232 82 10MB
German Pages 152 [164] Year 1969
Volkmann-Schluck • Mythos und Logos
Karl-H cinz Volkmann-Schluck
Mythos und Logos Interpretationen su Schellings Philosophie der Mythologie
Walter de Gruyter & Co Berlin 1969
Archiv-Nr. 30 07 691
© 1969 by Walter de Gruyter & Co., vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung, der Herstellung von Mikrofilmen und Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten. Printed in Germany. Satz und Druck: Hildebrandt & Stephan, Berlin 61
Inhaltsverzeichnis Seite
Einleitung
1 I. T E I L
Einleitung in die Philosophie der Mythologie (Schelling, Philosophie der Mythologie, 1. Buch) 1. KAPITEL
Kritisdi-dialektische Erörterung der bisherigen Auffassungsund Erklärungsweisen der Mythologie
16
2 . KAPITEL
Wesen und Ursprung der Göttergeschidite (Der sukzessive Polytheismus)
33
3 . KAPITEL
Die Philosophie der Mythologie als die wahre Erklärungsweise der Mythologie
34
II. TEIL
Schellings Philosophie der Mythologie 1. KAPITEL
Der Begriff des Monotheismus (Der absolute Logos)
55
2 . KAPITEL
Der kosmogonische Prozeß als Genesis des Bewußtseins
75
3 . KAPITEL
Die volle Wesensbestimmung des mythologischen Prozesses
80
Seite 4 . KAPITEL
Die Urtat des Bewußtseins als Ursadie des mythologischen Prozesses und der Geschichte überhaupt
85
5. KAPITEL
Der Beginn des mythologischen Prozesses und seine erste Phase: die Astralregion
94
6 . KAPITEL
Von der Wesensart und dem gegenseitigen Verhältnis der Offenbarungsreligionen (Die israelitische Religion, der Islam, das Christentum)
103
III. T E I L
Hermeneutische Erörterung von Schellings Philosophie der Mythologie 1. KAPITEL
Die leitende Hinsicht der Philosophie der Mythologie
111
2 . KAPITEL
Die Frage nach dem Verhältnis von Mythos und Logos am Leitfaden der Frage nach dem Wesen der Sprache 128
Einleitung Als um 600 v. Chr. die Philosophie bei den Griechen erwachte, fand sie sich sogleich und unversehens in eine Auseinandersetzung mit einer schon bestehenden Weltansicht versetzt, die wir mit den Worten „Mythos" und „mythisch" benennen. Audi innerhalb des europäischen Geschichtsgangs ist das philosophische und wissenschaftliche Denken nicht das Erste, sondern dieses kam erst in einer Gegenwendung gegen eine Weltansicht auf, welche die Griechen, obzwar in eigener Gestalt, mit den anderen Völkern teilte und von der die Menschheit bis dahin beherrscht wurde. Das Gesetz, dem das philosophische und wissenschaftliche Denken folgt, trägt den Namen „Logos". Seitdem stehen „Mythos" und „Logos" als Gegenworte gegeneinander. Bei uns hat sich die Redeweise von der Ablösung des Mythos durch den Logos eingebürgert. Heraklit hat zum erstenmal den Logos zum Grundwort des Denkens erhoben. Aber der Einleitungssatz zu seinem Werk, der den Logos in den höchsten Rang versetzt, ist ebenso provozierend wie rätselhaft: „Während dieser Logos immer ist, erscheinen die Menschen als die Unverständigen sowohl, ehe sie ihn gehört haben, w i e auch, sobald sie ihn gehört haben; denn obwohl alles diesem Logos gemäß sich ereignet, benehmen sie sidi, als ob sie nichts erfahren hätten, so o f t sie es mit solchen Worten und Werken versuchen, w i e idi sie durchgehe, ein jegliches nach seiner Natur auseinanderlegend und zeigend, wie es sich verhält. D e n anderen Menschen bleibt verborgen, was sie im Wadien tun, so wie sie das, was sie im Schlafen getan haben, ins Vergessen entgehen lassen." 1
Wir beschränken uns hier auf einige für unsere Absicht unentbehrliche Bemerkungen. Der Satz sagt zwar nicht, was der Logos sei, aber er spricht doch eindeutig aus, daß er der Name für die bleibende Wahrheit von allem ist. Alles, d. h. die Fülle alles Anwesenden ereignet sidi dem Logos gemäß. Müßten ihn dann nicht die Mensdien allem Kennenlernen von diesem und jenem zuvor immer schon ken1
Diels-Kranz, Herakleitos B fr. 1
1 Volkmann-Schluck, Mythos
2
Einleitung
nen, so daß er erst gar nicht eigens gesagt zu werden brauchte? Seltsamerweise verhält es sich anders: Die Menschen geben sich in all ihrem Sagen, Tun und Lassen so, als hätten sie den alles bestimmenden Logos nie erfahren. Ja, sie verharren auch dann noch in diesem Zustand, wenn ihnen der Logos eigens gesagt wird, wie es Heraklit in seinem Werk versucht. Denn er legt ein jegliches, mit dem die Menschen zu tun haben, gemäß seiner Natur (cpiiaig) auseinander, indem er zeigt, wie es sich verhält. Hier tritt das Wort physis auf, das andere Grundwort des griechischen Denkens, physis ist der Name für die Art, gemäß der ein jegliches von sich her erscheint und anwesend ist. Das Verhalten, welches die Art und Weise erkennt, der gemäß alles und jedes von sich her anwesend und beschaffen ist, und das diese Erkenntnis zum Maß und Gesetz nimmt, ist das philosophische und wissenschaftliche Denken überhaupt. Ein jegliches zeigt sich aber dann in der ihm eigenen Art zu sein, wenn wir uns im Verhalten zu ihm an den Logos halten, dem gemäß alles sich ereignet. Umso befremdlicher verhält es sich mit dem Menschen in seiner Beziehung zum Logos. Er ist doch der alles Versuchende, alles Wagende, der es mit allem aufnimmt. Aber seltsamerweise bleibt dieser Vielerfahrene von einer Erfahrung ausgeschlossen: In allen Sagen und Vollbringen sagt und vollbringt er nicht die Art und Weise, der gemäß all das ist und geschieht, mit dem er sich unaufhörlich zu schaffen macht. So bleiben die Menschen sich selbst in all ihren Beziehungen zu allem in einer wesentlichen Hinsicht verborgen, da sie die eine, alles bestimmende Wesensweise von allem nicht erfahren. Oder vielmehr: die Menschen streifen den Logos eben nur bei allem, womit sie zu tun haben, indem sie ihn auch schon ins Vergessen entsinken lassen, so wie wir beim Erwachen das sogleich vergessen, was uns im Traum begegnet ist. Was die Menschen in jeglichem Umgang mit etwas ständig streifen, das nehmen sie als etwas bloß Geträumtes, das sie, sobald sie erwacht sind, nicht mehr zu beachten brauchen. Das erste philosophische Denken erfährt sich als ein Erwachen, als ein Sichöffnen für das Eine, von dem her alles, was ist und geschieht, seine Bestimmung empfängt. Dieses Erwachen des Denkens ist ein Erwachen des Menschen zum Logos. Nun ist uns aus der Überlieferung hinreichend bezeugt, daß das erste Denken das Seiende als das Gegenwendige (Ivav-tia) erfuhr, als das einander sich Ausschließende, das sich die Anwesenheit streitig macht, das daher nur in den wechselseitigen Bezügen des Erscheinens
Einleitung
3
und Verschwindens zu währen und zu weilen vermag. Daraus können wir entnehmen, daß der Logos dasjenige Gegenverhältnis ist, dem gemäß sich das Eine gegen das Andere wendet, dergestalt, daß ein jegliches aus solcher Gegenwendung erst zu erscheinen und anwesend zu sein vermag. Der Logos hält als das Gegenverhältnis dieses Gegenwendige zusammen, jedoch so, daß die Gegensätze durch die Vereinigung auseinander gehalten werden und so ein jegliches in die Bestimmtheit seines Wesens gelangt. Der Logos ist das ursprüngliche Beisammen des Gegenteiligen in Einem. Ist aber die Wesensweise des Seienden dieses Beisammen, dann muß auch dasjenige Seiende, welches das Sein in höchster Weise repräsentiert, das Göttliche, ein wesenhaft Eines sein. Und in der Tat verlangt die erwachende Philosophie die Einsicht, daß das Göttliche in seinem Wesen Eines sei; sie befindet sidi von Anfang an im Widerstreit mit dem mythisdien Polytheismus. „Gott: Tag und Nadit, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Oberfluß und Hunger." 2 „Lehrer der meisten ist Hesiod. Sie sind überzeugt, er wisse am meisten, er der Tag und Nacht nicht kannte; sie sind dodi Eines." 3
Die Theogonie Hesiods lehrt die Entstehung der Götter und die Folge der Göttergeschlechter, die sidi in der Herrschaft des Zeus vollendet, deren Ewigkeit dadurch verbürgt ist, daß Zeus jeder Gottheit die ihr gebührende Sphäre und Würde zuerteilt hat. Hesiods Gedicht enthält die reichste Entfaltung der mythisdien Göttervielfalt. Heraklits Spruch will sagen: Kein Wunder, daß Hesiod das Göttliche so verkennt. Denn da er das Nächste, Tag und Nacht, nicht kennt — er hält wie die Menschen auch sonst beides für etwas Gesondertes und sieht nicht die verborgene Mitanwesenheit des Einen im Anderen —, wie sollte er da das Höchste nicht ebenfalls und erst recht verkennen? Was wäre denn der Tag ohne die von ihm aufgehellte und darum in ihm verborgen mitanwesende Nacht? Und die Nacht wäre nicht Nacht ohne eine verborgene Helle. Da Hesiod nicht einmal das den Menschen ständig umgebende Nächste kennt, bleibt ihm erst recht das Wesen des Göttlichen verborgen, welches das Eine ebensosehr ist wie das gegenteilige Andere. Hesiod dagegen entbreitet das Gotteswesen in eine Vielheit von nach abgegrenzten Sphären gesonderten Göttern. Indes bleibt, nach vorwärts gesehen, Heraklits Logos do