen zum Glück sich damit ebenfalls erledigt hätten. Doch fehlt das Glück einmal in der politischen Philosophie, wirkt sich das auf weitere Themen wie die Gleichheit und die Vervollkommnungsfähigkeit aus. Kant und die Gleichheit Das Glück ist in Kants Philosophie also keineswegs abwesend, doch aus mehreren Gründen wurde es aus einer zentralen Stellung verdrängt, wie sie bei radikaleren Vertretern die Regel war. Kant hielt das Wissen über das menschliche Glück nicht für allgemein genug, um daraus moralische oder politische Folgerungen treffen zu können. Kann dieses Fehlen des Glückes verständlich machen, warum er auch die Gleichheit begrenzt? Immerhin war die Begründung für die Forderung nach mehr Gleichheit in der politischen Philosophie der Aufklärung deren Glücksträchtigkeit. Für sie ist eine gleichere Gesellschaft, wie wir sahen und weiter sehen werden, sowohl für die Individuen als auch für die Gesellschaften eine wichtige Bedingung ihres »Blühens«, ihrer guten Entwicklung. Schauen wir daher, warum Kant mit den Vorgaben Rousseaus anders umgeht. Dass Kant stark durch Rous-
—————— 24 Man muss daher die Transzendentalphilosophie Kants nicht verändern (wie Habermas), wenn man einen anderen Freiheitsbegriff für die Politik braucht.
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seau geprägt wurde, ist kein Geheimnis. Eine Biographie spricht von einer »Wendung durch Rousseau 1762« und zitiert Kant so: »Rousseau hat mich zurecht gebracht. … (Jener) verblendete Vorzug [der Stolz des Geistesaristokraten, CH] verschwindet. Ich lerne die Menschen ehren und würde mich viel unnützer finden als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, dass diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben könne, die Rechte der Menschheit herzustellen« (Vorländer 1924, 152; eine handschriftliche Randbemerkung).
Gehen wir für eine vergleichende Einordnung von Kant noch einmal auf eine bereits zitierte Passage zurück. Gleichheit meinte für Rousseau, dass »die Gewalt jede Gewalttätigkeit ausschließt und sich nur kraft der Gesetze und der Stellung im Staate äußern darf, dass ferner kein Staatsbürger so reich sein darf, um sich einen andern kaufen zu können, noch so arm, um sich verkaufen zu müssen« (Rousseau 1762b, 83).
Hier tritt neben die natürliche Gleichheit eine Rechtsgleichheit, denn die rechtlichen Bedingungen sind »für alle gleich« (1762a, 50). Daneben gibt es sogar die Forderung nach einer ungefähren ökonomischen Gleichheit: Armut und Reichtum sollen begrenzt werden, damit sie keinen Einfluss auf das Politische erlangen, was die Rechtsgleichheit wieder unterlaufen würde. Wie steht es dagegen bei Kant? In einer Äußerung dazu, die 30 Jahre nach Rousseaus Text, inmitten der französischen Revolution erscheint, findet sich eine transformierte Trinität von Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit (weiter hinten im Text heißt es bezeichnend: und Abhängigkeit). Das zeigt die sichtbar mäßigende Reaktion auf die liberté, egalité und fraternité der französischen Revolution – die Brüderlichkeit fehlt ganz, und Freiheit und Gleichheit sind konzeptionell stark verändert.25 »Als Mensch« (Kant 1793: 145; 1797: 76), also Naturwesen, sind wir keineswegs mehr gleich, wie bei Rousseau und anderen Aufklärern. Kant geht vielmehr von einer natürlichen Ungleichheit aus. Warum sonst sollte die menschliche Natur als Quelle für moralische Überlegungen auszuscheiden sein? Gerade sie, die für andere Aufklärer das alle Menschen verbindende war, ist für Kant nicht allgemein genug: Sie sei, wie er anderswo sagt, empirisch und zufällig: »Denn die Allgemeinheit, mit der sie [die moralischen Gesetze, CH] für alle vernünftige Wesen ohne Unterschied gelten sollen, die unbedingte praktische Notwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird, fällt weg, wenn der Grund derselben
—————— 25 Wenig später kam der Wohlfahrtsausschuss an die Macht. Kant hat die Revolution noch 1798 als »Geschichtszeichen« interpretiert (anlässlich der Frage, »Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei«; dazu Kittsteiner 1999).
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von der besonderen Einrichtung der menschlichen Natur, oder den zufälligen Umständen hergenommen wird, darin sie gesetzt ist« (1785: 98/AA IV, 442, Hvg. im Original).
Die menschliche Natur wird zwar von den kontingenten Umständen geschieden – soviel Rousseauismus hat auch Kant mitbekommen. Doch sie sei nicht allgemein genug, um für alle vernünftigen Wesen zu gelten. Was soll das heißen? Läuft das nicht darauf hinaus, dass es vernünftige Wesen ohne menschliche Natur gibt? Kant dürfte hier kaum an Geist- oder Engelwesen denken. Vielmehr ist für ihn die menschliche Natur nichts Gemeinsames der Menschen. Er scheint also von einer natürlichen Ungleichheit auszugehen. Anthropologische Würde hat allein die Freiheit, die als ›negative‹ Freiheit – mit deutlich antiperfektionistischen Zügen – zu lesen ist. Gegen wirtschaftliche Ungleichheiten hat Kant nämlich nur dann etwas einzuwenden, wenn sie auf überkommene feudale Begrenzungen der bürgerlichen Produktivität zurückgehen; wenn »der große Gutsbesitzer« es anderen – womöglich fleißigeren – Menschen, »die sonst insgesamt einen beständigen Besitzstand hätten erwerben können«, durch ein »Vorrecht des Standes« verunmöglicht, durch ihre Arbeit Grund und Boden zu erwerben (152). Man könnte marxistisch von einer Kampfformel des aufstrebenden Bürgertums gegen den Adel sprechen, oder philosophisch-distanziert von einer Idee meritokratischer Chancengleichheit: »Aus dieser Idee der Gleichheit der Menschen im gemeinen Wesen als Untertanen geht nun auch die Formel hervor: Jedes Glied desselben muss zu jeder Stufe eines Standes in demselben (die einem Untertan zukommen kann) gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können, und es dürfen ihm seine Mituntertanen, durch ein erbliches Prärogativ (als Privilegiaten für einen gewissen Stand) nicht im Wege stehen, um ihn und seine Nachkommen unter demselben ewig niederzuhalten« (Kant 1793: 147f.).
Anders als Rousseau und ihm folgende Aufklärer, die die wirtschaftliche Ungleichheit republikanisch begrenzen wollten, da sie sowohl die Einzelnen wie das Gemeinwesen moralisch korrumpiere (ob es sich um Adel handele oder nicht), hat Kant weiter nichts gegen sie einzuwenden, da er keinen Einfluss auf das Politische oder Moralische zu erkennen vermag. Es ist, als sei die spätere soziologische Theorie der ›Ausdifferenzierung‹ gesellschaftlicher Wertsphären bei ihm bereits angelegt gewesen: »diese durchgängige Gleichheit der Menschen in einem Staate, als Untertanen desselben, besteht aber ganz wohl mit der größten Ungleichheit, der Menge und den Graden ihres Besitztums« (Kant 1793: 147).
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Gleich sind Menschen in einem Staat für Kant lediglich, sofern alle »einem Zwangsgesetz unterworfen« seien – also nur in ihrer Gleichheit als Untertanen. Über diese Art von Gleichheit hatte sich Rousseau lustig gemacht: »Die Menschen werden wieder einander gleich, weil sie alle nichts sind« (Rousseau 1755: 195).26 Von dieser halbierten Gleichheit ist das »Staatsoberhaupt« jedoch ausgenommen (146). Halbiert ist die politische Gleichheit auch deswegen, weil es eine Gleichheit nur im Sinne der Passivbürgerschaft darstellt – im Sinne des Entgegennehmens von Anordnungen, nicht aber im Sinne des Gebens von Gesetzen (der Aktivbürgerschaft). Kant spricht von »Schutzgenossen« (150) und erläutert, das Volk habe »nichts zu tun, als zu gehorchen«, 154). Der Aktivbürger, der auch ein Recht haben soll, »Gesetze zu geben« (150), kommt erst im dritten Punkt, der Selbstständigkeit, zu Wort. Diese genießen für Kant nur männliche Besitzbürger,27 denn um »Stimmrecht« zu erhalten, brauche es »irgend ein Eigentum« (151). Obwohl die ökonomische »Selbstständigkeit als Bürger« (150) unter der Rubrik »Recht der Menschen« firmiert (144; 204, Fn.), ist sie nicht als rechtliche Garantie zu verstehen, die jedem Menschen eine ökonomische Selbstständigkeit zugestehen würde. So konnte man die radikalere Aufklärung durchaus verstehen, daher wurde Thomas Paine (1796) ein Vater der Idee des Grundeinkommens. Bei Kant stellt sie vielmehr ein Ausschlusskriterium für die nichtbesitzenden Klassen dar. Die wachsende ökonomische Ungleichheit wird nicht nur zugelassen, sie wird politisch zementiert. Es gibt also an diesem zentralen Punkt, der Vorstellung von Gleichheit, gleich mehrere Unterschiede zu Rousseau: Nicht nur fehlt eine Verankerung der Gleichheit in der Natur der Menschen; es fehlt zudem die rechtliche Gleichheit, denn das Staatsoberhaupt ist davon ausgenommen; es fehlt die politische Gleichheit, denn die Aktivbürgerschaft wird nur besitzenden Klassen zugestanden, und es fehlt die Vorstellung von ökonomischer Gleichheit, denn sie wird als nahezu belanglos für die Politik angesehen. Perfektionismus im vorkantischen Rationalismus Diese Abwehr der verschiedenen Gleichheiten geht zugleich mit einer Abwertung des Perfektionismus einher. Zwar gibt es, ähnlich wie beim Glück, an untergeordneter Stelle auch bei Kant einen Perfektionismus.
—————— 26 Tocqueville hat später einen gewagten Umkehrschluss gezogen, von einer vorliegenden sozialen Gleichheit auf einen jederzeit drohenden Cäsarismus; dazu s.u. in Kap. III.1. 27 Marx hatte diese Unterteilung (bourgeois/citoyen) kritisiert (MEW 1: 355).
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Doch man ahnt bereits, dass es weder ein egalitärer Perfektionismus sein kann, denn die Gleichheit hat Kant aus der politischen Philosophie weitgehend ausgegliedert, noch ein sonderlich beglückender Perfektionismus, denn das Glück ist der Politik ebenfalls entschwunden. Bleiben damit überhaupt noch Anhaltspunkte für perfektionistische Gedanken übrig? Interessanterweise gibt es solche – darauf kommen wir gleich. Eine plausible Erklärung dafür ist, dass Kant diese Idee nicht aus diesem radikalen Aufklärungsdenken übernommen hat, denn dann wäre der Perfektionismus mit Ideen des Glücks und der Gleichheit vermengt gewesen – und wäre für Kant noch tiefer nach unten gerutscht. Er nahm sie vermutlich aus einer anderen Quelle, nämlich der Leibniz-Wolffschen Schulmetaphysik (Gerhardt 1989: 166ff., 225ff.; Himmelmann 2003: 83ff.). Allerdings hätte er, wie sich zeigen wird, auch von hier aus radikaler werden können. Nehmen wir das zum Anlass, uns danach umzusehen, welche perfektionistischen Ideen es dort gegeben hatte, bevor wir über Kants eigenen Perfektionismus wieder auf die radikale Aufklärung zurückkommen. Schon bei Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1746), dem Ahnherrn einer ganzen Schule von Denkern, findet sich eine enge Verkopplung von Vollkommenheit, Glück und Individualität. Sie vereinigen sich in der Tätigkeit. Die Vollkommenheit als »Erhöhung des Wesens« zeigt sich vor allem in der »Kraft zu wirken« (1996: 273). In Anklang an Spinoza heißt es einmal: »Vortrefflichkeit, Perfektion, Vollkommenheit nenne ich alles das, wodurch in einer Sache mehr Selbst-Wesens (Realität) ist als zuvor«.28 Vollkommenheit meint also aktive Verwirklichung, und das Bewusstsein davon ist Glück (1996: 285; 187). Daran sind drei Dinge hervorzuheben. Erstens sind Vervollkommnung und Glück einander keineswegs feindlich gesonnen wie später bei Kant. Im Gegenteil, Glück ist geradezu das moralische Pendant der Vollkommenheit (hier zur ›kosmischen‹ Vervollkommnung): »für die Personen ist die Glückseligkeit das, was die Vollkommenheit für die Wesen ist. Und wenn der erste Grundsatz der Existenz der physischen Welt der Ratschluss ist, ihr das Höchstmaß an Vollkommenheit zur verleihen, dann muss die erste Absicht in der moralischen Welt bzw. dem Gottesstaate, welcher der vornehmste Teil des Universums ist, die sein, ihm die größtmögliche Glückseligkeit zu verbreiten« (1996: 191, aus der »Metaphysischen Abhandlung« von 1686).
Zeitgleich sind ähnliche Gedanken bei Samuel Pufendorf zu finden:
—————— 28 Leibniz 1996: 270 (aus »de vita beata« von 1676; ähnlich »Von der Weisheit« von 1672).
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»Anders als die entia physica, die auf die Vollendung des Universums gerichtet ist (perfectio hujus universi), besteht der Endzweck der entia moralia in der Vervollkommnung des menschlichen Lebens (perfectio vitae humanae), insoweit dieses von der tierischen Existenz unterschieden ist« (Pufendorf 1684: 14; vgl. Sonntag 1999: 175f. sowie Rüdiger 2010).
Trotz dieser spekulativen Anbindung an ein kosmisches Perfektionierungsgeschehen, welches auf Schelling und Whitehead vor- und auf Thomas von Aquin zurückweist, soll sich zweitens das Individuum keineswegs bedroht fühlen. Anders als bei Hurka (siehe II.3) sind hier weder Natur und Individualität noch Glück und Vervollkommnung einander Feind: »Man muss nämlich wissen, dass, wie in dem besteingerichteten Staate gesorgt wird, dass es auch dem einzelnen wohlergehe, das Universum auch nicht vollkommen genug sein würde, wenn nicht auch für die einzelnen gesorgt würde, soweit das die ungestörte allgemeine Harmonie gestattet. Dafür konnte kein besserer Maßstab errichtet werden als das Gesetz der Gerechtigkeit selbst, das besagt: jeder soll von der Vollkommenheit des Universums einen Teil erhalten und so viel an eigener Glückseligkeit, wie es der ihm eigenen Tugend und seinem auf das allgemeine Wohl gerichteten Willen entspricht« (Leibniz 1996: 288, aus: »Über den ersten Ursprung der Dinge« von 1697).
Hier gibt es also eine spekulative Reziprozität zwischen Tugend und Glück durch Vervollkommnung. Drittens schließlich gibt es bereits bei Leibniz trotz der Rede von Vollkommenheiten eine Unabschließbarkeit; sie kommt also keineswegs erst von Condorcet.29 Leibniz bemerkt im Schlusssatz der zitierten Abhandlung in diesem Sinn: »Folglich wird der Fortschritt niemals zu einem Ende gelangen« (Leibniz 1996: 289). Inmitten der rationalistischen Metaphysik und Jahrzehnte vor Rousseau wird hier bereits der Gedanke eines unbegrenzten Fortschreitens in der Vervollkommnung artikuliert. Dieser ältere Perfektionismus war weder anti-individualistisch noch glücksfeindlich und erklärt somit die Kantische Abwendung von ihm nicht. Ähnlich verhält es sich bei Christian Wolff, bei dem der Begriff der Vollkommenheit sogar den Kern seiner Philosophie bildet: »Der Begriff der Vollkommenheit ist also die Quelle meiner praktischen Philosophie«.30 Vollkommenheit sei »die Haupt-Absicht in unserem gantzen Leben«.31 Wolff, der Leibniz zu einer Definition der Vollkommenheit gedrängt hat (Hoffmann 2001: 1123), bezieht die Thematik mehr auf die Praxis. Für ihn
—————— 29 Condorcet (1794: 271) bezieht sich offen auf Leibniz. Siehe schon Turgot 1749, 162. 30 Christian Wolff, zitiert aus Lutterbeck 2002: 192. 31 Christian Wolff, verfasst 1733, zitiert nach Hoffmann 2001: 1125.
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ist die menschliche Vervollkommnung das Ziel von Ethik und Politik.32 Der Staat wird so zu einem wichtigen »Agenten« der Vervollkommnung. Das politische Ziel dieser Glückspolitik ist ein »ungehinderter Fortgang«: »Den ungehinderten Fortgang in Beförderung des gemeinen Besten, das man durch die vereinten Kräfte zu erhalten gedenkt, nennt man die Wohlfahrt der Gesellschaft … das höchste Gut, was eine Gesellschaft erreichen kann. Da nun dieses in einem ungehinderten Fortgang zu größerer Vollkommenheit besteht, so können wir auch die Wohlfahrt der Gesellschaft in nichts anderem suchen als in einem ungehinderten Fortgang in Beförderung ihres gemeinen Besten« (Wolff 1736: 68, §3).
Daran ist zweierlei zu bemerken: Erstens steht dieser vervollkommnende Fortgang des Gemeinwohls unter Freiheitsvorbehalt – er soll »ungehindert« sein. Dieser Frühliberalismus ist in vergleichbaren Schriften der Policeywissenschaften ebenfalls zu finden,33 wie etwa hier bei J.H.G. Justi: »Es ist gemeiniglich weiter nichts nöthig, als dass die Regierung die Hindernisse aus dem Wege räumet, welche die freye Wirkung dieser Triebfedern aufhalten« (Justi 1760: 690). Die gemeinten Triebfedern sind die Eigenliebe und das »Verlangen nach dem Vorzuge«, beides Rousseau’sche Bekannte. Mit etwas Phantasie kann man darin zweitens Ansätze eines Egalitarismus erblicken. Wolff sieht bereits, dass es für das Glück aller nicht auf die Summe des Reichtums ankommt, sondern vielmehr auf eine »gute«, d.h. möglichst gleichmäßige Verteilung desselben. Damit, »wo nicht alle, doch die meisten Einwohner des Landes glückselig sind und viele von ihnen reich werden, so muss sie [die Politik, CH] auch ferner darauf bedacht sein, dass das Geld nicht bei einem bleibe, sondern in einem guten Verhältnis sich unter die Einwohner des Landes verteile« (Wolff 1736: 414, §489).
Ein Weg, diese gleichmäßigere Verteilung des Reichtums praktisch zu verankern, der beim ›Radikalen‹ Helvétius wiederbegegnet, ist eine Art Beschäftigungspolitik, allerdings (anders als heute, wo man sie sich von der Ausdehnung des Niedriglohnsektors erhofft) gekoppelt mit einem Mindestlohn. Es sind wiederum zwei Gründe, die für diesen Weg über die Arbeit statt über Almosen sprechen: Erstens müssen, von Leibniz sowie von Aristoteles her, die Individuen für ihr Glück und ihre Vervollkommnung selbst tätig sein. Das führt bei Kant, wie wir sahen, zu dem Schluss, dass es gar keine Glückspolitik mehr geben könne.
—————— 32 Dazu bei Wolff auch Gerhardt 1989, Schwaiger 1995: 93ff.; Lutterbeck 2002: 173ff. 33 Zur Policeywissenschaft etwa Maier 1966, Baum 1988, Stolleis 1996 und Simon 2004.
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Dieser Schluss ist jedoch keineswegs zwingend, steht doch hier aufgrund derselben Überzeugung (dass nämlich Glück nur selbst erzeugt werden kann, wie wir auch aus dem Mund von Dewey oder Dworkin erfahren) im Mittelpunkt der Politik »die zeitliche Wohlfahrt und Glückseligkeit der Menschen« (Justi 1760 I § 9; vgl. Maier 1966: 40, 222). Und zweitens gibt es bereits hier eine Frühform der culture-of-poverty-These, derzufolge es notleidende Menschen charakterlich verderben würde, wenn sie für ihr Überlegen nicht selbst sorgen könnten und von anderen ›abhängig‹ würden. So hat die Politik dafür zu sorgen, dass alle Bürger eine Arbeit finden, aber eine solche, die sie auch gut ernährt: »Und da kein Mensch dem anderen Unterhalt geben darf, der arbeiten kann und so viel zu arbeiten Gelegenheit findet, dass er dadurch seinem Leib nötigen Unterhalt zu verschaffen vermögend ist, überdies auch ein jeder Mensch so viel arbeiten soll, als ohne Abbruch seiner Gesundheit und der Kräfte seines Leibes, auch der zulässigen Ergötzlichkeit seines Gemüts geschehen kann, so hat man sonderlich darauf bedacht zu sein, wie man einem jeden so viel Arbeit verschaffe, als er ertragen kann, auch den Lohn der Arbeit dergestalt setze, dass man dabei sein nötiges Auskommen finden könne« (Wolff 1736: 206, §280)
Das ist eine frühe Art, Sozialstaatlichkeit zu denken: Wolff spricht davon, im Notfall »Anstalten zu machen« (Wolff 1736: 302, §385), also Institutionen zu schaffen (darunter Schulen und Akademien, 1736: 207, §282). Hierin berührt er sich mit den ›Policeywissenschaften‹ seiner Zeit. Diese werden (etwa bei Foucault 2004) in der Regel als Herrschaftsinstrumente gelesen, die sie auch waren. Sie lassen sich jedoch zugleich, im Sinne von Sen (1999), als Entwicklungspolitik in einem durch den Dreißigjährigen Krieg zerrütteten Sozialraum deuten. Eine Gesellschaft aus Immigranten wie die frühe USA, deren Bürger bereits ›zivilisiert‹ waren, mag sich eine Weile auf den Schutz von Freiheiten im Sinne von Abwehrrechten beschränken können.34 Für den kulturellen Wiederaufbau eines brachliegenden Sozialkörpers hingegen scheinen Ziele wie das Schaffen von Fähigkeiten und Freiheiten durch den Aufbau entsprechender Institutionen durchaus geboten zu sein. (Ähnlich dachte, sogar unter Inkaufnahme von Despotie, J.S. Mill, siehe IV.2). In der Policeywissenschaft waren Empfehlungen zur staatlichen Beförderung menschlichen Glücks weit verbreitet: »Die zeitliche Wohlfahrt und Glückseligkeit der Menschen kommt hauptsächlich auf
—————— 34 Spätestens seit dem Progressivismus Ende des 19. Jahrhunderts war dies nicht mehr der Fall (dazu Vorländer 1996 und Sandel 1996). Die progressivistische Soziologie bezog sich sogar auf die Policeywissenschaften zurück (Small 1909, Henning 2012a).
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… die Güter des Glückes und auf ihre moralische Beschaffenheit« an (Justi 1760 I §9; vgl. Maier 1966: 222; Simon 2004: 510). Justi nennt als Endzweck der Policey »die Erhaltung und Vermehrung des allgemeinen Vermögens des Staates«, und das meint auch die »Geschicklichkeiten und Fähigkeiten« der Bürger (Justi 1756: §5, nach Maier 1966: 40). Hier taucht allerdings ein gravierendes Problem auf, nämlich die vermeintliche Lizenz, im Rahmen der Bereitstellung von Glücksbedingungen zu diesem Glück zwingen zu dürfen – hier zur Arbeit. Es wird unterstellt, dass Armenhilfe ohne Arbeit den Charakter verderbe, dass man daher die Armen sortieren müssen (zwischen Arbeitsfähigen und wirklich Bedürftigen) und daher Arbeitshäuser einzurichten seien: »Da aber niemand Almosen zu fordern berechtigt ist, als der Mangel an Notdurft leidet und durch eigene Kräfte daraus nicht kommen kann, so hat man am meisten dafür zu sorgen, dass die Almosen nicht an unrechte Personen kommen«; »allein zu schweigen, dass der Bissen Brot, den man verdient, einem ehrliebenden Gemüt besser schmeckt, als den er erbetteln soll, so hat man auch niemandem ohne Not Ursache zum Müßiggang zu geben, als woraus viele Laster zu erfolgen pflegen« (302). Daher »müssen Zucht- und Arbeitshäuser angelegt werden, da man sie zur Arbeit mit Schlägen und Drohungen oder auch sonst harten Worten zwingen und für den verdienten Lohn Unterhalt verschaffen kann« (Wolff 1736: 304, § 385).
Solche Gedankengänge gibt es auch aus liberaler Feder (und zwar durch die Jahrhunderte hindurch), etwa bei John Locke oder J.S. Mill.35 Das widerspricht deutlich dem »ungehinderten« Charakter des Fortschreitens zum gemeinsamen Glück. Die Thematik der Arbeitshäuser ist problematisch, doch wenn sie im angelsächsischen Liberalismus ebenso auftritt, ist das allein noch kein Grund, an der ›Liberalität‹ dieser Ansätze zu zweifeln. Die deutschsprachige Schulmetaphysik kannte also bereits eine Diskussion der menschlichen Vervollkommnung und die Policey-Wissenschaften sogar eine anwendungsorientierte Vervollkommnungspolitik. Sie beabsichtigten, sowohl das individuelle Glück wie das Blühen der Gemeinschaft zu fördern, und hatten bei aller obrigkeitsstaatlichen Verankerung bereits liberale und egalitäre Ansätze.36 Die spezifische Version von Kants politischer Philosophie, die ohne Natur und Glück, Vervollkommnung und Gleichheit auskommt, ist also keineswegs in einem deutschen Sonderweg der Vollkommenheitssemantik zu suchen.
—————— 35 Siehe etwa Locke 1697 oder Mill 1834. Dazu bereits Henning 2009b und 2012d. 36 Auch Helvétius und d’Holbach setzten für die Praxis auf weise Herrscher.
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Der halbierte Perfektionismus bei Kant Kant hätte von hier aus zu ähnlich radikalen Folgerungen kommen können wie seine französischen Mitaufklärer. Man denke etwa an die Einlassungen bekannter ›Kantianer‹, die eindeutig in diese Richtung gehen: »Aber ein solcher Fortschritt zeigt sich wirklich, und das war denn auch von der Natur des Menschen, die schlechterdings nicht stillstehen kann, nicht anders zu erwarten« (Fichte 1793: 91). »Ein System der Erziehung aber, welches lediglich darauf abzweckte, den Menschen in sich selbst unabhängiger zu machen, anstatt ihm schwerere Ketten anzulegen, sollte es nichts zur wahren Vervollkommnung und durch diese zum Glück unserer Gattung beitragen können?« (Forster 1794: 295).
Die Gründe für Kants Kehre müssen also an anderer Stelle gesucht werden. Wir hatten sie oben durch den Überschwang der Entdeckerfreude zu erläutern versucht, mit welcher die Kantische Ethik auf die Unbedingtheit des Sittengesetzes gepocht hatte. Diese hatte, intern durchaus stimmig, heteronome Moralbegründungen ausgesondert, dabei allerdings Natur und Glück, Vervollkommnung und Gleichheit wie ein Kind mit dem Bade auch dort ausgeschüttet, wo es gar nicht mehr um Moralbegründung, sondern um politische Philosophie ging. Bei Kant bekommen damit – ebenfalls unter obrigkeitsstaatlicher Verankerung – ›liberale‹ Momente die Oberhand und drängen die egalitären Beimengungen heraus. Obwohl die Idee einer politischen Glücksförderung in den Hintergrund gerät, gibt es bei Kant dennoch die Rede von einer Perfektionierung. Sie kann allerdings nur noch an zweiter Stelle stehen, da der Platz des Favoriten, der Freiheit, besetzt ist. Das ist bei einer monoprinzipiellen Ethik wie der Kantischen gravierend. Der vergleichende Blick auf diese politisch neutralisierte Vollkommenheitssemantik schafft wieder den Anschluss an die radikale Aufklärung. Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verabschiedet die Wolffsche Vollkommenheitsethik als heteronom: Das Prinzip der Vollkommenheit sei nicht, wie die Franzosen auf der Grundlage von Lockes Sensualismus sagen würden (Passmore 1970: 164ff), empirisch, sondern rational: Als Vollkommenheit komme nur ein »Vernunftbegriff derselben als möglicher Wirkung« (1785: 97/AA IV, 442) unserer Handlungen in Frage. Dieser sei jedoch für die Ethik zu »unbestimmt« und »unbrauchbar …, um in dem unermesslichen Felde möglicher Realität die für uns schickliche größte Summe auszufinden« (99/442). Doch zeigt Kant immerhin an, dass ihm diese Variante lieber wäre als eine empirische Moralphilosophie:
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»Wenn ich aber zwischen dem Begriff des moralischen Sinnes und dem der Vollkommenheit überhaupt… wählen müsste: so würde ich mich für den letzteren bestimmen« (Kant 1785: 100/443).
Eine entschiedene Verabschiedung sieht anders aus.37 So überrascht es wenig, wenn in der Beispielebene – als sei nichts geschehen – nicht nur eine Pflicht auftaucht, die eigene Glückseligkeit zu sichern (1785: 36/398), sondern auch eine solche, »sich mit Erweiterung und Verbesserung seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen« (70/422). So kehren Glück und Vervollkommnung als zweitbester Weg zurück. Selbstvervollkommnung ist, obzwar nur als Mittel, auch für die Vernunftethik angeraten: »Denn als ein vernünftiges Wesen will er notwendig, dass alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienen und gegeben sind« (Kant 1785: 71/423).
Diese Rückkehr von Glück und Vervollkommnung in die Ethik unterhalb der Prinzipienebene geht in der Metaphysik der Sitten noch weiter. Die Vervollkommnung muss jeder an sich selbst vollbringen, da sie sich nicht durch andere betreiben lässt: Vollkommenheit kann nur »Wirkung von seiner Tat« sein, weswegen es »kein anderer als er selbst tun kann« (261). Allerdings ist sie damit nicht in das private Belieben gestellt: Ein jeder muss es vollbringen. Es handelt sich, wie bereits 12 Jahre zuvor angedeutet, um eine Pflicht gegen sich selbst (wenn auch eine »unvollkommene«, wie Kant es ausdrückt, ohne den Wortwitz zu bemerken, 1797: 335): »Es ist ihm Pflicht, sich aus der Rohigkeit seiner Natur … immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen, emporzuarbeiten, … um der Menschheit, die in ihm wohnt, würdig zu sein« (1797: 262, vgl. 268).38
Neben diese »Pflicht gegen sich selbst in Entwicklung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit« (1797: 331) tritt erstaunlicherweise eine Pflicht zur Förderung der »fremden Glückseligkeit«: »Welches sind die Zwecke, die zugleich Pflichten sind? Sie sind: Eigene Vollkommenheit, fremde Glückseligkeit« (1797: 260/AA VI, 385). Das ist deswegen seltsam, weil es nach der früheren Glücksskepsis nur schwer möglich sein dürfte, etwas zu fördern, von dem man nicht weiß, was es ist. Haben wir damit
—————— 37 Auch Helvétius lehnte jedoch den angeborenen moralischen Sinn ab (1772: 272). 38 Das wirft die Frage auf, ob man die Menschenwürde nicht »als Mensch« hat, sondern erst als Mensch, der die »Kultur der Moralität« (1797: 268) in sich entwickelt hat.
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doch eine Art Kantischen Proto-Sozialstaat vorliegen (so A. Kaufman 1999)? Wohl kaum, denn der Subjektivismus des Glücks bleibt nach wie vor bestehen, so dass sich dieser Pflicht nur sehr bedingt nachkommen lässt. Sie ist, wie Kant sagt, »nur eine weite; sie hat einen Spielraum«: »Was diese zu ihrer Glückseligkeit zählen mögen, bleibt ihnen selbst zu beurteilen überlassen« (1797: 263/AA VI, 388). »Es kommt sehr darauf an, was für einen jeden nach seiner Empfindungsart wahres Bedürfnis sein werde, welches zu bestimmen jedem selbst überlassen werden muss« (270/393).
Wie soll man etwas fördern, von dem nur jeder selbst sagen kann, was es sei? Die Antwort ist, ähnlich wie später bei dem Konzept der »Schwelle« bei Nussbaum, die Begrenzung auf eine Linderung von Not. Not, als Abwesenheit des ›Nötigsten‹, ist etwas Negatives und bedarf der Abhilfe: »Wohltätig, d.i. anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen behilflich zu sein, ist jedes Menschen Pflicht« (1797: 342/452).
Wir haben es mit keinem republikanischen Egalitarismus zu tun, sondern nur mit einer Forderung nach Abhilfe der absoluten Not.39 Wenn Kant davon spricht, dass die Förderung der fremden Glückseligkeit »nur negative Pflicht« (270/393) sei, dann berührt sich das mit unpublizierten Ausführungen des jungen Wilhelm von Humboldt von 1792, die gern in diesem Atemzug genannt werden. Auch der junge Humboldt weist eine gemeinsame Sorge um das »positive Wohl« zugunsten der Freiheit ab: »Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde nothwendig ist; zu keinem anderen Endzwecke beschränke er ihre Freiheit« (1792: 95).
Der Gedanke, dass Bemühungen um eine materielle Sicherheit der Bürger sich negativ auf die Freiheitsfähigkeit der Bürger auswirken können, taucht bei Kritikern staatlicher Wohlfahrt von Townshend (1786) über Tocqueville und Nietzsche bis zu Lawrence Mead regelmäßig wieder auf. Bei Humboldt ist diese Freiheit selbst nur ein Mittel für die perfektionistisch verstandene Entwicklung – wir haben es also mit einem perfektionistisch
—————— 39 ›Absolut‹ meine ich hier im Verständnis von Angelika Krebs 2000, also im Gegensatz zu ›relativ‹ (relativ auf den Reichtum anderer, wie z.B. in der gängigen Armutsdefinition, nach der arm ist, wer weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat). So verstehen es auch die sog. ›prioritarians‹.
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motivierten Anti-Egalitarismus zu tun (s.u., IV.2). Ähnlich wie bei Kant bedenkt dies jedoch nur mögliche Effekte eines ›Zuviel‹ an materieller Sicherheit, ohne die sich in den kapitalistischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts eher abzeichnende Möglichkeit eines Zuwenig an Sicherheit und deren Auswirkungen für die Freiheitsfähigkeit mit in Betracht zu ziehen. Die Sorge um die Freiheit wird prinzipialisiert und verschließt sich gegen die soziologische Empirie. In diesem empiriefreien Rigorismus der negativen Freiheit ist der Grund dafür zu erblicken, dass Gleichheit, Perfektionierung und Glück bei Kant und verwandten Denkern nicht stärker nach vorn treten.
Der egalitäre Perfektionismus bei d’Holbach und Helvétius Der Unterschied zwischen Kant und den radikaleren Kollegen in Sachen Gleichheit kann nicht durch die Sorge um den Individualismus motiviert sein. Denn auch die radikaleren Aufklärer traten für den Individualismus ein (erinnert sei an Leibniz).40 Sie unterscheidet vielmehr die empirische Öffnung zu den im Entstehen begriffenen Gesellschaftswissenschaften. Die Sorge um das Individuum äußert sich bei d’Holbach z.B. so: »Da dieser Körperbau und diese Umstände [nature und nurture, CH] niemals die gleichen sind, ergibt sich, dass das, was der eine begehrt, einem anderen gleichgültig ist oder sogar missfällt und dass, wie wir schon sagten, sich niemand zum Richter darüber aufwerfen darf, was die Glückseligkeit seines Mitmenschen ausmachen kann« (d’Holbach 1770: 252) »Die Natur ist gezwungen, Abwechslung in ihre Werke zu bringen41 … Diesem Grundsatz zufolge … kann es nicht zwei Individuen der menschlichen Gattung geben, die die gleichen Gesichtszüge hätten, die genau auf die gleiche Art empfänden, die übereinstimmend dächten … ihre Unterschiede sind in den Einzelheiten unendlich« (d’Holbach 1770: 104).
Offensichtlich hat diese Parallele zu Kant d’Holbach und andere nicht von einer Politik abgeschreckt, die stärker auf eine politische und soziale Gleichheit der Menschen abstellte. Wie ist das zu erläutern? Wir hatten
—————— 40 Treffend hat dies bereits Simmel charakterisiert: Im aufklärerischen Radikal-Individualismus war die soziale Gleichheit – anders als im 19. Jahrhundert – noch mitgedacht: er spricht vom aufgeklärten Prinzip »des Individualismus, der den Menschen ganz auf das eigene, von aller Bindung gelöste Ich stellt, dieses Ich aber als das allgemein menschliche, in allen gleiche und gleich wertvolle deutet« (Simmel 1901, 399). 41 Man kann hier eine Vorahnung der Darwinschen »Variation« sehen.
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oben gemutmaßt: Weil Kant eher eine menschliche Ungleichheit als eine natürliche Gleichheit annimmt, kann er aus menschlicher Natur nichts Einheitliches für die Moral mehr folgern. Damit fällt für ihn das Glück aus der verallgemeinerbaren Theorie aus. Und weil er das Glück verliert, entschwinden ihm sowohl die Perfektion wie andere Formen der Gleichheit aus der Politik. Schauen wir uns daher genauer an, wie die Argumentation bei den radikaleren Aufklärern aussieht. Dort sieht man beides: Auf der normativen Seite eine Forderung nach Gleichheit, auf der empirischen Seite eine Orientierung an der Gesellschaftstheorie. Doch wie hängt das zusammen? Das ist eine für die Gegenwart systematisch wichtige Frage, denn eine normative Perspektive scheint die Sozialphilosophie nicht mehr recht mit einer empirischen Orientierung zusammenbringen zu können. Die Brücke bildet in der früheren Version die vom Britischen Empirismus ausgehende Vorstellung, dass die Menschen von Natur aus ähnlich ausgestattet sind, dann jedoch stark durch ihre sich unterscheidenden »Gewohnheiten« geprägt werden bzw. durch die ihrer Umwelt: durch die Erziehung der Eltern, die sozialen Umstände und die Sitten des Landes. »Die Erziehung macht uns zu dem, was wir sind« (Helvétius 1772, 447). »Betrachten wir die Dinge aufmerksam, so werden wir finden, dass fast unser gesamtes Verhalten, das System unserer Handlungen, … Wirkungen der Gewohnheit sind. … Wir sind so sehr durch die Gewohnheit modifiziert, dass man sie oft mit unserer Natur verwechselt« (d’Holbach 1770: 118).
Das heißt nicht, dass Menschen endlos biegsam sind und alles mit ihnen gemacht werden kann. Vielmehr ist die Verankerung dieser Theorie in einer perfektionistischen Anthropologie der Garant dafür, dass die empirische Herangehensweise ein verlässliches Wissen darüber ermöglicht, wie ein individuelles Glück wahrscheinlicher wird – auch wenn es eigenständig ›gelebt‹ werden muss und Teil einer unvertretbar individualistischen Lebensform ist. Mag man auch am Schreibtisch einen unabschließbaren Pluralismus konstruieren, um der ›Differenz‹ zu huldigen (die der Aufklärung nicht unbekannt war), die Empirie lehrt eher, dass in allen Unterschieden der Menschen ähnliche Bedingungen dafür erkennbar sind, wann Lebensformen glücken können und wann nicht. Recht verstanden beziehen sich die meisten Unterschiede auf die Art und Weise, wie Dinge unternommen werden, und weniger darauf, was getan wird. Das gemeinsame Besorgen von Nahrung, Kleidung, Fortbewegung und Fortpflanzung, aber auch die symbolische Herstellung und Pflege
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einer Beziehung zum Ganzen sind fast überall zu finden. Daher ist man in diesem Denkansatz nicht gezwungen, die jeweiligen Umstände zur Letztinstanz zu erklären, sondern kann sie ihrerseits noch bewerten – nämlich damit, ob sie dem menschlichen Glück dienlich, ob sie menschlich sind. Der junge Marx pointierte das in einer Helvétius-Paraphrase: »Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlich bilden« (MEW 2: 138). Schauen wir uns die Verbindung von perfektionistischer Anthropologie und egalitärer Sozialtheorie bei Helvétius (1715–1771) näher an. Wie Marx beschrieb ist sein Ausgangspunkt eine natürliche Gleichheit: »In Helvétius, der ebenfalls von Locke ausgeht [wie Condillac, CH], empfängt der Materialismus den eigentlich französischen Charakter. Er fasst ihn sogleich in Bezug auf das gesellschaftliche Leben. (Helvétius, ›De l'homme‹) Die sinnlichen Eigenschaften und die Selbstliebe, der Genuss und das wohlverstandne persönliche Interesse sind die Grundlage aller Moral. Die natürliche Gleichheit der menschlichen Intelligenzen, die Einheit zwischen dem Fortschritt der Vernunft und dem Fortschritt der Industrie, die natürliche Güte des Menschen, die Allmacht der Erziehung sind Hauptmomente seines Systems« (Marx, MEW 2, 137).
Bis auf die »natürliche Güte« ist Marx hier eine verlässliche Quelle.42 Wie sieht diese Gleichheit genauer aus? Marx selbst war keineswegs Egalitarist in dem Sinne, dass alle Menschen unterschiedslos dasselbe bekommen sollten (MEW 19: 20f.). Auch Helvétius ging es nicht um völlige wirtschaftliche Gleichheit: »Keine Gesellschaft, in der alle Bürger gleich an Macht und Reichtum sein können« (Helvétius 1772, 362). Doch damit wird ökonomische Gleichheit nicht unwichtig. Sie steht lediglich an zweiter Stelle, da sie kein Zweck ist, sondern nur ein Mittel. Der Zweck ist die Gleichheit des Glücks. Eine solche ist jedoch nicht identisch mit einer Gleichheit der wirtschaftlichen Güter, da es – wie die Glücksforschung noch immer anführt – keine direkte Umrechnung einer Geldeinheit in eine Glückseinheit geben kann. Es hängt, wie so vieles, von den Umständen ab: 10 Franken machen eine Person in Not viel glücklicher als eine Person, die bereits genügend Ressourcen hat oder weniger braucht: »Das Maß unseres Reichtums ist nicht … das Maß unseres Glücks« (366). Allerdings heißt ›keine direkte Umrechnung‹ nicht, dass es nicht doch eine Korrelation gibt:
—————— 42 »Sicher gibt es zartfühlende Menschen, die am Leiden ihrer Mitmenschen teilnehmen, aber ihre Menschlichkeit ist eine Wirkung der Erziehung, nicht der Natur« (Helvétius 1772: 278).
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»Aber eine gleiche Aufteilung des Glücks unter den Bürgern setzt eine weniger ungleiche Verteilung des nationalen Reichtums voraus« (383). »Was ist zu tun, um das Glück … zurückzurufen? Den Reichtum der einen zu verringern, den der anderen zu vermehren« (367).
Eine massive soziale Ungleichheit steht dem Glück aller – der Gesellschaft und jedes Einzelnen – entgegen, folglich gelte es, sie zu verringern. Daran sind zwei Fragen anzubringen, eine nach der Begründung des Zusammenhangs und eine nach der Anwendung, also zurück und vorwärts. Um mit der Fragen nach rückwärts, in die Bedingungen, zu beginnen: Die Begründung ist, und damit sind wir mitten im Thema, perfektionistisch: Die sozialen Umstände machen einen wichtigen Teil der charakterlichen Formung der Individuen aus, und innerhalb dieser Umstände ist die wirtschaftliche Stellung der Einzelnen eine zentrale Größe. Wie bei anderen Dingen gibt es dabei innerhalb einer Skala nicht nur einen, sondern zwei ›schlechte‹ Pole – es gibt ein Zuwenig, aber auch ein Zuviel.43 So auch in der wirtschaftlichen Dimension: Ein Zuwenig an Mitteln ist nicht nur kurzfristig unangenehm, es kann Menschen auf lange Frist auch charakterlich korrumpieren, da der Trieb nach einer Erfüllung der Grundbedürfnisse in der Not stärker werden kann als die kulturell überformte Inhibierung solcher Triebe, die damit langfristig habituell außer Kraft gesetzt werden. Der Ausspruch: »erst kommt das Fressen, dann die Moral« (Brecht 1928: 67), hat einen tugendethischen Hintersinn. Helvétius kommt es aber nicht darauf an, die Armen dafür zur kritisieren, dass sie arm sind – denn gerade der Verweis auf die Entstehungsumstände einer moralischen Haltung hat ja einen exkulpierenden Charakter, wie gegen diesen ›Soziologismus‹ eingewandt wurde (L. Mead 1986). »Ihr werdet nur noch bösartige Leute um Euch haben, weil Eure Gesetze sie dazu gemacht haben« (1772, 275). Die Kritik von Helvétius richtet sich vielmehr nach oben, gegen die wirtschaftlichen Eliten: Mit zu viel Reichtum nämlich verlernt man das Maßhalten und wird unbotmäßig: »Der Große wird sich … alles erlauben: skrupellos wird er seinen Launen und Phantasien das Glück eines ganzen Volkes aufopfern« (310). Und dieses Verhalten zieht, wie Helvétius geradezu wissenssoziologisch ausführt, einen bestimmten Glauben nach sich;44 nämlich den Glauben an die natürliche Ungleichheit: »Das Interesse lässt
—————— 43 Wir diskutierten es oben bei der Freiheit, siehe Kap. II.3, vgl. Rousseaus U-Kurve. 44 Helvétius richtet diese Wissenssoziologie auch gegen die Mittelschicht. In fast Nietzscheanischer Diktion heißt es: »Es gibt aber kein Land, in dem der Stand der gewöhnlichen Bürger, der stets unterdrückt, aber nur selten Unterdrücker ist, nicht die Tugend liebt und schätzt. Sein Interesse regt ihn nämlich dazu an« (1772: 309).
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die Großen glauben, dass von den anderen Menschen grundsätzlich verschieden seien« (431). Auch Helvetius kritisiert also eine falsche Naturalisierung. Doch er schaut keineswegs nur auf die Ausstattung der Menschen mit Ressourcen, denn diese fällt nicht vom Himmel (wie bei Ackermann 1980). Er ist auch Arbeitsethiker. Zugleich nämlich betrachtet er, das belegt sein proto-soziologisches Bewusstsein, die mit der wirtschaftlichen Ungleichheit verschränkte ungleiche Verteilung der Arbeit in der Gesellschaft. Dabei zeigt sich, dass diejenigen, die viel arbeiten, wenig haben, während die, die viel haben, meist wenig arbeiten.45 Damit sind beide extremen Enden jeweils einem doppelt degenerierenden Einfluss ausgesetzt: Den Armen fehlen die Mittel und Gelegenheiten zur Kultivierung ihrer Vermögen, da sie sich um das Nötigste kümmern müssen: »Das niedere Volk … hat nicht die Bildung, um human zu sein« (Helvétius 1772, 277).46 Außerdem sind sie einer enormen Arbeitsbelastung ausgesetzt, die sie zusätzlich unter Druck setzt. Demgegenüber sind die Reichen (vor allem grundbesitzende Klassen, die ihr ›Kapital‹ an andere verleihen, aber auch der »Handel«, 324) nicht nur durch ein Zuviel an Gütern schon physiologisch überreizt, sondern auch dadurch in ihrer Lebensplanung überfordert, dass sie kaum arbeiten. Beides, Geld wie Arbeit, übt einen Einfluss aus, und unglücklicherweise verstärken sie sich wechselseitig (statt sich, wie ein zynischer Dialektiker sagen könnte, gegenseitig auszugleichen): »In den meisten Königreichen gibt es nur zwei Klassen von Bürgern; die eine entbehrt des Notwendigsten, die andere schwimmt im Überfluss. Die erstere kann nur durch exzessive Arbeit für ihre Bedürfnisse sorgen. Diese Arbeit ist ein physisches Übel für alle, und für einige ist sie eine Strafe. Die andere Klasse lebt im Überfluss, aber auch in der Furcht vor der Langeweile, denn die Langeweile ist ein fast ebenso schreckliches Übel wie die Armut« (Helvétius 1772, 367).
In diesem frühen Entwurf einer kritischen Theorie (die Marx wie Horkheimer beeinflusste) bilden Sozialkritik und Künstlerkritik eine Einheit. Nicht nur wird im Zuge einer entstehenden politischen Ökonomie die monetäre Ungerechtigkeit beklagt, sondern im selben Atemzug auch die charakterliche Deformationen im Zuge einer perfektionistisch inspirierten
—————— 45 Dieses Paradox benennen auch spätere Sozialphilosophien. Bentham (2001: 3, verfasst 1830) brachte es unfreiwillig auf den Punkt, wenn er schrieb: »Poverty is the state of everyone who, in order to obtain subsistence, is forced ot have recourse to labour«. 46 Vgl. David Hume: »poverty and hard labour debase the minds of the common people, and render them unfit for any science and ingenious profession« (Hume 1742: I.XXI.3).
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Sozialpsychologie der Arbeit. Erst beides zusammen erklärt für Helvétius, warum die mit zuviel Arbeit gekoppelte Armut eine ebenso demoralisierende Wirkung hat wie der mit Müßiggang verbundene Reichtum: »Wer Geld hat, gibt es gewöhnlich der Person, die ihm am meisten Vergnügen verschafft. Diese Person ist aber nicht immer die rechtschaffenste. … Wenn nun aber das Interesse des Mächtigen oft dem nationalen Interesse entgegengesetzt ist, dann werden die größten Belohnungen … oft für Handlungen vergeben, die den Großen persönlich von Nutzen, der Öffentlichkeit aber schädlich … sind. Daher werden dort so oft Menschen mit Reichtümern überhäuft, denen Gemeinheiten, Intrigen, Spitzelei etc. nachgesagt werden; daher bringen die Belohnungen in Geld, die fast immer dem Laster zuerkannt werden, dort so viele lasterhafte Menschen hervor« (Helvétius 1772, 329f.).
In der vorgeschlagenen Anwendung allerdings erweist sich dieser nachteilige Doppeleffekt als ein Vorteil: Wenn die Dinge derart eng zusammenhängen (das Zuviel von Arbeit mit dem Zuwenig an Geld und Entwicklung, das Zuwenig an Arbeit mit dem Zuviel an Geld und Überreizung, und beides mit dem Unglück der Individuen und der Gesellschaft), dann ist es einfach, dem politisch abzuhelfen und damit allen Menschen zum Glück zu verhelfen. Der Hebelpunkt ist die Arbeit – das erklärt vielleicht, warum Marx von Helvétius beeindruckt war. Arbeit ist nicht nur Mühsal und Qual, sondern in Maßen kann sie auch ein Segen sein: »Die Arbeit ist – wenn sie mäßig ist – im allgemeinen die glücklichste Verwendung für die Zeit, in der man kein Bedürfnis befriedigt und keines der sinnlichen Vergnügen genießt, die ohne Zweifel die lebhaftesten und am wenigsten dauerhaften sind« (Helvétius 1772, 366).
Daher ist neben dem Reichtum auch die Arbeit gleicher zu verteilen – eine bemerkenswerte Entkopplung von Arbeit und Einkommen übrigens: »Um im Bienenkorb der menschlichen Gesellschaft Ordnung und Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten, um Laster und Korruption aufzuhalten, müssen alle Individuen gleichermaßen dazu gezwungen sein, zum allgemeinen Wohl beizutragen, sie müssen gleich beschäftigt und die Arbeit muss gleich unter ihnen aufgeteilt sein« (Helvétius 1772, 310).
Legitimation dieser Politik ist die perfektionistische Glücksphilosophie. Nicht nur ein mittleres Vermögen hat glücksfördernde Zug, wie schon Aristoteles wusste:
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»Ein geringes Vermögen reicht zum Glück des tätigen Menschen aus. Das größte reicht nicht aus zum Glück eines Müßiggängers. Zehn Dörfer müssen zugrundegerichtet werden, um einen Müßigen zu vergnügen« (Helvétius 1772, 371).
Vielmehr hat auch eine moderate Arbeitszeit diesen Effekt – besser als zu viel oder zu wenig Arbeit ist es, eine mittlere Zeit zu arbeiten. Helvétius schlägt bereits eine 35-Stunden-Woche vor: »Haben alle Bürger irgendwelches Eigentum, befinden sie sich in einem gewissen Zustand der Wohlhabenheit und können sich durch einen Arbeitstag von sieben oder acht Stunden ihre Bedürfnisse und die ihrer Familie im Überfluss befriedigen, dann sind sie so glücklich, wie sie nur sein können« (362; cf. d’Holbach 1770: 281).
Das läuft auf eine egalitäre Politik hinaus, die den Menschen einerseits zur Eigenständigkeit verhilft, indem sie ihnen Arbeit und Einkommen sichert, andererseits aber auf Langfristigkeit bedacht ist, indem sie vorsorgt, dass niemand zuviel Arbeit leisten oder Einkommen akkumulieren kann. Helvétius bezieht das semantische Feld der »Vollkommenheit« in dieser Schrift zwar primär auf die Gesetze (z.B. 280, 330, 337, 396) und die Erziehung (»Je vollkommener die Erziehung ist, desto glücklicher sind die Völker«, 453, cf. 466 u.ö.), doch liegt dieser politischen Philosophie eine Theorie des individuellen und sozialen Blühens (flourishing) zugrunde – auch wenn Helvétius rhetorisch die Blüte überspringt und direkt vom Keim auf die Frucht kommt: »Dieser Wunsch [nach Erhaltung], der Wohlstand der Bürger und die Achtung vor dem Eigentum des anderen, macht die Keime der Tugend, der Gerechtigkeit und des Glücks bei allen Völkern fruchtbar« (Helvétius 1770: 341 Fn.).
Der Helvétius-Lesart von Mensching ist zuzustimmen: »Ausgangspunkt ist das Interesse des Individuums an unbeschränkter Entfaltung« (Mensching 1970: 193). Diesen Individualismus muss man nicht gegen die sozialen Einsichten ausspielen. Denn es gibt erstens, das ist das Erbe von Rousseau und Aristoteles, eine republikanische Perspektive der Freiheit von Unterdrückung (im Sinne von Philip Pettit): »In einem Land, in dem der Reichtum nahezu gleich unter die Menschen verteilt ist, … ist kein Mensch reich genug, um sich seine Landsleute zu unterwerfen« (Helvétius 1772, 341 Fn.). Und zweitens gibt es, gerade durch den Fokus auf individuelle Entfaltung, ein erwachendes soziologisches Erkenntnisinteresse: »Moral ist [bei Helvétius] somit keine subjektive Angelegenheit, vielmehr ist sie an die Kenntnis der Gesellschaft gebunden. Nur wenn deren Strukturen allen handelnden Individuen durchschaubar sind, lässt sich die aufgeklärte Moral verwirklichen« (Mensching 1970: 207f.).
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Diese Proto-Soziologie wird etwa dort deutlich, wo Helvétius neben den direkten Effekten der Ungleichheit auf die Individuen via zu viel oder zu wenig Geld oder Arbeit eine Art ›systemischer Kausalität‹ benennt, indem die gesellschaftliche Atmosphäre durch die soziale Ungleichheit zusätzlich negativ beeinflusst wird – es herrschen Missgunst und Argwohn, ein Klima der Angst und Ungerechtigkeit, die allererst dazu führen, dass die Sucht nach Reichtum so einflussreich wird. Der Luxus etwa, gegen den schon damals polemisiert wurde, ist keine Naturgegebenheit, sondern selbst Ausdruck der gesellschaftlichen Ungleichheit (Helvétius 1772, 330f.) und des Despotismus (323). Auch in der Frage, wie diesen Dingen beizukommen wäre, meldet sich politökonomischer Sachverstand. Helvétius experimentiert sogar mit dem Gedanken, das Geld abzuschaffen. Dieser Gedanke liegt aus einer moralisierenden Sicht nahe, wenn als ausgemacht gilt, dass das Geld »eine Quelle der Verderbnis« sei (330): »Wenn es aufgeklärt ist, dann ist ein Volk ohne Geld ein Volk ohne Tyrannen« (326 f. – und ohne Feinde, fügt eine Fußnote hinzu). Ein Beispiel dafür ist das damals vieldiskutierte Sparta (328). Doch nur wenig später wirft Helvétius ein, dass in Ländern, in denen sich Geld und Handel bereits etabliert haben, die Verbannung des Geldes eine Unmöglichkeit sei, da »in einem Land, in dem das Geld im Verkehr ist, die Liebe zum Geld ein Prinzip des Lebens und der Aktivität« sei (325): Eine solche Verbannung würde einerseits zu einer Entvölkerung führen, da die ›Kapitalflucht‹ viele Leute dazu bringen würde, »Frankreich [zu] verlassen und sich ein Land suchen, dass sie nährt« (332). Selbst wenn nicht das Geld, sondern nur der Luxus verboten würde, erzielte man einen ähnlichen Effekt: die Reichen würden aufgrund fehlender ›Arbeitsanreize‹, wie man heute sagt, »weniger Anstrengungen unternehmen, es zu erwerben« (325), und damit würde weniger Geld in Umlauf kommen, das die Leute nähren könnte. Weil diese reaktiven Maßnahmen nicht greifen, vertritt Helvétius radikale vorbeugende Maßnahmen in der Verteilungspolitik. Man meint eine Vorahnung der EU-Finanzkrise zu finden – und bemerkt Internationalität: »Was ich weiß, ist nur, dass ein Volk, dass durch Handel und Gewerbefleiß reich geworden ist, seine Nachbarn arm macht und sie auf die Dauer außerstande setzt, seine Waren zu kaufen« (333).
Eine Gesellschaft, die eine weitgehende Gleichheit ihrer Bürger ermöglicht (in Sachen Arbeit und Einkommen, aber auch durch gute Ausbildung und Erziehung), ist – so ist dieser Gedanken zu verlängern – deswegen einer guten Entwicklung der Individuen förderlich, weil es in ihr weniger Anlass
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gibt, sich in eine schlechte und letztlich unglücklich machende Richtung zu entwickeln. Das gibt der Razschen Wendung von der Abschaffung der schlechten Wahlmöglichkeiten eine ungeahnt radikale Note. Obwohl man mit Israel in dieser politischen Philosophie tatsächlich viel Radikales erblicken kann, gibt es mehr Verbindendes mit dem Denken anderer, vermeintlich gemäßigterer Größen jener Zeit: Es berührt sich etwa mit Gedanken Thomas Jeffersons, der in dem gleichen kleinen Besitz der Bürger eines Landes ebenfalls einen Garanten für das politische Blühen eines Landes sah, sowie mit Turgot (1727–1781) oder Adam Ferguson (1723– 1813). Auch der Ferguson hat bereits 1767 das Theorem der perfectibilité aufgenommen und sie – wie Helvétius47 – als Prinzip der Unruhe gedeutet: »Wir mögen wünschen, seine Verbesserungslust auf ihr rechtes Ziel zu lenken, wir mögen Beständigkeit in seinem Betragen verlangen, aber wir missverstehen die menschliche Natur, wenn wir ein Ende ihrer Arbeit oder einen Zustand der Ruhe herbeisehnen« (Ferguson 1767: 104).
Seine klassische Schrift, die Marx ebenfalls begeistert gelesen hat, bereitet insbesondere die soziologische Schiene vor (es handelt sich, wie später bei Condorcet 1794, um einen bewertenden Gesamtabriss der Zivilisationsgeschichte).48 Doch gegen Rousseau klagt sie dabei (wie d’Holbach) die Dimension der menschlichen Natur wieder ein: »Wenn wir zugeben, dass der Mensch fähig ist, Verbesserungen zu unternehmen, und in sich selbst ein Prinzip des Fortschritts wie auch den Wunsch nach Vervollkommnung trägt, dann erscheint es unrichtig zu behaupten, dass er seinen Naturzustand verlassen habe, sobald er anfing fortzuschreiten« (Ferguson 1767: 106).
Diese (innere) Natur sei keineswegs mit dem ›Naturzustand‹ in irgendeiner Weise verlassen worden, sondern sie könne sowohl der Gegenwart als »Maßstab« (1767: 107) wie der Zukunft als Wegweiser dienen: »Bei genauerer Nachforschung wird er [der Mensch, CH] finden, dass sein eigentlicher Naturzustand [d.h. »Vollkommenheit und Glück« in der Zeile vorher, CH] … nicht ein Zustand ist, von dem sich die Menschheit für immer entfernt hat, sondern einer, den sie jetzt erreichen kann« (107; hier erneut das Aristotelische).
Die Idee der Verwirklichung der menschlichen Natur in einem für Alle glücksbringenden Zustand ist der Kerngedanke der radikalen Aufklärung.49
—————— 47 Helvétius (1758 II, 63) nannte perfectibilité zuvor eine inquiétute (Hoffmann 2001: 239). 48 Daher wird Ferguson als »Vater der Soziologie« gehandelt. Zu ihm auch Rohbeck 1987. 49 Obwohl Israel Ferguson mit Smith auf die Seite der moderaten Aufklärer schlägt.
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Wie bei Helvétius gehen Sozialkritik und Künstlerkritik zusammen: Die Entfremdung der Menschen von ihrer Menschlichkeit entsteht nämlich aus der sozialen Ungleichheit (dem Thema der Sozialkritik): »Wenn Ungleichheiten in Rang und Vermögen … falschen Gründen des Vorrangs und der Wertschätzung Vorschub leisten, wenn aufgrund der bloßen Einschätzung als reich oder arm der eine Menschenstand sich als vornehm und erhaben, der andere aber als niedrig und gering vorkommt, … dann ist die gesamte Masse einer Gesellschaft verdorben. Die Sitten einer Gesellschaft haben sich dann in dem Maße zum Schlechteren gewandelt, in dem ihre Angehörigen aufhören, nach den Prinzipien der Gleichheit, der Unabhängigkeit und der Freiheit zu handeln« (Ferguson 1767: 433, vgl. 342, 418 u.ö.).
Der Unterschied zwischen Ferguson und anderen beginnt erst bei der Einschätzung der Zukunftsmöglichkeiten. Ferguson wurde später ein Gegner der französischen Revolution, weil er das ländliche Leben als glücksbringender einschätzte als die Fortschritte des Handels und die Verfeinerung des Lebens. Ähnliche Parallelen gibt es zwischen Helvétius und Turgot. Dieser hatte geschrieben: »in jedem Handwerk, in dem der schlechte Arbeiter nicht leben kann und in dem es dem mittelmäßigen nicht gut geht, bilden sich kein großen Männer heraus« (Turgot 1749: 95). »Der geniale Geist ist nie an bestimme Familien oder Orte gebunden; wenn man dort aber die Wissenschaften konzentriert, so hält man von ihnen fast alle fern, die in der Lage sind, sie zu vervollkommnen« (1749: 98).
Es ähnelt Turgots Ideen sehr, wenn Helvétius schreibt: »Eine ausgezeichnete Erziehung vermag die Anzahl der Menschen mit Genie in einem Volke zu vermehren und dem Rest der Bürger einen gesunden Menschenverstand mitzugeben« (455).
Ein Genie, das ja – wie das Wort sagt – angeboren sein muss, kann nicht durch Erziehung entstehen. Aber es kann sich nur dank einer entsprechenden Erziehung entwickeln. Die Idee ist also, dass es in der Bevölkerung eine Menge schlummernder Talente bis hin zur Genialität gibt, die nicht gefördert werden, solange durch die kontingente soziale Ungleichheit Menschen in den Müßiggang oder in die verelendende Arbeit getrieben werden. Noch weiter als Turgot ging sein Schützling Condorcet (1743–1794). Bei ihm tritt der Zusammenhang der drei Themen Gleichheit, Perfektionierung und Sozialwissenschaft noch deutlicher heraus als bei Helvétius.
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Der egalitäre Perfektionismus bei Condorcet Marquis de Condorcet (1743–94), der lange als fortschrittsgläubig geschmäht, aber gerade deswegen von J.S. Mill geschätzt wurde, wird jüngst wieder als politischer Theoretiker entdeckt.50 An seinem Werk lässt sich beispielhaft ablesen, wie Theorien von der Natur des Menschen mit der sozialen Gleichheit und der Perfektibilität eine Verbindung eingehen und dieses Gedankengebäude in Richtung des liberal-egalitären Perfektionismus auf sozialtheoretischer Grundlage drängt. Gab es bei Rousseau, wie bereits Ferguson kritisierte, lediglich die zwei Stufen des vorgeschichtlichen Naturzustands und der fortschreitenden Degeneration – immerhin mit der esoterischen Lehre einer glücklichen Zwischenstufe – , dann haben spätere Autoren genau hier angesetzt und die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (Ferguson 1767) auf eine breitere Grundlage gestellt. Wie gesehen ging Ferguson ebenfalls von der Perfektibilität aus. Er gab Rousseau sogar insoweit recht, als nach seiner Ansicht früher – etwa in Sparta – vieles besser war; vor allem was die moralische Qualität der Individuen und Staaten anging (er beklagte für seine Gegenwart »geistige Erschlaffung« und »seelische Schwäche«, 1767: 447). Wurde Ferguson mit dieser Haltung später Revolutionsgegner, so war Condorcet, der ebenfalls das Prinzip der Vervollkommnungsfähigkeit vertrat, einer ihrer glühenden Verfechter. Dies mag am Zukunftsoptimismus gelegen haben, den er mit seinem Mentor Turgot teilte: »Jeden Tag sehe ich, wie Künste erfunden werden« (Turgot 1748: 170, cf. 179, wo er beschreibt, wie »die gesamte Menschheit ohne Unterlass ihrer Vollkommenheit entgegenschritt«). Condorcet wurde wenig später Opfer des ›Wohlfahrtsausschusses‹. Er unterscheidet in seinem Werk über die Fortschritte des menschlichen Geistes (1794), das er in einem Versteck verfasste, zehn Stadien. Davon bleibt das letzte Stadium der erhofften Zukunft vorbehalten. In diesem Werk sind die Menschen zwar ebenfalls von Natur aus gleicher, als die von Ungleichheiten durchzogenen politischen Institutionen es vermuten lassen, doch ist Gleichheit für Condorcet nun weniger Ursprung als vielmehr Ziel. Als »letztes Ziel der Staatskunst« bezeichnet er die »wirkliche Gleichheit« (1794: 347, vgl. 363), die er hier gegen Rousseau in Anschlag bringt. Er traut der perfectibilité mehr zu als Rousseau: »beruht die Ungleichheit, die durch die ersten Fortschritte der Gesellschaft vergrößert und sozusagen erst hervorgerufen wurde, auf der Zivilisation selbst oder auf
—————— 50 Vgl. Rothschild 2001, Lüchinger 2002, Williams 2004 oder Schulz 2010 (Hg.).
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der gegenwärtigen Unvollkommenheit der Staatskunst? Muss sie nach und nach abnehmen, um jener wirklichen Gleichheit Platz zu machen, die das letzte Ziel der Staatskunst ist« (Condorcet 1794: 347)?
Condorcet war vor wie während der französischen Revolution politisch aktiv und formulierte verschiedene Verfassungsentwürfe. In einer davon wird die Gleichheit erstaunlicherweise selbst als Menschenrecht festgehalten. Im »Verfassungsentwurf« von 1793 heißt es: »Artikel 1: Die natürlichen, bürgerlichen und politischen Menschenrechte sind: die Freiheit, die Gleichheit, die Sicherheit des Eigentums, die gesellschaftliche Garantie und das Recht zum Widerstand gegen Unterdrückung« (in Schulz 2010: 214).
Und schon vier Jahre früher hatte Condorcet kurz und knapp verkündet: »Die natürlichen Rechte des Menschen sind: 1. Die Sicherheit und Freiheit seiner Person, 2. Die Sicherheit und Freiheit seines Eigentums, 3. Die Gleichheit«.51 Diese Stelle ist aus folgendem Grund ungewöhnlich: Normalerweise spricht man von ›gleichen Rechten‹, wobei die Gleichheit den Rechten zuzukommen scheint, und selten von einem »Recht auf Gleichheit« (104). Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung etwa leitet zwar die gleichen Rechte ebenfalls von einer gleichen Natur des Menschen ab, aber unter diese Rechte fällt nicht noch einmal eine Gleichheit: »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty, and the pursuit of Happiness«.52
Für Condorcet gelten die Menschen von Natur aus bereits als gleich. So schreibt er 1786, das Menschenrecht auf politische Teilnahme (»das Recht … an allem, was im Namen der Gesellschaft getan wird, mitzuwirken«) sei »eine notwendige Folge der natürlichen und ursprünglichen Gleichheit der Menschen«.53 Doch welchen Sinn macht es dann, eine solche Gleichheit nochmals rechtlich zu fordern? Wäre dies nicht eine unnütze Verdopplung? So zu fragen hieße den Witz des politischen Denkens der Vertragstheorie zu verfehlen, die hier im Hintergrund steht – immerhin ging es bei Jefferson und Condorcet tatsächlich um den Vertrag aller Verträge, nämlich die Verfassung. Eine solche ist nur deswegen nötig, weil die natürlichen Rechte ständig übertreten werden. Der Sinn der Verfassung ist es nach
—————— 51 Condorcet: »Ideen über den Despotismus« (von 1789), in Schulz 2010: 104. Vgl. aber eine frühere Version von 1786 ohne Recht auf Gleichheit, in Schulz 2010: 130. 52 Bei Locke hieß es 1689 noch »Life, Liberty, and Estate« (McMahon 2006, Thomä 2011). 53 »Vom Einfluss der Revolution in Amerika auf Europa« (1786), in Schulz 2010: 130.
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diesem Verständnis weniger, neue Einzelrechte auszubuchstabieren (etwa über Ladenöffnungszeiten oder Steuersätze), sondern dem vorausliegend der, die dem Menschen bereits von Natur aus zukommenden Rechte zu sichern. So sagt Condorcet über den Zustand, in dem die angezielte wirkliche Gleichheit erreicht sein soll: »Politische Gesellschaften können keinen anderen Zweck haben als den Schutz der Rechte ihrer Mitglieder«.54 Das Spannungsverhältnis innerhalb verschiedener kontraktualistischer Ideen hatte sich daraus ergeben, dass das Verhältnis zwischen den natürlichen und den positiven Rechten verschieden ausgelegt werden konnte. Wenn man alle natürlichen Rechte aufgeben muss, um dann im Gesellschaftszustand neue Rechte zu bekommen, wird es schwierig, (natürliche) Rechte gegen die Gesellschaft einzuklagen – denn diese (alten) Rechte hat man ja aufgegeben.55 Aus unterschiedlichen Gründen ist das z.B. bei Hobbes, Rousseau und Kant nicht vorgesehen. Alle drei befürchten von dieser Möglichkeit einen Ordnungszerfall. Es ist daher eine ›revolutionäre‹ Lesart des Kontraktualismus, dass man dem Menschen gestattet, natürliche Rechte in den Gesellschaftszustand mit hinüber zu nehmen (wie schon bei Ferguson und d’Holbach); denn diese können im Zweifelsfall ein (Natur)Recht auf Widerstand oder gar auf Revolution nach sich ziehen – nämlich dann, wenn der Zweck des Gesellschaftsvertrages nicht erfüllt wird. Ein solches Denken hatte sich schon vor der Revolution angekündigt (s.o. das Zitat von Chastellux 1772): »Daher ist jedes Gesetz, das dem Recht eines Bürgers oder eines Fremden [!] entgegensteht, ein ungerechtes Gesetz«.56 Nachdem die USA und Frankreich vorgemacht hatten, dass politische Revolutionen nicht nur theoretisch zu fordern, sondern auch praktisch machbar sind, ließ sich einfacher sagen, was der Zweck eines neuen Typus von Staates sein könnte, der diesen Forderungen gerecht wird – nämlich die Sicherung und der Ausbau der Rechte, die der Mensch der Idee nach bereits vor der Gründung dieser Staaten hatte.57
—————— 54 Condorcet: »Überlegungen zur Negersklaverei« von 1781, in Schulz 2010: 60. 55 In einer seltsamen Koinzidenz hintertreibt auch die wohlmeinende Essentialismuskritik diese radikale Denkmöglichkeit und schwenkt damit auf die Linie der moderaten Aufklärung von Hobbes und Kant ein. Das versucht Boltanski (2010: 103) zu ändern. 56 Condorcet: »Überlegungen zur Negersklaverei« von 1781, in Schulz 2010: 60. 57 Spitzfindig könnte man nach dem ›Status‹ des »vor« fragen. Es ist nicht historisch zu verstehen (weil es dann, entgegen dem Sinn der universalen Menschenrechte, wieder abhängig gemacht werden könnte von der Herkunft), sondern geltungslogisch: Wir sind zuerst Menschen und dann Bürger. Also kommen uns diese Rechte bereits zu, bevor ein einzelner Staat sie zuerkennt (oder auch nicht).
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»Dann wird die Staatskunst ihren Zweck erfüllt haben, nämlich allen Menschen den Genuss der gemeinsamen Rechte, zu denen sie von Natur berufen sind, zu sichern und ihren Umfang noch zu erweitern« (Condorcet 1794: 365).
Tatsächlich wird die natürliche Freiheit der Menschen in allen drei genannten Grundrechts-Entwürfen (von Locke, Jefferson und Condorcet) auch im positiven Teil erneut genannt – es gibt sie gewissermaßen doppelt. Warum aber wird die Gleichheit ›normalerweise‹ nicht wiederholt, und was bedeutet es, dass Condorcet es gegen Ende seines kurzen Lebens doch einfordert? Was das im Detail bedeutet, sollte man – der pragmatistischen Maxime zufolge – nicht an den Voraussetzungen, sondern an den intendierten oder wahrscheinlichen Folgen beurteilen, die diese Position nach sich zieht. Und diese Folgen sind beachtlich: In einer Entschiedenheit, die selbst für Aufklärer ungewöhnlich ist, setzt sich Condorcet für eine Gleichbehandlung unterdrückter Gruppen ein – besonders von Frauen58 und schwarzen Sklaven,59 aber auch, wie ein Marxist sagen würde, der der ›arbeitenden Massen‹. Zwei Dinge schlägt er vor allem für diese große Bevölkerungsgruppe vor: Erstens ein Sozialversicherungssystem, das die Risiken ausgleicht und den Menschen wenigstens das nötige Polster verschafft; und zweitens einen »intellektuellen Egalitarismus« (Lester Ward), wie er später auch von Dewey vertreten wurde. Beide Aspekte verdienen ausgeführt zu werden. Schauen wir zunächst auf die Sozialversicherung: »Es gibt also ein notwendige Ursache der Ungleichheit, der Abhängigkeit und sogar des Elends, welche die zahlreichste und arbeitsamste Klasse [!] unserer Gesellschaft unablässig bedroht. Wir werden zeigen, dass man sie zum größten Teile beseitigen kann, indem man Zufall gegen Zufall setzt; das heißt, man sichert demjenigen, der ein bestimmtes Alter erreicht, eine aus seinen Ersparnissen herrührende Unterstützung,
—————— 58 Zu den Frauen vgl. »Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht« von 1790 (Schulz 2010: 108–112) sowie Winston 2005: 127f. »Bekanntlich war Condorcet einer der ganz wenigen Revolutionäre, die sich entschieden für die Gleichberechtigung der Frau einsetzten; die Ehe mit Sophie hat ihn dabei offenbar stark geprägt. 1790 forderte er die Zulassung der Frauen im politischen Raum, und in seinen Entwürfen zum Esquisse sprach er unmissverständlich von der ›völligen Rechtsgleichheit‹, die den ›Individuen beider Geschlechter‹ zustehe« (Thomä 2005, 26). »Als Freund der Freiheit verfasst Condorcet auch seine Pamphlete gegen die Sklaverei und für die ›Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht‹; hier ist mit einem Satz eigentlich alles gesagt: ›Warum sollten Wesen, die Schwangerschaften und vorübergehenden Unpässlichkeiten ausgesetzt sind, nicht Rechte ausüben, die man niemals Leuten vorenthalten würde, die jeden Winter Gicht haben und sich leicht einen Schnupfen holen?‹« (Thomä 2010). 59 In »Überlegungen zur Negersklaverei«, 1788 (Schulz 2010: 53–92); Williams 2004: 139ff.
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die aber durch die Ersparnisse derjenigen Individuen vermehrt wird, die den gleichen Betrag leisten, aber jedoch vor dem Zeitpunkt sterben, zu welchem sie seiner Vorteile bedürftig wären« (Condorcet 1794: 359f.).
In den Genuss dieser Umverteilung kämen nicht nur ›Rentner‹, sondern auch Witwen und Waisen. Ja Condorcet scheint sogar eine Art »Stakeholder-Gesellschaft« im Sinne von Ackerman/Alstott (1999)60 angedacht zu haben, wenn er sagt: »endlich gewährt man den Kindern, wenn sie in das Alter kommen, in welchem sie für sich selbst arbeiten und eine neue Familie gründen werden, den Vorteil eines Kapitals, das sie zur Entfaltung ihres Fleißes nötig haben« (Condorcet 1794: 361).
An diesen Stellen wird deutlich, welche Soziologie sich hier vorbereitet: es ist eine, die – fern von einer werturteilsfreien Wiedergabe eines status quo – mit empirischen Mitteln die besten Maßnahmen herauszufinden sucht, um das Glück der Bürger zu befördern (das wirkt nach bis auf Auguste Comte). Condorcet benennt damit eine objektive Theorie des Glücks, wenn er sich gegen das utilitaristisch verkürzte Verständnis von Glück als »Summe des Glücks oder Unglücks der Individuen« wendet. Ihm geht es vielmehr um die Bereitstellung der »allgemein verfügbaren Mittel und Wege zum Glück«.61 Allgemein verfügbar heißt, dass sie zunächst sozialtheoretisch eruiert werden müssen: »Es ist die Anwendung des Kalküls auf die Wahrscheinlichkeiten des Lebens« (1794: 361). In der methodenkritischen Einleitung merkt er hierzu – auf die Deutsche Ideologie vorweisend – an, dass man dafür keine Spekulationen mehr braucht: »die Darstellung … ist damit wahrhaft historisch geworden. Nichts bleibt nun der Philosophie mehr zu ergänzen und zu erraten, sie braucht nicht länger hypothetische Kombinationen aufzustellen; es genügt, die Tatsachen zu sammeln und zu ordnen« (Condorcet 1794: 39; vgl. MEW 3: 27, 43).
Und auch der intellektuelle Egalitarismus hat eine kritische Funktion: er ist angewandter Perfektionismus, weil er jeden und jede in den Stand setzen soll, sich selbst gegen Unterdrückung und Ausbeutung zu wehren: »Die Gleichheit des Unterrichts … besteht darin, dass sie jede erzwungen oder freiwillige Abhängigkeit ausschließt« (1794: 361). »Wir werden einsichtig machen, dass … man die ganze Masse eines Volkes über all das belehren [fr. instruire, CH] kann, was jedermann zur Verwaltung seiner
—————— 60 Diese schlugen vor, jedem Bürger mit der Volljährigkeit 80.000 Dollar auszuzahlen. 61 Condorcet: »Vom Einfluss der Revolution in Amerika auf Europa« (1786, Schulz, 130).
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Angelegenheiten, zur häuslichen Wirtschaft und zur freien Entfaltung seines Fleißes [fr. industrie] und seiner Anlagen wissen muss; …um nicht blind von denjenigen abhängig zu sein, denen er die Sorge für seine Angelegenheiten oder die Ausübung seiner Rechte anvertrauen muss; … und endlich, um dem Blendwerk von Scharlatanen zu entgehen, die es auf sein Vermögen abgesehen haben« (363).
Dies ist eine Bildung, die die Menschen widerständiger und autonomer machen soll, statt sie zu einem funktionierenden Rädchen in der Maschinerie der möglichst profitablen Kapitalverwertung zu formen. Ihr primäres Ziel ist der Abbau sozialer Ungleichheit als einer primären Quelle des Unglücks. Kommen wir damit zur Frage nach der ›Grammatik‹ des hier gemeinten Rechts: All diese Forderungen lassen sich nur erheben, wenn sich ein Missverhältnis zwischen den tatsächlichen Rechten der Menschen und dem Zustand ihrer nur teilweisen Verwirklichung feststellen lässt: »Beim Durchgehen der Geschichte der Gesellschaften werden wir Gelegenheit haben, aufzuzeigen, dass oft eine große Kluft besteht zwischen den Rechten, die das Gesetz den Bürgern zuerkennt, und den Rechten, deren die Bürger sich tatsächlich erfreuen; zwischen jener Gleichheit, die durch politische Institutionen gestiftet wurde, und derjenigen, die zwischen den Individuen wirklich besteht« (Condorcet 1794: 357).
Condorcet benennt hier zwei Missverhältnisse: Einmal das zwischen positivem Recht und Rechtswirklichkeit. Eine hieran ansetzende Kritik kann immanent bleiben und auf die mangelnde Verwirklichung bereits anerkannter Normen drängen (s.o., III.3). Aber Condorcet ist das nicht genug: Es gibt auch ein Missverhältnis zwischen dem positivem Recht (die »Gleichheit, die durch politische Institutionen gestiftet wurde«) und dem Recht, dass die Menschen von Natur aus haben und das insofern »wirklich besteht«. Diese tatsächlichen Rechte sind für Condorcet eine Frage der Anthropologie.62 Das wäre im Idiom von Michael Walzer eine ›externe‹ Kritik. Der große Vorteil dieser Konzeption ist, dass es das Problem der ›adapted preferences‹ umgeht, welches Nussbaum und allen Subjektivisten zu schaffen macht: Was tun wir, wenn Sklaven sich an ihre Situation gewöhnt haben und sie sogar bejahen? Es ist hier schlecht möglich, entgegenstehende Normen auf bereits verwirklichte Anerkennungsverhältnisse gründen zu wollen oder sich für sie auf die Praxis irgendeiner Gruppe zu stützen –
—————— 62 »Alle Menschen würden gleich an Rechten geboren, schrieb er, das sei ›une des maximes le plus évidentes du droit naturel, et le fondement unique de tous les droits‹« (Lüchinger (2002: 67, nach einem Kommentar Condorcets zu Livingstone von 1789 (vgl. Williams 2004: 46f., 63).
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denn welche Gruppe das sein soll, darüber können nur eben jene Normen entscheiden, die man im gleichen Atemzug begründen will (es gibt ja Abolitionisten ebenso gut wie Anti-Abolitionisten, Rassisten wie Anti-Rassisten etc.). Manche Rechte lassen sich nicht über eine kultur-immanente Herangehensweise hermeneutisch destillieren, wie folgende anti-immanentistische Stelle bei Condorcet pointiert klarmacht: »Und würde die gesamte Menschheit in jener Meinung übereinstimmen, und hätte das versammelte Menschengeschlecht einstimmig jenes Gesetz beschlossen. Das Verbrechen bliebe doch immer ein Verbrechen«!63
Ein Buch, das William Godwin ein Jahr zuvor verfasst hat, macht diesen Punkt im Sinne von Condorcet so klar wie möglich: Es kann sich in solchen Fragen nicht darum handeln, ›immanent‹ vorzugehen und die Sache an der Meinung der Sklaven oder Sklavenhalter über Sklaverei festzumachen. Sogar Liberale im Sinne von Rawls könnten dann als Sklavenhändler auftreten (und in der Tat besaßen Liberale wie Jefferson solche). Vielmehr ist Sklaverei ein objektives Unrecht gegen die menschliche Natur: »›The slaves in the West Indies‹, they [die Verteidiger des Sklavenhandels, CH] said, ›are contented with their situation, they are not conscious of the evils against which you exclaim; why then should you endeavour to alter their condition?‹ The true answer to this question, even granting them their fact, would be: ›It is not very material to a man of a liberal and enlarged mind, whether they are contented or no …. That which you mention as an alleviation, finishes in my conception the portrait of their calamity. Abridged as they are of independence and enjoyment, they have neither the apprehension nor spirit of men. I cannot bear to see human nature thus degraded« (Godwin 1793: 392f.).
Der Witz speziell an Condorcets Dreischritt von Naturrecht über das positive Recht hin zur sozialen Wirklichkeit ist allerdings, dass die Naturrechte zunächst positiviert werden müssen, bevor sie in der politischen Praxis eingefordert und damit verwirklicht werden können. Erscheint etwas aus diesem Naturrecht nicht im positiven Recht, lässt sich nichts weiter fordern. Die ›politische‹ Gleichheit (»equal respect«) wäre dann, wie wir bei Rawls gesehen haben, nur ein Konstrukt für die Legitimation politischer Regeln und Maßnahmen, aber selbst kein politischer Inhalt mehr. Sie kommt zwar im Narrativ über die Entstehung der Rechte vor (man soll sich vorstellen können, dass man bei ihrer Ausformulierung als Freier und Gleicher hätte dabei sein können), nicht aber in diesen selbst. Das ist des-
—————— 63 Condorcet: »Überlegungen zur Negersklaverei« von 1781, in Schulz 2010: 55.
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wegen merkwürdig, weil das bei der Freiheit offensichtlich anders gehandhabt wird. Damit ist der realen Ungleichheit Tür und Tor geöffnet – und zwar trotz einer Bedienung intellektueller Bedürfnisse nach egalitärem Selbstverständnis.64 Die natürliche Gleichheit bedarf also, um zu einer »wirklichen Gleichheit« zu werden, einer Verankerung im Gesetzestext. Dieser dialektische Gedanke erlaubt es, dass Condorcet gerade durch seine Verankerung in der Anthropologie zu einem wichtigen Vorkämpfer für den Konstitutionalismus wurde: »Das einzige Mittel, der Tyrannei – mit anderen Worten: der Verletzung der Menschenrechte – vorzubeugen, ist, alle diese Rechte in einer Erklärung zu vereinigen«.65 Entscheidend ist, dass die Grundrechte durch die Positivierung nicht erzeugt werden. Sie werden lediglich ›erklärt‹ (im Doppelsinn von ›bekannt gemacht‹ und ›in ihrer politischen Bedeutung expliziert‹). Erst ihre unverfügbare Quelle macht sie unveräußerlich, was insbesondere gegenüber der Sklaverei ein zentrales Argument ist (Condorcet in Schulz 2010: 58f.). Das Beharren auf ihrer ›sozialen Konstruktion‹, welches nur die Hälfte des Prozesses beschreibt, könnte sonst zur Relativierung ihrer Geltung führen. An dieser Stelle könnte ein wohlinformierter Skeptiker auf den Widerspruch pochen, der zwischen einer ›Verankerung‹ der Rechte in der Natur des Menschen auf der einen Seite und der Perfektibilität als der steten Veränderung eben dieser Natur zu bestehen scheint. Wie kann etwas, das selbst nicht fest ist, Basis der Menschenrechte sein? Condorcet sagt an anderer Stelle, dass der Mensch sich laufend verändert – und zwar, on the very long run (durch die ganze Geschichte hindurch), in Richtung einer Verbesserung. So sei es der Sinn seines letzten Werkes, »darzutun, dass die Natur der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine Grenze gesetzt hat, dass die Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung tatsächlich unabsehbar ist« (1794: 29). Doch dieser Widerspruch löst sich beim näheren Hinsehen auf. Denn die Perfektibilität ist eben das, was allen Menschen als Menschen zukommt: Ihre natürliche Gleichheit besteht darin, dass alle Menschen perfektibel sind. Dieser Gedanke hat in der Folge eine große Wirkung entfacht – bis zu Rawls, der diesen Strang des Egalitarismus mit seiner Kritik abschnitt (Sypnowich 2012). Hören wir etwa den Britischen Sozialstaatsdenker Tawney:
—————— 64 Das ist ein Baustein von Ideologien: Sie erzählen eine Geschichte über die Realität, die mit dieser zwar nicht übereinstimmt, aber bei den Hörern ein gutes Gefühl hinterlässt. 65 Condorcet, »Ideen über den Despotismus« (1789), in: Schulz 2010: 103.
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»in spite of their varying characters and capacities, men possess in their common humanity a quality which is worth cultivating, and … a community is most likely to make the most of that quality if it takes it into account in planning its economic organisations and social institutions« (Tawney ²1952: 55f.).
Die natürliche Gleichheit, die bei Condorcet die gleichen Rechte (inklusive dem Recht auf Gleichheit) fundiert, bezieht sich also auf die gleichen grundlegenden menschlichen Fähigkeiten (wenn man will: ›capabilities‹): »Nun folgen die Rechte der Menschen jedoch einzig daraus, dass sie empfindungsfähige Wesen sind, die moralische Ideen entwickeln und über diese Ideen vernünftig urteilen können«.66
Diese Grundfähigkeiten sind so offen, dass man sie als die »Fähigkeit, Fähigkeiten zu entwickeln« bezeichnet hat (s.o.): Es geht um die Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung, zur Unterscheidung, zur Erinnerung sowie zur Empfindung sowohl eigener wie fremder Gefühle, die zusammen zur menschlichen Sprache und damit zur Intensivierung der Sozialität führen (1794: 27). Betrachtet man das mit Condorcet metaphysisch (29, d.h. zeitlos), kann man kaum mehr über »den Menschen« sagen; außer, dass aus dieser grundlegenden Gleichheit in der Entwicklungsfähigkeit für den Betrachter bereits eine Gleichwertigkeit zu folgern ist.67 Alltagspraktisch bedeutet dies, dass Frauen in Männerberufen glänzen können und umgekehrt, dass ein Kenianer in Polen aufwachsen kann und eine Polin in China, ohne dass ihre Natur ihnen Hindernisse in den Weg legen würde. Das heißt nicht, dass man um ihre Natur kürzen könnte, sondern dass sie von Natur (in der Entwicklungsfähigkeit) grundsätzlich gleich sind. Daher gibt es keinen Grund, ihnen unterschiedliche Rechte beizulegen. Das zeugt gegen den Schicksalsegalitarismus, weil die gerechtigkeitstheoretisch relevanten Ungleichheiten in dieser Sicht erst mit der Gesellschaft entstehen.68 Der Witz der Perspektive von Condorcet ist es, dass er die Formbarkeit des Menschen ernst nimmt. Die Anthropologie muss dann nachvollziehen,
—————— 66 Condorcet: »Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht« (1790), Schulz 2010: 108 67 Auch Coons/Brennan 1999 sprechen von der »capacity of every rational person to advance in moral self perfection« (13) und legen diese Überzeugung quer durch die Geistesgeschichte frei. Bereits Sokrates unterstellt eine gleiche Vernunftfähigkeit, wenn er den Sklaven nach Mathematik befragt (Platon: Menon, 430f.) 68 Zwar können sich soziale Unterschiede physiologisch einschreiben (Körpergröße und Gesundheit korrelieren empirisch mit der Qualität der Nahrung, und diese mit dem Einkommen), doch das stützt diesen Punkt nur. Per Spezieszugehörigkeit erstreckt sich die gleiche Würde auf alle, z.B. auch auf behinderte Menschen.
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wie genau der Mensch sich bisher geformt hat. Wir wissen noch nicht viel über den Menschen, wenn wir nur wissen, dass er alles mögliche (und immer auch anders) kann. Genau auf diesen truism beläuft sich häufig die anti-essentialistische Einrede; aber das ist Condorcet zu wenig. Er möchte vielmehr das »tableau« der bisher erreichten und aufeinander aufbauenden Vervollkommnungen genauer, d.h. möglichst empirisch erforschen, und zwar mit einem deutlich politischen Erkenntnisinteresse: Verschiedene Arten der menschlichen Selbstformung führen zu verschiedenen Graden von Glück. Man erinnere sich: Condorcet war auf der Suche nach einer »Methode zur Messung der unterschiedlichen Grade des gesellschaftlichen Glücks«.69 Es gilt also, diejenigen herauszufiltern und weiterzuführen, die diesem Glück am förderlichsten sind. Die Ausgangsüberlegung der Formbarkeit der Menschen ist gekoppelt an die Einsicht, dass sie von Verhältnissen geformt werden, die sie selbst formen können. Lassen sich jedoch Gesetze und Institutionen verbessern, so könnten auch die in ihnen lebenden Menschen ›vollkommener‹ und damit glücklicher werden. Das meint für Condorcet keinen Übermenschen, sondern es geht, wie wir sahen, um bessere Schulbildung für alle, um Frieden zwischen den Klassen und Völkern – also um eine Zivilisierung (weniger der ›Barbaren‹ als vielmehr der Eliten).70 All diese Vervollkommnungen spielen sich jedoch mit derselben Natur des Menschen ab: »wir könnten also schon jetzt den Schluss ziehen, dass die Möglichkeit der Vervollkommnung des Menschen unbegrenzt ist; und dabei haben wir für den Menschen bis jetzt [d.i. drei Seiten vor Ende des Buches, CH] nur die natürlichen Fähigkeiten, die Organisation, die er bereits hat, vorausgesetzt« (1794: 395).
Erst ganz am Ende des Buches taucht die Rede von der Perfektion der menschlichen Natur selbst auf. Hier geht es um die (später in der Tat eingetretene) graduelle Lebensverlängerung durch bessere Lebensbedingungen, durch stetige Fortschritte in der Medizin und durch eine geringere soziale Ungleichheit: Condorcet spricht von der »Beseitigung der beiden wirksamsten Ursachen der Verwahrlosung, nämlich des Elends und des allzu großen Reichtums« (395). Trotz dieser am Horizont aufscheinenden Perspektive einer Verbesserung auch der menschlichen Natur, die auf das Enhancement des 21. Jahrhunderts vorausweist, bleibt Condorcet insoweit Aristoteliker, als sämtliche vorher untersuchten Vervollkommnungen sich
—————— 69 Condorcet: »Einfluss der Revolution« (1786), in Schulz 2010: 130. 70 Zum Bezug der Perfektibilität auf die Zivilisierung bei Norbert Elias siehe Rüdiger 2010.
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bereits mit der gegebenen organischen Ausstattung machen ließen.71 Obzwar sich die politischen Bedingungen sowie das intellektuelle und moralische Selbstverständnis des Menschen verbessern lassen und bereits zu einem gewissen Grad verbessert haben, ist ›der Mensch‹ von seinen Bedingungen her noch derselbe. Das hatte bereits Helvétius so gesehen: »Die Soldaten von heute sind dieselben wie die von früher. Der Mensch hat sich nicht geändert« (Helvétius 1772, 111). Es gibt daher keine ›natürlichen‹ Unterschiede zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern, Erdteilen oder ›Kulturstufen‹. Augenfällige Unterschiede (etwa in der statistischen Lebenserwartung) lassen sich durch die Lebensbedingungen erklären. Deswegen ist die angezielte Gleichheit für den schon post-kolonialistisch denkenden Condorcet kein nur nationales, sondern ein globales Projekt: »Was wir uns für den künftigen Zustand des Menschengeschlechts erhoffen, lässt sich auf folgende drei wichtige Punkte zurückführen: die Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Nationen; die Fortschritte in der Gleichheit bei einem und demselben Volk; endlich die wirkliche Vervollkommnung des Menschen« (Condorcet 1794: 345).
Damit ist klar geworden, dass der Egalitarismus dieses wahrhaft radikalen Aufklärers sehr weit geht. Abschließend will ich verdeutlichen, dass dieser Egalitarismus tatsächlich ein perfektionistischer ist, und dabei keineswegs freiheitsfeindlich ist, sondern mit einem normativen Individualismus einhergeht. Warum ist die Idee nicht gegen die Freiheit oder den Individualismus gerichtet? Condorcet benennt keine inhaltliche Endgestalt der Gesellschaft, welche alle anderen Möglichkeiten des Menschseins abblenden würde und in die er Individuen hineinzwingen will. Im Gegenteil, ihm geht es einerseits, im Negativen, um das Benennen von Hindernissen der menschlichen Entwicklung (vor allem die soziale, politische und bildungsspezifische Ungleichheit, aber auch Gewalt und Krieg).72 Andererseits, im Positiven, benennt er Bedingungen einer gelingenden Entwicklung. Dahin zielen die vielen Vorschläge zur Versicherungs-, Infrastruktur-, Steuer-, Handels-, Armen- und vor allem zur Bildungspolitik.73
—————— 71 Nach Winston 2005: 67ff. ist die Diskussion über die Vervollkommnung der Gattung früh auf eugenische Abwege geraten – lange vor Francis Galton in Schriften wie Charles Auguste Vandermondes Essai sur la manière de perfectionner l'espèce humaine von 1756. 72 »Take away these shackles and you will see culture reach perfection and diversity, the soul of the people become more vital and dynamic« (so zitiert Williams 2004: 234 aus Condorcets ökonomischen Schriften). 73 Siehe Lüchinger 2002: 305ff.; Williams 2004: 92ff., 225ff.; s.u. zu John Dewey.
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Wohin die Menschen sich dann entwickeln, wenn sie erst einmal können, das bleibt ihnen selbst überlassen. Die normative Stütze für diese Politik liegt in der Annahme der Gleichheit der menschlichen Grundfähigkeiten. Dieser Bezug auf die menschliche Natur macht diesen Perfektionismus allerdings keineswegs illiberal: es geht Condorcet ja gerade um die Realität der Freiheit. Ebenso wenig ist dies gegen den Individualismus gerichtet: Eine Entwicklung individueller Eigenheiten hängt bei allen Menschen gleichermaßen von guten materiellen und kulturellen Bedingungen ab. Diese zu gewährleisten schmälert den Wert der Individualität daher nicht: »Entweder hat kein Individuum der menschlichen Gattung wirkliche Rechte oder alle haben dieselben« (Condorcet 2010: 108, verfasst 1790). Erst auf der Grundlage einer Freiheit von Abhängigkeit ist Individualität überhaupt kultivierbar, und um diese Kultivierung ging es Condorcet. Gleichwohl kann dieses Denken Unterschiede in den Interessen und den spezifischen Begabungen wahrnehmen und ermöglichen, denn wenn jeder das gleiche Recht auf die Entfaltung seiner Anlagen hat, gibt es weder Anlässe, neidisch zu sein, noch gibt es gute Gründe für eine wirtschaftliche Ungleichverteilung. Soziale Gleichheit meint für Condorcet keine Uniformierung, sondern im Gegenteil: der kulturelle Pluralismus ginge erst richtig los. Dabei ist an die Entwicklung von Talenten – im Sport, in der Kunst oder Wissenschaft – zu denken, welche heute gekoppelt ist mit einer großen und in der Tendenz zunehmenden sozialen Ungleichheit. Damit sind wir bei einem Thema angekommen, was bereits bei Thomas Hurka (der regelmäßig die Figur Mozart aufrief) immer wieder irritierend anklang, und das auch bei Rousseau verstörte: Die ungleichen Talente. Bei Condorcet sieht man nun: Das Eingeständnis, dass es auf einzelnen Gebieten unterschiedliche Grade von Talenten gibt, die jedoch nicht mit der sozialen Herkunft konvergieren (das hatte bereits Condorcets Mentor Turgot so gesehen), beißt sich keineswegs mit der Grundannahme einer (weitgehenden) natürlichen Gleichheit. Denn diese natürliche Gleichheit ist mit der Gleichheit der grundlegenden Fähigkeiten bereits erfüllt. Was es darüber hinaus an individuellen Unterschieden geben mag, ist für die Frage der politischen Rechte belanglos. Condorcet denkt institutionell. So geht er davon aus, dass es hinsichtlich des Verstandes Unterschiede geben kann; allerdings kommen die Ausnahmeerscheinungen unabhängig von Geschlecht, Klasse oder Rasse in etwa gleich oft vor, so dass das kein Anlass ist, Menschengruppen zu diskriminieren. Es gibt zwar bei Condorcet eine Erlaubnis, durch mehr Leistung mehr zu verdienen, aber diese
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wird gekontert durch die Überlegung, dass die vorhandenen natürlichen Unterschiede nicht, wie bisher üblich, durch die Gesellschaft noch ausgebaut, sondern durch sie eher verringert werden sollten. Sicher gibt es Ausnahmeerscheinungen und große Talente – dazu gehören neben Mozart und Raffael74 auch Künstler wie Jimi Hendrix oder John Lennon. Interessant im Vergleich zum elitären Perfektionismus etwa Nietzsches ist, dass hier eine regelrechte politischen Ökonomie des Genies mit egalitären Zügen entwickelt wird: Statt das ›Genie‹ gegen den Rest auszuspielen,75 gilt es vielmehr, die Geniefähigkeit einer Gesellschaft zu entwickeln. Das bezieht sich, wie wir sahen, zum einen auf die Produktionsseite, also die ›Hebung‹ von Talenten: Wenn nicht allen Menschen gute Entwicklungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, wie sollen dann bislang unentdeckte Talente je ans Licht kommen? Gerade die Seltenheit besonderer Begabungen wird zum Argument für eine egalitaristische Politik – diese Idee hatte schon Turgot, und sie gibt es zeitgleich auch bei William Godwin: »How rapid would be the advances of intellect if all men were admitted into the field of knowledge?76 … the geniuses of such an age would greatly surpass the utmost exertions of intellect hitherto known« (Godwin 1793: 731).
Doch auch die Rezipientenseite hat eine egalitäre Logik: Nur dann, wenn die ›normal‹ Begabten keine Angst davor haben müssen, von den großen Talenten – oder denen, die es zu sein glauben – unterdrückt oder in die Armut getrieben zu werden, können sie ihnen frei und stolz gegenübertreten und ihr ›Genie‹ anerkennen. »Dann erst wird Überlegenheit zum Vorteil selbst für die, die sie nicht haben, sie wird für sie dasein, nicht gegen sie« (1794: 365). Condorcet redet vom »Gemeinverstand, der jene zu schützen und zu nutzen weiß« (1794: 365), und Godwin schreibt erstaunlich ähnlich: »Genius … would expatiate freely among sentiments of generosity and public good« (1793: 731). Abzulesen ist an dieser radikalen Praxis der Befreiung noch etwas anderes: die in Frage stehende Gleichheit ist ein Relationsbegriff und kann nicht durch absolute Standards ersetzt werden, wie das selbst bei Nussbaum zu sehen war. Condorcets Begriff der Natur des Menschen ist zwar nicht am
—————— 74 »Jeder, in dem ein Raffael steckt, [soll] sich ungehindert ausbilden können« (MEW 3: 377). 75 Wie dies etwa Nietzsche oder Milton Friedman taten (s.u., Kap. III.1) oder heute die »Exzellenzinitiativen«, die einhergehen mit einem Bildungs-Abbau in der Breite. 76 Godwin, der mit der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft verheiratet war, meinte mit »men« sicher Menschen und nicht Männer. S.o., Fn. 58.
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zeitgenössischen Zustand der Gesellschaft abgelesen: von kontingenten sozialen Unterschieden wird abstrahiert. Doch ist die Konzeption nicht vorsozial. Schon der »natürliche Mensch« ist sozialisiert: So beginnt Condorcets letztes Werk mit Familien und Stämmen, nicht mit isolierten Naturmenschen.77 Fragen wir darum schließlich, warum die soziale und politische Gleichheit für Condorcet solch ein wichtiger Wert ist – wir sahen soeben, dass er sie sogar für die physische Gesundheit der Individuen mit verantwortlich macht (auch dies ein heute wieder relevanter Punkt).78 Condorcet sieht Glück als das Ziel der Politik – also als zentralen Wert. Die politische und soziale Gleichheit kommt als abgeleiteter Wert ins Spiel, weil seine empirisch-historische Analyse sie ihm als ein zentrales Mittel zum Glück aufgezeigt hat. Condorcet (1786) zufolge kann man, »wenn man vom Glück einer Nation als Ganzes spricht«, nur über die »allgemein verfügbaren Mittel und Wege zum Glück« sprechen (s.o., Fn. 61). Innerhalb dieser objektiven, oder besser: dieser institutionenorientierten Glückstheorie unterscheidet Condorcet nun einen politischen Pfad über Rechte, und einen ökonomischen Pfad über Genüsse: »Die allgemeinen Mittel und Wege zum Glück für den in Gesellschaft lebenden Menschen lassen sich in zwei Klassen unterteilen: Die erste Klasse umfasst alles, was den freien Genuss der natürlichen Rechte sicherstellt und erweitert. Die zweite enthält die Mittel, um die Menge der Übel, denen die Menschheit von Natur aus unterworfen ist, zu vermindern: Mit größerer Sicherheit und weniger Arbeit für unsere Grundbedürfnisse sorgen zu können; uns durch den Gebrauch unserer Kräfte und den legitimen Einsatz unserer Fähigkeiten eine größere Zahl an Genüssen zu verschaffen«.79
Über diesen zweiten, ökonomischen Pfad zum gemeinschaftlichen und individuellen Glück hängen nun die Perfektionierung und die Gleichheit systematisch zusammen: »Entsprechend müssen auch die Mittel und Wege, unsere Kräfte und Fähigkeiten zu verbessern, dieser [zweiten, CH] Klasse zugeordnet werden« (130). Als »Mittel und Wege, unsere Kräfte und Fähigkeiten zu verbessern« (2010: 130) – also als perfektionistischen Maßnahmenkatalog – nennt Condorcet die Wahrung der natürlichen Rechte,
—————— 77 Vgl. Williams 2004: 71. Siehe noch Cooley 1909, 23ff. (»primary groups«). 78 Wilkinson (2005) denkt Gleichheit wie Condorcet als wirkliche Gleichheit, nicht als politische Legitmationsfigur »The substitution of equality of opportunity for equality of outcome as a political aim reflects a monumental failure even to beginning thinking seriously about the causes of our society’s problems« (Wilkinson 2005: 284). Der Gedanke der Legitimationsfigur wird von ihm sogar angedeutet: die Idee der Chancengleichheit »use[s] an abstract idea of fairness to hide the lack of social analysis« (285). 79 »Vom Einfluss der Revolution in Amerika auf Europa«, 1786, in: Schulz 2010: 130.
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die Haltung des Friedens mit den Nachbarstaaten, die eine Steigerung der Arbeitsproduktivität,80 »vor allem aber … eine gleichmäßigere Verteilung dieser Mittel auf die Mitglieder der Gesellschaft« (132). Condorcet kann deswegen schließen: »Folglich muss man das öffentliche Glück in einer möglichst gleichen Verteilung dieser Güter suchen« (132). Die soziale Gleichheit ist ein Mittel der Selbstvervollkommnung, und sie wiederum ein Mittel zum Glück. Der Weg von der Gleichheit zum Glück führt somit über die Perfektionierung. Neben dieser direkten Verbindung von Glück, Gleichheit und Vervollkommnung gibt es noch einen Umweg über die Freiheit, denn auch die (reale) Freiheit ist, da sie unter die gesellschaftlich zu gewährleistenden natürlichen Rechte fällt, ein Mittel zum Glück, und die soziale Gleichheit ist für Condorcet ein Garant der Wirklichkeit der Freiheit. So prophezeit er, dass »in den Gesellschaften, wo die Institutionen diese Gleichheit [des Vermögens und des Unterrichts, CH] herbeigeführt haben werden, die Freiheit größer und vollkommener sein wird als in dem unabhängigen Leben der Wilden« (1794: 365).81 Man sieht hier, wie sich in dieser Konzeption die Gedanken einer Perfektionierung, einer natürlichen und sozialen Gleichheit sowie einer individuellen Freiheit auf beeindruckende Weise die Hand reichen. Damit haben wir am historischen Beispiel sehen können, dass der Perfektionismus, wo er geschichtlich wirksam war, trotz seiner aristotelischen Elemente vor allem in die egalitäre Richtung weist; und dass er von Anbeginn mit einer zeitkritischen sozialtheoretischen Optik verknüpft war. Das ist ein wichtiger Befund, der sich festhalten lässt.
—————— 80 Er nennt es »die Verbesserung der Mittel, um sich mit gleicher Arbeit eine größere Menge an Gütern zu verschaffen, sei es durch die Fortschritt der Aufklärung und des Gewerbes, sei es durch die Ausdehnung der Beziehung zu anderen Völkern« (132), also durch technischen Fortschritt und/oder durch Freihandel. 81 Siehe Condorcet 1794: 357. Den Vergleich verstehe ich so: Der Verweis auf die »Wilden« bezeichnet Menschen, die verglichen mit den Zeitgenossen freier sind, weil sie ihre natürliche Freiheit noch nicht eingebüßt haben und nicht in der politischen Unfreiheit des Ancien Regime leben. Allerdings können die Menschen in der Zukunft noch freier sein als jene, wenn sie die Vorzüge der Gesellschaft ohne viele ihrer Nachteile genießen.
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2. Natur und Freiheit: MacIntyre, Mill und Dewey Alasdair MacIntyre und die menschliche Natur Eines der gängigsten Vorurteile in der gegenwärtigen Sozialphilosophie ist die Idee, dass normative Argumente nicht essentialistisch sein ›dürfen‹: »Entfremdungskritik unter heutigen Bedingungen darf nicht … in einem starken Sinn ›essentialistisch‹ oder metaphysisch begründet sein; und sie darf nicht … perfektionistisch oder paternalistisch argumentieren« (Jaeggi 2005: 50).
Spätestens, wenn ein topos diesen Grad von Selbstverständlichkeit gewinnt, wird es Zeit, ihn zu hinterfragen.1 Es handelt sich beim Essentialismusvorwurf im Grunde um eine ganze Familie von Vorwürfen gegenüber dem perfektionistischen Denken, die nicht immer klar adressiert werden. Häufig scheinen sie sich nicht nur gegen einen bestimmten Aristotelismus zu wenden, sondern gegen jedes Denken, das aus einer Natur des Menschen normative Gehalte gewinnen möchte. Dennoch war eine einschlägige Formulierung speziell gegen Aristoteles gerichtet. Diese müssen wir uns näher ansehen, da sie die zeitgenössische Diskussion stark geprägt hat. Einschlägig war sie deswegen, weil sie die anti-essentialistische Stimmung der 1980er und 90er Jahre von kundiger Seite auf den Nenner brachte und daher häufig aufgegriffen und zitiert wurde. Gemeint ist Alasdair MacIntyres Vorwurf gegenüber Aristoteles, dieser arbeite in seiner Ethik mit einer metaphysischen Biologie. MacIntyre referiert Aristoteles so: »Human beings, like the members of all other species, have a specific nature; and that nature is such that they have certain aims and goals, such that they move by nature towards a specific telos. This good is defined in terms of their specific characteristics. Hence Aristotle’s ethics, expounded as he expounds it, presupposes his metaphysical biology« (MacIntyre 1981: 148).
Hier wird die Axt an die Wurzel gelegt: Die grundlegende praktische Idee einer Teleologie, also der Entwicklung von Anlagen bis zu ihrer vollen Verwirklichung, der Vollkommenheit (teleion), war ebenso maßgeblich für den Perfektionismus wie die spezielle Rahmung, die das im Falle der Menschen erhält. Aristoteles bestimmt einen entwickelten Zustand der Men-
—————— 1 Nachdem sich der Glaube durchgesetzt hatte, wir lebten jenseits des »Bewusstseinsparadigmas«, feierte die Philosophie des Geistes fröhlich Urständ, und trotz postmetaphysischen Denkens wird wieder Metaphysik getrieben. Es wäre ein seltsamer Konformismus, wenn Autoren wie Foucault oder Butler nicht widersprochen werden ›dürfte‹.
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schen als einen des Glücks, ein Leben der Blüte. Die »Glückseligkeit stellt sich dar als ein Vollendetes« (Aristoteles, NE I.5, 1097b 20). Vollendet wird dabei nichts Göttliches, sondern die »eigentümlich menschliche Tätigkeit« (NE 1.6: 1097b 28). Er gibt dann Bedingungen an, die einer solchen Entwicklung förderlich sind: ein mittlerer Reichtum, Gesundheit, eine Familie und gute Freunde etwa gehören ebenso dazu wie theoretische Bildung und praktische Einübung in die Tugenden. Was hat MacIntyre nun dagegen einzuwenden? Der immer-schon-Bescheid-Wissende (gegen den der Perfektionismus anargumentieren muss) würde sagen, dass eine Ethik ›selbstverständlich‹ nicht biologisch, und eine Biologie erst recht nicht metaphysisch sein ›dürfe‹.2 Doch solange nicht gesagt wird, von welcher Metaphysik die Rede ist und was an ihr falsch oder verwerflich sein soll, sagt dieses schnell gefasste Urteil nur wenig aus.3 Vielleicht ist ihr gerade deswegen die Zustimmung sicher: ein jeder stimmt aus anderen Gründen zu. Vollkommenheit als Idee beispielsweise gibt es selbstverständlich auch in der Metaphysik, sie wird dort aber bezeichnenderweise mit Beispielen aus der Ethik verdeutlicht, so dass nicht zwangsläufig zu befürchten ist, dort würde etwas Übernatürliches eingeschleust.4 Alternativ könnte man hier einen naturalistischen Fehlschluss freizulegen suchen, in dem von wertneutralen Fakten (Sein) auf wünschenswerte Zustände (Sollen) geschlossen werde. Der Haken an diesem Erläuterungsversuch ist allerdings, dass MacIntyre gerade diese Möglichkeit aushebelt, indem er einige Zeilen zuvor beobachtet: »It is important that Aristotle’s initial arguments in the Ethics presuppose that what G.E. Moore was to call the ›naturalistic fallacy‹ is not a fallacy at all and that statements about what is good – and what is just or courageous or excellent in other ways – just are a kind of factual statements« (MacIntyre 1981: 148).
—————— 2 Zur Bestimmung des »menschlich Guten« meint etwa Martin Seel: »Die Erinnerung an Lebensformen von Buchen, Käfern oder Rehen, mit Verlaub, hilft da nicht allzu viel« (Seel 2010: 240). Das verfehlt die Intention von Philippa Foot oder dem späteren MacIntyre. Es geht nicht um inhaltliche Bestimmungen, sondern die Logik des Wortes »gut«. 3 Für Heidegger z.B. implizierte die moderne Biologie metaphysische Annahmen: eine Vorhandenheitsontologie von Dingen mit Eigenschaften. Aber wie soll eine alternative Biologie aussehen? Auch in Umwelten und Prozessen haben Dinge noch Eigenschaften. 4 Wenn Aristoteles in der Metaphysik Vollkommenheit beschreibt, ist das zentrale Beispiel die Tugend. Es ist nichts überweltliches daran, dass »etwa ein Arzt vollendet ist und ein Flötenspieler, wenn ihnen nach der Form der ihnen eigenen eigentümlichen Tugend nichts mangelt« (Met V.16: 1021b 12). Die Vollendung unterscheidet den Meister vom Lehrling, nicht – wie Dewey (1920: 130) unterstellt – das »perfect being« oder eine »Supreme Reality« von der normalen Welt.
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Aristoteles einen solchen Fehlschluss zu unterstellen hieße in der Tat, ihm sinnwidrig das Theorieprogramm eines reduktionistischen Naturalismus zu unterschieben, um ihm anschließend das anzukreiden, was nicht in dieses Programm passt. Ein solches Verfahren ist hermeneutisch wertlos, da es gar nicht zu verstehen versucht, was Aristoteles eigentlich vorgehabt haben könnte, sondern sogleich die eigenen Verständnisse dieser Worte unterschiebt. Die Frage, was genau MacIntyre an der »metaphysischen Biologie« von Aristoteles kritisieren möchte – wenn es nicht nur ein vager und modischer anti-naturalistischer Affekt ist –, ist also nicht so einfach zu beantworten. Erst eine spätere Stelle vermag hier Aufschluss zu bringen: »It has been argued that all we need to provide in order to justify an account of the virtues and vices is some very general account of what human flourishing and wellbeing consist in. The virtues can then be adequately characterized as those qualities necessary to promote such flourishing and well-being, because, whatever disagreements in detail on that subject, we ought to be able to agree rationally on what is a virtue and what a vice. This view ignores the place in our cultural history of deep conflicts over what human flourishing and well-being consist in and the way in which rival and incompatible beliefs on that topic beget rival and incompatible tales of the virtues« (1981: 162).
Offensichtlich also hält es MacIntyre für unmöglich, eine Theorie der menschlichen Natur zu formulieren, die dem Pluralismus der Kulturen und ihrer Tugendkataloge gerecht werden kann. Damit verlässt sich MacIntyre, der es sonst darauf anlegt, moderne Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, recht unhinterfragt auf den kulturalistischen Konsens seiner geisteswissenschaftlichen Zeitgenossen. Aber ganz bruchlos geht es dabei nicht zu. An dieser Stelle begegnet nämlich eine Merkwürdigkeit, die sich schnell überliest, die jedoch systematisch überaus aufschlussreich ist: Es würde Sinn machen, die kritisierte Position so zu formulieren: A: Zwar gibt es verschiedene Tugendkataloge,5 doch Meinungsverschiedenheiten können ausgeräumt werden, da wir uns auf eine Konzeption der menschlichen Natur einigen können.
Hier hängen die Vorstellungen von den Tugenden von den Vorstellungen über die menschliche Natur ab. Da in der letzteren eine Einheit leichter zu erzielen ist, ist das Problem des Pluralismus lösbar. (Und die zu erwartende Kritik daran würde in etwa sagen: ›Nur leider haben wir zu dieser Natur
—————— 5 So zwischen Aristoteles und Nietzsche, Hume und der Bibel (MacIntyre 1984: 149).
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keinen unmittelbaren Zugang.‹)6 Das ist allerdings nicht, was MacIntyre sagt. Er stellt die zu kritisierende Position vielmehr so dar: B: Zwar gibt es verschiedene Konzeptionen der menschlichen Natur, doch Meinungsverschiedenheiten können ausgeräumt werden, wenn wir uns auf einen Tugendkatalog einigen.
Diese Position macht wenig Sinn, denn hier scheinen die Vorstellungen von der menschlichen Natur von den Moralvorstellungen abzuhängen.7 Nimmt man an, verschiedene Kulturen würden sich auf einen Tugendkatalog einigen können, dann bedarf es des Umwegs über eine menschliche Natur nicht. Das könnte ein Grund sein, warum sie hier fallengelassen wird; doch es gibt den Gegner seltsam verzerrt wieder. Wie kommt es, dass MacIntyre dieser Lapsus unterläuft? Vielleicht war er sich selbst in der Beweisführung voraus: Sein Punkt ist, dass es im Bereich der Kultur große Unterschiede gibt. Aber was für ein Argument ist das? Nimmt man die Position ernst, die MacIntyre kritisieren will, so trägt dieses Argument nicht weit: Auch der Essentialist weiß, dass es kulturelle Unterschiede gibt, aber eben die möchte er durch den Rückgang auf die grundlegendere Ebene der menschlichen Natur einer Verständigung zuführen.8 Die bloße Tatsache eines Pluralismus sagt noch nichts darüber aus, ob es diese grundlegendere Ebene gibt oder nicht, und (wenn es sie gibt) ob sie rational zugänglich ist oder nicht, oder (wenn sie zugänglich ist) welche Art von Rationalität dabei leitend sein kann. Ein Argument ist die kulturelle Vielfalt erst dann, wenn man die Begründung umkehrt und die Natur von der Kultur abhängen lässt. Damit jedoch hat man dem Essentialisten das Wort im Munde verdreht (die Abhängigkeit wird umgedreht), und man hat unter der Hand die Referenz auf Natur gegen eine Referenz auf Vorstellungen über die Natur ausgetauscht. Man hat den Essentialisten damit belehrt, aber damit wird man ihn kaum überzeugen. Man will ihm den eigenen Kulturalismus ›überstülpen‹, was mehr einer Bekehrung als einer
—————— 6 Dieser topos vom ›Zugang‹ scheint zu unterstellen, ›die Natur‹ befände sich irgendwo abgetrennt im Raum (als wären wir nicht immer schon ›in‹ ihr), nur wüssten wir nicht wo, oder hätten den Schlüssel verloren. Dieses Bild ist schief und lässt sich aus einer pragmatistischen Perspektive korrigieren. Es war ein zentrales Ziel von John Dewey, den Eindruck der Fremdheit der Natur bzw. der Naturwissenschaften zu überwinden. 7 Das wäre weniger eine Begründung als eine moralpsychologische Kritik: »Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt. Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen« (Wittgenstein ÜG § 248). 8 »Agreement« meint Einverständnis; »to agree« sagt also, dass sich verschiedene Kulturen auf etwas einigen können; nicht, dass eine die andere überstimmt und beherrscht.
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Argumentation gleicht (Wittgenstein, ÜG 612). Damit werden sich nur diejenigen bestätigt sehen, die ohnehin skeptisch gegenüber anthropologischen Fundamenten sind. Ich vermute, diese für ihn günstige Verdrehung ist MacIntyre lediglich unterlaufen. Immerhin aber ist damit die Problemdimension benannt, die MacIntyre mit der vorgeblich »metaphysischen Biologie« des Aristoteles hat: Er laboriert an dem Verhältnis von Kultur und Natur. Um noch einmal auf die zitierte Stelle zurückzukommen – dort moniert MacIntyre (1981), dass Aristoteles über Kultur und Natur zugleich rede: »Aristotle thus sets himself the task of giving an account of the good which is at once local and particular – located in and partially defined by the characteristics of the polis – and yet also cosmic and universal. The tension between these poles is felt throughout the argument of the Ethics« (148).
Gemeint ist, dass Aristoteles einerseits von dem Menschen als Gattung redet und für ihn das Gute sucht, es andererseits nur in der athenischen Polisdemokratie zu finden vermag. Dieser Punkt ist allerdings nur dann ein starkes Argument gegen Aristoteles, wenn die Spannung zwischen den Polen als Widerspruch interpretiert wird – wenn also eine Theorie des Guten nur entweder lokal oder universal sein kann. Es lassen sich Extremfälle denken, in denen das so sein mag – etwa wenn, um ein Beispiel zu geben, die lokale Ethik von wilden Germanen konträr gegen die sich als universal verstehende Moral des römischen Weltreichs steht. Im Normalfall allerdings durchdringen sich diese beiden Dimensionen – selbst »Rom« zeigt ja eine Lokalität an (immerhin aber eine Welt-Stadt, »urbi et orbis«), während die barbarische Ethik ebenfalls »kosmisch« abgesichert war (durch germanische Götter).9 Diese Pole durchdringen sich selbst in Extrembeispielen, es liegt daher kein echter Widerspruch, sondern lediglich eine Spannung vor. Die interessantere Frage ist daher, wie diese Spannung zwischen lokaler und universaler Ethik aufgelöst werden kann. Eine Möglichkeit der Lösung wäre es beispielsweise, kulturell eingespielte Techniken einerseits von einer natürlich vorgegebenen Palette menschlicher Möglichkeiten andererseits zu unterscheiden – oder, wie wir anlässlich von Dewey und Marx sagen werden, eine erste von einer ›zweiten Natur‹.10 Dann nämlich könnte man verschiedene kulturelle Varianten nicht nur vergleichen, sondern auch
—————— 9 Das Beispiel ist leitmotivisch: »Wie der Germane gegen die römischen Kaiser lehnte sich Luther gegen die römischen Päpste auf« (Alexander Demandt in der Weltwoche 19/2009). 10 Zur Debatte zwischen Philippa Foot und John McDowell vgl. Wesche 2010.
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bewerten. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Wenn Kinder aufgrund »natürlicher« Vorgaben wie des »extra-uterinen Frühjahrs« (Adolf Portmann), anders als Kaulquappen oder kleine Fische, dringend den Schutz und die Zuwendung der Eltern und anderer erwachsener Artgenossen brauchen, dann ist die Organisation dieser Zuwendung eine Aufgabe, die Kulturen mehr oder weniger gut hinbekommen können. Der Betrachter muss, wird die natürliche von der kulturellen Ebene unterschieden, nicht bei der achselzuckenden Zurkenntnisnahme einer Vielfalt von Möglichkeiten der Kinderbetreuung stehen bleiben. Es ist dann möglich, einzelne dieser Möglichkeiten zumindest grob zu bewerten: Etwa wenn eine besonders rauhe Kultur bereits kleine Kinder den Unwegsamkeiten des Kampfes ums Dasein überlässt, was ihnen die Ausbildung eines Grundvertrauens in sich und die Welt erschwert,11 oder wenn eine ›zivilisierte‹ Kultur die Nähe zu den berufstätigen Eltern zunehmend durch Fernsehen, Computerspiele und Internet ersetzt, wäre das zu kritisieren (Hochschild 2012). Dieses Beispiel ist nicht aus der Luft gegriffen: die Ermöglichung eines ethischen Vergleichs zwischen verschiedenen Kulturen verfolgte Aristoteles in seiner Suche nach der besten politischen Verfassung, und so etwas hatte auch Martha Nussbaum motiviert.12 Um hier Aussagen treffen zu können, erarbeitete sie eine Liste von natürlichen menschlichen Fähigkeiten, deren Ausbildung ein »Gut« darstelle. Bis dato waren in globalen Wohlfahrtsvergleichen primär monetäre Kennziffern verglichen worden (BIP, Wachstumsraten etc.). Das mag ökonomisch Sinn machen, hat jedoch ethisch wenig Aussagekraft, da die reale Lebenssituation und das Befinden der betroffenen Individuen damit nicht abgebildet wird. Natürlich braucht jede Kultur irgendwelche Ressourcen, aber es lässt sich mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln recht gut leben, während ein hoher Ressourcenverbrauch noch kein gutes Leben für alle garantieren muss. Um über das gute Leben jenseits ökonomischer Zahlen urteilen zu können, bietet sich das Vergleich der Fähigkeiten an: Inwiefern erlaubt eine Kultur es allen ihren Mitgliedern, ihre Fähigkeiten auszubilden und auszuüben? An dieser Stelle gibt es eine interessante ideengeschichtliche Wendung zu konstatieren: Während Nussbaum ihren Essentialismus wieder zurückgenommen hat und nun eine dezidiert nicht-perfektionistische Konzeption vertritt (Nussbaum 2011a, b), so hat MacIntyre im Gegenzug seine
—————— 11 Das betrifft weniger Naturvölker als etwa Kinderarbeit (ILO 2011). 12 »Hatte« deswegen, weil Nussbaums Position sich inzwischen verändert hat. Nach Nussbaum 2000: 6 sind solche Vergleiche ein Nebenziel ihres Ansatzes (s.o., Kap. 3.2).
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Skepsis gegenüber Aristotelisch-anthropologischen Argumenten zurückgenommen und verteidigt nunmehr Konzeptionen, die er früher »metaphysische Biologie« genannt hätte. Wenn wir diesen Wandel begreiflich machen wollen, gibt es zwei Dimensionen zu betrachten. Erstens hatte MacIntyre diese Ablehnung selbst innerhalb eines perfektionistischen Vorhabens formuliert. Das machte sie recht einfach revidierbar, denn der perfektionistische Rahmen konnte bleiben, ja verlangte regelrecht nach dieser Änderung (1). Zweitens hat sich MacIntyres Naturverständnis in einer Weise geändert, die ihn milder gegenüber Aristoteles hat werden lassen. Wenn er nun Aristoteles kritisiert, dann tut er es inhaltlich und konkret, nicht mehr methodisch und grundlegend (2). Beginnen wir mit dem ersten Punkt. Perfektionismus in ›After Virtue‹ MacIntyre formuliert seine Ablehnung der »metaphysischen Biologie« innerhalb eines praxisphilosophischen Projekts, das selbst perfektionistische Züge hat.13 MacIntyres zentrales Argument in After Virtue, seinem einflussreichsten Werk, lässt sich darstellen wie folgt: Seine Ausgangsbeobachtung ist eine tief gehende Moralkrise: »in the actual world which we inhabit the language of morality is in the … state of grave disorder« (MayIntyre 1981: 2). Die Ursache dafür sei das Scheitern der Moralphilosophie ›der‹ Aufklärung (eine andere allerdings, als die von uns betrachtete – im Mittelpunkt steht u.a. David Hume), die das moderne Denken und Handeln weitgehend geprägt habe. Die Diagnose ist historisch: Die Überzeugungskraft einer Moral hänge davon ab, dass sie einleuchtende Begründungen angeben kann. Was ist ihre sanktionierende Kraft? Im Theismus ist dies Gott, im Naturrecht waren es Gesetze der menschlichen Natur. Die (postmetaphysische) Aufklärungsphilosophie hingegen habe versucht, die Moral am bloßen Individuum, und hier vor allem seiner Gefühle aufzuhängen (daher »Emotivismus«, 18ff.). Zum Ausgangspunkt werde mehr und mehr ein mechanizistisch verkürztes Naturbild; doch das Hauptproblem ist nicht dies, sondern das Fehlen eines teleologischen Fluchtpunktes, der die Ethik mit jenem Menschenbild zusammenzubringen vermag.14
—————— 13 In Praxisphilosophien beabsichtigt das bessere Verstehen der Praxis eine Verbesserung der vorliegenden institutionalisierten Praxisformen, selbst wo das nicht explizit gemacht wird (cf. MacIntyre 1994). Schon das ist ein »perfektionistischer« Zug in der Theorie. Synopsen von MacIntyre gibt es bei Gutschker 2002: 359ff. sowie Knight 2007: 102ff. 14 Rousseau und Condorcet dachten indes keineswegs nicht-teleologisch (cf. 4.1).
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Nietzsches Kritik an der Aufklärungsmoral war deswegen so verheerend, weil es die Lücke tatsächlich gab. So ließ sich die moralische Sprache der Moderne schlagend auf nicht-moralische Absichten zurückführen; jedenfalls solange das isolierte Individuum als Kern der Moral begriffen wurde. »Moral judgements lose any clear status and the sentences which express them … lose any undebatable meaning. Such sentences become available as forms of expression for an emotivist self which lacking the guidance of the context in which they were originally at home has lost its linguistic as well as its practical way in the world« (MacIntyre 1981: 60).
MacIntyre urteilt nun: Nietzsche würde recht behalten und damit die Moral als entlarvtes Sprachspiel gelten müssen, wenn die zentrale Voraussetzung der Aufklärungsphilosophie sich nicht als falsch herausstellen ließe. Genau dies versucht MacIntyre nun zu zeigen. Der Sinn einer eigenständigen Moralphilosophie der Aufklärung hängt für ihn daran, ob das Vorgängermodell (die Tugendethik des Aristoteles) sich zurecht als falsch herausgestellt habe und daher aufgegeben worden sei. Wenn sich Aristoteles gegen die Aufklärung verteidigen ließe (die Aufklärungsmoral also insgesamt als Irrtum, als Missverständnis des Aristoteles erscheint), dann hat die Diagnose von Nietzsche zumindest eine Alternative: nämlich die Rückkehr zu Aristoteles (daher die Überschrift »Nietzsche or Aristotle«, 109ff.). Gemeint ist damit kein heroisierter Ursprungs-Aristoteles, sondern der Denker Aristoteles als Stifter einer Tradition, die auch auf kulturelle Änderungen reagieren konnte (etwa auf die Abschaffung der Sklaverei oder die Einführung des Christentums, vgl. MacIntyre 1988). Die Frage ist also nicht: Zurück zu den Griechen oder nicht? Denn auch Nietzsche wollte auf seine Art zurück, nämlich in die heroische Zeit vor Sokrates,15 während andere eher zur Stoa, zu Epikur oder Platon zurückwollten. Wie Gutschker (2002) und Knight (2007) zeigen, steht MacIntyre damit nicht allein. Sowohl konservative wie progressive Autoren haben im 20. Jahrhundert ihre Konzeptionen im Rückgriff auf Aristoteles artikuliert.16 MacIntyres Aristotelismus lässt sich als Variante des Perfektionismus verstehen – auch der Perfektionismus ist, wie wir sahen, von konservativer wie von progressiver Seite vertreten worden, und ähnlich schillert MacIntyres Buch politisch zwischen konservativ und progressiv.
—————— 15 Darin hat Nietzsche u.a. den späten Heidegger beeinflusst; andere wie Leo Strauss griffen eher auf Platon zurück. 16 Zu nennen sind daneben Hannah Arendt, Leo Strauss, Joachim Ritter und seine Schule, international Philippa Foot, John McDowell oder Martha Nussbaum.
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Dabei kommt es ihm besonders auf die Teleologie an: zwar möchte er sie entnaturalisieren, nicht aber Aristoteles entteleologisieren (was auch ein unsinniges Bemühen wäre). Er stellt als Pole der Teleologie die produktive Spannung zwischen zwei Seinsformen des Menschen in den Vordergrund: zwischen »man-as-he-happens-to-be« und »man-as-he-could-be-if-he-realized-his-essential-nature« (52), oder »human-nature-as-it-happens-to-be« und »human-nature-as-it-could-be-if-it-realized-its-telos« (53).17 Der perfektionistische Gedanke einer Verbesserung des Menschen durch Anleitung und Übung ist klar erkennbar, ja geradezu Hauptthema dieser Tugendethik:18 »Ethics is the science which is to enable men to understand how they make the transition from the former state to the latter« (MacIntyre 1981: 52). Die Teleologie ist in MacIntyres Wahrnehmung die Hauptsache der aristotelischen Ethik: sie argumentiert weder mit einem abstrakten, ortlosen Sollen, noch mit der äußerlichen Autorität eines strafenden Gottes, sondern mit dem verkörperten und vorgelebten Wissen einer Tradition, in dem es um das Glücken oder Misslingen des eigenen Lebens geht. Diese Verstrickung des eigenen Lebens in die Moral ist für MacIntyre die überzeugendste Fundierung einer Ethik. »Das rechte Handeln ist dann nicht von den konkreten, zeitlich und räumlich situierten Vorstellungen über Gelingen und Misslingen des Lebens abzulösen, sondern gewinnt erst von ihnen her seine Gestalt« (Gutschker 2002: 362).
Doch wenn eine Konzeption den Aristotelismus derart als Vorbild in den Mittelpunkt stellt, so muss die Ablehnung ausgerechnet eines Kernstücks, nämlich der anthropologischen Verankerung dieser moralischen Teleologie, überraschen. MacIntyre, der sonst mit Denkgewohnheiten seiner Zeitgenossen nicht zimperlich umgeht, unternimmt ausgerechnet hier eine Akkommodation an den Zeitgeist. Sie lässt sich sogar als eine Art Fremdkörper innerhalb des Theorieentwurfs beschreiben. Er selbst hat sie, wie angedeutet, später zurückgenommen. Es wird sich zeigen, dass MacIntyre dies ändern musste, da dieses Ungleichgewicht missliche Konsequenzen hatte. Halten wir fest: MacIntyre liest die Aristotelische Ethik als eine spekulative Naturteleologie des Menschen. Er möchte davon die Teleologie behalten, nicht aber die Natur.
—————— 17 Seltsamerweise tritt in der zweiten Variante »telos« an die Stelle von »human nature«: so erscheint die »wahre Natur« als das Ziel. Doch das geht an Aristoteles vorbei: Natur ist nur Anlage, Ziel des Menschen ist die eudaimonia (siehe dazu Müller 2006: 83). 18 Sie erfuhr durch dieses Buch einen Aufschwung; vgl. bereits Anscombe 1958. Murray (1994: 127) greift das »man-as-he-would-be-if-he-realized-his-essential-nature« auf.
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Nun muss der Aristotelist MacIntyre neue Fundamente für die Teleologie suchen. Er findet sie in den kulturellen Praktiken. In diesem »socially teleological account« (197) tritt also Kultur an die Stelle der Natur. Das klang zunächst gut, vor allem in den Ohren der anhebenden postmodernen Unverbindlichkeitskultur: Praktiken gibt es ja ganz unterschiedliche, vielleicht kann man sich hier einfach eine aussuchen? Diese Hoffnung wird enttäuscht: Die beliebige Wahl eines eigenschaftslosen Wahl-Subjektes ist genau das, wogegen MacIntyre (wie Sandel 1982) argumentiert. Die Kultur soll dem Individuum einen unhinterfragten Halt geben; sie soll aus den Individuen statt Spielern beliebiger Rollen Charaktere machen, die ihre sozialen Rollen zu Bestandteilen ihrer Identität erklären und für sie einen Sinn von Verantwortung entwickeln (MacIntyre 1994: 284ff.). Mit dieser Totalisierung der Kultur, die dem kontinentalen Konservatismus HansGeorg Gadamers und Joachim Ritters gerade recht kam, hat sich der Altmarxist und revolutionäre Thomist MacIntyre allerdings in eine denkerische Sackgasse manövriert. Er hatte, in der Tradition der Praxisphilosophie, Philosophie immer auch als Teil eines politischen Engagements gesehen (darum seine Betonung des praktischen Syllogismus); aber das einzige Engagement, was hier übrig blieb, war das ›entschlossene‹ Sich-Einstellen in eine Tradition. Also nicht viel. Um – im Wortsinne – zu sehen, warum eine veränderte Naturkonzeption für diese denkerische Sackgasse eine so befreiende Wirkung haben musste, will ich das bislang ausgeführte noch einmal visualisieren. Die erste Ebene ist die von MacIntyre als zu »metaphysisch« empfundene Triade von Jetztzustand, Perfektionierung und Endziel bei Aristoteles: man-as-he-could-be-if-he-realized-his-real-nature Ziel: Metaphysik Ethics
Weg: Tugenden
man-as-he-happens-to-be
Ausgangspunkt: phänomenale Empirie, Erfahrungen der Menschen
1. MacIntyres Bild von Aristoteles In der Philosophie der Aufklärung hat sich zweierlei verändert: Die Ausgangsbasis ist durch den Siegeszug der empirischen Naturwissenschaften exakter, aber auch sinnfremder geworden. Dadurch wird die Verbindung zur Ethik im doppelten Sinne gekappt: Abgesehen von dem moralisch ungangbaren Weg Nietzsches gibt es erstens keine moralische Teleologie
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mehr. Damit scheitert zweitens jeder Versuch, eine Ethik mit der gegebenen Natur der Dinge zu vermitteln. In diesem Bild entsteht der dualistische Spalt zwischen Sein und Sollen, so dass Ethiken vielleicht noch artikuliert, aber nicht mehr begründet werden können. Entweder werden Ethiken ins Blaue hinein entworfen (d.h. sie haben keine Begründung, wie nach MacIntyre etwa der Emotivismus oder der Intuitionismus), oder sie werden auf eine mechanizistisch enggeführte Natur reduziert, was unweigerlich den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses nach sich zieht. man-as-he-could-be-if-he-realized-his-telos
(- fehlt, einzige Alternative: Nietzsches Raubtier-Elite)
Ethics
(- findet ohne telos keine Begründung, Alternative: Setzung, naturalistic fallacy)
man-as-he-happens-to-be
Ausgangspunkt: Mechanistische Empirie, Naturwissenschaften
2. Moralkrise nach der Aufklärung Wie gesehen liegt die Lösung für MacIntyre darin, die leere Stelle der Teleologie wieder neu zu füllen, aber diesmal ohne »metaphysische Biologie«. An die Stelle der Metaphysik tritt nun die Kultur, die allerdings – sofern sie ein Ziel der Moral, ja der Lebensführung überhaupt abgeben soll – stark idealisiert werden muss. Da dies für die Gegenwart schwieriger ist als für die Vergangenheit, kommt es hier (wie so oft seit der Neuzeit) zu einer Graecophilie, die zwischenzeitlich einer Begeisterung für das christliche Mittelalter weicht. Dabei ist MacIntyre kein Reaktionär, denn ihm ist klar, dass sich das Gute für den Menschen mit seinen Praktiken ändert. Damit ändern sich im gewissen Rahmen auch die nötigen Tugenden (an die Stelle der megalopsychia tritt beispielsweise die misericordia, 1999, 123f.). man-as-he-could-be-if-he-realized-his-telos
Ziele: Ideale »Kultur« (historische Vorbilder)
Ethics
Weg: Neue Tugenden
man-as-he-happens-to-be
Ausgangspunkt: Reale Kultur
3. Heutige Tugendethik: Soziale Teleologie An dieser Position ließ sich kritisieren, dass es zu einem hermetischen Kulturalismus kommt: Tritt Kultur an die Stelle der Metaphysik bzw. der Natur, dann bekommt sie in diesem Denken eine normative Kraft, die sie
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von Haus aus – gerade angesichts ihrer Wandelbarkeit – nicht hat. Die Konzeption wird also nicht nur zirkulär, sondern auch unentrinnbar. man-as-he-could-be-if-he-realized-his-telos idealisierte Tradition (»Ursprung ist das Ziel«) Ethics
Narrative
man-as-he-happens-to-be
Praktiken (schon informiert von Tradition)
4. Kritik: Hermetischer Kulturalismus Wie genau diese ›soziale‹ Tugendethik bei MacIntyre konzipiert ist, ist hier zweitrangig (sie will die Einheit des Lebens angesichts der Pluralität von Praktiken primär über »Narrative« erzielen, welche ihrerseits auf Traditionen angewiesen sind). Es gilt vielmehr genauer hinzusehen, was systematisch passiert. MacIntyre wirft Aristoteles vor, dass seine Ethik auf einem universalen Naturbegriff und zugleich auf einem partikularistischen Kulturbegriff aufruhe. Hierin sieht er einen Widerspruch, den er nun in Richtung Kultur auflöst, womit die Kultur allerdings etwas Hermetisches bekommt. In der Tat gibt es bei Aristoteles beide Dimensionen: er spricht einerseits von dem Menschen als Gattung, welcher gewisse Eigenschaften habe; andererseits von der griechischen Polis als einer spezifischen Kultur, in der sich die Natur des Menschen auf eine ideale Weise verwirklicht habe. Nun gibt es im Aristotelischen Werk gewiss einige Spannungen, nicht zuletzt zwischen diesen beiden Dimensionen: so spricht Aristoteles einerseits dem Menschen Vernunft zu; andererseits legitimiert er die Sklaverei in Athen damit, dass diese Menschen nicht genug Vernunft hätten. Ähnliches sagt er auch über die Frauen und die Tagelöhner. Doch dass es im Werk des Aristoteles Spannungen gibt, muss für den Leser kein Nachteil sein. Denn gerade das Vorhandensein zweier Ebenen macht es möglich, Aristoteles immanent zu kritisieren, indem eine Dimension mit der anderen korrigiert wird (»Aristotle against Aristotle«, MacIntyre 1999, 8). So lässt sich die Sklaverei oder die Ausgrenzung der Frauen nicht aufrechterhalten, wenn die Vernunft wirklich den Menschen als Menschen zukommt (und nicht nur besitzenden männlichen Athenern).19 Dieses Argument war schon Aristoteles bekannt,20 und mit dieser natürlichen Gleichheit wurde
—————— 19 Ähnlich bereits Nussbaum (1988), vgl. Gutschker (2002: 107, 286 oder 318). 20 ›Bekannt‹ heißt nicht, dass er es teilte: »Gegen dieses Recht nun [auf Versklavung der im Krieg Besiegten, CH] erheben viele Gesetzesgelehrte die … Klage auf Gesetzeswidrig-
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die Sklaverei im 18. Jahrhundert tatsächlich offen bekämpft. Wie aber soll die Kultur der Sklaverei kritisiert werden, wenn keine andere Dimension als die Kultur zur Verfügung steht (IV.1)? Wenn etwa Bernard Williams verkündet, man sei als Aristoteliker nicht auf Sklaverei und Exklusion von Frauen verpflichtet,21 dann ist an dieser Stelle zurückzufragen: Warum eigentlich nicht? Will man denn nicht gerade auf die Tugenden zurückgreifen, die in der griechischen Kultur – oder zumindest ihrer philosophischen Idealisierung – so gut als Gegenfolie zur individualistisch-beliebigen Moderne eignen? Wie aber scheidet man innerhalb des Alten als Korrekturinstanz das Gute vom Schlechten? Wenn man sich auf Kulturen als Träger der Ziele verpflichtet, nach denen Individuen ihr ganzes Leben ausrichten, ohne dass dabei eine weitere Dimension als Korrektiv mitgedacht wird, gibt es im Zweifelsfall kaum mehr etwas, was dagegen aufgeboten werden könnte. (Denn das zweifelndkritische Subjekt der Vernunftphilosophie und die Rousseauistische Natur, die beide der ›Aufklärung‹ entstammen, fallen als Rückfallposition aus.) Als Bewohner spätmoderner Gesellschaften können wir natürlich sagen: In unserer Kultur gibt es eben keine Sklaverei mehr.22 (Das stimmt leider nur im normativen Selbstverständnis, nicht in der Realität, vgl. E.B. Skinner 2008.) Doch das hat systematisch vier große Nachteile: Erstens würde das antike Griechen (solange sie selbst keine Sklaven sind) oder heutige Sklavenhändler kaum überzeugen. Wir schränken die Geltung ja selbst auf unsere Kultur ein. Solange unsere Kultur sie nicht besiegt, besagt das argumentativ wenig aus. Zweitens würde eine immanente Kritik, die sich bewusst nur auf solche Werte beschränkte, die in der zu kritisierenden Kultur selbst angelegt sind (»standards internal to that tradition«, 1981: 277), in dieser Kultur wenig Anhaltspunkte finden. Wir wären nicht einmal in der Lage, den Kampf gegen die Sklaverei rational zu rekonstruieren, weil der Bezug auf Werte jenseits dieser Kultur-mit-Sklaverei für eine ›immanente Kritik‹ schlicht als Fehler erscheinen würde. Es muss, diesem Denkschema zufolge, von dieser Kultur als Anachronismus, Imperialismus, Utopie, als Ausgriff auf Transzendenz oder eine essentielle Natur des Menschen erscheinen, wenn man plötzlich Werte einer Kultur-ohne-
—————— keit, als wäre es schrecklich, dass das Besiegte der Sklave und Diener dessen sein sollte, der es besiegen kann« (Aristoteles, NE I.6: 1255a 8). 21 »[A]n Aristotelian outlook is not committed to Aristotelian views on slavery or on the position of women« (Williams 1985: 35). 22 Solch eine ›Begründung‹ gibt es nicht nur bei Rorty, sondern auch bei Raz 1986.
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Sklaverei importieren wollte. Drittens entsteht die Frage, was man überhaupt von Aristoteles übernehmen möchte, wenn es weder seine Naturnoch seine Kulturvorstellungen sind. Es bleiben nur vage Analogien: z.B. dass es irgendein telos geben möge, nach dem sich Menschen richten; oder dass man bei Erklärungen Werturteile benutzen darf (197ff.). Und viertens hätte das Auswirkungen auf unsere eigenen Verhältnisse: wir wären dann unserer eigenen Kultur gegenüber ebenso ausgeliefert, wie es der Sklave gegenüber der seinen war. In unserer Kultur mag Sklaverei verpönt sein; aber andere Missstände wie die Überausbeutung natürlicher Ressourcen, die Gefährdung des Klimas, die subtile Ausgrenzung vieler Frauen (etwa aus Führungspositionen) und die Schlechterbehandlung von Migranten – um nur einige Beispiele zu nennen – wären wir hinzunehmen gezwungen, solange sie den verbreiteten Praktiken und Werten entsprächen. Die Gefahr dieses ethischen Kulturalismus der »sozialen Teleologie« wäre daher eine doppelte, nur scheinbar widersprüchliche: Einerseits bewegen wir uns in Richtung eines Relativismus, durch den wir den sich ändernden Traditionen ausgeliefert sind, da es keine anderen normativen Ressourcen für uns gibt.23 Damit bekommen diese Traditionen andererseits eine ungeheure Macht, denn sie fungieren nun wie hermetische WertContainer. Ein protestantischer Christ beispielsweise hat kaum eine Wahl, außer die, die protestantische Ethik zu exekutieren. Diese Doppelstruktur ist tragisch, und darin auf reflexive Weise noch einmal graecophil: Wir wissen zwar, dass Traditionen sich ändern, aber sind wir einmal in eine Tradition ›gestellt‹, so können wir aus ihr nur schlecht heraus. Das war etwa der Haken an der verwandten Philosophie Hans-Georg Gadamers, die damit einen wunden Punkt bei Martin Heidegger verlängerte.24 An dieser Stelle zeigt sich die Relevanz einer anhaltenden Debatte zwischen Hermeneutik und kritischer Theorie (siehe Gadamer et al. 1973), die im angelsächsischen Kontext lediglich andere Namen trägt: die hermeneu-
—————— 23 Traditionen lernen im Kulturkontakt (MacIntyre 1984, 276f.), doch gebe es keine Garantie für Verständigung; so halte sich jede Tradition für »the best theory so far« (277). 24 Auch Gutschker hält MacIntyres Kulturalismus für hermetisch: Brüche oder Konflikte ließen sich nicht denken (2002: 375). Zur Parallele bei Gadamer Knight 2007: 102f. Für Heidegger (1927: § 74) war es erstrebenswert, keine Wahl mehr haben zu müssen: Mit der emphatischen Wahl seiner selbst wählt man auch seine Tradition. Die »kämpfende Nachfolge und Treue zum Wiederholbaren« affirmiert das Herkommen und lässt die moderne Beliebigkeit des ungebundenen wählenden Subjektes hinter sich. (Right or wrong, my country). Karl Mannheim hat eine solche Verdrängung von Kontingenz (des Wissens darum, dass alles auch anders sein könnte) eine »Reprimitivisierung« genannt.
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tische oder kontextualistische Einsicht in die »Einbettung« normativer Strukturen in historische und gesellschaftliche Kontexte (»A moral philosophy … presupposes a sociology«, MacIntyre 1981: 23) kann dazu führen, sie gegen kritische Einreden zu immunisieren. Denn kämen diese Einreden von ›außen‹, seien sie aufgrund ihrer Unübersetzbarkeit für diesen Kontext nicht relevant.25 Aufschlussreich für diese Auffassung bei MacIntyre ist eine frühe Rezeption von Peter Winch, in der MacIntyre schreibt: »Erwägen wir aber ernstlich nicht die, wie ich glaube, irrige These von Winch, dass wir nicht über die Selbstdarstellung einer Gesellschaft hinausgehen dürfen, sondern die, wie ich glaube, richtige These, dass wir dies nicht dürfen, es sei denn, wir hätten die in dieser Darstellung enthaltenen Kriterien verstanden, dann müssen wir allerdings folgern, dass die gänzlich verschiedenen [!] begrifflichen Schemata und institutionellen Bedingungen verschiedener Gesellschaften eine Übersetzung so sehr erschweren, dass das Bemühen um interkulturelle Verallgemeinerungen gar zu oft wenig mehr als eine Zusammenstellung von Katalogen ergibt. … Das heißt, das Verstehen eines Volkes unter Bezug auf seine eigenen Begriffe und Glaubenssätze schließt tatsächlich tendenziell die Möglichkeit aus, sie auf andere Weise zu verstehen« (MacIntyre 1967: 127).
Es scheint, als hätte im Bewusstsein der heutigen Erben der Kritischen Theorie die Hermeneutik gewonnen (Honneth 2010: 78, 84, 114; cf. II.3).26 Kommen wir damit zur Naturkonzeption des späteren MacIntyre. Denn an ihr lässt sich studieren, wie man einer Autodepotenzierung der Kritik durch Gegenstandsverlust entgehen kann, ohne damit auf naive Weise reduktionistisch zu werden. Es ist zudem ein Beispiel dafür, dass Selbstkorrekturen auch in der Philosophie möglich sind. Welche Natur? Was für eine Teleologie? Noch heute vertreten einige Philosophen MacIntyres alte These von 1981, die aristotelische Ethik gründe auf seiner »metaphysischen Biologie«. Das ist in den meisten Fällen gleichbedeutend damit, sie abzulehnen. Darunter ist neben Manuel Knoll (2009, 219ff.), wie wir sahen, Sher (1997: 224f., s.o., 2.3). Angesichts von MacIntyres gewandelter Position ist das ein seltsamer Anachronismus. Ob der spätere MacIntyre allerdings gegen den
—————— 25 Vgl. neben Winch 1958 die These der »Unbestimmtheit der Übersetzung« bei Quine 1960: § 12 sowie Williams 1981 (s.u., Fn. 106). 26 Man kann ihren Universalitätsanspruch bestreiten (Habermas in Gadamer 1973), ohne Hermeneutik als »antinaturalistische Ideologie« zu geißeln (Kanitschneider 2008: 158ff.).
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früheren Recht hat, muss sich erst erweisen. Denken wir daher noch einmal neu nach. – Es gibt zwei verschiedene Möglichkeiten, der Kritik der metaphysischen Biologie auszuweichen: Entweder sagt man, es sei gut, in der Ethik eine Metaphysik zu vertreten, und die teleologische Metaphysik der aristotelischen Tradition sei im Grunde noch heute vertretbar. Dass MacIntyre sich in seinem nächsten Buch von 1988 primär auf Thomas von Aquin stützt, könnte darauf hinweisen, dass er primär in diese Richtung weitergedacht habe, denn der Thomismus vertritt eine Aristotelisch-theistische Metaphysik.27 Allerdings ist diese Nähe zur Metaphysik bei MacIntyre eine Zwischenperiode, und selbst in ihr diente ihm Thomas eher zur Exemplifikation der Tugenden als zur offenen Rehabilitierung der metaphysischen Biologie.28 Später bleibt er zwar – wie er sagt – Thomist, doch dies ohne großen metaphysischen Ballast. Oder man sagt, Aristoteles stütze sich in der Ethik zwar auf Annahmen über die Natur des Menschen, aber das sei nicht metaphysisch zu verstehen. Er leite also nicht aus einer spekulativen Zoologie des Menschen normative Sätze ab. Immerhin kann man sich ja auch anders als metaphysisch auf Natur beziehen.29 Dieser Weg scheint mir erfolgversprechender zu sein. Ich möchte daher zwei Möglichkeiten eines nicht-metaphysischen Naturbezugs in den Vordergrund stellen, die für eine aristotelische Ethik in Frage kommen. Wir werden sehen, dass sie erst zusammengenommen Sinn für die Ethik machen. Eine Möglichkeit dieses nicht-metaphysischen Naturbezugs ist der Ansatz in den Erfahrungen der Menschen. Als Naturwesen, die sie sind, erfahren Menschen die äußere wie auch ihre innere Natur. Natur ist nicht irgendwo weit weg ›da draußen‹, sondern sie ist, bildlich gesprochen, ›vor‹ uns (wir atmen, essen, gehen spazieren etc.), ›hinter‹ uns (die Natur treibt uns, auch wo wir es nicht wollen oder wissen)30 und ›in‹ uns (wir ›haben‹
—————— 27 »Es scheint, als verfechte der Ire nun unter anderem Namen, was er einst als ›metaphysische Biologie‹ abgelehnt hatte. Von ›first principles‹, ›final ends‹ and ›necessary thruths‹ [MacIntyre 1998: 173f., CH] war in After Virtue gerade nicht die Rede gewesen, weil MacIntyre die geschlossene Teleologie des Aristoteles öffnen und dynamisieren wollte« (Gutschker 2002: 381). 28 Etwa als theologischer Biologie; vgl. Spaemann/Löw 1981 oder Blanchette 1992. 29 Ähnlich sagt Strauss, »Form« und »Inhalt« in Aristoteles Politik (III.1–3) seien nicht metaphysisch aufzufassen: »Metaphysical means the same as common-sensible here«, es seien »empirische« Aussagen über Natürliches (Strauss 1959: 238; 1964: 45; nach Gutschker 2002: 105, der das als Einfluss des frühen Heidegger liest. Knoll 2009: 222f. hingegen genügt es bereits als Beleg, dass sich Aristoteles auf seine Tierkunde bezieht. 30 »[W]ir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur« (Büchner: Woyzeck, 241).
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einen Organismus, oder er uns). Oder besser, da wir selbst Teil der Natur sind: wir sind ›in‹ ihr. Erfahrungen der Menschen von und mit Natur sind zwar so gut wie nie unüberformt,31 sondern meist kulturell ›eingebettet‹ und daher vielfältig. Ich kann den Wald als Bedrohung oder als Erholung erleben; ich kann meinen Hunger als Belästigung erleben (wenn ich lieber weiter schreiben möchte) oder als Selbstbestätigung (z.B. falls ich magersüchtig bin); als willkommene Ablenkung (wenn mir ein Bratengeruch in die Nase steigt) oder als Qual (wenn keine Nahrung verfügbar ist). Da es in diesen Erfahrungen aber um Natur geht, können diese Erfahrungen von Natur der in ihnen erfahrenen Natur nicht mehr abstrakt gegenübergestellt werden. Es gibt für Menschen nicht hier die kalte, sinnfreie Natur und dort die warme, aber naturfreie Kultur; sondern die Kultur selbst ist und bleibt ein Mechanismus menschlicher Naturbewältigung und -Gestaltung. Sicher kann es im Konkreten gleichwohl Konflikte zwischen ihnen geben: so, wenn mein Naturell sich an meiner sozialen Rolle reibt; wenn Menschen an den Rand ihrer Kräfte geraten oder ich im Kino plötzlich müde werde oder Herzattacken bekomme. Das meint nicht, dass wir nicht anders als Pflanzen oder Tiere sind, sondern dass wir selbst bei der Lektüre von Science Fiction und beim Hören des komplexesten Streichquartetts nicht aufhören, natürliche Wesen zu sein: »we never make ourselves independent of our animal nature and inheritance« (MacIntyre 1999, 49); oder, noch deutlicher: »we are not outside nature« (Sayer 2011: 101). An solche Erfahrungen anzuknüpfen ist keine deduktive Metaphysik, sondern eine komparative Phänomenologie. Komparativ deswegen, weil verschiedene Menschen unterschiedliche Erfahrungen machen (Pluralismus ist also keineswegs ein Fremdwort im Aristotelismus), die aber eine gemeinsame und geteilte menschliche Natur implizieren. Da diese ›erste Natur‹ offensichtlich verschiedene Lebensformen erlaubt, kann man nicht behaupten, dass einige wenige von ihr ›determiniert‹ würden, wie dies etwa Bernard Williams Aristoteles unterstellt hat: »Even if we leave the door open to a psychology that might go some way in the Aristotelian direction,32 it is hard to believe that an account of human nature – if it is not already an ethical theory itself – will adequately determine one kind of ethical
—————— 31 Außer in Extremsituationen wie z.B. der Todesangst. Welche Rolle kulturelle Todesvorstellungen für die nähere ›Gestalt‹ dieser Angst spielen mögen, mag ich nicht beurteilen. 32 Darunter verstehe ich z.B. die Selbstverwirklichungstheorien der positiven Psychologie (s.u., IV.3). MacIntyre kritisierte bereits 1970 Herbert Marcuses Freiheits-Anthropologie als zu »metaphysisch« und »biologisch« (MacIntyre 1970: 87).
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life as against others. Aristotle saw a certain kind of ethical, cultural, and indeed political life as a harmonious culmination of human potentialities, recoverable from an absolute understanding of nature. We have no reason to believe in that« (Williams 1985: 52).
Man muss die Rolle der Natur in einer komparativen Analyse der Erfahrungen der Menschen (endoxa) nicht als »ein absolutes Verständnis« interpretieren, welches bestimmte Formen von Sittlichkeit »determiniere«. Hier liegt deswegen kein Determinismus vor, weil zwischen natürliche Anlagen und Eudaimonia die kulturellen Bewertungen treten, in die die Menschen hinein sozialisiert werden. Der zuvor von MacIntyre (1981: 66) kritisierte Philosoph Alan Gewirth hat diese zur Kultur hin offene Dimension der Nikomachischen Ethik in einem späteren Werk gegen MacIntyre verteidigt: »In the case of practical sciences … Aristotle held that the movement or development of their subject matters cannot be accounted for by this simple scheme of the actualization of inherent potentialities. Rather, an intermediate concept must be invoked: habit or habituation (hexis or ethos), which reflects human choices and conditionings. … these potentialities can be turned in many different directions … It is thus a mistake to interpret Aristotle’s doctrine of the human good along the lines of his ›metaphysical biology‹, as if that good were a ›natural end‹ or telos consisting in the actualization of human potentialities« (Gewirth 1998: 11f.).
Die andere Möglichkeit neben dieser alltäglichen Erfahrungsebene ist die empirische Wissenschaft: Als Naturwesen kann auch der Mensch Gegenstand empirischer Wissenschaften sein. Die Erkenntnisse über den Menschen, die hier erzielt werden, mögen zwar kontraintuitiv sein, denn es werden Dinge deutlich, die vorher unsichtbar waren – das beginnt mit dem Aufschneiden von Leichen und führt über das Mikroskop bis zum Hirnscan (vgl. Foucault 1963). Doch insofern der Gegenstand, der erforscht wird, kein anderer ist als der, den wir aus eigener Erfahrung kennen, ist bei den Humanwissenschaften das Husserlsche Lebensweltproblem (die Diagnose, dass die Ergebnisse der Wissenschaften nicht mehr mit dem Erlebnishorizont der Menschen zu vermitteln sind) weit weniger drastisch.33 Pragmatistisch gesprochen: Medizin, Psychologie und Humanbiologie, selbst die Neurowissenschaften wollen im alltäglichen Leben der Menschen einen Unterschied machen. Es wäre daher absurd, bei Kopfschmerztabletten oder der Bekämpfung von TBC von einer Entfremdung des Menschen von der Natur durch die Wissenschaft zu sprechen.
—————— 33 »Körper« und »Leib« etwa, die in der philosophischen Anthropologie unterschieden werden, meinen nur verschiedene Perspektiven auf dasselbe.
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Solche Mittel wirken unabhängig von kulturellen Kontexten; sie sind auf natürliche Weise universal. Man kann Menschengruppen nicht unter Bezug auf Kultur oder Religion etwa eine Aidstherapie oder -Prävention vorenthalten. Man könnte geradezu von einer anderen Entfremdung im befürwortenden Sinne sprechen: Empirische Humanwissenschaften können die Menschen von bestimmten Kulturen entfremden, die der geteilten Natur des Menschen nicht entsprechen (etwa Kulturen der Hierarchisierung, Diskriminierung oder Ausgrenzung von Menschen). Hier steht eine antiquierte Moral gegen den Wahrheitsanspruch der Wissenschaften. Eine post-metaphysische Ethik muss der Naturwissenschaft im Zweifelsfall ein größeres Recht einräumen, statt in ihr von Haus aus einen Feind der Moral zu erblicken. Das war bereits eine zentrale Stoßrichtung bei John Dewey, die ihr in seiner kulturalistischen Lesart von Richard Rorty allerdings regelrecht ausgetrieben wurde. Dieser Konflikt zwischen Wissenschaften und alten Moralvorstellungen scheint nun wieder auf einen Widerspruch zwischen den beiden Dimensionen hinzudeuten. Es ist daher wichtig zu sehen, dass eine Philosophie beide Perspektiven auf Natur, die komparativ-phänomenologische und die wissenschaftliche, zugleich inkorporieren kann, ohne dass sie widersprüchlich wird; und zwar obwohl die erstere Werturteile enthält, während die zweite davon weitgehend frei ist. Die philosophische Skepsis, die sich gegenüber dem Gedanken aufdrängen könnte, das Wissen der Naturwissenschaften in ethische Konzeption einfließen zu lassen, dürfte vorrangig auf dem Kurzschluss von Naturgesetzen, die innerhalb der Naturwissenschaften gelten, auf eine als Horrorszenario gemalte naturalistische Ethik beruhen. Es erscheint dem Philosophen so, als ließen sich aus der Naturwissenschaft selbst ethische Gebote deduzieren. Doch dieser Schein trügt; er beruht auf falschen Voraussetzungen. Die Furcht sieht statt den drei Dimensionen, die MacIntyre wie Aristoteles zugrunde legen, nur zwei. In Aristoteles’ Konzeption ist die Wissenschaft nicht für die Formulierung ethischer Ziele zuständig, sondern wird lediglich für die Ausgangsbeobachtung herangezogen. Es kann solch paternalistische Ethiken sogar abwehren, wenn wir bei der Beschreibung des Menschen »as he happens to be« das beste verfügbare Wissen zugrunde legen (auch aus den Lebenswissenschaften). Es wäre eher seltsam, dies nicht zu tun; könnten doch sonst fragwürdige Bestandteile der westlichen Tradition – etwa die Leib- und Gefühlsvergessenheit oder die Frauenfeindlichkeit und Xenophobie – fortgesetzt werden.
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Die naturwissenschaftliche Herangehensweise birgt damit ein Befreiungspotential, das in den heutigen Geisteswissenschaften zuweilen nicht mehr gesehen wird (vielleicht auch aufgrund von Rivalitäten). Gerade der Kulturalismus ist gegen dogmatische Verhärtungen nicht gefeit: Es kann auf der kulturellen Ebene, etwa zwischen verschiedenen Ethiken, recht rasch zu Konflikten kommen. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, auch auf diesem Gebiet ein Stück weit Einigkeit zu erzielen – gerade der häufig ins Feld geführte weltanschauliche Pluralismus in den USA belegt das, denn ein kultureller Pluralismus setzt schon eine politische Einheit in grundlegenden Dingen voraus (etwa eine gegenseitige Toleranz und Akzeptanz friedlicher Konfliktlösungsmechanismen).34 Ein weiteres Beispiel ist das maurische Spanien, in dem Moslems, Juden und Christen weitgehend friedlich miteinander lebten – und dem das spätmittelalterliche Europa nicht zufällig die Kenntnis Aristotelischer Schriften verdankt. In der Regel ist es aber gerade der Totalitätsanspruch vieler Religionen und Kulturen, der ein friedliches Miteinander erschwert. Dieses sich-nicht-Bescheiden-können der Religionen – obwohl ihnen in den Urtexten die Bescheidenheit meist von Gott ›aufgetragen‹ wurde – ist ein zentrales Motiv für die Suche nach weltanschaulich neutralen Fundamenten.35 Dabei ist der Glaube, ›heute‹ müsse man alles als kontingent, fragil und fragmentiert betrachten, nicht nur ein Widerspruch in sich (über ›alles‹ könnte man dann nichts aussagen), sondern auch ein schwacher Ersatz für die Begrenzung von ›außen‹. Wird durch apriorische Setzungen kein ›Außen‹ der Kultur mehr anerkannt, sind solche Theorien kaum mehr gegen überfliegende Allausagen gefeit. Diese finden sich gerade in postmodernen Ansätzen wieder. (Dort werden heute mit großer Selbstverständlichkeit Ontologien und ›Ursprungstheorien‹ formuliert, als sei nichts dabei.) Und damit kehrt der unversöhnliche Streit zwischen verschiedenen solcher AllDeutungen zumindest der Möglichkeit nach zurück. Die Naturwissenschaften hingegen bieten einen einheitlichen Ansatzpunkt. Selbst wo sie sich im Detail untereinander streiten, gibt es geteilte Grundannahmen und Methodenverständnisse.36 Es wird oft verdrängt,
—————— 34 Diese kann durch »overlapping consensus« oder eine vorangehende Verfassung verbürgt werden, an die man sich zwangsweise halten muss. Zur Gewalt als Moment des Rechts neben Benjamin vor allem Steinvorth 1999 und Menke 2011. 35 Siehe Blumenberg 1966. Unausgegoren ist, dass MacIntyre die Natur abweist mit dem Pluralismusargument, aber das Neutralitätsprinzip auch nicht akzeptieren mag. 36 Zur »Abwärtskompatibilität« Sieferle 2011: wie die Biologie nicht der Chemie widersprechen sollte, so die Moralphilosophie nicht der menschlichen Biologie.
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dass neben der Etablierung eines säkularen Naturrechts im 17. Jahrhundert, das das Zeitalter religiöser Bürgerkriege beenden wollte, die exakten Naturwissenschaften bei der Suche nach neutralen Fundamenten ebenfalls Antworten anbieten wollten und konnten. (Natürlich nicht auf religiöse Fragen, aber auf weltliche durchaus; vgl. Blumenberg 1966.) Dadurch, dass die empirischen Wissenschaften vorurteilsfrei begannen und sich allgemeinverbindlichen Regeln der Nachprüfbarkeit verschrieben, transportierten sie eine ›befreiende‹ Objektivität; zumindest hatten sie das Potential dazu. Eine Konnotation von ›objektiv‹ ist es, unparteiisch oder ›fair‹ zu sein (daher werden Schiedsrichter ›Objektive‹ genannt).37 Das ist ein weiterer Grund dafür, warum eine Ethik den Kontakt mit der Naturwissenschaft nicht zu fürchten hat. Die Neutralität, die die politische Philosophie in hochabstrakten diskursiven Verfahren sucht (in imaginierten Urzuständen, Auktionen oder idealen Sprechsituationen.), liegt in Form der Naturwissenschaften in nucleus bereits vor. Wäre dem nicht so, hätte etwa Dewey die Demokratietheorie nicht mit einem Vokabular des wissenschaftlichen Forschungsprozesses bereichern können. Nun kann es, wie erwähnt, nicht die Rolle der Naturwissenschaften sein, selbst normative Vorschriften zu machen. Über solche begrifflichen Mittel verfügt sie nicht. Welche Rolle können sie in einer perfektionistischen dann Ethik spielen? Sie können zunächst ein möglichst akkurates Bild der Ausgangsvoraussetzung verschaffen (des »man-as-he-happens-tobe«). Daneben können sie die Meinungen der Menschen, die in der Ethik eine große Rolle spielen, besonders dort miteinander vermitteln, wo sie von sich aus keine Lösung zu finden vermögen: So ist etwa eine asketische Ethik mit einer Lustethik auf den ersten Blick kaum zu vermitteln, da sie offensichtlich gegenteiliges verlangen. Wenn aber eine Theorie der Natur des Menschen beiden einen Raum einzuräumen vermag, dann ist das sehr wohl möglich. Dafür muss sie allerdings beide begrenzen. Beide, Lust wie Askese, sind insofern berechtigt, als sie wertvolle Erfahrungen des Menschen auf den Begriff bringen. Jedoch können sich Lust wie Askese von sich aus nicht selbst begrenzen: »Doch alle Lust will Ewigkeit«, und auch die Askese kennt solche Phänomene (die Magersucht etwa). Die Funktion des wissenschaftlichen Elements ist es also nicht, zu determinieren, wohl aber zu vermitteln und eventuell zu begrenzen. Genau dies tut sie auch bei
—————— 37 Die Vorstellung einer natürlichen Gleichheit taucht gerade bei empirischen Philosophen wie Hobbes und Locke früh auf. Naturwissenschaftliche Forschungsinstitute sind noch heute sehr international, die Philosophie dagegen oft homogenen organisiert.
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Aristoteles, wenn nach einer Zusammenschau und Analyse der Meinungen der Menschen dieses Material in einem zweiten Anlauf – nun mit seiner wissenschaftlichen Perspektive auf Natur – geordnet und synthetisiert wird (etwa in NE I.6: I.13 und II.1). So sagt Jörn Müller in einem Kommentar: »Natur ist sittlich negativ präsent, indem sie Handlungsspielräume abgrenzt, ohne sie jedoch von Anfang an sittlich zu normieren. Aus diesem Grund muss jede sittliche Überlegung diesen naturalen Rahmenbedingungen Rechnung tragen. Aristoteles geht hier jedoch noch einen Schritt weiter: Da er nicht allen faktisch vorhandenen … Ethos- und Lebensformen Geltung als legitime Vollendungsgestalt zukommen lassen möchte, setzt er den Begriff der menschlichen Natur und seine Implikationen als ein kritisches Potential an, das als Prüfstein für die verschiedenen Kandidaten der eudaimonia dient: Lebensweisen, die den auf diese Weise ermittelten Kriterien … nicht genügen, werden in ihrem Anspruch auf spezifisch menschliche Seinsvollendung disqualifiziert: Dadurch wird keine positive inhaltliche Normsetzung vollzogen, sondern lediglich das Handlungsfeld, innerhalb dessen sich legitime Vollendungsgestalten menschlicher Natur bewegen können, abgesteckt« (Müller 2006: 123).
Deswegen kommt es zu einer Vermengung von normativem und empirischem Vokabular: das normativ gesättigte ›Material‹, das die verschiedenen Erfahrungen der Menschen aufnimmt, wird von einer empirisch-wissenschaftlichen Sicht geordnet und miteinander vermittelt. Die Normen kommen nicht aus der Wissenschaft, sondern aus den Erfahrungen der Menschen; doch sie werden durch diese begriffliche Aufbereitung nicht ›neutralisiert‹. So ist es möglich, dass die eine Natur der Menschen als Natur die Erfüllung gewisser Mindestbedingungen verlangt. Verzichteten wir auf diese Universalität, bliebe die Rede von Natur bloß metaphorisch. Eine jede Kultur muss diese Mindestbedingungen auf ihre Weise organisieren; andernfalls könnte man es nach dieser Konzeption mit Bezug auf Natur einklagen – wie es Nussbaum eine Weile lang tat. Natur dient hier zugleich als Ermöglichungs- und als Grenzbegriff. Dieser macht sich nicht nur am unteren Rand bemerkbar, wenn Individuen gegen oder über ihre Natur zu leben gezwungen werden (oder dies – mehr oder weniger – freiwillig tun, wie im Falle der burnouts). Auch am ›oberen‹ Rand, beim langfristigen Gelingen (der eudaimonia), scheint Natur in ihrer Materialität durch. Nicht umsonst nämlich greift gerade hier die Blumenmetapher des flourishing:38 Individuen, die ein solches Leben führen können – durch eine praktisch-rationale (›tugendhafte‹) Lebensführung und
—————— 38 Zum Begriff des flourishing (er stammt von Elizabeth Anscombe) Ricken 2004: 127f.
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günstige Umstände –, sind glücklich. Wenn es aber »natürlich gut« ist (im Sinne von Philippa Foot), sollte man das auch erkennen können. Es sind Menschen, die sich ihres Lebens erfreuen,39 die daher, grob gesagt, einen fröhlichen und ausgeglichen Eindruck machen sollten. Ein Beobachter sollte sagen können, dass es ihnen gut geht; gerade so wie man stolz blühende von darbenden Bäumen unterscheiden kann, denen Licht fehlt. Dass man dabei auch irren kann, solange man zu wenig biologisches, medizinisches oder kulturelles Wissen mitbringt,40 zeigt erneut, dass man gerade in der Ethik auch die wissenschaftliche Perspektive auf Natur und Gesellschaft hinzuziehen sollte. Kehren wir für diese Verträglichkeitsthese zur perfektionistischen Skizze zurück, die MacIntyre von Aristoteles malt. Bereits hier kommt die menschliche Natur zweimal vor, einmal als Ausgangsbedingung und einmal als Zielvorstellung. Nach der obigen Beschreibung könnte man nun unten das wissenschaftliche Verständnis der menschlichen Natur eintragen (im Schema des naturalistischen Fehlschlusses das ›Sein‹), während oben die Ziele eines menschlichen Lebens einzutragen wären, die eine komparative phänomenologische Analyse erfahrungsgesättigter menschlicher Urteile über gelingende Lebensformen ergeben würde (ein ›Sollen‹, das nicht von irgendwo abgeleitet, sondern tatsächlich gelebt und vertreten wird). Zwar wäre der Schritt von (1.) zu (3.) dann ein normativer, indem die Menschen sich auf eines der verschiedenen Ziele zu entwickeln, die von einer phänomenalen Analyse als ›natürlich gut‹ aufgezeigt werden. Doch wäre es gerade kein Fehlschluss, weil die »Gegenstände« von (1.) und (3.) beide Natur wären (Höffe 1979, 34, Fn. 11). Ebenso wenig ist Metaphysik oder Determinismus im Spiel: es geht nicht um rätselhafte Eigenschaften oder Seinsarten (Werte oder ›Geltung‹), sondern es geht einerseits um Charakteristika des menschlichen Lebens (es verläuft zeitlich und macht dabei Entwicklungen durch, die es – da es selbstbestimmt verläuft – in eine gute Richtung bringen möchte); andererseits um Zielvorstellungen der Menschen, die nicht von außen vorgeschrieben, sondern tatsächlich vertreten werden. Schematisch dargestellt sähe dies aus wie folgt:
—————— 39 Nach Seligman 2011: 190ff. (Flourish) leben optimistische Menschen sogar länger. Das könnte jedoch auch an der Fähigkeit zu verdrängen liegen: angesichts der Lebensalter von Ernst Jünger oder Heidegger scheinen rechte Denker länger zu leben als linke. 40 Wie in einer Karikatur Spaziergänger das Waldsterben mit dem Herbst verwechseln.
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man-as-he-could-be-if-he-realized-his-telos
Kulturelles Wissen um Erfüllungsgestalten Lange Sicht, erfahrungsgesättigt (flourishing)
Ethics
revolutionary Aristotelianism, Verbindung
man-as-he-happens-to-be
Natur hier und jetzt: Bedürftigkeit, Verletzlichkeit, incl. Wissen der Naturwissenschaften
5. Eine andere Lesart von Aristoteles Diese Konzeption ist argumentativ geschlossen: ›oben‹ und ›unten‹ findet sich dieselbe Natur, lediglich aus verschiedener Perspektive.41 Die Antwort auf die Frage, was ein gutes Leben sei, wird jedoch weder aus der Naturwissenschaft abgeleitet, noch wird sie als fremde Forderung von außen den Menschen nur vorgesetzt. Die Aussagen entstammen den Bewertungen der Menschen, die solche Erfahrungen machen: es ist eine erfahrungsgesättigte und historisch wandelbar lange Sicht. Doch es ist nicht die einzige Perspektive: Das Wissen von der Natur des Menschen, das aus den Naturwissenschaften und ihrer philosophischen Reflexion stammt,42 ist für die Ausgangsbeobachtung des hier und jetzt zuständig. Das ist weder nutzlos noch überflüssig, sondern dient als Filter: unsinnige, die Natur des Menschen missachtende ethische Ansichten über Ziele können aussortiert, scheinbar unverträgliche Ansichten dagegen durch Begrenzung miteinander vermittelt werden. Eine solche Ethik kann nicht aus den Naturwissenschaften (oder nur mit ihnen), aber auch nicht ohne sie formuliert werden. Diese sachgemäße Form von Kritik kann man im erweiterten Sinne ›immanent‹ nennen, da wir ›in‹ der Natur sind. Die beiden Ebenen des Naturbezugs können sich wechselseitig kritisieren: Einerseits kann die Naturwissenschaft falsche ethische Ideale korrigieren: für Frauenbeschneidung etwa spricht medizinisch nichts, vielmehr spricht alles dagegen. Ebensowenig spricht empirisch gegen Homosexualität, dagegen spricht einiges gegen einen Zwang zur Enthaltsamkeit (siehe II.1). Andererseits kann auch der common sensism der lebensweltlichen Erfahrungsurteile einen möglichen ›Wildwuchs‹ der Naturwissenschaften verhindern – dann näm-
—————— 41 Einen solchen Pluriperspektivismus gibt es auch bei Husserl (in Form verschiedener »Abschattungen«) sowie bei Marx im Kapital, wo aus der Perspektive des Arbeiters, des Kapitalbesitzers – und sogar der des Geldes – argumentiert wird. 42 So bestimmte der junge Habermas (1958) die Rolle der philosophischen Anthropologie.
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lich, wenn sie doch von sich aus normative Thesen aufstellen,43 würde dies die Konzeption aufsprengen und müsste aus der dritten Ebene kritisiert werden. Der Erkenntnisgewinn ist von keinem ›view from nowhere‹ (Nagel) aus formuliert, sondern aus einer Doppelperspektive. Folgende Visualisierung kann das Gemeinte noch klarer machen. Sagen wir, die erste Perspektive (die bei Nussbaum »evaluativ« heißt), scheine von oben herab nach unten (kulturelle Selbstverständnisse urteilen ja mitunter ›von oben herab‹). Ziele des menschlichen Lebens (man-as-he-could-be-if-he-realizedhis-telos) werden ausschließlich aus der kulturellen Innenperspektive erfasst.
Lichtkegel der kulturellen Zielbestimmungen Gibt es nur diese Perspektive, müssen wir uns im Zweifelsfall diesen kulturellen Imperativen beugen. Die zweite Perspektive, die dem entgegensteht – die Naturwissenschaften – scheint hingegen von ›unten‹ nach oben, denn sie geht aus von den Menschen, wie sie derzeit wirklich sind (Naturwissenschaften sind down to earth). In diesem Lichtkegel sehen wir die Möglichkeiten, die dem Menschen von seiner Natur aus offen stehen. Offensichtlich sind beide Perspektiven breit: Die Natur des Menschen ermöglicht ihm, wie wir bei Hurka sahen (II.3), auch eine Existenz als Serienkiller oder Misanthrop. Diese Lebensformen sind ›natürlich‹ möglich; auch können sie sich technisch gesehen perfektionieren (vielleicht war Otto Weininger in seinem Pessimismus noch konsequenter als Schopenhauer). Mehr noch, auch technische Eingriffe in den Genotyp des Menschen erscheinen aus naturwissenschaftlicher Perspektive als denkbar. Aus ethischer Perspektive betrachtet müssen hier Grenzen gezogen werden.
—————— 43 Vgl. Buchanan 2011 und meine Kritik daran in Henning 2012e.
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Lichtkegel empirischer Theorien vom Menschen Dasselbe gilt umgekehrt: Es gibt ethische Zielvorstellungen (wie Frauenbeschneidung, erzwungene Keuschheit, Unterdrückung gleichgeschlechtlicher Regungen oder als ›unsauber‹ angesehener Menschengruppen), die ebenso einer Begrenzung bedürfen. Eine solche ist von anderen Ethiken nur schwer zu erwarten – im Zweifelsfall erklärt jedes Prinzip das andere zum »Narren und Ketzer« (Wittgenstein, ÜG 611). Mithin ist eine Selbstbegrenzung ethischer Ansichten unwahrscheinlich, eine Art Bürgerkrieg zwischen Kulturen ist zumindest wahrscheinlicher als der »rationale Konsens«, solange dieser keine klaren Kriterien zur Hand hat (das war das Ausgangsszenario von Rawls 1993, II.2). Solche Kriterien bietet die Wissenschaft: Sie ist von sich aus bereits universal und hinsichtlich ethischer Einstellungen neutral; auch kann sich ein jeder im gewissen Rahmen von ihrer Triftigkeit selbst überzeugen. Daher wird, nimmt man die Doppelperspektive ein, von der oben die Rede war, eine wechselseitige Begrenzung denkbar.
Doppelperspektive: kulturelle Ziel- und natürliche Möglichkeitsbestimmungen In diesem Bild würde nur der grüne Bereich von der aristotelischen Ethik empfohlen, da sich hier beide Perspektiven überschneiden. Die normative Kraft käme nicht aus der Naturbetrachtung (gelb), sondern aus der kulturellen Zielbestimmung (blau). Doch daraus leitet sich gerade kein ›Kultura-
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lismus‹ in dem Sinne ab, als ob sich jede Kultur ›ihre‹ Natur (Kreationisten z.B. eine an Darwin vorbei), und damit auch ihre zur jeweiligen Moral passenden Menschen ›konstruieren‹ könne. Die (nur-)blauen Restfelder bilden normative Zielvorstellungen ab, die sich nach diesem Test nicht länger halten lassen, während mit den (nur-)gelben Rändern szientistische Visionen ausscheiden, die mit den erfahrungsgesättigten normativen Urteilen der Menschen nicht in Einklang zu bringen sind. Das ganze Gebilde kann sich historisch verschieben, aber das liegt nicht nur daran, dass Kulturen sich wandeln, sondern auch an empirischen Erkenntnisfortschritten.44 Das beantwortet noch nicht, wie genau die Ethik im ›grünen Bereich‹ vorgeht, aber immerhin die, was ihre Wissensquellen sind. Es fällt bei dieser Thematik schwer, die richtigen Ausdrücke zu finden. Denn es geht um eine Dimension, die immer schon impliziert ist – die Natürlichkeit menschlichen Lebens ist so selbstverständlich, dass jeder Versuch, sie auf den Begriff zu bringen (den vorliegenden eingeschlossen), merkwürdig klingen muss. Sprache basiert auf Unterscheidungen, sie versagt daher, wo es um noch Ununterschiedenes geht.45 Allerdings bleibt es wichtig, das zu versuchen, da es einen starken Trend gibt (in der Ethik wie in den Kultur- und Sozialwissenschaften), diese Natürlichkeit zu überspringen. Ich habe den Grundgedanken nun ›freistehend‹ zu fassen versucht. Blicken wir von dieser Basis aus erneut auf MacIntyres spätere Äußerungen, denn sie lassen sich gut in das soeben entwickelte Konzept einfügen. Die wichtigste Dimension im späteren Werk von MacIntyre ist die Einsicht, dass es keine Ethik ohne Berücksichtigung der Biologie geben kann. Dies serviert er (1999, 60) etwa dem sich mit ihm einig glaubenden Gadamer. Eine Synopse bei Kelvin Knight versammelt entsprechende Belege: »›An Aristotelian Ethics presupposes an Aristotelian metaphysics‹, he now tells Gadamer. His earlier dismissal of that presupposition he explains by admitting that he simply ›had not understood it‹ [MacIntyre 1998: 263] … Now that he has learnt, he acknowledges that our understanding of our good must be informed by an understanding of our being, nature and animality. To his admission of error in
—————— 44 Damit sind wissenschaftliche Revolutionen keineswegs ausgeschlossen, vielmehr wird so erklärbar, warum solch radikale Brüche nur langsam gesellschaftlich akzeptiert werden: es ›hängt‹ eine ganze moralische Kultur, eine Konstellation von Sittlichkeit mit daran. 45 Es ›gibt‹ keine Un-Natur; aber auch dies klingt wieder merkwürdig. Es ›gibt‹ Kultur – als eine menschliche Distanzierung von der unmittelbaren natürlichen Umwelt, die aber (›im‹ Menschen) selbst wieder natürlich ist und eine ökologische Komponente behält (unsere Kultur z.B. basiert energetisch weitgehend auf dem Öl, was zu Problemen führt, da sich die natürliche Logik nicht überspringen lässt).
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dismissing metaphysics he therefore adds that he was ›in error in supposing an ethics independent of biology to be possible‹, adding to this that ›no philosopher has taken human animality more seriously‹ than Aristotle [MacIntyre 1999, x]« (Knight 2007: 195).
Dabei sieht auch MacIntyre eine grundsätzliche Verträglichkeit der heutigen Biologie mit dem, was Aristoteles über das Gut des Menschen gesagt hat. Die »Biologie« von Aristoteles ist also gar nicht »metaphysisch«, sondern eher, nach damaligen Standards, wissenschaftlich, und zwar auf eine an die heutige Biologie sogar anschlussfähige Weise. Um es erneut mit Knight zu sagen, der wiederum MacIntyre zitiert: »To reason metaphysically in Aristotle’s terms about the good of any being or group of beings is to reason in terms of its specific telos and of its specific kind of flourishing, and whether some such individual or group ›is flourishing is a matter of fact and generally a very plain matter of fact‹ (that he would not now dismiss ›facts‹ as he once famously did is yet another mark of his Aristotelian realism.)46 It is not a matter of fact that he considers to conflict with the empirical findings or theoretical claims of modern natural science« (Knight 2007: 195f.).
Schon früher las MacIntyre »Mensch« als »funktionalen Begriff« (1981: 58; cf. Knight 2007: 139). Funktionale Begriffe sind für ihn von dem naturalistischen Fehlschluss ausgenommen. Es ist demnach nicht falsch zu sagen, dass eine ›gute‹ Uhr diejenige Uhr ist, die gut funktioniert, die ihren Zweck erfüllt. Dasselbe solle auch für Menschen gelten; nur sieht MacIntyre 1981 noch keine Verbindung zwischen diesem funktionalen Verständnis des Menschen und seiner Aristoteleslesart.47 Genau das hat er überdacht, und so wartete er 1999 mit einem Neuentwurf auf, in dem er den Menschen von seiner Animalität her dachte.48 Das Buch Dependent Rational Animals ist eine Carus-Lecture. Damit steht es in einer Tradition, denn schon Deweys verwandtes Buch Experience and Nature war eine Carus-Lecture (gehalten 1925), worauf MacIntyre eigens hinweist (1999, ix). Erneut kommt MacIntyre bei den Tugenden an (1999, 96ff.), das wird niemanden wundern; aber diesmal ist die Begründung anders, und damit ändert sich auch die Gestalt der Tugenden. Bleiben wir aber beim Aristotelesbezug: Eine Differenz zu ihm ist nach wie vor spür-
—————— 46 Zum selektiven Umgang mit »Fakten« bei Rawls und Hurka Kap. III.2 und III.3. 47 »But the use of ›man‹ as a functional concept is far older than Aristotle and it does not initially derive from Aristotle’s metaphysical biology« (MacIntyre 1981: 58). 48 Kuna 2008: 118 urteilt, »his account has nevertheless always been … metaphysical«, doch blendet er dafür neuere Schriften aus. Das letzte zitierte Werk ist von 1990.
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bar, doch nun sind es keine methodische Bedenken mehr, sondern inhaltliche. Das spiegelt den Umstieg von Metaphysik zur Wissenschaft: Metaphysiken sind darauf angelegt, sie im Paket anzunehmen oder abzulehnen. Dabei bleiben die genauen Kriterien stets etwas unfasslich.49 Eine Wissenschaft hingegen basiert auf nachprüfbaren Fakten; sie lässt sich daher ohne weiteres in einzelnen Punkten falsifizieren und verbessern, falls die Fakten etwas anderes zeigen als bislang angenommen. Auf diese Weise kritisiert MacIntyre nun Aristoteles: Er teilt seine Methode, für eine Erkenntnis der Ethik zunächst auf die Natur des Menschen zu sehen: »no account of the good, rules and virtues that are definitive of our moral life can be adequate that does not explain … how that form of life is possible for beings who are biologically constituted as we are, by providing us with an account of our development towards and into that form of life« (MacIntyre 1999, x).50
Im Detail kritisiert MacIntyre Aristoteles’ Annahmen über die Ausgangsbasis. Beispielsweise sei Aristoteles der Illusion aufgesessen, Individuen seien sich selbst genug (»an illusion of self-sufficiency«, 1999, 127). Das mag überraschen, kommt doch gerade von Aristoteles die Einsicht, der Mensch sei ein zoon politikon. Aber »politisch« im engeren Sinne sind bei Aristoteles nur Freie und Gleiche, also männliche Besitzbürger der Polis. Die autarkia ist ein Ideal, und als Ideal verfolgt auch MacIntyre etwas ähnliches, wenn Menschen für ihn »independent practical reasoner« werden sollen (1999, 77). Aber dieses Ideal werde von Aristoteles, so MacIntyre, fälschlich in die Ausgangsbasis zurückprojiziert. Dabei trifft es nur auf ausgewachsene, gesunde Männer mit genügend Vermögen und der richtigen Staatsbürgerschaft zu. Von Natur aus sind Menschen keineswegs autark. Wenn sie es sind, so sind sie es erst geworden. Daher seien nicht nur die Tugenden des Autarken zu betrachten (der das telos verkörpert), sondern auch diejenigen all der Menschen, die ihm dabei halfen, es zu werden. Hier werden Aristoteles’ Vorstellungen von wertvollen Handlungszielen durch
—————— 49 Warum etwa sind moralische Realisten Realisten? Es ist keine Antwort zu sagen: ›weil es moralische Tatsachen gibt‹, denn das lässt sich bestreiten. Ebenso kann der Nichtrealist seine Position damit begründen, dass es sie nicht gibt. Warum sind Nicht-Realisten durch realistische Argumente so schwer zu überzeugen? Ein Maß der ›Metaphysizität‹ einer Theorie ist diese Resistenz gegenüber Argumenten. Eine Metaphysik beruht nicht nur auf Argumenten, sondern spiegelt auch das Gesamt unserer Lebenseinstellungen wieder. 50 »What I also came to recognize was that my conception of human beings as virtuous or vicious needed not only a metaphysical, but also a biological grounding, although not especially Aristotelian one« (MacIntyre 2007: xi, After Virtue, Vorwort zur Neuauflage).
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eine detailliertere Analyse der Ausgangsbasis – Ebene (3.) mit Ebene (1.) – korrigiert. Aristoteles ist also nicht einfach historisch überholt, sondern irrt schon für seine eigene Zeit (eine Aussage, die von einer rein kulturalistischen Hermeneutik aus nicht zu formulieren wäre): »Because of the part the others play in enabling us to move from the condition of infancy to that of an independent practical reasoner, we also need to know what it is for those others to perform their part excellently, what the virtues of caring and teaching are and how they relate to to the virtues of the practical reasoner« (77).
Diese Beobachtung hat verschiedene Effekte: Zum einen wird die ethisch relevante Praxis wesentlich breiter: auch Haushalt, Erziehung und Sozialarbeit gehören nun dazu. Im selben Zug gelingt MacIntyre eine Universalisierung dieses »regard for others«: wenn eine starke Zuwendung für das Zustandekommen von denjenigen Exzellenzen, auf die Aristoteles abhebt, unverzichtbar ist, ihr Zustandekommen jedoch kontingent ist, dann kann diese Zuwendung nicht von Zufällen abhängig bleiben (wie es Aristoteles konzipiert, wenn er in Bezug auf die soziale Schichtung vom status quo ausgeht, der sich darum stets reproduzieren würde). Wenn aber etwas für die Gemeinschaft und den Einzelnen, der in ihr erzogen wird, nötig ist, was auf kontingente Weise nicht verlässlich erbracht werden kann, dann bleibt für die Ethik nichts anderes übrig, als dies unbedingt (»not conditional«, 128) und für alle zu fordern. Dabei werden die Tugenden der Kontemplation, die für die Thomistische Tradition zentral waren, zugunsten der Praxis aus dem Zentrum verdrängt. Das hat auch damit zu tun, dass für MacIntyre auch Tiere denken können. Das spezifisch Menschliche besteht erst im reflektierten moralischen Urteilen – also letztlich in einer Praxis. Hier berührt sich MacIntyre auf überraschende Weise mit neueren Entwürfen aus der Soziobiologie,51 aber auch mit Kant. Die Erziehung bringt nun einen weiteren Punkt ins Spiel. Aristoteles wurde von Bernard Williams auch mit dem Argument attackiert, dass nicht einsehbar sei, wie man dort von objektiven Interessen sprechen könne, wo die Menschen durch schlechte Erziehung die, der Theorie nach, falschen Interessen entwickelt hätten (das Problem der adapted preferences). Für Aristoteles selbst ist es eigentlich unerheblich, denn ihm kommt es nicht darauf an, die schlecht Erzogenen besser zu erziehen (etwa die, die durch zu viel Arbeit keine Muße haben – und daher kein Bürgerrecht bekommen soll-
—————— 51 Tomasello 2009 etwa legt den Unterschied des Menschen vom Affen nicht ins Denkenkönnen, sondern das gemeinsame Planen (»shared ends«; Nussbaum 2006: 91).
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ten). Es ist ihm vielmehr ein Anlass, sie aus der Politik auszugrenzen. Dieses Problem hat erst ein modernisierter Aristotelismus, der die egalitären Keime des Aristoteles (etwa sein Ansetzen bei einer gleichen Menschennatur) noch stärker für die Politik ausspielen will. Williams’ Argument scheint zumindest für diesen Neoaristotelismus triftig zu sein. Das ist nicht zuletzt daran ersichtlich, dass Nussbaum sich mehrfach mit dieser Frage beschäftigte und noch Gutschker (2002) und Knoll (2009) den Paternalimusvorwurf ähnlich wiederholen: »in Aristotle’s teleological universe, every human being (or at least every nondefective male who is not a natural slave) has a kind of inner nisus toward a life of at least civic virtue, and Aristotle does not say enough about how this is frustrated by poor upbringing, to make it clear exactly how, after that upbringing, it is still in this man’s real interest to be other than he is« (Williams 1985: 44).
Williams will darauf hinaus, dass es paternalistisch wäre, einer Person Interessen zu unterstellen, die sie ›eigentlich‹ gar nicht hat. Muss aber ein Beobachter automatisch sagen, dass sie sie nicht hat, weil sie nicht weiß (oder gerade nicht präsent hat), dass sie sie hat?52 Ist das Haben eines Interesses wirklich identisch mit dem Bewussthaben dieses Interesses oder gar damit, immer schon danach zu handeln? Oder ist, wie der wenig einleuchtende Umkehrschluss lauten müsste, die Droge deswegen gut für den Süchtigen, weil er sie nimmt? Vielleicht gibt es einen Weg, von den Interessen eines Menschen jenseits seiner momentanen Neigungen zu reden, der dem Vorwurf entgeht, hier werfe sich jemand zum Fürsprecher der ›wahren Interessen‹ über andere auf, was in ›Wirklichkeit‹ nur auf Heteronomie hinauslaufe (zu Berlin 1958 s.u.). MacIntyres neuer Entwurf deutet einen solchen Ausweg an, den er sogar in Bezug auf Williams (1981: 105) artikuliert: »what Williams’s conclusion does exclude is the possibility that it can be true of some particular agent that it would be good and best for her or him qua human being or qua aunt or qua farmer to do such and such, and that therefore she or he has good reason to do such and such, independently of whether or not at any present or future time that agent will have, perhaps even could have, given her or his individual circumstances, the requisite motivations« (MacIntyre 1999, 86).
—————— 52 Eine Standardantwort auf Vorhaltungen wie ›Du sollst doch nicht soviel Fleisch essen‹ lautet nicht zufällig: ›Ich weiß‹. Im Sinne Harry Frankfurts zeigt das an, dass viele Menschen durchaus eine Vorstellung davon haben, was für sie, objektiv betrachtet, ›gut‹ wäre, auch wenn sie nicht stets danach handeln.
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Das macht deutlich, dass MacIntyre mit seiner neuen Aristoteles-Lesart auch Kant näher kommt. Für Kant lässt sich unabhängig von den Neigungen sagen, was moralisch geboten ist. MacIntyre rekonstruiert das jedoch nicht aus einer weltlosen Pflicht, sondern aus der »Funktion« des Menschen und den Rollenpflichten – der Verantwortung, die aus Funktionen erwächst. Dabei argumentiert er nicht lang gegen Williams (wenn man nicht das ganze Buch als ein Argument lesen will), warum das ›Gute‹ für jemanden zugleich auch ein Grund für ihn ist, so zu handeln (obwohl das Argument bei Williams auf dieser Unterscheidung aufbaut).53 Er verlässt sich vielmehr auf die phänomenale Evidenz, dass beispielsweise jede Tante bestimmte (wenn auch erträgliche) Pflichten gegenüber ihren Nichten und Neffen hat, ob sie will oder nicht. Der Unterschied zu Kant liegt dabei in der Behauptung, dass es letztlich auch gut für die Tante wäre, ihrer Rolle als Tante nachzukommen. Das müsste nach unserem Schema das erprobte Erfahrungswissen vieler Menschen sein (und vieles spricht dafür). Daher dürfte die Tante gemäß der Dialektik der Zeitlichkeit (s.o., Einleitung) post factum auch zustimmen; zumindest in aller Regel, mit eben der Genauigkeit, mit der eine Wissenschaft im Grundriss, die auf Empirie verwiesen bleibt, so etwas sagen kann (Aristoteles, NE I.7).54 Das mag beim Tantenbeispiel nicht vollends überzeugen (im Einzelfall mögen ihre Neffen freche und verzogene Lümmel sein), doch in der »Rolle des Mitmenschen« (Karl Löwith) wird es nachvollziehbar. Wenngleich vage bleibt, was genau davon impliziert sein soll, macht es doch Sinn, eine Theorie dafür zu kritisieren, dass sie diese Dimension von Moralität nicht sieht oder schlimmer, sie unsichtbar macht (siehe das »obscures« im nächsten Zitat). Inhaltlich handelt es sich dabei um Rollenpflichten, die aus der Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft entstehen (etwa die, wie MacIntyre mit Seitenhieb gegen ökonomistische Modelle von Reziprozität ausführt, stets mehr zu geben, als wir empfangen haben, und zwar auch an Menschen, die nicht gegeben haben oder nicht geben können). Doch bei der Menschheit ist diese Gemeinschaft keine, die wir aufkündigen, wechseln oder auswählen können, sondern eine, in der wir als Menschen, und das heißt: als bedürftige und verletzliche Wesen, eben stehen. Daraus folgen samaritische Pflichten. Das ist der entscheidende Unterschied zu vulgärdarwinistischen Naturanleihen, die stets nur nach dem (Überlebens-) Vorteil des Einzelnen
—————— 53 Williams 1981 (»Interne und externe Gründe«, in Gosepath 1999: 105ff., 111). 54 Es ist eine Ironie, dass die Formulierung »thick concept«, die von Nussbaum an solchen Stellen gebraucht wird, von Williams selbst kommt (Williams 1985: 129, 140ff.).
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schielen; und zugleich die Parallele zu neueren Versuchen, Grundlagen der menschlichen Moral evolutionsbiologisch nachzuzeichnen. Die Antwort auf Williams ist dennoch etwas unscharf. Letztlich bleibt offen, was alldas bedeutet für eine Zeit nach den Kleingemeinschaften, die MacIntyre beschreibt, falls er nicht einfach in diese zurückspringen will.55 Etwas klarer wird es, wenn man auf die thematisierte Nähe der Menschen zu den Tieren schaut. Was Williams’ Theorie überspringt, ist für MacIntyre nämlich etwas anthropologisch zentrales: »Williams’s account … obscures from view the way in which agents have to learn at various stages how to transcend what have been up till this or that point the limitations of their motivational set and [the way in which they, CH] will fail badly in their moral development, if they remain within those limitations« (1999: 87).
Williams übersehe nicht nur die Perfektionierungsfähigkeit der Menschen, sondern auch ihre Perfektionierungsbedürftigkeit. Diese liege in unserer Natur als unfertige Wesen. Er missachte damit das Wesensmerkmal des Menschen, dass Menschen nicht nur nach Gründen handeln können, denn das können ansatzweise auch Delphine, sondern nach guten Gründen; also solchen, die sie vorher reflektiert haben. MacIntyre (1999: 58) nennt dieses Können »an ability to put language to certain kinds of reflective use«: »It is not only the having of reasons that is now on occasion causally effective in guiding behavior, but the having of reasons for taking this set of considerations rather than that to be in this particular situation genuinely reason-affording that is causally effective« (MacIntyre 1999: 59).
Obwohl MacIntyre Kinder, alte und schwache Menschen und sogar Tiere in seine Ethik mit einbezieht, ist das eigentliche Argument gegen Williams die Gefahr eines Rückfalls in animalische Verhaltensweisen, welche drohen, wenn wir uns im Handeln nicht nach den besten zur Verfügung stehenden Gründen richten.56 Und die Rollenpflicht als Mensch ist für MacIntyre zumindest in manchen Fällen ein solcher Grund. Das nicht zu sehen, ja systematisch zu verdecken, ist für ihn das Problem an Williams. Damit wissen wir nun, wie ein aristotelischer Perfektionismus nach MacIntyres späterem Grundriss aussieht: Er ist einerseits zu den Naturwis-
—————— 55 Das Ideal etwa der »fishing communities in New England« (MacIntyre 1999: 143), die aristotelischer seien als Banker (1994: 301; Gutschker 2002: 368) wird durch industrielle Hochfischerei gebrochen (MacIntyre 1999: 63; siehe Gutschker 2002: 393ff.). 56 Tiere können dahin nicht zurückfallen; ›animalisch‹ ist daher kein Vergleich mit Tieren, als sei das abwertend, sondern meint die spezifisch menschliche ›Vertierung‹ (Bestialität).
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senschaften sowie der Psychologie hin offen, um zu vermeiden, in vormoderne Menschenbilder zurückzufallen. Andererseits bedarf er, um normative Zielbestimmungen zu artikulieren, einer kulturellen Dimension, da Zielvorgaben vorgelebt, artikuliert und reflektiert werden müssen. Sie sollten jedoch mit dem Wissen von der Natur in Einklang stehen. Für solche Zielvorstellungen ist nicht nur das common-sense Wissen der Zeitgenossen einschlägig, sondern auch die Neulektüre von philosophischen Klassikern, die zu diesem breiten Fundus an kulturellem Wissen dazugehören.57 Darin bleibt MacIntyre Aristoteliker: »Wir müssen dasselbe [das Prinzip der Ethik, CH] jedoch nicht nur auf Grund der Schlussfolgerung und der begrifflichen Voraussetzungen zu ermitteln suchen, sondern ebenso auf Grund der darüber herrschenden Ansichten« (Aristoteles, NE I.8, 1098b 9). »Diese Ansichten werden teils von vielen Alten, teils von einzelnen berühmten Männern vertreten. Von beiden ist nicht anzunehmen, dass sie ganz und gar fehlgehen, vielmehr werden sie in je einer Beziehung, wo nicht gar in den meisten, recht haben« (NE I.9, 1098b 27).
Was hat die Auseinandersetzung mit MacIntyre systematisch eingebracht? Zum einen hat sie eine neoaristotelische Alternative zu Nussbaums merkwürdigem Antinaturalismus aufgezeigt. Da der Naturalismus der eigentliche Witz ihres Ansatz war, war es merkwürdig, diesen einzuziehen, sobald es theoretisch unbequem wird. Jenseits solcher Schuldifferenzen haben wir in Auseinandersetzung mit MacIntyre eine ›Lizenz‹ dafür entwickelt, von Naturargumenten für normative Überlegungen Gebrauch zu machen, ohne dafür einen Paternalismusvorwurf befürchten zu müssen. Dieser kann, wie wir bereits im Zusammenhang mit Rousseau und Sher gesehen haben, viel eher dem Antinaturalismus gemacht werden, insofern dieser nämlich Gefahr läuft, zu einem soziologistischen Konformismus zu geraten. Was genau kann speziell für eine perfektionistische Philosophie aus Überlegungen über die menschliche Natur normativ folgen? Wir haben gesehen, dass in der radikalen Aufklärung ein wichtiger Aspekt anthropologischer Argumente die ungefähre natürliche Gleichheit der Menschen war (IV.1). Dieses anfechtbare Argument kann nicht gut allein stehen,58
—————— 57 MacIntyre macht sich wie Nussbaum für einen Erhalt, ja einen Ausbau der klassischen »humanities« stark, und knüpft weiter an die katholische Tradition an (MacIntyre 2009). 58 Der fiktive Gegner kann auf die tatsächliche soziale Ungleichheit oder individuelle Differenzen zwischen den Menschen verweisen; auch wenn er damit unsere Stoßrichtung verfehlt. Die Frage bleibt, was die Alternative sei – wären die Menschen von Natur aus unterschiedlich, gäbe das nicht Rassismus und Sexismus recht?
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und so kam das perfektionistische Hauptargument für die Gleichheit erst aus der Betrachtung der Gesellschaftlichkeit: Diejenige Gesellschaft, in der die Entwicklung der Menschen gelingen soll, kann schwerlich eine sein, in der die Menschen in Verhältnissen politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit leben. Da die argumentative Hauptlast dabei auf der Gesellschaft liegt, kommt die Natur nun noch einmal zum Zuge – nämlich dann, wenn es um die perfektionistische Auffassung der Freiheit geht. Unser Gesprächspartner wird sich beeilen zu versichern, dass sich aus Aussagen über die Natur des Menschen keine konkreten Ziele ableiten ließen. Diesem Einwand kann man gelassen gegenübertreten, denn dass der Ursprung das Ziel sei, um mit Karl Kraus59 zu sprechen, ist gar nicht die Behauptung. Die Freiheit ist ›nur‹ ein Meta-Ziel, eine Kompetenz, sich selbst Ziele überhaupt erst setzen zu können. Doch es bleibt noch etwas übrig, wenn Gesellschaft Bedingungen erfüllen und das Selbst Ziele erreichen soll – nämlich die Frage, woher die Kräfte kommen, die diesen Prozess antreiben können. Aus der menschlichen Natur kommt, so betrachtet, die Kraft zur Freiheit. Versichern wir uns dieser Dimension.
John Stuart Mill: Individualität als entwickelte Natur Die These ist also, dass die menschliche Natur eine solche Kraft bereitstellt, die eine wichtige Quelle menschlichen Freiheitswillens ist. Wie in dieser Arbeit methodisch die Regel, soll dies nicht ins Blaue hinein behauptet oder durch sprachliche Spitzfindigkeiten analytisch ›bewiesen‹ werden, sondern anhand von bereits zuvor Gedachtem, aber im Nachhinein oft anders Verstandenem aufgezeigt und weitergeführt werden. Sehen wir zu, welche Verbindung zwischen Natur und Freiheit sich in der Tradition findet. Im Unterschied zu intersubjektivistisch-sozialkonstruktivistischen Ansätzen, in denen Freiheit durch die anderen entsteht und nur mit ihnen gelebt werden kann (III.3), begreift die andere Tradition eine allein sozial ausbuchstabierte »Freiheit« als potentielle Quelle der Unfreiheit: »Protection, therefore, against the tyranny of the magistrate is not enough; there needs protection also against the tyranny of the prevailing opinion and feeling; against the tendency of society to impose, by other means than civil penalties, its own ideas and practices as rules of conduct on those who dissent from them; to fetter the development, and, if possible, prevent the formation, of any individuality
—————— 59 »Ursprung ist das Ziel« (Karl Kraus 1920: 87, in »Der sterbende Mensch«).
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not in harmony with its ways, and compel all characters to fashion themselves upon the model of its own« (Mill 1859: 20).
Gerade die soziale Freiheit also kann nach dem liberalen Verständnis von John Stuart Mill60 eine Quelle der Unfreiheit werden. Ihr gilt es daher etwas entgegenzusetzen – nämlich eine »positive« Freiheit (von lat. ponere, setzen), wie wir sie bei T.H. Green und John Dewey finden (dazu gleich mehr). In der Zielstellung korrespondiert gerade der positiven Freiheitsidee ein starker Individualismus, wie ihn auch Marx kennt: »Wenn der Mensch … frei ist, nicht durch die negative Kraft, dies und jenes zu meiden, sondern durch die positive Macht, seine wahre Individualität geltend zu machen, so muss man … jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben« (Marx, MEW 2: 138).
Mill spricht hinsichtlich des Selbst von einer inneren und bereits individuierten Natur, der man gerecht werden muss, will man einen eigenständigen Charakter ausbilden: »A person whose desires and impulses are his own – are the expression of his own nature, as it has been developed and modified by his own culture – is said to have a character. One whose desires and impulses are not his own, has no character, no more than a steam-engine has a character« (Mill 1859: 170).
Man kann regelrecht von einer Passung der Lebensform zur inneren Natur sprechen, wie Mill in Anspielung auf die Warengesellschaft ausführt: »A man cannot get a coat or a pair of boots to fit him, unless they are either made to his measure, or he has a whole warehouseful to choose from: and is it easier to fit him with a life than with a coat, or are human beings more like one another in their whole physical and spiritual conformation than in the shape of their feet?« (Mill 1859: 192).
Hier wollen wir noch nicht nach der näheren Beschaffenheit dieses Selbst fragen, sondern erkunden, welche Rolle Naturargumente für die perfektionistische Freiheitsphilosophie spielen. Interessanterweise nämlich lässt sich ein Zusammenhang erblicken zwischen dem Mut, politische Sicherungen für die Entwicklung einer Individualität auch gegen die vorherrschende Anerkennungsdynamik einer Gesellschaft einzubauen, und dem Vertrauen
—————— 60 Sowie in dem von Isaiah Berlin (s.u.) oder Autoren wie Ipsen. Ich teile Berlins Skepsis gegenüber einer übersozialisierten Idee von Freiheit, nicht jedoch die gegenüber der »positiven Freiheit« (die Mittel gegen eine Übersozialisierung bereitstellen will) und der »Selbstverwirklichung« (die als Ziel der übersozialisierten Freiheit entgegensteht).
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auf die Anlage zu einer unverwechselbaren Individualität, die den Individuen von Haus aus mitgegeben ist. Denn es ist ihre Entwicklung, die gegen den sozialen Konformismus behauptet werden muss. Es gehört zur menschlichen Natur, wie Mill in Vorwegnahme von Carl Rogers und anderen Selbstverwirklichungs-Psychologen sagt, ungehindert nach eigener façon ›wachsen‹ zu wollen: »Human nature is not a machine to be built after a model, and set to do exactly the work prescribed for it, but a tree, which requires to grow and develop itself on all sides, according to the tendency of the inward forces which make it a living thing« (Mill 1859: 168).61
Damit gehört Mill zu den radikalen Adepten Rousseaus. Derartige normativ-individualistische Naturargumente gibt es, ist man erst einmal darauf sensibilisiert, bei Mill einige – man nehme etwa diese Stelle, an der sich Mill über die Beschaffenheit deren mokiert, die allein auf soziale Anerkennung bedacht sind und darüber die eigenen Belange vergessen: »It does not occur to them to have any inclination, except for what is customary. Thus the mind itself is bowed to the yoke: even in what people do for pleasure, conformity is the first thing thought of; they like in crowds; they exercise choice only among things commonly done: peculiarity of taste, eccentricity of conduct, are shunned equally with crimes: until by dint of not following their own nature, they have no nature to follow: their human capacities are withered and starved: they become incapable of any strong wishes or native pleasures, and are generally without either opinions or feelings of home growth, or properly their own. Now is this, or is it not, the desirable condition of human nature« (1859: 174)?
An dieser Äußerung fällt die Doppelstrategie der Argumentation auf: Nicht nur sind diese Menschen sich selbst untreu, sie lassen auch ihre menschliche Natur verkümmern. Das bedeutet, dass Individualität etwas ist, das zur menschlichen Natur dazugehört – zumindest zu einer gut entwickelten. Das ist ein systematischer Punkt: der Perfektionismus vermag eine eigenständige Begründung für politische Freiheit vorzutragen (das war ein Erfordernis, das wir aus der Auseinandersetzung mit Rawls und George mitgenommen haben), wenn die menschliche Natur so beschaffen ist, dass sie
—————— 61 Hierin ist ein Bezug auf Pindar versteckt – von dem auch der Ausspruch »Werde, der du bist« stammt: »But human excellence grows like a vine tree« (Nemea, Ode 8, zitiert bei Nussbaum 1986: 1). »Die freie Persönlichkeitsentwicklung ist ein unaufgebbares Moment des guten Lebens und deshalb immer auch Zweck, niemals bloß ein Mittel der Wohlfahrtssteigerung« (Ulrich 2006: 265).
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nur durch Freiheit zu einer guten Entwicklung kommen kann. Nur wächst diese Freiheit nicht von allein: »The perfection both of social arrangements and of practical morality would be, to secure to all persons complete independence and freedom of action, subject to no restriction but that of not doing injury to others« (Mill 1848, in CW 2: 208).
Das ist noch nicht alles: auch eine ungefähre soziale Gleichheit gehört für Mill zu den Freiheitsbedingungen (ein weiteres Rousseausches Erbstück): »But the best state for human nature is that in which, while no one is poor, no one desires to be richer, nor has any reason to fear being thrust back, by the efforts of others to push themselves forward« (Mill 1848, in CW 3: 754).
Die Sache ist bei Mill geradezu dialektisch. Einerseits ist Freiheit für eine gute Entwicklung der Individuen notwendig. Andererseits ist diese Freiheit, ein weiterer zentraler Gedanke, als Kompetenz bei den Individuen keineswegs einfach vorauszusetzen, sondern bedarf ihrerseits der »Entwicklung« – nun im Sinne der Bildung (»Kultivierung«) gedacht: »It appears to me that the great end of social improvement should be to fit mankind by cultivation, for a state of society combining the greatest personal freedom with that just distribution of the fruits of labour … [in order] to bring human nature to its greatest perfection« (Mill 1848, in CW 2: xcii).
Beide Gedanken, die Idee einer naturhaften Individualität und die, dass Freiheit erlernt sein will, sind zentrale Bestandteile der perfektionistischen Freiheitsphilosophie. Sie widersprechen sich nicht, denn sie lassen sich als Verweisungszusammenhang mit historischem Bezug deuten – Geschichte über Hegel hinaus als Fortschritt nicht nur im Bewusstsein, sondern auch in der Wirklichkeit der Freiheit begriffen. Allerdings könnte dieser verwickelte Gedanke übelmeinend als schlechter Zirkel gelesen werden: Den Menschen werde Freiheit erst gelassen, wenn sie bereits auf eine bestimmte Art und Weise indoktriniert seien (das ist die Foucaultianische Lesart des Neoliberalismus bei Rose 1991). Daher drehen wir eine kleine Schleife, um diesen Gedanken bei Mill näher zu betrachten. Es gilt, den Vorwurf zu entkräften, er legitimiere lediglich eine paternalistische Politik der gewaltsamen ›Freiheitsschaffung‹ durch Indoktrinierung (»cultivation«). Viele sehen in Mill nur den Utilitaristen und Klassiker des Liberalismus und bemängeln zwischen diesen beiden Positionen einen Widerspruch.62 Doch Mill lässt sich auch von seinen antiken Bezügen her lesen (Devinge
—————— 62 Zu dieser Rezeptionsgeschichte siehe Gray/Smith 1991: 2 ff.; Donatelli 2006: 151f.
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2006). Tut man dies, wird der Perfektionismus zur »unifying idea« der verschiedenen Elemente seines Werkes (Chiu 2005: 1). Es lassen sich mindestens drei Dimensionen nennen, in denen Mill in die perfektionistische Ahnenreihe gehört: Die anthropologische Begründung der Freiheitsrechte, seine Philosophie des Fortschritts, die auch die politische Ökonomie prägt, sowie die Aufgabenkataloge, die Mill der Politik gestellt hat. In seiner Schrift On Liberty (1859) hat Mill den Liberalismus als politische Doktrin spezifiziert, indem er einerseits die Eingriffe des Staates in das Leben der Menschen deutlich begrenzte, andererseits aber den Zwang, den Individuen erleiden können, nicht nur dem Staat zuschrieb, sondern z.B. auch dem moralischen und kulturellen Druck durch die Mehrheitsmeinung in einer Gesellschaft. Diese Doppelkonstellation macht es für den Liberalismus nun denkbar, die Freiheitssphäre der Individuen durch staatliche Eingriffe zu schützen – eine sonst paradox anmutende Konstruktion. Nur dann nämlich, wenn die Individuen vor der Tyrannei der Mehrheit (»the tyranny of the prevailing opinion«) geschützt würden, hätten sie den nötigen Freiraum für ihre »experiments of living«, die für Mill zentral sind (1859, 160).63 Diese Experimente (die auch Nietzsche später hervorhob) seien für den kulturellen und moralischen Fortschritt der Individuen nötig, der wiederum von Vorteil für alle sei (182). Diese Exzellenz soll bis zu einem gewissen Grad für alle erreichbar, also auch lebbar sein. »Not that it is solely, or chiefly, to form great thinkers, that freedom of thinking is required. On the contrary, it is as much, and even more indispensable, to enable average human beings to attain the mental stature which they are capable of« (98).
Daher fordert Mill zugleich eine Ausweitung der Erziehung. Deren Sinn nämlich ist es »to keep the others up to a certain standard of excellence« (300). Nicht nur sollen alle Menschen von den Produkten der wenigen entwickelten Individuen profitieren, sondern möglichst alle sollten die Möglichkeit haben, sich selbst zu entwickeln.64 Dabei arbeitet Mill mit einer an die radikale Aufklärung erinnernden Geschichtsphilosophie des Fortschritts der Menschheit. Schon 1828 verteidigt er die »Perfectibility«: Es gäbe äußere Faktoren, die die Menschen, unabhängig vom Grad ihrer Begabung, zur Exzellenz bringen können; und da man diese Faktoren auf
—————— 63 Ähnlich die »higher pleasures« im Utilitarismus von 1861 (in: Mill, CW 10: 212f.). 64 Siehe III.1 Marx verlangt ebenfalls sowohl eine breitere Bildung, um Kunstgenuss zu ermöglichen (»ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form«, MEW 40: 541), wie die Möglichkeit für alle, selbst Künstler zu werden (MEW 3: 377). T.H. Green (1883: 469) fügte an: Wenn ein entsprechendes Talent vorhanden ist.
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alle Menschen ausweiten könne, solle man dies auch tun (in Abwandlung von Kant: du sollst, denn du kannst): »[If] those who are virtuous are so from causes which though they now act only upon a few, can be made to act upon all mankind, or the greater part, it is within the power of human exertion to make all or most men as virtuous as those are … It is distinctly proved that these two forces, education and public opinion, … are capable of producing high moral excellence« (Mill, CW 26: 430, verfasst 1828).
Diese egalitäre Position lehnt sich an Condorcet an, den Mill noch 1873 »one of the noblest and wisest of men« nannte (in seiner Autobiography, in CW 1: 115). Das blieb keine Jugendsünde. In On Liberty fundiert Mill die Forderung nach individueller Freiheit mit einem »progressive principle«: »the only unfailing and permanent source of improvement is liberty, since by it there are as many possible independent centres of improvement as there are individuals. The progressive principle, however, in either shape, whether as the love of liberty or of improvement, is antagonistic to the sway of Custom« (1859: 200).
Der Schutz der Freiheit wird von der perfektionistischen Forderung nach einer Ermöglichung möglichst weitgehender individueller Entwicklung begründet. Die deutliche Ambivalenz dieses Prinzips gab Mill offen zu: »The spirit of improvement is not always a spirit of liberty, for it may aim at forcing improvements on an unwilling people« (1859: 200). Aufgrund der Geschichtsphilosophie des moralischen Fortschritts schränkt Mill sogar sein berühmtes »harm principle« ein, wie sich schnell überliest, nämlich auf die seiner Ansicht nach ›zivilisierten‹ Gemeinschaften: »the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community [!], against his will, is to prevent harm to others. His own good, either physical or moral, is not a sufficient warrant« (1859, 34).
Allein in solchen Gemeinschaften seien die Menschen freiheitsfähig. Die Gewährung einer individuellen Freiheit beruht für Mill also (ähnlich wie noch für Raz 1986) auf kulturellen Voraussetzungen, die es allererst zu schaffen gilt, wo sie fehlen. Daraus lassen sich zwei verschiedene Schlüsse ziehen: Entweder werden alle, die noch nicht ganz auf der Höhe der Geschichte seien, schlicht ausgeschlossen. Das wäre die paternalistische Falle, die bereits bei Aristoteles begegnete und insofern nicht trivial ist, als kolonialistische Autoren wie Hastings Rashdall (Hurka 1993: 163) tatsächlich so gedacht haben. Wenn sich ein ganzes Volk im Zustand der ›Barbarei‹ befinde, ist Despotismus für Mill eine passende Staatsform. Paternalismus ist für Mill also nicht per se verwerflich; er muss lediglich richtig genutzt wer-
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den – nämlich für eine solche Entwicklung der Menschen, die ihn am Ende überflüssig macht (wie Wittgensteins Leiter): »Despotism is a legitimate mode of government in dealing with barbarians, provided the end be their improvement, and the means justified by actually effecting that end. Liberty, as a principle, has no application to any state of things anterior to the time when mankind have become capable of being improved by free and equal discussion« (Mill 1859: 36).
Aus ähnlichen Gründen fordert Mill 1861 ein ungleiches Klassenwahlrecht. Zwar trat er nicht einfach für die Bewahrung alter Standesunterschiede ein, die auf ungleiches Eigentum zurückgingen; allerdings sollte eine Ungleichbehandlung aufgrund von Unterschieden in der Bildung erfolgen. In der Beurteilung des Bildungsstandes macht er seinem normativen Individualismus zuwiderlaufende Unterschiede, die nicht an Individuen, sondern an Klassen gebunden sind: »the wiser or better man, has a claim to superior weight … An employer of labour is on the average more intelligent than a labourer« (CW 19: 473; Macpherson 1977: 57 f.). So war selbst Mill nicht frei von der anti-egalitären Lesart des »progressive principle«. Liberalismus ist also nicht immer so liberal, wie der Name vermuten lässt (King 1999). Diese Ambivalenzen gehen eher auf Mills Einschätzungen der Gesellschaft zurück als auf seine Theorie der menschlichen Natur, die uns hier interessiert. Mill gibt zumindest auch Hinweise in Richtung auf einen egalitären perfektionistischen Liberalismus (Chiu 2005: 5). Dafür gibt es Belege aus unterschiedlichen Jahrzehnten: »The aim of improvement should be not to place human beings in a condition in which they will be able to do without one another, but to enable them to work with or for one another in relations not involving dependence« (1848, CW 3, 768); »it is a great additional stimulus to any one’s self-help and self-reliance when he starts from even ground« (1861, in CW 19, 411).
Eine konsequentere perfektionistische Position könnte daher versuchen, aus der gegebenen Ungleichverteilung der Freiheitsfähigkeit die Notwendigkeit einer Freiheitsfähigkeits-Schaffungspolitik zu folgern, die z.B. in einer Ausweitung der Erziehung bestehen kann. Mill will ja bei kontingenten kulturellen Ungleichheiten nicht stehen bleiben, sondern er gibt infolge seines egalitären Einschlags das Ziel vor, allen Menschen die nötige Bildung und damit das Wahlrecht zu verschaffen. Mill spricht hier sogar von einer Pflicht der Gesellschaft:
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»Justice demands, even when the suffrage does not depend on it, that the means of attaining these elementary acquirements [to read, write, and perform the common operations of arithmetic, CH] should be within the reach of every person, either gratuitously, or at an expense not exceeding what the poorest, who earn their own living, can afford … When society has not performed its duty, by rendering this amount of instruction accessible to all, there is some hardship in the case« (CW 19, 470, verfasst 1861).
Schon in den 1840er Jahren machte Mill so etwas geltend: Die Krisen der heraufziehenden Arbeitsgesellschaft (wachsende Armut und Ungleichheit, Verstädterung und Anwachsen der Arbeiterklasse, periodische Krisen und die Gefahr politischer Revolten) seien am besten durch Bildungspolitik zu lösen. So schreibt Mill 1845, dass Erziehung, allerdings nicht nur die durch die Schule, »not the principal, but the sole remedy« der sozialen Krise sei (CW IV, 376). Damit ist der Staat in der Pflicht, ein Minimum an Bildungsstandards für alle zu setzen und dafür zu sorgen, dass auch alle sie erfüllen können (jedoch nicht nur durch staatliche Schulen; so noch 1859, 300). Danach solle der Staat sich wieder zurückziehen, womit Mill wohl der Gefahr einer geistigen Uniformierung vorbeugen wollte (Devigne 2006: 73f.; Stoeckert 2008: 176f.). Ein egalitäres Perfektionismusmodell lässt sich also erahnen, allerdings ist in ein problematisches viktorianisches Modell von Gesellschaft eingelassen. Kommen wir damit auf einen Denker, der den Millschen Strang weiterführt, ohne auf paternalitische Abwege zu führen: auf John Dewey. Auch er war ein Denker der Erziehung. Vor allem aber hat er den Zusammenhang zwischen Natur und Freiheit, der schon bei Mill angelegt ist, noch klarer und bruchloser ausführen können.
John Dewey: Perfektionistische Freiheit und Politik James Kloppenberg hat in seinem 1986 erschienenen Buch eine transatlantische Achse der progressiven Bewegung beschrieben. In der Tat ist die veritable Fortsetzung des »progressiven Prinzips«, das Mill (1859, 200) von Condorcet übernommen hatte, im Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu finden. Damals herrschten dort ähnliche Verhältnisse wie in Frankreich 100 und in England 50 Jahre zuvor: Die kapitalistische Modernisierung zeigte ihre dunkle Rückseite und führte zu politischen Unruhen. Daher markiert der Progressivismus in den USA eine entscheidende Phase (etwa 1890–1921), in der sich das Land, das sich noch bei Thomas Jeffer-
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son als agrarisches Utopia imaginierte, institutionell den Herausforderungen von Industrialisierung und urbaner Moderne stellte.65 Mit Ausnahme von John Dewey sind die intellektuellen Vertreter des Progressivismus im philosophischen Kanon kaum mehr präsent, obwohl sich in dieser Phase auch die amerikanische Sozialwissenschaft formierte. Das mag damit zu tun haben, dass die politischen Folgen ambivalent waren: vorbereitet wurden sowohl der »New Deal«, die US-Variante der Sozialpolitik, als auch der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg. Was genau »Fortschritt« und »Reform« heißen sollte, war keineswegs eindeutig: Es konnte sowohl Abbau wie Ausbau staatlicher Regulierung heißen (oder auf Bundes- und Staatenebene jeweils verschiedenes); es konnte für Zerschlagung, Regulierung oder Förderung monopolistischer Wirtschaftsstrukturen stehen. Zudem sind die Schriften zuweilen in einem nationalreligiösem Jargon gehalten, der Nicht-Amerikanern schwer zugänglich ist; und schließlich finden sich auch Auswüchse, an die man nicht gern erinnert wird (etwa eugenische oder kolonialistische Ambitionen; auch das war als ›Fortschritt‹ zu deuten).66 Dennoch lässt sich ein ungefährer sozialphilosophischer Kern freilegen. Dieser ist aus zwei Gründen von Interesse: Erstens, weil dies eindeutig ein egalitäres perfektionistisches Paradigma war: »Government, business, art, religion, all social institutions have a meaning, a purpose. That purpose is to set free and to develop the capacities of human individuals without respect to race, sex, class, or economic status … the test of their value is the extent to which they educate every individual into the full stature of his possibility« (Dewey 1920: 147; cf. Eisenach 1994: 187ff.).
Oder, mit Herbert Croly gesprochen (einem Vordenker des ›New Deal‹): »Democracy must stand or fall on a platform of possible human perfectibility« (Croly 1909, 356). Und zweitens, weil in diesem Kontext bereits ein ähnliches Dilemma sichtbar ist, wie es nun schon mehrfach begegnet ist: Der Perfektionismus ist entweder inkonsistent, wenn er sich zu sehr dem liberalen Subjektivismus angleicht, den er doch eigentlich kritisieren will, oder er droht in einen kollektivistischen Konformismus abzurutschen, dem die Quellen einer Kritik entgleiten. Es lässt sich aber anhand von Dewey ein Lösungsweg rekonstruieren, der für uns instruktiv ist, weil er auf eine Verbindung von Freiheit und Natur hinausläuft.
—————— 65 So Allerfeldt 2007. Überblicke auch bei Vorländer 1997: 167ff., und Sandel 1996: 210ff. 66 Daher die Kritik: Hofstadter (1955: 132ff.) sah darin einen intellektuell verbrämten Aufstieg der Mittelklasse; D. Ross (1991: 143ff.) moniert die unbedarfte Ideologielastigkeit; und Tenbruck 1985 zeigt Verachtung für den hausbacken-erbaulichen Tenor.
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Die Natur der Freiheit Auf folgende Weise macht sich das Dilemma bemerkbar. Die geistige Landschaft, von dem sich der Progressivismus im späten 19. Jahrhundert absetzte, trägt ähnliche Züge wie der heutige prozedurale Liberalismus: Es war eine Sprache der individuellen Freiheitsrechte (»rights talk«), die mit Neutralitätsargumenten Besitzstände gegen regulatorische Ambitionen juristisch-konstitutionalistisch verteidigte. Die individuellen Abwehrrechte schützten damit die Interessen etablierter Kreise (Firmenkonglomerate, Parteibürokratien und lokal verankerte ›power elites‹, Wright Mills), welche effektive nationale Regelungen zu verhindern wussten (Eisenach 1994: 205ff.). Kritiker bemängelten, dass dieser Formalismus eine gute Entwicklung aller Bürger und damit einen »human progress« behindere. Das Argument geht auf T.H. Green zurück, der auf Dewey einen großen Einfluss hatte.67 Für Green (1881: 372) war die die »gleiche Entwicklung der Fähigkeiten aller« geradezu der Zweck der Gesellschaft. Speziell am Wirtschaftsliberalismus war, dass er sich auf eine damals hegemoniale Naturphilosophie stützte – den Geist Darwins aus den Händen Herbert Spencers. Vor allem William Graham Sumner (1840–1910) hatte eine Soziologie gestrickt, in der sich Sozialdarwinismus, Liberalismus und laissez faire die Hand reichten. Sie sanktionierte die etablierten Institution (vor allem den ›freien‹ Markt), während ihre Veränderung nur zum Schlechteren führen könne. Dem Fortschritt werde daher am besten durch politische Untätigkeit gedient: »Let it be understood that we cannot go outside of this alternative: liberty, inequality, survival of the fittest; not-liberty, equality, survival of the unfittest. The former carries society forward and favors all its best members; the latter carries society downwards and favors all its worst members« (Sumner 1914, 25).68
Besonders der Kapitalismus erschien aus dieser Perspektive nicht als eine Kultur neben anderen (dann hätte man leicht etwas gegen ihn einwenden können), sondern als natürliche Angelegenheit. So schrieb Sumner bereits 1883, im Jahr, in dem Marx starb und Ward sein erstes Buch schrieb: »Certain ills belong to the hardship of human life. They are natural. They are part of the struggle with Nature for existence. We can not blame our fellow-men for our share of these. My neighbor and I are both struggling to free ourselves from
—————— 67 Zum Einfluss Greens auf Dewey und andere vgl. Kloppenberg 1986: 171ff. und 395ff. 68 Zu Sumner siehe Hofstadter 1944: 51ff.; D. Ross 1991: 85ff.; Vorländer 1997: 147f. und Hawkins 1997: 108ff.
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these ills. The fact that my neighbor has succeeded in this struggle better than I constitutes no grievance for me« (Sumner 1883: 17f.).
Dem Progressivismus war damit bereits ein Naturdiskurs vorgegeben, der eine Fortschrittstheorie inkorporierte. Wenn er davor nicht kapitulieren oder dahinter zurückzufallen wollte, musste er die Legitimität politischer Reformen seinerseits naturphilosophisch nachweisen. An diesem Problem laborierte nicht nur Dewey, es war ein Grundproblem der sozialtheoretischen Sparte des Progressivismus überhaupt.69 Erste Gestalt nahm dieses Bemühen bei Lester Ward an (1841–1913). Dieser amerikanische Aristoteles (so Chugerman 1939) gab eine Theorie über alles, angefangen von »cosmical principles«. Sein Grundtenor war, dass die Gegenseite zwar über die soziale Statik, nicht aber über die Dynamik der Gesellschaft geforscht habe.70 Hier aber sei die Fähigkeit des Menschen zentral, Ziele zu setzen und zu verfolgen (»purposes«, siehe das Deweyzitat oben). Ziele setzen können nicht nur Individuen, sondern auch Gemeinschaften – und ein solch »bewusstes soziales Ideal« (Croly 1909, 124) endlich auch in Amerika zu verfolgen, war das progressive Credo dieser Jahre.71 Ward gewinnt diese humanen Ziele durch eine Analyse der Gefühle, die er bezeichnenderweise »social forces« nennt.72 Das ist ebenfalls eine Adaption der Säulenheiligen des Radikalliberalismus – von Charles Darwin (1872) sowie von Adam Smith, dessen Begriff der Sympathie fortan hoch im Kurs stand. Die »Sympathy« diente als Gelenkstelle der Absetzung vom laissez faire-Darwinismus: »Reform should be based on Sympathy«, meinte etwa Charles Horton Cooley.73 Angesichts der komplexer gewordenen Gesellschaft sei aber nur mit Hilfe der Sozialwissenschaften eine erfolgrei-
—————— 69 Daher die vielen Titel zur menschlichen Natur (James 1902, Cooley 1902, Dewey 1922). 70 Ward 1883 I, 60. Eine spätere Fassung wurde übersetzt (Ward 1907, siehe I: 25f., 126). Zu Ward Chugerman 1939, Hofstadter 1944: 67ff.; D. Ross 1991: 88ff.; Rafferty 2003. Dewey (1894) besprach ein Buch von Ward. Wright Mills (1964: 462) urteilte über Ward (1883): »Many passages of this book could almost have been written by John Dewey«. 71 Aus damaliger Wahrnehmung war Europa längst auf diesem Weg. Deutschland war für spätere Progressive ein so beliebter Studienort, weil sich die Staatsbildung dort unter Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Expertise – etwa der Kathedersozialisten – vollzog; siehe Eisenach 1994: 31f., 92f.; sowie Small 1909. 72 Ward 1883 I, 480ff. Auch in Deweys früher Psychologie (1887) spielen Gefühle eine große Rolle, und in ihnen die Selbstverwirklichung; vgl. Morse 2011 sowie Roth 1978. McIntyre hätte seinen Vorwurf des »Emotivismus« nicht anbringen können, da nicht zufällige Gefühle eines Individuums, sondern das Gefühlsspektrum der Gattung normative Urteile begründen soll. 73 Cooley 1909: 13f.; ähnlich Cooley 1902: 136ff. sowie E.A. Ross 1901: 7ff.
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che politische Durchsetzung humaner Ziele möglich (eine »Sociocracy«): »the rule of society by society« (Ward 1883 I, 60; vgl. Chugerman 1939, 319ff.). Wie die Weiterführung dieses Gedankens zu einer objektiven Güterliste bei Albion Small (1854–1926) zeigt, war damit schon eine ähnlicher Weg beschritten wie später bei Sher und Nussbaum. Small war nicht nur der institutionelle Vater der Chicago School of Sociology, sondern auch Progressivist. Wie Ward nahm Small eine unaufhaltsame Entwicklung in der Gesellschaft wahr: »Natural life is conflict, but it is conflict converging toward minimum conflict and maximum co-operation and sociability« (Small 1905: 371). Diese Kooperation bedurfte allerdings der bewussten Planung, und so wurde es zum Ziel der Soziologie, der Entwicklung Ziele vorzugeben. In der Soziologie sah er einen »impulse to improve ways of improving the world« verkörpert (Small 1916: 828). Small leitete dafür aus den grundlegenden menschlichen Interessen die Grundgüter »health, wealth, sociability, knowledge, beauty, and rightness« ab.74 Er zitiert bereits früh (1905: 433) Dewey als Quelle für diese Interessen, er hatte diese Liste jedoch bereits 1893 ausformuliert.75 Die hier geforderte Soziokratie zielt keine von Eliten geplante Technokratie an: Wie Dewey später Walter Lippmanns technokratischen Ambitionen entgegentrat, ging es auch Ward und Small eher um eine breite Diskussion auf der Grundlage des relevanten Wissens. Eine nötige Voraussetzung für dieses Ideal der Demokratie war, wie bereits bei Condorcet und später bei Dewey, eine egalitäre Bildungspolitik – Ward nennt das »intellectual egalitarianism«.76 Auch hier bildet die Perfektibilität des Menschen ein systematisches Bindeglied zwischen natürlicher und sozialer Gleichheit. Ein Dilemma entsteht nun daraus, dass diese Gegenphilosophie recht weit getrieben wurde. Ein neues Verständnis von Freiheit, das dem Atomismus des Manchester-Liberalismus entgegengesetzt wurde, verstand das Individuum nunmehr allein aus dem Horizont seines Kollektivs (hier: der Nation). Das würde der soziologistischen Variante entsprechen, gegen welche perfektionistische Denker wie Rousseau und Mill so große Vorbehalte hatten. Die progressivistische ›Kontrastideologie‹ (Alfred Seidel) bekommt damit eine verstörend kollektivistische Schlagseite.
—————— 74 Small 1905: 682; ersterer wird weiter unterteilt in »food«, »sex« und »work interest«. 75 Nach Barnes 1948: 782. Ähnliches gab es später bei Park 1915 und W.I. Thomas 1921. 76 Ward 1918, Bd. VI: 337, nach Chugerman 1939: 439. Egalitär tönen auch Croly (1909: 124, 340f., 365) und Dewey/Tuft (1908: 490f.); vgl. aber Cooley (1909: 257).
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Über die richtige Konditionierung der Individuen sollte sich nichts geringeres als eine »Social Control« (E.A. Ross) einstellen. Zuweilen wurde auf bedenkliche Weise gegen den kapitalistischen Individualismus und die liberalen (negativen) Schutzrechte polemisiert. In einem späten Echo der Menschenrechtskritik des jungen Marx schrieb sogar Ward: »The so-called ›abstract rights‹ of mankind must be denied if society is ever to become the arbiter of its own destiny« (Ward 1883 I, 32). Der »social gospel«-Autor Samuel Batten drückt diesen Gedanken noch drastischer aus: »True liberty means the voluntary sacrifice of self for the common life«.77 Zwar wurde zugleich die Forderung nach einer neuen und reicheren, da nun sozialisierten Individualität erhoben (im Gegensatz zum vorsozialen »Individualismus«): »The ultimate end is the complete emancipation of the individual« (Croly 1909, 372). Doch wird in der vagen Sprache dieser Schriften kaum deutlich, wo genau im Zweifelsfall die »Grenzen der Autorität der Gesellschaft über das Individuum«, auf die es Mill (1859, 213) noch ankam, eigentlich liegen würden. Eine Absetzung von der Gemeinschaft wird gerade als falscher Individualismus gebrandmarkt. Der Kollektivismusvorwurf, den z.B. Sher gegen Michael Sandel erhebt,78 scheint damit auch gegenüber dem Progressivismus angebracht zu sein. Haben wir also nur die Wahl zwischen dem abstrakten Individualismus des RadikalKapitalismus und dem konservativen Kollektivismus? Ein Ausweg aus diesem Dilemma lässt sich aus Deweys Denken rekonstruieren. Aus seinem Horizont lässt sich das Dilemma in etwa so reformulieren: Auf der einen Seite steht das abstrakt-formale Recht der negativen Freiheit, abgelesen an der Fiktion eines vorsozialen Individuums. Es sei jedoch »a definite falsity«, existierende ökonomische Institutionen als Manifestationen der menschlichen Natur zu deuten (Dewey 1922: 118; vgl. 297). Dieses verkürzende Menschenbild erblickt er nicht nur in der orthodoxen ökonomischen Theorie, die bestimmte Bedürfnisse (wie die »possessive tendency«) als menschliche Natur hinstelle, sondern auch in der atomistischen Psychologie und Moral, die das Individuum als einen fertigen Baustein mit fixen Bedürfnissen missverstehe.79 Auf der anderen Seite steht die kulturelle Einbindung der sozialisierten Individuen in eine bestimmte Gesellschaft, deren Rigidität die Individuen und ihre Kreativität erdrücken
—————— 77 Samuel Batten: The Christian State (1909), 219, nach Eisenach 1994: 189. Man vergleiche: »die echte Freiheit aber ist die freiwillige Aufgabe der Freiheit« (Gehlen 1980: 176). 78 Vgl. Marks 2005 gegen Taylor oder Whitebook 2001 gegen Honneth; Salomon 1929. 79 Dewey 1922: 10 spricht von der »unreal privacy of an unreal self«, vgl. 55, 85, 138f. u.ö.
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kann. Diese schwerer zu dechiffrierende Seite verortet Dewey etwa im Kollektivismus der damaligen Sozialpsychologie. Dewey gibt dieser zu, dass soziale Sitten oder »folkways« äußerst rigide sein können (Dewey 1922: 75, nach W. G. Sumners 1907). Doch dabei handele es sich gerade um keinen zwingenden Ausdruck der Natur: Dieselbe menschliche Natur bringe verschiedene »institutional forms and customs« hervor (1922: 110). Obwohl beide Hörner des Dilemmas in Naturbegriffen beschrieben werden können, geht die eigentliche »Natur« des Menschen in keiner von beiden auf; es handelt sich in beiden Fällen um spezifisch soziale Phänomene. Anstelle der Idee, Gesellschaft entstünde als Organismus oder aus einem mysteriösen »common mind« (das sei »nonsensical metaphysics«, 59), setzt Dewey habitualisiertes gemeinsames Handeln (61). Und gegen den naturalisierten Atomismus wendet er ein: »Love of pecuniary gain is … of social not of psychological nature. It is not a primary fact witch can be used to account for other phenomena« (Dewey 1922: 220). »Much of what is called the ›individualism‹ of the early nineteenth century has in truth little to do with the nature [!] of individuals« (305).
In schelmischer Umdrehung heißt es sogar: Rigide seien nur eingespielte Gewohnheiten (»habits«), während die naturale Grundlage eher flexibel sei: »As a matter of fact, it is precisely custom which has the greatest inertia, which is least susceptible of alteration, while instincts are most readily modifiable through use, most subject to educative direction« (107).
Was aber soll dann noch die Rede von der menschlichen Natur, und das im Titel? Sie erhält ihren Sinn erst in der Absetzung von diesen beiden Instanzen. Das Dilemma zeigt auf, dass sowohl gegenüber individualistisch-liberalen wie kollektivistisch-kommunitären Anforderungen noch eine Dissonanz denkbar (oder fühlbar) ist, die über den gegebenen Stand der Dinge hinaustreiben kann. Dewey verortet den menschlichen Fortschritt daher in dieser Dimension. Wie schon bei Ward erlaubt zunächst die organische Verankerung der Gefühle, davon zu sprechen. Doch wie nicht erst die neuere Gefühlssoziologie gezeigt hat, können viele Gefühle durch »Gefühlsarbeit« individuell beherrscht und kulturell überformt werden (Henning 2011a). Man kommt zunächst also nur dahin zu sagen, die menschliche Natur sei ein »Rohmaterial«, das kulturell geformt wird (Dewey 1922: 110, cf. 107). Es ist immer ›mitgegeben‹ und kann der Kultur daher schlecht entgegengesetzt werden. Doch gibt es noch eine eruptivere Gefühlsebene, die kulturelle Formen sprengen kann – vor allem dann,
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wenn die soziale Form dem menschlichen ›Inhalt‹ nicht mehr gemäß ist, sondern zu ihrer Fessel wird. In solchen Fällen macht sich die menschliche Natur auf elementare Weise bemerkbar: »At critical moments of unusual stimuli the emotional outbreak and rush of instincts dominating all activity show how superficial is the modification which a rigid habit has been able to effect« (1922: 101; vorsichtiger 153).
Dewey spricht fast vitalistisch vom Impuls, vom »Leben« und von »Energie« (156, 163f.) – darin einen Gedanken von Mill fortsetzend (»Strong impulses are but another name for energy«, Mill 1859: 170). Das soll hier in Absetzung von der sozial überformten zweiten Natur ›erste Natur‹ des Menschen heißen. Das ist ebenfalls im Sinne von Mill, der ebenfalls den »despotism of custom« (1859: 200) aufsprengen wollte: »The rules which among themselves appear to them [the people of any given age and country, CH] self-evident and self-justifying. This all but universal illusion is one of the examples of the magical influence of custom, which is not only, as the proverb says, a second nature, but is continually mistaken for the first« (1859: 22).
Die menschliche Natur ist also einmal Ermöglichungsgrund von allem, was Menschen tun. Sie ermöglicht eine Menge verschiedener Dinge und determiniert damit nichts. Doch sie tritt noch ein zweitesmal auf, nämlich dann, wenn die zweite Natur die erste zu beengen beginnt. Damit wird verständlich, wie Dewey noch Jahrzehnte später die Ethik auf die menschliche Natur gründen konnte, ohne damit zu einem Reduktionisten zu werden: »naturalism finds the values in question, the worth and dignity of men and women, founded in human nature itself, in the connections, actual and potential, of human beings with one another in their natural social relationships« (Dewey 1943: 54).
Diese somatische – weniger vor- als ›antisoziale‹ – Dimension findet sich auch bei anderen Denkern, etwa Adorno oder dem mit Dewey befreundeten G. H Mead, dessen unvordenkliches Spontaneitätszentrum des ›I‹ ebenfalls organisch ist: »The ›I‹ is the response of the organism to the attitudes of the others« (Mead 1930: 175). Diese Dimension ist nicht unmittelbar zu haben, sondern lediglich als »Grenzbegriff« sinnvoll (Adorno GS 1: 108). Als Grundlage und Grenze macht sich diese Dimension vor allem dann bemerkbar, wenn etwas nicht mehr passt – wie Dewey mit einem kleinen Seitenhieb gegen Rousseau vermerkt: »The natural, or native, powers furnish the initiating and limiting forces in all education; they do not furnish its ends or aims« (Dewey 1916: 133).
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Das hat zur Folge, dass eine Theorie von ihr vage bleiben muss, da wir von einer Potenz sprechen. Dewey lehnt daher eine fixe Klassifizierung von menschlichen Instinkten ab. Anders als Henri Bergson sieht er auch ihre ungeordnete Freisetzung nicht als Ziel an. Dennoch bewirkt gerade diese dritte Instanz den sozialen und persönlichen Fortschritt: »Interest in progress and reform is, indeed, the reason for the present great development of scientific interest in primitive human nature« (Dewey 1922: 93); »impulse is a source, an indispensable source, of liberation« (105).80
Von ihr geht nicht nur der befreiende Widerstand, sondern auch die Kreativität und die zum gesellschaftlichen wie persönlichen Auf- und Umbau nötige Experimentierfreude aus – wie Mead in ähnlicher Weise betont: »The possibilities in our nature … are possibilities of the self that lie beyond our own immediate presentation … It is there that novelty arises and it is there that our most important values are located« (Mead 1930: 204; vgl. James 1902: 386).81
Im Interesse einer besseren Entwicklung der Menschen und der kontinuierlichen Perfektionierung der Verhältnisse gelte es daher, dieses Potential durch politische Reformen (auch in der Erziehung) besser zu nutzen. Das Ziel lautet: »utilizing released impulse as an agent of steady reorganization of custom and institutions« (Dewey 1922: 100), oder: »utilizing unused impulse to effect continuous reconstruction« (101). Deweys Perfektionismus ist also naturalistisch fundiert und trotzdem liberal. Mit diesem naturalistischen und zugleich liberalen Perfektionismus ist Dewey ein Geniestreich gelungen, den er in späteren Werken nur noch variierte. Dewey und das Glück Dewey knüpft dabei an die Glücksphilosophie der Aufklärung an und übernimmt sogar deren Antwort auf die »wrong-properties objection« (Hurka), ob denn jedes »Wachstum« des Menschen per se ›gut‹ sei. Die Antwort lautet: nein, sondern nur dasjenige, welches die Menschen glücklich macht. Lässt sich über dieses perfektionistische Glücksverständnis noch Genaueres sagen? Wie schon William James versteht Dewey das Glück als Maßstab der Handlungsbewertung (»a test of action«, 1915: 58).
—————— 80 Das stellt zugleich eine Parallele zum revolutionären Naturrecht etwa Condorcets dar: »natural freedom is prior to political freedom and is its condition« (Dewey 1922: 306). 81 Whitebook 2009: 189f. hält diese Partien bei Mead für eine Verlegenheitslösung, meint aber, man hätte über die natürliche Seite des Selbst noch weit mehr sagen können.
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Dewey kritisiert allerdings ältere Glücks-Ethiken wie die von Bentham, weil sie die Handlungsziele zu wenig aus der Handlung selbst nähmen, sondern sie ihr als verdinglichte Entitäten vor- und damit entgegensetzten (1908: 240ff.; 1922: 173f.). Dieses Denken gehe fälschlich davon aus, dass eine fertige Entität, das ›Selbst‹, sich mit anderen fertigen Entitäten, den Genüssen, lediglich anfülle. Diese Ethik vertrete ein falsches Besitzdenken (»possessive« oder »acquisitive instinct«), das allerdings zum Kapitalismus allzugut passe. Dagegen wendet Dewey ein, dass Glück vielmehr »an active process, not a passive outcome« sei (1920: 143; vgl. Pappas 2008: 143). Das erinnert an Aristoteles, doch auch an diesem hat Dewey etwas auszusetzen, da er bei ihm eine Theorie der vorfixierten und damit den Individuen übergestülpte Ziele (»fixed ends«) vermutet. Dewey akzeptiert keine solch feststehenden Werte; es geht ihm eher darum, aus der konkreten Situation, dem praktischen oder gar »experimentellen« Vollzug her zu denken (1920: 139f.). Seinen Vorbehalt gegen Aristoteles bringt das so auf den Nenner: »Not perfection as a final goal, but the ever enduring process of perfecting, maturing, refining is the aim in living … Growth itself is the only moral ›end‹« (Dewey 1920: 141). Er begreift Werte als »ends-in-view« (1922: 225), als erreichbare und selbst gesteckte Ziele, die wieder Mittel werden können (Baumgarten 1938: 281 nennt das »Vermitteln«). Das menschliche Leben erscheint aus dieser Sicht als eine Aufgabe, die man bewältigen kann. Solch ein Denken kann »Seins-Vertrauen« geben (Bohnsack 2005: 57).82 Die Frage bleibt jedoch, was Glück dann ist, wenn es nicht die Summe der Genüsse oder das Erreichen eines fixen Ziels ist. Für Dewey ist es die Entwicklung der individuellen Anlagen, die mit der Erfüllung selbstgesetzter Handlungsziele einhergeht: »the satisfaction, realization, or fulfillment of some purpose and power of the agent« (Dewey/Tufts 1908: 246). Das Selbst konstituiert sich zwar nicht erst in einer individuellen Handlung (»agent« und »purpose« gibt es schon vor ihr), allerdings lassen sie sich kaum unabhängig von solchen Handlungsvollzügen denken. Durch ein solch praxisfernes Denken erst entstünden die Dualismen, die Dewey vermeiden will – etwa von Sein und Sollen, Geist und Welt etc. Beim Emotionstheoretiker Dewey darf man allerdings näher fragen: Wie fühlt sich dies eigentlich an? Die Empfindungsdimension dieses Glücks der Praxis wird einerseits synchron beschrieben als Einverständnis mit der Welt, wie wir sie selbst gestaltet haben (»agreement … of the ob-
—————— 82 Darin liegt eine Nähe zu Fromm, wie Dewey überhaupt in manchem der älteren Kritischen Theorie ähnelt, etwa in ihrer Verdinglichungskritik und ihrer Naturphilosophie.
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jective conditions brought about by our endavours«, Dewey/Tufts 1908: 256), andererseits diachron, über längere Zeit hinweg, als Erweiterung des Selbst (»Harmony, reenforcement, expansion«, 259) – eben als »growth«.83 Mit diesem Gedanken nähert Dewey das Glück an moralische und politische Überlegungen an: Moralisch relevant ist dieses Glücksverständnis deswegen, weil die besten Ziele für Dewey, darin J.S. Mill folgend, moralische sind: Setzen wir uns »socialized interests as central springs of action«, erleben wir eine »supreme or final happiness«, die von unvergleichlichem Wert sei (Dewey/Tufts 1908: 274). Politisch relevant wird dies, weil sich für Deweys moralisches Denken eigenes und fremdes Glück schwer trennen lassen – ein nur egoistisches Streben wäre eine Verengung des Horizonts, die den Egoisten nicht glücklich machen kann, da er sich so von den anderen abtrennt (Dewey 1922: 132f.). Zwar ist es auch ein Dienst am Anderen, wenn wir uns ums eigene Glück und die eigene Entwicklung bekümmern, aber ein ontologischer Individualismus, der die Einzelnen radikal voneinander trennt, wäre für Dewey ein falsches Denken: »the non-social individual is an abstraction arrived at by imagining what man would be if all his human qualities were taken away«.84 Wir gehören zusammen und müssen uns daher auch für das Glück der anderen einsetzen. ›Die anderen‹ sind dabei nicht als amorphe oder uniformierte Masse gedacht, sondern jeder Einzelne ist einzigartig, wie Dewey vor allem gegen den in den 1930er Jahren anhebenden Totalitarismus hervorhob. Deswegen widersetzte sich Dewey, der dem sozialplanerischen Ethos der Progressivisten eigentlich nahe stand (Eisenach 1994: 188f.), der technokratischen Vision von Walter Lippmann ebenso (Dewey 1927), wie er schon 40 Jahre vorher das Majoritätsprinzip gegen Henry Maine verteidigt hatte (Dewey 1888: 232). Dewey zog es vor, dass eine Gemeinschaft selbstbestimmt irrt, als dass sie fremdbestimmt auf den richtigen Weg gesetzt wird – das sind die politischen Konsequenzen der Verortung des Glücks im eigenen Tun statt im Ergebnis. Daher bleibt der proto-kommunitaristische Gedanke einer Einheit von individuellem und gemeinschaftlichem Glück bei Dewey liberal. Er möchte die Glückspolitik nur auf die Bedingungen eines glücklichen Lebens, nicht auf das Ergebnis erstrecken. Wenn Glück durch Handlungen erfahren wird, welche selbstgesteckte Ziele erreichen und in denen wir uns weiterentwickeln, wird es zur morali-
—————— 83 Dewey 1920: 141; vgl. 1916: Kap. 4; ein Wort, das bei Horney wiederkehrt, s.u., IV.3, vgl. Hartmann 2003: 278ff. 84 Dewey 1888: 232, vgl. Dewey 1922: 85 oder Dewey/Tufts 1908: 204ff.
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schen Forderung, anderen Menschen ein solches Leben zu ermöglichen – mehr nicht, denn führen müssen sie ihr Leben selbst: »Regard for the happiness of others means regard for those conditions and objects which permit others freely to exercise their own powers from their own initiative, reflection, and choice« (Dewey/Tufts 1908: 275; vgl. Dewey 1922: 293f.).
Dazu gehört auch, ihnen notfalls zu den nötigen Ressourcen und Kompetenzen zu verhelfen. Dewey gehört also nicht nur zu den Verteidigern partizipativer Demokratie, seine Glücksphilosophie führt ihn auch zu einer Grundlegung des Wohlfahrtsstaats als Garant einer Chancengleichheit (1908: 473ff., 490ff.). Mit dieser Position ließ sich – um auf das eingangs genannte Dilemma zurückzukommen – der ausartende Kapitalismus trefflich kritisieren, ohne damit in eine konservative (oder später: eine stalinistische) Ecke zu geraten.85 Diesen Ton hatte bereits Croly angeschlagen: »In so far as the economic motive prevails, individuality is not developed; it is stifled« (Croly 1909, 368). »[It] cannot be completely achieved until the whole basis of economic competition is changed« (370).
In seiner mit James Tuft publizierten Ethik sekundierte Dewey dieser Position, indem er die Idee der »effective freedom« ausbuchstabierte.86 Dieser Blick auf Dewey konnte das ›dreifaltige‹ Bild von Subjekt, Gesellschaft und Natur bestätigen, das oben zur ›Rettung‹ von Shers objektiver Theorie des Guten entwickelt und anhand der radikalen Aufklärung erhärtet wurde (II.3.c, IV.1). Die Natur des Menschen ist eine eigene Instanz, die der konkreten Vergesellschaftung und dem jeweiligen Selbstbild vorausliegt und sie begrenzt. Obzwar sie schwer zu greifen ist, kann sie, im Denkrahmen Shers, als dritte Wertquelle in Anspruch genommen werden: »A man’s power is due (1) to physical heredity; (2) to social heredity, … and finally (3) to his own efforts« (Dewey/Tuft 1908: 490). Damit konnte gezeigt werden, dass der Perfektionismus Theorien der menschlichen Natur zur Verfügung hat, die den üblichen Verdächtigungen nicht ausgesetzt sind. Wenn Condorcet, der Verfechter der Menschenrechte, Mill, der Urliberale, und Dewey, der Philosoph des amerikanischen Liberalismus, für ihre Theorien auf die menschlichen Natur aufbauen, wird
—————— 85 Zu den entschiedenen Anti-Stalinisten innerhalb des linken Lagers in den USA zählten schon in den 1930er Jahren die beiden Dewey-Schüler Max Eastman und Sidney Hook; Dewey setzte sich sogar für Trotzky ein. 86 Dewey/Tufts 1908: 390ff., vgl. ähnlich Dewey 1922: 147; Green 1881; Ward 1883 II: 233 oder Cooley 1902: 433ff.
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man schwerlich illiberale Kräfte am Werk sehen wollen. Ohne eine Metaphysik vorauszusetzen, geht es ihnen darum, die Freiheit eines Jeden zu befördern, tatsächlich ein selbstbestimmtes und gehaltvolles Leben führen zu können. Diese Vorstellung lässt sich sowohl mit dem liberalen Individualismus wie mit der kommunitären Sozialethik verbinden (und kann daher zwischen ihnen vermitteln), ohne aber in ihnen aufzugehen. Die in ihr angesprochene natürliche Dimension des Menschseins liegt beiden noch voraus. Diese Dimension philosophisch einzuholen ist theoretisch wichtig, weil die Theorie des Guten auf diese Weise dem individualistischen und dem kulturalistischen Relativismus zu entgehen vermag. Sie hat zudem praktischen Wert, weil sie Reserven gegen beide Ethiken artikulieren kann: Der Verweis darauf, dass etwas (etwa die durch Vertragsfreiheit legitimierte Macht großer Firmen, oder die Macht einer Gruppenmoral, die mein wahres Selbst zu kennen meint) gegen meine oder unsere menschliche Natur ist, ist ein Sprachzug eigenen Rechts. Er schließt an ältere Theorien an, die diese Dimension schon einmal artikuliert hatten. Und er plausibilisiert eine Bereitstellung sozialer Institutionen, die allen eine gute Bildung sowie eine soziale Sicherung und hinreichend viel Freizeit ermöglichen. Damit vermag diese Rückbesinnung ein weiteres Problem des gegenwärtigen Perfektionismus zu beheben, nämlich die Unschärfe seiner sozialpolitischen Folgerungen. Das perfektionistische Gedankengebäude, das Dewey entwickelte, basiert auf der Vorstellung einer natürlichen Freiheit und drängt zu einer stärkeren politischen Förderung freiheitsermöglichender sozialer Gleichheit. Positive Freiheit: Isaiah Berlins fehlgehende Kritik an T.H. Green Diese Idee der »positiven Freiheit«, die es nicht nur bei Dewey gab, sollten wir noch genauer ansehen, denn ihr gängiges Verständnis ist von Assoziationen überdeterminiert, die nicht immer ins Schwarze treffen. Diese perfektionistische Idee ist bei genauerem Hinsehen stärker als ihre Kritik, aus der man meist von ihr weiß. Rezeptionsgeschichtlich ist einer der Gründe, warum der Perfektionismus als illiberal gilt, darin zu sehen, dass sich viele Perfektionisten für eine »positive Freiheit« ausgesprochen haben (in der Folge zu Wort kommen T.H. Green und nochmals Dewey). Das meint eine Konzeption, welche Freiheit nicht nur als Abwesenheit von Zwang, sondern auch als Freiheit für die Verwirklichung bestimmter als gut erachteter Optionen und Entwicklungsmöglichkeiten begreift.
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Negativ und positiv ist nicht als Bewertung gemeint, sondern als eine Position über oder unter dem Nullpunkt, wobei die »Null« das Nichteingreifen des Staates oder der Gemeinschaft meint. »Negative« Freiheit meint dann, dass der Staat sich im Normalfall aller Eingriffe enthalten soll. Das Ideal ist die Freiheit von Eingriffen, die den bereits als eigenständig vorausgesetzten Einzelnen unter den Nullpunkt bringen würden, also ihm im schlimmsten Fall nicht mehr erlauben würden, selbstbestimmt zu leben. Positive Freiheit meint entsprechend, dass der Staat über den Nullpunkt der Nichteinmischung hinaus eingreifen darf, um das Individuum in den Stand zu setzen, seine Freiheit wirklich auszuüben. Der Unterschied ist also der, ob das Individuum die Freiheit auf dem Papier oder real (»positiv«) hat. Die Frage, welche Freiheitskonzeption vorzuziehen sei,87 ist mit dem bloßen Wort noch nicht entschieden. Eine negative Freiheit kann die Menschen formell (nach dem Buchstaben des Gesetzes) für frei erklären, doch sie können de facto noch immer zahlreichen Bedrückungen unterliegen, was liberale Perfektionisten verurteilen würden. Eine positive Freiheit mag demgegenüber wünschenswert sein, wenn sie als Autonomie-Verwirklichungs-Politik entworfen wird; sie kann aber auch in unschönen Tönen gemalt werden – und wird in der Regel so begriffen –, wenn sie dazu herhalten muss, das Individuum in eine bestimmte Form zu drängen, weil eine bestimmte ›Theorie des Guten‹ zu wissen vorgibt, welche Entwicklung für das Individuum die richtige sei. Isaiah Berlin spricht daher in einem klassischen Aufsatz von der »Freiheit, eine bestimmte, vorgeschriebene Form von Leben zu führen« (1958: 210). In der Folge wird die vieles verändernde These entwickelt, dass Berlins einschlägige Kritik an der positiven Freiheit mit dafür verantwortlich ist, dass Vertreter einer positiven Freiheitskonzeption des Paternalismus geziehen werden; dass diese Kritik aber deswegen in der Sache fehlgeht, weil sie das, was die Perfektionisten mit »positiver Freiheit« einmal gemeint hatten, nicht wirklich trifft. Die Kritik ist also in bestimmten Fällen berechtigt (etwa gegenüber kollektivistischen Verdrehungen wie der ›deutschen Freiheit‹), sagt aber nur wenig gegen den Perfektionismus aus. Hält man die Dinge entsprechend auseinander, kann ein Perfektionismus der positiven Freiheit noch immer liberal sein. Isaiah Berlins Oxforder Vortrag unterscheidet in einer die spätere Diskussion lange prägenden Weise eine negative Freiheit von von einer positiven Freiheit zu (Berlin 1958: 202). Die Freiheit »von« ist die von einer
—————— 87 Oder ob sie sich überhaupt ausschließen, vgl. MacCallum 1967.
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menschlichen Einmischung in die Belange des Individuums: »Politische Unfreiheit entsteht nur dort, wo man von Menschen daran gehindert wird, ein Ziel zu erreichen« (Berlin 1958: 202; s.u. zu Hayek Kap. 3.1). Mit Honneth (2011a: 129ff.) könnte man von primär rechtlicher Freiheit sprechen: es handelt sich um Abwehrrechte gegen den Staat. Aber wie umreißt Berlin das, was darüber hinausgeht und damit seiner Auffassung nach die Freiheit von Einmischungen anderer sogleich wieder auf’s Spiel setzt? Von der Freiheit als Abwesenheit von Zwang (»Fehlen von Übergriffen«, 1958: 207) will Berlin zunächst die Frage unterscheiden: »wer regiert mich« (210)? Der »Wunsch nach politischer Selbstbestimmung« (210), nach Teilnahme an der Regierung – in der Diktion von Constant 1828 die »Freiheit der Alten« – gehört also nicht zur vom Positiven gereinigten Freiheit hinzu. Aber warum soll eine politische Teilnahme die negative Freiheit einschränken? Vielleicht ist das ein zu starker Ausdruck, Berlin scheint eher der Meinung zu sein, es handele sich einfach um verschiedene Werte (205), nicht notwendigerweise um Gegensätze. Aber schon die Ablösung der Freiheit von der negativen Begrenzung auf einen Spielraum des individuellen Handelns evoziere eine schiefe Ebene, an deren Ende der »Diktator« (232) stehe: »So führt das rationalistische Argument … über eine Reihe von Stufen … von einer Ethik der Verantwortung und Selbstvervollkommnung des Individuums zu einem autoritären Staat, der den Anweisungen einer Elite platonischer Wächter gehorcht« (Berlin 1958: 234).
Die Skepsis gegenüber nicht-negativen Freiheitsvorstellungen erstreckt sich folglich auch auf die politische Partizipation. Es betrifft etwa Dewey (1927): Auch Demokratie ist ihm zufolge nicht rein formell zu haben. Es kann sogar in einer Demokratie zur illegitimen Herrschaft von Eliten kommen, wenn nämlich (etwa durch vereinheitlichte Medien) in die Meinungsbildung der Menschen eingegriffen wird, so dass eine Diskussion über öffentliche Belange gar nicht mehr zustande kommt. Wer Demokratie will, muss daher zunächst eingreifen; und dagegen stemmt sich Berlin. Nach seiner Beschreibung sind zwei weitere Momente für die »positive« Freiheit kennzeichnend (und sie erhellen das seltsame Licht auf die Partizipation): Erstens die Spaltung des Subjekts in ein empirisches und ein wirkliches Selbst (212); denn damit gehe die Möglichkeit einher, das wirkliche Selbst über das empirische ›herrschen‹ zu lassen. In der Tat ist das von Platons Phaidon bis zu Freuds Das Ich und das Es (1923) eine Art common
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sense.88 Berlin begreift dies nun einerseits als Einfallstor für Ideologien, die das wahre Selbst der Menschen zu kennen vorgäben. Aber dies müsse gar nicht erst politisch gewendet werden, denn die Idee der »Selbstvervollkommnung« dränge schon von sich aus zu einer »Expertenherrschaft« (234, womit Berlin tatsächlich auf die Debatte zwischen Dewey und Walter Lippmann anspielt). Zweitens komme der rationalistische Glaube hinzu, es könne nur eine moralische Wahrheit geben (226, 250). Wenn ich über diese verfügte, dürfe ich – so gibt Berlin seinen fiktiven Gegner wieder – andere zwingen, auf meine Weise frei zu sein: »Wenn mein Plan aber vollkommen rational ist, dann wird er die volle Entfaltung auch ihrer ›wahren‹ Natur zulassen, die Verwirklichung ihrer Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu fällen und ›das Beste aus sich zu machen‹ – und dies wiederum gehört zur Verwirklichung meines eigenen ›wahren‹ Selbst« (228). »Denn indem wir … dem rationalen Menschen gehorchen, gehorchen wir uns selbst« (232).
Das macht plausibel, wie sich politische Teilnahme als Einschränkung der Freiheit begreifen lässt: Wenn eine Führung glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, und ihren Untergebenen zutraut, dass deren ›wahre‹ Selbste diese Wahrheit bejahen würden, wenn sie nur erst dazu erweckt würden (Lenin z.B. sprach vom »zugerechneten Klassenbewusstsein« und Benjamin vom Erwachen des Kollektivs), dann kann es diese zur politischen Teilnahme zwingen – und sei es nur in Form von Jubel-Abordnungen. (Eine Wahlpflicht gibt es in verschiedenen Ländern der Erde.) Wen hat Berlin bei alldem eigentlich im Auge? Er nennt als Vertreter des ›monistischen‹ Rationalismus (man könnte auch moralischer Realismus sagen) Spinoza, Locke, Montesquieu, Kant, Burke und Rousseau (229), etwas später Comte und Fichte, »den eigentlichen Urheber dieser Doktrin« (233). Als Vertreter der These von der fremdbestimmten Selbstverwirklichung gelten hingegen »Herder, Hegel und Marx« (223), wahlweise auch »Hegel, Bradley und Bosanquet« sowie T.H. Green (232). Vielleicht ist es eine Tiefstapelei des Gelehrten, dass er den wichtigsten Gegner seines Vortrags erst am Ende nennt. In Oxford konnte er wohl voraussetzen, dass man Zitate diese genius loci erkennen würde und daher nicht ausweisen muss. Erst bei näherem Hinsehen bemerkt man daher, dass Berlins entscheidende Definitionen der positiven Freiheit von Green stammen: So die Formulierung von der self-mastery (»sein eigener Herr zu sein«, 211) oder
—————— 88 »Wir haben eben gesehen, wie die Individuen unter sich verschieden sind. Jedes Individuum ist aber wieder in sich selbst verschieden« (MEW 3: 268).
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vom »das Beste aus sich zu machen« (228), welches direkte Zitat sind,89 so aber auch die Selbstverwirklichung (221ff.), das »gesellschaftliche ›Ganze‹« (212) oder eben die positive Freiheit, die der Rede den Titel gab – alles dies spielt auf Green an. Zwar geht Berlin zunächst fair mit seinem Gegner um: Die Idee einer politischen Teilhabe des Individuums war in der Tat wichtig für Green (vgl. Himmelfarb 1991: 252ff.): »If he is to have a higher feeling of political duty, he must take part in the work of the state. He must have a share, direct or indirect, by himself acting as a member or by voting for the members of supreme or provincial assemblies, in making and maintaining the laws which he obeys. Only thus will he learn to regard the work of the state as a whole, and to transfer to the whole the interest which otherwise his particular experience would lead him to feel only in that part of its work that goes to the maintenance of his own and his neighbour’s rights« (Green 1882: 92, § 122).
Ebenso wichtig war die politische Partizipation für Dewey, der im Zusammenhang der »effective freedom« sogar Green zitiert:90 »Political freedom and responsibility express an individuals’ power and obligation to make effective all his other capacities by fixing the social conditions of their exercise« (Dewey/Tufts 1908: 424).
Davon abgesehen ist es fraglich, ob sich eine Kritik speziell an Greens Metaphysik auf andere Vertreter übertragen lässt. Ich meine sogar, dass seine Sozialphilosophie nicht systematisch an seiner spekulativen Philosophie der »Selbstverwirklichung« hängt, die Berlin mit Recht hinterfragt.91 In der letzteren gilt Gesellschaftlichkeit als unverzichtbar, doch gleichwohl nur als Mittel (»society … is the condition of all development of our personality«, 210). Der Zweck ist vielmehr die personale Selbstverwirklichung: »To speak of any progress or improvement or development of a nation or society or mankind, except as relative to some greater worth of persons, is to use words without meaning« (1883: 210).
—————— 89 Green spricht davon, »inwardly ›master of himself‹« zu sein: »It would seem indeed that there is a real community of meaning between ›freedom‹ as expressing the condition of a citizen of a civilised state, and ›freedom‹ as expressing the condition of a man who is inwardly ›master of himself‹« (Works II, 315). Eine Greenstelle wird von Berlin sogar zitiert (315: Fn. 11). »the ideal of true freedom is the maximum of power for all members of human society alike to make the best of themselves« (Green 1881, Works III: 372). 90 Dewey/Tufts 1908: 385 – wieder heißt es dort: »to make the most and best of humanity in his own person and in the person of others« (nach Green 1882: 262). 91 Zur Frage des Zusammenhangs siehe Dimova-Cookson/Mander 2006.
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Hierin steckt eine sprachkritische Abwehr gerade solcher Kollektivismen, wie sie Berlin Green unterstellen möchte: »das wirkliche Selbst wird nun als etwas begriffen, das größer ist als das Individuum …, als ein gesellschaftliches ›Ganzes‹, an dem das Individuum nur teilhat: Stamm, Rasse, Kirche, Staat, die große Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der Ungeborenen« (Berlin 1958: 212).
Berlins Anti-Kollektivismus geht fehl, wenn er Green kritisieren möchte (vielleicht flaggt Berlin seinen zentralen Gegner auch darum nicht offen aus). Wie wir sahen, hat sich Berlins Kritik damit keineswegs erübrigt, denn nicht alle progressiven Denker waren so liberal wie Green. Die genannte Stelle von Green ist nicht nur individualistischer als es Berlin wahrhaben will, sie ist auch egalitärer, denn aus seiner Anlage folgt, dass Freiheit der Einzelnen nur als Gemeinschaftsprojekt möglich ist, sie also nicht in elitären Gruppen teilverwirklicht werden kann, wie es Mill noch annahm. Greens Selbstverwirklichungstheorie bleibt allerdings metaphysisch, und das ist – folgen wir der zentralen Intuition von Rawls (1993) – in einer pluralistischen Gesellschaft nicht von Vorteil. Denn Individuen, die sich möglicherweise über Regeln des Zusammenlebens noch einigen könnten, drohen sich spätestens bei der metaphysischen Begründung dieser Prinzipien in die Haare zu kommen.92 Das gilt insbesondere dann, wenn es sich um einen in Monismus transformierten Hegelianismus handelt wie bei Green. Green hat Hegels Geistmetaphysik bei der Übertragung in den angelsächsischen Kontext jener Zeit nicht nur »liberalisiert« (Himmelfarb 1991: 248), er hat sie auch bis zur Kenntlichkeit verzerrt. So meint er in seiner postumen Ethik (1883) mit Selbstverwirklichung gerade nicht, dass ein Individuum sich selbst möglichst weitgehend – auch in Absetzung von anderen – entwickeln können soll, wie man mit Kierkegaard sagen könnte. Vielmehr ist diese Selbstverwirklichung auf doppelte Weise mit anderen Faktoren verknüpft, für die das Individuum nur eine untergeordnete Rolle spielt: Green verbindet sie auf überaus enge Weise einerseits mit dem »common god«, also mit der Gemeinschaft, und andererseits mit dem Kosmos. So kommt es, dass für ihn das »höhere Selbst«, das sich in der Selbstverwirklichung Raum schafft, nicht mehr eine verbesserte Version des individuellen Selbst ist, sondern vielmehr eine Art ›Durchlauferhitzer des Absoluten‹ – es ist der Geist des Universums selbst, der sich hier Raum bricht, ähnlich wie in der späteren Gottwerdungs-Philosophie Max Schelers.
—————— 92 MacIntyre hatte das Problem durch Tausch von Metaphysik in Wissenschaft gelöst (s.o).
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Der Gedanke ist, in aller Kürze, folgender: Alles, was der Mensch erkennen kann, ist Relation. Doch wenn dieses menschliche Wissen objektiv sein soll, muss diese Relation schon vor der Erkenntnis bestanden haben. Und dafür müssen wir eine »eternal consciousness« voraussetzen: »We must hold then that there is a consciousness for which the relations of fact, that form the object of our gradually attained knowledge, already and eternally exist, and that the growing knowledge of the individual is a progress towards this consciousness« (Green 1883: 80).
Das hat zur Folge, dass das sich im einzelnen Menschen – statt in der Gattung (1883: 206ff.) – verwirklichende Selbst zwar personal, aber nicht nur menschlich ist (denn auch Gott wurde als Person begriffen): es ist eine »self-realisation of the divine principle« (208). Das klingt in der Tat beängstigend und scheint nach Metaphysikkritik zu rufen. Aber wenn Rawls’ Einsicht in die Strittigkeit metaphysischer Begründungen so grundstürzend ist, wie oft unterstellt wird, hätten vielleicht schon frühere Denker darauf kommen können. Möglichweise findet man eine solche Skepsis schon bei reflektierten Vorgänger-Philosophen? Dass diese Metaphysik der kosmischen Verwirklichung im Selbst nicht bruchlos in eine politische Philosophie der positiven Freiheit zu übersetzen ist, zeigt sich bei genauerem Hinsehen bereits an einer Verschiebung in Greens Anthropologie. Die hochspekulative Ethik beginnt mit einer Naturphilosophie, der zufolge schon die Natur selbst das »spirituelle Prinzip« enthält (1883: 40f.) – die also nicht nur Naturphilosophie ist –, und sie begreift den Menschen als das Ideal, das dieser von sich selbst hat. Dieses Ideal treibt die ständige Selbstverbesserung des Menschen an, die Green erfassen will: »It is thus that he [man, CH] … presents to himself a possible better state of himself … It is thus, again, that he has the impulse [!] to make himself what he has the possibility of becoming but actually is not« (Green 1883: 199).93
Im »Manifest« des positiven Liberalismus jedoch (Himmelfarb 1991: 255), dem Pamphlet gegen die Vertragsfreiheit von 1881: macht Green eine andere Voraussetzung: »But we must take men as we find them« (Green 1881: 375). Wenn das der Fall ist, kann man die spekulative Philosophie, die darüber sinniert, was der Mensch – bzw. das spirituelle Prinzip in ihm – alles werden könnte, aus der politischen Philosophie abziehen (Brink 2003:
—————— 93 Das wäre eine weitere Fähigkeit für Nussbaums Liste (sie entspricht in etwa der perfectibilité): »the capacity … of conceiving itself in a better state than it is« (Green 1883: 203). Der »Impuls« war uns bereits bei Mill und Dewey an zentraler Stelle begegnet.
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66f.). Es zählt der Mensch, wie er ist, d.h. seine »common nature« (1882: § 121), die hier– wie schon bei Condorcet und MacIntyre – vorausgesetzt ist: »the right is one that belongs to every man in virtue of his human nature« (1882: § 151). Eine spekulative Theorie des Kosmos oder eines absoluten Geistes spielt hingegen keine Rolle. Wie triftig ist die Kritik Berlins an diesem politischen – nicht metaphysischen – Programm dann aber noch? Um es vorwegzunehmen: Herzlich wenig. Sehen wir uns dafür diese politische Theorie der positiven Freiheit genauer an. In seinem politischen Pamphlet argumentiert Green überaus geschickt: Er möchte den vorgefundenen Liberalismus nicht bekämpfen, sondern verändern. Daher legt er am innerliberalen Gegner selbst eine perfektionistische Grundüberzeugung fest. Das treibende Ziel der (alten) Liberalen sei die »passion for improving mankind« (367). Die Vertragsfreiheit werde von ihnen als das beste Mittel für eine gute Entwicklung der Menschen gesehen, weil diese nur so lernen könnten, für sich selbst zu sorgen. Jede staatliche Hilfe würde nur die Selbstständigkeit (»self-reliance«) der Menschen untergraben: »Might not our people, they ask, have been trusted to learn in time for themselves to eschew unhealthy dwellings, to refuse dangerous and degrading employment, to get their children the schooling necessary, for making their way in the world?« (Green 1881: 375, vgl. 366). »›If the law thus takes to protecting men … who ought to be able to protect themselves, it tends to weaken their self-reliance, and thus … it lowers them in the scale of moral beings‹« (365).
Diese Zuschreibung Greens (der hier eine Parlamentsdebatte behandelt) kann man nicht nur auf John Stuart Mill zurückbeziehen, sondern auch auf dessen Referenzautoren Wilhelm von Humboldt. Schon dieser glaubte, eine staatliche Hilfe mache die Menschen abhängig: »Überhaupt wird der Verstand des Menschen doch, wie jede andre seiner Kräfte, nur durch eigne Tätigkeit, eigne Erfindsamkeit oder eigne Benutzung fremder Erfindungen gebildet. Anordnungen des Staats aber führen immer mehr oder minder Zwang mit sich, und selbst wenn dies der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken« (Humboldt 1792: 78).
Was hat Green nun dagegen einzuwenden? Er folgt zunächst der Unterteilung in Zweck und Mittel, die auch Humboldt vorgibt (den Green nicht zitiert, aber als Kenner des Deutschen Idealismus gekannt haben muss). Für Humboldt ist Freiheit kein Selbstzweck, sondern Mittel – der Zweck ist erst die »Vervollkommnung« des Menschen:
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»Der wahre Zweck des Menschen … ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässlichste Bedingung« (Humboldt 1792: 70; zur »Vervollkommnung« 85).
Man erkennt den Gedankengang von perfektionistischem Zweck und liberalen Mitteln bei Green wieder: Der Zweck – hier nicht des Menschen, sondern der Politik – ist die Freiheit, doch eine im positiven Sinne. Gemeint ist die reale Freiheit zur guten Entwicklung: »We shall probably all agree that freedom, rightly understood, is the greatest of blessings, that its attainment is the true end of all our effort as citizens. When we speak of freedom as something to be so highly prized, we mean a positive power or capacity of doing or enjoying something worth doing or enjoying …., the full exercise of the faculties with which man is endowed« (Green 1881: 370f.).94
In Greens Lesart des alten Liberalismus war auch die negative Freiheit dafür stets nur ein Mittel: »freedom in all the forms of doing what one will with one’s own, is valuable only as a means to an end. That end is what I call freedom in the positive sense: in other words, the liberation of the powers of all men equally for contributions to a common good« (Green 1881: 372).
Der Zweck ist also die Vervollkommnung der Menschen, die negative Freiheit nur ein Mittel dazu. Wenn aber dies als Liberalismus-interne Gemeinsamkeit feststeht (Rawls wäre hier die Ausnahme), vermag Green mit Hilfe der Sozialtheorie das Mittel zu verändern, ohne den liberalen Zweck aufzugeben. Dem dient die Historisierung des Liberalismus, die er vornimmt: Der alte Liberalismus habe die Vertragsfreiheit als Mittel im Kampf gegen die Ungleichheit der korporativen Gesellschaft nutzen können (307, vgl. Dewey/Tufts 1908: 425), weil dies Freiheit geschaffen hat, ohne die Rechte irgendeines Individuums einzuschränken: »In all this, while there was much that contributed to the freedom of our civil life, there was nothing that could possibly be construed as an interference with the rights of the individual« (Green 1881: 368).
Eben das habe sich nun geändert. Betrachtet man nicht nur den abstrakten Wert der Freiheit, sondern zugleich die »conditions of its maintenance in such a society as ours« (367), müsse man zu anderen Schlussfolgerungen
—————— 94 Vgl. die Varianten dieses Gedankens bei David Ritchie ( »we have defined the end of State action as the realization of individual capacities«, 1902: 58) und Leonard Hobhouse (»The foundation of liberty is the idea of growth«, 1911: 66, 1921: 71).
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kommen: Das gute Mittel von einst läuft heute seinem Zweck entgegen, es wird sogar zu einem »instrument of disguised oppression« (382). Menschen werden ungleich behandelt, schlecht bezahlt, ernähren sich schlecht und wohnen ärmlich, was alles dazu führt, dass sie sich nicht recht entwickeln können – sie entwickeln sich in eine schlechte Richtung (Green spricht von einer »degradierten« Bevölkerung, 376). Alles das ließe sich verhindern, wenn der Staat sich davon freimachte, die negative Freiheit – sprich: die Vertragsfreiheit und das unbedingte Eigentumsrecht – zum unantastbaren Dogma zu erheben. Er tut dies nicht, weil er nicht sieht, dass sie nicht Zweck, sondern Mittel ist. Green beruft sich dabei auf Eingriffe, die es zu seiner Zeit bereits gab (etwa die Schulpflicht sowie die Einschränkung der Arbeit von Kindern und Frauen, 368f.). Interessant dabei ist neben diesem strategisch ›immanenten‹ Zug (wohlgemerkt: bei einem Metaphysiker) der Egalitarismus, der dabei zum Tragen kommt: Für Green ist Freiheit nur als gleiche Freiheit möglich:95 »If the ideal of true freedom is the maximum of power for all members of human society alike to make the best of themselves, we are right in refusing to acribe the glory of freedom to a state in which the apparent elevation of the few is founded on the degradation of the many« (372).
Green greift dafür auf Kant zurück, dem zufolge Freiheit nur als allgemeines Gesetz möglich ist, also nur, wenn jeder sie auch dem anderen zugesteht: »We mean by it a power which each man exercises through the help or security given him by his fellow-men, and which he in turn helps to secure for them« (371). Rekapitulieren wir kurz: Unter veränderten Bedingungen kann der Staat sich von der Unterlassungspflicht entbinden, die nur ein Mittel zum Zweck der Entwicklung war, um diese Entwicklung mit anderen Mitteln besser zu erreichen. Mit diesem Gedanken berührt sich Green mit anderen Vordenkern des Sozialstaates wie etwa Lorenz von Stein (F.X. Kaufmann 2003: 24ff.), für den ebenfalls klar war, dass die erstrebenswerte »Vollendung des Einzelnen« sich nur durch die Mithilfe der anderen vollziehen ließe, die es daher politisch zu organisieren galt: »Die innere Verwaltung ist … die Gesammtheit derjenigen Thätigkeiten des Staates, welche dem Einzelnen die von ihm selber durch eigne Kraft und Anstrengung nicht erreichbaren Bedingungen seiner individuellen Entwicklung darbieten.
—————— 95 Diese egalitäre Dimension unterschlägt Berlin im verkürzten Zitat dieser Stelle. Siehe aber Hobhouse: »such a fulfilment or full development of personality is practically possible not for one man only but for all members of a community« (1911: 69).
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Die Idee … beruht darauf, dass das Ideal der menschlichen Entwicklung der vollendete Mensch ist. Die Vollendung des Einzelnen aber ist durch ihn allein nicht möglich. Nur die Gemeinschaft der Menschen ist fähig, die Mängel der individuellen Kraft zu ersetzen, indem in ihr und durch sie Alle für jeden Einzelnen thätig sind« (Stein 1870: 39).
Das ›Positive‹ an der Greenschen Freiheit ist also nichts Mystisches, sondern meint die Gleichheit der Freiheit (»equality in freedom«, 1882: § 53). Green definiert die positive (oder reale, 1881: 375) Freiheit daher so: »I call freedom in the positive sense: … the liberation of the powers of all men equally for contributions to a common good« (1881: 372).96 Man mag den Nachsatz mit dem »common good« als Einschränkung kritisieren. Doch auch wenn es seltsam klingt, ist diese Einschränkung ein liberales Moment. Green möchte mit dieser Konzeption ein Staatshandeln legitimieren, das negative Freiheitsrechte einschränken kann (das meint primär ökonomische Rechte der Vermögenden, weniger das Privatleben der Individuen). Diese Einschränkung kann nur so weit gehen, wie es sich vom Gemeinwohl her rechtfertigen lässt (es geht nicht um »grandmotherly government«, 374). So läuft die bedingte Einschränkung der Ausbeutungslizenz der Vermögenden dem liberalen Zweck nicht zuwider. Vielmehr stellt sie den gleichbleibenden Zweck unter veränderten Bedingungen politisch weiter sicher: »it is the business of the state, not indeed directly to promote moral goodness, for that, from the very nature of moral goodness, it cannot do, but to maintain the conditions without which a free exercise of the human faculties is impossible« (374, vgl. Hobhouse 1911: 83).
Diese perfektionistische Freiheits-Ermöglichungspolitik ist konkreter erst als solche zu entziffern, wenn man die Effekte auf alle Bürger in Betracht zieht, auch die »suffering classes« (376).97 Bei der Lohnarbeit impliziert es etwa Mindestlöhne (»civic minimum wage«, Hobhouse 1921: 137; cf. IV.1): »Either the standard of well-being on the part of the sellers of labour must prevent them from selling their labour under those conditions [under conditions incompatible with the health or decent housing or education of the labourer, CH], or the law must prevent it« (377).
—————— 96 »[T]he struggle for liberty is also, when pushed through, a struggle for equality. Freedom to choose and follow an occupation, if it is to become fully effectice, means equality with others in the opportunities for following such occupation« (Hobhouse 1911: 15). 97 Der einflussreiche Beveridge-Report von 1942 unterschied fünf »major categories of suffering«: »want, disease, ignorance, squalor and idleness« (Barry 1999: 40).
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Folgende verdinglichungskritische – und auf Karl Polanyi vorweisende – Stelle klingt sogar wie eine Forderung nach Abschaffung der Lohnarbeit:98 »No contract is valid in which human persons, willingly or unwillingly, are dealt with as commodities, because such contracts of necessity defeat the end for which alone society enforces contracts at all« (373).
Bei alldem handelt es sich allerdings um einen reaktiven Perfektionismus: Von sich aus müsste der Staat (»i.e., the community as acting through law«, Green 1882: § 209) eigentlich wenig tun, wenn alles andere wohlbestellt wäre. Doch Green identifiziert soziale Probleme, die durch den Kapitalismus seiner Zeit hervorgerufen werden, und formuliert mit ihrer Hilfe eine Lizenz des liberalen Staates, in diesem ungleichen Kampf den Schwachen beizustehen.99 Wir hatten schon gesehen, dass Berlins Kollektivismusvorwurf gegen dieses Programm wenig ausrichten kann, da es sich nur an Individuen richtet (selbst in der metaphysischen Version). Ähnlich verpuffen auch Berlins andere beiden Punkte, wenn man sich das politische Programm näher anschaut: Weder geht es Greem um fremdbestimmte Selbstverwirklichung, also um ein inhaltlich bestimmtes Programm, wie Menschen ihr Leben zu leben hätten; der Staat soll die Bürger nicht moralisch machen (»promote moral goodness«, 374).100 Noch ist impliziert, dass es nur eine moralische Wahrheit geben kann. Die Maßnahmen, die Green vorschlägt, bewegen sich auf einer vor-moralischen Ebene (einer adiaphora), sie betreffen die Bedingungen eines guten Lebens aller, nicht aber die nähere Gestalt der individuellen Lebenspraxis.101
—————— 98 Hobhouse sprach dann tatsächlich statt von Arbeit von »civil service« (1921: 135). 99 Green tritt für längere Pachtverträge (weil sonst die Sicherheit fehlt) und Prohibition ein. 100 »Now any direct enforcement of the outward conduct, which ought to flow from social interest, by means of threatened penalties and a law requiring such conduct … does interfere with the spontaneous action of those interests, and consequently checks the growth of the capacity which is the condition of the beneficial exercise of rights. For this reason the effectual action of the state … for the promotion of habits of true citizenship, seems necessarily to be confined to the removal of obstacles« (1882: § 207). »To try to form character by coercion is to destroy it in the making« (Hobhouse 1911: 76). 101 Greens Eintreten für die Prohibition von Alkohol mag anders bewerten (sein Bruder war übrigens alkoholabhänging), wer den Vollrausch als Genuss der Freiheit schätzt; doch wird Alkohol noch heute hoch besteuert und öffentliches Massentrinken (›binge drinking‹) oft kritisiert – außer es geschieht auf der »Wiesn«.
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Die Politik der ›effektiven‹ Freiheit Schauen wir uns aber, um fair zu Berlin zu sein, noch Dewey als weiteren Vertreter der »positiven Freiheit« an. Wir hatten im Kontext von Deweys Naturphilosophie bereits gesehen, dass gerade der proto-kommunitaristische Progressivismus bedenklich anti-individualistische Tendenzen hatte, gegen die sich Dewey (1922) allerdings aufgrund einer speziellen Naturphilosophie zu wehren wusste. Noch zu Beginn der ›Great Depression‹ vermag Dewey (1930) das Greensche Programm einer Befreiung der Individualität durch eine Begrenzung einer totalen Kapitalisierung der Gesellschaft zu vertreten, obwohl er sich eigentlich schon längst von der Metaphysik Greens losgesagt hatte (Dewey 1892/1893). Vielleicht ist das ein weiterer Hinweis darauf, dass die Metaphysik dafür nicht von zentraler Bedeutung war. Was positive Freiheit dabei meinte, lässt sich recht knapp sagen: Um eine Freiheit, die man auf dem Papier hat, auch in der Praxis verwirklichen zu können, bedarf es der »material means and mental cultivation« (Dewey/Tufts 1908: 393), oder, etwas komplizierter ausgedrückt: »Effective Freedom … requires (1) positive control of the resources necessary to carry purposes into effect … and (2) mental equipment with the trained powers of initiative and reflection requisite for free preference and for circumspect and far-seeing desires« (Dewey/Tufts 1908: 392).
Auch bei Dewey liegt eine sozialtheoretische Kapitalismusanalyse dahinter, die das Mittel zugunsten des Ziels verändert: »If the choice is, do this or – starve – the freedom is not much worth. … Hunger is as coercive as violence« (Dewey/Tufts 1908: 473, vgl. Green 1881: 373, 382). Das formuliert zugleich eine Kritik an der Kulturindustrie, die die Millsche Idee Adornitisch weiterführt, dass nämlich die Individualität vor dem konformistischen Einfluss der Masse und beispielsweise der Werbung zu schützen ist: »The freedom of an agent who is merely released from direct external obstruction is formal and empty. If he is without resources of personal skill, without control of the tools of achievement, he must inevitably lend himself to carrying out the directions and ideas of others. If he has not powers of deliberation and invention, he must pick up his ideas casually and superficially from the suggestions of his environment and appropriate the notions which the interests of some class insinuate into his mind« (Dewey/Tufts 1908: 392).
Dewey begreift Freiheiten, wenn sie ›effektiv‹ sein sollen, als positive Rechte. Diese Rechte lassen sich allerdings nur aufrechterhalten, wenn sie staatlich geschützt werden – und zwar im Notfall auch gegen die Mehrheit, wie ein
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anderer Greenschüler ausführt: »The individual can only have a chance of developing the capacities he has if law and public opinion put some pressure on the ›natural groups‹ to which he belongs« (Ritchie 1902: 56). In diesem Sinn liest Dewey die Entwicklung komplexerer sozialer Strukturen, vor allem der Bundesstaaten über den lokalen Autoritäten, dialektisch als Ermöglichungsbedingung einer größeren Freiheit des Indiviuums (»Growth of Individuality through Social Organisations«, Dewey/Tufts 1908: 384ff.).102 Dewey geht es dabei vor allem darum, die Bedingungen für die Ausübung dieser Rechte mitzudenken und möglichst für alle Bürger – nicht nur für die per Zufall privilegierten – zu erfüllen. Sogar das zentrale (alt-)liberale Recht die Meinungsfreiheit etwa hängt noch von kontingenten wirtschaftlichen Hintergründen ab: »Freedom of thought in a developed constructive form is, however, next to impossible for the masses of men so long as their economic conditions are precarious … Lack of time, … blind preoccupation with the machinery of highly specialized industries, the combined apathy and worry consequent upon a life maintained just above the level of subsistence, are unfavourable to intellectual and emotional culture« (Dewey/Tufts 1908: 400f.).
Dagegen setzt Dewey die »Chancengleichheit« (491), die er zwar aufgrund der Offenheit dieses Begriffs selbst als »Phrase« kennzeichnet, jedoch sogleich recht klar umreißt: Die drei Horizonte des Menschseins, die wir bereits kennengelernt haben (Natur, Gesellschaft und Selbst), verlangen für Dewey nach je anderen ›Gerechtigkeiten‹: Die unterschiedlichen eigenen Bemühungen der Menschen dürfe man unterschiedlich belohnen – das ist die Verdienstethik, ohne die in den USA wohl nichts läuft. Die meisten sozialen Unterschiede der Menschen gehen allerdings auf die beiden anderen Faktoren (Natur und Gesellschaft) zurück, und hier sollte man sie gleich behandeln, da es in diesen Instanzen keine Gründe für Ungleichheit geben könne. Hinsichtlich der gleichen Natur deutet Dewey das familienpolitisch: »Conditions of food, labor, and housing should be such that every child may be physically well born« (Dewey/Tufts 1908: 491). Und hinsichtlich der gleichen Sozialität liest er es bildungspolitisch: Zwar könne man hier keine absolute Gleichheit herstellen, doch jedes Kind solle über die nötigen Bedingungen in Form von Macht und Wissen für eine »reale« Freiheit verfügen (491; vgl. Dewey 1916). Eine Kritik an Berlin kann also auch anders aussehen als bei Charles Taylor (1979), der die Zuschreibungen
—————— 102 »State action to relieve indigence enhances liberty as autonomy« urteilt Barry (1999: 25).
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Berlins mehr oder weniger akzeptiert und lediglich zugunsten der Berlinschen »positiven Freiheit« umwertet: Taylor zufolge braucht ein Selbst tatsächlich eine höhere »Autorität«, um sich zur Freiheit emporzuarbeiten: »das Subjekt selbst kann in der Frage, ob es selbst frei ist, nicht die letzte Autorität sein, denn es kann nicht die oberste Autorität sein in der Frage, ob seine Bedürfnisse authentisch sind oder nicht« (Taylor 1979, 125).
Er spielt damit auf die starken Wertungen an, die der Selbstmächtigkeit der Subjekte vorangehen. Mit Dewey, wie schon mit Green selbst, lässt sich hingegen zeigen, dass Berlin Dinge kritisiert, die sich bei den Vertretern der »positiven Freiheit« gar nicht finden (ein Kollektivismus, der die Individuen übergeht, und doktrinäre Wahrheitsansprüche, die einen Zwang rechtfertigen). Machen wir es uns aber doch noch einmal schwerer: Gibt es bei Dewey nicht doch Momente, die die Berlinsche Kritik (und die negative Verstärkung bei Taylor) als berechtigt erscheinen lassen? Gerade in der deutschsprachigen Rezeption wird die Berlinkritik dort weitergeführt, wo Deweys Theorie der Selbstverwirklichung problematisiert wird. Diese sei, so heißt es hier, nicht in der Lage, eine universalistische und prozedurale Ethik zu begründen, weil sie nicht inhaltsleer genug sei, sondern mit der Verwirklichung des individuellen Selbst eine inhaltliche (teleologische) Vorgabe mache, die aufgrund der naturphilosophischen Grundierung sogar »naturalistisch« sei.103 Trifft Berlins Kritik an der positiven Freiheit also, wenn sie schon nicht auf Deweys Theorie der effektiven Freiheit zutrifft, um die Ecke gedacht auf seine Theorie der Selbstverwirklichung zu? Mir liegt es fern, einer solchen Theorie Begründungslasten für die Demokratietheorie oder die universalistische Kantische Ethik aufzubürden (denn darin liegt eine hermeneutisch unsensible Voraussetzung der Deweykritik). Zu fragen ist jedoch, ob in dieser Theorie etwas freiheitsfeindliches verborgen liegt, indem es Tendenzen gäbe, das Selbst entweder »intersubjektivistisch zu ersticken« (Hartmann 2003: 287) oder den Wertepluralismus durch das mitgebrachte »Gut« der Selbstverwirklichung (oder des Wachstums, wie es später heißt) unnötig einzuengen. Wir sahen bereits, dass der Vordenker Green der Individualität in den metaphysischen Schriften einen zentralen Platz eingeräumt hat, und seine
—————— 103 Da die Demokratietheorie prozedural ist, damit die »Bedingungen des Wertepluralismus« (Honneth 2000: 116) anerkannt werden und jeder Bürger frei bleibt, seine eigene Theorie des Guten zu vertreten (selbst wenn er sie nicht in den politischen Prozess einbringen darf), ist in ihr ein Stück der von Berlin gemeinten negativen Freiheit aufgehoben. Das drückt sich in der positiven Bewertung des Marktes bei Rawls und Honneth aus.
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politischen Schriften zwar von Gemeinwohl sprechen, aber keineswegs kollektivistisch daherkommen. Vielmehr verleiht seine egalitaristische Tendenz jedem einzelnen Individuum einen höheren Wert, als dies der alte Liberalismus aufgrund seines Ausblendens von Klassenunterschieden tun konnte. Ähnliches lässt sich von Deweys Theorie der Selbstverwirklichung sagen. Diese ist keineswegs nur ein Relikt seiner idealistischen Frühphase, das er später, auf dem Weg von Hegel zu Darwin (Rorty 2000), abgelegt hätte.104 Vielmehr kommt sein ganzes Lebenswerk, ausgehend von der Psychologie (1887) und gipfelnd in der Ästhetik (1934), immer wieder auf das Thema der individuellen Selbstverwirklichung zurück.105 Dabei kommt es freilich darauf an, was darunter genauer zu verstehen ist – denn allzu schnell lässt sich diese Idee schon durch Wortspiele hinterfragen (Wie kann sich ein Selbst realisieren, dass es noch nicht gibt? Warum soll es sich realisieren, wenn es schon da ist? S.u., IV.3). Dewey selbst hat schon in der frühesten Phase klargestellt, dass sich sinnvollerweise kein fixes, vorfestgelegtes Selbst denken lässt, da sich dieses dann »duplizieren« müsste (und insofern nicht mehr mit dem individuellen Selbst identisch wäre, sondern ihm transzendent und unerreichbar bleiben müsste). Es entstehe dann die unlösbare Frage nach dem Warum (»why a completely realized self should think it worth while to duplicate itself in an unrealized, or relatively empty, self«, Dewey 1893: 44). Ebensowenig Sinn mache es, ein fixes Selbst vorauszusetzen, dass sich lediglich als Container mit Eindrücken und Genüssen anfüllt (»set up a rigid self, and conceive of realization as fillig up its empty framework«, 44; s.o. zum Glück). »To realize capacity does not mean, therefore, to act so as to fill up some presupposed ideal self. It means to act at the height of action, to realize its full meaning. The child realizes its artistic capacity whenever he acts with the completeness of his existing powers« (49).
Vielmehr sei Selbstverwirklichung als ein Prozess zu begreifen, der (»concrete as a growing tree«) tatsächliche Talente des je individuellen Subjekts fördere. Diese Potenzen oder »Capacities« sind nichts Geheimnisvolles, sondern liegen schon im gegenwärtigen Handeln am Tage. Es könne ledig-
—————— 104 »Dewey hat Zeit seines Lebens trotz aller expliziten Kritik an Romantik und Idealismus an einer Konzeption positiver Freiheit festgehalten, die einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Überlebensbedingungen einer demokratischen Kultur und den Formen praktischer Selbstverwirklichungsmuster annimmt« (Hartmann 2003: 278). 105 Nach Morse 2011 z.B. weist schon die Psychologie ihr eine zentrale Rolle zu, so in der Theorie der Gefühle und des Willens; zu späteren Werken Roth 1978 und Saiko 2005.
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lich sein, so der Pädagoge Dewey, dass eine außenstehende Person davon mehr sehen (und es daher anders beurteilen) kann als das Subjekt selbst: »Suppose, for example, the self which the child is to realize involves some artistic capacity. Let it be said that this end transcends the child’s consciousness, and is therefore not an actually present capacity. … It is not a case of contrast between an actuality which is definite, and a presupposed but unknown capacity, between a smaller and larger view of the actuality« (Dewey 1893: 43); »even now he has a certain quickness, vividness, and plasticity of vision, a certain deftness of hand … Capacity … is itself action « (44).
Diese Stelle zeigt zum einen, dass das ideale Selbst nichts dem Individuum fremdes, von Außen zustoßendes oder Vorgeschriebenes ist, sondern dasjenige am eigenen Handeln, was mich von anderen unterscheidet und mir möglicherweise viel Glück bringen kann. Es geht folglich nicht darum, das Individuum mit der vollendeten Tatsache zu konfrontieren, dass es nun auf eine bestimmte Weise zu leben hat (das wäre Berlins Deutung); vielmehr sollen die Wahlhandlungen, die ein jedes Individuum zu fällen hat, möglichst auf der Grundlage einer realistischen Selbsteinschätzung getroffen werden. Dewey betont die erzieherische Seite der positiven Freiheit: Autonome Entscheidungen treffen kann ich besser, wenn ich mich selbst kenne, und kennenlernen kann ich mich nur, indem ich mich selbst ausprobiere. Dazu gehören nicht nur die Urteile der anderen, sondern auch meine emotionalen Reaktionen auf meine Erfahrungen und auf die Urteile der Anderen. (Wenn mir eine Ablehnung durch andere viel ausmacht, wird es etwa wesentlich schwerer werden, eine künstlerische Begabung als Beruf zu behaupten, als wenn mich dies nicht bekümmert.)106 Hiermit ist die Intersubjektivität angesprochen, die von Dewey in späteren Jahren immer weiter aufgeladen wird: das Individuum unterscheidet sich zwar von anderen Menschen, vermag seine Eigenheit jedoch erst im Kontakt mit anderen zu erkennen und womöglich auch nur durch deren Hilfe auszubilden. (Es werden jedoch meist andere Andere sein als die ihn Umgebenden, die ihm dabei helfen können – solche nämlich, die es sich selbst aussuchen oder die es allererst finden muss.)107 Wie ist es also um die Intersubjektivität bestellt? Saugt diese den Freiheitsgewinn, den ein er-
—————— 106 Dewey nutzt hier die pragmatistische Maxime: Die Gefühlsreaktion auf die vorgestellten möglichen Folgen einer Herausarbeitung dieses Talentes sollen darüber mitentscheiden, welchen Wert das Individuum seinem Talent selbst gibt (Honneth 2000: 121). 107 Außerdem sind Autodidakten nicht zu unterschlagen: gerade sie vermögen es oft, vertrocknete Schulbildungen aufzusprengen.
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kanntes Talent bringen kann, sogleich wieder auf, etwa indem lediglich für ein »Gemeinwohl« nützliche Talente anerkannt werden, oder indem dem Subjekt in dieser ›Einbettung‹ keine Luft zum Atmen mehr bleibt? In der gemeinsam mit Tufts verfassten Ethik von 1908 geht Dewey auch auf diese Frage ein. Das muss er auch, denn eine progressivistische Philosophie, die individualistisch (und insofern liberal) sein will, sollte die angestrebte Entwicklung auf irgendeine Weise auf das Individuum zuschneiden. Die Philosophie der Selbstverwirklichung drängt sich damit wie von selbst auf. Ist sie damit aber vormoralisch, also gar nicht um die Belange anderer bekümmert, wie ein Vorwurf lauten könnte (Honneth 2000: 116; Taylor 1991)? Diesem Vorwurf entgehen Dewey und Tufts, indem sie den Einwand Victor Frankls gegen Abraham Maslow vorwegnehmen (etwas derartiges hatte bereits Green vorgedacht, 1883: 209f.). Demnach wächst ein Individuum dann am besten, wenn es sich selbst dabei vergisst: »Every moral act in its outcome marks a development or fulfillment of selfhood. … But … there is no way of discovering the nature of the self except in terms of objective ends which fulfill its capacities, and there is no way of realizing the self except as it is forgotten in devotion to these objective ends« (1908: 352).
Solch objektive Zwecke können nun, müssen aber nicht moralische sein; das ist die Verbindung zwischen Selbstverwirklichung und Moral. Damit wird die Selbstverwirklichung keineswegs moralisch oder intersubjektivistisch zurechtgestellt, denn der Ethik gelingt es, die Intersubjektivität auf eine Weise einzubauen, die das Selbst nicht aufsaugt. Natürlich gibt es soziale Bedingungen für eine Selbstverwirklichung (das ist gerade der Witz der positiven Freiheit). Damit ist die Selbstverwirklichung gehalten, die sozialen Bedingungen ihrer selbst weiter auszubauen (für sich und für andere): »Regard for the happiness of others means regard for those conditions and objects which permit others freely to exercise their own powers from their own initiative, reflection, and choice« (Dewey/Tufts 1908: 275).
Sie legen sogar Wert darauf, die Möglichkeit selbstloser Moral aufzuzeigen, die zugleich ein Glück durch Selbstverwirklichung mit sich bringt: »Mill insisted that quality of happiness was morally important, not quantity. Well, that quality which is most important is the peace and joy of mind that accompanies the abiding and equable maintenance of socialized interest as central springs of action. To one in whom these interests live (and they live to some extend in every individual not completely pathological) their exercise brings happiness because it fulfills his life. To those in whom it is the supreme interest it brings supreme and
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final happiness. It is not preferred because it is the greater happiness, but in being preferred as expressing the only kind of self which the agent fundamentally wishes himself to be, it constitutes a kind of happiness with which others cannot be compared. It is unique, final, invaluable« (Dewey/Tufts 1908: 274).
Es wird jedoch eine Wenn-Dann-Beziehung behauptet (mit einer realistischen Annahme hinsichtlich der emotionalen Auswirkungen guten Handelns, etwa in einem warm glow): Fast alle Menschen weisen Glücksgefühle nach einem moralischen Handeln auf, und falls jemand sich vordringlich als moralischen Menschen sehen möchte, ist dies das höchste Glück, was er erreichen kann. Doch weder sind die Menschen darauf festgelegt, ihre Selbstverwirklichung nur auf diese Weise zu finden, noch ist beabsichtigt, damit eine Moralbegründung zu liefern. Angenommen wird nur, dass die eigene Entwicklung selbst etwas Gutes ist, das es auch bei anderen zu fördern gilt. Wenn Dewey zeigen kann, dass dies mit der ›restlichen‹ Moral sowie der Freiheit gut verträglich ist, hat er schon eine Menge geleistet. Damit konnte dieses Kapitel anhand einiger wichtiger Autoren zeigen, dass eine perfektionistische Philosophie, die sich ihrer ontologischen Grundlagen in Form einer Naturphilosophie und Anthropologie versichert, keineswegs freiheitsfeindlich werden muss, wie es ein gegenwärtig verbreitetes Vorurteil hinstellt, sondern im Gegenteil starke Begründungen für eine freiheitliche Politik hinzugewinnt. Eine solche Dimension hatte sich oben vor allem gegenüber den kollektivistischen Untiefen rein intersubjektivistischer Ansätze als wichtig erwiesen. Stellt eine perfektionistische Philosophie diese Dimension zur Verfügung, ist man nicht länger gezwungen, in einen Subjektivismus zurückzuweichen, wie wir es am Beispiel von Sher, Rawls und Nussbaum hatten beobachten können. Auch die Keule des naturalistischen Fehlschlusses, die solchen Ansätzen jederzeit droht, konnte am Beispiel dieser Autoren zurückgewiesen werden: Der Naturbezug dient nicht dazu, partikulare Glaubenssätze zu totalisieren oder zu immunisieren, sondern im Gegenteil dazu, kulturelle Kristallisationen, die nicht mehr hinterfragt werden, im Interesse einer Befreiung wieder aufbrechen zu können. Darauf wird im letzten Kapitel nochmals zurückzukommen sein.
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3. Selbst und Entfaltung: Von Otto Gross zu Carl Rogers Es gilt noch die dritte Dimension einzuholen: neben der Gemeinschaft, welche zur Grammatik der perfektionistischen Gleichheit führt, und der menschlichen Natur, welche eine existentielle Freiheitsdimension eröffnet, die in positiven Freiheitsbegriffen weitergeführt wird, gibt es noch das eigentlich Individualistische zu betrachten; das, was wir das Selbst der Selbstverwirklichung nannten. Hiergegen gab es von Seiten der Skeptiker verschiedene Einwände: Ein zentraler Einwand besagte, dass diese Vorstellung zu ›essentialistisch‹ sei und ein Selbst sich stets selbst formen und verändern können müsse, was mit ontologischen Aussagen nicht abgebildet werden könne. Doch diese schroffe Entgegensetzung zwischen individualistischen Konzepten von Selbstverwirklichung und einer teleologischen Realisierung menschlicher Fähigkeiten lässt sich auflösen.1 Es handelt sich normativ um verträgliche Ideale, die sogar aufeinander verweisen. Ein Sprichwort besagt, dass man mit seinen Aufgaben wächst. In der Tat wird Lernen (nicht nur im Pragmatismus) durch das Überwinden von Widerständen gefördert. Eine Welt, in der für die Individuen bereits alles arrangiert wäre – etwa durch allerlei Anerkennungsbezeugungen von außen – ließe Individuen wenig eigenes zu tun übrig. Die Idee einer »Selbstverwirklichung« würde geradezu langweilig wirken; sie bedeutet nicht mehr und nicht weniger als ein Aufgehen in den Rollensets, die eine Gesellschaft anzubieten hat und zwischen denen man höchstens noch ›wählen‹ oder zu denen man in Form von Ja oder Nein Stellung nehmen kann. Selbstverwirklichung kann sich in diesem Modell fast nur noch auf Belangloses beziehen, etwa in die Richtung exzentrischer Konsumwünsche (etwa: ›für meine Selbstverwirklichung brauche ich einen Paraglider‹). Vielleicht hat die Selbstverwirklichungspraxis, wie sie sich in den 1960er und 1970er Jahren ausgehend von den USA verbreitete, aus diesem Grund einen schalen Beigeschmack bekommen: Sie ist schon von Anbeginn kritisch betrachtet worden, soweit sie eine therapeutische ›Industrie‹ zu werden begann. Bis heute jedoch sind die Inhalte dieses »Narrativs« (Illouz 2006: 69ff.) prägend für unsere post-autoritäre westliche Kultur: Jede Einzelne sollte privat und beruflich am besten dasjenige tun, was zu
—————— 1 So ist für Horkheimer/Adorno »das eigentlich Menschliche … die mögliche Differenz des Menschen von seinem Begriff« (1944: 479; vgl. Rorty 1989: 160 ff.).
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ihr passt und was ihn oder sie auf diese Weise glücklich macht.2 Was sie tatsächlich will, gilt es allerdings erst herausfinden, und dazu bedarf es immer wieder Phasen der Selbstfindung und -Verwirklichung. Beschränkungen einer solch freien Entwicklung lassen sich nicht mehr mit Verweisen auf Tradition, Familienehre oder sonstige Werte des Herkommens beschneiden.3 Nun wird niemand bestreiten, dass Individuen sich generell besser entwickeln können, wenn ihre Umwelt ihnen entgegenkommt – das war bereits die Idee der positiven Freiheit. »Nur der Einzelne selbst kann die ihm gegebenen Möglichkeiten verwirklichen. Aber wie jeder andere lebendige Organismus braucht auch der Mensch günstige Bedingungen für sein Wachstum« (Horney 1950: 15).
Damit ist allerdings erst wenig darüber ausgesagt, worin ein solches Entgegenkommen bestehen kann. Dass es zwangsläufig bestimmte soziale Formen wie Nationalstaat, internationale Kapital- und Warenmärkte und die bürgerliche Kleinfamilie sein müssen, ist dadurch noch nicht festgelegt. Die nun zu stellende Frage lautet daher: Kann ein Subjekt angesichts seiner weitgehenden Angewiesenheit auf Unterstützung überhaupt sagen: Ich will es lieber anders? Und wenn ja, wie kann man so etwas umsetzen?
Welche Selbstverwirklichung? Institutionelles oder impulsives Selbst Ganz grundlegend muss man diese Frage wohl bejahen: Wenn Menschen so denken und handeln, kann man offensichtlich so denken, und in der Literatur ist dies oft beschrieben worden.4 Diese Antwort ist aus der Sicht des Subjekts selbst formuliert. Nun ist die Frage, ob sich ein Subjekt nicht über sich selbst täuschen kann. Die Cartesianische Einsicht, dass ich als Denkender notwendigerweise auch existiere, impliziert ja gerade nicht, dass das, was ich denke, auch wahr ist. Es kann also sein, dass ich mich in mei-
—————— 2 Frühe Kritiken daran waren Riesman 1950, Bendix 1956 (für die Arbeit), Sennett 1974, Lasch 1979, Bellah u.a. 1985 (dazu Sonntag 1999: 234ff.), Taylor 1991 oder Remele 2001; später Illouz 2006: 69ff.; 2009 und Ehrenberg 2011; antikritisch Eberlein 2000: 244ff. An den älteren Kritiken gemessen bringt Illouz’ Kritik wenig neue Einsichten. 3 Das birgt Konfliktpotential in der interkulturellen Begegnung, wenn Kulturen meinen, sich nur ohne individuelle Selbstbestimmung erhalten zu können. 4 Goethes Wilhelm Meister beschreibt eine Entwicklung in bestehende, obzwar elitäre Institutionen hinein, Karl Philip Moritz’ Anton Reiser das Misslingen einer solchen Entwicklung. Diggins 1994 nennt als Gegenentwurf Werke von Henry James; man denke auch an Ibsens Nora (1879) oder Jonathan Franzens Freedom (2010).
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ner Totalopposition über mich selbst täusche, indem ich – um ein Beispiel zu geben – in meinem Protest meinen Eltern gegenüber lediglich Phrasen wiedergebe, die mir eine Fernsehshow eingetrichtert hat.5 Das wäre noch nicht individualistisch im total-oppositionellen Sinne, sondern nur das Ausspielen einer sozialen Beeinflussung gegen eine andere. Hier könnte der vereinnahmende Institutionalist recht behalten und erneut weise lächelnd auf die anderen Institutionen hinweisen (obzwar diese den Ausschlag der Wahl zwischen ihnen keineswegs determinieren können). Fragen wir also theoretischer: Lässt sich ein solches »opposing self« (Lionel Trilling), ein eigensinniges und eigenmächtiges Subjekt des Widerstandes (wie es Butler 2002 im Sinn hat), überhaupt denken, ohne es lediglich als Statthalter anderer Institutionen zu lesen? Hat ein Subjekt für sich ein eigenes Gewicht? Hier gibt es mindestens zwei abweichende Auffassungen. Wenn das Subjekt sich innerhalb der vorgegebenen Anerkennungskulturen (mit einem Spielraum für Erweiterungen durch das »normative Potential«) entwickeln soll, ist der Rahmen des Anders-Wollens recht eng gesteckt. Individuelle Freiheit beschränkt sich weitgehend auf die Möglichkeit, Schwerpunkte zu setzen und ausgewählte Anerkennungskulturen zwischenzeitlich auszusetzen (Honneth 2011a: 221). Wenn jemand etwa die Lebensform des Politikers der des Unternehmers vorzieht (und damit die Anerkennungssphäre des Rechts der des Marktes), oder Werte seiner Familie gegen eine bestimmte Wirtschaftspraxis setzt (wie in der herablassenden Skepsis von Aristokraten gegenüber der Marktwirtschaft), dann wäre dies der Fall. Doch beides wäre noch kein Ausweis sonderlicher Individualität. Turner (1976) nannte diese Variante das »institutionelle Selbst«. Ist es aber auch möglich, sich gegen seine eigene Familie, gegen den bestehenden Staat und gegen die vom jeweiligen Wirtschaftssystem gebotenen Optionen aufzulehnen? Gibt es nicht, um bei Turner zu bleiben, zumindest in Form von naturalen »Impulsen« eine innere Natur, die nicht in den sozial geformten und erwünschten Verhaltensweisen aufgeht? Oder würde sich die Zwiebel der Identität mit diesen ihren ›Schalen‹ zugleich auflösen? Die zentralen Strömungen des Individualismus, die die andere Auffassung artikuliert und zu leben versucht haben, würden die Möglichkeit einer Radikalopposition eindeutig bejahen, denn die Ablehnung all dessen, was der freien Entwicklung eines Individuums im Wege steht, macht ja die höhere Bewertung des Individuums gegenüber den Institutionen aus. Da-
—————— 5 Nach Illouz (2009: 33) hat Oprah Winfrey solche Narrative populär gemacht.
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rum handelt es sich beim radikalen Individualismus um eine kritische Strömung.6 Der Grund, warum Institutionen zurückgewiesen werden, sind in diesem Fall nicht wieder andere Institutionen. Es ist eine Befindlichkeit des Individuums, die man – hieran scheiden sich die Geister – ernst nehmen kann oder nicht. In diesem Denkhorizont jedenfalls soll der Zugriff der Institutionen (wie wohlmeinend er immer sein mag) nicht im Sinne weiterer »normativer Potentiale« ausgedehnt, sondern vielmehr abgewehrt und gebrochen werden. Und dies soll nicht im Sinne einer rein negatorischen Position geschehen, wie es in der Literatur etwa Iwan Gontscharows Oblomow oder Herman Melvilles Bartleby praktizierten, sondern im Sinne eines Subjektes, das aufbegehrt, um Eigenes gegen das institutionell Vorgegebene zu stellen, oder sich (wie im Western) zumindest einen Raum freizukämpfen, in welchem Eigenes entstehen kann. Die relevante Frage ist daher nicht, ob es eine solche Instanz gibt,7 sondern eher die, in welchen Denkrahmen sich dieser Gedanke eher rekonstruieren lässt und in welchen weniger. Sollte es sich in einem Rahmen nicht denken lassen, muss das nicht gegen den radikalen Individualismus, sondern es kann auch gegen den Denkrahmen sprechen, der ihn nicht adäquat wiedergeben kann. Eine solche Kritik der Theorien durch die Phänomene war eine Grundidee der Phänomenologie. Das Wort ›Denkrahmen‹ nimmt dabei schon vorweg, dass Denken hier auch zum Problem werden kann, da es durch die Verwendung allgemeiner Begriffe und dominanter Denkweisen das »Nichtidentische« in den Phänomenen zu überspringen droht – individuum est ineffabile. Daher sind ästhetische Vergegenwärtigungen für die Behandlung dieser Seinsdimension zentral.8 Beispiele für diese uneingelöste radikalindividualistische und institutionenkritische Position wären der frühromantische Individualismus im Sinne von Schleiermacher und Humboldt, der liberale Nonkonformismus im Sinne von J.S. Mill und Dewey, die individualistische Hegelkritik von Kierkegaard und Max Stirner, der Existenzialismus oder der Selbstverwirklichungsdiskurs
—————— 6 »Macht kaputt was Euch kaputt macht« von Ton Steine Scherben brachte dies 1970 auf den Punkt – zur Selbstverwirklichung im Linksterrorismus siehe Henning 2013a. 7 Sie ist hinreichend bezeugt, auch wenn nicht jeder sie nachzuempfinden vermag. »Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen« (Faust). »Was für eine Philosophie man wähle, hängt … davon ab, was man für ein Mensch ist« (Fichte 1797: 434). 8 »Die radikalere Kritik muss sich darüber hinaus auf die existenziellen Prüfungen beziehen. Und hier spielen Kunst und Literatur eine wichtige Rolle, da sie nicht an Rechtfertigungs- und Kohärenzanforderungen gebunden sind. Sie können Dinge aus der Welt in die Realität stoßen« (Boltanski 2009: 103; dazu mehr in IV.4).
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der positiven Psychologie zwischen Karen Horney und Carl Rogers. (Ich kann diese ›Tradition der Freiheit‹ hier nur in Ausschnitten behandeln.) In gegenwärtigen sozialtheoretischen Schriften in der Folge von Michel Foucault wird diese Richtung zuweilen belächelt, als hätte sie einem Gespenst nachgejagt, das sich als Wahnidee erwiesen habe und dessen Verfolgung sogar neue »Pathologien« zur Folge habe (Ehrenberg 2011: 24f.; Illouz 2006: 72; 2009: 270). Diese Sicht halte ich schon bei Foucault für verkürzt, denn sie beruht – als Modus der Selbstverwirklichung – auf eben dem Diskurs, den sie zu kritisieren vorgibt. Nicht nur performativ, auch inhaltlich profilieren sich hier Denker im Sinne einer Entbindung der Subjekte, die sie theoretisch zugleich bestreiten.9 Die Denker der Selbstverwirklichung, über die hier gespöttelt wird (Foucault 1987: 281 spricht von einem »kalifornischen Selbstkult«), waren allerdings keineswegs naiv. Sie wussten um die hohe Bedeutung sozialer Beziehungen für das gelingende Leben der Individuen, ja sie haben das Wissen um die Macht und Funktionslogik dieser sozialen Beziehungen jeweils bedeutsam erweitert: Schleiermacher und Humboldt haben die Bedeutung der Sprache und dialogischer Beziehungen hervorgehoben, J.S. Mill hat eine Ökonomie und eine Kritik der Geschlechterverhältnisse verfasst, Dewey eine Psychologie sowie eine Sozialphilosophie der guten Gesellschaft, und Sartre versuchte, die philosophischen Einsichten des Marxismus aus der Sicht des individualistischen Existentialismus zu reformulieren. Karen Horney und Carl Rogers waren – in Nachfolge und kritischer Absetzung von Freud – zugleich Sozialpsychologen, und selbst Kierkegaard und Stirner entwarfen nicht nur Modelle eigentlichen Selbstseins, sondern auch Formen gelingender Gemeinschaft (den Verein der Freien bzw. die wahre Kirche).10 Wenn man überhaupt einen gemeinsamen Nenner für individualistische Ansätze finden kann, könnte es dieser sein: alle genannten Autorinnen und Autoren waren darum bemüht, dem Zugriff dieser Institutionen auf die Subjekte Grenzen zu ziehen. Das hat nur dann Sinn, wenn es eine Dimension des Selbstseins gibt, die über seine Statthalterschaft des Allgemeinen, über das ›Intersubjektive‹ hinausgeht. Nur wenn man ein »opposing self« voraussetzt und als solches wertschätzt, sind die individuellen Freiheiten so
—————— 9 Diese Kritik an Foucault und anderen artikulieren etwa Taylor (1991), Eberlein (2000: 57, 351ff.) sowie G. Spivak; siehe auch die Derridakritik von Manfred Frank. – Schon Otto Gross sprach vom »Grundtypus der gesteigerten Ermüdbarkeit«, »mit Leistungsunfähigkeit, Apathie oder Überreizbarkeit und Unruhe« (1909: 84). 10 Zum Einfluss Stirners Stulpe 2010, zum radikalen Individualismus Hennig 1989.
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überaus wichtig. Das ist keine bloß theoretische Frage. Eine Wendung Kants aufgreifend könnte man sagen: ob es eine solche Instanz gibt, darüber kann man nicht unabhängig von praktischen Einsichten urteilen. Diese individuelle Freiheit muss nicht erst theoretisch beglaubigt werden, sie ist ein »Faktum« des gelebten Lebens, und daher hat die praktische Vernunft, die mit ihm argumentiert, den Primat vor der theoretischen, die in anderen Gefilden nach Existenznachweisen für dieses Phänomenen sucht (und diese möglicherweise nicht findet). Im Hegelschen Denkrahmen hingegen ist dieser Sonderbereich eines eigenwertigen Individuums nicht vorgesehen. Es passt theoretisch nicht in das Konzept, weil ein solches Verlangen sich, gemäß den Hegelschen Prämissen, in sich selbst verheddern und sich von seinen eigenen (nach Hegel: allgemeinen) Quellen abkoppeln würde – es wäre gezwungen, »abgeschiedener Geist« oder »unglückliches Bewusstsein« zu werden, und würde auf der Abschleppspur vom absoluten Geist überholt.11 Als traue Hegel seinen Sirenengesängen selbst nicht ganz, soll es aber auch praktisch, durch Erziehungs- und Überzeugungsarbeit, unterbunden werden; und dies gerade im Namen der (»wahren«) Freiheit des Individuums. »Ein Hauptmoment der Erziehung ist die Zucht, welche den Sinn hat, den Eigenwillen des Kindes zu brechen, damit das bloß Sinnliche und Natürliche ausgereuet werden« (Hegel, Werke 7: 327).
Der Stalinismus, dem der radikale Individualismus als bürgerliche Rechtsoder anarchistische Linksabweichung gegolten hätte, hätte sich darin auf Hegel berufen könne (Coletti 1976). Gegen diese Umarmung des Subjekts durch die Institutionen – oder vielmehr: durch eine Philosophie der Institutionen, die dem Individuum seine Abhängigkeit von diesen nachweist, etwa intersubjektivistisch über seine Genese oder quasi-transzendental über seine Verwendung von geteilten Sinnhorizonten oder Symbolen – haben Individuen immer wieder aufbegehrt. Der Witz an der Kritik der positiven Freiheit bei Isaiah Berlin ist ja, dass er nicht einfach einen Kollektivismus kritisiert, sondern vielmehr die Art und Weise, wie dieser Kollektivismus auf die Individuen zugreift und ihre Unterordnung als Selbstverwirklichung
—————— 11 »Das Individuum erhält nur dadurch Wesentlichkeit, Substantialität oder Bedeutung, dass es sich das Allgemeine in konkreten wirklichen Formen zum Zweck macht. Es kann sich nur verwirklichen, wenn es sich in das System der Arbeitsteilung eingliedert, indem es sich beschränkt und nützlich macht« (H.E. Schiller 2006: 112; dazu ähnlich Eberlein 2000: 63ff., 74f.; Frank 1986: 23ff., apologetisch dagegen Theunissen 1982).
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konzipiert: »Die empirischen Selbst in das richtige Schema zu zwingen ist nicht Tyrannei, sondern Befreiung« (Berlin 1958: 229). Die empirischen Selbst(e) müssen also aus eigener Kraft ihr »Schema«, ihn individuelles Gesetz finden können. Eine Freiheit, die nur das Wechseln zwischen Schemen erlaubt, wäre wertlos. Oft war die institutionentheoretische Antwort darauf die Binsenweisheit, dass ein einzelner Mensch ganz ohne Institutionen hilflos wäre. Doch das bedeutet gerade nicht, dass nicht jede einzelne von ihnen zurückgewiesen werden kann; und zwar desto entschiedener, je mehr sie auf die Individuen einzugehen verspricht. Ob Theorien diese Tatsache erfassen oder nicht: Natürlich kann ein Individuum im Alltag zur Not auch alles ablehnen und Kompromisse verweigern.12 Die philosophische Deutung solcher Bestrebungen blieb solange dünn, wie der individuelle Widerspruch angesichts undurchdringlicher Institutionen zwangsläufig negativ und vage bleiben musste und damit von Apologeten dieser Institutionen abwinkend als zu abstrakt, ›ahistorisch‹ oder vorsoziologisch abgewiesen werden konnte.13 Wenn Whitebook (2009: 169ff.) diesen Gegendiskurs als negativistisch beschreibt, was im Blick auf Schelling, Adorno und Zizek Sinn macht, so hat das auch diesen Grund: Es bedeutet nicht notwendig, dass der nie aufgehende Rest nicht zumindest ansatzweise explizit gemacht werden kann, sondern dass das bislang schlecht möglich war, weil dieser ›Rest‹ nur in einem Widerstand gelebt werden konnte, der für die Subjekte einen hohen Preis hatte. Dies hat sich im 20. Jahrhundert – der Epoche der Individualisierung – langsam geändert. Doch diesen Diskurs deswegen preiszugeben wäre voreilig. Insoweit auch die größte Individualistin darauf angewiesen ist, dass ihr die verschiedenen Gemeinschaften, in die sie eingebunden ist, überhaupt einen Raum lassen, behält der Intersubjektivismus immer recht gegen eine
—————— 12 »I am sick of my Job, I am sick of my wife, I am sick of your face, I am sick of this life« (Fred Lane: Rubber Room). Siehe die Band Sick of it All. In früheren Lebensformen tritt dieser Individualismus nicht derart direkt auf, dennoch gibt es einen selbstbestimmten Nonkonformismus (nicht zuletzt Philosophen wie Sokrates oder Diogenes fallen aus ihren Gemeinschaften heraus): man denke an Spielleute, Vagabunden, Trapper oder Freibeuter, die als »Avantgarde« des Individualismus ex post gern ›romantisiert‹ wurden. 13 Dieser Soziologismus lässt sich selbst wieder soziologisch relativieren: Hegel ist Vertreter einer Generation, deren »romantischer Individualismus« sich mangels sozialer Optionen entweder aufrieb oder wieder Eingang in »totale« Institutionen fand (Klinger 1995: 105ff.). Sartre hingegen praktizierte seinen Nonkonformismus auch gegenüber der akademischen Welt und versuchte diese Möglichkeit zugleich philosophisch nachzuweisen. Natürlich wird die Gegenentscheidung selbst wieder in irgendwelche Institutionen eingebettet sein (etwa den Buchmarkt), doch das nimmt die Entscheidung nicht vorweg.
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theoretische Selbstherrlichkeit des Individuums, wie sie sich etwa in manchen Annahmen der Wirtschaftstheorie (der souveräne Konsument mit fixen Präferenzen und perfekten Informationen) sowie in kulturellen Verflachungen der Psychoanalyse finden mag, welche z.B. Lasch (1970) und Bellah et al. (1985) beschrieben haben. Doch das ist ein vorschneller und langweiliger Sieg, der sachlich nichts gewinnt. Denn damit ist erst wenig gegen die Widerstandskraft des Individuums gesagt, die den von außen kommenden »Subjektivierungen« im Sinne Foucaults (Reckwitz 2008: 23ff.) vorausliegt und stets eine nichtidentische Instanz des spontanen Kurswechsels und der Widerständigkeit bleibt. Die interessante Frage betrifft also weniger die Genese des Subjekts, die stets konkrete Gegenüber hat (Mutter, Vater, Spielgenossen), sondern sein Sein. Dieses geht nicht in den Bezügen auf, die es zu anderen hat. Beides gleichzusetzen wäre ein genetischer Kurzschluss, der aus entwicklungspsychologischen Beobachtungen ontologische Schlüsse zieht.14 Damit ist noch nicht die Frage beantwortet, was mit dem ›Sein‹ des Subjektes gemeint ist. Von Deutschen Idealismus und seinen vielen Interpretationen bis zur Existenzialontologie Heideggers und der analytischen Philosophie der Person hat sich die Philosophie um diese Frage gestritten. Gesagt ist erst, dass diese Frage nicht mit genetischen Fragen beantwortet ist (obwohl Psychologie und Rollentheorie Interessantes zu sagen haben). Die Frage, was etwas ist, ist noch nicht mit einer Auskunft darüber beantwortet, wie es entstanden ist. Um einen Vergleich zu ziehen: ein Computerprogramm mag viele ›Väter‹ haben (Erfinder, Programmierer, Designer), dennoch ›ist‹ es deswegen noch nicht intersubjektiv. Es kann auch ein EgoShooter sein. Noch weniger gilt dies für seinen möglichen ethischen Wert. Genetische, ontologische und normative Fragen haben ihre je eigene Grammatik, auch hinsichtlich Fragen des Subjekts. Von einer Selbstverwirklichung zu reden macht folglich nur dann Sinn, wenn man das zu entwickelnde Selbst als ein solches versteht, welches nicht in den sozialen Rollen aufgeht, die Staat, Markt und Familie – und vielleicht auch Freunde – ihm andienen wollen. Dieser »nie aufgehende Rest« (wie Zizek mit Schelling sagt) hat immer auch Reserven gegenüber seiner »Verwirklichung« durch Andere. Daher sagt Taylor (1991: 54, 93), dass dasjenige am Subjekt, was anerkannt wird, seine »soziale Identität« ist. Die Anerkennung einer solchen kommt von außen. Sie legt die Subjekte immer
—————— 14 »Die natürlichen Kräfte des Individuums gehen niemals ganz auf in seiner sozial gewonnenen Gestalt« urteilt auch Menke (2005: 347).
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schon fest; sie werden anerkannt als etwas.15 Das Subjekt ›hinter‹ der Rolle (s.u., III.4) kann immer auch anders, zumindest kann es anderes anstreben. Gibt man diese Instanz auf, verliert man einen Gutteil der kritischen Einsprüche. Ohne eine solche Instanz würde es dem Perfektionismus genügen, von einer Entwicklung zu den in einer Kultur jeweils relevanten Charakterzügen zu reden (»Sozialintegration«). Die untergründige Dynamik dabei ist allerdings, dass das Bedingende das Bedingte in sich aufsaugen und im Zweifelsfall übertrumpfen kann, wenn diesem kein Eigensinn eingeräumt wird. Von der Kulturwissenschaft aufgewiesene »Subjektivitätsmuster« sind darum nicht automatisch schon individualistisch zu verstehen. Das Wort »Subjekt« täuscht über die entscheidende Differenz hinweg: ich kann mein Leben selbst führen, oder es führen lassen – ohne aufzuhören, Subjekt zu sein; ich kann mich selbst verwirklichen, oder etwas, was andere von mir erwarten und mir zuweisen. Um solche Positionierungen vornehmen zu können, braucht das Subjekt eine Ressource, die nicht selbst wieder eine von außen aufgedrückte Subjektivierung ist. Um eben diese geht es den Individualisten. Natürlich ist dieses Selbst stets irgendwie in soziale Zusammenhänge eingelassen – nur geht es nicht in ihnen auf. Der belehrend emporschnellende soziologische Zeigefinger weist ins Leere. Es ist philosophisch heikel, diesen »nicht aufgehenden Rest« auszubuchstabieren,16 doch das ändert nichts daran, dass man ihn in einer perfektionistischen Selbstverwirklichungstheorie berücksichtigen kann – oder nicht. Das ist das Unterscheidungskriterium zwischen individualistischen und »übersozialisierten« (Granovetter 1985) Theorien. Es ist, wie gesehen, einfach – und darum uninteressant –, die Position eines radikalen Individualismus theoretisch zu diffamieren (als Essentialismus, Esoterik, 1968er-Diskurs etc.). Das hat damit zu tun, dass sich wirklich Individuelles schwer theoretisieren lässt. Doch die Schwierigkeit einer adäquaten Theorie darf nicht als Nichtsein des Gegenstandes gelesen wer-
—————— 15 Daher der Vergleich mit dem Unterwerfen bei Foucault und Butler (Bedorf 2010: 95ff.). 16 Ein mutiger Entwurf dazu findet sich bei Schlette 2013. Differenzen, über die sich schlecht reden lässt, weil die Worte das Gemeinte kaum fassen mögen, kommen im Film zum Vorschein: unechte Weisen zu leben, in denen Subjekte nicht ihr Leben führen, sondern eines, das jemand anders für sie entwirft, werden in vielen Science Fictions gezeigt (die darin realistischer sind als realistische Filme), etwa in Matrix, Surrogates, Dark City, oder in der Serie Star Trek, in der die ›Borg‹, eine technische Lebensform, für ihre Assimilation in das Kollektivselbst gefürchtet sind (und damit die militärischen Strukturen auf der Enterprise zurückspiegelt).
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den. Denn es fehlt etwas, wenn diese Dimension in der Theorie voreilig preisgegeben wird – nämlich der Individualismus, um dessen Willen ein Aufbau von Ermöglichungsbedingungen überhaupt vorgenommen wird.17 Wie macht sich dieses Fehlen bemerkbar? Zunächst braucht es so etwas wie ein Spontaneitätszentrum. Die soziologische Außenperspektive auf »Subjektivierungen«, auf vorgeformte Typen von Subjektivität, die Individuen von außen ›eingeleibt‹ werden, kann nachträglich alle möglichen »Subjektkulturen« zusammentragen und katalogisieren. Sie ist damit jedoch nie bei dem Phänomen des Selbstseins, sondern stets nur an seinem farbigen – besser: papiernen – Abglanz. Sie führt Buch über die kreative Praxis anderer18 und belegt durch den ungeheuren Reichtum dessen, was sie nachzeichnet, das Gegenteil dessen, was sie zu zeigen antritt: nämlich dass Subjekte ihre Welt und sich selbst umformen können, dass es für Individuen immer Möglichkeiten gibt, anders zu handeln und zu leben, als die katalogisierten Subjektivierungsformen, Subjektkulturen oder Anerkennungsmuster vorsehen, und dass Individuen das durchaus gezielt tun. Nun hat der Begriff der »Selbstverwirklichung« nicht zufällig eine junge Geschichte (Gerhards 1989: 14ff.). Eine Selbstverwirklichung, die Bestand haben will, bedarf einer unterstützenden Praxis, die die Freisetzung gerade auch der radikal individuellen Aspekte zum Ziel hat. Das ist nur auf den ersten Blick paradox – dieser Schritt zieht gewissermaßen die Lehre aus dem wohlfeilen Einwand des Institutionalisten (Subjekte brauchen Institutionen für ihre Genese), ohne seine Konklusion zu übernehmen (Subjekte sind ontologisch nur Instantiierungen der Institutionen). Nur ist es schwierig, eine solche Gegen-Institution zu finden.19 Obwohl es seit Rousseau in der Erziehungslehre solche Ideen gab, standen individuelle Anlagen, Wünsche, Talente und Vorstellungen lange nicht im Zentrum der für die Entwicklung der Individuen zuständigen Institutionen.20 Mit dem doppel-
—————— 17 Das erinnert an Michael Endes Unendliche Geschichte: hier werden dem Titelhelden, um sich einen Weg zu bauen, Stücke des Zieles entrissen, so dass er in dem Moment, wo er vor dem Ziel steht, dieses Ziel vergessen hat (möglicherweise war das bereits eine Parabel auf die Geschichte der Emanzipationsbewegungen). 18 Eigentlich führt sie nur Buch über die Buchführungen anderer Autoren, die über Subjekte schreiben. Reckwitz (2006) bestätigt sich so eine soziale Konstruktion »des« Subjekts. 19 Eine Parallele gibt es im Werk von Jürgen Habermas: Seine Idee, dass der herrschaftsfreie Diskurs alles Ständische und Stehende verdampfe (»Der Diskurs ist keine Institution, er ist die Gegeninstitution schlechthin«, 1971: 201), verankerte er schließlich doch institutionell – im Recht (Habermas 1992). 20 Es gab immer wieder Blütezeiten (etwa die von Burkhardt beschworene Renaissance oder die »Roaring Twenties«), aber Filme wie Das weiße Band machen deutlich, wie üblich
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deutigen Wort der Praxis ist bereits darauf angespielt, an welchem Ort dieses Modell im 20. Jahrhundert schließlich seinen durchschlagenden Erfolg gefeiert hat: In der Praxis der Psychoanalyse und Psychotherapie. Warum brauchte es einen solchen künstlichen Ort, um das, was als das Eigentliche der Individuen gilt, bleibend zu Tage zu fördern? Das hat seinen Grund unter anderem darin, dass die von Markt und Staat vorgefertigten Lebensmodelle, kommodifiziert und verordnet, einem Individuum auf der Suche nach authentischen Lebensformen in manchen Fällen nicht viel weiterhelfen können. Bei Hegel als Puffer vorgesehen war die Familie, die noch in Honneths Wahrnehmung – und Hollywoodfilmen – als Hort der Liebe, Anerkennung und Wertschätzung erscheint (2011a: 295, 307). Das Problem ist nur, dass diese Institution de facto viele Menschen zugleich daran gehindert hat, zu sich selbst zu finden.21 Die Familie als Ort der Repression stand daher schon im Frühsozialismus im Zentrum der Kritik, und noch die ältere Kritische Theorie hatte sie im Fokus (in den Studien über Autorität und Familie). Es brauchte daher eine weitere Instanz, um dem in den Individuen angelegten Potential notfalls auch gegen den Druck durch Familie, Staat und Markt zum Durchbruch zu verhelfen.22 Diese Sonderpraxis ist von anderen zu unterscheiden, geht es doch in der positiven Psychologie der Selbstverwirklichung gerade nicht darum, irgendwelche allgemeinen Merkmale auszubilden, wie in der (von ihr aus gesehen) »negativen«, nur kurierenden und im Interesse der Allgemeinheit korrigierenden Psychologie. Vielmehr geht es ihr darum, gegen solche Zumutungen, gegen Rollenerwartungen, Unterstellungen und philosophische Besserwisser das Eigene im Selbst aufzuspüren und zu entwickeln. Auch das war mit Nietzsches »Werde, der du bist« gemeint (III.1): nicht jemand anders, nicht das Ideal meiner Eltern oder peers, sondern ich will sein derich-sein-will. Dies zumindest ist die Grundidee. Es wäre seltsam, ausgerechnet an diesem Ideal eine mangelnde Verwirklichung als Falsifikation zu werten. Gesteht man die faktische Kraft des Normativen hier nicht zu,
—————— die schon von Nietzsche beklagte Praxis der Entselbstung, des Konformismus und der Zurichtung die meiste Zeit über – selbst noch im 20. Jahrhundert – war. 21 Ähnlich Diggins (1994: 300) in einer Kritik an Dewey: »Dewey used the institution of ›marriage‹ as an example of how ›union‹ with others brings new levels of awareness and responsibilities. A curious example. Contemporary playrights like Eugene O’Neill saw the family as a sick institution of mendacious dialogues, repressed thoughts, ironic confrontations, hidden meanings, and neurotic personalities«. 22 Illouz und Bröckling lesen die Psychologie primär als ökonomisches Instrument (dazu bereits Bendix 1956). Dies verkürzt um die befreiende Wirkung im Privaten.
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müsste man auch Demokratie und Liberalismus, Rechtsstaat und soziales Vertrauen als längst ›falsifiziert‹ betrachten. Nun mag man einwenden: alles das kann man auch einklagen, wenn man nicht von einem Sein des Selbst ausgeht. Ist das so? Um dies zu beantworten, ist zunächst zu fragen: Was hat der radikale Individualismus mit Selbstverwirklichung tatsächlich gemeint? Dass sie nicht einfach die jetzige Daseinsform eines Individuums, zurückprojiziert in die Vergangenheit, sein kann, dürfte klar sein. Wenn das Selbst, das es zu verwirklichen gälte, bereits dasjenige wäre, was es jetzt ist, müsste es sich nicht erst verwirklichen (so Dewey gegen Green, s.u., IV.2). Allenfalls könnte es narrativ den Hergang erzählen (»wie ich wurde, was ich bin«). Sie kann aber auch nicht nichts sein, sonst macht der Begriff der Entwicklung keinen Sinn – Momentanzustände eines Einzelnen wären geschichtslose Einwirkungen der Umwelt, ohne Charakter, Biographie und Eigenart. Aber was ist Selbstverwirklichung dann? Und von welcher Praxis ist die Rede? Um diese Fragen zu beantworten, soll die in jüngster Zeit belächelte positive Psychologie selbst zu Wort kommen, die offensiv von Selbstverwirklichung sprach. Wir gehen dabei chronologisch vor: von ihrem radikalsten und skurrilsten Vertreter Otto Gross geht es über Karen Horney bis zu Abraham Maslow und Carl Rogers. Wir werden sehen, dass in dieser philosophisch übel beleumundeten Familie mehr steckt als angenommen.
Otto Gross: Radikalindividualistischer Perfektionismus Ein früher und radikaler Autor dieser Tradition, der Autorinnen wie Karen Horney in vielem vorgearbeitet hat (sogar Jung und Freud selbst verdanken ihm einiges), war Otto Gross (1877–1920). Diese Parallelen betreffen sowohl allgemein den Fokus auf Selbstbefreiung und freie Selbstentwicklung wie speziell auf einer Befreiung der Frauen (sowie der Männer und Kinder) von männlich dominierten Gewaltverhältnissen in Staat, Gesellschaft und Familie. Auch die alternative Verortung der leidverursachenden Neurosen in sozialen statt in angeborenen Konflikten (die »Soziologisierung« der Psychoanalyse, die für gewöhnlich erst später angesetzt wird) sowie die Anthropologie der Moderne, die davon ausging, dass unter günstigen Verhältnissen ein jeder die Tendenz habe, sich frei zu einem volleren und zufriedeneren Menschen zu entwickeln, kennt er bereits. Gross wird heute als Autor kaum ernst genommen und tauchte lange Zeit höchstens in der
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Kulturgeschichte als Obskurant auf,23 obwohl er in einer kulturell überaus prägenden Zeit gleich in mehreren Kontexten eine wichtige Rolle gespielt hat: in der Psychoanalyse um C.G. Jung und Freud, die ihn erst als Meisterschüler sahen und wenig später verdrängten (Hurwitz 1988: 85; Kanz 2006); in der Schwabinger Boheme zwischen Franziska Reventlow und dem Georgekreis (Green 1976: 107); in der expressionistischen und später dadaistischen Szene um Figuren wie z.B. Franz Jung, Karl Otten, Franz Werfel und Franz Kafka, der eine Zeitschrift mit ihm herauszugeben gedachte,24 in der sozialistisch-anarchistischen Szene um Erich Mühsam und Kropotkin, mit denen er in Ascona eine Schule des Anarchismus gründen wollte; und mittelbar auch in der Soziologie, indem er den Zorn Max Weber erregte (was im Nachhinein zeigt, wie dünn das Eis von dessen Werturteilsfreiheit war)25 und Carl Schmitt zum Widerspruch reizte. Ist alles dies schon überaus bemerkenswert, so war es geradezu atemberaubend, auf welch eine geschlossene Front der (väterlichen) Abwehr sein Lebensentwurf stieß. Brauchte es noch eines Beweises, dass der autoritäre Paternalismus in der damaligen Familie und im damaligen Staat keine fixe Idee war, ja dass sie in ihrer Motivationsbasis zusammenhingen und praktisch Hand in Hand gingen, dann konnte nichts dies sinnfälliger veranschaulichen als die Entmündigung von Gross durch seinen ehrgeizigen, eifersüchtigen und wachsamen Vater, der ihn nicht nur in die Psychiatrie einwies, sondern auch von preußischen Polizisten verhaften und gewaltsam nach Österreich ausweisen ließ (und nach dessen Tod die Vaterschaft an seinen unehelichen Kindern gerichtlich anfocht). Der Kampf gegen diese Väter war hart und kein bloßes Interpretationsspiel mit schwebenden Signifikanten.
—————— 23 Etwa bei M. Green 1974: 60ff. und 1999; Hennig 1989: 22f.; Sombart 1991: 102ff. 24 Nach Hurwitz (1988: 112ff.) geht sogar ein Großteil der späteren Weimarer Literatur, die sich in der Ablösung vom – wirklichen oder symbolischen – autoritären Vaterbild übte (dazu Gay 1966), auf Gross zurück. 25 Max Weber, der in Else Jaffe verliebt war, die ein Verhältnis mit Gross hatte, lehnte einen Aufsatz von Gross zur Veröffentlichung in einem ressentimentgeladenen Brief ab – und wirft Gross dann vor: »Der ganze Aufsatz platzt förmlich vor lauter Werturteilen« (in: Marianne Weber 1926: 384; vgl. Hurwitz 1988: 102ff.). In seinen letzten Lebensjahren ist Weber noch eine Beziehung zu Else Jaffe eingegangen. »Um Frau Gross [eine Nichte von Alois Riehl, CH] … Rechtsbeistand in Sachen ihrer Versorgungsansprüche für ihre Kinder zu leisten, reiste Max Weber sogar nach Ascona« (Sombart 1991: 104).
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Gross wird daher in Zeiten des Erlahmens der poststrukturalistischen Subjektkritik26 nicht nur in der Theorie wiederentdeckt, sondern auch in der Literatur.27 Diese kleine Renaissance ein willkommener Anlass, sich diese Extremposition eines individualistischen Perfektionismus – einer Selbstverwirklichung mit Selbst – genauer vor Augen zu führen. Durch die Extreme, die hier sichtbar werden, wird deutlich, was mit der Idee eines Selbst (oder seinem Fehlen, dem Aufgehen in vorgegebenen Strukturen) eigentlich auf dem Spiel steht. Gross’ Konzeption ist radikal, aber keineswegs simpel. Das Bestechende seiner Schriften – neben dem Faszinosum der Figur Gross, bei der die Assoziationen kein Ende nehmen mögen28 – ist ihr Zuendedenken dessen, was andere Autoren nicht wagen mochten. Der spätere, kulturtheoretische Freud (1930) etwa hat die soziologische Dimension seiner Theorie nicht nur zugegeben, sondern auch weiterentwickelt – zwar nicht im revolutionären Sinne, doch ansatzweise libertär. 1908 allerdings hatte er Gross noch ins Stammbuch geschrieben: »Wir sind Ärzte, und Ärzte wollen wir bleiben!« (in Hurwitz 1988: 85). Gross’ soziologische Wendung der Psychoanalyse war radikal. Darin, dass Gross die sozialrevolutionären Konsequenzen der Freudschen Theorie in aller Deutlichkeit zog, nahm er Thesen von Autoren wie Wilhelm Reich oder Herbert Marcuse um Jahrzehnte vorweg (Sombart 1991: 111). »Die Revolutionsforderung als Resultante der Psychologie des Unbewussten wird absolut, sobald sich erweist, dass die Verdrängung der Anlagewerte das Opfer der höchsten menschlichen Möglichkeit ist. Deswegen ist die psychoanalytische Schule, deswegen ist der große Entdecker S. Freud gerade vor diesem Evidentwerden stehen geblieben« (Gross 2000: 105, verfasst 1919).
—————— 26 Gemessen an seinem radikalen Denken ist die Absage an dieses Modell in ihrer Tendenz eher moderat. »Meisterdenker« wie Lacan oder Foucault befinden sich auf der VaterSohn-Achse eher auf der Seite der Väter (Zaretsky 2009: 459, 462): sie inszenieren sich als schwer verstehbare und unnahbare Denker, die darauf abzielen, eine Schar von Anhängern (Söhnen im Geiste) um sich zu sammeln. Die Einspruch erhebende Vernunft und das selbstdenkende Subjekt werden von ihnen eher problematisiert. 27 Anno 1998 wurde die internationale Otto-Gross-Gesellschaft gegründet (vgl. Dehmlow u.a. 2008). Gross kommt in der Literatur u.a. bei Franz Werfel, Franz Jung, Anton Kuh und Arnold Bronnen vor (Hurwitz 1988: 117ff.), heute in Hasler 2007 und in David Cronenbergs A Dangerous Method (2011), dort allerdings etwas verzerrt. 28 Die Assoziationen lauten: »Gross und Klein« (Sombart 1991: 102f.): das meint Melanie, aber auch den kleinen Carl Schmitt (zum »Ausnahmezustand« Gross 1909: »Jähzorn ist unbedingt ein Ausnahmezustand«, 116, vgl. 92); auch der Topos des Vater- und Brudermords, der bei Freud eine Theorie ist, wird greifbar – nicht nur zwischen Gross und seinem Vater, auch zwischen Gross und seinen Theorievätern Freud und C.G. Jung.
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Diese radikalisierende Nachfolge gibt es nicht nur für Freud, sondern auch für anderen Autoren wie Nietzsche oder Johann Jakob Bachofen. Dabei handelt es sich, und das macht ihn für uns so interessant, eindeutig um einen Perfektionismus: Postum wurde über ihn geschrieben (von Claire Jung an Franz Jung), ihm sei es um »die Schaffung des neuen Menschen« gegangen, um eine »unaufhörliche Steigerung der Persönlichkeit aus der dynamischen Kraft der Beziehung zur Gemeinschaft hin« (in Gross 2000: 190 – er selbst benannte, kaum weniger pathetisch, ein »neues Bild des Menschen«, 116). Gross starb zwar zu früh und lebte zu unstet, um ein veritables Hauptwerk schreiben zu können, dennoch ist er als Perfektionist einer der interessantesten Autoren – und auf dem Umweg über die Literatur, die er in den 1920er Jahren stark anregte, auch ein überaus einflussreicher. Der perfektionistische Zug seines Denkens zeigt sich etwa dort, wo er für jedes Individuum »die harmonische Vollentwicklung seiner individuellen, in angeborener Anlage präformierten höchsten Möglichkeiten« (61) oder eine Freisetzung der »höchsten menschlichen Möglichkeit« fordert (105). Immer wieder geht es ihm um »die freie grenzenlose Entwicklung des Menschentums« (123) und die Freilegung der »Anlagen« der Individuen dazu (105 u.ö.). In der praktischen Erziehung gelte es nicht, zu belehren, sondern jeden Einzelnen für »die Bildung seines eigenen Menschentums und seine eigenen Möglichkeiten frei zu machen« (171).29 Wie lässt sich die politische Kontur dieser Gedanken näher bestimmen? Appetitus Socialis Diese Konzeption setzt nicht immer schon bei der Intersubjektivität an, sondern geht ontologisch und normativ zunächst von Subjekten aus: es gibt sie und sie haben einen normativen Vorrang gegenüber Zumutungen der Kollektive. Dies will nicht auf einen Egoismus hinaus – also auf eine Art des Selbstsbezugs, die nur noch sich selbst sieht (ein Narzissmus) und die Belange anderer Menschen oder sachlicher Fragen aus überzogener Selbstliebe nicht mehr oder nicht mehr realistisch wahrnehmen kann. Um einen solchen Egoismus geht es Gross gerade nicht, wie er auch von Rousseau, Dewey, Horney oder Carl Rogers als Fehlform angesehen wurde.
—————— 29 Gemeint ist hier, wie beim frühen Lukács, eine Erziehungsarbeit in Einrichtungen für Arbeiter. Siehe die Definition von Bildung als »Funktionssteigerung im Erfassen und Ausdrücken komplizierter, speziell abstrakter Gedankengänge« (Gross 2000: 115). In der Revolution von 1919 war der Münchner Gross nicht in München, sondern in Wien.
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Die Thematik des Eigenen30 ist bei Gross von Anfang an verschränkt mit dem Zwillingsmotiv der Beziehung. Es geht ihm letztlich darum, beides in eins zu sehen, »die Steigerung des eigenen Seins in der freien Beziehung mit freien Menschen erleben« (2000: 121) und »die erhöhende Wirkung intakter Individualitäten aufeinander« (101) ausleben zu können. Dieser Individualismus ist also weder soziophob noch autoritär. Vielmehr steht für Gross der »Wille zur Beziehung im Gegensatz zum Willen zur Macht« (2000: 119), wie er ihn bei Alfred Adler und Nietzsche vorfand. Doch wie genau verbinden sich das Eigene und das Fremde? Wie Rousseau und Condorcet vor ihm gesteht Gross eine gewisse Wandelbarkeit der menschlichen Natur zu, die für ihn als Therapeuten die Klaviatur der trieblichen Regungen darstellt: die »Impulse«,31 die ein Individuum regelrecht durchglühen können, haben eine naturale Basis, sind aber selbst bereits durch gesellschaftliche Zwänge und inkorporierte Ängste verformt. Daher nimmt Gross die pathologischen Triebe gerade nicht als Natur an, sondern begreift sie als etwas Geformtes – als Formung allerdings von etwas, das bereits vor dieser Formung dagewesen und daher auch in anderer Form zu denken ist: die ›ursprüngliche‹, dieser spezifischen Formung vorausliegende Natur des Menschen. Dieser Schritt ist schlüssig, da ein etwas gedacht werden muss, das sich überhaupt formen kann – Einflüsse sind Einflüsse auf etwas, das reagieren kann, sonst müsste man von einer Schöpfung sprechen, aber das hätte höhere Beweislasten und wurde unten als Kurzschluss bezeichnet (eine Theorie spezifischer Subjektivierungen erklärt Subjektivität nicht, sondern setzt diese immer schon voraus). Unter diesen »ursprünglichen Trieben« ist nun einer, der individualistische Herzen höher schlagen lässt – nämlich ein Individualitätstrieb, der bereits auf das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung bei Maslow vorweist: »Ich selber halte nun den Willen zur Macht, d.h, den Ichtrieb in seiner Gestalt als vergewaltigende Tendenz für ein sekundäres, im letzten Sinn bereits pathologisches Phänomen, für die durch ewige Unterdrückung verbildete und zugleich hypertrophierte Form jenes ursprünglichen Triebes, den ich als ›Trieb zur Erhaltung der Individualität in der ihr eigenen, angelegten Wesensart‹ bezeichnet habe« (Gross 2000: 127, verfasst 1920; unter Verweis auf Gross 1909).
—————— 30 Gross (2009: 316, verfasst 1913) zitiert »Caspar Schmidt« (d.i. Stirner, siehe Laska 2003). 31 Dieser Begriff (Gross 2000: 106, 122, 125, 174) war auch für William James und Dewey wichtig. Für Gross »brechen« sie leiblich aus dem Unbewussten hervor (130). Sie sind zwar nicht angeboren, aber doch ›natürlicher‹ als die bewussten Regungen.
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Aber dieser Instinkt »zum Schutz der eigenen seelischen Art« (2000: 107)32 ist nicht der einzige – es gibt noch einen weiteren: Gross nennt ihn den »Trieb nach Kontakt, im physischen und psychischen Sinne« (129). Das schließt Sexualität ein, geht aber nicht in ihr auf – bei Kleinkindern beispielsweise macht die Rede von Sexualität wenig Sinn, doch auch sie kennen bereits diesen »Trieb nach Kontakt in jedem Sinne« (149). Dem tiefen Wunsch nach menschlicher Beziehung korrespondiert jedoch der ebenso tiefe und ›gleichursprüngliche‹ Wunsch, man selbst zu sein – und auch in der Beziehung zu bleiben. Andere Titel für diese beiden Urtriebe sind »Trieb zum Anschluss an die anderen« (84, kurz: »Anschlusstrieb«, 85) einerseits und »Streben zum Bewahren des angeborenen eigenen Wesens« andererseits (84); oder, noch kürzer, nach »Freiheit und Beziehung« (119). Ähnliche Triebe kannten bereit Freud und Alfred Adler – hier nannte man sie »den Ichtrieb und die Sexualität« (128). Der Witz ist allerdings, dass Freud bei ihnen von »unvereinbaren Impulsen« (125) sprach: »dadurch, dass sie [die Sextriebe] der Absicht der anderen Triebe … entgegenwirken, deutet sich ein Gegensatz zwischen ihnen und den übrigen an, den die Neurosenlehre frühzeitig als bedeutungsvoll erkannt hat. Es ist wie ein Zauderrhythmus im Leben der Organismen; die eine Triebgruppe stürmt nach vorwärts, um das Endziel des Lebens möglichst bald zu erreichen, die andere schnellt an einer gewissen Stelle dieses Weges zurück, um ihn von einem bestimmten Punkt an nochmals zu machen und so die Dauer des Weges zu verlängern« ().33
Wäre dem so, hätte dies zwei missliche Konsequenzen: Theoretisch müsste man, um ein leidendes Individuum zu ›durchschauen‹, kaum weiter auf sein Umfeld eingehen, sondern hätte mit dieser Naturkonstante bereits sein Problem erfasst. Praktisch hingegen liefe dies auf einen unstillbaren Konflikt hinaus, auf eine Tragödie im Natürlichen, mit einem unaufhebbaren Zwang zur Repression eines der beiden Urtriebe (so jedenfalls liest Gross Freud, in 2000: 70, 105f., 126). Für Gross ist dies so wenig der Fall, dass er die beiden Urtriebe sogar als zwei Seiten eines Triebes sehen kann: nämlich als den »Urinstinkt, der auf die Erhaltung der eigenen Individualität und die liebend-ethische Beziehung zur Individualität der anderen zugleich
—————— 32 Hier lässt sich wie bei Nietzsche die stoisch-spinozistische Linie der Selbstvervollkommnung wiedererkennen (»suum esse conservare«, dazu Gehrhardt 1989: 187f.). 33 Freud 1920: 250. Freud bezeichnet den »Trieb zur Vervollkommnung« (1920: 251), der eine »Entwicklung zum Übermenschen besorgen wird«, als »wohltuende Illusion«. Darin würde ich weniger Gross’ Freiheitstrieb als vielmehr die von Gross zurückgewiesen Annahme sehen, dass es einen evolutionären Fortschrittsgaranten gibt (s.o., Fn. 49).
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gerichtet ist« (Gross 2000: 82, von 1914). Zwar arbeiten die beiden Triebe heute gegeneinander, aber das liegt nicht an den Trieben, sondern an der Kultur des Umgangs mit ihnen – an den gesellschaftlichen Vorstellungen von Beziehung und Sexualität, die es verunmöglichen, beides zugleich zu leben. Wie schon bei Rousseau geht es darum, hier Harmonie zu schaffen. Der »Gegensatz des Eigenen und Fremden«, der bei Gross stets wiederkehrt,34 entsteht also erst dadurch, dass die autoritäre Gesellschaft und ihre Verlängerung in der Familie zu einer Wahl zwingt. »Kein Mensch vermag bereits als Kind auf Liebe zu verzichten« (84), aber um diese zu bekommen, ist das Kind gezwungen, die von Familie und Gesellschaft kommenden Verhaltenserwartungen auch dann zu erfüllen, wenn dies den eigenen Anlagen widerspricht. Nach der Diagnose von Gross werden Kinder von ihren Eltern nicht als das angenommen, was sie sind, sondern beherrscht, gezüchtigt und nach dem Bilde des Vaters geformt: »Vergewaltigung durch einen der Ehepartner,35 absolute Abhängigkeit der Frau vom Mann, Beziehungslosigkeit zum Kind, insofern das Kind am Erleben nicht teilnehmen darf (Nebenzimmererotik), sondern erzogen werden soll (die geltenden pädagogischen Grundsätze streben zur Asexualität), der Sohn als Mittelpunkt eines Herdes von Verschmähungskomplexen seitens der Mutter und Objekt von Eifersucht seitens des Vaters, die sich spannt von Ohnmacht bis zu glühendem Hass und sich in Sentimentalität entspannt« (Gross 2000: 70, verfasst 1913). »Das Kind in der bestehenden Familie erlebt zugleich mit dem Beginnen des Erlebenkönnens, dass seine angeborene Wesensart, sein angeborenes Wollen zu sich selbst, sein Wollen so wie es ihm angeboren ist zu lieben, nicht verstanden und von niemandem gewollt wird. Dass keine Antwort kommt auf die Erlösungsforderung: die eigene Persönlichkeit behalten und nach den eigenen angeboren Gesetzen lieben zu können« (Gross 2000: 84, verfasst 1914)
Hier findet eine seltsame Dialektik statt: Indem das Eigene unterdrückt wird, wird es als Verdrängtes sexualisiert. Die Freudsche Sexualität hatte Gross umgedeutet in ein grundlegenderes Kontakt- und Liebesbedürfnis. Sie wird also durch die Beziehung zu den Eltern verkörpert, die das Kind sucht. Doch wenn diese Beziehung misslingt, gerät die unaufschiebbare (nun libidinös verstandene) Sexualität zwangsläufig auf die Seite des anderen Triebs, der Individualität. Sexualität wird erst dadurch privatisiert: nicht,
—————— 34 Gross 1909: 62; Gross 2000: 60, 84, 106, 127, 175; dazu Hennig 1989: 22f. 35 Das meint: Sexuelle Akte geschehen von Seiten der Frau nicht selbstbestimmt, da die wirtschaftliche Dimension – und damit Zwang – die Beziehung zum Gatten prägt. Gross ist selbst so mancher Frau entflohen, vielleicht fühlte er sich hier selbst beengt.
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weil sie im Hinterzimmer praktiziert wird, sondern weil sie eine intime Wichtigkeit für die Individuen bekommt.36 So entfremdet Sexualität Menschen von der Gesellschaft. Es kommt zur »Triebverschränkung« (2000: 130f.), und Neurosen sind das Ergebnis. Das Perfide an dieser Dialektik ist, dass es vor allem bei einem Weiterleben des individualistischen Triebes zum »inneren Konflikt« kommt (83, vgl. 125ff. sowie Horney 1947). Diese Überlegung macht auf einen Widerhaken in Theorien aufmerksam, welche personale Anerkennung als reziprok verstehen: Ich bekäme sie von anderen nur dann, wenn ich mich zuvor auf eine Art und Weise zurichte, die die Erwartungen der anderen sowohl anerkennt sowie am besten schon vorlaufend erfüllt. »Durch Unterwerfung Anschluss« (131; Unterwerfung lässt sich als »Subjektivierung lesen). Für Gross liefe das auf eine Anpassung hinaus, die nur dann nicht zu kritisieren ist, wenn das, an was es sich anzupassen gilt, die Individuen nicht fremdbestimmt, entfremdet und beherrscht. Um das allerdings festzustellen, bedarf es zunächst des Blicks auf eben jene Individuen. Dieser wird durch eine Theorie der Anerkennungsverhältnisse keineswegs erübrigt, sondern stillschweigend vorausgesetzt. Aus der Sicht von Gross braucht es einen solchen Blick (und damit mitunter eine Therapie) vor allem deswegen, weil die Individuen sich selbst nicht immer transparent sind (ähnlich noch Butler 2002). Das Dilemma, auf das die autoritäre Gesellschaft – nicht die Natur – die Individuen führt, lautet also: »Sei einsam oder werde, wie wir sind« (84). Sie haben nur die »Alternative zwischen Einsambleiben und sich vergewaltigen lassen« (130), zwischen »Einsamkeit oder Persönlichkeitsopfer« (151). Diese Wahl ist auch für die individualistischen Naturen immer schon entschieden, da sie eigentlich in der Kindheit zu fällen gewesen wäre, was allerdings nahezu unmöglich ist (daher das Faszinierende an Kinderhelden wie Huckleberry Finn oder Pippi Langstrumpf), und daher nur in Form einer abgepressten Wahl gelebt werden kann: »sei einsam oder angepasst gleich den andern« (176, ähnlich 84, 130). Den notwendigen menschlichen Kontakt gibt es hier nur unter der »Bedingung der Anpassung, des Verzichtes auf individualitätsgemäßes Sein« (129). Die Wahl wird in einem so frühen Stadium erzwungen, dass sie sich in das Seelenleben einschreibt und gerade darum dem Selbst unsichtbar bleibt. Erst dies macht im Umkehrschluss den späteren Selbstverwirklichungs-Willigen zum Nonkonformisten, zum Immoralisten oder Outcast. Das müsste eigentlich nicht sein.
—————— 36 Illouz 2009: 181ff. problematisiert dagegen das Öffentlichwerden der Intimität.
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Anthropologische Ethik: Reichere Beziehungen als Naturzweck Mit Friedrich Engels könnte man nun sagen: »Das soll aber nicht sein« (MEW 21: 172). Die neue Ethik, die Gross formulieren möchte (2000: 70f.; von 1913), begehrt gegen diese Leiden auf. Wären Subjekte sich durchsichtig, könnte man hier mit der Tradition von einer Pflichten gegen sich selbst reden: Du sollst nicht an dir selbst leiden! Aber genau diese Selbstmächtigkeit ist in Fällen, wo ein solcher Imperativ relevant wäre, meist gerade nicht mehr gegeben (sonst wären es keine ›Fälle‹, sondern einfache AnFälle von schlechter Laune). Damit wird es zu einer Verantwortung der Individuen, einander bei der Befreiung zu helfen (interessanterweise ist ein weiterer Titel für den Kontakttrieb für Gross – mit Kropotkin – der »Instinkt der gegenseitigen Hilfe«, 106); und zu einer Aufgabe der Politik, eine andere Kultur schaffen zu helfen. Bezogen auf die Erziehung, die neben dem Selbstverhältnis, den Beziehungen zu anderen und der Politik eine wichtige praktische Dimension dieses Programms ist, heißt es: »Dem Kind muss Liebe absolut bedingungslos gegeben werden, befreit von jedem, auch nur scheinbaren Zusammenhang mit Forderungen welcher Art auch immer, als reines Bejahen der Individualität um ihres Eigenwertes willen und jeder keimenden Eigenart« (Gross 2000: 151, von 1920).
Muss man philosophisch noch nach ›normativen Grundlagen‹ dafür weiterfragen, oder genügt es, mit Gross auf die »erhöhende Wirkung intakter Individualitäten aufeinander« (101) zu vertrauen? Gefragt wäre damit nach einem philosophischen Berechtigungsnachweis für solche Forderungen. Gross – der kein amtlicher Philosoph war – liefert durchaus einen solchen. Denn zur neuen Ethik wird eine Begründung mitgeliefert (eine Theorie darüber, wie diese normative Ethik der gegenseitigen Hilfe zur Selbstbefreiung möglich ist). Zunächst zeigt Gross, wie man das denken kann. Oben war bereits von den Möglichkeiten der Individuen die Rede, die gegenüber der schnöden Realität noch ausstehen. Dieses Motiv wurde noch in der späteren Kritischen Theorie zuweilen angespielt.37 Vielleicht kann man darüber hinaus Menschen zu einer Haltung erziehen, die »in der Freiheit die Ermöglichung von wirklich menschlichen Beziehungen erkennt und jedem Einzelnen das höchste Gut, noch mehr als in seiner eigenen Freiheit, in der Freiheit aller anderen schenken wird« (Gross 2000: 102f., von 1919).
—————— 37 Das führten jedoch nur Erich Fromm und Herbert Marcuse im Einzelnen aus, die nicht im engeren Sinne zur Frankfurter Schule gehörten (Henning 2011f).
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Dann wären die jeweiligen individuellen Möglichkeiten für alle lebbar. Das allerdings ist erst der Erweis der Möglichkeit einer solchen Praxis. Es ist eine Möglichkeit neben anderen, denn es kann auch anders kommen. Das lässt die normative Frage offen, warum man diese Praxis überhaupt wollen sollte. Hier gibt es erneut eine so originelle wie provokative These: dieses Sollen kommt aus dem Sein. Das Motiv kommt aus der Naturphilosophie – aber einer solchen, die die Natur der Individuen mitumfasst. Erinnern wir uns an die beiden »Urtriebe«: ging es dem einen um menschlichen Kontakt (nicht notwendigerweise in sexueller Weise), zielte der andere darauf, die eigene Individualität zu erhalten. Gross zieht aus dem Fakt, dass beide Triebe als Urtriebe Natur sind, die Konsequenz, dass man sie nicht gegeneinander stellen muss. Im Unterschied zu den immer schon historisch spezifisch und lebensgeschichtlich geformten Impulsen sind diese Urtriebe das Geformte, also gewissermaßen der Stoff, aus dem die Impulse sind. Diese Urtriebe lassen sich, das jedenfalls ist die Behauptung, auch dann noch freilegen, wenn sie verfremdet oder verdrängt werden – denn sie sind das, was gegebenenfalls verdrängt wird. Dass sie verdrängt werden müssen, zeigt nur an, dass sie natürlich sind. Geht man diesen Schritt mit,38 dann ist das Argument leicht nachzuvollziehen: Sind beide Natur, müssen beide zusammenpassen. Denn es kann »aus den Anlagen heraus nichts Unzweckgemäßes abgeleitet werden« (119). Dieses Argument kommt immer wieder vor, etwa in folgenden Varianten: »Es ist aber nicht möglich, anzunehmen, dass in der ursprünglichen Anlage, artgemäß prädisponiert, zwei Triebe angelegt sein könnten, deren naturgemäße Bestimmung es wäre, miteinander in einen unlösbaren, krankmachenden Konflikt zu geraten« (Gross 2000: 128, verfasst 1920, ähnlich 175, ebenfalls von 1920). »Doch unser naturwissenschaftliches Erkennen muss es ablehnen, etwas so Unzweckmäßiges für einen angelegten Artcharakter, für etwas artgemäß den Menschen Angeborenes zu halten« (2000: 83, verfasst 1914).
Liest man diese Stellen nicht im luftleeren Raum, sondern in dem Kontext, dem sie entstammen, sollte man hier keine Spekulationen über die Berechtigung der Annahme von Zwecken in der Natur anstellen. Gross ging es sicher nicht darum, Aristoteles gegen Kant zu re-installieren,39 sondern
—————— 38 Ein kultureller Pluralismus ist von diesen Urtrieben keineswegs ausgeschlossen: jeder, auch der Andere, will ja sein Sein behalten und nicht voreilig ›identifiziert‹ werden. 39 Kant hat nicht nur die Annahme von Zwecken in der Natur abgewiesen (jedoch in der Ästhetik erlaubt), er kennt auch Modelle, wo natürliche Gegensätze einen Sinn haben: Auch für ihn ist der Mensch ein Wesen, das sowohl »eine Neigung hat, sich zu vergesell-
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eher um den Konsistenztest einer anderen Theorie. Nimmt man nämlich wie die Psychoanalyse an, dass es mehrere Triebe gibt, die als Triebe eine Naturbasis haben, kann man nicht länger annehmen, dass es in Ordnung sei, dass diese beiden Triebe sich gegenseitig lahmlegen. Nicht, weil ein weiser Schöpfer dann etwas falsch konstruiert hätte, sondern weil der Mensch als Gattung dann gar nicht hätte überleben können. So wäre es sinnlos, wenn die vier Beine einer Hundeart in verschiedene Richtungen weisen würden. Es ist sinnvoll, dass die vier Beine in dieselbe Richtung laufen, denn das Laufen ist ihre Funktion (so argumentiert auch die Naturphilosophie von Hans Jonas). Ebenso kann man vom Vorhandensein von zwei Trieben darauf schließen, dass sie miteinander zu etwas gut sind – oder wo das nicht so ist, dass dies der Fall sein sollte. Hierin erinnert Gross an Ideen Herders über Verstand und Güte als ›Kräfte‹ des Menschen: »Wo sie einander entgegengesetzt scheinen, da ists mit einer oder dem anderen nicht richtig« (Herder 1793: 99). Auch Herder schloss daraus ein »Sollen«: »alles Innere soll in der Menschheit herausgekehrt, alle ihre Kräfte sollen entwickelt werden« (98). Die Normativität dieses »sollte« ist keine, die ein moralisches, metaphysisches oder transzendentales Überreich bemüht und insofern von einer Sphäre ohne Werte auf eine andere mit Werten fehlschließen würde, sondern es ist eine Normativität, die im Kantischen Rahmen noch als Klugheitsimperativ durchgehen würde. Alles verbleibt hier auf einer Ebene, es gibt daher keinen Sprung zwischen Ebenen, den man kritisieren könnte. Die Logik ist einfach: Wenn es deine Natur ist, so zu leben, dann lebe so! Das zu sagen ist analytisch, denn der Begriff »Natur eines Wesen« beschreibt ja eine Lebensweise. Der Satz sagt also, was bereits auf Maslow vorweist: Lebe so, wie du leben musst! Auf die Frage, warum wir nach unserer Natur leben sollen, gibt es keine Antwort höherer Stufe mehr, sondern man darf in einem praktischen Syllogismus davon ausgehen, dass es ein Interesse gibt, so zu leben. Nach unserer Natur zu leben (secundum naturam vivere) macht glücklich – und glücklich wollen alle sein, das bedarf keiner großen Begründung.
—————— schaften«, wie einen »großen Hang, sich zu vereinzeln«. Dieser Antagonismus treibt die Geschichte an, hat also durchaus einen Sinn. Die »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« von 1784, in deren vierten Satz man dies findet, lässt sich quer zu den Grossschen Thesen lesen, denn auch Kant schließt dort von einer »Naturabsicht« auf eine Revolution, zumindest auf die Notwendigkeit einer republikanischen Staatsform. Allerdings ging es Kant dabei um die Erhaltung bzw. Verwirklichung einer Vernunft, Gross hingegen um vitalere Lebensdimensionen.
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»Mit der fortschreitenden Freilegung der Individualität wird es keinem Menschen mehr einfallen, eine Naturanlage verkümmern zu lassen« (Gross 2000: 70, von 1913). Wer sich entschließt, freiwillig unglücklich zu sein, möge dies tun; es ändert nichts am Argument. Jedenfalls lässt sich beobachten, dass Menschen leiden, wenn sie es nicht tun können. Auf dieser Empirie beruht dieser Gedankengang. Sie ließe sich durch eine elenktische Betrachtung abstützen: Nach Gross stellt Freud die inkonsistente Behauptung auf, dass die Natur eines Wesens gar nicht oder nur unter Schmerzen zu leben sei. Aus dieser Inkonsistenz gab es bislang nur zwei verschiedene Auswege, die beide für Gross nicht gangbar waren: Erstens könnte man mit Freud behaupten, es müsse so sein. Ein Leiden unter ihrer Natur sei für Menschen nun einmal das Normale.40 Diesen Weg mögen Misanthropen wie Schopenhauer gehen, das Helfer-Ethos eines Therapeuten jedoch verträgt sich mit dieser Lösung schlecht. Zweitens ließe sich einwenden, diese Natur sei gar keine: Urtriebe seien nicht natürlich, sondern ihrerseits etwas sozial Konstruiertes, Kontingentes, kulturell Geformtes. Damit ist das Problem aber nicht gelöst, sondern nur verschoben. Wie nämlich erklärt sich dann, dass zwischen zwei sozialen Konstrukten (der menschlichen Natur und der menschlichen Gesellschaft) eine derartige Spannung herrscht? Und warum sollten Menschen Dinge konstruieren, die sie zu tiefem seelischen Leid verurteilen? Auch dieser Ausweg erklärt wenig. Umso bemerkenswerter daher Gross’ unzeitgemäße eigene Lösung, im Sinne Rousseaus zu sagen, die Natur der Menschen liege noch tiefer als ihre momentane Geformtheit. Das »Leiden an sich selbst« (Gross 2000: 85, von 1914) ist demnach kein Ergebnis der Triebe, sondern eines des Konfliktes dieser Triebe mit einem widernatürlichen gesellschaftlichen Umfeld. Denn Gross nimmt an, »dass jede wirkliche Perversion, wie im letzten Grunde jede seelische Störung überhaupt, auf ungünstige Einwirkung von außen her, auf eine den angeboren Anlagen, dem angeborenen Artcharakter und der Individualität entgegenstrebende Fremdeinwirkung zurückgeht« (Gross 2000: 126, verfasst 1920).41 »Wir müssen hier annehmen, dass durch allgemeinwirkende äußere Schädlichkeiten der ursprüngliche Charakter der angelegten Triebe verändert wird« (128).
—————— 40 So argumentierte auch Max Weber gegen Gross (Geen 1980: 84f,; Zaretsky 2009: 129). Buchanan 2011 behauptet ebenfalls eine Unzweckmäßigkeit der Natur und leitet daraus, seltsam gnostisch, eine Lizenz zu ihrer Verbesserung (enhancement) ab (Henning 2012b). 41 Gross zitiert dafür Ovids Beschreibung des goldenen Zeitalters: »Vindice nullo sponte sua sine lege bonum« (ohne Gesetz aus eigenem Antrieb das Gute tun, Gross 2000: 93).
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Folglich gelte es, das soziale Umfeld gründlich umzukrempeln. In diesem Kontext wird die Psychoanalyse wichtig, weil solche Anlagen (das »wahre Selbst« bei Horney und Rogers) nicht unmittelbar erkennbar sind – so naiv ist er keineswegs: »vom angeborenen Wesen und seinen vorbestimmten Fähigkeiten bleibt nur ein verborgenes Bild im Unbewussten« (2000: 91). Ein Fokus auf dem in Mythologien eingelagerten Befreiungswert kehrt wenig später bei C.G. Jung oder Walter Benjamin und Ernst Bloch wieder. Die symbolische Ebene der Suggestionen transportiert nicht nur das Autoritäre. Die symbolische Ebene kann Dinge suggerieren, und diese Suggestionen können emotional derart besetzt werden, dass sie sich in die Triebstruktur mit einschreiben. Als »Suggestionen von außen her« (2000: 122) oder »Massensuggestion« (111) nennt Gross etwa »Moralsuggestionen« (134) oder »Autoritätssuggestionen« (105). Wenn alle in meinem Umfeld etwas glauben, glaube ich es auch. Doch ähnlich wie George Sorel und Antonio Gramsci ist Gross bereit, dies selbst in Anspruch zu nehmen: auch revolutionäre Ideen seien »suggestiv übertragbar« (113). Radikaler Individualismus Wie bereits deutlich wurde, ist dieser Perfektionismus keiner der allgemein bleibenden Menschheitsverwirklichung (nur eine solche nämlich ließe sich delegieren, z.B. an eine Partei), sondern ein radikaler Individualismus. Es geht Gross in erster Linie um die »Freiheit der Individualität« (Gross 2000: 61), »freie Selbstbetätigung« (89) und »individuelle Selbstständigkeit« (90) vor allem der Frauen. Dem koinzidiert allerdings gerade nicht, wie Gross hellsichtig abgrenzt, die Idee des »wirtschaftlichen Individuums«, welche eine freie Entwicklung vielmehr behindere (101).42 Ähnlich wie bei Mill ist die Thematik individueller Freiheit besonders mit der Befreiung der Frauen verwoben,43 da neben der politischen Unfreiheit die Beengung durch paternalistische Familienverhältnisse (eine Bevormundung durch Väter und Gatten sowie ein diesen Geist verlängerndes kulturelles Klima) im Mittelpunkt steht. Diese Angelegenheit ist keineswegs privat, vielmehr sei diese Moral eine »große Belästigung des Privatlebens« (109).
—————— 42 Hegels Begriff des »Atomismus«, den noch C. Taylor oder Ph. Pettit verwenden, wird bereits bei Albert Friedrich Lange und Nietzsche aufgegriffen (dazu Marti 1993: 98). 43 Siehe etwa Gross 2000: 61 und 102. Emma Goldman, ebenfalls eine Geistesverwandte in diesem Punkt, hat Gross möglicherweise 1907 in Amsterdam getroffen.
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In origineller Weise liest Gross Bachofens Mutterrechtstheorie (die zeitgleich im Schwabinger Georgekreis um Alfred Schuler diskutiert wurde) sozialistisch. Die Forderung nach individueller Freiheit für Frauen und Männer basiert auf einer ›feministischen‹ Gesellschaftstheorie: »Das Grundprinzip jeder Gesellschaftsordnung ist die materielle Fürsorge für die Frau zur Ermöglichung der Mutterschaft. In der bestehenden Gesellschaftsordnung, der Ordnung des Vaterrechtes, wird die Ermöglichung der Mutterschaft der einzelnen Frau vom einzelnen Manne geboten, und dies bedeutet die materielle und damit die universelle Abhängigkeit der Frau vom Manne um der Mutterschaft willen« (Gross 2000: 89, verfasst 1914).44
Gross möchte die »Widerstandskraft des einzelnen Menschen« (122) aufbauen und stützen. In Nuce beginnt diese »Verwirklichung der Selbstbefreiung durch Selbsterkenntnis« (116), durch eine Erkenntnis der »angeborenen Möglichkeiten, Werte und Fähigkeiten« (171). Diese stehen in Kontrast zur Art und Weise ihrer Umsetzung bzw. Nichtumsetzung in der Gesellschaft. Damit formuliert Gross eine anthropologische Metaethik: »vom wiederhergestellten Lebensanspruch des Individuums aus fixieren wir im einzelnen und allgemeinen unsere Forderungen. Man soll verstehen, dass ganz allein von dieser Basis, vom empirischen Anspruch der Individualität an das Leben aus lebendige Werte und Normen errichtet werden können« (64, von 1913).45
Gross macht Ernst mit dem, was bei anderen Floskel blieb: Zwar ist ein Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft keineswegs immer gegeben, da es von Natur aus gerade nicht so vorgesehen ist. Kommt es aber durch ungünstige Umstände dazu, dann gelte es, den »Kampf gegen Anpassung überhaupt« aufzunehmen (172). Das anti-Hegelianische Ziel ist die »Befreiung von allen Institutionen« (103), welche der Verwirklichung individueller Eigenheiten entgegenstehen – nicht wirklich allen also, aber allen falschen. Das Revolutionäre besteht nicht nur darin, die verdrängten und abgespaltenen Elemente des Gefühlslebens zu entdecken und ihnen gemäß zu leben, sondern auch in der Einsicht in die psychischen Grundla-
—————— 44 Alternativ zum »Mutterrecht«, einer kommunalen Fürsorgepflicht ohne »den Begriff der Vaterschaft« (Gross 2000: 97), haben im 20. Jahrhundert Pille, Krippe und Berufstätigkeit vielen Frauen mehr Unabhängigkeit bringen können; zu tun bleibt noch einiges. 45 An anderer Stelle ist vom »Anspruch des Menschentums an das Leben« die Rede (2000: 172). Gross hat an einer »neuen Ethik« gearbeitet, die verlorengegangen ist (2000: 70f., 109; 2009: 15ff.). Auch Carl Rogers hat über neue Werte nachgedacht. Zu einer perfektionistischen Theorie der Werte s.u., V.
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gen des Widerstands dagegen. Das Festhalten an autoritären Normen und Strukturen sei nämlich bereits Ergebnis einer Verdrängung: »Freud hält die bisexuelle Veranlagung des Menschen im ersten Lebensstadium für erwiesen. Nur müsse der Mensch, meint er, später im Leben die eine Seite verdrängen, das sei nun einmal so. Dies soll und wird nicht mehr so sein« (70, 1913).
Solange die natural-triebhafte Dimension menschlichen Seins weiter verdrängt werde, komme es zur Wiederkehr des Verdrängten in Form einer »sekundären Homosexualität« (71),46 einer »Anpassung an den Geist des Bisherigen« (124) oder » an die Autorität« (172) – sprich: zu Herrschaft und Unterdrückung, in Ehe und Staat gleichermaßen (das erinnert an Charles Fourier). Ein Effekt dessen sei die Sexualisierung von Herrschaft und Unterordnung, womit der wilhelminische Staat eine seltsam (homo-)erotisierte Dimension erlange: »Der Staat selbst trägt das homosexuelle Symbol« (Gross 2000: 70, verfasst 1913, als es noch Pickelhauben gab).47 Gross lebte und wirkte zuletzt »in vollem Bewusstsein des absolut unüberbrückbaren Gegensatzes zu allem und jedem, was heute als Autorität und Institution, als Macht und Sitte der Menschheitserfüllung im Wege steht« (111, von 1919). Dazu gehörten die repressive Ehe als erpresserischer Wirtschaftspakt, die autoritäre Familie als ebenso repressive Erziehungsinstitution und sogar der Parlamentarismus, soweit er ein Instrument zur Durchsetzung der Majoritätsmacht bleibt und die Individuen aus der »Verantwortung« (113) entlässt. Die Kritik ist, dass politische Reformen stets so lange aufgeschoben werden müssten, bis die Mehrheit sie theoretisch verstanden und gutgehießen hätte – was de facto politischen Stillstand bedeute (Gross 2000: 112).48 Das könnte man als Nietzscheanischen Elitismus deuten – und so hat Max Weber Gross verstanden. In der Tat bezieht sich Gross an einigen Stellen auf Nietzsche, an anderen auf eine Elite – aber dies ist keine Elite, die sich um ihrer selbst willen von anderen abgrenzt oder sie unterwerfen möchte, sondern eine, die sich für berufen und fähig fühlt, im Interesse der individuellen Freiheit aller zur richtigen Zeit die richtigen Entscheidungen zu fällen (wie es die Nationalversamm-
—————— 46 Gross’ Verständnis von (primärer) Homosexualität sieht in ihr eine Empathie für das andere Geschlecht (Gross 2000: 71 und 133). Er anerkannte aber Freuds Verdienste neidlos (siehe die Freud-Zusammenfassung für den Unterricht in Gross 2000: 117). 47 Siehe Hurwitz 1974: 107; Sombart 1991: 116f. sowie Theweleit 1977. 48 Diese Sorge teilte Gross mit Autoren wie Tocqueville und J.S. Mill oder heute Alain Badiou, andere wie Gaus oder Weinstock können dem etwas abgewinnen (s.u., II.2).
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lung in Paris oder der Kontinentalkongress in Philadelphia getan haben) – nicht für, sondern gegen die »Starken dieser Welt«: »Ideen, für welche man Revolutionen führt, sind an sich selbst stets nur von einzelnen allein aus eigener Initiative und schöpferisch zu erschauen, von einer an Zahl begrenzten Elite durch eigenes Denken lebendig aufzunehmen, den großen entrechteten Massen durch geistige Überwältigung … zu eigen zu machen, den Starken dieser Welt, den Privilegierten jeder Art im Kampf von Leben gegen Leben aufzuzwingen« (Gross 2000: 113, von 1919).
Es handelt es also um keine Herrschaftselite, sondern um eine kulturelle Gegenelite. Obwohl »geistige Überwältigung« reichlich gewaltsam klingt, sofern dies programmatisch gemeint ist, lässt sich ein gewisser deskriptiver Gehalt nicht absprechen. Gerade kulturelle Revolten wie die der 1920er Jahre, von 1968 oder 1989, werden meist von einer Minderheit angefangen, die durch ihr Vorleben nach und nach auch die anderen überzeugen. »Nur in einer kleinen Elite ist jene Energie und Intensität des Geistes, welche die Kraft verleiht, die angeborene angelegte Wesenheit im Inneren lebendig zu erhalten« (Gross 2000: 119, von 1919; dazu auch Kanz 2006: 76f.).
Es meint damit gerade keine politische Überwältigung durch äußere Machtmittel. Diese Stelle berührt die Thematik der immanenten Kritik, die schon öfter begegnet ist (in II.3, III.2 und III.3). Aus der Sicht von Gross heißt sich auf schon verwirklichte Normen verlassen Gefahr zu laufen, sich an das Falsche anzupassen und es damit zu verewigen. Das zwingt zur »Notwendigkeit einer neuen Norm« (109), also einer, die zwar für die Revolutionäre »immanent« ist, da es sich um ihre eigene Individualität handelt, die aber für die anderen Menschen insofern extern ist, als sie selbst noch keinen Zugang zu ihren unterdrückten Trieben gefunden haben. Diese Idee ist für die meisten anderen Menschen im Moment des kulturellen Konfliktes nicht immanent und wird daher vermutlich zunächst von vielen abgelehnt (2000: 65). Aber anders als durch solche agonale Auseinandersetzungen ist aus dieser Sicht kein »Fortschritt« zu haben.49 Damit hat Gross noch nicht die Pfade der Freiheit verlassen. Denn was hier gefordert wird, ist mehr Freiheit – da diese alle angeht, besteht die prima facie-Annahme, dass sich die anderen Menschen diese neuen Le-
—————— 49 Gross benennt klar, dass die Alternative die einer optimistischen Geschichtsphilosophie des moralischen Fortschritts ist (»Geschichtsteleologie«, Honneth 2011: 22). Er spricht vom »politischen Programm des katastrophenlosen Fortschrittes in Voraussetzung einer beständig progrenienten geistigen Entwicklung als einer manifesten Realität« (2000: 113).
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bensformen »zu eigen« machen können (2000: 113), so dass es sich um keinen Zwang von außen handeln würde.50 So etwas ist tatsächlich geschehen: der Lebensstil der künstlerischen Avantgarden ist in Teilen Allgemeingut geworden. Deutlich wird dieser bleibende Fokus auf der individuellen Freiheit in Gross’ Hauptvorwurf an die bisherige Politik. Bisherige Revolutionen nämlich hätten den Individuen nicht genug Freiheit gebracht: »Es ist keiner der Revolutionen, die der Geschichte angehören, gelungen, die Freiheit der Individualität aufzurichten. Sie sind wirkungslos verpufft, jeweils als Vorläufer einer neuen Bourgeoisie, sie sind geendet in einem hastenden Sicheinordnenwollen in allgemein geltende Normalzustände. Sie sind zusammengebrochen, weil der Revolutionär von gestern die Autorität in sich selbst trug« (61, von 1913).
Hintergrund dieses kulturellen Übergangs-Elitismus ist die psychologische Überzeugung, dass eine Kultur der Unfreiheit sich in die psychischen Strukturen verlängern kann und so eine »Furcht vor der Freiheit« (Fromm) stiftet, die dazu führen kann, dass Chancen nicht genutzt werden. Diese Sackgasse soll aufgebrochen werden. Der aufgezeigte Weg ist eine kulturelle Revolte, die der politischen den Weg ebnet. Es ist also, wenn überhaupt, ein Elitismus der Verantwortung für die Freiheit in Zeiten der Autoritätsgläubigkeit, kein Elitismus der Weltflucht oder ein Machtphantasma. Die angedachten Erziehungsprogramme lassen sich daher wohlwollend als Legitimierungsbeschleuniger einer Demokratisierung verstehen. Das offen Revolutionäre dieser Konzeption soll nicht verschleiert werden – interessant daran ist gerade, dass sie sich von gängigen Vorstellungen unterscheidet, und natürlich bleibt das Ganze sperrig. Doch zumindest wird deutlich, dass diese Überlegungen keineswegs naiv waren. Gross’ Idee einer Erziehung zur Freiheit kann zwar für heutige Ohren, die sich für frei und emanzipiert halten, paternalistisch wirken.51 Doch die Freiheit der Individualität oder des »Eigenen« bleibt im Mittelpunkt dieser Konzeption.
—————— 50 Die Annahme, Menschen könnten retrospektiv ihre Zustimmung erteilen, nachdem sie von den Änderungen profitiert haben, bleibt spekulativ. Doch demokratische Maßnahmen haben oft diesen Zug: die globale Finanzmarktliberalisierung legitimierte sich mit solchen Spekulationen (wachsender Wohlstand für alle), die nicht eingetreten sind. 51 Man denke aber an die Entnazifizierung oder spätere Schriften von Karl Mannheim. Gross sah von Weimar nur den Anfang, also die Morde an Luxemburg und Liebknecht sowie die Niederschlagung des Generalstreiks. Darum etwa bejahte er 1919 die Revolution – er nahm der Sozialdemokratie den Kompromiss mit Armee, Bürokratie und Staatselite übel, an dem die Weimarer Republik schließlich scheiterte. Er kritisierte das Unvermögen, den »inneren Vater« loszulassen – Hindenburg soll noch als Präsident der demokratischen Republik seinen entthronten Kaiser um Erlaubnis gefragt haben.
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Sie ist eher anarchistisch als sozialistisch; im heutigen Jargon wäre sie als links-libertär zu kennzeichnen. Damit sind wir am Ende dieser Erkundung eines extremen Vordenkers der Selbstverwirklichung angekommen. Es war zu zeigen, dass die drei Elemente des Perfektionismus: eine Gesellschaftstheorie, eine Theorie der menschlichen Natur und eine Ontologie des Selbst, deutlich auszumachen sind. Otto Gross hat eine radikale Version des Perfektionismus skizziert, die ebenso egalitär wie individualistisch war. Darin sind ihm noch Jahrzehnte später anderen Psychologinnen gefolgt.
Karen Horney und das wahre Selbst Auch Karen Horney (1885–1952) hat für einen individualistischen Perfektionismus – eine Selbstverwirklichung mit Selbst – überaus interessanteste Beiträge verfasst. Horney, die die »Psychologie der Frau« auf neue Beine stellte,52 gilt als wichtige Rivalin Freuds (Schädlich 2006). Dabei hat sie nicht nur eine kämpferische weibliche Perspektive auf die männerdominierte Theorie der Sexualität etabliert, sondern zugleich die »Soziologisierung« der Psychoanalyse weiter getrieben: nicht angeborene Triebe seien es, die die neurotisierten Individuen zum Leiden an sich selbst verurteilen, sondern dafür verantwortlich zu machen seien spezifische Konstellationen in der Familie oder der westlichen Gesellschaft. Das war zwar schon Freuds Idee, doch aus der Sicht soziologisch informierter Rezipienten blieb sie zu geschichtslos, da sie mit einigen wenigen Grundtrieben und sich stets wiederholenden Traumata auskam. Es war daher etwas neues, historisch spezifische Störungen zu beleuchten und einen Einfluss späterer Konflikte auf das Seelenleben zuzugestehen. An einer Stelle, wo sie das Streben nach Anerkennung als neurotisch bezeichnet, zieht Horney die »Pueblo-Indianer« zum Vergleich heran (man weiß nicht ob nach Ruth Benedict oder Karl May), um aufzuzeigen, dass wir es bei den in der Psychoanalyse thematisierten Problemen mit hausgemachten Phänomenen der westlichen Zivilisation der Gegenwart zu tun haben: »Zum Beispiel wird bei den Pueblo-Indianern das Streben nach Ansehen ganz von selbst entmutigt: es gibt nur einen geringen Unterschied in Bezug auf persönlichen Besitz, und daher hat auch ein Streben danach keine besondere Bedeutung« (Horney 1937: 103).
—————— 52 »Psychologie der Frau« ist der Titel einer Essaysammlung von Horney, in der ihre veröffentlichten Aufsätze zu weiblichen Themen gesammelt wurden (Horney 1967).
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Horney war die Dimension sozialer Beziehungen, auf die die intersubjektivistische Wende so viel Wert legt, bewusst. Wie vor ihr Gross und nach ihr Rogers kam es auch ihr auf die Qualität der Beziehungen an. Allerdings trennte sie klar zwischen den Ebenen. Für sie erübrigte ein Fokus auf Beziehungen eine Betrachtung des Individuums unabhängig von diesen Beziehungen gerade nicht. Im Gegenteil, erst Individuen, die nicht länger von inneren Konflikten geplagt sind, können entspannte Beziehungen eingehen. Selbstverwirklichung vollzieht sich nicht primär gegen andere Menschen, sondern führt – zumindest im Ergebnis – dazu, dass es eine offenere Kommunikation und authentischere Begegnungen geben kann: »Und in dem Maß, wie wir die neurotische Besessenheit vom Selbst verlieren, indem wir frei werden für unser Wachstum, machen wir uns auch frei dafür, andere zu lieben und an ihnen Anteil zu nehmen« (Horney 1950: 14).53
Der Witz am Thema der Neurosen und dem Versuch ihrer Heilung ist nicht, das Subjekt von allen Bezügen frei zu machen, sondern die Einsicht, dass zu enge soziale Beziehungen in den Individuen Ängste und festgefahrene Verteidigungshaltungen auslösen können, wenn sie die grundlegenden Bedürfnisse der Individuen übergehen. Ist ein solcher Schaden einmal angerichtet, muss die Analyse versuchen, dem Individuum zu einem transparenten Selbstverhältnis zu verhelfen, das seine Verhaltensweisen nicht länger außen, in vorgegebenen Anerkennungsmustern einer Kultur orientiert, sondern in einem gewandelten Selbstverständnis nach Abhilfe sucht. Ein Streben nach Macht und Reichtum oder die Flucht in bedingungslose Liebe würden es für Horney stattdessen weiter in die Neurose treiben. Von diesem faktischen Leid ist also auszugehen: nicht vom gesunden und satten Selbstbewusstsein der Chefetagen von heute, das der Selbstthematisierung der anderen müde ist,54 sondern von den vergleichsweise verklemmten und autoritätsfixierten Umgangsweisen und Selbstverständnissen sowohl in der Arbeit wie im Privatleben der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.55 Anders als Illouz und Ehrenberg nahelegen vermute ich, dass diese sich noch vielerorts finden – vor allem in Berufszweigen, die
—————— 53 »[D]ie Menschen, die die stärkste individualistische Einstellung besitzen, sind zugleich auch diejenigen, die der Hilfe für andere den höchsten Wert beimessen« (Remele 2001: 289, nach Ulrich Beck/Robert Wuthnow). 54 Die populäre These von der »Müdigkeit, man selbst zu sein« (Ehrenberg 2004) zeigt auch eine Unduldsamkeit an, ständig von der Selbstthematisierung anderer zu hören. 55 Zur Arbeit siehe die Kategorie des »organization man« (William Whyte 1956), zur Familie den Film The Hours von Stephen Daldry (2002) sowie von Triers Das Fest (1998).
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stark hierarchisch organisiert sind. Horney geht es dabei allerdings nicht um eine direkte Herrschaftskritik, ihr Fokus ist die Charakterstruktur, die sich bei den Individuen findet, die solchen Verhältnissen ausgesetzt sind. Dieses Leid interessiert sie: Individuen verbiegen sich, um sich den gegebenen Anerkennungsverhältnissen anzupassen, und verlieren sich dabei selbst. Schlimmer noch, sie entwickeln etwas, das nicht sie selbst sind, und kommen so zu einer falschen Selbstverwirklichung. »Die Förderung des falschen Ich geht immer auf Kosten des wahren Ich« (Horney 1942: 16). Horney benutzt für diese Perspektive ein philosophisches Vokabular (wie sie überhaupt auf Autoren wie Kierkegaard oder William James und Werke der Weltliteratur zurückgreift), etwa den Ausdruck der »positiven Freiheit«, der uns schon beschäftigt hat (IV.2): »Freuds Ziel ist im wesentlichen auf negative Weise zu definieren: ›Freiheit von‹ zu erlangen. Andere Autoren jedoch [etwa Fromm 1941, CH], darunter ich, würden das Ziel der Analyse auf positive Weise formulieren: einen Menschen dadurch, dass man ihn von inneren Zwängen befreit, frei zu machen für die Entfaltung seiner besten Kräfte« (Horney 1942: 15).
Damit sind wir schon im Kern der Philosophie von Horney angelangt. Denn diese neue Perspektive, die 1942 dazu führte, dass sich eine Gruppe von Analytikern von der traditionalistischen Psychoanalytischen Gesellschaft absetzte (Schädlich 2006: 146f.), setzt voraus, dass es überhaupt so etwas wie »einen Antrieb zur Selbstverwirklichung« in den Individuen gibt (1942: 15); dass also Individuen mehr sind als Träger eines Allgemeinen und darum nicht darin aufgehen, dieses Allgemeine zu erkennen und zu leben: »wenn man ihm [dem Individuum, CH] die Chance gibt, strebt es danach, seine spezifisch menschlichen Möglichkeiten zu entwickeln. Der Mensch wird dann die einzigartigen Kräfte seines wahren Selbst entfalten: die Klarheit und Tiefe seiner eigenen Gefühle, Gedanken, Wünsche und Interessen, die Fähigkeit, seine eigenen Möglichkeiten zu erschließen; die Stärke seiner Willenskraft; die besonderen Fähigkeiten oder Begabungen, die er unter Umständen besitzt; die Möglichkeit, sich selbst zu offenbaren und sich mit seinen spontanen Gefühlen zu anderen Menschen in Beziehung zu setzen. Dies alles wird ihn mit der Zeit befähigen, seine Wertmaßstäbe und Ziele im Leben selbst zu finden« (Horney 1937: 15).
Damit sind den Anerkennungskulturen von vornherein Ziel und Grenze gesetzt. Die Einsicht in die Wichtigkeit sozialer Beziehungen führt hier gerade nicht zur Aufgabe dieser Dimension von Subjektivität. Von außen betrachtet lässt sich in manchen Fällen sogar kaum etwas bemerken – wie bei Suiziden oder Amoklaufen oft berichtet wird, selbst engste Angehörige
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hätten nicht das Leiseste geahnt. Nach Horney ist die Neurose, ihr Hauptthema, zunächst eine inner-psychische Angelegenheit – eine Person beginnt, sich nach idealisierten Vorstellungen von sich zu richten: »Diese Verlagerung seines inneren Schwerpunkts ist ein rein innerlicher Prozess; äußerlich lassen sich keine auffallenden Veränderungen feststellen.56 Die Veränderung liegt im Kern seines Wesens, in dem Gefühl, dass er von sich selbst hat« (Horney 1950: 22).
Schon an dieser Stelle – vor Rogers – ist die Gefühlsebene, das Selbstgefühl überaus wichtig. Selbsterkenntnis kann von außen nur schwer verifiziert werden, denn sie geht mit den ›richtigen‹ Gefühlen in Folge eines richtigen Lebens einher: »Die Gefühle, die aus dem Kern unseres Seins kommen, sind spontan, tief und echt« (Horney 1950: 185; vgl. das »Kohärenzgefühl« bei Keupp u.a. 1999). Der Witz an der Neurose hingegen ist, dass das Leben mit ihr sich irgendwann nicht mehr richtig anfühlt: Krankhafte Angst, lähmende Liebe (die unterwürfig macht) oder Herrschsucht sind keine spontanen Gefühlsausdrücke mehr, sondern ein fixes Muster, dass in vielen Situationen nicht mehr angemessen ist. Zwar lässt sich diese Begrenzung der Reichweite der Selbst-Gefühle allein auf das fühlende Subjekt von außen als Immunisierung beschreiben (so die Kritik von Karl Popper), doch dasselbe gilt für subjektive Dimensionen wie Geschmack. Niemand würde seine Vorliebe für Schokoladeneis aufgeben, weil andere vielleicht Erdbeereis vorziehen und damit die Schokoladenvorliebe ›falsifizieren‹. Solche Empfindungen haben eine subjektive Geltung und sind im Falle des Kohärenzgefühls von hoher Bedeutung für die psychische Gesundheit. Ähnliches gilt für das psychische Leid, welches man (anders als Zahnschmerzen) nicht immer von außen beobachten kann.57 Zwar gibt es Worte dafür (es ist keine Privatsprache), etwa »depressive Verstimmung« oder Lustlosigkeit, doch die Worte verweisen auf eine Gefühlsdimension, die durch das Aussprechen des Wortes noch nicht miterlebt wird. Der Immunisierungsvorwurf bleibt daher – im Wortsinne – äußerlich. Zentral für unsere Thematik ist nun, dass Horney – wie Maslow – trotzdem als Subjektkritikerin gelesen werden kann: Sie ist nämlich solange subjektkritisch, wie es um »falsche«, d.h. von außen kommende Subjektivierungen geht, die man zu sein hat und nicht wirklich sein will. So etwas wird ja von postmodernen Versionen der Subjektkritik ins Feld geführt:
—————— 56 Zu diesem Mehr an Erfahrung des Analytikers auch Whitebook 2006. 57 Zu Spannbreiten der sozialen Adressaten von Erkenntnissen Mannheim 1922.
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sich nach Modellen von Subjektivität zu richten ist eine – wenn auch subtile – Form der Unfreiheit, da die Art und Weise, wie man sich selbst zu begreifen habe, von außen vorgefertigt worden sei. Diese ›Führung durch Selbstführung‹ habe Herrschaft gerade nicht aufgehoben, sondern nur ins Subjekt verlängert.58 Versteht man Subjektivität allerdings nur so, lässt sich kaum mehr erkennen, was daran eigentlich zu beklagen sein sollte: kommt Subjektivität immer von außen, gibt es keine Alternative. Statt sich in diese haarigen Spekulationen über ein Ich ohne Selbst zu begeben, behauptet Horney eine andere Art, man selbst sein zu können, die von den äußerlichen Subjektivierungen verdeckt werde. Denn gerade von der inneren Bereitschaft, vorgegebene Subjektstrukturen überhaupt übernehmen zu wollen (etwa, um dafür Anerkennung zu bekommen), müsse man frei werden. Versuchen wir nicht die üblichen Kritikraster der Alles-schon-Wissenden zu bedienen, welche besagen, dieses »wahre Selbst« (Horney 1942: 16; 1950: 11ff., 175f.; 1967: 220) sei vorsozial, atomistisch, essentialistisch, egoistisch oder erodiere Gemeinschaften. Diese lärmendselbstgewisse Kritik überdeckt einen triftigen Gedanken: Horney behauptet, dass ein Individuum, das nicht in zwanghafte soziale Verhältnisse sozialisiert würde, mehr von dem realisieren könnte, was an Potential in ihm steckt. Das bedeutet weder, dass es ohne soziale Beziehungen leben solle oder auch nur könne, noch dass eine Art ›innerer Mensch‹ schon fertig in ihm stecke. Es bedeutet erst recht nicht, dass das Individuum nun eine subjektlose Existenz im Deleuzschen ›Delirium‹ führen müsste. (Dieser Eindruck mag zu Beginn einer Analyse entstehen, in dem andere Aspekte des eigenen Erlebens noch als fremd erlebt werden, s.o. zu Rogers). Es bedeutet vielmehr, dass die Einzelne die Fähigkeit hat (und sie ihr zugetraut wird), sich selbst so zu entwickeln, wie es ihr unter gegebenen Umständen – oder besser unter veränderten – am angemessensten wäre: »Kurz gesagt, wenn der Mensch im wesentlichen nicht abgelenkt wird, entwickelt er sich zur Selbstverwirklichung hin. Aus diesem Grund spreche ich … vom wahren Selbst als der zentralen inneren Kraft, die – allen Menschen gemein und doch einzigartig in jedem – die tiefe Quelle des Wachstums ist« (Horney 1950: 15).59
—————— 58 Etwa Rose 1999. Diese Perspektive hat zwei Leerstehlen: Die soziale Macht, die nach wie vor »außen« zu verorten ist, wird ebenso ausgespart wie das Subjekt, auf das diese Macht ausgeübt wird. Im Zentrum steht der Teilausschnitt, in welchem Macht sich in das Subjekt verlängert, doch das ist noch keine ›Theorie‹ des Subjekts oder der Macht. 59 Man bemerke die Parallele zu Deweys Begriff des Growth, s.u., IV.2.
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»Unter günstigen Bedingungen werden die Kräfte des Menschen zur Verwirklichung der ihm gegebenen Möglichkeiten eingesetzt. Eine solche Entwicklung verläuft jedoch keineswegs einheitlich: Je nach dem Temperament des einzelnen, seinen Fähigkeiten und Neigungen sowie den Umweltbedingungen in seinem früheren oder späteren Leben wird er weicher oder härter, vorsichtiger oder vertrauensvoller … Aber in welche Richtung sein Lebensweg ihn auch führen mag, es sind die ihm gegebenen Möglichkeiten, die er entwickelt« (Horney 1950: 11).
Dieses Gegenmodell zur Hegelschen Selbstverwirklichung durch Mimesis ans Allgemeine fordert eine Behauptung des Selbst in einer Entfaltung zur Not auch gegen Anmutungen von außen (wohlmeinende wie feindliche): »Mit einfachen Worten betrifft es das, was ich wirklich fühle, was ich wirklich möchte, was ich wirklich glaube, was ich wirklich entscheide« (Horney 1942: 220); dann sei ich »frei von inneren Zwängen« (7). Wenn eine solche Selbstentfaltung das ist, was Individuen in der Regel von sich aus tun, warum fehlt ein solches Verhalten bei Einzelnen? Welches Hindernis gilt es zu beseitigen (möglichst in Eigenarbeit, aber sonst besser unter Anleitung als gar nicht)? Es ist nicht immer direkte Fremdherrschaft (das Thema der negativen Freiheit), welche verhindert, dass Individuen sich entwickeln – und auch nicht allein das Fehlen objektiver Bedingungen. Warum aber tun Individuen es nicht? Sie tun es nach Horney (wie schon Rousseau) dann nicht, wenn sie sich nach etwas anderem als sich selbst richten: »Unter innerem Druck kann jedoch ein Mensch seinem wahren Selbst entfremdet werden. Dann setzt er den größten Teil seiner Kräfte dafür ein, sich mit Hilfe eines starren Systems innerer Gebote zu einem Wesen von absoluter Vollkommenheit zu formen« (Horney 1942: 11).
Dieser »innere Druck« (auch innere Unfreiheit genannt) kann etwa ausgelöst werden durch Neurosen der Eltern – auch hier ist ein Denken in sozialen Bezügen deutlich zu erkennen. Die Vollkommenheit berührt ein weiteres interessantes Moment dieser Theorie: ein krankhafter ›Perfektionismus‹ in dem Sinne, dass jemand niemals mit sich zufrieden sein kann, kann das Ergebnis einer solchen Verlagerung des Strebensziels sein. Es kommt dazu, wenn jemand jemand anders sein will, der den Vorstellungen der anderen entspricht (oder zumindest dem, was man sich unter solchen Vorstellungen vorstellt, denn natürlich kann man in den Erwartungen der Erwartungen der anderen irren). Das Ziel eines anderen Ich, das man selbst nicht ist, ist unerreichbar und dieses Streben kann daher neurotische Züge annehmen. Diese Unerreichbarkeit war das stärkste Argument bei Illouz – doch sie wiederholt damit etwas, das bereits Horney kritisiert hatte:
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»Die Aufforderung, das ›vollständigste‹ oder am meisten ›verwirklichte‹ Selbst zu werden, enthielt keine Richtlinien, mit deren Hilfe sich feststellen ließ, wodurch sich ein vollständiges von einem unvollständigen Selbst unterscheidet« (Illouz 2006: 72).
Kriterien gibt es bei Horney sehr wohl, zumindest für das Vorliegen eines Leidens. Dass Erkennungszeichen für einen solchen Zustand ist die Empfindung einer Fremdheit gegenüber den eigenen Gefühlen – es fehlt an einer Identifizierung mit sich (oder, mit Hartmut Rosa, einer Resonanz): »Denn es wird nicht nur sein wahres Selbst am geradlinigen Wachstum gehindert, sondern darüber hinaus zwingt ihn die Notwendigkeit, künstliche strategische Methoden für den Umgang mit anderen zu entwickeln, noch dazu, seine wahren Gefühle, Wünsche und Gedanken zu unterdrücken« (Horney 1950: 19, vgl. 176)
Gerade ein solch ›falsches‹ Ich kann in eine narzisstische Selbstverliebtheit münden, die die Individuen in sich selbst einschließt (das nennt Horney mit Shelley »Götzendienst am Selbst«, 1950: 16). Als Ergebnis droht gleichwohl ein Selbsthass – ein Hass auf das, was man ist, weil man nicht dem entspricht, was man sein will (vgl. Thomä 2003: 276): »Das wirkliche, empirische Selbst wird so zu jenem widerwärtigen, anstößigen Fremden, an den das idealisierte Selbst zufällig gefesselt wird; und gegen diesen Fremden wendet sich das idealisierte Selbst mit Hass und Verachtung. So wird das wirkliche Selbst zum Opfer des stolzen idealisierten Selbst« (Horney 1950: 124).
Kern des Problems ist für Horney also, dass jemand nicht er selbst, sondern jemand anders sein will; dass wir uns »idealisieren« und nach etwas streben, was wir nicht erreichen können. Doch schlechthin mit dem zufrieden sein, was man nun einmal gerade ist, ist nicht die einzige (und auch nicht die beste) Alternative: Der Perfektionismus von Horney verlangt, dass man sich entwickelt und dabei radikal individuell vorgeht. Diese Theorie ist nur dann vollständig erfasst, wenn zwischen drei verschiedenen Instanzen unterschieden wird: es gibt für Horney das wirkliche, das idealisierte und das wahre Selbst (Fenner 2007: 98 nennt es das »normative«): »Aus der Sicht theoretischer Zweckmäßigkeit würde ich das wirkliche oder empirische Selbst vom idealisierten Selbst einerseits und vom wahren Selbst andererseits unterscheiden. Das wirkliche Selbst ist ein umfassender Begriff für alles, was ein Mensch zu einer gegebenen Zeit ist: Körper und Seele, gesund und neurotisch. Daran denken wir, wenn wir sagen, dass wir uns kennenlernen wollen, d.h. wissen wollen, wer wir sind. Das idealisierte Selbst ist das, was wir in unserer irrationalen Phantasie sind oder gemäß den Geboten des neurotischen Stolzes sein sollten. Das wahre Selbst … ist die ›ursprüngliche‹ Kraft, die uns zur persönlichen Entwicklung
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und Erfüllung drängt und mit der wir wieder eine volle Identifikation erlangen können, wenn wir von den lähmenden Fesseln der Neurose befreit sind. Das also meinen wir, wenn wir sagen, wir sollten uns selbst finden. In diesem Sinn ist es auch (für alle Neurotiker) das mögliche Selbst im Gegensatz zum idealisierten Selbst, das unmöglich erreicht werden kann« (Horney 1950: 176).
Vereinfacht gesagt besteht Selbstverwirklichung also darin, dass das empirische Selbst sich in Richtung des »wahren Ichs« entwickelt – in Richtung einer Möglichkeit des künftigen Seins, die bereits jetzt durch emotionale Reaktionen auf gewisse Erfahrungen gespürt werden kann. Dieser ›Selbstkern‹ ist nichts metaphysisches, sondern es entspricht – als »ursprüngliche Kraft« – dem, was auch Nietzsche, Gross, Dewey, G.H. Mead oder J.S. Mill in Anspruch genommen haben. Im Normalfall tun Personen dies von ganz allein; hier wird niemand ›pathologisiert‹ oder ein Leiden erst konstruiert, sondern es wird auf einen Typus des Leidens reagiert, welches sich durch bestimmte soziale und kulturelle Entwicklungen entwickelt hat. (Es handelt sich also, wie schon bei T.H. Green diagnostiziert, um einen reaktiven Perfektionismus, s.o., IV.2). Das Dazwischentreten einer Neurose, also dem Verfehlen einer angemessenen Wahrnehmung von sich, bewirkt die Entwicklung hin in eine Richtung, die nicht der tatsächlichen Klaviatur von Empfindungen entspricht, die einem Individuum zu eigen ist. Es handelt sich dann um keine Selbstaneignung, sondern um eine Marter (verzweifelt nicht man selbst sein wollen, hätte Kierkegaard gesagt). Damit ist zugleich die Frage beantwortet, wie man eigentlich wissen kann, was der Unterschied zwischen dem wahren und dem idealisierten Selbst ist – schließlich sind ja beide nicht unmittelbar empirisch gegeben (in der Weise, wie das empirische Selbst – die Person, wie sie nun einmal ist – gegeben ist). Der Unterschied beläuft sich darauf, dass im einen Fall mögliche Seinsweisen, im anderen Fall Unmöglichkeiten angestrebt werden. Das mag in der Anwendung nicht immer klar zu unterscheiden sein – aber genau deswegen ist im Zweifelsfalle eine professionelle Beratung durch Therapeuten vorgesehen (wohlgemerkt nicht durch Personen aus dem eigenen Umfeld, die alte Rollenmuster oder Erwünschtheiten verstetigen könnten). In der Regel ist es aber denkbar, dass mögliche von unmöglichen Existenzformen unterschieden werden können.60 Vereinfacht wird dies durch den Umstand, dass die Idealisierung bereits heute für real gehalten wird (und nicht nur eine Projektion in eine unsichere Zukunft ist). Vielleicht wird jemand, der sich bereits jetzt für einen Popstar hält, wirklich
—————— 60 Ähnlich die Unterscheidung zwischen Ideologie und Utopie bei Karl Mannheim (1929).
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zu einem solchen, obwohl er keinerlei Talent dazu hat (DSDS macht es möglich). Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch wenn jemand darunter leidet, dass er nicht der Rockstar ist, für den er sich in seinem idealisierten Selbstbild hält, dann wäre es angebracht, auf eine Selbsterkenntnis hinzuarbeiten, dass ihm zu wenig Talent für eine solche Seinsweise gegeben ist und es daher nicht das wahre Ich, sondern eine Wunschprojektion ist. (Möglichweise ›passt‹ ja eine Karriere als Studiomusiker, Produzent oder Musikjournalist wesentlich besser.) Die Therapie besteht demnach nicht darin, irgendwelche geheimnisvollen Wissensformen zu erlangen (das meinte der Vorwurf des ›privilegierten Zugangs zu sich‹), sondern darin, sich und seinen Gefühlen vertrauen zu lernen, und sich und seine Talente nach einer Zeit des Experimentierens mit sich realistisch einschätzen zu können. Das ist die Befreiung, von der bereits die Rede war: »Sind wir aber vom autonomen Streben nach Selbstverwirklichung überzeugt, so brauchen wir unserer Spontaneität keine innere Zwangsjacke anzulegen; und wir brauchen auch die Peitsche der inneren Gebote nicht, um uns zur Vollkommenheit anzutreiben« (Horney 1950: 16).
Mit dem Werk von Karen Horney liegt damit eine Theorie vor, die den Nonkonformismus der Individuen im Sinne der Selbstverwirklichung mit Selbst denken kann und damit eine empfindliche Lücke des Neo-Hegelianismus füllt. Das »wahre Selbst« bei Horney entgeht der voreiligen Kritik, die darin eine vorsoziale Instanz sieht, die entweder dem Egoismus Vorschub leiste oder das Individuum auf bestimmte Arten zu sein festlege (ohnehin zwei miteinander unverträgliche Kritikstrategien). Gerade indem Horney das »wahre Selbst« in der Natur der Individuen verankert, in einem individuellen Potential, entgeht sie dem Vorwurf, die Menschen auf Hirngespinste auszurichten, die sich durch Vermarktung und Medialisierung endlos ausschlachten lassen. Die so begriffene menschliche Natur ist vielmehr ein Freiheitsgrund, der sich nicht nur hinsichtlich geschlechtlicher Diskriminierung in Anschlag bringen lässt, sondern der Individuen stets dann ein Argument verschaffen kann, wenn sie in ihren Gruppen nicht zur Geltung kommen. Auf diese Weise im Einklang mit der eigenen Natur leben zu lernen ist keine Einladung zur Verantwortungslosigkeit, sondern vielmehr eine Voraussetzung für gelingende soziale Beziehungen. »Wachsen im eigentlichen Sinn kann er nur dann, wenn er die Verantwortung für sich selbst übernimmt« (Horney 1950: 13). Damit liegt neben dem Extremismus von Gross ein weiterer individualistischer Kontrapunkt zu perfektionistischen Entwürfen ohne Selbstverwirklichung vor.
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Selbstverwirklichung bei Maslow und Rogers: Eine Verteidigung Kommen wir jedoch, um es uns schwerer zu machen, zu den von Illouz und anderen meistgescholtenen Therapeuten: zu Carl Rogers und Maslow. Auf der Suche nach glaubwürdigen Positionen, die hinsichtlich des Selbst etwas anderes vertreten als der intersubjektivistische Institutionalismus, stößt man irgendwann auf Abraham Maslow (1908–1970). Glaubwürdig ist seine Position dadurch, dass sie durch eine psychologische Praxis mehrerer Jahrzehnte empirisch gesättigt ist, aus der heraus und für die diese Theorien entwickelt worden sind. Scheinbar hat diese Weise, sich und andere zu begreifen, Menschen tatsächlich geholfen. Die Behauptung, dadurch werde zusätzliches Leiden geschaffen und Individuen würden systematisch überfordert, bekommt dadurch einen zynischen Beigeschmack. Dieser Vorbehalt gegenüber individualistischen Ansätzen in der (Theorie der) Psychotherapie könnte auch mit generationellen Konflikten zu tun haben, in denen die spätere Generation der früheren die Freiheiten nicht mehr gönnt, die sich jene – vielleicht auf Kosten ihrer Kinder – gegönnt hat.61 Bei Maslow kommt hinzu, dass über ihn bereits Bescheid zu wissen glaubt, wer einmal eine Power-Point-Präsentation der Bedürfnispyramide gesehen hat (Maslow 1943). Das ist unfair, denn Maslow hat mehrere Jahrzehnte lang über Selbstverwirklichung nachgedacht. Daher darf es nicht verwundern, dass er seine Position nicht nur angereichert, sondern auch revidiert hat.62 Die Revisionen betreffen zunächst die Hierarchie selbst. In seiner berühmten Pyramide hatte er vorausgesetzt, dass zunächst alle anderen Bedürfnisse befriedigt werden müssen – nicht bevor jemand selbstverwirklicht sein kann (das ist auch anders möglich), sondern bevor ein Bedürfnis nach einer Selbstverwirklichung erwacht. Diese Annahme ist nicht ganz unplausibel, da sie eine Dimension benennt, die mit der Befriedigung der materiellen und sozialen Bedürfnisse noch keineswegs gegeben sein muss. Dafür lassen sich Beispiele denken: Stellen wir uns einen Philosophen vor, der, um seinen Beruf ausüben zu können, zunächst eine Qualifikationsarbeit zur frühen Neuzeit schreibt; dann, um die Anerkennung seiner Kollegen zu gewinnen, eine wichtige systematische Untersuchung zur Metaethik beiträgt; und der schließlich, nachdem diese äußerlichen Bedürfnisse befriedigt sind, endlich das tut, was er eigentlich immer gewollt hat:
—————— 61 Wie Abrechnung klingt es bei Schulze 1992: 318 ff. (»Selbstverwirklichungs-Milieu«). 62 Näheres dazu bei Paulus 1994: 152–180; Remele 2001: 277–293, Reder 2004: 141–169 sowie Počivavšek 2002: 210–222. Wichtige Aufsätze finden sich in Maslow 1981.
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etwa ein Buch über Hollywood-Western zu schreiben.63 Sicher kann man dieses Muster durchbrechen und sich gleich an das Westernbuch wagen. Dennoch ist es eine prima facie plausible Annahme, dass es in der Regel anders herum geschieht. Und ob ein frühes ›Lebenswerk‹ ein gutes sein würde, ist fraglich. Daneben könnte man die Tatsache anführen, dass über Jahrhunderte material meist gut gesicherte Schichten des Adel und des Klerus die Kulturträger waren.64 Und von Maslow aus gesehen ist es nur folgerichtig, dass nach dem Weltkrieg zunächst die sog. ›Fresswelle‹ kam, bevor in den politisierten 1960er Jahren die Sinnbedürfnisse in den Mittelpunkt gestellt wurden und diese in den 1970er Jahren in individualisierter Form weitergeführt wurden. Eine ganze Subdisziplin der Sozialwissenschaft, die Wertewandelforschung, beruht auf dieser Tatsache. Maslows These hat also einiges für sich. Allerdings, und hier hat sich Maslow selbst berichtigt, ist das nicht notwendigerweise so. Man kann schließlich auch dann ein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung haben, wenn viele der anderen Bedürfnisse nicht akut befriedigt werden – darauf wurde Maslow von Viktor Frankl (1905–1997) hingewiesen, der in NS-Lagern gesessen und dort seine Frau und seine Eltern verloren hatte.65 Ebenso hat Maslow die anfängliche Vermutung zurückgestellt, Selbstverwirklichung als Zustand könne sich erst in einem gewissen Alter einstellen (1981: 180). Selbstverwirklichung sei einerseits als Prozess zu begreifen, der lange vorher ansetze, andererseits gäbe es auch plötzliche Erfahrungen (»peak experiences«), die ein Individuum blitzartig zu sich selbst bringen können (196). Zudem gab Maslow Einwänden nach, dass es Erfahrungen gebe, die über das Selbst hinaus gingen – auch wenn nicht alle sie haben könnten (wie Max Weber von sich sagte, er sei »religiös unmusikalisch«). Solche Transzendenzerfahrungen seien eine eigensinnige, jedoch nicht mehr selbstzentrierte Weise der Selbstverwirklichung.
—————— 63 Viktor Frankl etwa, der ebenfalls wichtige Thesen zur Selbstverwirklichung beitrug (vgl. Paulus 1994: 103–109; Počivavšek 2002: 180–189), machte mit 67 Jahren seinen Pilotenschein. Auch Künstler wie C.F. Meyer, Theodor Fontane oder Johannes Brahms haben spät in ihrem Leben ihre bedeutendsten Werke geschaffen. 64 Das hat die moderne Idee der Person antizipiert (Mensching 2005), allerdings in einem Elitediskurs. Man denke an die Rolle des Adels für Wilhelm Meister oder Goethe selbst. Um mit György von Lukács zu reden: Die »Form des Lebens« ist ein Luxusproblem. 65 Es ließe sich einwenden, dass diese Person das Bedürfnis in einer anderen Situation ausgebildet haben könnte: Basale Bedürfnisse werden zwar nicht mehr befriedigt, doch waren sie dies im ›normalen Leben zuvor. Dennoch hat das Lager die Sorge um das Individuum bekräftig; auch Bruno Bettelheim und Hannah Arendt etwa stellten es in ihren Theorien den Mittelpunkt (Zaretsky 2009: 400f.; vgl. Fleck 2006).
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Auf diese Möglichkeit hat Taylor seine Idee einer Ethik der Authentizität (1991) gegründet: Selbstverwirklichung vollziehe sich demnach im Ausgriff auf Horizonte, die über das Selbst hinausgingen. Das widerspricht dem hier in Frage stehenden Nonkonformismus gerade nicht, bestand doch in der religiösen Dimension seit je eine Quelle des Widerstands von Individuen gegenüber Gemeinschaften. Paul Tillich beispielsweise – der bezeichnenderweise als einziger den Existenzialismus zu verteidigen bereit war, als dieser wieder aus der Mode kam – hat das als das prophetischprotestantische Prinzip beschrieben. Trotz dieser Verfeinerungen und Veränderungen lässt sich Maslows Konzept der Selbstverwirklichung als eine Freisetzung von Potentialen, die in der inneren Natur des Individuums verortet werden, durchaus sinnvoll verstehen und rekonstruieren. Das Selbst vor der Verwirklichung: Innere Natur Nun wird gerade hinsichtlich der inneren Natur eine Skepsis geäußert: eine solche hypostasiere ein bereits vorgefertigtes Selbst, das lediglich mittels Räucherstäbchen und Meditation freigelegt werden müsse. Diese Kritik an einer Theorie verlässt sich auf eine breite Ablehnung gegenüber einer esoterischen Praxis, die mit dieser Theorie vorschnell gleichgesetzt wird. Das ist aber noch kein Argument. Kehren wir daher nochmals zur Frage des möglichen Widerstandes gegen Institutionen zurück. Maslow und Rogers gingen davon aus, dass ein solcher Widerstand nur dann denkbar ist, wenn das Subjekt nicht völlig in seinen sozialen Bezügen aufgeht. Eine zentrale Einsicht, in der sich Maslow mit Autoren wie Fromm und David Riesman trifft, war, dass eine Charakterstruktur, die zu viel Wert auf die Anerkennung der Anderen lege, den ›totalitären‹ Verlockungen des Zeitalters zu ungeschützt ausgesetzt sei.66 Daher komme es darauf an, im Interesse der freien Gesellschaft den Nonkonformismus der »Selbstverwirklicher« (Maslow 1981: 203) zu stützen: »against culture, against education, against learning« (Maslow 1954: 262; das klingt fast wie Otto Gross). Nur sie nämlich seien in der Lage, jeder besonderen Kultur einen Widerstand entgegenzusetzen. Dies zu ermöglichen war das ausgesprochene Ziel der Therapien, die aus diesem Denken folgten: Die Fähigkeit zu entwickeln, gegen »Zwänge zur Konformität« aufzubegehren (Rogers 1961: 170), da es keine Notwendigkeit mehr gibt, zugunsten der Anerkennung
—————— 66 Dazu zählte in den 1950er Jahren auch die Marktwirtschaft; so noch Rosa 2012: 284.
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der Anderen auf Eigenes zu verzichten (»Weg von den Fassaden«, »Weg vom ›Eigentlich-Sollte-Ich‹«, 168; »Weg vom Erfüllen kultureller Erwartungen«, »Weg davon, anderen zu gefallen«; 170). Der Unterschied zum Negativismus der Kritischen Theorie war nur, dass diese sich der praktischen Hilfestellung verweigerte (dazu Henning 2011f). Diese Überlegungen haben den gegen sie geäußerten Vorwürfen einiges entgegenzusetzen. So schießt beispielsweise die Anschuldigung, hiermit werde Egoismus gezüchtet, der sich gegen die Grundlagen der Vergesellschaftung wende, an den Zielen der positiven Psychologie vorbei. Auch diesen ging es um Sozialität, aber um eine Sozialität, die sich vollen Herzens bejahen lässt – und nicht länger als conditio sine qua non den Individuen aufgezwungen werden kann. Das zu kritisieren ist schon schwieriger, als den Räucherstäbchen-Egoismus auf dem Papier zu widerlegen. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist beispielsweise, dass das Buch von Kurt Remele, das im Titel etwas reißerisch einherkommt (Tanz um das goldene Selbst), sich am Ende in der Sache gar nicht auf eine kritische Linie festlegt. Es zitiert zwar die Standartkritiken an Rogers: es gebe keine totale Privatheit und man solle sich daher auf die sozialen Beziehungen beschränken; Selbstverwirklicher würden, da sie das ignorierten, zu Egoisten (Remele 2001: 310ff.). Doch es übernimmt keine dieser Kritiken und weist darauf hin, dass gerade Rogers an neuen Beziehungen interessiert war: dem Verhältnis zwischen Arzt und Klient, den Encounter-Gruppen sowie politischen Treffen in der Absicht einer Verständigung (Remele 2001: 319f.). Besonders Carl Rogers (1902–1987) hat seine Ideen von Selbstverwirklichung stets im Kontext von Beziehungen gesehen – etwa deswegen, weil das eigentliche Selbst in speziellen Weisen der Begegnung erfahren werde. Rogers stellt diesen Punkt sogar als seine Leitfrage dar. Zwar habe er »in seinen ersten Berufsjahren oft die Frage gestellt … : Wie kann ich diesen Menschen behandeln oder heilen oder verändern?« Doch habe sich diese hierarchische und objektivierende Perspektive gerade durch die neue Idee der Selbstverwirklichung geändert. Diese führte ihn auf eine andere Sicht der Dinge: »Heute würde ich die Frage so stellen: Wie kann ich eine Beziehung herstellen, die dieser Mensch zu seiner eigenen Persönlichkeitsentfaltung benutzen kann« (Rogers 1961: 46)? Individuen sind auch aus der Sicht der Selbstverwirklichungstheorie primär in Beziehungen anzufinden. Daher wird eine Therapie dort – und nicht unmittelbar in einer geheimnisvollen ›inneren Zitadelle‹ ansetzen (Berlin 1958: 215). Kritiken, die der Selbstverwirklichung ein monistisches
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Denken unterstellen, kritisieren also einen merkwürdigen Popanz. Doch nicht nur die Methode, auch das Ziel der Selbstverwirklichung hat mit sozialen Beziehungen zu tun: ein Ziel einer solchen Therapie ist – wie schon bei Gross und Horney – die Fähigkeit, bessere Beziehungen eingehen und führen zu können, die für das Selbst weniger schmerzhaft sind und auch anderen Menschen weniger Leid zufügen (Maslow 1981: 213ff.). Angesichts der angestrengten und unkommunikativen Formen von Familie und Beziehung, die bis vor einigen Jahrzehnten noch die Regel waren, muss der Zugang zu einer solchen Sprache für viele Menschen als Befreiung gewertet werden. Diese Sprache kann trotz der von Illouz und Ehrenberg geäußerten Kritiken noch immer ihre Wirkung haben, denn das Bewusstsein, dass Individuen ihre eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen haben, die nicht in den ihnen zugewiesenen und vielleicht sogar anerkannten Rollen aufgehen, ist noch immer keine Selbstverständlichkeit. Starke konformistische Kräfte wirken fort (gerade auch im akademisch Bereich). Bereits Maslow (1981: 199f.) hat dieses Bewusstsein von den verbesserten Beziehungen dank einer Stärkung des Selbst mit weitergehenden Fragen, etwa der Demokratiefähigkeit verbunden (darin Fromm 1941 folgend). Die Annahme ist, dass Menschen, die mit sich selbst im Reinen sind, Beziehungen mit anderen Menschen (z.B. Abhängigkeiten in der Arbeitswelt) nicht insgeheim dafür brauchen müssen, um eigene innere Konflikte abzuarbeiten oder Spannungen abzubauen.67 Die Dimension der Sozialität gibt also keine gute Basis dafür ab, die Selbstverwirklichungstheorien zu kritisieren. Wie steht es aber mit dem Vorwurf, die Rede von der inneren Natur greife auf eine überkommene Metaphysik der Natur zurück? Wissen vom organischen Selbst: Erfahrungsbasierte Selbstkenntnis Um den beengenden Einfluss der Gesellschaft auf die Subjekte zu begrenzen, kann man in beide Richtungen gehen: In Richtung des radikal Individuellen, oder in Richtung des Allgemeinen (etwa der menschlichen Natur oder der Vernunft). Mit etwas Glück können sich diese beiden ›transzendenten‹ Dimensionen treffen. Das käme jedenfalls dem Ideal Kants nahe, dem es ganz fremd gewesen wäre, die Stimme der Vernunft als etwas der
—————— 67 Die US-Krimiserie »The Wire« (2002ff.) veranschaulicht ein ganzes Spektrum solcher Überkreuzlagen. Hierarchien (the »chain of command«) verhindern, dass einem Unrecht offen entgegengetreten wird. Dies geschieht eher im Ausstieg aus der Ordnung (siehe etwa die symbolträchtige Ohrfeige an den Onkel-und-Chef in Folge II.7).
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Individualität der Einzelnen entgegengesetztes zu begreifen. Die von Kant gemeinte Stimme der Vernunft, die dem Individuum eine Autonomie im Sinne der vernünftigen Lebensführung ermöglicht, ist eine andere als die Stimme der jeweils herrschenden sozialen Institutionen, wie ›vernünftig‹ sie sich auch geben mögen (oder von Staatsphilosophen gezeichnet werden). Ein solches Zusammentreffen beider das Besondere transzendierenden Momente, von Individualität und Allgemeinheit, ist auch die Idee bei Maslow. Selbstverwirklichende Menschen seien »sowohl ihrer Spezieshaftigkeit wie auch ihrer einzigartigen Individualität näher« (Maslow 1981: 210, verfasst 1950). Damit stellt sich erneut die Frage nach der Art und Weise, wie diese Individualität und ihre naturale Basis näher begriffen wird. Denn es ist genau dieses Verständnis von Individualität, was in späteren Subjektkritiken stereotyp kritisiert wird: Wie Nietzsche sprechen Maslow und Rogers tatsächlich von einem Selbstkern, einem in der Natur des Individuums verankerten wahren Sein des Individuums.68 Wie lässt sich dies – jenseits der allzu einfachen Verballhornung – sinnvoll verstehen? Ein entschiedener Verfechter der ›intersubjektiven Wende‹ könnte einwenden, dass man um das Selbst kürzen könnte, wenn der Ansatzpunkt soziale Beziehungen sind und die Verbesserung dieser Beziehungen das Ziel ist. Warum den Umweg über ein Selbst gehen, das nicht in diesen Beziehungen aufgeht, wenn doch diese Beziehungen im Zentrum stehen? Benötigt man diese Annahme überhaupt? Bei der Frage, ob man eine solche »innere Natur« des Individuums annehmen dürfe oder sich eher dem Kopfschütteln derer anschließt, die das unschicklich, weil veraltet finden, hängt vieles davon ab, als was die zu verwirklichende Züge des Selbst genauer gefasst werden. Antworten darauf gibt es durchaus. Welcher Sinn lässt sich damit verbinden? Und welche Erfahrungen sind angesprochen? Es handelt sich um eine Dimension, die nicht am Schreibtisch zu konstruieren ist (wo einem die Sprache einen Streich spielen oder eine unerkannte Tradition die Feder führen kann), sondern die allen Menschen in der Erfahrung zugänglich ist. Insofern gibt es hier keinen Elitismus. Sie ist allerdings nicht allen zusammen, also nicht einer Gruppe (einem Inter-Subjekt), sondern nur jedem für sich zugänglich. Es sind Erfahrungen, die sich aus einer immer schon sozialen Optik gerade nicht machen lassen.
—————— 68 »We have, each of us, an essential biologically based inner nature« (Maslow 1962: 3); »a core or nucleus that was somehow there all the time but was overlaid, concealed« (1954: 95; Remele 2001: 147); »der innerste Kern der menschlichen Natur« (Rogers 1961: 99f.).
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Daher hat die intersubjektivistische Kritik etwas Kurzschlüssiges: ihr Schluss steckt bereits in den Prämissen. Trotz der geteilten menschlichen Welt unterscheidet sich die Erlebnisdimension eines Jeden (daher die Redensart: ›Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall‹). Gerade das erfahren wir in der geteilten Welt, und daher gilt in einer liberalen Gesellschaft der Grundsatz – um bei Redensarten zu bleiben: ›jedem Tierchen sein Pläsierchen‹ (diesen Punkt hatte Rawls monopolisiert, s.o., II.2). Man kann nun offen für solch radikal individuelle Erfahrungen sein oder nicht (etwa, weil es die Kultur oder das Selbstbild nicht zulässt). Der praktische Unterschied, den Maslow und Rogers hinsichtlich der Selbstverwirklichung vermuten, ist der Grad der Souveränität im Umgang mit anderen: Weiß jemand, was er mag oder nicht mag, wo seine Grenzen der Belastbarkeit und der Frustrationstoleranz sind, oder weiß er es nicht? Weiß er es nicht, kann er in Situationen geraten, die ihm und den anderen nicht gut tun. Menschen gelangen in Rollen, in denen sie sich nicht vollauf bejahen können, die ihnen nicht ›gut tun‹ und sie möglicher-weise zu unangenehmen Zeitgenossen werden lassen. Manche Menschen sind zufrieden mit sich (was nicht zugleich heißen muss: mit ihrer Lage), manche sind dies nicht – nur ist diese Zufriedenheit mit sich keine Letztgröße, sondern ihrerseits davon abhängig, ob jemand positive Erfahrungen mit sich selbst hat machen können. Diese Erfahrungen mit sich, auf die Maslow und Rogers setzen, sind praxisbezogen. Es gibt eine Instanz, auf die ich bauen kann, wenn ich mich von den äußeren Mächten abwende, wenn sie mich bedrücken. Wichtig daran ist nicht nur, dass es ein ›Inneres‹ gibt, das sich vom Außen der Institutionen und Anerkennungs-kulturen sowie ihrer Subjektivierungen unterscheidet, sondern auch, dass dieses Innen nicht rätselhaft ist, da es kein Geist ist (es spukt nicht, MEW 3: 136). Wie bei Rousseau handelt es sich um Natur, das heißt um etwas, auf das ich in organischer Weise vertrauen kann.69 Es ist nicht rätselhaft, da ich es selbst als Individuum erfahren kann (Maslow spricht von einer subjektiven Biologie: »a discovery of biology by experiencing it«, 1954: 95). Ich muss mich nicht verbiegen, verklemmen, etwas unterdrücken oder verdrängen, sondern versuchen (möglicherweise unter Anleitung), so etwas wie eine Seinsbasis zu fühlen. Rogers drückt es recht vorsichtig aus, wenn er sagt, damit sei die Erfahrung angezielt, dass die Menschen,
—————— 69 Selbstverwirklichung sei die »fullest realization in actuality of the potentialities and intrinsic nature of the organism«, ein »intrinsic growth of what is already in the organism itself« (Maslow 1953 und 1949, hier zitiert nach Paulus 1994: 153).
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»anstatt etwas furchtbar Verkehrtes in sich zu finden, sie einen Kern, das Selbst, allmählich enthüllen, das zutiefst sozialisiert war. Dürfen wir es wagen, aus einer solchen Erfahrung folgendermaßen zu verallgemeinern: Wenn wir einen ausreichend tiefen Schnitt bis hin zu unserer organischen Natur vornehmen, stellen wir fest, dass der Mensch ein positives und soziales Lebewesen ist? Die Vermutung folgt aus unserer klinischen Erfahrung« (Rogers 1961: 109f.).
Diese innere Natur bedroht die Freiheit der Individuen nicht. Im Gegenteil, in dieser Lebensphilosophie ist sie die Bastion der Freiheit; erst sie erlaubt einem Individuum, authentisch Entscheidungen zu fällen – wenn nämlich Authentizität als ein Modus des Lebens begriffen wird, in dem ein Individuum dasjenige tut und sich für dasjenige entscheidet, was es wirklich will. Das aber zu wissen setzt eine Vertrautheit mit den eigenen und intimsten Gefühlsregungen voraus (auch den künftigen). »Authentic self-hood can be defined in part as being able to hear these impulsevoices within oneself, i.e., to know what one really wants or doesn’t want, what one is fit for and what one is not fit for, etc.« (Maslow 1962: 179).70
Damit wird eine weitere Kritik an diesem Modell aufgenommen, nämlich die, dass es nicht flexibel genug sei. Dies unterstellt, dass dieser ›Selbstkern‹ schon fertig und unwandelbar wäre. Dann hätte der oder die Betreffende nur die Möglichkeit, ein einziges authentisches Selbst zu sein oder nicht und würde sich gegen Erfahrungen »abriegeln« (Thomä 2003: 276, s.u.). Genau das ist jedoch nicht gemeint. Im Gegenteil, ein starres und beengendes Selbst kennen auch Maslow und Rogers, nur ist es in ihren Augen dasjenige, was die Kultur vermittelt hat, und von dem es freizukommen gilt. »In der Sicherheit, die eine Beziehung zu einem klientenzentrierten Therapeuten gewährt, beim Fehlen jeder wirklichen oder angedeuteten Bedrohung für das Selbst, kann es sich der Klient erlauben, verschiedene Aspekte seiner Erfahrung zu untersuchen, so wie er sie wirklich empfindet, so wie seine Sinnesorgane und seine Physis sie erfassen, ohne sie verzerren zu müssen, damit sie dem vorherrschenden Begriff des Selbst entsprechen« (Rogers 1961: 87).
Im Prozess dieses Freikommens kommt es zu Erfahrungen eines multiplen Selbst: Gefühle und Wünsche, die vorher durch das zu rigide Selbstbild nicht als die eigenen anerkannt wurden, zeigen sich nun als Teile des eigenen Seins. Es gibt hier weder einen Zwang, diese auszugrenzen, noch den, eine starre Einheit mit den anderen Aspekten des Selbst zu erzeugen; noch etwa den, sich auf ewig an diese Empfindungen zu ketten. Es geht viel-
—————— 70 Honneth (2011a: 71) setzt Authentizität und Selbstverwirklichung einander entgegen.
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mehr darum, sich für Wandlungen zu öffnen. Erfahrungen, die sonst verdrängt und abgespalten würden, »weil sie zu bedrohlich, zu schädigend für die Struktur des Selbst erschienen« (Rogers 1961: 185), sollen als die eigenen empfunden werden. Dieses neue Selbst ist keineswegs starr und einheitlich, sondern es handelt sich um ein uneinheitliches (»vielleicht bin ich viele, ziemlich verschiedene Selbst«, 87) und fließendes Selbst (»Fließen«, »fließende Qualitäten«, 188). Es ist also nicht in jedem Fall angemessen, ausgerechnet die Natur als das Feste und Naturalisierungen als Beengung anzusehen – zumindest aus der Sicht der Selbstverwirklichungstheorien (inklusive der von John Dewey) ist die innere Natur »extrem formbar« (Maslow 1981: 16), während die Gefahr einer Beengung für das Selbst eher von der Kultur ausgeht: »instincts have far more to fear from civilization than civilization from instincts« (Maslow 1954: 94). Nun mag man einwenden, dass Rogers und Maslow Ausnahmeerscheinungen seien, die weder repräsentativ für Theorie und Praxis der Psychotherapie im 20. Jahrhundert noch von Belang für philosophische Theorien seien. Dem ist zu widersprechen. Diese Autoren sind aus verschiedenen Gründen ernst zu nehmen: Zunächst, weil ihre Theorien von der Selbstverwirklichung der unausgesprochene Gegenstand vieler philosophischer Subjekt-Kritiken sind. Bei näherem Hinsehen jedoch zeigt sich, dass diese Kritiken ihrem Gegenstand nicht gerecht werden: es wird weder einer beengenden Naturalisierung, noch einer egoistischen Asozialität das Wort geredet; vielmehr geht es um Wandel des Selbst und Öffnung für Erfahrung. Es gibt weitere Gründe, sie ernst zu nehmen: Einerseits nehmen sie, parallel zu Strömungen wie dem Existentialismus, Autoren wie Kierkegaard und Nietzsche auf, deren Fokus auf dem Selbst von philosophischen Lesarten eher zugunsten anderer Themen (der Ästhetik, der Religionsphilosophie etc.) vernachlässigt wurden. Andererseits haben diese Autoren die Themen des Selbst in eine andere Ebene übertragen, die der Philosophie fehlt – nämlich der Ebene des praktischen Experimentierens, der Erfahrungswissenschaft. Stellt diese in der Philosophie John Deweys den Probierstein auch philosophischer Theorien dar, so sind die psychologischen Selbstverwirklichungstheorien eine der wenigen Theorietypen, die einem solchen Anspruch gerecht zu werden vermögen. Das hier aus der Sicht der Philosophie Gesagte ist kein fachpsychologisches Urteil über die beiden – das nach wie vor negativ ausfallen mag. Doch gibt es keinen guten philosophischen Grund, diese Theorien von vornherein auszusondern.
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Maslows Selbst der Selbstverwirklichung: Ein Vergleich mit Honneth Liest man diese Werke philosophisch, bieten sie sich als Vergleichsfolie an. Vergleichen wir daher einmal das Bedürfnismodell von Abraham Maslow mit der Anerkennungstheorie von Axel Honneth, die ja ebenfalls um die Selbstverwirklichung zentriert ist. Erfasst Honneth etwas, das Maslow nicht erfasst, oder umgekehrt? Schwenken wir zunächst zurück zu den drei Anerkennungs-, Gerechtigkeits- und Persönlichkeitssphären und erinnern uns an die Matrix (III.3, Abbildung 1). Es handelt sich um soziale Bereiche, die moralisch durch verschiedene Anerkennungsnormen voneinander abgegrenzt werden, unterschiedliche Gerechtigkeitskriterien enthalten und verschiedene »Aspekte der Person« verwirklichen sollen. Im Vergleich zum Modell von Maslow (1943) lässt sich eine erstaunliche Beobachtung machen: Alle drei Sphären haben eine Entsprechung.71 Die Sicherheitsbedürfnisse (Maslow 1981: 66 ff.) entsprechen in etwa dem Recht; gibt das sanktionsgeschützte Recht den Individuen doch die Verlässlichkeit, die sie sich durch bloße Anerkennung zwischen Einzelnen gar nicht würden geben können, und das gilt nicht nur als Staatsbürger, sondern auch als Tauschpartner, also Marktsubjekt.72 Auch im übertragenen Sinne – etwa hinsichtlich die Sicherheit, die man genießt, wenn man sich irgendwo ungehindert und angstfrei bewegen kann – kann man von Rechten sprechen: so können Kinder in einer Familie ein »Recht« darauf haben, frei zu sprechen (ohne unterbrochen zu werden etc.). Sie genießen dann eine kindliche Sicherheit. Schon hieran lässt sich ersehen, dass mit dem Maslowschen Modell kein Staat zu machen ist – es lässt sich kein Hegelsches System erbauen, da sich keine »Blöcke« ergeben. Ein Moment der Person findet sich in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären wieder (hier in Familie, Markt und Staat). Gemessen am Alltagsverstand ist das die eingängigere Annahme gegenüber der schematischen Festlegung von je nur eine Sphäre mit je nur einem Aspekt der Person. Weiter gibt es Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe, die bei Honneth der Familie entsprechen; und Bedürfnisse nach Achtung und Wertschätzung (Maslow 1981: 70 ff.), die bei Honneth dem Marktgeschehen zugeordnet werden. Die Parallele besteht in der ungleichen Verteilung dieser Ressource – der Markt kennt eine soziale, zumeist monetäre Ungleichheit,
—————— 71 Weil Honneth individuelle, soziale und normative Momente in ein einziges Modell bringt, lassen sich Maslows individuelle Bedürfnisse hier mühelos abtragen. 72 Eigentlich anerkennt der Bürger den Staat als höchste Gewalt und der Staat seine Bürger als Rechtsträger; die Bürger einander tun das (rechtlich) eher im abgeleiteten Sinne.
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die für Honneth weitgehend in Ordnung ist, solange sie »verdient« ist (was genau das heißt, bleibt eine schwierige Frage, vgl. Kocyba 2011). Maslow spricht an dieser Stelle nicht nur von »Leistung«, sondern auch von Stärke, Prestige, Respekt und Selbstachtung (1981: 72f.): Einen guten Ruf kann man ja auch innerhalb einer größeren Familie oder innerhalb der Politik erwerben, nicht lediglich durch vermarktbare Leistungen. Dieser Vergleich zeigt einiges: Zunächst den Umstand, dass auf diese Weise keine Systembauten möglich sind. Maslow schließt nicht von Aspekten der Persönlichkeit auf Sphären der Gerechtigkeit oder Strukturen der Gesellschaft. Bei Maslow fehlen daher einige (vertikale) Spalten, die es bei Honneth gibt. Postmetaphysisch betrachtet hat diese Enthaltsamkeit einiges für sich – möglicherweise haben diese verschiedenen Felder ja ganz andere und je eigene Logiken. Nach Wittgensteins Unterscheidung verschiedener Sprachspiele und ihrer Grammatiken und Max Webers These der Ausdifferenzierung verschiedener Wertsphären ist es keineswegs mehr so einfach, aufgrund sprachlicher Äquivokationen von einer Dimension (etwa der Gerechtigkeit) in die andere (etwa das Selbstbild) zu springen.73 Schwerer als dies wiegt allerdings das Fehlen von (horizontalen) Zeilen, die es bei Maslow gibt, die jedoch bei Honneth fehlen. Die Thematik der Person ist bei Maslow mit diesen drei Feldern noch nicht ausgeschöpft. Hinzu kommen nämlich erstens die physiologischen Bedürfnisse. Menschen müssen essen, schlafen, atmen, sich vor dem Wetter schützen und fortpflanzen (Maslow 1981: 62f.; siehe MEW 3: 21f.). Das ist nicht schon durch Zuwendung und soziale Achtung abgedeckt; vielmehr implizieren diese immer auch solche Dimensionen: wie jemand anerkannt und geachtet wird, hängt auch von den Verhältnissen ab (hat jemand Vermögen oder schläft er auf der Straße).74 Das ist bereits im Säuglingsalter so: neben und in aller Interaktion mit der Mutter geht es dem Säugling, sofern darüber überhaupt Aussagen getroffen werden können, um eine »Regulierung von Affekt und Erregung« (Stern 2003: 112), um körperliche Bedürfnisse, die interaktiv (noch nicht ›sozial‹) befriedigt werden (das Schreien des Säuglings führt zum Geben der Mutterbrust). Das ist die Ebene der Natur.
—————— 73 Siehe den Sprung von politischer Kritik in Säuglingspsychologie (Honneth 2010: 284ff.). 74 Die Kritik des jungen Marx war beispielsweise, dass Menschen gerade nicht für ihre Leistung, sondern für ihr Geld geachtet werden – dies ist keine »Verwilderung« erst des 21. Jahrhunderts (Honneth 2011b). Nach Deranty (in Zurn/am Busch 2009: 270, Fn. 4) war es übrigens eine Kritik von Christopher Zurn (2000), die Honneth von seinen anthropologischen Anfängen (siehe etwa Joas/Honneth 1980) hat abrücken lassen.
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In Honneths System fehlt daneben die Ökonomie. Zwar ist von der bürgerlichen Gesellschaft und immer wieder von Arbeit die Rede (Honneth 2010: 78ff.; 2011a: 410ff.), doch das hat primär die moralischen Aspekte im Blick, die für diese Sphäre als konstitutiv behauptet werden. Schon darüber, dass Moral hier ›konstitutiv‹ sein soll, ließe sich trefflich streiten. Menschen, die sich in diesem Feld bewegen, können für ihre Verdienste in verschiedenen Graden sozial anerkannt werden, weil sie sich in diesem Feld bereits betätigt haben. Arbeitsmarkt, Waren- und Kapitalströme gibt es also schon. Die Sphäre der Arbeit wird folglich nicht dadurch konstituiert, dass hier Menschen irgendwann einmal für ihre ›Leistungen‹ anerkannt werden (oder nicht). Sie ist auch ohne dies real, und ihr korrelieren handfeste individuelle Bedürfnisse. Dass höherstufige Bedürfnisse z.B. nach Achtung sich ebenfalls im Konsum ausdrücken können (im Kauf von Statusgütern wie teurer Kleidung oder großen Autos) ändert nichts daran, dass es eine physiologische Bedürfnisbasis sowie zwingende soziale Strukturen gibt. Schon das Wort ›Evaluation‹ (die Bewertung, als welche Moral sich verstehen lässt) zeigt an, dass das etwas, das bewertet wird, nicht durch diese Bewertung entstehen kann.75 Zur reduzierten Anthropologie und dem Fehlen der Wirtschaft gesellt sich schließlich das fehlende Bedürfnis nach Selbstverwirklichung-mitSelbst (Maslow 1981: 73ff.). Nicht nur nach ›unten‹, in die erste und zweite Natur, lässt sich Honneths Matrix also anreichern, sondern auch nach ›oben‹, in die radikal individuellen Sinnbedürfnisse. Bedürfnisse (Maslow):
Felder nach Honneth
Selbstverwirklichung / Transzendenz
-
nach Zugehörigkeit und Liebe
Liebe
nach Sicherheit
Recht
nach Achtung (Anerkennung)
Arbeit
Wirtschaftliche Bedürfnisse
-
Natürliche Bedürfnisse
-
Vergleichsmatrix Honneth/Maslow
—————— 75 Das bezieht sich auf die bewerteten Sachverhalte; zur Frage, ob es eine sinnvolle Annahme wäre, die Werte durch die Bewertungen entstehen zu lassen, s.u., Kap. V.
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Wir sahen, dass auch diese weiteren Bedürfnisse ein institutionelles Pendant haben können. Der Clou bei Maslow und anderen ist es jedenfalls, dass diese beiden Dimensionen des Menschseins – Naturanlage und individuell-geistige Bedürfnisse – sich untergründig berühren. Denn was meint Maslow mit diesem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung? »Der Begriff … bezieht sich auf das menschliche Verlangen nach Selbsterfüllung, also auf die Tendenz, das zu aktualisieren, was man an Möglichkeiten besitzt« (Maslow 1943, nach 1981: 74). Um in Honneths Bild zu bleiben: Ein Individuum, dass von Staat, Markt und Familie anerkannt wird, mag zwar sozial akzeptiert sein, es mag sogar besonders stabil in seiner psychischen Verfassung sein (was keineswegs garantiert ist, da innere Spannungen auch andere Quellen haben können), aber es ist noch keineswegs automatisch selbstverwirklicht. Damit wird eine eigene Dimension angesprochen, es ist ein Thema für sich. Zwar wird ein so geartetes Selbst auch in Staat, Markt und Familie vorkommen (und dort vielleicht anders auftreten – sicherer, entspannter, konfliktfähiger; Maslow 1981: 179ff., 213ff.). Doch es ist nicht dieses Vorkommen in Staat, Markt und Familie, was dieses Selbst zu einem so gearteten macht oder es ausmacht. Maslow zufolge geht die Selbstverwirklichung nicht in diesen Dimensionen auf, sondern markiert eine eigene Dimension, die erst beginnt, wo die Außenbetrachtung aufhört: »Selbstverwirklichung ist ein inneres Wachsen dessen, was sich bereits im Organismus befindet, oder genauer, was der Organismus selbst ist. So wie der Baum Nahrung, Sonne, Wasser von der Umwelt braucht, so braucht der Mensch Sicherheit, Liebe und Achtung von der gesellschaftlichen Umwelt.76 Doch … ist dies der Punkt, an dem die wirkliche Entwicklung, das heißt, diejenige der Individualität beginnt. Alle Bäume brauchen Sonnenlicht und alle Menschenwesen Liebe, und doch fangen jeder Baum und jeder Mensch an, wenn einmal eine dieser elementaren Notwendigkeiten gesättigt ist, sich in der eigenen Art und Weise zu entwickeln, einzigartig, die universellen Notwendigkeiten für die eigenen privaten Zwecke nutzend. Mit einem Wort, die Entwicklung beginnt dann von innen anstatt von außen« (Maslow 1981: 163, von 1949).
Damit ist einem weiteren Einwand begegnet. Für Dieter Thomä (2002: 185; 2003: 163f., 275f.) macht die Rede von der Verwirklichung eines Selbst weder vor noch nach seiner Verwirklichung Sinn, und damit auch Selbstverwirklichung nicht. Entweder sei man ein Selbst, dann müsse man sich nicht verwirklichen, oder man sei keins, dann könne man es nicht:
—————— 76 Das variiert Pindars Baummetapher (s.o. bei Mill, Marx, Tawney und Nussbaum).
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»Wenn man von Selbstverwirklichung spricht, unterstellt man offensichtlich, dass das eigene Selbst noch nicht verwirklicht sei. … Das zwingt zu dem Umkehrschluss, dass man so, wie man gerade ›wirklich‹ ist, alles andere ist als man ›selbst‹« (Thomä 2003: 275).
Diese Lesart, nach der Selbstverwirklichung lediglich ein »begriffliches Missgeschick« sei (2003: 275; vgl. 1998: 67), unterstellt, dass es keine Sache gibt, die benannt werden soll und daher auch anders benannt werden könnte (Maslow z.B. hat andere Titel für das Gemeinte),77 sondern dass es ein Schein ist, der erst durch den Wortlaut hervorgerufen wird. Dadurch aber wird, was der Sache nach eine Entwicklung der Individualität sein soll, als Dilemma von ganz oder gar nicht dramatisiert. So heißt es folgerichtig, dieses Wort sei »ganz unsinnig« (2002: 185). Unterstellt wird damit, man solle dieser Idee nach sprunghaft von Null auf Hundert kommen.78 Man könne dies nicht, da sich weder der Nullpunkt noch die Vollpräsenz eines Selbst denken ließen: entweder fehle das Subjekt, das antreibe (das Selbst, das sich verwirklicht), da es ja erst verwirklicht werden soll. Wenn es jedoch schon gegeben sei, müsse es sich nicht mehr verwirklichen. Man könne daher niemals an seinem Ziel (das Selbst, das verwirklicht wird) ankommen (»wie der Esel nach der Möhre«, 2003: 276). Maslow, Rogers, Gross und Horney haben die Selbstverwirklichung allerdings keineswegs als eine solche creatio ex nihilo bestimmt. Dieser Forschungs- und Therapiezweig lässt sich daher durch diese Betrachtung zum Wort Selbstverwirklichung nicht »zum Verschwinden« bringen (2003: 276). Liest man Selbstverwirklichung statt Sprung von Null auf Hundert als eine Entwicklung; sagen wir, um im Bild zu bleiben, als Steigerung von Fünfzig auf Sechzig Prozent, dann verblasst dieser Einwand. Es ist dann nicht mehr »unsinnig«, sich aufgrund einer spezifisch musikalischen Begabung als Geigenvirtuose zu entwerfen und diesem Ziel durch stete Übung entgegenzuarbeiten. Warum soll man nicht sagen können, jemand habe sich als Geigenvirtuose selbst verwirklicht, wenn er von seiner Umgebung her vielleicht eher Landwirt oder Busfahrer geworden wäre? Gemeint ist damit nur, dass jenseits des bereits wirklichen Selbst, mit dem man sich möglicherweise nicht vollends identifizieren kann (was ein Leiden an sich zur Folge haben kann), noch weitere Möglichkeiten vermutet oder gespürt
—————— 77 Man kann alternativ von Entfaltung, Selbsterfüllung, -Entwicklung oder -Vervollkommnung sprechen: Paulus (1994: 152) zählt 20 Äquivalente in den Schriften Maslows. 78 Könnte man sich nicht von sich unterscheiden, wären der Deutsche Idealismus und daran anknüpfende Modelle wie das von G.H. Mead kaum vorstellbar.
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werden, die man freizusetzen bestrebt ist. Das ist ein allerorten zu beobachtendes Phänomen, und als »Neugier auf das, was ›in mir steckt‹«, wird es auch bei Thomä wieder eingeführt (2003: 282). So führt der Gegenvorschlag der »Zufriedenheit mit sich« (Thomä 2002: 185) oder der »Selbstliebe« (2003: 278) nicht weit über die Selbstverwirklichungstheorie hinaus: die »Fähigkeit, sich selbst zu mögen« (Rogers 1961: 96) wurde bereits von dieser angestrebt. Diese allerdings vermag auch denjenigen einen Weg dahin aufzuzeigen, die von Haus aus nicht mit einem sonnigen Gemüt oder günstigen Umständen gesegnet sind. Eine Selbstliebe auch denen zu empfehlen, die (noch) nicht mit sich zufrieden sind, wäre unfair. Es könnte eine ›Arbeit am Selbst‹ sogar erschweren, kann doch gerade eine temporäre Unzufriedenheit mit sich einen Prozess der Selbstverbesserung antreiben. Nun nahm selbst Aristoteles’ Teleologie nicht an, das zu Verwirklichende sei vorher schon als ein solches gegeben, als müsse nur der innere Mensch nach außen gekehrt werden. Er ging vielmehr von einer Potenz aus, die sich auf verschiedene Weisen materialisieren kann. Daher spielt die Kultur und die Anleitung und Unterstützung durch andere – nach bewährten Theorien des Guten – eine große Rolle bei der Entwicklung der Anlagen. So noch bei Rogers: »metaneeds … are potentialities, rather than actualities. Culture is definitely and absolutely needed for their actualization« (Rogers 1973: 114). Eine Rede von individuellen Potentialen würde keineswegs gegen Erfahrungen »abriegeln« (Thomä 2003: 276). Das Ziel ist im Gegenteil, eine »Offenheit für Erfahrung« zu erreichen (Rogers 1961: 186, 87). Beim Menschen von individuellen Anlagen zu sprechen, etwa bei der Betrachtung kleinerer Kinder, ist alltagspraktisch nicht ungewöhnlich. Seltsam wäre eher die Annahme, eine Person hätte mit ihrer Existenz zehn Jahre früher nichts mehr zu tun. In den zeitlichen Veränderungen eines Subjektes unterstellen wir bei uns und anderen eine identische Person. An Namen hängt hier nichts – ob wir von einer Person (Persönlichkeit), einem Subjekt (Subjektivität), einem Individuum, einer personalen Identität oder einem Selbst sprechen; immer ist gemeint, dass ich mich (wie andere sich) trotz Wandel als Einheit erfahre und angesprochen werden möchte. Daher können wir von einer Entwicklung reden und zwischen selbst- und fremdgesteuerten Entwicklungen unterscheiden. Es kann auch plötzliche, diskontinuierliche Veränderungen geben, die zum Beispiel durch Hirnverletzungen oder Drogen zu erklären sind; Identität des sich Verändernden setzt hingegen voraus, dass die beiden Subjektzustände zu verschiedenen Zeitpunkten ein Selbst bilden.
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Selbstverwirklichung bezweckt also zweierlei: Im subjektiven Sinn, hinsichtlich des Selbst, das etwas verwirklicht, möchten wir eine gewisse Kontrolle über diesen Prozess erlangen: nicht äußere Umständen, sondern wir selbst möchten das Subjekt unserer Lebensführung sein: selbst sich verwirklichen – und nicht von anderen oder Institutionen verwirklicht werden. Hier könnte man auch von Autonomie sprechen. Und im objektiven Sinn, hinsichtlich des Selbst, das dabei entwickelt werden soll, soll dieses künftige Selbst von mir bejaht werden und den Vorstellungen von meinem »wahren« Selbst entsprechen: sich selbst verwirklichen – und nicht jemand anderen. Das kann man »Authentizität« nennen (»Authentic self-hood«, Maslow 1962: 179). Wenn Maslow vom »fully evolved and authentic self« spricht (1962: 15), so klingen darin genau diese zwei Dimensionen an. Ein Auseinanderdividieren diese zwei Dimensionen erscheint aus dieser Perspektive als künstlich. Die »Wahrheit« dieses wahren Selbst meint keine metaphysische Seinsart, sondern eine existentielle Bejahung seitens des sich entwickelnden Subjektes. Mit der Verteidigung auch der dritten Dimension – dem Selbst der Selbstverwirklichung, neben der Natur der Freiheit und der Gesellschaft der Gleichheit – ist unsere Rekonstruktion eines anderen Perfektionismus abgeschlossen. Es hat sich gezeigt, dass sich, sobald man den Fokus historisch etwas öffnet, ein reichhaltiger Fundus perfektionistischer Argumente zeigt, welcher starke liberale und egalitäre Tendenzen hat und der der Wiederaneignung durch eine neue kritische Sozialphilosophie harrt. – Es folgt nun eine Reprise, die die drei Themen an einem weiteren Perfektionisten durchspielt.
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4. Natur, Gesellschaft und Selbst bei Marx Es war zu zeigen, dass alle drei Dimensionen, die im gegenwärtigen Perfektionismus fehlten, sich in traditionellen perfektionistischen Philosophien noch ausweisen ließen: die ermöglichende und begrenzende Natur als Kraft der Perfektibilität, eine dynamische, mitunter jedoch bedrängende Gesellschaft als Gefüge der Bedingungen der Selbstvervollkommnung, und ein eigenständiges Selbst als Subjekt und Ziel der Selbstverwirklichung. Wenn wir die drei Dimensionen noch einmal in der Philosophie von Karl Marx (1818-83) aufsuchen, dann nicht, um damit etwas zu beweisen. Ob etwas bei Marx steht oder nicht, kann der Philosophie gottlob egal sein. Allerdings gibt es auch keinen Grund, einen solchen Seitenblick auf Marx nicht zu werfen: Marx ist ein Klassiker nicht nur der ökonomischen und politischen Wissenschaft, sondern auch der Philosophie.1 Daher passt er hervorragend in die perfektionistische Ahnengalerie. Marx geht wie Aristoteles davon aus, dass Menschen Anlagen haben, die sich durch Betätigung verwirklichen lassen oder sonst verkümmern, und dass es für Menschen »gut« ist, wenn sie dies tun. Er folgt dem humanistischen Bildungsbegriff, der Reichtum nicht verkürzt in Geld, sondern als »Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur« vorstellt (MEW 26.2. 111). Die Menschen sollen sich möglichst »allseitig« ausbilden (MEW 3. 424), doch die kapitalistische Produktionsweise schneide die Menschen von ihren Entfaltungsmöglichkeiten ab, indem der Geldmechanismus den menschlichen Reichtum verdingliche und seine Verwirklichung nutzenegoistisch einschränke, und indem die Lohnarbeit die Menschen vereinseitige, verdumme und verarme (MEW 40: 514 ff.) und in eine Klassengesellschaft dränge, die sie gegeneinander statt miteinander arbeiten lasse. Das Ganze ist – je länger, je mehr – eingebettet in einen qualitativen Individualismus: Nur über die »Selbstverwirklichung« (MEW 42: 512), »die höhere Entwicklung der Individualität« (MEW 26.2: 111) kann es zur »freie[n] Entwicklung aller« kommen (MEW 4: 482).2 Die drei kritischen Dimensionen lassen sich bei Marx klar voneinander abheben: Es gibt bei ihm eine ›erste‹ Natur des Menschen, diskursunabhängige Strukturen von Gesellschaft und ein möglichst allseitig zu entwi-
—————— 1 Ich habe einst (Henning 2005) eine philosophische »Marxvergessenheit« bemängelt. In der Folge ist mir der perfektionistische Subtext seiner Philosophie immer klarer geworden. 2 »[D]er Kommunismus ist nichts anderes als die zum allgemeinen Zustand gewordene Struktur der Authentizität oder Selbstverwirklichung« (Menke 2005: 344).
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ckelndes Selbst. Der Marxsche Perfektionismus ist zwar keine ausformulierte Position, aber es ist einen Versuch wert, das unabhängig von Marx Entwickelte einmal an seinen Theorien durchzuspielen. Die perfektionistische Philosophie läuft bei Marx der ökonomischem Theorie und Sozialphilosophie voraus – nicht im Sinne einer Deduktion aus ersten Prinzipien, sondern im Sinne einer intellektuellen Biographie. Marx war zwar durch seine jüdische Herkunft ein Außenseiter, dennoch – oder dadurch verstärkt – durchlief er zunächst die »normale« bildungsbürgerliche Laufbahn; ein im 19. Jahrhundert häufig zu findendes biographisches Muster. In diesem Bildungswissen waren perfektionistische Elemente überaus greifbar: zunächst vom klassisch antiken Bildungsgut her, das in den Gymnasien damals noch gelesen wurde – für Aristoteles war ja die Eudaimonia, das blühende Leben, das Ziel sowohl des individuellen Strebens wie der politischen Gemeinschaft. Auch im klassischen deutschen Bildungsgut, etwa bei Kant, Goethe oder Herder, begegnet die Zielvorstellung einer Entwicklung eigener Anlagen häufig: »[D]ein innerstes Bedürfnis erzeugt und nährt den Wunsch, die Anlagen, die in dir zum Guten und Schönen ruhen mögen, sie seien körperlich oder geistig, immer mehr zu entwickeln und auszubilden« (Wilhelm Meister, Goethe 1795: 276).
Und schließlich waren solche Gedanken, wenngleich politisch zugespitzter, auch in der radikaleren Literatur der französischen Aufklärung anzutreffen, die Marx schon als Jüngling mit seinem späteren Schwiegervater besprach (so., IV.1). Es lohnt sich, das Marxsche Werk unter der Fragestellung neu zu durchforsten, welche Spuren das hinterlassen hat.
Individuum und Gemeinschaft beim jungen Marx Blicken wir auf seinen Abituraufsatz im Deutschen von 1835, der für diese Frage erstaunlich gehaltvoll ist. Dass es dort auch Erwünschtheitseffekte gegenüber dem Lehrpersonal gibt, spricht keineswegs gegen, sondern eher für die These, dass Marx den Bildungsperfektionismus als selbstverständlich aufsog: »Auch dem Menschen gab die Gottheit ein allgemeines Ziel, die Menschheit und sich zu veredeln« (MEW Ergänzungsband 1: 591). Bemerkenswert daran ist die direkte Nebenordnung von »Menschheit und sich«: Die Kunst besteht darin, weder das Individuelle für die Gesamtheit aufzuopfern, noch den Egoismus gegen die Gemeinschaft zu stellen, sondern einen Weg zu finden, der beides verbindet. Nur müsse der Einzelne
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selbst herausfinden, wie ihm dies am besten gelinge. Der abstrakte Entwicklungsgedanke lässt offen, welche Anlagen zu entwickeln seien – die je individuellen (bestimmte Talente) oder die allgemein menschlichen (etwa die Tugenden). Er ist jedoch zugleich die Lösung dafür: in der idealen Verlängerung nämlich treffen sich beide – was, so ist hinzuzufügen, nicht der Fall ist, wenn der oder die Einzelne seine Entwicklung versäumt: »Die Hauptlenkerin aber ... ist das Wohl der Menschheit, unsere eigene Vollendung. Man wähne nicht, diese beiden Interessen könnten sich feindlich bekämpfen, das eine müsse das andere vernichten, sondern die Natur des Menschen ist so eingerichtet, dass er seine Vervollkommnung nur erreichen kann, wenn er für die Vollendung, für das Wohl seiner Mitwelt wirkt« (MEW EB 1: 595).
In einer proto-dialektischen Konstruktion werden die eigene »Vollendung« und das Wohl der Mitwelt aneinander gekoppelt (wie noch bei Dewey). Ein Hauptproblem der modernen politischen Philosophie, wie individuelle und allgemeine Interessen miteinander zu versöhnen sind, ist hier mit einer sozialen Anthropologie beantwortet: man kann das eine nicht ohne das andere erreichen. Allerdings muss man wirklich an der eigenen Verbesserung arbeiten und sich nicht lediglich den eigenen »Präferenzen« anheimgeben, die einmal hierin, einmal dorthin ziehen können. Diese Antwort unterscheidet sich sowohl von der liberalen Denkart eines Mandeville oder Smith, für die beim Nachgehen der eigenen Neigungen eine Verbindung mit dem Gemeinwohl vom Individuum bei Strafe der Schädigung des Gemeinwohls gerade nicht intendiert werden darf,3 als auch vom Republikanismus eines Rousseau, für die nur eine völlige Aufgabe des Individuums an die Gemeinschaft (»l’aliénation totale«) die Interessen versöhnen kann: für Rousseau würde jede Reserve zu einer Fraktion, einer Degradierung des Gemeinwillens zum bloßen »Gesamtwillen« führen. Dieser frühe Aufsatz stellt noch kein ausgefeiltes Dokument einer eigenen Philosophie dar. Er dokumentiert vielmehr eine Weltsicht, die in gebildeten und liberal gestimmten Kreisen recht verbreitet war. Dass die Schrift Wilhelm von Humboldts (1792), die noch heute von Perfektionisten zitiert wird, erst 1851 veröffentlicht wurde, kann dies nur bestätigen: Marx konnte sie noch nicht kennen, und berührt sich trotzdem in vielem mit ihr. Wir haben es mit einem europäischen Bildungsgut zu tun, das
—————— 3 »By pursuing his own interest he [der Kaufmann] frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it. I have never known much good done by those who affected to trade for the public good« (Smith 1776: 485; dazu Henning 2011d).
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diese Bildung selbst thematisiert (Buck 1984, Bollenbeck 1994). Vielleicht werden aus diesem Grunde topoi genannt, die auch in der heutigen Diskussion wieder auftauchen. Eine Stelle verdichtet diese normativen Gehalte prägnant. Es ist zunächst die Rede davon, dass jeder Einzelne durch eine Selbsterkenntnis sich Rechenschaft über seine Anlagen abzulegen habe, denn: »wenn wir einen Stand gewählt, zu dem wir nicht die Talente besitzen, so vermögen wir ihn niemals würdig auszufüllen ... . Die natürliche Folge ist dann Selbstverachtung« (Marx, MEW Ergänzungsband 1: 593).
Es gibt in den Anlagen individuelle Differenzen, aber darin steckt die Forderung, Ämter nur nach Fähigkeit und nicht nach Klassenlage zu vergeben (»jeder nach seinen Fähigkeiten«, MEW 19: 22; ähnlich bereits Kant, IV.1). Ist nun beides erfüllt, so gibt der junge Karl folgenden Ratschlag: »gestatten unsere Lebensverhältnisse, einen beliebigen Stand zu wählen, so mögen wir den ergreifen, der uns die größte Würde gewährt, der auf Ideen gegründet ist, von deren Wahrheit wir durchaus überzeugt sind, der das größte Feld darbietet, um für die Menschheit zu wirken und uns selbst dem allgemeinen Ziele zu nähern ..., der Vollkommenheit« (MEW EB 1: 593).
Die individuelle Freiheit wird im freien Zugang zu allen Ämtern (siehe Rawls 1975: 81) sowie in der Gründung auf »Ideen« und damit auf vernünftige Selbstbestimmung angesprochen.4 Zudem bekommt das Individuum in dem Ziel der »Würde« einen hohen Wert zugesprochen: es soll nicht einfach irgendetwas tun und darf sich nicht verachten müssen, sondern jeder soll »selbstständig schaffen« können (593) und sich darin, so kann man herauslesen, auch selbst genießen und achten dürfen.5 Diese Konzeption ist von hoher Liberalität, doch es steckt auch eine »Präsumption der Gleichheit« (Gosepath 2007: 2.4) darin, dass ungeachtet eines formalrechtlich freien Zugangs zu den Ämtern auch die »Lebensverhältnisse« daran hindern können – und wie zu ergänzen ist: nicht sollen –, ein solches Amt auszuüben. Das ist der egalitäre Zug des Perfektionismus, der besonders relevant wird, wenn die üblichen Begründungen sozialer Gleichheit in die Defensive geraten. Drittens muss die Tätigkeit eine sein, die in einem mehr als nur subjektivistischen Sinne »gut« ist. Denn zum einen wird die Kantische »Würde« wenig später daran gekoppelt, dass die Tätigkeit »nicht verwerfliche Taten erheischt« (593). Zum anderen ist das Ziel vorgegeben, dass die Tätigkeit
—————— 4 Sher spricht mit Kant von Autonomie als »responsiveness to reason« (1997: 48). 5 Ähnlich Rawls 1975: 479ff.; Elster 1988 sowie bereits Leibniz und Wolff (s.u., IV.1).
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sowohl »für die Menschheit wirken« und insofern im konsequentialistischen Sinn gut sein soll, als auch – und zwar darüber vermittelt – die charakterlichen Fähigkeiten und Eigenschaften des Akteurs »veredeln« soll. Das hat eine Spitze sowohl gegenüber hedonistisch-konsumistischen Lebensformen wie gegenüber destruktiven Auswüchsen des globalen Kapitalismus, der Lebenszusammenhänge zerstört, Menschen entwurzelt und gewachsene Kulturen erodiert. Der Versuchung, diese Vision gegen das eigene Leben von Marx zu halten, wollen wir nicht erliegen – Marx hat sich durch seinen »Beruf« immerhin zum Juristen, Journalisten und Historiker; zum Politiker, Ökonomen sowie halbwegs als Mathematiker ausgebildet, immer in dem Glauben, damit der Menschheit, zumindest deren unterdrückter Mehrheit, zu dienen. Vielmehr wollen wir in der Folge sehen, in welcher Weise sich diese Ausgangsidee im späteren Werk wiederfindet und sich mit den eigentlich Marxschen Entdeckungen verbindet. Das Thema des Selbst macht in den Marxschen Schriften eine Entwicklung durch. In den ersten Schriften, die Marx publiziert, spielt die Vorstellung eines allgemeinen Wesens des Menschen (»die Menschheit«) noch die größere Rolle.6 Insbesondere die Lektüre Feuerbachs mag Marx darin bestärkt haben, dass »der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei« (MEW 1: 385). Wie Feuerbach verstand Marx den Abschied von der Geistesphilosophie Hegels als Hinwendung zur Natur.7 Von dieser äußeren Natur bleiben die Menschen abhängig; sie sind auch angesichts der entwickelten Technik noch »Mängelwesen«, wie sich bei Katastrophen zeigt. Gegenüber Naturphilosophien wandte Marx aber ein, dass der jeweilige Naturbezug sich durch das Denken nicht »feststellen« lässt.8 Weisen des Umgang mit ihr sind nur empirisch zu erfassen (MEW 3: 25). »Der Mensch« wird damit, das ist gegen spätere Marxkritiker wie Nikolai Berdjajew oder Karl Löwith hervorzuheben, keineswegs zu einem neuen Gott erklärt, weil es diesen Gott als Gott, als fernes Überwesen, für die Junghegelianer gar nicht gibt. Vielmehr werden die Beschreibungen über diesen Gott als unerkannte verlängerte Selbstbeschreibungen der Menschen dechiffriert: »Gott« als Liebe, als Güte, als Weisheit etc. beschreibt,
—————— 6 Das mag daran gelegen haben, dass der Individualismus für den jungen Marx von der privatwirtschaftlichen Ethik des Kapitalismus besetzt war (siehe etwa MEW 1: 364). 7 »Die ganze Logik [Hegels] ist also der Beweis, dass das abstrakte Denken für sich nichts ist, … dass erst die Natur etwas ist« (MEW 40: 585, verfasst 1844). 8 »Aber auch die Natur, abstrakt genommen, für sich, in der Trennung vom Menschen fixiert, ist für den Menschen nichts« (MEW 40: 587).
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wie Menschen selbst sein möchten, aber nicht immer können.9 Sie schreiben nicht nur Gott diese Prädikate zu, sondern dieser Gott verlangt sie umgekehrt wieder von ihnen (»Liebe deinen Nächsten«). Diese Beschreibungen werden umso stärker gemacht, als sie nicht mehr den Umweg über eine Überwelt nehmen müssen und sich nicht mehr dort festrennen können. Allerdings besteht zwischen den Einzelnen und der Idee »Gattung« eine Spannung, die Feuerbach so ausdrückt, »dass die Vorstellung des Menschen von Gott nichts anderes ist als eine Vorstellung des menschlichen Individuums von seiner Gattung, dass Gott als der Inbegriff aller Realitäten oder Vollkommenheiten nichts anderes ist als der ... kompendiarisch zusammengestellte Inbegriff der unter die Menschen verteilten ... Eigenschaften der Gattung ... – was nicht der einzelne Mensch weiß oder kann, dass können die Menschen zusammen« (Feuerbach 1843: 208, § 12).
Soweit konnte der junge Marx Feuerbach folgen, der hier seinerseits an Schiller anschließt. Die Frage war nun, wie man zu dieser gedachten »Versöhnung« von Individuum und Gattung praktisch sollte kommen können. Marx hinterfragt noch nicht, was diesen Vorstellungen für eine Wirklichkeit zuzuschreiben ist (wie er es dann in der Deutschen Ideologie tat, die solche Vorstellungen historisierte und als Illusionen wertete),10 sondern übernahm diese Vorstellungen noch »at face value« als Beschreibungen eines unverwirklichten »Wesens«. War die Verwirklichung des Wesens für Feuerbach vorwiegend eine »sinnliche« Frage, eine individuelle Höherbewertung der sinnlichen Vermögen, so sah Marx darin primär ein praktisch-politisches Problem (siehe These 8 in MEW 3: 7). Wenn Menschen sich zusammentun müssen, um ihre Möglichkeiten voll auszuschöpfen, wie Feuerbach und schon Aristoteles vorgaben, so sind mögliche Hindernisse einer gelingenden Vergemeinschaftung zugleich als Hindernisse einer vollen Entwicklung der Individuen zu deuten. Es ist also nicht die Verwirklichung etwaiger normativer »Begriffe« wie Freiheit, Gleichheit o.ä. (die für Marx immer schon Derivate gelingenden Lebens sind), es ist vielmehr die Idee eines möglichst weitgehenden Auslebens des Menschlichen in gelingender Gemeinschaft, die die Kritik am Kapitalismus in dieser frühen Phase des Marxschen Werkes motiviert. Eine Vorstellung davon hat, darin können wir Walter Benjamins »profaner Erleuchtung«
—————— 9 »Die göttliche Dreieinigkeit im Menschen über dem individuellen Menschen ist die Einheit von Vernunft, Liebe, Wille« (Feuerbach 1841: 17). 10 »Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät« (MEW 3: 38; vgl. 3: 38, MEW 1: 378, 408).
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folgen, eine jede aus den eigenen Glücksmomenten, und seien es auch wenige, oder zumindest aus der gesellschaftlichen Phantasie, etwa im Roman oder Film.11 Diese Idee eines »attainable self« (Cavell) muss keineswegs transzendental oder metaphysisch begründet werden, sie kann sich auf den common sense, den realen Erfahrungsraum der Menschen stützen. Der ist zwar fallibel (und historisch wandelbar), aber das gilt für philosophische Konstruktionen mindestens im selben Ausmaß. Die perfektionistische Folie, vor der Marx den modernen Kapitalismus kritisiert, hat also zwei Seiten: einerseits die Idee eines erfülltes Lebens der Individuen, die durch selbstbestimmte Tätigkeit ihre Anlagen verwirklichen und so zur Fülle des Lebens vorstoßen können; andererseits eine Gemeinschaft, in der diese Selbstverwirklichung nicht nur wenigen privilegierten, sondern allen Menschen möglich wird, sie also nicht gegeneinander, sondern miteinander gelebt (und dadurch erst voll ermöglicht) würde. Das kann nicht der Kapitalismus sein, denn dieser beruht auf Ausbeutung, welche einerseits zur Klassenbildung führt, die – eher indirekt – eine gelingende Gemeinschaft untergräbt, und welche andererseits zur direkten Degradierung (Entfremdung) derjenigen führt, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zum beliebigen Gebrauch zu verkaufen. Im zweipoligen Ideal des jungen Marx befinden sich das Individuum und die Idee der Gattung noch einträchtig und konfliktfrei nebeneinander. Positiv gewendet formuliert Marx 1844 das Ziel, auch in der Wirtschaft einander »als Menschen« zu begegnen. In dieser Vision sozial und individuell gelingenden Wirtschaftens werden der konkrete Andere, die Gattung als dessen Universalisierung sowie das eigene Selbst als »verwirklicht« vorgestellt. Wichtig daran ist, dass die Idee der Gattung das Individuum keineswegs erschlägt. Ich möchte zur Erläuterung einen Absatz kommentieren: »Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert: ... Ich hätte 1. in meiner Produktion meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit vergegenständlicht und daher ... die individuelle Freude [genossen], meine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare ... zu wissen« (MEW EB I: 462; die folgenden Zitate von hier).
Hier ist zunächst von einem Selbstverhältnis die Rede, welches über eine technisch-praktische Betätigung zu einem gelingenden wird: der Einzelne findet sich über die Ergebnisse seiner Tätigkeit (seiner Weltgestaltung) in der Welt wieder und erlangt daher zu einer Identität, einem Halt in der Welt. Man kann an Banalitäten wie den Schrebergarten oder die sonntägli-
—————— 11 Marx bezog sich etwa auf Balzac (MEW 8: 207; 23: 615; 25: 48; vgl. MEW 2: 65ff.).
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che Autowäsche denken. Als »gegenständliches Wesen« kommt der Mensch nur über ein Verhältnis zu einer handgreiflichen Außenwelt zu einem Selbstverhältnis (MEW 40: 577, 540) – dieses Hegelsche Motiv hallt noch in der »exzentrischen Positionalität« nach (Plessner 1928: 288ff.).12 Wie Heidegger nutzt Marx überschaubare Mensch-Ding-Relationen in Kunst und Handwerk als Kritikfolie der opaken Industrialisierung, die menschliche Verhältnisse verdinglichen kann (Petersen 1997: 46f.). Solche Tätigkeiten sind auch in Absonderung von den anderen möglich. Gleichwohl bleiben sie sinnhaft eingebunden in Sozialität (MEW 3: 74; 13: 616): »2. In deinem Genuss oder deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuss sowohl des Bewusstseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht ... zu haben«;
Hier ist von einer Sinndimension die Rede: was Marx oben »Selbstverachtung« nennt, hervorgerufen durch eine unpassende und unfreie Tätigkeit, wird in der positiven Folie als Befriedigung eines »menschlichen« Bedürfnisses vorgestellt (Henning 2013b). Ich bin mir meiner in meiner Tätigkeit gewiss, da sie für andere einen Sinn macht. Das ist beim Autowaschen nicht unbedingt der Fall, wohl aber bei einer Krankenpflege. Das Verhältnis zur »Gattung« beim Handeln ist vermittelt über geteilten Sinn. [Sowie] »3. für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein ..., also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen«;
Durch gelingende Interaktionen bin ich nicht nur mit dem gesellschaftlich geteilten Sinn, sondern auch mit den konkreten Anderen versöhnt. Und diese Vermittlung ist unmittelbar praktisch: (4.) als auch »in meiner individuellen Tätigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben«.
Damit werden die vorigen Dimensionen: das Verhältnis zur gegenständlichen Welt, zum konkreten Anderen sowie zur Allgemeinheit, als Bestandteile eines gelingenden Selbstverhältnisses integriert. Gelingende Identität ist praktisch vermittelt, und diese Praxis ist auf sinnvolle Tätigkeiten und gelingende Interaktionen angewiesen. Interessant ist, dass die Beziehung zu sich selbst über Gegenstände vermittelt wird (»in meiner Produktion meine Individualität«), während die Beziehung zum Gattungswesen über den anderen trianguliert ist (»in deinem Genuss … ein menschliches Bedürf-
—————— 12 Menschen fehle im Gegensatz zum Tier der feste »Wirkungskreis« (MEW EB 1: 591).
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nis«). Das ist ein praktisch gewendeter und sozial über die bloße Dialogizität hinausgehender Feuerbach. An diesem Ideal wird die schlechte Wirklichkeit gemessen: Religion etwa ist als Platzhalter so lange vonnöten, wie »das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt« (MEW 1: 378), die Menschen also individuell unter ihren Möglichkeiten und sozial gegeneinander leben müssen. Marx kritisiert deswegen sogar das von Liberalen so geschätzte »Menschenrecht des Privateigentums«: In ihm erscheine »das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbstständigkeit« (MEW 1: 366). »Jene individuelle Freiheit ... lässt jeden Mensch im anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden« (365).
Was anarchistisch anmuten könnte – Marx äußert Sympathien für die politische Form der USA, mit schmalem Staat und großen Freiheiten (352), und Engels zitiert zu dieser Zeit, gegen 1844, mehrfach William Godwin – ist keineswegs als Absage an die Gesellschaft zu lesen, sondern als Aufforderung, sie in partizipativerer Weise einzurichten. Es geht darum, die Gemeinschaft als Ermöglichung der Freiheit einzurichten. Folgen wir dem normativen Kanon des Jugendaufsatzes von 1835, dann hieße das: so, dass jedem alle Tätigkeiten (und darüber sowohl soziale Anerkennung wie individuelle Erfüllung) offenstehen; dass materielle Ungleichheiten dafür keine Rolle mehr spielen und es zu einem freien Füreinander der Menschen kommen kann. Dieser Gedanke wurde fünfzig Jahre später im »New Liberalism« eines Leonard Hobhouse ähnlich vertreten (1911; s.o, IV.2). Die menschlichen Anlagen, von denen dabei die Rede ist, müssen nicht metaphysisch verrätselt werden. Ich möchte darunter im Sinne Feuerbachs den Reichtum historisch entwickelter menschlicher Lebensformen verstehen (Modi des Zusammenlebens wie Möglichkeiten individueller Exzellenz), die sich Zeitgenossen oder späteren Betrachtern als wertvoll darstellen. Marx greift dafür häufig auf Beispiele der Ästhetik zurück, die er dialektisch als Modi sozialer Praxis deutet, die für die individuelle Entwicklung zentral sind. So wird die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten etwa in Termini der Musik und des Kunstgenusses ausbuchstabiert. »Wie erst die Musik den musikalischen Sinn des Menschen erweckt, wie für das unmusikalische Ohr die schönste Musik keinen Sinn hat, ... darum sind die Sinne des gesellschaftlichen Menschen andre Sinne wie die des ungesellschaftlichen; erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr,
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ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, werden erst menschlicher Genüsse fähige Sinne, Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen« (MEW EB 1: 541).
Musik hängt metaphorologisch eng mit der menschlichen Perfektion zusammen. Schon bei Leibniz läuft eine Assoziationskette über die Ordnung, die durch Entwicklung verwirklicht und in der Musik greifbar wird.13 Musik verdeutlicht die Grundidee besonders gut, und so wurde sie von der Romantik als höchste Kunst angesprochen. Geht es um »wirklich freie Arbeit«, dann spricht auch Marx vom Komponieren:14 »Wirklich freies Arbeiten, z. B. Komponieren, ist gerade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung« (MEW 42: 512; vgl. MEW EB 1: 567). Marx gibt allerdings zu bedenken: menschliche »Exzellenzen« wie diejenige Raffaels haben sich bisher eher zufällig ergeben, nämlich dann, wenn der richtige Mensch mit den richtigen Ressourcen ausgestattet war und die nötigen Freiheiten hatte – was selten genug der Fall war. Gleichzeitig waren die Produkte solch glücklicher Kombinationen nur einer schmalen Elite zugänglich. »Verwirklichung des menschlichen Wesens« bedeutet daher im Sinne der Aufklärung (siehe IV.1), dass jedem eine angemessene Ausbildung und Betätigung möglich ist. Denn: »Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein« (567). Es geht um eine egalitäre Ausbildung und Aneignung nicht primär des monetären, sondern vor allem des menschlichen oder »wahren Reichtums« menschlichen Lebens (so noch im Kapital, MEW 23: 167). Diese Vorstellung des ›objektiv‹ guten Lebens ist nicht tugendethisch verkürzt, sondern sie enthält die lebensbejahende Züge des Aristoteles, etwa in der Betonung einer kultivierten Muße, die mit Anderen geteilt wird. Nun könnten verschiedene politische Richtungen diese normative Forderung unterschreiben. Das Konzept überdeckt damit mögliche interne Spannungen. Wie verhalten sich individuelle Entwicklung und soziale Struktur genau zueinander? Und welche Maßnahmen wären zu ergreifen, um dem Ziel näherzukommen? Sehen wir uns dafür spätere Werke an.
—————— 13 Leibniz: »Von der Glückseligkeit«, in Leibniz/Leinkauf 1996: 271 f. Musik als Bild der Ordnung zeigt Vollkommenheit an. Auch Rousseau war zugleich Musiktheoretiker. 14 Man bedenke auch die Wendung: »man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!« (MEW 1: 381).
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Individualismus beim späteren Marx Beim reifen Marx wird der individuelle Pol signifikant höher bewertet als Vorstellungen eines »Wesen des Menschen«, und es gibt eine ökonomische Konkretisierung in der Beschreibung der Hindernisse gelingender Verhältnisse. Diese sozialtheoretische Kleinarbeit kostete Marx viel Zeit. Ein Zitat von 1848 macht die Verschiebung gegenüber der essentialistischen Frühphase deutlich: Marx fordert nun als postkapitalistisches Gesellschaftsmodell »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MEW 4: 482). Die Semantik hat sich hier verschoben von einer Verwirklichung allgemeiner Gattungseigenschaften, an der der Einzelne Anteil haben soll, zu einer individuellen »Selbstverwirklichung« (MEW 42: 512), die nur insofern allgemein ist, als sie allen freisteht, ja die sogar als »Bedingung« für die gesellschaftliche Veränderung auftritt. Ausschlaggebend für diese Verschiebung dürfte das Erscheinen eines Buches gewesen sein, das Marx stark beschäftigt hat: Der Einzige und sein Eigentum von Max Stirner (1844). Dieses Buch warf den Junghegelianern inklusive Marx vor, dass sie die religiöse Entfremdung noch nicht überwunden hätten, da die Gattungs-Verwirklichungs-Zumutungen, die hier als Weg der Befreiung entgegengehalten würden, dem Individuum noch immer fremd und damit als potentieller Herrschaftsfaktor gegenüberständen. In der Tat hatte der junge Marx gefordert: »Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben ... Gattungswesen geworden ist ..., erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht« (MEW 1: 370).
Obzwar Marx Stirner mit einer beißenden Polemik überzieht, ist nicht zu übersehen, dass er Stirners Einrede ernst nahm und dem Individuum fortan einen höheren normativen Rang zuschrieb.15 So heißt es in einer Zukunftsvision von 1846: »während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden« (MEW 3: 33).
—————— 15 Dazu etwa Fetscher 2008, Basso 2008 und Henning/Thomä 2009.
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Im Vordergrund dieser Vision stehen die Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen. Die menschliche Natur soll sich nicht nur gesellschaftlich entwickeln, indem Aufgaben arbeitsteilig aufgeteilt werden – das wäre ein Exzellenzkollektivismus, wie ihn schon Platons Politeia kennt. Vielmehr soll auch jeder Einzelne verschiedene Facetten in sich verwirklichen. Es bedeutet, dass ein jeder die Möglichkeit haben soll, sich den menschlichen Reichtum anzueignen; also die Talente in sich auszubilden, die er ausbilden möchte: »In diesen Arbeiten aber soll ... nicht ... jeder an Raffaels Statt arbeiten, sondern Jeder, in dem ein Raffael steckt, sich ungehindert ausbilden können« (MEW 3: 377). Es gibt keine Vorsortierung der Menschen nach Besitz oder Würdigkeit, Bürger, Bauer, Anführer oder Künstler zu sein; jeder soll freien Zugang zu allen Lebensformen bekommen. Jede soll vieles tun können, wenn sie es wolle (»wie ich gerade Lust habe«). Ein liberal-egalitäres Element ist unabweisbar. Nun ist die Frage, ob Menschen, die sich ihrer eigenen Entwicklung verweigern, dazu notfalls gezwungen werden dürften (Priddat 2006). Die zitierte Stelle, die gegen eine nur einseitige Festlegung gerichtet ist, scheint dies auszuschließen: Wenn ich nicht dazu gezwungen werden kann, den ganzen Tag Fischer zu sein, wie soll ich dann dazu gezwungen werden, überhaupt zu fischen? Und was für das Fischen gilt, gilt für jede einzelne Tätigkeit – also für alle Tätigkeiten. Allerdings haben historische Visionen dieses Gedankens, etwa die Idee des Phalanstère im Sinne Fouriers, die eine allseitige Entwicklung schon angedacht hatten, dem selbstorganisierten Müßiggang wenig Platz eingeräumt. Ich bin zwar innerhalb der Phalanstère frei zu arbeiten, wo ich will, aber habe ich auch eine Freiheit, gar nicht zu arbeiten? Die Frage nach der Freiheit von Arbeit kann auch gestellt werden als Frage nach dem Status von Muße und der Begriffsbestimmung von Arbeit. Wie ein berühmtes Kinderbuch beispielhaft zeigt, kann Reichtum auch dadurch gemehrt werden, dass man den ganzen Sommer über in der Sonne sitzt und träumt. Die Maus Frederick, die dies tut und von ihren Mäusekollegen darob getadelt wird, erweist sich im langen kalten Winter im Mauseloch als Dichter, der die anderen Mäuse mit seinen Sommergeschichten ›bereichert‹. Wirklich ›nichts‹ zu tun dürfte nahezu unmöglich sein. Was man damit sagen will ist ja, dass man nichts produktives tut. Solch ein Urteil des »Müßiggangs« setzt jedoch immer schon eine soziale Vorfestlegung voraus, welche Tätigkeit ›nützlich‹ sei und welche nicht. Es besteht für Marx wenig Grund, diese Festlegung ausgerechnet dem Markt zu überlassen, da dieser nicht der Bedürfniserfüllung, sondern eher der Profitmaximierung dient. Durch
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diese Umbestimmung braucht es neben der freien Wahl einer Tätigkeit nicht noch eine Freiheit zur Verweigerung jeglicher Tätigkeit.16 Hier kommt der mehrfach berührte »wirkliche Reichtum« ins Spiel.17 Im sozialen Sinne »notwendig« sind viele Arbeiten vor allem für die Erwirtschaftung eines Profites. Dieser ›Zwang‹ zur Arbeit hängt von einer kapitalistischen Logik ab, die für Marx keineswegs naturgegeben ist. Profit ist monetärer Gewinn, der von Einzelnen in Absonderung von der Gemeinschaft angeeignet wird, obwohl der Produktionsprozess insgesamt kooperativ ist. Dieses Verständnis von Reichtum ist für Marx das Problem. Es taugt in seiner Logik daher nicht dazu, Menschen zu einer Arbeit zu zwingen, von der sie und die Gemeinschaft nur wenig haben. Marx würde keinen Zwang zur Arbeit auf Grundlage des Profitmotivs akzeptieren. Er ist darin liberaler als der real existierende Liberalismus. Das hat Auswirkungen auf heutige Debatten zum Gegenleistungsprinzip (»reciprocity«).18 Ein Mensch, der die meiste Zeit des Tages in seiner Kammer bastelt, kann als »unproduktiv« für die Gesellschaft erscheinen und irgendwann doch einen großen Nutzen für alle stiften, etwa mit einer grandiosen Erfindung oder einem Roman. Die Ungenauigkeit praktischer Philosophie macht sich hier schlagend bemerkbar – doch dieses Problem hat auch die ökonomische Wohlfahrtstheorie. Menschlicher Reichtum ist unschätzbar; deswegen ist es der Ausbildung der Fähigkeiten dienlich, das Freiheitshindernis einer ökonomischen Berechnung menschlicher Tätigkeiten so weit wie möglich abzubauen. (Warum etwa müssen Spanier nun auf ihre Siesta verzichten?) Aber was tun im Falle »echter« ökonomischer Knappheit, eines manifesten Mangels nicht an profitabler Kapitalverwertung, sondern an Gebrauchswerten? Kann eine Gemeinschaft, die materielle Not leidet, von ihren Mitgliedern nicht erwarten, dass diese sich in einer bestimmten Weise einbringen, und dies notfalls auch sanktionieren? In der Regel kann sie dies, vorausgesetzt, die Notlage ist echt und betrifft alle oder besonders schutzlose Mitglieder. Aber wenn dies so ist, könnte man fordern, dass eine Gemeinschaft das auch als solche entscheiden müsste – alle, nicht nur Angehörige einer privilegierten Oberschicht, bestimmen über die Verwendung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Hat der Einzelne in der Wirt-
—————— 16 Daher war Marx erbost über das Buch seines Schwiegersohns Lafargue (1880). Figuren wie Gontscharows Oblomov oder Melvilles Bartleby hätte er wohl ebensowenig gemocht. 17 Siehe MEW 42: 160, 601; MEW 23: 166 sowie Schor 2011. 18 So führt ein am Markt abgelesener Begriff von Produktivität White (2003: 62 f.) gegen seine Intuitionen zur Rechtfertigung von »workfare« (133); anders Maskivker 2012.
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schaft ein Mitspracherecht, wäre der Zwang zumindest kein Herrschaftszwang mehr, sondern der erträglichere Zwang eines demokratischen Entscheides, wie er in der Politik die Regel ist, ohne dass dies als anti-liberal gelten würde. Freiheitlich im Sinne der Selbstbestimmung ist es, wenn Entscheidungen von den Menschen selbst getroffen werden und nicht an systemische Imperative des Marktes abgetreten werden. Das hat weniger mit Allmachtsphantasien als mit Konsistenz zu tun. Marx ging es um den Abbau von Hindernissen der Freiheit zur menschlichen Entwicklung. Darum hat er das Ausmalen künftiger Organisationsweisen gering geschätzt: Es wäre Sache der Menschen selbst, ihre Angelegenheiten »rationell« zu regeln (MEW 25: 828), nicht Sache philosophischer Vordenker. Hierin ist er Hayek trotz sonstiger Differenzen merklich ähnlich.19 So ist es auch zu verstehen, wenn Engels intoniert: »Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein« (MEW 22: 240). Perfektionierung lässt sich nur denken, wenn man sie selbst praktiziert, man kann sie nicht vorschreiben oder sich dabei vertreten lassen. Das ist liberal gedacht, im Vordergrund steht wie schon bei Leibniz die unbehinderte menschliche Tätigkeit. Der Unterschied zum Liberalismus sans phrase ist, dass diese Freiheit nicht in Absonderung (lat. privare) von den anderen gedacht wird, sondern in Abstimmung mit ihnen. So führt die Idee der freien Entwicklung noch einmal zum Egalitarismus. Damit liegt nicht nur eine eigenwillige Formulierung liberaler Gedanken vor, sondern auch eine alternative Begründung, nach der wir oben gesucht hatten (II.1). Ein Perfektionismus, der eine eigene Rechtfertigung liberaler Prinzipien formuliert, kann also dazu beitragen, den alten Widerstreit der Freiheit mit der Gleichheit zu versöhnen.
Naturphilosophische Grundlagen der Individualität Bislang haben wir gesehen, dass der Individualismus bei Marx überraschend stark ist, jedoch mit einer Gesellschaftstheorie vermittelt wird (wie etwa bei Condorcet oder ansatzweise bei Sher). Gibt es eine ähnliche Vermittlung des Individuellen auch hinsichtlich der Natur? Eine Schneide in das große Thema der Natur bei Marx vermag ein kleiner Umweg zu bahnen: Dewey, der darum bemüht war, den garstig breiten Graben zwischen
—————— 19 »Zweck der Freiheit ist, die Möglichkeit von Entwicklungen zu schaffen, die wir nicht voraussagen können« (Hayek 1961: 104).
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Natur und Kultur zu schließen, lässt eine erstaunliche Verbindung zu einem gemeinsamen Vorgänger-Philosophen erkennen, was das nähere Verständnis von Natur betrifft: nämlich zu Schelling. Wir sahen bei Dewey, dass er eine erste Natur des Menschen in Anspruch nimmt (wenn auch nur als Grenzbegriff, als Erfahrung in »existentiellen Prüfungen«, Boltanski 2010: 160f.), die sich als Impuls dann melden kann, wenn die zweite – zur festen Gesellschaftlichkeit erstarrte Habitusformen – zur Fessel geworden ist. Diese Dimension gibt es auch bei Marx (Archibald 1989, Teil 3), denn schon logisch ist eine ›zweite Natur‹ nur im Rahmen einer ›ersten‹ möglich: »Auf den Menschen angewandt, ... handelt es sich erst um die menschliche Natur im allgemeinen und dann um die in jeder Epoche historisch modifizierte Menschennatur« (MEW 23: 637, Fn. 63).
Diese rückerschlossene erste Natur lässt viele, jedoch nicht unbegrenzt viele Möglichkeiten zu. Manche Arbeitsweise etwa schränkt die Fähigkeiten der Arbeitenden stark ein, indem sie sie auf lange und stupide Arbeiten ohne Freizeit festlegen.20 Bei Dewey gibt es allerdings noch eine zweite Erfahrungsebene, in der diese Natur begegnet: die Kunst. Das gilt nicht nur für ihre Rezeption, sondern vor allem für das künstlerische Schaffen: »In creative production, the external and physical world … is subject-matter and sustainer of conscious activity; and thereby exhibits … the fact that consciousness is … the manifest quality of existence when nature is most free and most active« (Dewey 1925: 393).
Im künstlerischen Schaffen durchdringen sich Geist und Natur, wodurch deutlich wird, dass zwischen ihnen kein Gegensatz herrscht. Eine ähnliche Stelle, in der Natur und Freiheit sich im Prozess des ästhetischen Schaffens vereinigen, gibt es bereits beim jungen Schelling. Er spricht von einer Vereinigung zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen »Intelligenz« und Natur (»Synthesis von Natur und Freiheit«, 1800: 687) in der Kreativität: »Da die [ästhetische, CH] Produktion ausgegangen war von Freiheit … so wird die Intelligenz jene absolute Vereinigung beider, in welcher die Produktion endet, nicht der Freiheit zuschreiben können; … sie wird sich durch jene Vereinigung selbst überrascht und beglückt fühlen, d.h. sie gleichsam als freiwillige Gunst einer höheren Natur ansehen« (Schelling 1800: 683).
Das Naturelement in der Kunst verortet Schelling in einer ähnlich tiefsitzenden Erfahrungsebene wie Dewey seine existentiellen Impulse:
—————— 20 MEW 40: 524; MEW 2, 225ff.; MEW 3, 60; MEW 23, 528ff.; siehe Henning 2009e.
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»Dass alle ästhetische Produktion auf einem Gegensatz von Thätigkeiten beruhe, lässt sich schon aus der Aussage aller Künstler, dass sie zur Hervorbringungen ihrer Werke unwillkürlich getrieben werden, dass sie durch Produktion derselben nur einen unwiderstehlichen Trieb ihrer Natur befriedigen, mit Recht schließen« (Schelling 1800: 684).21
Eine solche Parallele zu Schellings Naturphilosophie (die wie bei Hans Jonas nicht nur Naturphilosophie, sondern zugleich Philosophie der Freiheit ist) gibt es nun auch bei Marx, dessen Nähe zur Ästhetik wir bereits bemerkt hatten. Marx tut genau das, was Boltanski (2010: 222) von einer solchen Dimension erwartet: er formuliert eine »radikale Kritik«, im Unterschied zu einer bloß reformistischen, die sich auf »immanente« kulturelle Bestände verlassen will. Dass die menschliche Natur in die Kultur hineinreicht, ermöglicht es der Kritik, die jeweilige Kultur zu kritisieren. In dieser Dimension berührt sich Marx mit Denkern wie Condorcet, Otto Gross oder Steven Wall. Sie lässt sich jedoch nur dann nachweisen, wenn man Marx nicht in überkommenen Schablonen liest; etwa der des Sozialkonstruktivismus. Das lässt sich an einem gewöhnlich sozialkonstruktivistisch gelesenen Theorem von Marx verdeutlichen – dem der »Charaktermaske«. Die Rede von der »Charaktermaske« dient zuweilen als Beleg für die interpretative These, Marx habe in der Deutschen Ideologie nicht nur mit der philosophischen Ausdrucksweise, sondern auch mit früheren Inhalten gebrochen. Die Charaktermaske bezeichnet, kurz gesagt, die ökonomische Funktion, die der Einzelne im Kapitalismus ausübt – und ausüben muss. Es handelt sich um eine »Wirkung des gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist« (MEW 23: 618). Marx spricht daher von den »Produktionsagenten« als »Funktionären« (MEW 25: 274) oder »Trägern der verschiednen Funktionen des Produktionsprozesses« (MEW 25: 830). Da der Produktionsprozess aber nicht vom Kapital allein vollzogen wird, gibt es neben der Maske der Kapitalisten auch die der Grundeigentümer, der Arbeiter (MEW 25: 887) sowie der »Käufer und Verkäufer« (MEW 23: 163). Doch wie ist dieser Begriff genau zu verstehen? Der Begriff der »Charaktermaske« enthält bei Marx, gleichsam in Spiegelschrift, ein Positives in sich. Zunächst ist dieser Begriff als eine reflexive Aussage über die Schranken seiner Wissenschaft zu lesen. Doch hängt die methodische Rede von Charaktermasken nicht in der Luft – Marx verankert seine Methode in der Wirklichkeit, wenn auch nicht abbildtheoretisch. Es gibt also ein fundamentum in re der Charaktermaske: Sie legt einen Aspekt
—————— 21 »Kunst kommt nicht von können, sondern von müssen« (Arnold Schönberg 1911: 22).
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der Realität frei, auch wenn dieser nicht der einzige ist. Die Deutungen unterscheiden sich im Verständnis der Träger dieser Masken. Das Marxsche Verständnis unterscheidet sich von dem, das nur noch soziale Konstrukte erkennen mag. Gegen diese restlose und insofern ›flache‹ Lesart, die um das Unausgesprochene bei dieser Metapher kürzt, lässt sich argumentieren. Anders es die zuweilen ausgefeilte theoretische Einordnung dieses Wortes vermuten lässt, klingen einige der Bemerkungen von Marx recht locker. Das Wort verweist auf frühe Religionen und das antike Theater, in der die Schauspieler Masken verwendet haben. In dieser Form verwendet es etwa Jean Paul (Hörisch 1992: 29ff.). Marx hingegen wendet es brieflich auf alles Mögliche an, etwa auf antike Philosophen (MEW 30: 626) oder auf Engels (MEW 32: 9). Das alltägliche Verständnis davon, dass jemand eine Maske anlegt, ist ja, dass dieser jemand nicht mit der Maske identisch ist, sondern sein Antlitz oder seine wahren Ziele versteckt, um etwas anderes darzustellen. In diesem Sinne hat Marx das Wort auch in theoretischen Schriften verwendet: So spricht er im 18. Brumaire davon, dass Bonaparte die Charaktermaske des »Strohmanns« irgendwann wegwarf, weil sie »nicht mehr der leichte Vorhang war, worunter er seine Physiognomie verstecken konnte, sondern die eiserne Maske, die ihn verhinderte, eine eigne Physiognomie zu zeigen« (MEW 8: 149). Doch was bedeutet es, wenn Marx in seinem ökonomischen Hauptwerk auf dieses Bild zurückgreift, um das kapitalistische ›Theater‹ zu beschreiben? Marx folgt hier einer älteren Tradition: So hatte schon Jean-Jacques Rousseau (darin auf Simmel und Goffman vorweisend) kritisiert, dass das moderne Leben die Menschen zu Schauspielern mache.22 Speziell bei Marx ist, dass die Maske Ausdruck nicht einer anderen Person, sondern einer sachlichen (nämlich wirtschaftlichen) Macht ist. Eigentlich haben wir es mit einer Verdinglichung von Menschen zu tun. Doch die gegenläufige »Personifizierung der Sachen« (MEW 25, 838) führt dazu, dass gerade die sachliche Gewalt in Form von Masken darstellbar ist – es handelt sich also um kein statisches Gegenüber von Mensch und Ding; in dieser Metapher verfließen die Grenzen vielmehr, da das ›Ding‹ in diesem Fall selbst ein undurchschautes soziales Verhältnis ist.23
—————— 22 Siehe Rousseaus »Brief an d'Alembert über das Schauspiel« (in 1988: 333-417). Zum Theaterkontext Sennett 1974: Kapitel 6; Konersman 1994: 84ff., 153ff. Conrad 2004 geht leider nicht auf Marx ein. 23 Henning 2012e. Undurchschaut ist für Durkheim und Freud schon die Gemeinschaft, die als »Totem« zur Maske werden kann (was der mimesis ans Ganze dient).
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Marx verwendet die Worte »Charaktermaske« und »Personifizierung« ökonomischer Kategorien äquivok (MEW 23, 99), ja der Begriff »Person« (von lat. personare, hindurchklingen) trägt die Maske etymologisch in sich. Es gibt nun drei Möglichkeiten, die Bedeutung dieses Bildes zu interpretieren, von denen eine unberücksichtigt bleiben darf. Diese Möglichkeit wäre anzunehmen, dass Kapitalisten diese Maske bewusst und intendiert anlegen, um strategisch bestimmte Zwecke zu erreichen (wie es das doppeldeutige Wort der ›Agenten des Kapitals‹ nahelegt, denn Agenten verkleiden sich). Das ist unwahrscheinlich, weil für Marx der Kapitalismus keine Verschwörung Einzelner auf den »Kommandohöhen der Wirtschaft« (Adorno GS 3, 56) ist, sondern vielmehr »als blindes Gesetz den Produktionsagenten sich aufzwingt« (MEW 25, 267). Die Charaktermaske wird den Menschen daher eher »aufgeprägt«, als dass sie sie zu strategischen Zwecken erfänden und freiwillig anlegten. Ausnahmen mag es geben,24 doch die Regel sind sie darum noch nicht. Es bleiben zwei Möglichkeiten übrig. Sie unterscheiden sich in der Auslegung des Wörtchens »nur«, das fast überall mit der Charaktermaske zusammen auftritt (»nur ein Triebrad«, MEW 23, 618; oder: »der Kapitalist ist nur das personifizierte Kapital«, MEW 25, 827). Entweder heißt dies – das wäre eine Aussage de re –, dass Akteure im Kapitalismus nur die Rolle sind, die das System ihnen beilegt. Dies würde zwar der naiven Deutung einer Maske widerstreiten, da es keinen jemand ›hinter‹ der Maske mehr gibt, der sie anlegt; doch in dem Bild von der verkehrten Welt, das Marx zeichnet (Menschen erscheinen als Dinge und Dinge als Personen), wäre dies durchaus denkbar. Menschen im Kapitalismus sind nur Charaktermasken: Das ist die konventionelle Deutung, die sich, ohne ein Kontinuum unterstellen zu wollen, von Bemerkungen Adornos bis zu den menschenfeindlichen Konsequenzen der RAF zog:25 »Die wirtschaftliche Charaktermaske und das, was darunter ist, decken sich im Bewusstsein der Menschen, den Betroffenen eingeschlossen, bis aufs kleinste Fältchen« (Adorno, GS 3: 238).
Alternativ kann es jedoch auch (de dicto) heißen, dass eine ökonomische Perspektive die Menschen »nur« in diesen spezifischen Funktionen in den
—————— 24 Manche Experten in Talkshows etwa tun genau dies: Sie legen Insignien einer versachlichten Macht an und geben vor, in deren Namen lediglich Sachzwänge zu benennen. Die zweite Lesart übersieht das mitunter. 25 »Nixon und Brandt« seien Charaktermasken »des faschistischen Imperialismus« (RAF 1972: 151).
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Blick bekommt. Das heißt nicht, dass es nur eine Fiktion ist, sondern dass die Ökonomie – phänomenologisch gesprochen – nur eine ›Abschattung‹ des Phänomens erfasst und andere abblendet. Diese methodenkritische Deutung macht Sinn, wenn man das Kapital wissenssoziologisch liest: Es nimmt aus verschiedenen »Standpunkten« (MEW 23: 120, 141, 171) verschiedene Perspektiven ein und kommt damit nicht nur dem jeweils eingekreisten Phänomen näher, sondern erklärt auch, warum bestimmte Gruppen nur bestimmte Aspekte davon sehen können.26 Welcher Lesart ist der Vorzug zu geben? Und auf welcher Grundlage soll man diese Frage entscheiden? Von Interesse ist zunächst die Textbasis. Die erste, ontologische Deutung kann man durch Stellen wie diese stark machen: »Die Hauptagenten dieser Produktionsweise selbst, der Kapitalist und der Lohnarbeiter, sind als solche nur [!] Verkörperungen, Personifizierungen von Kapital und Lohnarbeit; bestimmte gesellschaftliche Charaktere, die der ... Produktionsprozess den Individuen aufprägt; Produkte dieser bestimmten gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse« (MEW 25: 887).
Das klingt ontologisch, weil vom »Sein« die Rede ist. Aber sind sie denn immer »als solche«, oder nicht andernorts auch als andere? Diese Offenheit kann Marx nicht entgangen sein. Die einschlägigen Stellen zeigen dies: »Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, dass die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten« (MEW 23: 99 f.).
Diese Stelle lässt auch die andere Interpretation zu: Das Prädikat »sein« (oder »nur-sein«) meint nicht die Personen, sondern die Charaktermasken – die Person als Träger bleibt davon unterschieden. Und wo ist das der Fall? Nicht in-der-Welt, sondern »im Fortgang der Entwicklung«, also in der weiteren Darstellung des ökonomischen Textes, der eher logisch als historisch vorgeht (und daher keine unmittelbare Deskription von Tatsachen beabsichtigt). In dieser Deutung handelt es sich bei der Charaktermaske um eine spezifische Optik der politischen Ökonomie, die andere Wissenschaften nicht bindet – ähnlich wie die Neurowissenschaft nur bestimmte Dinge sieht (Aktivierung von Hirnregionen) und andere Wissenschaften, die anderes sehen, nicht überflüssig macht.
—————— 26 Noch die Soziologie Mannheims (1929) thematisierte die »Standortgebundenheit« des Denkens. Obwohl sie viel von Marx gelernt hat, verrät sie darin auch einen Einfluss der Phänomenologie Husserls. Diese hat übrigens weitere Verbindungen zu Marx, wie Bernhard Waldenfels einst herausstellte – nicht nur bei Sartre.
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Soweit Marx seine Vorgänger kritisieren will, muss er sich von dieser Optik allerdings distanzieren. Und solche Distanzierungen gibt es: »Wenn der klassischen Ökonomie der Proletarier nur [!] als Maschine zur Produktion von Mehrwert, gilt ihr aber auch der Kapitalist nur als Maschine zur Verwandlung dieses Mehrwerts in Mehrkapital. Sie nimmt seine historische Funktion in bitterm Ernst« (MEW 23: 621).
Wer so etwas sagt, muss mehr Humor haben und Funktionen nicht immer ernst nehmen. Der Standort, von dem aus man nur Charaktermasken sieht, ist der der – humorlosen – klassischen Ökonomie. Davon setzt sich Marx ab: Verkehrt sei es demnach, diese Optik als volle Beschreibung der Realität zu deuten, statt ihre Herkunft zu beachten und so ihre Grenzen zu sehen. Die Optik ist also weder falsch, denn sie findet sich in der Realität (Menschen nehmen sich und andere so wahr); noch ist sie eine methodische Fiktion, sondern zumindest als Wahrnehmungsweise real – daher die Rede von »Oberfläche«, MEW 23: 557). Sie ist »verkehrt«: sie zeigt verzerrt (»auf dem Kopf«, MEW 23: 27) und selektiv (MEW 23: 635). Es muss also eine klarere Sicht auf die Phänomene geben, sonst wäre die Verkehrung nicht als Verkehrung erkennbar. Eine solche wird angedeutet: »Unsre Verlegenheit stammt vielleicht daher, dass wir die Personen nur als personifizierte Kategorien, nicht individuell, gefasst haben« (MEW 23: 177). Für Marx begegnen die Menschen im Kapitalismus einander also so, als trügen sie Masken – solche, die ihnen ihre Funktion im Wirtschaftssystem auferlegt. Insoweit hat die Rede von Charaktermasken einen Halt in der Realität. Allerdings ist es verkürzt, die Menschen auf ihre Masken festzulegen – »nur« Masken sind sie nämlich lediglich aus der Sicht der Kapitaleigner. Wird dies theoretisch zementiert, führt das zur Eindimensionalität der ›bürgerlichen‹ politischen Ökonomie, die Marx’ multiperspektivische Theorie daher kritisiert. Die ontologisierende Lesart Adornos hat also einen entscheidenden Marxschen Schritt gegenüber seinen Vorgängern nicht mitvollzogen. Was heißt es aber, Personen »individuell« zu fassen? An der zuletzt zitierten Stelle meint es zunächst nur, dass der Verkäufer von Arbeitskraft noch eine andere Rolle spielt, nämlich die des Arbeitenden. Doch das ist nur eine weitere Maske. Was heißt es aber für die Individuen, Masken tragen zu müssen? Solange man von einem Träger hinter den Masken ausgeht, der in keiner von ihnen aufgeht (ihnen also unterliegt, als ›Subjekt‹ im wörtlichen Sinne), muss man darin eine Zumutung sehen. Die Frage ist nur, ob wir bei Marx ein solches Subjekt unterstellen können. Die landläufige Deutung – von Poststrukturalismus und Postmarxismus
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noch bestärkt – verneint dies: Entweder, weil schon Marx in seinem Determinismus ein Subjekt nicht habe denken können, oder weil er es dachte, aber dies ein falscher Essentialismus sei, den man heute abgelegt habe. Mit Foucault könnte man etwa sagen, die Charaktermaske sei eine »Subjektivierung«, und das Subjekt damit ›nur‹ ein Effekt. An einer ›Subjektivierung‹ wäre nun wenig zu kritisieren, wenn es nur Subjektivierungen gäbe. Es gibt hingegen gute Gründe, sie zu kritisieren. So war ein politisches Ziel von Marx das befreite und »total entwickelte Individuum« (MEW 23: 512), von dem vom Manifest bis zum Kapital die Rede ist, besonders deutlich in den Grundrissen und der Deutschen Ideologie. Will diese Vision nicht utopisch werden, setzt sie schon für die Gegenwart eine Subjektivität voraus, die sich in diese Richtung entwickeln kann. Es sollte sich also ein ›Nichtidentisches‹ finden, dass die Maske trägt. Tatsächlich gibt es bei Marx einen »nie aufgehenden Rest« (Schelling), der die Zwangsmaske zum Skandal macht, nämlich die Individualität. Gegen die vorschnelle und reduktionistische Verbindung von Person und Eigentum im liberalen Denken (MEW 3: 209f.) und ältere eigene Stilisierungen (»der völlige Verlust des Menschen«, MEW 1: 390) schreibt er auch den Proletariern eine emphatische Individualität zu: »Nach Destutt de Tracy27 muss die Majorität der Menschen, die Proletarier, längst alle Individualität verloren haben, obgleich es heutzutage so aussieht, als entwickle sich unter ihnen noch gerade am meisten Individualität« (MEW 3: 212).
Kurz, es sei »verkehrt«, die Charaktermaske »als Aufhebung der Individualität zu betränen« (MEW 13: 76). Wie ist aber die Herrschaft der Charaktermasken mit diesem Nichtidentischen zusammenzudenken? Kann man beides zusammen behaupten? Man kann, aber das ist philosophisch keineswegs trivial. Dafür möchte ich ad fontes gehen – an die Quellen von Marx. Die Frage, was die Verwendung von Masken für das »Selbstbewusstsein« bedeutet, hat nämlich – nach der Aufklärung – schon Hegel beschäftigt. Er kommt mehrfach darauf zurück, und das war Marx sicher bekannt. Drei Dinge stechen dabei hervor. Hegel schreibt erstens, »dass die Priester ... häufig mit Tiermasken erscheinen. ... dieses Gedoppelte einer äußerlichen Maske, welche unter sich eine andere Gestalt verbirgt, gibt zu erkennen, dass das Bewusstsein nicht bloß in die dumpfe, tierische Lebendigkeit versenkt ist, sondern auch sich getrennt davon weiß« (Hegel, Werke 16: 434).
—————— 27 Andernorts von Marx als »der fischblütige Bourgeoisdoktrinär« betitelt (MEW 23: 677).
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Das Verwenden von Masken zeigt für Hegel schon auf archaischer Stufe, dass der Maskenträger sich nicht voll mit der gespielten Rolle identifiziert. Es gibt von Anbeginn eine Differenz. Bereits in der antiken Komödie wird diese Darstellungspraxis daher ironisch gebrochen (Werke 3: 541f.):28 »der Held, der vor dem Zuschauer auftritt, zerfällt in seine Maske und in den Schauspieler, in die Person und das wirkliche Selbst. ... Es, das Subjekt, ist daher über ein solches Moment als über eine einzelne Eigenschaft erhoben, und angetan mit dieser Maske spricht es die Ironie derselben aus, die für sich etwas sein will«.
Daher habe die Moderne diese Praxis schließlich fallen gelassen: »Anders dagegen verhält es sich im modernen Schauspiel. Hier nämlich fallen die Masken und die Musikbegleitung fort, und an deren Stelle tritt das Mienenspiel, die Mannigfaltigkeit der Gebärde und die reichhaltig nuancierte Deklamation. ... Die Shakespeareschen Figuren vornehmlich sind für sich fertige, abgeschlossene, ganze Menschen, so dass wir vom Schauspieler verlangen, dass er sie … in dieser vollen Totalität vor unsere Anschauung bringe« (Hegel, Werke 15: 513f.).
Derjenige, der als Hegelkenner von Masken redet, hat somit immer schon ein Individuum als Träger eingekauft, das nicht in dieser Maske aufgeht – und welches daher leidet, wenn es gezwungen ist, sie zu tragen. Allerdings ist Hegel ein denkbar schlechter Kandidat, um als Kronzeuge einer romantischen Individualität gegen soziale Vermittlungen aufzutreten, denn er strebte eher die Aufhebung aller Momente in die Totalität an. Ein Beharren auf individueller Eigenart steht dem klar entgegen (bezeichnenderweise soll der Schauspieler ja weiter eine Rolle spielen). Habermas’ Austreibung des Subjekts aus der Philosophie bezog sich daher zurecht auf Hegel, und auch strukturalistische Varianten dieses Denkens in Frankreich waren durch Alexandre Kojève von Hegel inspiriert worden.29 An dieser Stelle lauert folglich ein Dilemma. Wer von Hegel ausgeht, steht vor folgender Alternative: Entweder ist das Subjekt ein Moment das Ganzen, somit ein Epiphänomen und letztlich zugunsten des ›Höheren‹ zu vernachlässigen (was auch immer das im Einzelnen sei: Geist, Staat, Partei, Diskurs oder eine ökonomische Funktion). Daran ändert auch die Rede von »Versöhnung« nichts, denn im Zweifelsfall schlägt die Aufhebung gegen den Angeklagten aus. Das Romantische ist »das Kranke« (Goethe).30
—————— 28 Die Bezeichnung »Komödie« war für Marx eine kritische Kategorie (MEW 1: 382). 29 Descombes 1981. Zur Hegel-Lektüre Habermas 1999: 186ff.; Henrich 1987: 11ff. 30 In Brechts Maßnahme (1930) wird der junge Kommunist dafür geopfert, dass er sich die Maske mit den Worten abreißt: »Darum trete ich vor sie hin / Als der, der ich bin«.
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Oder der Einzelne beharrt – wie Kierkegaard – gegen das Ganze auf der »Wahrheit der Gewissheit seiner selbst« (Hegel, Werke 3, 137) und wird so zum »unglücklichen Bewusstsein«, das nur verzweifeln kann (Theunissen 1991). Damit steht ein kritischer Vorbehalt, der auf Subjektivität beruht, doch ihr zuliebe der Welt entflieht, gegen eine vorbehaltlose Eingliederung in diese Welt. Dieses Dilemma hat den Marxismus länger verfolgt (man denke an die Polarität zwischen Sartre und Althusser). Wo steht nun Marx? Das ist nicht einfach zu beantworten. Denn einerseits hat er, etwa am Beispiel von Max Stirner, bis zur Unkenntlichkeit gegen einen Subjektivismus polemisiert. Anderseits aber gestand er gerade dem Individualismus der Romantik zu, ein »berechtigter Gegensatz« gegen die bürgerliche »Entleerung« des Individuums zu sein (MEW 42: 96, vgl. Mayer 1989: 433ff.). Dies erscheint nicht länger als Aporie, sobald man das gewohnte Hegelsche Paradigma verlässt. Doch wie lässt es sich dann denken? Es muss eine Philosophie sein, die Individualität zulässt, ohne die Bedeutung von Strukturen zu leugnen; und die eine gegenseitige Durchdringung erlaubt, ohne den Eigensinn beider Seiten zu verwischen. Drückt man es so aus, ist schon fast klar, dass hier nur Schelling in Frage kommt, der Freund des jungen und Gegenspieler des alten Hegel. Manfred Frank hat gezeigt, wie Marx sich philosophisch bei Schelling bedient.31 Für diese provokante These, die auf den späten Schelling abhebt, spricht einiges, sprachlich wie sachlich – allerdings nun in Bezug auf den jungen Schelling. Betrachten wir zunächst das Philologische. Es gibt bei Marx eine erstaunliche Nähe zu Schellingschen Formulierungen (Frank 1975: 301 nennt sie »paraphrastisch«), die meist unausgewiesen bleibt. Vielleicht wollte er sie gegenüber Engels nicht offen ausflaggen, welcher noch ganz im Geiste Hegels Polemiken gegen Schellings Auftritte in Berlin von 1842 verfasst hatte (MEW 1: 160ff.; Hogrebe 1987: 63ff.). Schellings Jugendwerk hat Marx beeindruckt (der »aufrichtige Jugendgedanke« wird gegenüber Feuerbach brieflich gelobt, MEW 27: 420; MEW 40: 9). Es ist erhellend, sich diese sprachlichen Parallelen anzusehen; selbst wenn sich das nicht zu einer sachlichen Abhängigkeit verlängern lässt, da Marx den Grundgedanken Schellings (die Aufhebung der Gegensätze im unvordenklichen »Absoluten«, 1800: 668) dezidiert nicht teilt, und sich so hinter ähnlichen Worten ein materialistisch verschobener Sinn verbirgt. Doch die Ähnlichkeit ist frappierend: So spricht Schelling von einem »producierenden Ich« (das
—————— 31 Siehe Frank 1975; 1991: 81f., 151; 2007: 271ff.; auch Hans-Jörg Sandkühler und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik haben die Verbindung Marx/Schelling früh gesehen.
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hallt im Einstieg zur Deutschen Ideologie nach), welches sich »nur in seinen Produkten« erblickt (1800: 602), was bereits den Gedanken sozialer Entfremdung artikuliert. Auch die Problematik von Individuum und Gattung, die bei Feuerbach viel trägt (nämlich die Kürzung um die Transzendenz ins Jenseits, zugunsten der Transzendierung ins Diesseits, ins »Wesen des Menschen«), ist bei Schelling vorgezeichnet. Denn er stellt fest, darin vielleicht von Schiller beeinflusst, »dass es nur eine Geschichte solcher Wesen gibt, welche ein Ideal vor sich haben, das nie durch das Individuum, sondern allein durch die Gattung ausgeführt werden kann« (1800: 657). Bis zur Deutschen Ideologie hatte Marx ebenfalls eine positive Haltung zur Vermittlung von Individuum und Gattung (MEW 40: 517; 1: 370; 19: 111). Doch drei Jahre nach seinem emphatischen Brief wirft er Feuerbach vor, »von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren ... und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen« (MEW 3: 6, von 1845). Offensichtlich hat sich bei Marx etwas verändert – doch der Schellingbezug konnte bleiben. Eine Historizität hatte der junge Schelling vorgedacht: Er kennt »kein individuelles Bewusstsein ..., wofern nicht die ganze Geschichte vorhergegangen wäre« (1800: 658). Diese Geschichte ist jedoch nicht Heroen-, sondern »Naturgeschichte« (656, vgl. MEW 40: 543). Die Menschen sind trotz und in ihrer Freiheit in ein Naturgeschehen eingebunden. Daher kann »ohne mein Zutun« etwas entstehen, »was ich nicht beabsichtigte« (Schelling 1800: 662). Nichtintendierte Folgen individuellen Handelns kennt auch Marx, wenn er die Logik von Adams Smith’s ›unsichtbarer Hand‹ ausbuchstabiert – und selbst die variierte bereits Schelling (»das Gewebe einer unbekannten Hand«, 1800: 669). Zudem betrachtet Schelling – anders als Feuerbachs ›abstraktes Individuum‹, das lediglich eine verhimmelte Liebe kennt – bereits eine reale Verbindung der Menschen, da »das Objektive in allem Handeln etwas Gemeinschaftliches ist« (666; eine »zweite Natur«, 664). Diese Verbindung ist global geworden, so dass alle Völker in »wechselseitige Berührung« gebracht sind (672; bei Marx heißt dies Weltmarkt, MEW 3: 37). Auch Schelling pocht auf die Realisierung des Ideals (bei Marx: »Verwirklichung der Philosophie«, MEW 1: 391): »Die praktische Philosophie beruht sonach ganz auf der Duplicität des idealisierenden (Ideale entwerfenden) und des realisierenden Ichs« (1800: 604). Auf globaler Ebene kann dies nur in einem »allgemeinen Völkerbund« geschehen (Schelling 1800: 672; siehe Marxens »Internationale«, MEW 16: 5ff.). Wenn Schelling direkt im Anschluss an dieses Geschichtskapitel sagt, es seien »alle Rätsel gelöst«
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(683), fällt es schwer, nicht an das »aufgelöste Rätsel der Geschichte« bei Marx zu denken (MEW 40: 536); zumal Marx dort Schellings Themen Freiheit und Notwendigkeit, Individuum und Gattung sowie (vom späten Schelling) Existenz und Wesen aufruft. Und schließlich, da die Charaktermaske die Theatermetaphern berührt, die es bei Marx in verschiedenen Kontexten gibt, verblüfft es, dass auch Schelling »die Geschichte als ein Schauspiel« denken will, in dem jeder eine »Rolle« spielt (1800: 670). Bei Schelling ist sogar die erste Periode der Geschichte die »tragische« (672; wie es bei Marx später heißt: »das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«, MEW 8: 115). Zudem evoziert Schelling das Schicksal als »völlig blinde Macht«, die »kalt und herzlos auch das Größte und Herrlichste zerstört« (1800: 671), die aber in der zweiten Periode »als Natur sich offenbart, und das dunkle Gesetz, das in jener herrschend war, wenigsten als ein offenes Naturgesetz verwandelt erscheint« (672). Die verwandte Sprechweise bei Marx bezeichnet das Wirken des Kapitalismus als »blinde Notwendigkeit« (MEW 25: 839), die sich »hinter dem Rücken« (MEW 23: 59) der Beteiligten durchsetzt und »alles Heilige … entweiht« oder »im eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt« (MEW 4: 465). Wenn Marx versucht, ihr »Bewegungsgesetz« freizulegen (MEW 23: 15), will auch er – in Schellings Bild – die blinde Macht als Gesetz erkennbar machen, und beide sehnen paulinisch eine Zeit herbei, die solche »Gesetze« insgesamt überwindet (siehe MEW 19: 21). Ähnliche Bezüge gibt es auch zum alten Schelling, wieder bis ins Sprachliche hinein. Seine Vorlesungen von 1842 nutzen die Junghegelianer als Quelle der Kritik am noch immer übermächtig wirkenden Hegel: Schelling fiel nicht hinter Hegel zurück und kritisierte ihn dennoch fundamental. So benutzt Marx das Wort »Potenz« mitunter im Sinne der Potenzenlehre Schellings, etwa wenn er sagt, Gleichheit und Freiheit als »bloß idealisierte Ausdrücke« seien »nur diese Basis in einer andren Potenz« (MEW 42: 170).32 Das bedeutet, dass sie zugleich identisch mit und different von dem sind, was sie ausdrücken – es liegt eine »Einheit von Realismus und Idealismus« vor, wie Marx unter Bezug auf Schelling formuliert (MEW 3: 175); allerdings eine, in der der Pol der Realität überwiegt. »Denn nicht weil es ein Denken gibt, gibt es ein Seyn, sondern weil es ein Seyn gibt, gibt es ein Denken« (1827, Schelling 1985 V: 763, Anm.; Hogrebe 1987: 70).
—————— 32 Die Potenzenlehre wird meist der Spätphilosophie zugeschrieben (Schrödter 1986, Žižek 1996, 81f.), sie wird allerdings lange vorbereitet, etwa in Schelling 1800, 602f.
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»Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt« (MEW 13: 9).
Nun sagen sprachliche Anklänge allein inhaltlich nicht viel aus. Welchen sachlichen Gewinn vermag eine Berücksichtigung dieser Quelle zu erbringen? Aufschluss verspricht der Brief an Feuerbach von 1842, in dem Marx jenen zu einer Schellingkritik zu bringen sucht. Wenn er Schelling dort als das »antizipierte Zerrbild« Feuerbachs bezeichnet (MEW 27: 420), lässt sich das so deuten: Feuerbach war als Materialist in der Lage, das Ideale auf eine Weise zu deuten, die diesem nicht fremd bleibt, es aber als Moment des Realen verstehen lässt. Beide, Feuerbach wie Schelling, verstehen Reales und Ideales, Natur und Geist, als »identisch« und damit als Momente eines Ganzen. Nur hat Schelling den schon früh von ihm umrissenen und von Marx geschätzten Realidealismus später in die falsche Richtung kippen lassen, nämlich auf die Seite des Idealen, einer metaphysischen Religiosität. So ist der übergreifende Nenner des Ganzen beim späten Schelling wieder Geist (in der zweiten Potenz – ein unvordenkliches, doch gedachtes »Seyn«),33 während bei Feuerbach auch der Geist noch Natur ist. Wichtig für Marx war daran die Möglichkeit, den Geist nicht einfach zugunsten der Natur zu streichen, sondern Natur so zu denken, dass sie den Geist (und damit auch die Freiheit der Individuen) integrierte. Feuerbach sollte das richtigstellen, da er im Verständnis von Marx den jungen Schelling gegen den alten vertrat – sowie natürlich gegen Hegel. Aus dieser Perspektive entkam der junge Schelling dem Dilemma zwischen weltloser Selbstbehauptung und Selbstaufgabe zugunsten des Ganzen. Bei ihm ›vernichten‹ Natur und Geist einander nicht (ein Wort, das Hegel nicht selten benutzt), sondern eines hat im Anderen jeweils das Andere seiner selbst vor sich. Weder muss, wie im Substanzdualismus, ein Moment zugunsten des anderen gestrichen werden,34 noch wird ihre Identität hierarchisch als »Aufhebung« des Niederen ins Höhere gefasst. Schelling denkt Identität vielmehr als Verschränkung zweier gleichrangiger Bereiche. Die Parallele zur Charaktermaske bei Marx ist deutlich: Einerseits kann sich das Individuum in den Strukturen wiedererkennen. Sie sind für Marx Produkte der vergesellschafteten Individuen – wenn auch keine intendierten. Die Kritik der politischen Ökonomie zielt auf die befreiende Einsicht ab, dass ökonomische Strukturen auf menschliches Handeln zurückgehen
—————— 33 Dieser »obskure präontologische Bereich«, »das prälogische Reale« (Žižek 1998, 178) lässt sich mit Marx und Freud auch säkular deuten. Schellings springt in die Religion. 34 Man denke an Hurkas Preisgabe des Individuellen oder Rawls’ Aufgabe des Guten.
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und damit im Grunde zu verändern sind. Sie sind Teil des eigenen, das Selbst in seinem ›Anderen‹. Das Individuum kann sich daher in den Rollen, die die Strukturen ihm aufzwingen, wiedererkennen: es kann die Charaktermaske als »notwendige Darstellung der Individualität auf Grundlage einer bestimmten Stufe des gesellschaftlichen Produktionsprozesses« begreifen (MEW 13, 76f.) und sie sich so sinnhaft ›aneignen‹. Eher als mit Adorno kann man mit Marx in der Berufstätigkeit daher Elemente einer »Selbstverwirklichung« sehen (Elster 1986; s.o, III.3). Zwar ist sie nur in Grenzen möglich, doch wäre es zynisch, Individuen die Darstellung ihrer Individualität durch den Blick auf das schlechte Ganze verweigern zu wollen; etwa weil diese Individualität vom System befleckt und damit nicht ›authentisch‹ sei. Individuen kann es ohne Berufstätigkeit noch schlechter gehen, Verwirklichung bleibt auch in abhängigen Kontexten real. Andererseits folgt aus dieser Einsicht gerade nicht, wie für Hegel und seine konservativen Anhänger bis in die Schule von Joachim Ritter, dass Individuen sich unterordnen müssen oder nur Effekte der Institutionen seien. Denn das Marxsche Individuum kann wissen, dass die Arbeit ›nur‹ eine Maske ist, die es nicht ganz erfüllt und die überwindbar ist. Es kann gegen die Maske aufbegehren und für eine freiere Individualität kämpfen. Rekapitulieren wir das Gewonnene, »um den Philosophen verständlich zu bleiben« (MEW 3: 34), im Hinblick auf Subjektivitätskonzepte des Deutschen Idealismus. Dieser kennt drei Positionen: Eine erste Position des selbstmächtigen Subjekts, die gern als Absetzungsfolie aufgerufen wird, wird meist Fichte zugeschrieben (Hogrebe 1987: 40f.).35 Von Fichte setzt sich auch Marx ab: sein Subjekt ist nicht derart selbstmächtig, dass es sich selbst ›produzieren‹ könnte. »Da er weder mit einem Spiegel auf die Welt kommt noch als Fichtescher Philosoph: Ich bin ich, bespiegelt sich der Mensch zuerst in einem andren Menschen. Erst durch die Beziehung auf den Menschen Paul als seinesgleichen bezieht sich der Mensch Peter auf sich selbst als Mensch« (MEW 23: 67 Fn.).
Eine empirische und daher revidierbare Selbsterkenntnis einer besonderen Person ist nicht mit der intersubjektiven Konstitution ›des‹ Subjekts gleichzusetzen, die Habermas (1988) aus Hegel und Mead herauslas. Das erst wäre die zweite Position: Subjekte sind intersubjektiv konstituiert und erübrigen sich damit als Analyseeinheit, wenn die Intersubjektivität (der »objek-
—————— 35 Habermas will sich von Kant abgrenzen, den er metaphysisch liest. Einflussreicher sind rational choice-Theorien, die schlicht selbstmächtige Entscheider-Subjekte unterstellen.
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tive Geist«, Honneth 2011a: 19f., 333) erst hinreichend erfasst ist. Frank (1986) hat im Anschluss an Dieter Henrich eingewandt, dass diese Position voraussetzt, was sie erklären soll: die Bekanntschaft mit sich. Wichtiger ist ein zweites Argument: Widerspenstige Praktiken gegen »subjektivierende« Interaktionen wie die von Peter und Paul36 müssen sich aus einer anderen Quelle als der Interaktion speisen können, wollen sie die Eigenart dieser speziellen Interaktion nicht verewigen. Das täten diese Praxisformen allerdings, wenn sie die Subjekte nicht nur beeinflussen, sondern tatsächlich konstituieren würden. So könnte ihnen stets erneut eine Versöhnung mit den Verhältnissen abgepresst werden, da sie ohne diese ›nichts‹ (oder ›vernichtet‹) sind. Zur Not können Gemeinschaften dem nachhelfen.37 Damit ist nochmals das Dilemma benannt, in dem viele Denker (auch marxistische) steckten: Subjekt ohne Welt, oder Welt ohne Subjekt. Eine poststrukturalistische Wendung zur Pluralität solcher Identitäten (das ›fluide‹ Selbst, Lifton 1993) gewinnt dagegen noch nichts: Die Verlängerung sozialer Imperative ins Individuum kann sich in jeder von ihnen wiederholen und Widerstand gegen soziale Rollenerwartungen schwerlich durch Konformismus in anderen Rollen erklärt werden. Gefragt ist vielmehr die Fähigkeit, auch in den jeweiligen Rollen Veränderungen zu wagen.38 Doch es gibt einen Ausweg: Einer dritten Position zufolge werden Individuen zwar von ihrem sozialen Umfeld geprägt und hängen weiter von ihm ab, doch liegt dieser »Form« ein Inhalt voraus, der sich gegen diese Formung aufbäumen kann, »denn der Mensch ist ein Teil der Natur« (MEW 40: 516). Diesen Nonkonformismus hat Lionel Trilling für die Psychoanalyse beschrieben: »Sie zeigt uns, dass die Kultur nicht allmächtig ist. Sie zeigt, dass es jenseits der Reichweite kultureller Herrschaft und Kontrolle ein Residuum menschlicher Eigenschaften gibt. Dieses Residuum des Humanen, so elementar es sein mag, ist die Basis der Kulturkritik und verhindert, dass Kultur sich absolut setzt«.39
Beziehen wir dies zurück auf die Charaktermaske: Sie ist insofern ›nur‹ eine Maske, als die Individuen hinter ihr immer auch etwas anderes sind, zumindest potentiell. Sie bringen ein je eigenes Naturell mit, welches erst
—————— 36 Möglicherweise hat Marx diese kirchlich vorbelasteten Namen bewusst gewählt. 37 Zum repressiven Moment der »kollektiven Identität« Niethammer 2000 und Sen 2007. 38 Die Fähigkeit, Rollen zu wechseln, ist nicht identisch mit der, Rollen zu hinterfragen. Die Alteritätserfahrung einer »Rollendistanz« (Goffman 1967) mag dies allerdings befördern. 39 Trilling 1957: 32f.; siehe Zaretsky 2009: 431. Zur Parallele Schelling und Freud Marquard 1987 und Zizek 1996, zu Marx und Freud (pars pro toto) Dahmer 1994.
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entwickelt werden muss und in verschiedene Richtungen entwickelt werden kann – aber nicht unbegrenzt, und nicht in unendlich viele Richtungen. Eigene Begabungen und Vorlieben zu erkennen und nach Möglichkeit auszubilden ist eine unvertretbare Aufgabe, die durch keinen Anti-Essentialismus aus der Welt zu schaffen ist. Die Person kann nicht mit ihrer Maske gleichgesetzt werden. Dieses ›dahinter‹ kann allerdings stärker oder schwächer entwickelt sein. Der Kapitalismus neigt nach Marx dazu, es zu schwächen. Für eine emanzipatorische Praxis folgt daraus die Aufgabe einer Entwicklungspolitik des Subjekts. Diese Entwicklung kann nur eine Selbstentwicklung sein, sonst droht eine bloße Verlagerung von Herrschaft, wie Marx gegen Owen einwandte (MEW 3: 534). Es gilt, gute Bedingungen für eine allseitige Entwicklung aller zu schaffen (s.o., IV.2). Dieser Ausflug zu einer Theatermetapher bei Marx konnte zeigen, dass die Natur für den normativen Subtext von Marx eine große Rolle spielt und dass diese Naturargumente eng mit seiner Individualitätskonzeption verklammert sind. Lässt sich für den späteren Marx etwas Ähnliches hinsichtlich der Gesellschaftstheorie sagen, oder droht das zu entwickelnde Selbst, das sich soeben mit der Natur versöhnt hat, nun doch wieder von Gesellschaft eingemeindet zu werden? Wir werden sehen, dass dem nicht so ist; vielmehr kommen egalitaristische Elemente bei Marx, wie schon in der radikalen Aufklärung, aus der Thematisierung von Gesellschaft.
Ungleiche Freiheit zur Selbstverwirklichung: The Hidden Injuries of Class Die bisherige Deutung der Charaktermaske gleicht dem, was Boltanski und Chiapello (1999) »Künstlerkritik« nennen: Sie konfrontiert einen sozialen Zwang mit dem Anspruch auf Individualität. Doch auch für die »Sozialkritik« hat der Begriff der Charaktermaske etwas in petto – der Kern ist hier die soziale Ungleichheit. Um zu ihr zu gelangen, ist zurückzufragen: Warum genau ist es schlimm, wenn Personen eine Maske tragen müssen? Kann das Tragen einer Maske nicht auch von Vorteil sein, etwa weil die dadurch ermöglichte Anonymität neue Spielräume schafft? Prominent hat Georg Simmel diese Position vertreten: »Das gewachsene Selbstgefühl des modernen Arbeiters muss damit zusammenhängen: er empfindet sich nicht mehr als Person untertänig, sondern gibt nur eine genau festgestellte … Leistung hin, die die Persönlichkeit als solche gerade um so mehr freilässt, je sachlicher, unpersönlicher, technischer sie selbst und der von ihr getragene Betrieb ist« (Simmel 1900: 452).
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Auch Simmel setzt jemanden hinter seiner Rolle voraus. Der Unterschied zur Marxschen Kritik ist erst die Bewertung dieser Versachlichung: Simmel deutet sie als Befreiung. Dieser Einwand ist nur zur Hälfte richtig. Zwar kann eine versachlichende Maske ein Gewinn sein, wenn es um die Schaffung von Distanz geht. Als »Sehnsucht nach den Masken« hat dies auch Plessner (1924: 41) aufgegriffen. Doch weit trägt dieser Einwand nicht, da er in seiner Generalisierung das Spezifische der kapitalistischen Gesellschaft verfehlt. Denn in ihr tragen Besitzer von Produktionsmitteln und von Arbeitskraft ihre Masken auf unterschiedliche Weise.40 Der Einwand gilt primär für erstere – früher hätte man gesagt, es sei ein bürgerlicher Einwand: die eigene Lebensrealität wird als Folie für jegliches Verhalten unterlegt (und Kritik heißt dann, andere dafür geißeln, dass sie nicht ebenfalls leben wie ein Bürger). Welche Klassenunterschiede lassen sich im Tragen der Maske finden? In einer ironischen, doch erstaunlichen Relativierung heißt es im Kapital zur Funktion des Kapitalisten (MEW 23: 619): »Soweit daher sein Tun und Lassen nur Funktion des in ihm mit Willen und Bewusstsein begabten Kapitals, gilt ihm sein eigner Privatkonsum als ein Raub an der Akkumulation seines Kapitals. ... Aber die Erbsünde wirkt überall. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, der Akkumulation und des Reichtums, hört der Kapitalist auf, bloße Inkarnation des Kapitals zu sein. ... Während der klassische Kapitalist den individuellen Konsum als Sünde gegen seine Funktion und ›Enthaltung‹ von der Akkumulation brandmarkt, ist der modernisierte Kapitalist imstande, die Akkumulation als ›Entsagung‹ seines Genusstriebs aufzufassen«.
Hier ist zunächst von einer partiellen Lösung der Subjekte von ihrer sozialen Rolle und dann sogar von einer Anpassung der Rolle an die Subjekte die Rede – an die ›bürgerlichen‹ Subjekte, wohlgemerkt. Wie viel Freiheit hat also eine konkrete Person, sich von ihrer Rolle zu lösen? Im Kapital sagt Marx vorsichtig, der Einzelne könne sich »subjektiv« über seine Verhältnisse »erheben« (MEW 23, 15), wobei subjektiv so etwas wie ›in seinem Denken‹ meint. (Ernst Bloch hat hier später die projektive Phantasie, etwa des Romans, eingefügt.) In den Grundrissen geht Marx weiter, wenn er dem Einzelnen bescheinigt, sie könnten diese Schranken sogar »überwinden«. Doch er schränkt dies gleich wieder ein – quantitativ, nicht qualitativ –, denn wir stoßen hier an eine Klassengrenze (MEW 42, 97): »Eine nähre Untersuchung jener äußren Verhältnisse, jener Bedingungen, zeigt aber die Unmöglichkeit der Individuen einer Klasse etc., sie en masse zu überwin-
—————— 40 Weitere Rollen wären der Angestellte oder der »organizational man« (William Whyte).
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den, ohne sie aufzuheben. Der einzelne kann zufällig mit ihnen fertig werden; die Masse der von ihnen Beherrschten nicht, da ihr bloßes Bestehn die Unterordnung und die notwendige Unterordnung der Individuen unter sie ausdrückt«.
Mit dem Sprichwort gesagt: Es können nicht alle Katholiken Papst werden. Aber was hieße es in diesem Fall, Papst zu sein? Was wäre eine nicht-untergeordnete Individualität? Nur selten deutet Marx die Konturen einer emanzipierten Subjektivität an. Doch wo er dies tut, wird deutlich, dass sie bereits an Einzelnen sichtbar geworden sind (anders wäre dies für ihn kaum denkbar). Wiederum ironisch beschreibt Marx dies am Geld: »alles das, was du nicht kannst, das kann dein Geld: Es kann essen, trinken, auf den Ball, ins Theater gehn, es weiß sich die Kunst, die Gelehrsamkeit, die historischen Seltenheiten, die politische Macht, es kann reisen, es kann dir das alles aneignen; es kann das alles kaufen; es ist das wahre Vermögen« (MEW EB 1: 549).
Dieser Reichtum der menschlichen Natur (essen, trinken, tanzen etc.) wird positiv bewertet. Doch natürlich, und das ist der Witz dieser Stelle, kann man dieses Können nicht wirklich kaufen. Nicht der Versuch der Aneignung dieser Dinge ist falsch, es ist die falsche, weil verkürzte Aneignung. Die »Verwirklichung der menschlichen Wesenskräfte« (MEW EB 1: 555, 542) geht im Kapitalismus in entfremdeter Form vor sich: nur einseitig, vermittelt durch das abstrakte Medium Geld, im Modus sozialer Ungleichheit (hieran hängen die Theorien der Ausbeutung und der Klassengesellschaft) und in einer sozial wie ökologisch destruktiven Weise (man denke an die Wachstums- und Krisentheorie). Arbeitende Menschen werden von zwecksetzenden Subjekten, die sich kooperativ selbst versorgen und bestimmen könnten, in Instrumente verwandelt, die einzig zum Zwecke der Gewinnmaximierung tätig sind (und zwar nicht einmal ihrer eigenen). Lohnarbeit lässt wenig Raum für Selbstachtung (die auf Sinnzuschreibungen anderer beruht) und Selbstbestimmung (die auf Eigeninitiative und Handlungsspielräume in der Arbeit angewiesen ist; vgl. Sichler 2006). Emphatischer wird Marx daher, wo Einzelne sich der Kunst und Wissenschaft verschreiben und auf diese Weise frei und zugleich produktiv ihren Neigungen nachgehen (s.u. zum »Komponieren«) und somit ihre Fähigkeiten entwickeln. Der Skandal daran ist für Marx nicht diese (wenn man will: erneut ›bürgerliche‹) Tätigkeit, sondern der Ausschluss der Mehrheit von dieser Option, die »exklusive Konzentration des künstlerischen Talents in Einzelnen und seine damit zusammenhängende Unterdrückung in der großen Masse« (MEW 3: 378). Für das Bürgertum ist die ökonomische Maske nur eine unter vielen. Es mag die vorwiegende sein, und bio-
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graphisch kann es hart sein, andere Lebensentwürfe als die vorgesehenen zu behaupten, etwa gegenüber der Familie oder dem Dorf. Doch wie an zahlreichen Vorbildern abzulesen ist,41 ist es grundsätzlich möglich. Hier gilt also Simmels Rollentheorie, die ein halbwegs souveränes Selbst ›hinter‹ den verschiedenen Rollen kennt. Arbeitende haben es allerdings schwerer: Sie stellen nicht personifiziertes Kapital, sondern »personifizierte Arbeitszeit« (MEW 23: 258) und damit eine »Ware« dar (MEW 25: 55), die ihre »eigne Haut zu Markt« trägt (MEW 23: 191). Vom Kapital aus gesehen (erinnert sei an die Standortbedingtheit des Denkens), das ja am längeren Hebel sitzt, hat die Arbeitszeit keine Schranke; sie kann gar nicht lang genug sein (MEW 16: 144f.).42 Daraus folgt eine weitaus mächtigere Festgelegtheit der Individuen in Sachen Lebenszeit – Marx spricht daher vom »Setzen der ganzen Zeit des Individuums als Arbeitszeit« und der folgenden »Degradation ... zum bloßen Arbeiter« (MEW 42: 604; »bloß« hier im Sinne von ›nichts anderes als‹ gemeint). Die Charaktermaske des Arbeiters ist also im doppelten Sinne schwerer zu tragen: Weil sie inhaltlich mit »Gerberei« verbunden ist (MEW 23: 191); und weil sie zunächst so gut wie die Einzige ist, die Arbeitskraftbesitzern im Kapitalismus zusteht. Der Konsum von Arbeitern bleibt Arbeiterkonsum, selbst wo er durch Kredite angekurbelt wird. Das übersah Ulrich Becks These der Individualisierung durch Konsum, zeigte sich aber in der Welle der Bankenpleiten seit 2008. Die mehr oder weniger ›feinen‹ Unterschiede zwischen den Klassen bestehen damit einerseits in der Schwere der mit der Maske verbundenen Pflichten, andererseits in der Frage, ob nur eine oder mehrere Masken zu Auswahl stehen. Die Arbeiterbewegung musste um ›proletarische Subjektivität‹ innerhalb wie jenseits der Arbeit allererst kämpfen. Marx setzte sich – wie Lassalle, Wilhelm Wolff und andere – für mehr Freizeit und Bildung ein, weil dies der beste Weg zur Ausbildung von Individualität sei. Freizeit ist die »Grundbedingung« (MEW 25, 828) für die Entwicklung der Persönlichkeit, vor allem wenn sie nicht standardisiert sein soll. Erst sie schafft »Zeit zu menschlicher Bildung, zu geistiger Entwicklung, zur Erfüllung sozialer Funktionen, zu geselligem Verkehr, zum freien Spiel der physischen und
—————— 41 Etwa Raffael, da Vinci, Tizian oder Goethe (MEW 3: 378; MEW 4: 222ff.). In der Regel konnten sich dies jüngere Söhne leisten, wenn der ältere das väterliche Erbe bereits weiterführt – einen Abgesang darauf halten Thomas Manns Buddenbrooks. Webers Analogisierung von Beruf und Berufung klammert Simmels These übrigens wieder ein. 42 An dieser Stelle setzt Marx eine Vampirmetapher ein (MEW 16: 11; Henning 2013c).
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geistigen Lebenskräfte« (MEW 23, 280). Der »wahre Reichtum« (MEW 13: 40; 23: 166; 25: 469) ist für Marx gekoppelt an freie Zeit zur Entwicklung: »Die Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums« (MEW 42: 607). »Aber free time, disposable time, ist der Reichtum selbst – teils zum Genuss der Produkte, teils zur free activity, die nicht wie die labour durch den Zwang eines äußeren Zwecks bestimmt ist« (MEW 26.3: 253).
Jeder kann eine solche Muße auf seine Art nutzen, denn die Individuen sind nicht nur, was die Verhältnisse aus ihnen machen. Marx knüpft dabei an antike Vorstellungen der ›höheren‹ Muße an, die nicht allein im konsumierenden Dahinvegetieren bestand, sondern in der Aneignung und Ausübung von Kultur (dem »gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens«, MEW 40: 541; vgl. Henning 2011c). Folglich war auch die Schaffung eigener Bildungsinstitutionen keineswegs nur ein strategisches Mittel, um die Kampfkraft der Arbeiter zu stärken, sondern erfüllten im Sinne von Aristoteles einen Selbstzweck. Neben Parteien, Gewerkschaften und Genossenschaften sind die Bildungsvereine daher als vierte Säule der Arbeiterbewegung zu betrachten. Schon frühe Schriften dieser Tradition setzten sich für mehr Bildung ein, und diese wurde (ein wichtiger politischer Zug gegen obrigkeitsstaatliche Umarmungsversuche) in die eigene Hand genommen.43 Hier war der von der neueren Marxforschung vielgeschmähte ›Arbeiterbewegungsmarxismus‹ (Moishe Postone) gar nicht so weit von Marx entfernt. Es ging Marx darum, der Macht der »Charaktermaske« ein gestärktes und möglichst autonomes Selbst entgegensetzen zu können. Da in jüngster Zeit Forderungen nach mehr Gleichheit auch in der Philosophie wieder lauter werden (Anderson 2008, Cohen 2009) und damit die alte Frage wiederkehrt, von welcher Gleichheit die Rede ist (equality of what?), bleibt die Marxsche Position originell. Denn einer Forderung nach gleichen Chancen zu individueller Selbstverwirklichung auch jenseits gesellschaftlicher Rollenerwartungen und Anerkennungsmuster dürfte ein liberales Denken wenig entgegenzusetzen haben.44 Fassen wir daher das Gewonnene kurz zusammen: Schon der junge Marx reartikuliert die
—————— 43 Etwa bei William Thompson (1825) oder John Bray – vgl. (nach E.P. Thompson) Vester 1970, spätere – deutsche – Schriften sind versammelt bei Rüden/Koszyk 1979. 44 Die Forderung ist die nach gleichem Zugang zur Selbstvervollkommnung – in den Worten von Pfeffer (1990: 115): »the right of equal access to the means of self-realization«.
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aufklärerischen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf praxisbezogene Weise, doch er fügt Entscheidendes hinzu: Forderungen nach Freiheit und Gleichheit werden erst durch ihren Beitrag zur menschlichen Entwicklung begründet. Seit der Deutschen Ideologie wird diese Entwicklung als individueller Prozess gedacht. Diese Vision ist perfektionistisch fundiert: Liberale und egalitäre Werte müssen der persönlichen Entwicklung dienen; tun sie dies nicht, haben sie keinen Eigenwert oder sind zumindest ideologieanfällig. Freiheit ist erst dann wirklich, wenn sie den Individuen zu ihrer persönlichen Entwicklung verhilft, Gleichheit erst dann, wenn allen Individuum eine solche möglich ist. Es ging Marx keineswegs um eine Uniformierung der Gesellschaft durch eine rigoristische Gleichverteilung des ökonomischen Kuchens, sondern um Bedingungen für eine bessere Entwicklung der Menschen, um individuell angeeigneten menschlichen Reichtum (MEW 26.2: 111). In seiner Verklammerung dieses politischen Modells mit einer Philosophie der Natur, der Gesellschaft und des Subjektes haben wir eine Systematik wiedergetroffen, die schon andernorts begegnet war (etwa bei Condorcet, Gross, Dewey, Sher und Wall). Dass alle drei Momente bei Marx erneut begegnen, zeigt nicht nur, dass er ein fleissiger Leser war, sondern weist vielmehr darauf hin, dass wir hier auf eine implizite Systematik gestoßen sind: eine ausdifferenzierte Sozialontologie von Natur, Gesellschaft und Selbst führt auf die Trinität der miteinander verklammerten Wertquellen von Freiheit, Gleichheit und Entfaltung, die sich wechselseitig stützen, aber auch korrigieren können. Das ist gegenüber herkömmlichen normativen Katalogen ein innovatives und in der Anwendung überraschend flexibles Set.
V. Freiheit, Gleichheit, Entfaltung: Fazit
Wegmarken und große Linien Wir sind einen weiten Weg gegangen. Lassen wir die wichtigsten Wegmarken noch einmal Revue passieren. Die Ausgangsbeobachtung in Kapitel I war, dass es im historischen Rückblick als Sondersituation erscheint, wenn die Philosophie der Gegenwart nicht perfektionistisch argumentiert. Die philosophische Tradition hat seit Aristoteles fast immer auf irgendeine Weise so gedacht. Es ist auch nicht ganz richtig, dass der Perfektionismus in der Gegenwart gar keine Rolle spielt. Zwar spielt er in der politischen Philosophie der Gegenwart eine Nebenrolle, in der Politik allerdings ist er verbreiteter. Fast die einzige Philosophie, die sich offen zu perfektionistischen Ideen bekennt, ist allerdings der radikale Konservativismus. Das steht in einer seltsamen Spannung zur egalitaristischen und freiheitlichen Tradition des Perfektionismus. Diese Tradition wieder stärker zu machen war das Motiv des vorliegenden Buches. Zum Einstieg hat sich die Arbeit mit einer exemplarischen konservativen Variante des modernen Perfektionismus beschäftigt (II.1). Dabei hat sie feststellen müssen, dass diese Philosophie im Handwerklichen viel besser ist als ihr Ruf. Es erwies sich dann als ein Holzweg, diesem ›starken‹ Perfektionismus durch ein neutralistisches Vermeidungsverhalten zu begegnen. Das gleicht nicht nur einem Pfeifen im Walde, es schwächt auch die liberale Position, da für die vom politischen Liberalismus in Anspruch genommenen Güter seltsamerweise kaum mehr material argumentiert wird (II.2). Das ist misslich, da diese Güter auf den zweiten Blick ebenfalls einen perfektionistischen Charakter aufweisen. Warum sind gerade sie opportun und die anderen nicht? Vieles hing an der Unterstellung eines fiktiven Konsenses, der aber in der direkten Konfrontation mit dem konservativen perfektionistischen Gegner wie eine Art Selbstüberredung gewirkt hat, was philosophisch nicht zufrieden stellen kann.
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FREIHEIT, GLEICHHEIT, ENTFALTUNG
Darum ruhte die Hoffnung der Arbeit auf Versuchen, dem radikalkonservativen Perfektionismus nicht durch Abstraktionen, sondern durch bessere Argumente auf derselben Sach-Ebene zu begegnen. Allerdings zeigte sich in Kapitel II.3, dass dies leichter gesagt als getan ist: Dem ersten Versuch bei Thomas Hurka gelang dies nicht, vielmehr wurden die antiliberalen und anti-egalitären Tendenzen dort sogar bestärkt. Etwas anders sah es im Entwurf von Sher aus; allerdings beobachteten wir hier, dass die Stärke seines Ansatzes von Argumenten aus einer Ebene abhing, die Sher selbst gar nicht in Anspruch nehmen wollte. Wir mussten Shers Buch daher gegen den Strich ›rekonstruieren‹. Erst das Buch von Steven Wall wies den Weg zu einem alternativen Perfektionismus, wenn auch nur in Grundzügen. Obwohl Wall selbst weder Progressivist noch Egalitarist ist, ließ sich mit seiner Hilfe eine Systematik entwerfen, nach der normative Forderungen des Perfektionismus in Korrelation zu bestimmten Seinsregionen zu entwickeln und zu begründen sind. Die Überlegung war, dass eine Ebene der Gesellschaft von der der menschlichen Natur zu unterscheiden ist, und diese nochmals von dem Seinsbereich der ›qualitativen‹ Individualität.1 Dem Eingedenken der Natur korreliert eine kreatürliche Freiheit (nämlich die, sich nicht ganz von den Institutionen ›konsumieren‹ zu lassen), die wir als Kraft zur Selbstvervollkommnung begriffen; während Gesellschaft vor allem als egalitäre Bedingung für eine gute Entwicklung der Menschen in den Blick kam. Das Ziel einer solchen Politik aber ist nicht nur die Verwirklichung allgemeiner – dem Individuum vielleicht »fremder« – Anlagen, sondern zugleich und vor allem die Entfaltung ihres je individuellen Selbst. Auf diese Weise hängen die drei Bereiche als ein Bedingungsgefüge zusammen. Dieses Gerüst galt es nun, mit Substanz zu füllen. Das folgende Kapitel III machte sich daher auf die Suche danach, was von tonangebenden Philosophien der Gegenwart zu diesen drei Bereichen zu lernen sei. Unsere Neulektüren entsprachen nicht den Standardlesarten (sonst wären sie auch gar nicht nötig gewesen). Das Ergebnis war allerdings mager: Beim ›Egalitaristen‹ John Rawls zeigte sich bei genauerem Hinsehen, dass es bei ihm um die soziale Gleichheit gar nicht gut bestellt ist. Er ähnelte sogar strukturell demjenigen Anti-Egalitaristen, den er 1971 für seine Ablehnung des Perfektionismus verantwortlich machte, nämlich Nietzsche (III.1).
—————— 1 Zum ähnlichen ontologischen Stufenbau im »kritischen Realismus« Archer (2000).
FAZIT
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Auch bei Martha Nussbaum, deren Werk wir für das Thema der menschlichen Natur genauer unter die Lupe nahmen, wurde deutlich, dass ihr die Region der Natur gar nicht so lieb war wie man annehmen sollte (III.2). Obwohl der Witz ihres Ansatzes gerade ihr aristotelischer Naturalismus war, gab sie diesen über die Zeit mehr und mehr preis. In der Sozialtheorie der Selbstverwirklichung von Axel Honneth schließlich war kein radikal individuiertes Selbst zu finden, das sich Institutionen entgegenstellen könnte – ein solches Entgegenstellen erschien bei ihm vielmehr als »Pathologie« (III.3). Zwar hat Kapitel III damit inhaltlich wenig für die Frage erbracht, wie ein politischer Perfektionismus mit ›mehr‹ Freiheit und Gleichheit genauer aussehen könnte. Doch da alle drei behandelten Philosophien Kritiken am Perfektionismus artikuliert haben, hat die kritische Neulektüre dieser zentralen Ansätze zugleich eine dreifache Antikritik an der Perfektionismuskritik geleistet – ein ›elenktisches‹ Ergebnis, das irgendwo in dieser Arbeit ohnehin hätte erbracht werden müssen. Woher aber lassen sich Argumente beziehen, die das in Kapitel II.3 erarbeitete Gerüst mit Substanz ausstatten können, wenn es weder der eigentliche Perfektionismus der Gegenwart, noch alternative Ansätze der politischen Philosophie sind? Nach dem in der Einleitung plausibilisierten Verfahren gingen wir dafür in die perfektionistische Tradition, um zu prüfen, wie diese zu ihrem egalitären und liberaleren Perfektionismus gekommen war (IV). Die Durchgänge dieses Kapitels waren erneut an den Regionen von Natur, Gesellschaft und Selbst sowie den korrespondierenden Werten von Freiheit, Gleichheit und Entfaltung orientiert. Obwohl die Natur, ontologisch betrachtet, ›früher‹ ist als die Gesellschaft, beginnen Kapitel III und IV jeweils mit der Gesellschaft, weil diese für die Menschen das erste ist. Der Rückbezug auf Natur findet statt, nachdem die Gesellschaft schon ›da‹ ist – Naturargumente formulieren oft eine Gesellschaftskritik (»Zur Kultur der Moderne gehört die Brechung der Kultur an Natur«, Menke 2005: 343). Daher ist mit Gesellschaft zu beginnen. Nach dem Perfektionismus der radikalen Aufklärung, dem Thema von Kapitel IV.1, ist eine Gesellschaft dann gut eingerichtet, wenn sie allen Menschen das »Erblühen« ermöglicht. Das tut sie vor allem dann, wenn sie für eine weitgehende rechtliche und soziale Gleichheit unter den Menschen sorgt. Gleichheit wird damit perfektionistisch neu begründet: Sie dient als Mittel zum Blühen der Menschen. Zugleich werden ihr damit Grenzen aufgezeigt, wenn sie diesen Zweck nicht mehr erfüllt. Bereits bei Rousseau schien die revolutionäre Möglichkeit auf, jede konkrete Gesellschaftsform
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durch den Rückgang auf eine perfektible Natur des Menschen zu hinterfragen. Aus der Natur der Menschen lassen sich für eine bessere Gesellschaft Folgerungen ziehen. Diesen Ansatz haben wir bei Helvetius und Condorcet weiterverfolgt. Allerdings erwies es sich als nötig, da die Natur des Menschen überaus formbar ist, sich die historisch spezifischen Lebensformen genauer anzusehen, da sich nur so zu inhaltlichen Forderungen kommen lässt – die Geburt der Soziologie aus dem Geist der Kritik. Diese soziologisch reiche Perspektive ist weitaus kritischer als ihre ›neutralisierte‹ Reformulierung bei Rawls: sie bleibt perfektionistisch und kommt zu einem sehr viel weiter gehenden Egalitarismus; ja sie ist bei Condorcet sogar schon postkolonial und feministisch grundiert. Im zweiten Durchgang zur menschlichen Natur erlaubte uns eine Auseinandersetzung mit Alasdair MacIntyre, Argumente aus der Betrachtung der menschlichen Natur für die Ausformulierung einer normativen politischen Philosophie zu nutzen (IV.2). Was das im Einzelnen aussagt, zeigte die Betrachtung der liberalen Klassiker J.S. Mill und John Dewey. Beide waren nicht nur Perfektionisten, sondern zudem naturalistische Liberale. Ihre Denkungsart kommt zu dem dialektischen Schluss, dass gerade die naturalistische Relativierung des sozialen Konformismus es erlaubt, dem sozialen Druck politisch Grenzen zu setzen. Eine weitergehende Betrachtung erwies das geradezu als den Witz der positiven Freiheit, welche von Isaiah Berlin seltsam unterbestimmt wurde. Damit erlangte die perfektionistische Politikphilosophie weitere konkrete Konturen. Schließlich zeigte eine Betrachtung von Ausformulierungen einer Selbstverwirklichung-mit-Selbst, dass auch radikal-individualistische Vorstellungen sich keineswegs erübrigt haben (IV.3). Die Kritik des hermetischen Kulturalismus aus vorigen Kapiteln erlaubte es, die Rede von einem individuellen Selbst, welches es erst zu entwickeln gilt – zur Not auch gegen die vorgefundene Umwelt – als lebenspraktisch sinnvolle Option zu reformulieren. Vor allem anhand von Autorinnen, die normalerweise aus der Philosophiegeschichte ›herausfallen‹, konnte deutlich gemacht werden, dass der Perfektionismus mit diesem radikal-individualistischen Zweig von Otto Gross, Karen Horney und Abraham Maslow bereits über Weggenossen aus den empirischen Wissenschaften vom Menschen verfügt. Ein letztes Kapitel (IV.4) beschäftigte sich mit Karl Marx; weil bei diesem wichtigen Denker des 19. Jahrhunderts vieles von dem im Vorigen Ausgeführten weitergeführt (das betrifft Aristoteles und die radikale Aufklärung) oder vorgedacht wurde (so Ideen zur Selbstverwirklichung).
FAZIT
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Das Bewusstsein dieser philosophisch-normativen ›Unterseite‹ der politischen Ökonomie ist in der philosophischen Marx-Rezeption keineswegs verbreitet. An der Betrachtung von Marx konnte noch einmal ein Punkt gestärkt werden, der bereits bei Helvetius, T.H. Green und John Dewey deutlich wurde: Die politischen Eingriffe, die ein egalitärer Perfektionismus im Sinne der guten Entwicklung der Individuen vorschlägt, sind reaktiv. Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der beschleunigten industrialisierten Moderne greifen bereits massiv in das Leben der Menschen ein. Eine Rechtfertigung politischer Maßnahmen fällt philosophisch wesentlich leichter, wenn es sich um Korrekturen von Fehlentwicklungen handelt, als wenn ein ansonsten unproblematisches soziales und individuelles Leben durch Eingriffe allererst ›gestört‹ und so möglicherweise verhindert würde. Versuchen wir an dieser Stelle noch einmal die großen Linien nachzuziehen, die sich in der Begegnung mit so unterschiedlichen Schwergewichten der Philosophie abgezeichnet haben. Zunächst ist dies methodisch die Einsicht, dass die Philosophie manchmal einer Selbstkorrektur bedarf, die sie sich aber sehr wohl mit eigenen Mitteln verabreichen kann. Das Denken – sowohl das der Individuen, als auch das von Disziplinen – ist träge und langsam, es verläuft in institutionellen Kontexten, die keine großen Sprünge erlauben, sondern lange Zeit in einem »Flussbett der Gedanken« (Wittgenstein) verlaufen, das durch kategoriale Entscheidungen großer Vordenker eine Zeitlang in diese oder jene Richtung geleitet wird. Dass der Fluss dabei insgesamt klüger wird; die Philosophie »heute« also weiter wäre als vordem, das ist damit nicht gesagt. Solche Sätze, würde man sie äußern, gäben lediglich das Selbstverständnis einer Schule wieder – und natürlich hält sich jede Schule für der Weisheit letzten Schluss. (Dennoch kann ein Satz nicht von sich selbst sagen, dass er wahr ist). Nun ist die Philosophie nicht allein auf der Welt, sie spielt kein Glasperlenspiel. Daher kann man von der Angemessenheit oder Unangemessenheit einer Philosophie sprechen; gerade nach dem hier vertretenen Ansatz, der der Gesellschaftstheorie und den Naturwissenschaften einen Platz in der philosophischen Kritik einräumen möchte. Angemessen wäre es, in einer Zeit, in der viele soziale Errungenschaften politisch zurückgenommen werden, in der die soziale Ungleichheit zunimmt, die ökologische Problematik sich verschlimmert und die Individuen – gerade den ›angesagten‹ Zeitdiagnosen zufolge – mit sich und ihrer Situation nicht mehr glücklich sind, wieder eine Philosophie zu vertreten, die auf fundierte Weise kritisch gegenüber ihrer Umwelt ist. Die Rückbesinnung auf philoso-
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phische Traditionen hat uns gezeigt, dass das einmal möglich war, dass die Philosophie einst sogar wegweisend war für die Gestaltung der Zukunft. An keiner Stelle dieser Arbeit hat sich eine wirkliche ›Widerlegung‹ dieser alten Philosophie durch die neue gezeigt: weder Kant noch Rawls, Isaiah Berlin oder Foucault haben die alte Philosophie aus den Angeln gehoben. Im Gegenteil ließen sich diese ›Standardkritiken‹ selbst hinterfragen, als wir sie mit dem von ihnen Kritisierten konfrontierten. Seltsamerweise ist das Alte in diesem Fall das Zukunftsweisendere; während es das neue, auf merkwürdige Art den Zeitumständen verhaftete Denken zu kritisieren gilt. Damit können wir der Philosophie einen Halt jenseits ihrer DauerSelbstbespiegelung verschaffen. Das argumentative Gerüst, das sich durch die Arbeit mit dieser perfektionistischen Tradition abgezeichnet hat, hat dafür drei Bereiche genannt: die menschliche Natur als Ermöglichungsgrund menschlicher Freiheit (wir nannten es die »Kraft«), die Gesellschaft als reale Struktur, die die Menschen nicht nur sozialisieren und unterstützen, sondern auch beengen und bedrängen kann (was eine eigene Wissenschaft von ihr erfordert), und das individuelle Selbst, das nicht in sozialen Konstruktionen aufgeht und dessen Verwirklichung daher im Zentrum des Perfektionismus steht. Über diese drei Seinsbereiche muss Philosophie etwas sagen können, denn sie stehen ›hinter‹ den korrespondierenden Werten der Freiheit, der Gleichheit und der Entfaltung, die diesem Buch den Titel gab. (Mit Hartmut Rosa könnte man von Resonanzböden reden.) Diese Verbindung zwischen realen Entitäten und ›Werten‹ ist die spezifische Begründungsleistung des Perfektionismus. Begründung heißt in diesem Fall, dass die Normen weder einfach bezugslos in der Welt herumstehen (als abstraktes Sollen), noch allein in einem tatsächlichen Wollen der Einzelnen (im Denken oder in den Begierden – also letztlich ›subjektiv‹) verortet werden. Dass die Menschen selbst etwas wollen und vollziehen ist für die Realisierung eines Gutes zwar unverzichtbar: Es gegen Individuen zu realisieren wäre nicht nur paternalistisch, es wäre sogar unmöglich, weil selbstwidersprüchlich. Nur ist die Beobachtung, dass jemand etwas will, noch keine Begründung dafür, dass dieses etwas gut ist.2 Sie selbst kann nach Begründungen dafür fragen, ob und warum etwas gut ist. (›Ich habe das Gefühl, dass x zu tun gut wäre, aber gibt es eigentlich einen Grund für diese Annahme?‹) Es wäre dann nicht mehr hilfreich, ihr zu sagen, x sei gut, weil sie es eben wolle. Ob sie es wollen soll, steht ja gerade in Frage.
—————— 2 Dewey trennt »The desirable as distinct from the desired« (1939: 32; Joas 1999: 169).
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Wenn die Person das Richtige wollen möchte (was nach Harry Frankfurt ein möglicher Wunsch ist), fehlen dem Subjektivismus Begründungen. Genau an dieser Stelle geht der Perfektionismus weiter – aber er steht damit, dass er mehr sagen möchte, nicht automatisch gegen die Menschen. Im Gegenteil. Die Menschen leben in derselben realen Welt, in der es die Natur, die Gesellschaft und viele einzigartige Individuen gibt. Ihnen ist klar, dass man darüber etwas wissen sollte, wenn man die richtigen Entscheidungen treffen will. Eine Philosophie, die davon nichts mehr wissen können will (aus wohlmeinendem Anti-Naturalismus oder Anti-Essentialismus, aus einem Verzicht auf Theorien des Guten für die politische Philosophie und ähnlichen Motiven mehr), hat sich aus dem politischen Wettstreit um die besten Begründungen abgemeldet und darum nichts mehr zu melden. Das muss nicht so sein. An dieser Stelle gilt es abschließend noch einmal einen Blick zurück (zur Frage der Begründungen) sowie einen Blick voraus (auf mögliche Weiterungen) zu werfen. Beginnen wir mit einer phänomenologischen Rechtfertigung des hier entwickelten Konzeptes der »inneren Natur« als Grundlage perfektionistischer Normativität.
Ein Blick in die Gründe: Die Rolle der Natur in der Ethik Ein Frage, die uns öfter beschäftigen hat, stellt sich angesichts des seltsamen Konformismus in neueren Sozialphilosophien (etwa beim frühen MacIntyre, der reifen Nussbaum oder bei Axel Honneth): Was genau soll eigentlich »immanent« heißen, und was heißt extern (oder transzendent)? Außerhalb von was? Es gibt zwei Strategien, den hermetischen Kulturalismus zu unterlaufen, der die Entpolitisierung der Philosophie nach sich zog: Ein Weg, der Weg über den ›Geist‹, kann Verständigung im Ausweg nach ›oben suchen – dafür stand in Davos 1929 beispielsweise Ernst Cassirer ein. Die Suche nach übergreifenden Rahmungen (normativen, begrifflichen oder epistemischen) und der darauf aufbauende intellektuelle Austausch über Kulturen hinweg erscheint dann als möglich, weil das Denken nicht vollständig von der Kontingenz des Herkommens determiniert ist. Es kommt dann philosophisch darauf an, zwischen abstrakten Universalien und lokalen Kontexten zu vermitteln, auf dass dieser Geist nicht länger als
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äußerlich erscheine.3 In einer sich »postmetaphysisch« verstehenden Philosophie ist dieser idealistische Hegelsche Weg nur bedingt gangbar (etwa als »inquiry« wie bei Dewey oder als »idealer Diskurs« wie bei Habermas). Er ist weiterhin auf Hoffnungen angewiesen; denn es muss stets dazugesagt werden, dass dieser Geist der Einheit, der noch nicht unter uns ist, sicher bald komme.4 Allerdings lässt sich postmetaphysisch nicht mehr sagen, woher er kommen soll (jedenfalls nicht aus ›der‹ Vernunft oder ›dem‹ Subjekt), so dass sich das utopische Element gegenüber Kant noch verstärkt. Postmetaphysisch heißt nicht schon post-utopisch, im Gegenteil. Der andere Weg führt nach ›unten‹ und fragt weniger wo als vielmehr worüber eine Einheit zu erzielen wäre. Möglicherweise haben Kulturen oder die Menschen in ihnen Probleme und Praktiken gemeinsam – etwa solche, die in ihrer natürlichen Verfasstheit gründen. Dieser Weg führt über Realien wie die Natur des Menschen (von der der Geist nur ein Teil ist). Faszinierend war der Aristotelismus für viele, weil er eine andere Alternative zur Hermetik des Kulturalismus bot, die nicht die Hypotheken des Idealismus einkaufen musste. Aber welches Naturverständnis kann man zugrunde legen? Will man den normativen Monismus der Kultur in einem Rückgang auf Natur vermeiden, gibt es erneut zwei Möglichkeiten: Entweder man versucht es mit der spiegelverkehrten Negation: statt die Natur im Interesse der Kultur zu streichen, um einen ›sozial-teleologischen‹ Ansatz zu bekommen (so MacIntyre 1981 oder die »Geschichtsteleologie« bei Honneth 2011a: 22), könnte man das kulturelle Element zu streichen suchen und eine rein naturalistische Ethik formulieren. Da hat jedoch wenig Aussicht auf Erfolg. Diese Variante liefe auf ein revisionäres Projekt hinaus. Wir müssten das moralische Vokabular umschreiben: alles müsste sich irgendwie auf eine Natur-in-der-Sprache-der-Naturwissenschaften zurückführen lassen; doch das dürfte unmöglich sein. Es ist auch gar nicht klar, wie genau das aussehen soll: soll man sich radikale Soziobiologen vorstellen, die nur noch Werte gelten lassen wollen, die sich in der Sprache der Evolutionsbiologie oder Hirnforschung reformulieren lassen? Auch diese bleibt letztlich an unsere Alltagserfahrungen zurückgebunden.
—————— 3 Dass war z.B. die Absicht des Frankfurter Soziologen Gottfried Salomon(-Delatour).. 4 Deweys Beschwörung der »great community« (1927) sprach die Zukunftsverwiesenheit aus. Die Intellektuellen formulieren an Stelle der Bürger einen ›Konsens‹ und bauen darauf, dass seine Legitimität irgendwann nachkommt (»we do not have to show that the consensus exists at present«, Nussbaum 2006: 388, s.u., III.2; Reitz 2009). Doch womit begründen sie das als Konsens behauptete? Es kann nicht die Übereinstimmung sein, denn die steht aus. Zum Weiterleben der Utopie in liberalen Abstraktionen Mannheim 1929.
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Alternativ kann man versuchen, zurück zu Aristoteles zu gehen, indem man die Dualität seiner Perspektiven akzeptiert und anders aufzulösen versucht als er. Natur bliebe dann mit Kultur ›verträglich‹, zu fragen wäre nur, wie das vorzustellen sei. Soll eine Opposition von Natur und Kultur Sinn machen, kann man jedoch schlecht mit einem Kompromissterm wie der »zweiten Natur« arbeiten (die uns aus dem Munde Schellings begegnete, IV.4): Wenn alles Soziale bereits »zweite Natur« sein soll, verliert die Opposition zwischen Kultur und Natur ihren Sinn. In der integralen Vermittlung einer allumfassenden Kategorie sind alle Katzen grau. Normativ kommt es auf den Widerstreit zwischen diesen Dimensionen an. Die zweite Natur ist nicht immer schon ›natürlich‹, es muss auch Denaturierungen geben können, eine Entfremdung von der Natur also, wie sie Rousseau beschworen hat. Freuds Grundidee etwa, die Unterdrückung eigentlich ›natürlicher‹ Triebe und die Verdrängung selbst noch des Bewusstseins dieser Bedürfnisse, wäre ein Beispiel. Selbst wenn Freud sich nie dazu durchgerungen hat, seine Zeit als eine ›denaturierte‹ zu verdammen und für eine enthemmte Kultur einzutreten, die Idee war geboren und wurde von Otto Gross, später von Wilhelm Reich und anderen, vertreten (s.u., IV.3). Allerdings ist dieser kulturelle Kampf nicht mit dem im Kampf als Formel Vorgebrachten zu verwechseln. Wenn von Rousseauisten und Freudianern natürliche (oder ökologische) Bedürfnisse gegen eine ›denaturierte‹ Kultur ins Feld geführt werden, dann bedeutet das gerade nicht, dass diese Menschen auf Kultur schlechthin verzichten wollen. Gefordert wird vielmehr eine Kultur des gerechteren Umgangs mit der menschlichen sowie der äußeren Natur. »Denn Humanität ist das Eingedenken der Natur im Menschen« (Adorno 2004: 346; ähnliche GS 3: 58).5 Es gibt auch hier eine Vermittlung zwischen Kultur und Natur, nur wird in einer Art Hebelwirkung im Interesse einer neuen Kultur die Natur gegen die alte Kultur gesetzt. Von hier aus wird der Blick frei für die enge Verbindung zwischen »Naturrecht und Revolution«,6 die im anti-naturalistischen Selbstverständnis seltsam unterbelichtet bleibt. Die Opposition zwischen Natur und Kultur bewegt sich innerhalb der Kultur und weiß das auch – wenn sie es überspringt, wie im reduktiven Naturalismus, ist das zu kritisieren. Damit sind wir wieder vor die Frage gestellt, wie das zu denken ist. Entweder deutet man den Bezug auf Natur,
—————— 5 MacIntyre 1999 verspricht sich vom Eingedenken der Natur in uns mehr ökologische Sensibilität. Zu Adornos Naturbegriff Link 1986: 86 ff. und Becker 1997: 228ff. 6 Siehe Habermas 1963: 89ff.; ähnlich bereits Bloch 1961.
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da er kulturell geformt ist, selbst als nichts-als-Kultur; als ein soziales Konstrukt ohne Bezugnahme auf etwas Reales. Das wäre ein kulturalistischer Fehlschluss, mit dem man wieder bei MacIntyres früher Lösung angelangt wäre. Oder man versucht, die Spannung zwischen Kultur und kultureller Bezugnahme auf Natur nicht voreilig aufzulösen, sondern als Spannung weiter auszuleuchten. Die Frage ist nur: Wie wird Natur hier eigentlich verstanden, wenn doch ein reduktiver Naturalismus keine Option ist? Die Frage, wie man Natur und Kultur innerhalb der Kultur überhaupt verbinden kann, ohne sie in ihrer Materialität zu verkürzen, ist eine der schwierigsten in der Philosophie. Erschwerend machen sich bei einer solchen Frage disziplinäre Voreinstellungen bemerkbar, die entweder alles als kulturelle Konstrukte oder als natürliche Phänomene hinstellen wollen. Beides führt in dieser Frage nicht weiter. Ein möglicher Weg in diesem Dilemma ist es, zu betrachten, welche Rolle die Bezugnahme auf Natur eigentlich innerhalb der Kultur spielt. Dafür müssen wir lediglich unterstellen, dass Menschen die Natur – inklusive ihrer eigenen – irgendwie erleben können. Wenn sie von ihr sprechen, sind das keine bloßen Erzählungen, sondern dahinter stehen reale Erfahrungen, die vielleicht täglich gemacht werden; z.B. mit dem eigenen Körper und seinen Reaktionen, aber auch mit Tieren, mit dem Wetter oder im Wald. Es ist angesichts dieser Erfahrungsbasis eine philosophisierende Verzerrung, gleich mit der Kanone des ›privilegierten Zugangs‹ zu einer vermeintlich ›wahren‹ oder ›essentiellen‹ Natur, den es nicht geben könne, auf den Spatz der alltäglichen Naturerfahrung zu schießen.7 Denn was den Individuen in dieser Erfahrungsebene widerfährt, kann durchaus querstehen zu den Erfordernissen der Kultur, zu den auferlegten Zwängen und Selbstzwängen, die der Preis der Zivilisierung und der Stoff der immanenten Normen sind. Das beginnt mit der Müdigkeit von Kindern in zu frühen Schulstunden und führt bis zu psychosomatischen Erkrankungen, wenn Menschen systematisch ihre Bedürfnisse nach Erholung, Ruhe und Spiel oder Zuwendung etwa zugunsten der Arbeit – oder familiärer Zwänge – vernachlässigen. Nun steht nach Horkheimer und Adorno (GS 3: 30) am Anfang jeder Kultur eine Unterwerfung der eigenen Triebe. Das gilt für Kinder wie für Kulturen, als Sozialisierung wie als Zivilisierung: Kinder müssen nicht nur den Kampf mit dem Wecker bestehen, sondern auch ihre Gefühle und leiblichen Regungen beherrschen lernen. Auch in Kulturen müssen sich
—————— 7 »Primary experiences« waren für Dewey zentral. Siehe die Parallele zu Husserl, aber auch zu Voegelin, der ebenfalls von »Primärerfahrungen« sprach (Gutschker 2002: 79).
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leibliche Regeln erst einmal einspielen, was vor allem unterdrückten Schichten oder ›kolonisierten‹ Völkern schwerfallen kann, wenn sie selbst gar nicht von ihrer ›Selbstbeherrschung‹ profitieren (wie es beim Kind idealerweise irgendwann der Fall ist). Sie werden daher nicht nur von ihren eingespielten Umgangsweisen mit ihrer Natur, sondern auch von den eigenen Sinngebungskompetenzen entfremdet. Zu etwas gezwungen werden, dessen Sinn man nicht einsieht, ist weit schlimmer, als zu etwas gezwungen zu werden, was man selbst will, aber allein nicht schafft (etwa mit dem Rauchen aufzuhören oder eine gute Schule zu besuchen).8 Hier die Seite der Natur ergreifen heißt also nicht, auf Kultur verzichten zu wollen, sondern die bestehende Kultur derart ändern zu wollen, dass eine ›Passung‹ zwischen Natur und Kultur wieder möglich wird. Schon unerfüllte Grundbedürfnisse – Hunger, Durst, Frieren, sich Ängstigen, dauerhaft frustriertes Begehren – können diese normative Kraft entfalten. Sie transportieren nicht schon als Bedürfnisse eine transzendentale Garantie mit sich, dass sie immer schon von der Gesellschaft zu erfüllen wären (als begründeten Bedürfnisse allein schon Rechte).9 Doch sie sind Erfahrungsweisen von Natur, die Menschen dazu bringen können, sich gegen ihre eigene Kultur aufzulehnen. Rousseau und Nussbaum würden wohl sogar ein auf Mitleid beruhendes Gerechtigkeitsempfinden als derartige Naturerfahrung zulassen. Daher haben Machiavellistische Herrscher stets ein Auge auf Brot und Spiele; auf billiges Bier und TV. Es lässt sich also ein Unterschied machen zwischen einer gelingenden Sozialisierung und einer solchen, in der die Natur eines Menschen nicht restlos in die für ihn vorgesehene kulturelle Form passt. Gelingen meint gerade kein restloses Beherrschtwerden, keine Abrichtung in den Konformismus, sondern die Fähigkeit, die kulturellen Regeln aus freien Stücken zu übernehmen und durch kreative Interpretation zu verändern. Beim Nichtgelingen kann sich ein Subjekt regelrecht aufreiben – die Rache dafür ist empfundenes Unglück. Harmlose Beispiele dafür wären es, wenn jemand mit Vorliebe und Talent für Musik oder Theater gezwungen würde, einen Beruf als Banker oder Gärtner auszuüben, seine ihm eigene Anlage
—————— 8 Zur Dimension des Sinnes Frankl (1972). Die Sache wird komplizierter, wenn das Einverständnis erst ex post erfolgt (das berührt die in der Vorrede benannte Zeitlichkeit). 9 So stellt Knoll (2008: 255ff.) Nussbaums Ideen von Sozialdemokratie dar. Es mag Rechte geben, die bestimmte Grundbedürfnisse als schützenswerte ansehen, dennoch schaffen Bedürfnisse nicht per so schon Rechte. MacIntyre 1981: 66f. kritisiert den Schluss von Bedürfnis auf Recht an Gewirth 1978.
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nicht entwickeln kann und sich darum um sein Glück gebracht sieht.10 Weniger harmlos ist es, wenn Menschen ihrer angeborenen Freiheit beraubt werden. In solchen Fällen meldet sich etwas, in der Regel in der Erlebnisqualität von Gefühlen wie Zorn oder Verzweiflung, Wut, Empörung oder Ärger – das als ›Natur‹ erfahren und gegen die Gesellschaft gestellt wird. Hier kehrt also die Dualität von MacIntyres Aristoteles wieder, der zwischen Kultur und Natur unterscheidet, und hier gibt es in der Tat einen Widerstreit zwischen ihnen. Die Versprachlichung und Deutung solcher Erfahrungen der eigenen Natürlichkeit kann umkämpft bleiben. Es ist möglich, dass solche Erfahrungen etwa von einer religiösen Sprache bereits als Verfehlung – als ›sündhafte Regungen‹ – umgedeutet werden und daher vom Erlebenden nicht als Regung einer Natur, sondern als moralischer Makel umschrieben werden.11 Thematisiert wird dann nicht mehr die Erfahrung selbst, sondern die vorgebliche Entscheidung des freien Willens, sie überhaupt zuzulassen. Es lässt sich daher daran festhalten, dass solche Erfahrungen von den meisten Menschen gemacht werden – selbst denen, die eine andere, sagen wir: spiritualistische Anthropologie vertreten. Auch Priester haben Hormone. Solche Erfahrungen sind keineswegs metaphysisch, sondern alltäglich; ebenso wenig sind sie transzendent, sie sind immanent, denn sie werden tatsächlich erlebt. Das meint: Sie sind erfahrungsimmanent, jedoch nicht unbedingt schon im Wertekanon einer Kultur enthalten. Kulturen können repressiv sein. Lediglich für eine Philosophie, die die leibliche Erfahrungsebene zugunsten von Diskursen und sozialen Konstruktionen ausblendet, müssen diese Erfahrungen als extern erscheinen.12 Richtig daran ist nur, dass sie vielleicht in der offiziellen Philosophie nicht vorkommen. Das heißt gerade nicht, dass es sie nicht gibt, es kann auch Resultat einer philosophischen Blickverengung sein, wenn Philosophie nur Philosophie wahrzunehmen vermag (»Geist vom Geist«, MEW 3: 37). Ein caveat ist daher am Platze: Die Philosophie sollte sich nicht durch einen übereifrigen Anti-Naturalismus zum Erfüllungsgehilfen derer machen, die Erfahrungen von Natur abbiegen und umdeuten wollen. Solche leiblichen
—————— 10 Siehe Steinbichlers Film Winterreise (2007). Der Realsozialismus war hier noch ärger. 11 Foucault schrieb der Beichte diese Funktion zu: Zwischen das Subjekt und seinen Körper tritt ein Diskurs, der die Selbstbeziehung zu einer fremdbestimmten macht. Die antikisierende »Sorge um sich« versucht, dem zuvorzukommen und ein ›authentisches‹ Selbstverhältnis zu ermöglichen. 12 Siehe III.3. Wenn Charles Taylor von »transcendent goods« spricht (»Justice after Virtue«, in: MacIntyre 1994), meint das eher »transzendental« (Gutschker 2002: 370).
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Erfahrungen als natürliche zu beschreiben kann etwas Befreiendes sein: man muss nicht länger bei sich selbst nach moralischen Verfehlungen oder bei anderen nach Sündenböcken suchen. Machen wir es uns aber noch einmal schwerer und gehen auf drei Einwände gegen das Gesagte ein. Gegen diese Beschreibung leiblicher Erfahrungen als Erfahrungen der Natur des Menschen ließe sich erstens einwenden, dass dieses emotionale Aufbegehren zwar leibhaft sei, aber nicht natürliche, sondern selbst wieder soziale Gründe habe. Eine marxistische Analyse könnte etwa behaupten, dass bürgerliche Ansprüche auf mehr Freiheit und Gleichheit gar nicht auf etwas naturgegeben Menschliches abheben, sondern nur durch eine bestimmte soziale Konstellation ermöglicht wurden – etwa eine bereits eingeübte Praxis bürgerlicher Selbstverwaltung im ökonomischen Bereich, die nun gegen den Adel auf den politischen Bereich übertragen werden soll. Doch hier ist zu unterschieden zwischen Anlass und Grund, zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang: In der Tat war diese Konstellation ein wichtiger Anlass, ohne den es vielleicht gar nicht erst zu bürgerlichen Forderungen nach Freiheit und Gleichheit gekommen wäre. Doch ein Anlass für eine Forderung ist nicht dasselbe wie die Instanz, mit der diese Forderung begründet wird: Es kann immerhin sein, dass es die menschliche Kompetenz zu einer Selbstbestimmung, die hier womöglich erstmalig eingefordert wird, tatsächlich gibt. Es ist also nicht nur Ideologie, wenn Rousseau sagt: »Der Mensch ist frei geboren«. Denn vermutlich stimmt es, dass alle anderen Menschen sich ebenfalls selbst führen könnten – zumindest unter ähnlichen Ausgangsvoraussetzungen. Forderungen nach Freiheit und Gleichheit werden zwar kontingent entdeckt, haben aber ein fundamentum in re, nämlich in bestimmten Merkmalen der Menschen wie der Fähigkeit zur Selbstführung, die ihnen schon als Naturwesen zukommen. Zwischen Historisierung und Naturalismus besteht kein Widerspruch.13 Ein zweiter Einwand könnte behaupten, selbst die Gefühle, die man in solchen Situationen empfinde, seien ›sozial geformt‹, und daher sei es ein Kurzschluss, hier Natur am Werk zu sehen. Dieser Einwand geht doppelt fehl. Einmal ist eine soziale Formung kein Einwand gegen einen Schluss auf Natur. Anpassung an die Umwelt ist ein grundlegender evolutionärer Mechanismus, so dass das sich Anpassende durch die Anpassung nicht aufhört, ein Natürliches zu sein. Sogar Aristoteles’ Ethik beabsichtigt eine solche »Selbstformung« (Kipke 2009) der eigenen Gefühle: Der Charakter
—————— 13 Dieser entsteht erst, wenn die Entdeckung als Konstruktion gedacht wird, die Dinge erzeugt, die fortan kontextunabhängig gälten (Raz 2003, vgl. Honneth 2010: 114f.).
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des Tapferen ist weder feige noch tollkühn, und das bewirkt er selbst, indem er tapfer handelt. Mensch leben immer in irgendeiner Kultur; damit fallen sie noch nicht aus der Natur heraus. Desweiteren bezieht die soziale Formung sich zumeist auf die Art und Weise, wie ein Gefühl ausagiert wird und wann es empfunden werden muss, weniger auf die, wie es ›empfunden‹ wird. Selbst wenn es ›Empfindungsregeln‹ geben sollte14 und diese sich verändern, wäre die Empfindung als leibliche noch immer natürlich. Auch eine sich verändernde Natur bleibt Natur. Ähnlich verhält es sich, wenn gesagt wird: Menschen, die eine neue Kultur übergestülpt bekommen, waren zuvor gar nicht näher an ihrer eigenen Natur; sie lebten lediglich in einer anderen Kultur. Das ist ein weiteres Beispiel für den kulturalistischen Kurzschluss: Aus der Tatsache, dass Menschen immer in einer Kultur leben, folgt keineswegs, dass sie keine gemeinsame Naturausstattung hätten, der sie mehr oder weniger gut gerecht werden können. Dass es stets eine kulturelle Form gibt, in der die Natur des Menschen gelebt wird, bedeutet weder, dass es diese Natur damit nicht ›gibt‹; noch dass man nicht mit Rekurs auf diese Natur zwischen verschiedenen Formungen unterscheiden könnte. E ist durchaus möglich zu behaupten, dass die Menschen in einer früheren Kultur ihrer eigenen Natur gerechter geworden sind als in der späteren (weil sie länger geschlafen haben, weniger Fett und Zucker gegessen haben und mehr Zeit für ihre Kinder hatten). Selbstverständlich lässt sich das auch umkehren, wenn man sagt, dass die die von Illouz und anderen kritisierte Therapeutisierung der Gesellschaft uns zu mehr Freiheit und Gelassenheit im Umgang mit unseren Bedürfnissen verholfen hat, etwa im Vergleich zur Wilhelminischen Moral, die in Michael Hanekes Weißem Band (2009) zum Ausdruck kommt. Der dritte Einwand, den man machen könnte, thematisiert genau diesen Zugang zur Natur. Betreibt das Gesagte nicht einen Opferkult, in dem nur die Leidenden etwas über die menschliche Natur sagen dürfen? Was aber, wenn auch die Täter, Nietzsches »Herrenmenschen«, ihre Art zu leben und andere zu instrumentalisieren, als natürlich hinstellen? Das ist nicht selten der Fall, zu sehen schon an Aristoteles’ Versuch der Rechtfertigung von Sklaverei. Steht hier nicht Natur gegen Natur? Wir hätten dann mit dem Bezug auf Natur nichts gewonnen. Bertolt Brechts Frage (Brecht 2004), die der Agent Herrn Egge stellt: »Wirst du mir dienen?«, müsste nicht beantwortet werden: Es ist nur ›natürlich‹, dass er es tut. Der Herr sagt sinn-
—————— 14 So die »feeling rules« bei Hochschild: Wird einem Kind Zorn antrainiert (»Du darfst dir das nicht gefallen lassen«), empfindet es ihn auch dort, wo andere ihn nicht haben.
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gemäß: ›Dich unterdrücken ist Natur, also muss es so bleiben‹, der andere sagt das Gegenteil: ›Ich leide unter deiner Macht, das ist gegen meine Natur, es ist unnatürlich‹. Ist es nicht parteiisch, wenn nur der Zweite philosophisch Recht bekommt? Es kommt erneut darauf an, was man unter der menschlichen Natur verstehen will. Nur wenn die Bezugnahme auf sie als beliebig vorgestellt wird, hat der Einwand recht: Dieser Einwand zieht nur, wenn der Bequeme sich eine Natur ›konstruieren‹ kann, in der Mächtige immer recht haben (das Recht des Stärkeren, s.u., II.2), und der Dienende eine andere, in der das Dienen ungerecht ist. Das wäre kein kontrollierbarer Bezug auf etwas reales mehr, es wäre lediglich noch eine Beobachtung von Sprachspielen, die auf nichts weiter referieren. Aber diese Perspektive ist keineswegs zwingend. Denn es trifft keineswegs zu, dass sich nur beliebiges über die Natur des Menschen sagen ließe. Es gibt belastbare Aussagen, die primär der empirischen Wissenschaft entstammen; auch MacIntyre stützt sich in späteren Arbeiten auf diesen Fundus. Will man in der Philosophie bleiben, kann man immerhin einen Konsistenztest machen; denn was über die Natur des Menschen behauptet wird, muss immerhin stimmig sein. Solche Aussagen trifft auch Aristoteles (Kraut 2006): Er benennt Gattungseigenschaften des Menschen, die folglich allen Menschen als Menschen zukommen. Nicht nur, dass unter ihnen die Fähigkeit zur rationalen Selbstbestimmung ist, wird seiner Verteidigung der (natürlichen) Sklaverei zum Verhängnis, sondern schon die Tatsache, dass Gattungsaussagen per se universal sind: sie gelten entweder für alle oder für keinen. Beispielsweise kann ich entweder sagen: Hunde haben ein Fell; dann sollten auch alle Hunde ein Fell haben. Wenn manche Hunde jedoch keines haben, lässt sich diese Aussage als Aussage über die Gattung Hund nicht halten. Auf die Sklaverei übertragen heißt dies, dass ich nicht sagen kann: Alle Menschen haben die Fähigkeit zur rationalen Selbstbestimmung – außer denen, die uns dienen. Es gibt also durchaus eine Begründung dafür, dass der Dienende mit größerem Recht Bezug auf eine menschliche Natur nehmen kann als der Bequeme. Aussagen über die Natur einer Gattung gelten für alle Angehörigen einer Gattung. Sie müssen universalisierbar sein. Entweder verfügen Angehörige der Gattung darüber oder nicht.15 Wenn nicht, wäre es keine Gattungseigenschaft mehr (so wie nicht alle Hunde schwarzes Fell haben).
—————— 15 Man kann jedoch sagen, dass bisher nicht alle Menschen ihre Anlagen verwirklichen konnten. Daher machten Schiller, Feuerbach oder der spätere Godwin (Passmore 1970: 13f.; 186) zunächst das »Gattungswesen« zum Träger der Verwirklichung.
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Folglich kann es nicht die Eigenschaft der Gattung Mensch sein, zu herrschen – denn das können nicht alle übereinander. Sie können es nicht nur aus dem Hobbes’schen Grund nicht, dass sich auf diese Weise keine politische Ordnung konstituieren ließe. Es geht schon aus dem begrifflichen Grund nicht, dass man zum Herrschen jemanden braucht, der sich beherrschen lässt; doch dies kann, nach dieser Eigenschaft, zumindest kein Mensch mehr sein. Ob Menschen sich deswegen Haustiere halten? (»Arme Hunde, man will euch wie Menschen behandeln!« MEW 1: 385). Wohl aber lässt sich ein Satz der Art universalisieren, dass ein Leiden aufgrund von Fremdbeherrschung nicht sein soll, weil es eine natürliche Eigenschaft oder Anlage der Menschen verkümmern lässt. Denn dies trifft auf beide Agenten zu – würde der Dienende aus seinem Dienst befreit, dürfte er nicht umgekehrt den Herrn beherrschen, sondern beide müssten nun eine neue Form der gewaltlosen Koexistenz finden (daher die Notwendigkeit einer neuen Norm, statt der Realisierung eines Geltungsüberschusses). Kants Universalisierungsmaxime hat so etwas vorgedacht – sie ist keineswegs so inhaltsleer und formal, wie ihr Hegel und MacIntyre vorwarfen. Sie konnte sich auf eine materiale Universalität stützen, die in der ›Menschheitsformel‹ des kategorischen Imperativs sogar explizit wird: »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (Kant 1785: BA 67). Kant hat die Universalität moralischer Aussagen keineswegs erfunden, sondern ›nur‹ vom universalistischen Naturrecht in das Vernunftrecht aufgehoben. Mit dieser Einsicht lässt sich der garstig breite Graben, der oft zwischen Kant und Aristoteles konstatiert wird, ein ganzes Stück weit entdramatisieren: Der Mensch kann und soll sich nach Kant durch die Vernunft als Teil seiner Natur selbst Zwecke setzen, die ihn aus der Abhängigkeit von der Natur befreien; während er für Aristoteles von Natur aus erst die Anlage zur Vernunft hat, aber gleichfalls nur über die Verfolgung vernünftiger Zwecke zu einem gelingenden Leben kommen kann.16 Damit sind die drei Einwände abgewehrt, die sich uns entgegengestellt hatten.
—————— 16 Dazu Rentsch 1990: 288ff.; Himmelmann 2003: 152f. und 169 sowie Höffe 2010.
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Konturen der egalitären Gesellschaftstheorie Aus der kontextsensiblen Naturalisierung des Menschen folgt nun kein naturwissenschaftlicher Determinismus oder eliminativer Reduktionismus, vielmehr kann gerade sie die Vielfalt der Kulturen und ihrer jeweiligen Spezifität erfassen. Denn versteht man Kultur als Problembewältigungspraxis, ist mit der naturalen Grundlegung nur das Problem, nicht aber die Lösung gegeben. Die lebensnotwendige Produktion etwa von Lebensmitteln ist kontingent, weil die natürlichen Umstände je andere sind: klimatische oder demographische Unterschiede führen zu verschiedenen Bedarfen und Techniken. Zusammen mit unterschiedlichen Sinngebungen resultieren daraus historisch tradierte Lebensformen. Für die Individuen, die diese Verhältnisse nicht bewusst eingehen (das ist der blinde Fleck der Vertragstheorien), haben diese Kooperationsformen jedoch den Charakter ›naturwüchsigen‹ Zwangs. Diese Doppelheit nannte Hegel mit Schelling »zweite Natur« (Hegel 1821 §4; MEW 25: 866): gesellschaftliche Verhältnisse haben eine Härte wie natürliche Tatsachen, sie gelten unhinterfragt und werden im Zweifelsfall durch Sanktionen gestützt. Sie kommen den Betroffenen daher »natürlich« vor, und daraus resultiert Unfreiheit.17 Für den Betrachter sind sie jedoch keine vorgegebene Natur, sondern Ergebnis menschlicher Tätigkeiten und damit Gegenstand der Sozialtheorie. Sie sind wandelbar. Da die jeweilige Geformtheit der Menschen durch ihre Gesellschaft keine unmittelbaren Rückschlüsse auf eine Natur des Menschen zulässt, liegt es nahe, im Interesse der Befreiung den Schritt zur Gesellschaftstheorie zu vollziehen.18 Für die bewusste Veränderung der gesellschaftlichen Formen bedarf es allerdings einiger Voraussetzungen. Eine solche ist die Aufklärung: man muss die Künstlichkeit des Althergebrachten und scheinbar Zwingenden erst durchschauen, um es ändern zu wollen. Der Kapitalismus als spezielle Form der Kooperation lässt sich jedoch durch Aufklärung allein nicht verändern. Dies liegt nicht nur an den Illusionen, die die Menschen sich über ihre Verhältnisse machten, sondern auch an der spezifischen Härte der ›Gesetze‹ des Kapitalismus. Sie üben
—————— 17 »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst-gewählten; sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen« (Marx, MEW 8: 115). 18 Marx der Soziologe tat das mit den Worten: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (MEW 3: 6; ähnlich MEW 1: 408).
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eine starke Macht aus und können hinter dem Rücken der Akteure gute Absichten ›dialektisch‹ in ungewollte Folgen transformieren. Und sie können sich auf verschiedene Weise durchsetzen, sie determinieren die nähere Gestalt der Gesellschaften folglich nicht. Auch um darüber mehr herauszubekommen, bedarf es einer kritischen Sozialtheorie. Die Angewiesenheit auf Sozialforschung ist ein wichtiger Unterschied zwischen dem Perfektionismus und dem Liberalismus. Kein Liberalismus hat bislang versucht, die eigenen Annahmen soziologisch zu ›beweisen‹. Liberale Autoren wie Hayek oder Rawls argumentieren primär normativ, mit wenig Bezug auf die Sozialwissenschaften (abgesehen von hoch idealisierten Modellen des reinen Marktes). Das entbehrt nicht der Logik: Nur der, der ein Interesse an der Regulierung der Gesellschaft hat, braucht eine Theorie derselben. Daher braucht der Liberalismus eben keine.19 In den Worten von Steven Wall rutscht damit die Begründungslast allein zum »would-be-interferer«, während das Nichteingreifen anscheinend keine Begründung braucht (Wall 2010: 125). Aber warum sollte man das annehmen? Ist z.B. ein Verhungernlassen kein Freiheitsentzug? Das erklärt zugleich, warum der Perfektionismus eine so komplizierte Angelegenheit ist: Er kann es nicht bei Modellen und normativen Schreibtischentwürfen belassen, sondern muss sich in die Abgründe der Sozialtheorie und Anthropologie werfen, um solide Fundamente zu erlangen. Diese umstrittene Rolle der »Fakten« war schon bei Rawls, Hurka und Sher begegnet.20 Gerade die Verbindung von Naturalismus und Gesellschaftstheorie gibt dem traditionellen Perfektionismus sein egalitäres Gepräge. Der Hinweis darauf, dass soziale Unterschiede nicht auf Natur zurückgehen, erweist den unterschiedlichen Individuen den gleichen Respekt, und das vermag ihre Individualisierung zu unterstützen. Wenn die Individuen sich in ihrer natürlichen Ausstattung nicht allzu sehr unterscheiden, verletzt die Vorstellung davon, was gut für alle ist, keines von ihnen. Selbst wenn individuelle Ausprägungen sich unterscheiden, setzt ihre Entwicklung bei allen gleichermaßen voraus, dass hinreichend Ressourcen zur Verfügung stehen.
—————— 19 Zum Zusammenhang von Sozialstaat und Soziologie Wagner 1991. Politisch regulieren Liberale oft massiv (so beim weltweiten Umbau von Sozialstaat und Finanzmarkt seit 1980), doch dies geschieht unter dem Mantel einer Ideologie, die Regulierungen ablehnt. Sobald sie empirisch untersucht werden, führen Begriffe wie Autonomie und Freiheit oft zu perfektionistischen Analysen ihrer Ermöglichungsbedingungen. Der Liberalismus beruht auf einer gewissen Resistenz gegenüber soziologischen Forschungsergebnissen. 20 Traditionelle perfektionistische Argumente waren oft in Sozialtheorien eingebettet (erinnert sei an Ferguson, Condorcet, Godwin, Mill, Marx oder Dewey).
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Doch die Öffnung des Perfektionismus hin zur Gesellschaftstheorie wirkt sich nicht nur wohltuend auf seine egalitären Gehalte aus, sondern macht ihn auch in Sachen Freiheit stärker. Warum soll man etwa, wenn es um die Einschätzung dessen, was gut für die Menschen ist, nicht das verfügbare Wissen zum Thema nutzen? In dem Streit um Homosexualität, den wir im Eingangskapitel (II.1) berührten (Robert George und John Finnis lieferten sich vor Gericht einen Streit mit Martha Nussbaum), könnte man sich etwa, wenn nicht schon das homophob wirken würde, empirisch die Auswirkungen einer homosexuellen Lebensweise ansehen. Das würde zeigen, dass es die Menschen weitaus glücklicher macht, dieser Veranlagung zu folgen, als sie zu unterdrücken und versteckt und in Scham zu leben.21 Zudem ist es empirisch falsch, dass Homosexualität ›ansteckt‹ und daher aus der Öffentlichkeit verbannt – oder gar ›geheilt‹ werden müsste. Homosexualität kann mit perfektionistischen Argumenten nicht sinnvoll verurteilt werden.22 Im Gegenteil: Viele Menschen blühen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften auf, während andere das in traditionellen Beziehungen nicht tun, die sie gleichwohl aufgrund eines kulturalistischen Wertverständnisses aufrechterhalten. Wie verhält sich aber die Allgemeinheit der Sozialwissenschaften zur Freiheit der Individuen? Kann die Sorge um die Freiheit auch gegen die Sozialtheorie gewandt werden, wie es der Radikal-Liberale Lawrence Mead vorgemacht hat? Mead (1985: 46ff.) warf in einem einflussreichen Text der Soziologie die Legitimation einer »permissiven« und degradierenden Kultur vor. Sie lenke von der moralischen Verantwortung der Individuen ab. In der Folge wurden viktorianische Überzeugungen, die Gesellschaftstheorie durch Moral ersetzten, in der Wohlfahrtsforschung wieder einschlägig (etwa Giddens 1999). Dem lässt sich folgendes entgegenhalten: Wenn eine Sozialtheorie fragt: ›Was sind gute Bedingungen für die Entfaltung der Individualität?‹, dann rührt das nicht an der Integrität einzelner Personen. Wir können von solchen Dinge wissen, ohne den individuellen Spielraum anzutasten oder die Individuen zur Passivität zu verurteilen. Die Angst, dass der Bezug auf Sozialtheorien die individuelle Freiheit beschränken könnte, ist unbegründet erstens, weil es stets verschiedene Wege zum guten Leben gibt, kulturell wie individuell; zweitens deswegen, weil kein Wissen über alte Lebensformen neue Lebensformen ausschließen kann: »experiments of living« (Mill 1859: 160) sind daher willkommen.
—————— 21 Siehe die Filme Brokeback Mountain (Ang Lee 2005) und Milk (Gus van Sand 2008). 22 Zur moderaten Verteidigung der Homosexualität Sher 216f. (zu Finnis vgl. 201).
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Und drittens ist sie unbegründet, weil das Beste, was eine vom Guten angeleitete politische Gemeinschaft tun kann, die Schaffung von »institutions or social forms that make the favoured way of life possible or enable it to flourish« ist (Sher 1997: 61). Das vermindert die individuelle Freiheit nicht. Es muss ein Individuum im Grunde überhaupt nicht tangieren; es sei denn, man hat starke ›externe Präferenzen‹ hinsichtlich des Verhaltens der Anderen – aber das ist eine von Grund auf vormoderne Haltung. Die Verwirklichung dieser Güter ist Sache der Individuen, es macht daher keinen Sinn, sie politisch zu erzwingen: »To try to form character by coercion is to destroy it in the making« (Hobhouse 1911: 76). Sozialtheorie und Freiheit müssen einander folglich keineswegs in die Quere kommen.
Konturen des individualistischen Ziels Nun deutete selbst Aristoteles, der perfektionistische Vordenker (siehe I.) an einigen Stellen an, dass seine Philosophie nicht nur die beiden Ebenen von Natur und Gesellschaft kennt: »Denn man tut manches gegen seine Gewohnheit und gegen seine Natur, wenn man sich durch vernünftige Überlegung überzeugt hat, dass es anders besser ist« (Pol VII.13: 1332b11). Wenn ein Mensch gegen die Natur und gegen die Gesellschaft handeln kann, dann muss es noch ein Drittes geben: die Rede ist vom vernünftigen Selbst. Diese Dimension setzt auch Rousseau voraus: seine perfectibilité meint ja, dass ein Mensch sich in alle denkbaren Richtungen entwickeln könne. Dabei würden weniger allgemeine Gattungseigenschaften als vielmehr individuelle Eigenheiten verwirklicht. Diese Idee »negativer Erziehung« wurde von Schleiermacher und J.S. Mill aufgegriffen (Bolle 1995: 107ff.). Sie erlaubt das Wegräumen von Hindernissen, doch sie untersagt Versuche einer direkten positiven Einflussnahme, weil damit bereits, um Gross zu zitieren, das Eigene überfremdet würde. Ein dirigistischer Einfluss von außen und ein Festlegen auf schon bestehende Muster soll ferngehalten werden, damit das Individuum sich selbst entwickeln kann. Was genau kann es aber heißen, dass jemand dieses Selbst verwirklicht? Warum genügt es nicht, einfach von einer Entwicklung zu sprechen (wie Kraut 2007)? Zwar ist etwas Ähnliches gemeint: Das »natürlich Gute« der Pflanze (Foot 2001) besteht in ihrem Blühen, oder ist an diesem zumindest ablesbar. Auch von kleinen Kindern oder von Bekannten, die man länger
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nicht gesehen hat, sagt man, sie hätten sich ›gut‹ entwickelt, und meint damit, dass sich die Menschen über die Zeit auf eine Weise verändert haben, die der so Redenden begrüßenswert erscheint.23 Was allerdings bei Menschen gegenüber Pflanzen – oder Städten, Ländern und Projekten, die ebenfalls entwickelt werden können – hinzukommt, ist eine spezifische Identität zwischen den Zuständen des Entwickelten. Eine Stadt, die sich über Jahre durch Bauarbeiten verändert hat, ist trotz dieser Veränderungen dieselbe, aber das meint: sie ist für die Beobachter noch dieselbe.24 Menschen hingegen sind es selbst, die dies von sich sagen: ihnen geht es, mit Heidegger gesprochen, in ihrem Sein um dieses Sein, und genau diese Selbstsorge oder Reflexivität wird im Falle der Entwicklung noch nicht deutlich, da sie auch vorbewusst vor sich gehen kann. Wenn sich jemand verwirklicht, dann meint das, dass für diesen Menschen eine spezifische Identität zwischen seinem früheren und seinem jetzigen Selbst besteht: Das frühere Selbst, das Selbst in einem früheren Zustand, hatte bestimmte Wünsche oder bestimmte als entwicklungswürdig angesehene Talente, und der spätere Zustand wird deswegen als identisch mit diesen Wünschen angesehen, weil sich Aspekte dieser Wünsche oder bestimmte Talente nun entwickelt haben. Pflanzen oder Städte können keine Talente in sich entdecken und entwickeln, da sie sich nicht (oder nur im übertragenen Sinn) in dieser Weise zu sich verhalten können. Sieht man genauer hin, stecken in dieser Redeweise zwei Elemente. Zum einen ist es die selbstbestimmte Entwicklung: ich selbst bin es, der dieses Leben führt und bestimmte Züge unterdrückt, andere ausfeilt und dritte vielleicht schleifen lässt. Zum anderen ist es die Entwicklung von etwas, das seinshaft für diese Person gegeben ist (IV.4). Diese ›materiale‹ Komponente ist allerdings eine, die von der Person selbst erlebt wird: wie ›man selbst‹ ist, wird in gewisser Weise als ›naturgegeben‹ erlebt; aber es ist eine Gegebenheitsweise, die nicht die der Dinge ist, die für alle anderen Beteiligten einfach anschaulich sind.25 So kann man ein eher schüchterner Mensch sein. Man mag zwar lernen, eine solche Schüchternheit zu überspielen, so dass zu einem späteren Zeitpunkt andere über uns sagen kön-
—————— 23 Darwall 2002: 76 schreibt ähnlich: »something flourishes when it thrives or prospers as a healthy plant does coming to full flower«, und überträgt dies auf das Lächeln eines Pianisten, das die Freude an einem wertvollen Tätigkeit ausdrückt. 24 Außer Bewohner sagen, Dresden sei mit der neuen Elbbrücke nicht mehr dieselbe Stadt. 25 Diese Begriffe sind für das Reden über Daseinsvollzüge im Grunde unangemessen; es handelt sich wie bei Heidegger (1927) um Existenzialien, nicht um Kategorien.
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nen, wir seien extrovertiert oder gar vorlaut. Für uns selbst aber wird es immer eine Identität mit dem früheren, schüchtern Selbst geben; einfach deswegen, weil wir unsere emotionale Grunddisposition nicht austauschen oder an der Garderobe abgeben können. Wir lernen nur, mit uns umzugehen. Oder, um eine alternative Entwicklung zu beschreiben, eine Person findet heraus, dass sie ›eigentlich‹ gar nicht schüchtern ist, sondern dass es falsche Ängste waren (etwa durch überängstliche Erziehungsvorschriften suggerierte), die die ›Hemmung‹ erzeugt haben – solche Ursachen sind durch Lernprozesse zu beheben. Auch dann würde der Betroffene sagen können, dass sie mit ihrem früheren Selbst identisch ist: er war damals gar nicht wirklich schüchtern, sondern ängstlich. Es gibt also eine Seinsdimension am Menschen, die eine Person immer schon mitbringt, die sie ausmacht und zu der sie sich so oder so verhalten kann. Daher kann man mit T.H. Green, Nietzsche, Gross oder Maslow von Selbstfindung sprechen. Es kann Situationen geben, wo wir uns zu sehr an den Vorstellungen anderer orientiert haben, wo wir diese Identität mit unseren früheren Zuständen (das Kohärenzgefühl, Keupp 1991) gerade nicht mehr erlangen können und darunter vermutlich leiden. In solchen Situation hat es einen Sinn, auf die Suche nach sich selbst zu gehen – das ist kein ›begriffliches‹ Problem mehr, sondern ein praktisches. Es bedeutet, dass man versucht, in seinen Reaktionen auf Dinge und Situationen wieder zu seinem emotionalen Resonanzboden zu gelangen: möglicherweise besinnen wir uns bei einem langen Spaziergang oder auf einem Konzert darauf, warum wir bestimmte Schritte im Leben gegangen sind, und ob wir diese aus der Rückschau bejahen können oder gegebenenfalls einen Schritt in eine andere Richtung machen sollten. Ein Perfektionismus, der diese ›nichtidentischen‹ Regionen des Seins nicht überspringt, sondern sich auf die Untiefen des Selbstseins einlässt, wird weitaus liberaler sein als einer, dem es nur auf die Verwirklichung eines allgemeinen Wesens des Menschen ankommt. Kommen wir nach diesem abschließenden Durchgang durch die drei Regionen von Natur, Gesellschaft und Selbst, dem die zentralen perfektionistischen Werte von Freiheit, Gleichheit und Entfaltung korrelieren, zu einem Ausblick. Es lassen sich von hier aus Weiterungen denken.
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Perfektionistische Wertphilosophie, Politik und Ästhetik Das perfektionistische Ziel einer möglichst weitgehenden Entwicklung der Individuen und ihrer Anlagen formuliert auch Zielvorstellungen für die Politik. Es handelt sich um eine normative Entwicklungstheorie. Das bedeutet nicht, dass der menschlichen Entwicklung bestimmte Ziele (wie die Einübung asketischer oder soldatischer Tugenden) vorgeschrieben würden. Vielmehr wird Entwicklung selbst als ›vorzüglich‹ angesehen: sie ist der Nichtentwicklung vorzuziehen, und wird unter normalen Umständen von den Menschen vorgezogen. Wohin diese Entwicklung geht, ist den Individuen überlassen, sofern sie darüber entscheidungsmächtig sind, da jede am besten das entwickelt, was ihr ›liegt‹ und Freude macht. Die Selbstmächtigkeit der Individuen ist allerdings begrenzt (darin liegt der Unterschied zum Atomismus des angelsächsischen philosophischen Liberalismus): zwar sind Menschen sich nicht selbst transparent und bedürfen daher einer Freiheit, mit sich und ihren Lebensformen zu experimentieren – Zwang kann sie dabei nur hindern. Gleichwohl sind sie als soziale und bedürftige Lebewesen auf die Unterstützung ihrer Umwelt angewiesen: für eine gute Entwicklung brauchen Menschen Zuspruch, materielle Absicherung, genügend freie Zeit sowie Vorbilder, die erstrebenswerte Lebensformen exemplarisch vorleben. Dass Menschen sich an Vorbildern orientieren, ist allerdings weniger Forderung als Feststellung: im Prozess der Selbstfindung orientiert man sich unweigerlich an Älteren. Das Kind will vielleicht Feuerwehrmann, der Jugendliche Rockstar und der junge Erwachsene Professor werden – oder eben Gangster, wenn das in der Umgebung das Naheliegendste ist. Nicht dass es Vorbilder gibt, hat sich historisch gewandelt, sondern welche es sind: An Stelle der homerischen Helden sind Sportler, Fernsehstars und Milliardäre getreten. Gesellschaften transportieren in ihrer medialen Selbstvergewisserung immer vorbildhafte Figuren, die Frage ist nur, in welche Richtung sie gehen. Weil der Begriff der Anlage einen verengenden Naturalismus (›der Mensch ist soundso‹) und der Verweis auf Vorbilder einen Elitismus zu enthalten scheint, wird die perfektionistische Konzeption oft als konservativ verworfen. Der Vorwurf gegen die Annahme von menschlichen Anlagen ließ sich entschärfen: Keineswegs ist man damit auf einen repressiven Elitismus festgelegt. Begreift man die Anlagen als Möglichkeiten, als formbares Potential, das allen Menschen als Menschen zukommt, folgt daraus weder eine konservative Verengung auf wenige Lebensformen, noch eine
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elitäre Fixierung auf wenige Exzellenz-Zentren. Formbar heißt ja gerade, dass es in verschiedene Richtung gehen kann, nicht nur in eine. Und die Rede von Potential meint, dass neben einer Verwirklichung immer andere denkbar bleiben. Es bleibt von der menschlichen Natur her stets eine Freiheit, sich zu verändern – nicht unbegrenzt zwar, sondern ›im Rahmen seiner Möglichkeiten‹; aber gerade eine solche Selbsterkenntnis (das Bewusstsein einer kleineren Auswahl) erhöht die Chancen auf erfolgreiche Verwirklichung alternativer Lebensentwürfe.26 ›Gut‹ ist es also, wenn Menschen sich möglichst weitgehend entwickeln; etwas aus sich machen. Das ist nicht elitär, weil es nicht nur für wenige Auserwählte gilt, sondern für alle. Angenommen wird, dass jeder Mensch solche Anlagen hat, und dass Menschen sie nicht alleine entwickeln können, sondern dafür auf die Unterstützung und Wertschätzung der Gemeinschaft angewiesen sind. Was heißt das nun für die Praxis? Perfektionistische Politik hat sich darum zu bemühen, allen Menschen gleichermaßen gute Bedingungen für eine selbstbestimmte Entwicklung zu schaffen, ohne sie in der Weise ihrer Entwicklung zu begrenzen. Es ist politisch eine sowohl liberale wie egalitäre Konzeption. Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass hier kein Spalt zwischen Sein und Sollen mehr klafft und daher keine schwerwiegenden Begründungsprobleme drohen (Putnam 2004, Fritz 2009). Was gut für die Menschen ist, zeigt sich daran, ob sie im Aristotelischen Sinne glücklich sind, ob sie blühen oder verkümmern. Dafür muss man keine metaphysischen Überwelten bemühen oder sich auf inhaltslose Prozeduren beschränken. Es liegt am Tage und kann empirisch eingeholt werden. Doch wie entwickelt man sich? Wie setzt man das eigene Potential frei? An dieser Stelle hilft ein erneuter Blick auf die ethische Anthropologie von Hegel und Marx. Sie besagt, dass Menschen sich in ihrer Tätigkeit ›objektivieren‹. Das ist kein bloßer Expressivismus, wenn das einen nur sprachlichen Ausdruck von Befindlichkeiten meint. Denn im Grunde lässt sich jede Lebensäußerung als Objektivierung verstehen. Ob ich ein Brot backe, eine Party veranstalte oder eine Entscheidung treffe, stets handelt es sich um zwei Seiten eines Vorgangs: es entsteht etwas in der Welt, das es vorher noch nicht gab (selbst wenn es nur die Umformung eines bestehenden Stoffes ist), und immer steckt, sofern es meine Handlung ist, etwas von mir darin. Selbst wenn das nur in geringem Maße der Fall ist (wie bei Fabrikbrot oder Gedichten aus dem Internet), sagt das etwas über mich aus.
—————— 26 Selbst wenn man ein Talent hat, kann es sein, dass man daran keine Freude empfindet.
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Das gilt sogar in den Modi des Misslingens: Wer nichts weiter kann, zerschlägt eben eine Fensterscheibe, um sich in der Welt zu markieren – es erfüllt eine ähnliche Funktion.27 Es gibt Grade der Meisterschaft, und man vermag sich umso individueller auszudrücken, je mehr man sich die Regeln (das Handwerk) angeeignet hat. Das Allgemeine und das Individuelle stehen sich in dieser Dimension nicht notwendig entgegen. Doch Praxis geht nicht in Entäußerungen auf, es geht auch wieder zurück: Die Objekte (Artefakte) werden von den Subjekten (Agenten) wieder angeeignet.28 Was ich koche, esse ich in der Regel auch – und zwar nicht allein, sondern meist in Gemeinschaft. (Einsamkeit ist der »derivate Modus«, wie Filme wie David Finchers Fight Club oder Sofia Coppolas Lost in Translation veranschaulichen.) Was ich dichte, trage ich in der Regel irgendwann vor. Feste und Entscheidungen betreffen ohnehin die anderen, aber auch Produkte, die ich ›monologisch‹ herstellen kann (z.B. eine Uhr),29 sind auf eine Aneignung hin angelegt. Es wäre verkürzt, dieses Moment auf den wirtschaftlichen Konsum zu reduzieren: Konsum vernichtet das Konsumierte; eine Aneignung muss allerdings nicht rein materiell, sondern kann auch sinnhaft-symbolisch sein und eine Bedeutung für die individuelle und soziale Identitätsbildung haben. Wir erhalten mit diesen Momenten einen Kreislauf. Zwar ist das Objekt (die Feier, das Brot, das Gedicht) nicht identisch mit dem Subjekt (der Planenden, Backenden, Dichtenden); doch insofern beides Momente eines Vollzuges sind, sind sie einander auch nicht fremd, sondern fügen sich zusammen. Sie sind identisch und doch wieder nicht. Das also sei als »normale« Praxis des Menschen verstanden, ganz abstrakt gefasst: Sich in einer Tätigkeit objektivieren und die Objekte des Tuns dann wieder aneignen. Das macht für Individuen Sinn, es lässt sich aber auch im historischen Überblick über Gruppen von Menschen aussagen – man spricht dann von ›Kulturen‹. Was hat das nun mit Entwicklung zu tun? Der erste Gedanke dabei ist, dass Menschen lernen, Dinge besser zu tun, wenn Sie sie wieder-
—————— 27 Beim Brot aus der Fabrik hat der Backende wenig Möglichkeiten, sich einzubringen; das Management muss deswegen andere Wege für die Arbeitenden finden. Ein Gedicht aus dem Internet kann mitteilen, dass mir die Person keiner weiteren Mühe ›wert‹ war. 28 Etwas ähnliches findet sich schon bei Agnes Heller: »Das erste Wertaxiom lautet: Wert ist alles, was zur Bereicherung der gattungsmäßigen Wesenskräfte gehört, was diesen Vorschub leistet. Das zweite Wertaxiom lautet: Der höchste Wert besteht darin, dass die Individuen sich den gattungsmäßigen Reichtum aneignen können« (Heller 1972: 9). 29 Die Uhr ist ein überaus verweisungsreiches Beispiel; z.B. war für Rousseau eine gelungene Weise der Vergemeinschaftung die Gesellschaft der Uhrmacher in Neuchatel.
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holt tun. Die erste Seminararbeit ist noch Kraut und Rüben, die zweite kann man schon lesen, die dritte liest man vielleicht schon mit Gewinn. Besser werden aber nicht nur die Produkte, sondern auch der Produzierende: »Übung macht den Meister«, und deswegen dienen Seminararbeiten nicht nur der Qualifizierung, sondern auch der eigenen Bildung. Für eine Entwicklung unserer Fähigkeiten ist es wichtig, dass wir das, was wir tun, regelmäßig tun; dass wir frei sind, unser Verhalten zu ändern; dass wir aus Fehlern lernen, Ideen umsetzen können und vielleicht von anderen Menschen Rat bekommen, wie es besser ginge. Das ist der vormoralische Sinn der aristotelischen Tugend (arete): Es heißt nur, dass wir das, was wir tun, gut tun, und dazu bedarf es schon bei Aristoteles der Einübung. Von Anlagen zu sprechen heißt nun, dass manche Menschen manche Dinge vielleicht besonders gern tun oder besonders gut gelingen. Welche das sind, muss jeder selbst herausfinden (die schmerzhafte Aufgabe der Selbstfindung); vielleicht merken es auch andere. Nehmen wir an, jemand kann eine der Dinge, die er tut, besonders gut. Seine Kuchen schmecken besser oder ihre Gedichte wirken länger nach. Dann sagt man, sie oder er habe ein Talent in diese Richtung. Dieses Talent entwickelt man genauso wie normale Fähigkeiten: durch regelmäßige Erprobung, durch Übung und Experimente sowie durch Rückmeldungen von anderen. Dadurch entwickelt sich ein Mensch, er bringt zum Vorschein, was ›in ihm‹ steckt. Das kann auch basalste Tätigkeiten meinen – Autofahren, Reiten, Pflegen, all das kann perfektioniert werden. Elitär ist erst die unterschiedliche Bezahlung solcher Tätigkeiten, je nach ihrer Nähe oder Ferne zum gesellschaftlichen Produktionsprozess. Pflege bringt manchmal gar kein Geld, obwohl es das Wichtigste sein kann, während eine Position in einem Aufsichtsrat kaum stattfinden muss und mitunter trotzdem horrend bezahlt wird. Das alles klingt sehr einfach, ist aber keineswegs banal – gerade die Nähe zum Alltag kann es schwer machen, Dinge zu sehen. Fragen wir daher nochmals: Warum ist eine solche Entwicklung der eigenen Anlagen »gut«? Es lassen sich mehreren Gründen nennen: Erstens ist es gut, weil andere Menschen davon profitieren, ebenso wie ich davon profitiere, dass andere etwas gut können. Es ist besser, leckere Kuchen, berührende Gedichte, praktische Erfindungen oder lustige Feiern zu haben, als sich überall mit mittelmäßigen Varianten durchzuschlagen (etwa weil sie billiger sind). Das muss nicht zu einem Perfektionismus im schlechten Sinne führen, sondern darf ruhig Halt machen, wenn eine Qualität erreicht ist – gerade dass Dinge gut bleiben und nicht ständig verschlimmbessert werden, gehört hierhin.
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Zweitens ist es gut, weil es uns die Achtung oder Anerkennung der anderen bringt und damit in einem sozialen Sinn froh macht. Wir erhalten damit, zumindest der Idee nach, Selbstachtung und Selbstbestätigung. (Das gilt durchaus nicht für jede Arbeit, und es muss auch nicht zwangsläufig eine Arbeit sein, die solche Wertschätzung einbringt.) Drittens schließlich ist es gut, weil das Ausüben von Tätigkeiten, die wir gut können, unserem Leben Halt und Sinn zu geben vermögen: Selbst wenn es anstrengend ist, machen solche Tätigkeiten ›glücklich‹ – nicht nur, weil es ein »flow« ist, sondern weil wir darin uns und unser Wachstum erfahren – sei es im Fussball oder im Streichquartett. Aus diesem Grund wollen die meisten Menschen das tun, was sie weiterbringt (Rawls 1975: 464). Damit haben wir nochmals benannt, was für den Perfektionismus das Gute ist. Gut meint nicht moralisch, sondern prudentiell gut, im Sinne eines gelingenden Lebens. Auf dieser Basis lassen sich Weiterungen im Hinblick auf andere Fragestellungen denken – etwa in Richtung der Wertphilosophie. Denn was ›ist‹ ein Wert? Aus der soeben artikulierten Perspektive lässt sich dasjenige als Wert begreifen, was das so verstandene Gute zu fördern vermag. Ein Wert wäre demnach das, was das Gute hervorbringen hilft. Werte haben also Funktionen, welche zu verstehen sind in Bezug auf menschliche Praxisformen. Perfektionistisch verstanden sind Werte diese Funktionen. Werte sind also nicht irreal, doch sie existieren weder verdinglicht als irgendwo umherschwirrende Entitäten (die nur bestimmte Gruppen sehen können), noch sind sie einfach Eigenschaften physischer Dinge (wie ein Stein schwer und eine Blume bunt ist). Sie bezeichnen Funktionen. Dafür einige Beispiele: Wenn das Gute die Entwicklung der Menschen ist, dann sollte ein Wert auf diese Praxis einen förderlichen Einfluss haben. Warum ist aus dieser Sicht etwa Freiheit ein Wert? Freiheit als Wert meint in diesem Sinne nicht nur das Vermögen, so oder auch anders handeln zu können; obwohl ein solches Vermögen immer schon vorausgesetzt ist. Freiheit als Wert meint vielmehr eine Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens, indem sich die Menschen wechselseitig Nichteingriffssphären einräumen, und zwar sinnvollerweise durch eine Androhung von Sanktionen bei Verletzungen dieser Spielräume, und indem Kollektive von Menschen selbst über alle betreffende Angelegenheiten bestimmen können. Mit Freiheit meinen wir also dieses ganze Netz respektvoller Verhaltensweisen, der Toleranz gegenüber Verhaltensweisen anderer, die wir vielleicht missbilligen, von politischen Selbstbestimmungsrechten sowie einem System von Schutzrechten, auf die notfalls Verlass sein muss. Das
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ist jedenfalls gemeint, wenn auf politischen Demonstrationen ›Freiheit‹ gefordert wird. Ein Wert ist die so verstandene Freiheit deswegen, weil und sofern sie den oben beschriebenen Praxis-Kreislauf zu fördern vermag, in dem Menschen sich selbst weiterentwickeln. In Freiheit kommen Menschen auf gute Ideen, sind kreativ und motiviert. Es mag zwar sein, dass auch Not erfinderisch macht, aber was z.B. Dissidenten in repressiven Regimen praktizieren, ist bereits Ausdruck einer Freiheit, die sie sich nehmen; und was sie fordern, ist die Anerkennung eines Rechtes darauf, zu tun was sie tun. Sklaven jedenfalls verlieren die Lust an allem und entwickeln sich in der Regel weniger prächtig. Die Logik des Arguments ist damit klar. Die spezifischen Begründungen, die die in dieser Arbeit rekonstruierte Variante des egalitär-liberalen Perfektionismus ausmachten, laufen darauf hinaus, dass es so etwas wie eine Funktion der Werte gibt: Das Ziel oder der Zweck der Freiheit (wie es T.H. Green oder Humboldt ausdrückten) ist die gute Entwicklung der Individuen, und damit ihr Glück, und damit das Glück der Gemeinschaft. Analog ist die Antwort auf die Frage, warum die Gleichheit ein Wert sei: Weil und sofern sie die Entwicklung der Menschen fördert. Gesellschaftlichen Beziehungen sind dann gut, wenn sie zum Blühen der Individuen beitragen. Solange mehr Gleichheit in diese Richtung wirkt, ist sie aus perfektionistischer Perspektive ›gut‹. In einer Situation sozialer Ungleichheit entsteht hingegen Missgunst, man unterstützt und fördert sich gegenseitig nicht mehr, sondern neidet dem anderen seine Erfolge und versucht sogar, die anderen in ihrer Entwicklung zu beschneiden. Sogar der Konsum entfernt sich in einer ungleichen Gesellschaft von seinem Zweck: im obigen Modell dient er der Aneignung menschlicher Wesenskräfte. Ostentativer Konsum, der nur dazu dient, sich von anderen abzugrenzen, erfüllt diesen Zweck gerade nicht mehr. Das führt zu einer hedonistischen Tretmühle, die vergeblich aus dem Konsumkick selbst oder der sozialen Abgrenzung Sinn zu ziehen versucht. Damit ist der direkte politische Effekt der Ungleichheit, auf den wir bei der Aufklärung gestoßen sind, nämlich dass Arme käuflich und Reiche mächtig und übermütig werden können, noch gar nicht benannt. Innovativ an dieser Bestimmung ist, das Werte wie Freiheit und Gleichheit hier keine Selbstwerte sind, keine starren Vorgegebenheiten: Sie sind Werte, sofern sie »das Gute«, nämlich die menschliche Entwicklung und damit ein nachhaltiges Glück stützen. Wenn sie diese verhindern, gelten sie nicht mehr unbedingt. Eine realsozialistische Uniformierung hat
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der menschlichen Entwicklung ebenso wenig gut getan wie es heute das Übermaß an negativer Freiheit tut: Wenn Menschen ohne jede Bindung und Unterstützung auf dem ›freien‹ Markt umherdriften und sich vielleicht selbst überfordern und ausbeuten, dann ist das zu viel – oder die falsche – Freiheit. Es gibt, wie wir sahen (in II.3), ein Zuviel des Guten, und um diesen Punkt zu finden, braucht es ein Maß. Selbst die Liebe, die eigentlich unverzichtbar ist für eine gute Entwicklung, vor allem in Kindesalter, kann erdrückend werden. Sie ist ein Wert, doch kann es befreiend sein, sich aus Bindungen zu lösen und zu erlernen, für sich einzustehen. Distanzierung und Differenzierung können in solchen Fällen dem Guten förderlicher sein als Freiheit oder Liebe. Über den Wert sozialer Praxen Regelungen entscheidet aus dieser Sicht, was besser zum ›Blühen‹ der Menschen beiträgt. Dieser Ansatz erlaubt es, Wertrelativismus und Wertkollisionen zu umgehen und ideologische Wertbehauptungen abzuweisen, indem er ein Maß angibt, gemessen an dem ein behaupteter ›Wert‹ seinen funktionalen Wert allererst erweisen muss. Schon Benjamin Constant (1819: 394) proklamierte daher: »die politische Freiheit ist das macht- und kraftvollste Mittel zur Vervollkommnung, das uns der Himmel geschenkt hat«. Freiheit wird an ihrer Funktion für eine gute Entwicklung gemessen – wie wir es auch bei Humboldt und Green sahen. Sie hat also selbst noch ein Maß, an dem sie auch scheitern kann. Interessanterweise wird dadurch eine Parallele zwischen Ethik und Ästhetik deutlich (»Ethik und Ästhetik sind eins«, Wittgenstein, TLP 6.421), die sich sonst nicht immer gleich erschließt. Denn wie steht es hier mit ästhetischen Werten? Warum ist etwa die Mona Lisa ein so wertvolles Bild? Ökonomen würden sagen: ›Weil es sie nur einmal gibt‹. Doch das erklärt wenig, denn meinen defekten Laptop gibt es auch nur einmal, und er ist nichts wert. ›Nein‹, sagt der Ökonom: ›ich meinte, weil es sie nur einmal gibt, aber alle sie wollen‹. Das wäre ein Wertsubjektivismus. Wenn von heute auf morgen alle Museumsbesucher sagen würden, die Mona Lisa sei hässlich, wäre sie nichts mehr wert. Nun halten sie aber die meisten Menschen für wertvoll. Daher wollen wir wissen, warum sie das denken. Perfektionistisch kann man diesen Wert wie folgt rekonstruieren. Ein gelungenes Kunstwerk ist auf gelingendes Leben und gute Entwicklung aus mindestens zwei Gründen bezogen: Erstens, weil der Inhalt der Kunst das menschliche Leben thematisiert – nicht nur in moralischer Hinsicht, wie Schiller andeutete, sondern auch in seinen Abgründen, etwa dem abgründigen Lächeln der Mona Lisa. Kunst kann uns inhaltlich den Reichtum menschlichen Lebens vor Augen führen,
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sie kann uns zum Innehalten und zur Reflexion bringen, mit dem Effekt, dass wir anders über unser Leben denken (das gilt nicht nur für hohe Kunst, sondern auch für Unterhaltungsmedien wie Filme). Der Inhalt der Kunstwerke kann Ideen ›zeigen‹. Zweitens kann Kunst auch, formal betrachtet, als ›vorbildliche‹ Äußerung dienen. Wenn menschliches Leben durch eine Kette von Entäußerungen und Wiederaneignungen charakterisiert ist, dann ist das Lernen an besonders gelungenen Weisen der Entäußerung von hohem Wert für eben dieses Leben. Auch so kann Kunst und ihre Kenntnis zur Verbesserung des eigenen Ausdrucksverhaltens und damit zur Weiterentwicklung beitragen. Das gilt nicht nur für Raffael, sondern auch für heute stilbildende Künstler und Musiker. Die Nähe des Perfektionismus zum Ästhetischen zeigt sich schließlich auch bezüglich des Typus des Künstlers als allseitig entwickelter Person. Die künstlerische Aktivität kann neue Lebensformen und Befreiungspotentiale freilegen. Nach alldem meint ästhetischer Wert also nicht die Schönheit des Sahnehäubchens (das wäre Kitsch). Von Wert ist vielmehr, worin sich gelebtes Leben so ausdrückt, dass dieser Ausdruck das eigene Leben und das Leben anderer bereichern kann. Für den Perfektionismus hat die ästhetische Tätigkeit daher einen Selbstwert: einerseits rezeptiv, weil Kunst »intrinsisch gut« und der Zugang zu ihr somit Bestandteil eines autonomen Lebens sei, andererseits im »expressiven« Schaffensprozess: Expressives und kreatives Handeln sind wichtige Dimensionen von Selbstverwirklichung, da sie den Spielraum der Einbildungskraft vergrößern und damit die Lebensmöglichkeiten erweitern.30 Nicht nur an dieser Stelle zeigt die vorliegende Schrift, so ist jedenfalls zu hoffen, gute Anknüpfungspunkte zu einer weiteren philosophischen – und interdisziplinären – Arbeit auf.31
—————— 30 Raz 1986: 201; Wall 1998: 218. Auch Bernard Bosanquet trat für eine Kunsterziehung für Arbeiter ein. Die Verbindung zwischen Perfektionismus und Ästhetik ist uns oben bei Leibniz, Nietzsche, Marx und Dewey begegnet. 31 Eine perfektionistische Ästhetik habe ich entworfen in Henning 2011. Schon die Ästhetik von Georg Lukács war perfektionistisch grundiert, siehe dazu Henning 2012. In gegenwärtigen Forschungen untersuche ich die Bedeutung perfektionistischer Elemente im Selbstverständnis von Künstlern sowie die Bedeutung dieser Ideen speziell für die Entfremdungskritik an der modernen Welt.
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