296 63 8MB
German Pages 251 [252] Year 1997
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Band 146
Joachim Pfeiffer
Tod und Erzählen Wege der literarischen Moderne um 1900
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Eichstätt gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pfeiffer,
Joachim:
Tod und Erzählen : Wege der literarischen Moderne um 1900 / Joachim Pfeiffer. Tübingen : Niemeyer, 1997 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 146) ISBN 3-484-18146-X
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
I.
Einleitung ι. Der Tod in der Moderne 2. Prämissen und Zielsetzungen 2.1 Abgrenzungen 2.2 Konsequenzen
II.
Verdrängung des Todes? 1. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte des Todes . . 2. Jünglinge mit Fackeln - Strategien der Aufklärung 3. Mythoskritik und ihre Folgen: Die Dialektik der Aufklärung 4. Todes-Dialektik: Freud und Adorno 5. Konservative Kulturkritik? 6. Die Utopie der Reversibilität 7. »Die ewigeinige Welt ist hin«
19 19 27 32 36 40 41 44
III.
Mythen und Totenschädel: Der grüne Heinrich und das Vorratshaus der Moderne ι. Ende des Lebens - Ende des Romans 2. Die mythische Welt 3. Die Allegorie des Schädels 4. Versöhnung und Dissonanz
46 46 50 62 74
IV.
V.
ι ι 6 7 8
Allegorien der Zeitlichkeit: Wilhelm Raabes Unruhige Gäste . . 1. Die Rehabilitierung der Allegorie 2. Bilder der Unruhe - »wie deutlich einem die Uhr dort im Turm die Zeit zuzählt« 3. Wahnsinn, Typhus, Tod - Systeme der Ausgrenzung und ihre Subversion 4. Leprosorien und Narrenschiffe - Uferflächen des Bösen . . 5. Die Flucht vor dem Tod und die narrative Strategie des Romans Schönheit, Tod und Vergänglichkeit: Die Wiener Moderne ι. Der Begriff der Moderne
...
81 81 85 89 95 98 101 102 V
2. Das individuelle Gesetz oder: Der »Frost der Einsamkeit«. Otto Weininger und Georg Simmel
104
3. Das Prisma des modernen Bewußtseins - Nietzsche und der Beginn des nachmetaphysischen Zeitalters
114
4. Einheit in der Vielfalt - Die Literatur der Jahrhundertwende
117
5. Der Tod Georgs von Richard Beer-Hofmann
120
5.1 Jugendstil contra Impressionismus? Zur literarhistorischen Einordnung des Romans
120
5.2 Die Stillstellung der Zeit im Bild
122
5.2.1 Die Flüchtigkeit des Erlebens: Panoramablicke aus der Eisenbahn
122
5.2.2 Die Bilder des Jugendstils
127
5.3 Die alte Welt: Märchen und Mythos
133
5.4 Die Immanenz des Selbstbewußtseins
137
5.5 Die imaginative Logik der Konstruktion
139
5.6 Zusammensturz der Träume und »mémoire
involon-
taire« - Der Weg zurück in die Zeit und die Geschichte
141
5.7 Der jüdische Traditionszusammenhang und die Wiedergewinnung der verlorenen Zeit
144
5.8 Die Korrelation von Bewußtseins- und Erzählstrukturen 6. Der erzählerische Kontrapunkt: Arthur Schnitzlers Sterben VI.
147 148
Der Tod in der Menge und die traumhafte Welt: Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Heinrich Heine, Ernst Jünger und Franz Kafka
154
ι. Die Veränderung der Wahrnehmungsqualitäten
155
2. Der Tod im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
157
3. Toten-Omnibusse: Heines ironische Metaphorik in den Französischen Zuständen
160
4. Der Tod als Fest: Der Cornet und Ernst Jüngers Frühschriften
VII.
164
5. Tod und Erzählen
175
6. Die ganzheitliche Zeiterfahrung und das zerbrochene Ich . .
180
7. Im Grenzgebiet von sozialer und ästhetischer Subjektivität
184
8. Im Labyrinth der Träume: Kafka
187
»Dem Tod
keinen Platz
einräumen in seinen
Gedanken.«
Thomas Manns Zauberberg und Freuds Zeitgemäßes über Krieg und Tod
VI
191
ι. Traum und Rausch
192
2. Umwertung des Todes
198
3. Die Oppositionen: »Uberform« und »Unform«
200
4- »Dem Tod (k)einen Platz einräumen in seinen Gedanken«: Thomas Mann gegen Freud 4. ι Freuds Verteidigung der Regression 4.2 Thomas Manns Auseinandersetzung mit Freud 4.3 Kulturpessimismus oder Humanismus? 4.4 Die Korrektur aufklärerischer Positionen 4.5 Der Todestrieb und Freuds Das Unbehagen in der Kultur 5. Das Ende
203 206 209 212 214 216 217
VIII. Abschließende Überlegungen ι. Das veränderte Bewußtsein 2. Das Problem der Zeitlichkeit und die Bekenntnisse des Augustinus 3. Zeit und Erzählen 4. Rückblick 5. Ausblick
220 220 221 222 223 226
Literaturverzeichnis
227
Personenregister
241
VII
I. Einleitung L'homme moderne n'est possible qu'à titre de figure de la finitude. M. Foucault, Les mots et les choses
ι. Der Tod in der Moderne1 Das zwanzigste Jahrhundert war nicht nur eine Epoche politischer Erschütterungen und Verwerfungen, sondern im selben Maß auch eine Zeit der großen Kriege, der Unmenschlichkeit und Barbarei. Die aufklärerische Vernunft und der damit verbundene Anspruch auf Humanität und Toleranz scheinen jene Formen der Inhumanität nicht verhindert zu haben, die zur Reflexion über den Prozeß der Moderne Anlaß gaben und zu ihrer entschiedenen Kritik herausforderten. Offensichtlich ist die Modernekritik von Anfang an ein integraler Bestandteil dieser Modernität selbst.2 Horkheimer und Adorno haben während des Zweiten Weltkriegs versucht, den Gründen für diesen Verfall des Humanen nachzugehen: In ihrer Dialektik der Aufklärung analysierten sie den dialektischen Umschlag aufklärerischer Vernunft in Zweckrationalität und den Sinnverlust, der die Instrumentalisierung der Vernunft begleitet. Die Aufdeckung der »rastlose(n) Selbstzerstörung der Aufklärung«3 und die Besinnung auf das »Destruktive des Fortschritts« dienten letztlich der Rettung des aufklärerischen Projekts selbst - denn die Freiheit des Menschen ist »vom aufklärerischen Denken unabtrennbar«.4 Immer wieder haben Autoren in diesem Jahrhundert ihre Aufmerksamkeit auf das Zerstörerische im Prozeß der Zivilisation gelenkt und den »tödlichen« Kräften in der Kultur ihre entschiedene Gegnerschaft erklärt. Für Elias Canetti war der Tod nicht nur das oberste »Symbol des Mißlingens«,5 sondern auch eines der gefährlichsten Konstituentien der Macht. Deshalb wollte er ihm bis in die letzten Schlupfwinkel nachspüren, um seine Anziehung und seinen falschen Glanz zu zerstören.6 Auf den luftigen Höhen des Zauberbergs läßt Thomas 1
Literarische Primärtexte werden in der Originalsprache zitiert, wissenschaftliche Texte in der deutschen Ubersetzung, soweit eine deutsche Edition zugänglich war. 2 Vgl. H. Rudolph, Kulturkritik und konservative Revolution, S. i. 3 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (Neuausgabe 1969), S. 1. < Ebd., S. 3. ! Die Provinz des Menschen, S. 109. 6 Näheres hierzu bei H. Orlowski, Öffentlichkeit und persönliche Todeserfahrung bei Elias Canetti (1984); M. Schneider, Augen- und Ohrenzeuge des Todes. Elias Canetti und Karl Kraus (1980); H . J . Greif, Masse und Tod in Canettis Die Fackel im Ohr I
Mann seinen kranken Hans Castorp sagen, der Mensch dürfe »dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken«. 7 Noch vor der Veröffentlichung des Zauberberg hatte Thomas Mann in seiner Rede Von deutscher Republik (1922) vor jeder romantischen »Sympathie mit dem Tode« gewarnt - jedoch hinzugefügt, dies sei »lasterhafte Romantik nur dann, wenn der Tod als selbständige geistige Macht dem Leben entgegengestellt« werde. Das »Interesse für Tod und Krankheit« könne, in rechter Intention, auch ein Ausdruck für das Interesse am Menschen sein: »wer sich für das Organische, das Leben interessiert, der interessiert sich namentlich für den Tod«.8 Diese wichtige Differenzierung verweist geradezu auf den blinden Fleck, welcher der späteren Dialektik der Aufklärung anhaftet. Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs haben die Denker der Kritischen Theorie veranlaßt, den Tod aus ihrer Analyse auszuklammern und die Polarität von Sein und Nichts erstarren zu lassen, die Hegel dialektisch in Bewegung gebracht hatte.9 Der Tod, »vom Leben getrennt gesehen«, wird freilich »zum Gespenst, zur Fratze«. Diese Einsicht machte sich schon der Aufklärer Settembrini im Zauberberg zu eigen. 10 Doch der Tod ist nicht nur jenes Herrschaftsinstrument, das die Kritische Theorie zu Recht perhorreszierte. Die Verfasser der Dialektik der Aufklärung scheinen jene andere Dialektik übersehen zu haben, die Freud um die
(1984); C. Liebrand, Tod und Autobiographie. Fontanes »Meine Kinderjahre« und Canettis »Die gerettete Zunge« (1994). 7 Th. Mann, GW III, S. 686. 8 Th. Mann, GW XI, S. 851. Der Satz kehrt fast wörtlich in Hans Castorps Mund wieder: »>Und wenn man sich für das Leben interessiertso interessiert man sich namentlich für den Tod. [...]UnaussprechlichemGeschichte< in der Zeichenschrift der Vergängnis.«53 Die allegorische Physiognomie dieser Geschichte ist gegenwärtig als Ruine: »Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge.« 54 Das »hochbedeutende Fragment« ist für Benjamin »die edelste Materie der barokken Schöpfung«: 55 Die Gebrochenheit der schönen Dinge »war wesensmäßig dem Klassizismus versagt. Gerade diese aber trägt die Allegorie des Barock, verborgen unter ihrem tollen Prunk, mit vordem ungeahnter Betonung vor. Eine gründliche Ahnung von der Problematik der Kunst [...] tritt als Rückschlag ihrer renaissancistischen Selbstherrlichkeit auf.« 56 Benjamin entdeckt also in der barocken Allegorie vor allem eine scheinzerstörende Kraft, durch die sie, fern aller Verklärung, das Leiden der Kreaturen an einer unvollendeten Schöpfung darstellt. »Während im Symbol mit der Verklärung des Unterganges das transfigurierte Antlitz der Natur im Lichte der Erlösung flüchtig sich offenbart, liegt in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft vor Augen.« 57 In der allegorischen Darstellung der flüchtigen Zeit verzichtet die Barockdichtung darauf, die Na49
Daß Benjamin im Grunde von einer modernen Allegorie-Konzeption ausgeht und diese in die Figurationen des barocken Trauerspiels hineinliest, hat Heinz Schlaffer in einem Exkurs seines Faust-Buches (Faust Zweiter Teil, S. 186-190) behauptet: »Es ist deutlich, daß schon im Trauerspiel-Buch der Blick aufs 19. Jahrhundert die Konstruktion der Allegorie geleitet hat.« (S. 189) Gerade deswegen ist jedoch Benjamins modellhafte Konstruktion für die Anwendung auf einen Text des 19. Jahrhunderts besonders geeignet.
50
W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 153. Näheres hierzu in Kap. IV, 1. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155. Ebd., S. 156. Ebd., S. 156. Ebd., S. 154. Ebd., S. 145.
51
» >1 » s* 57
66
tur scheinhaft im Licht der Erlösung darzustellen, wodurch sie aber zugleich deren Erlösungsbedürftigkeit mitbedenkt. Während das Symbol die Todesproblematik verdrängt, setzt die Allegorie sie ins Licht. In der »modernen Allegorie« Baudelaires sieht Benjamin die scheinzerstörende, entmythisierende Kraft der barocken Allegorie ins 19. Jahrhundert gerettet: Die moderne Allegorie entlarvt, in der Antinomie von Schein und Bedeutung, das Dinghafte der Warenwelt, die in der »nouveauté« ein Leben anpreist, das in Wirklichkeit der Tod ist.' 8 Die Allegorie erscheint so bei Baudelaire als Gegenpol zur symbolischen Welt der Correspondances, deren Scheincharakter sie enthüllt. In seinen fragmentarischen Skizzen zu Baudelaire schreibt Benjamin: »Es ist in der Allegorie das Antidoton gegen den Mythos zu zeigen. Der Mythos war der bequeme Weg, den Baudelaire sich versagt hat.«55 Der Mythos erscheint hier bereits in jener ideologisierenden Zerrform, die Roland Barthes den »Mythen« des 20. Jahrhunderts zuspricht. Keller zeichnet die mythische Welt mit ihrem Anspruch auf Sinn und Ganzheit schon als verlorene, die jedoch in ihren Restbeständen noch in die Moderne hineinragt. Die Welt des scheiternden Künstlers Heinrich aber ist eine andere. Einer Verklärung dieser Welt im Symbolischen verweigert sich Keller, wie er sich dem gewünschten glücklichen Ausgang seines Romans verweigerte. Der Totenschädel ist das entschiedenste, krudeste Requisit, mit dem der Autor die Verdrängung des Leidens und des Todes zurückwies. Nicht zuletzt in dieser Aufwertung der barocken Allegorie verabschiedete er sich von den Symbolwelten klassizistischer Ästhetik. Es ist bemerkenswert, wie entschieden Keller die alte Allegorie wieder in ihr Recht setzte. Man kann vermuten - nähere Untersuchungen hierzu fehlen bisher - , daß er die Anstöße dazu aus der Malerei bezog, in welcher im 19. Jahrhundert das barocke Schädelbild eine unerwartete Aufwertung erfuhr. Nicht zufällig taucht ja im Grünen Heinrich der Schädel zuallererst als Requisit eines Bildes auf, das in der Rahmenerzählung der Meretlein-Novelle erwähnt wird.ÄO 58
Zur Allegorie Baudelaires hat sich H. R. Jauß - unabhängig von Benjamins Baudelaire-Interpretation - in einem einschlägigen Aufsatz geäußert (Baudelaires Rückgriff auf die Allegorie in dem Band Formen und Funktionen der Allegorie, 1979, S. 686700). Vgl. auch den Aufsatz von Harald Steinhagen im selben Band: Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie, S. 666-685. 59 W. Benjamin, Charles Baudelaire, S. 173. 6 ° Im Pfarrhaus »hing wirklich ein altes Ölgemälde, das Bildnis dieses merkwürdigen Kindes enthaltend. [...] In seinen Händen hielt das Kind den Totenschädel eines andern Kindes und eine weiße Rose. Noch nie habe ich aber ein so schönes, liebliches und geistreiches Kinderantlitz gesehen, wie das blasse Gesicht dieses Mädchens; es war eher schmal als rund, eine tiefe Trauer lag darin, die glänzenden dunkeln Augen sahen voll Schwermut und wie um Hülfe flehend auf den Beschauer, während um den geschlossenen Mund eine leise Spur von Schalkheit oder lächelnder Bitterkeit schwebte.« (A I/5, S. 90)
67
Zu Beginn seines Dorfaufenthaltes wird Heinrich auf dieses Bild nochmals Bezug nehmen/ 1 Das in barocker Kunst und Literatur so geläufige Schädelbild wurde in der Aufklärung und im Klassizismus zurückgedrängt - nicht zuletzt Lessing trug dazu mit seiner Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet bei. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts läßt sich eine erneute Zunahme solcher Darstellungen verzeichnen, wie Hans M. Schmidt in seiner Untersuchung Künstler und Tod festgestellt hat.62 Meist sind es »Selbstbildnisse mit Tod«, in denen der Tod wieder in seiner alten allegorischen Gestalt erscheint: als Skelett oder als Schädel. Im Jahr 1872, wenige Jahre vor Kellers endgültiger Umarbeitung des Grünen Heinrich, entsteht in München ein Gemälde, das ein besonders eindringliches Beispiel dieses Bildtyps darstellt: Arnold Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod. Der erschreckende Eindruck, den das musizierende Skelett auf den Beschauer macht, wird durch die Geste des Malers abgemildert: Er wendet seinen Kopf dem Tod zu, so als lausche er aufmerksam seinen Tönen. Da der Maler offensichtlich mitten in seiner Arbeit begriffen ist - er hält in der einen Hand den Pinsel und in der anderen die Palette mit den Farben - , wird ein besonderer Bezug des Todes zur künstlerischen Tätigkeit suggeriert. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Aufreihung von Totenschädel, Kopf und Hand des Malers auf einer Achse, der Diagonalen des Bildes. Der Mund des Todes ist zudem deutlich geöffnet, während der Maler seinen Mund geschlossen hält, aber sein Ohr in die Richtung des geöffneten Mundes wendet. Der Tod scheint also den Künstler in seiner Arbeit zu inspirieren - dieser verharrt Kopf an Kopf, in vertrauter, ja fast intimer Nähe zu ihm. In solche Vertrautheit übt sich auch Heinrich ein, wenn er sich mit dem Schädel auf die Wanderschaft und damit auf die Suche nach seinem Künstlertum begibt. Schon auf dem ersten Reiseabschnitt versucht er sich mit dem Schädel auf Du und Du zu stellen: Er legt ihn auf seinen Schoß und schafft dadurch ein Verhältnis geradezu intimer Nähe - als Kontrafaktur zu der Skepsis, mit der die »martialischen Grenzwächter« den Schädel des »armen Zwiehan« beäugen: So hob ich ihn denn auf, nahm ihn unter den Arm, trug ihn zum Wagen und hielt ihn auf der ganzen Reise auf dem Schöße, in ein Tuch gewickelt, das ich für etwaigen Nachtfrost zum Schutze des Halses mit mir führte. (B IH/10, S. 1 1 3 )
In besonderer Weise wird in der Zweitfassung dieser Zwiehan-Schädel Heinrichs Künstlertum zugeordnet. Beim Einpacken des Schädels hatte Heinrich sich jener wunderlichsten kleinen Geschichte« erinnert, die er mit dem »Kopfknochen« verband. Dieser Albertus Zwiehan weist Züge auf, die eine deutliche 6
' »[...] die glitzernden Wellen des raschen Flüßchens flimmerten wider an der weißen Zimmerdecke und ihr Reflex überstrahlte das Angesicht jenes seltsamen Kindes, dessen altertümliches Bild an der Wand hing.« (A II/1, S. 218) 61 H . M . Schmidt, Künstler und Tod - Selbstbildnisse, S. 387. 68
Verwandtschaft zwischen ihm und Heinrich suggerieren und sich zugleich als Signatur modernen Kiinstlertums erweisen. Baudelaire w a r es, der das Gesicht dieses modernen Künstlers wie kaum ein anderer seiner Poesie eingeschrieben hat: 63 E r erscheint als Außenseiter der Gesellschaft, ausgestoßen aus den familialen Bindungen, in seiner Identität bedroht, dem Untergang preisgegeben, gezeichnet v o n gesellschaftlichem Abstieg und Besitzlosigkeit, mit der alleinigen Aussicht, sich ins Schöpferische, in die Schrift hinein zu retten. 64 Zwiehan erscheint in Heinrichs Erzählung als Ausgestoßener der Familie, als rechtlos Enterbter, an dessen Stelle ein »Bastardsohn« in ein vertraglich begründetes Sohnesverhältnis eingesetzt wurde. Die angestrengten Versuche Zwiehans, sich eine bürgerliche Identität zu begründen, scheitern kläglich. Die geplante Verbindung mit Cornelia löst sich buchstäblich in L u f t auf, als er ein »Traumgebild« erblickt (B I I I / i o , S. 95), dem er nun mit aller ihm verfügbaren Leidenschaft nachfolgt. Erst nach »Irrfahrten« gelangt er an das Ziel seiner Suche, w o seine Sehnsucht erst recht ins Leere laufen wird. Insofern ein tragischer Bruder des D o n Q u i xote, verläßt er sich eher auf seine Tagträume als auf die Welt des Faktischen und wird am Ende mittellos, rechtlos und gedemütigt dastehen, mit endgültig vernichteter Identität. Das einzige, was ihm noch bleibt, ist der Versuch, sich eine Identität über das Schreiben zu erschaffen - er schreibt sein Schicksal in eine alte Familienchronik, um wenigstens in der Schrift seine H e r k u n f t und Identität zu beglaubigen: »um wenigstens eine Spur von seinem Dasein zu hinterlassen, schrieb er heimlich sein Schicksal in das Original der Aufzeichnungen hinein« (B I I I / 1 0 , S. 103). A b e r auch dies rettet ihn nicht v o r dem Selbstverlust, denn bald darauf, so heißt es, wurde er »aus Verdruß über den Verlust seines Daseins, ja seiner Person und Identität krank [...] und starb« (ebd.). Stellt der Zwiehan-Schädel die Reliquie eines ins Negative verschobenen Doppelgängers dar, so taucht der Schädel auch an anderen Stellen in enger Assoziation mit Heinrichs Lebensgeschichte und seinem Künstlertum auf. A u f seinem R ü c k w e g begegnet Heinrich einem alten Mütterchen, das von einem Waldhüter traktiert wird. In der Erstfassung schlägt Heinrich diesen U n h o l d mit der grün eingebundenen Jugendgeschichte in die Flucht (er »schlug dem bösen H o l z v o g t sein hartes Wachstuchpäcklein einigemal so heftig um die O h 65
64
7°
Auch in deutschen Texten des 19. Jahrhunderts stößt man auf das Bild des Künstlers als Opfer, als ein dem Untergang Geweihter und als Gestalt am Rand der Gesellschaft (so z. B. in der Kunstlernovelle Der arme Spielmann von Franz Grillparzer). Vgl. hierzu die näheren Ausführungen bei Christine Bange (Die zurückgewiesene Faszination, 1987): Der Typus des modernen Künstlers als Außenseiter der Gesellschaft werde bei Baudelaire zur heroischen Figur; er erscheine als der Einsame, »als das in seine Differenz zur Gesellschaft verkapselte Individuum« (S. 52). »Die Heroisierung des Besitz- und Machtlosen in Verbindung mit der Verklärung des Willens sind in bezug auf den Dichter-Heros untrennbar mit dem Bild der >passion< verbunden, der Wille zum Uberleben und zum Erfolg mit dem Willen zum Untergang, das KünstlerImage des Helden mit dem des Geopferten.« (S. 50)
ren und auf das Gesicht, daß der Unhold taumelte und ihm das übermütige Blut aus Mund und Nase rann«; A IV/8, S. 791). Die »gute Tat« ersetzt ihm sogar das Mittagsmahl, weil sie den Hunger vertreibt. In der Zweitfassung tritt an die Stelle des grüngebundenen Buches der Zwiehan-Schädel, der jetzt zum Gegenstand der schalkhaften Inszenierung geworden ist. »Durch einen plötzlichen Einfall erleuchtet«, stülpt Heinrich den Schädel auf einen Stock, läßt die noch intakten Zähne klappern und versieht das Schauspiel mit untergründigen Drohungen - worauf der Waldhüter, »so schnell ihn die schlotternden Beine tragen wollten, sich davonmachte« (B IV/8, S. 339). Spätestens hier wird deutlich, wie sehr Heinrich sich von allen Berührungsängsten mit dem allegorischen Gegenstand befreit hat. Als wandlungsfähiges Requisit setzt er ihn, auf der Naturbühne eines selbstinszenierten Schauspiels, für wohltätige Zwecke ein. Den tragischen Kontext des Barock, in dem die Allegorie des Schädels (bzw. der Leiche) ihren angestammten Ort hat, erweitert er um das Komische. Doch selbst von der alten Wirkungsabsicht der Tragödie hat sich noch etwas in den Roman gerettet: Heinrichs Inszenierung erweckt Furcht und Schrecken, und die reinigende Wirkung ist offensichtlich. Keller läßt nicht davon ab, auch weiterhin den Kontext barocker Dichtung zu evozieren. Unmittelbar im Anschluß an die Waldhüter-Episode folgt eine »eifrige Predigt«, die Heinrich sich selbst hält. Es ist eine Vanitas-Predigt, die ihren barocken Vorbildern in nichts nachsteht. Heinrich glaubt zu erkennen, »daß das Fundament all des anmaßlich brutalen Gebausches eine grenzenlose Eitelkeit sei«: Neid, Habsucht, Hartherzigkeit, Verleumdungssucht, Trägheit, alle diese Laster lassen sich bändigen oder einschläfern; nur die Eitelkeit ist immer wach und verstrickt den Menschen unaufhörlich in tausend lügenhafte oder wenigstens unnötige Dinge [...], die alle zuletzt ein ganz anderes Wesen aus ihm machen, als er eigentlich zu sein wünscht. (B IV/8, S. j 4 o f . )
Von der Schwank-Inszenierung zur ernsthaften Predigt: Keller jongliert hier geradezu mit traditionellen Versatzstücken und setzt sie spielerisch in neue Sinn-Kontexte ein. Der Schädel wird dem Schicksal des Helden weiterhin zugeordnet bleiben. E r dient nun, am Ende der Waldhüter-Episode, dazu, sich über das Schicksal zu »erheben« (B IV/8, S. 342) - eine Funktion, die auch die Abfassung der Jugendgeschichte hatte, an deren Stelle er getreten ist. In der folgenden Schloß-Episode verbinden sich Schädel und Künstlertum, Allegorie und dichterische Schrift noch einmal aufs engste: »nun lagen der Schädel und das eingebundene Manuskriptum meiner Jugendgeschichte offen da« (B IV/10, S. 359), so daß der Graf sich über dieses barocke Stilleben verwundert: »Das ist ja ein mysteriöses Reisegepäck!« rief er, an den Tisch herantretend, »ein Totenschädel und ein grünseidener Quartant mit goldenem Schloß!« (ebd.)
Heinrich wird die »Geschichte mit dem Schädel« erzählen, und auch die mit dem Waldhüter und die vom »Schädelwurf des Wirtes«. Auch bei Tisch dreht 71
sich das Gespräch um den Totenkopf, den Waldhüter und die Geschichte des Albertus Zwiehan, die von den Tischgenossen mit »Verwunderung« und »Beifall« entgegengenommen wird (B IV/io, S. 367). Noch einmal wird sich dann der Roman - in noch expliziterer Form - der barocken Dichtungstradition zuwenden, und zwar in ausgiebigen Zitaten aus dem Cherubinischen Wandersmann des Angelus Silesius, die der Geistliche vorträgt und die eine angeregte Diskussion unter den Gästen auslösen. Dorothea selbst zitiert den Text vom »gefrornen Christen« und liefert Heinrich damit ein wichtiges Stichwort für seine Selbsterkenntnis (B IV/12, S. 403). Diese Insistenz auf barocker Überlieferung in Kellers Roman ist auffällig, zumal sie in der Zweitfassung durch das Vanitas-Bild des Schädels besonders akzentuiert wird. Neben Anleihen aus der Malerei ist der Bezug auf literarische Traditionen des Barock unverkennbar. Der spielerische Umgang mit literarischen Versatzstücken, die Verselbständigung der Teile ist der Barockdichtung selbst nicht fremd. 6 ' Mit der Einfügung der Schädel-Allegorie in humoristische Kontexte ist die Barocktradition jedoch deutlich durchbrochen. Auch der ausgesprochen paränetische Charakter, der für die Barockdichtung zumal in ihrer ersten Phase so typisch ist,66 erscheint in Kellers Grünem Heinrich konterkariert: In der Meretlein-Novelle, die in dem »Kinder-Bild mit Totenschädel« emblematisch verdichtet ist, werden die Mahnung und der Bußaufruf vom allegorischen Gegenstand abgetrennt und die Oppositionen - von Tod und Leben, diesseitigem Leid und jenseitiger Erlösung, von irdischer Buße und überirdischer Seligkeit - zum Einsturz gebracht. Keller säkularisiert die barocken Versatzstücke und assoziiert sie in besonderer Weise dem Künstlertum Heinrichs: einem Künstlertum, das nicht mehr der Welt des Symbols, sondern der Zeitlichkeit, der »Vergängnis«, dem Sein hinter dem verklärenden Schein der Dinge verpflichtet ist. Insofern steht die Allegorie des Schädels auch für ein dichterisches Programm: Wie die Barockdichtung will der Schädel die Maske zerstören, die die Natur und ihre Kreaturen verklärt. Er ermöglicht den Blick hinter die Oberfläche der Dinge und steht für den Schock des modernen Bewußtseins über die rasch verfliegende Zeit, die in keiner Ewigkeit mehr aufgehoben werden kann. Genau dies hat der unglückliche Künstler Heinrich den arrivierten Bürgern voraus: seinen Schädel, und die Kunst, zu der dieser antreibt. Die Zwiehan-Novelle liefert dazu das Paradigma: Albertus rettet seine zerbrochene Identität ins Schreiben. Gerade dies unterscheidet ihn von dem Halbbruder Hieronymus, der des Schreibens unkundig ist (B III/10, S. 102). So besitzt der eine das ganze Vermögen des Vaters, eine Frau und eine Familie, und der andere - ausgeschlossen aus der Ordnung bürgerlicher Identitätsbegründung (»nicht einmal seine Eigenschaft als illegitimer Abkömmling konnte 6i 66
72
Vgl. F. van Ingen, Vanitas und Memento mori, S. 3 5 1 . Ebd., S. 347.
er beweisen, weil hiefür nicht eine einzige Urkunde mehr vorhanden war«, Β III/io, S. 102) - hat nur die Schrift, um seine Existenz zu beglaubigen. Auch Heinrich rettet sich ins Schreiben. Dem Grafen gibt er bereitwillig Auskunft über die Entstehung seiner »Jugendgeschichte«: Das [Buch] hab ich geschrieben, als ich nichts mehr zu tun und zu leben wußte; es enthält einfach die Beschreibung meiner jungen Jahre, mit welcher ich mir eine Selbstprüfung auferlegte; es ist dann aber ein bloßes Erinnerungsvergnügen geworden. (Β I V / i o , S. 359)
Ein Erinnerungsvergnügen. Auch hinter dem zweiten Teil des Romans verbirgt sich eine solche Absicht: Heinrich hat »das geschriebene Buch« seiner Jugend aus Judiths Nachlaß zurückerhalten und »den andern Teil dazugefügt, um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln« (B IV/16, S. 467). Aus dem Erinnerungsvergnügen wird das Vergnügen der wiedergefundenen Zeit: die epische Wiederherstellung der Reversibilität, die dem Zeitbewußtsein der Moderne abhanden gekommen ist. Die barocke Formel des »Momento mori« verwandelt sich in das »Gedenke dich zu erinnern« des Romans - in jene epische Tugend, die einen Damm darstellt gegen eine Spielart der Verdrängung: das Vergessen. Aus der Erinnerung erhebt sich die andere epische Tugend, die eine einheitsbildende Kraft besitzt. Die Hoffnung ist in der grünen Farbe präsent, die die »Pfade der Erinnerung« kennzeichnet. Sie verbindet sich auch mit dem Schädel, den Heinrich zunächst »in einem hohen grünen Unkraut« findet (B III/io, S. 103), und der schließlich im Schloß »auf einem Postamente von grünem Moose weich gebettet« liegen wird: »um den Scheitel wand sich ein Kränzlein von Immergrün«, so heißt es - und Dortchen fügt dann hinzu: »wir haben [...] Sie dabei mitgemeint« (B I V / 1 1 , S. 38of.). In diesem Kranz läßt sich ein weiterer, ein letzter Bedeutungskomplex des Schädels erkennen. Als Schwundstufe des Lorbeers bezeichnet der gewundene Kranz (wenn auch vielleicht in parodistischer Absicht) die Heroisierung des Künstlerhelden, der so in die Perspektive des Todes gerückt wird und möglicherweise, wie Graevenitz vermutet hat, an der Aura der Märtyrerrolle Anteil erhält. 67 Die Assoziation des auratisierten, für seine Kunst sich opfernden Helden ließe im übrigen Verbindungslinien erkennen zu jener Variante des barokken Trauerspiels, die sich neben der Vanitas-Tragödie behauptet hat: der Märtyrer-Tragödie, deren Höhepunkt und Abschluß Gryphius darstellt. 68 In ihr wird nicht mehr das blutige Martyrium der frühen Christen auf die Bühne gebracht, sondern das unblutige Martyrium des »modernen« Helden, der inmitten des allgemeinen Verfalls sich in Tapferkeit und Tugend bewährt oder seinen Fall als »Steigen« begreifen lernt. 69 Keller selbst spricht in einem Brief 67
G . v. Graevenitz, Mythologie des Festes, S. 557. H. J . Schings, Consolatio Tragoediae, S. 36. é » Ebd., S. 3 1 . 68
73
von dem »Martyrtum« der Mutter, das in unmittelbarem Zusammenhang mit dem des grünen Heinrich stehe/0 Wie dem auch immer sei: die spielerische Bekränzung des Totenschädels ist einer der letzten Versuche des Romans, dem Tod als Inspirator der Kunst die Hoffnung beizufügen, die auch am Ende der Erstfassung im Bild des grünen Grases und als Schriftzug auf dem Zettel Dortchens erscheinen wird. Inwiefern Kellers Roman Vergangenheit und Zukunft, die Perspektive des Todes und die Perspektive der Hoffnung zu versöhnen vermag, wird noch zu erörtern sein. Nicht zuletzt die Beharrlichkeit des Schädel-Bildes steht jedoch dafür, daß der Blick in die Zukunft nicht die Erinnerung aufsaugen darf. Die Zukunftshoffnung darf nicht über den Tod hinwegtäuschen, oder anders gesagt: die Zukunft darf nicht als kompensatorischer Trost die Vergangenheit und ihre Leiden verdrängen. Davor bewahrt der Blick der Erinnerung, mit der Keller seinen Helden ausgestattet hat und der das unverzichtbare Korrelat und Korrektiv der Fortschrittsorientierung darstellt, die die neue Zeit mit sich bringt. In diesem Sinn erinnert der grüne Heinrich an jenen »Engel der Geschichte«, als den Walter Benjamin Paul Klees »Angelus Novus« gedeutet hat (in: Uber den Begriff der Geschichte). Dieser »hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet«, die »unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert«. Er möchte verweilen, »die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen«, doch ein Sturm, »der vom Paradiese her weht«, treibt ihn unaufhaltsam der Zukunft entgegen, »der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst«. 7 ' Als Kritik eines falschen Fortschrittsbegriffs verstand Benjamin dieses Bild. Als Ineinander von Verfall und Utopie, Zerstörung und Hoffnung verstand Keller seinen Roman. Während er die Schädel-Allegorie der ursprünglich dialektischen Kraft des barokken Bildes beraubt hat, stattete er sie zugleich mit der »episch echtgeborenen« Erinnerung und der Hoffnung aus. Hierin jedenfalls unterscheidet sich Kellers Roman von dem »Zukunfts- und Vergangenheitstabu«, das die Allegorien Baudelaires kennzeichnet.72
4. Versöhnung und Dissonanz Keller hatte nach der erstmaligen Veröffentlichung seines Romans alle Hände voll zu tun, um sich gegen die Kritik am Untergang seines Helden zu verteidi70 71 72
74
Br. an Vieweg, 28. April 1853, Gesammelte Briefe 3/2, S. 69. W. Benjamin, Uber den Begriff der Geschichte, S. 6^γί. Vgl. Chr. Bange, Die zurückgewiesene Faszination, S. 55: »Ist die heroische Signatur der frühen [barocken, J. P.] Melancholie vornehmlich auf den >Triumph< der Todesüberwindung, die Hoffnung auf Erlösung, ausgerichtet, so bestimmt das Zukunftsund Vergangenheitstabu den heroischen Zug der Allegorien Baudelaires.«
gen. Besonders der Brief an seinen Verleger Vieweg v o m 28. April 1853 verrät die Bemühung, den »zypressendunklen Schluß« zu rechtfertigen und zugleich dessen Versöhnlichkeit hervorzuheben. Keller insistiert auf der tragischen A b sicht dieses Schlusses und zieht Parallelen zum Trauerspiel und zu dessen Wirkungsabsicht: der Erschütterung des Publikums. Nachdem durch die Jugendgeschichte ein näheres Interesse f ü r den Helden geweckt w o r d e n sei, ließen sich, so Keller, die Leser von seinem Tod besonders bewegen. Seine Absicht sei es denn auch gewesen, »durch einen tragischen Ausgang ein wirkliches Mitleid zu erregen«. 7 3 In der Erneuerung des »abgebrauchten Tragischen« sieht Keller eine wichtige poetische Absicht seines Romans: D u r c h den »wirklichen und vollendeten Tod« könne dieses »einen neuen Lebenskeim gewinnen«. 7 4 Wie stark der Rechtfertigungsdruck war, unter dem Keller stand, merkt man auch seiner Bemühung an, auf das milde Licht der Versöhnung hinzuweisen, von dem das E n d e umgeben sei: Dieser Untergang ist aber so vollkommen vom Lichte der Selbsterkenntnis und der Vernunft beleuchtet und tönt so mild in der lyrischen und liebevollen Weise des Anfanges aus, daß ich glaube, die in einem guten Trauerspiele nötige Versöhnung werde sich auch hier bemerklich machen und das Buch durchaus nicht etwa in krasser und schreiender Weise endigen.75 Diese Verteidigungshaltung kommt nicht von ungefähr. Die Romantheorien des 19. Jahrhunderts spiegeln den Anspruch wider, gegen den sich Keller zu behaupten oder mit dem er sich zu arrangieren versucht. Sie partizipieren an dem allgemeinen Bedürfnis nach Versöhnung, Harmonie und Erlösung, welches das 19. Jahrhundert selbst noch in seinen pessimistischen Einstellungen kennzeichnet/ 6 »Alles wurde unternommen, um die als quälend erfahrenen gesellschaftlichen und bewußtseinsgeschichtlichen Konflikte und Dissonanzen im öffentlichen Diskurs zur Versöhnung zu bringen.« 7 7 In bezug auf die R o manschlüsse läßt sich bis in gründerzeitliche Asthetiktheorien hinein der H a r monie- und Versöhnungsgedanke beobachten. Maßgeblichen Einfluß übte dabei Hegels Ästhetik aus, die zwar den scharfen Konflikt zwischen innerer Freiheit und »äußerer Naturnotwendigkeit« bedenkt, aber gerade der Kunst die A u f g a b e einer A u f l ö s u n g dieses Gegensatzes zuschreibt: Hingegen steht zu behaupten, daß die Kunst die Wahrheit in Form der sinnlichen Kunstgestaltung zu enthüllen, jenen versöhnten Gegensatz darzustellen berufen sei und somit ihren Endzweck in sich, in dieser Darstellung und Enthüllung selber habe. Denn andere Zwecke, wie Belehrung, Reinigung, Besserung, Gelderwerb, Streben 75 74 71 76
77
Gesammelte Briefe 3/2, S. 69. An Baumgartner, 27.3.1851, Gesammelte Briefe 1, S. 291. Brief an Vieweg, 28. April 1953, Gesammelte Briefe 3/2, S. 69. Hierzu Näheres in der materialreichen Untersuchung von F. Rhöse, Konflikt und Versöhnung. Diesem Buch verdanke ich wichtige Hinweise. Ebd., S. ι. 75
nach Ruhm und Ehre, gehen das Kunstwerk als solches nichts an und bestimmen nicht den Begriff desselben/8 Vor allem im dritten Teil seiner Ästhetik (»Das System der einzelnen Künste«) fordert Hegel f ü r das poetische und prosaische Werk - in Analogie zur organischen Totalität - Abgeschlossenheit, Einheit, Vermittlung von Allgemeinem und Individuellem, eine gelungene Versöhnung der Gegensätze: »Diese seelenvolle Einheit des Organischen ist es, die allein das eigentlich Poetische, der prosaischen Zweckmäßigkeit gegenüber, hervorzubringen vermag.« 7 9 Die Poesie erfüllt ihre A u f g a b e darin, daß sie in Gegensatz tritt zur »prosaischen« Realität und die konflikthafte Wirklichkeit zu einer »vollendeten R u n d u n g in sich zusammenschließt«. 8 0 F ü r den R o m a n schließt dies sowohl ein offenes E n d e als auch einen Abschluß in der Dissonanz aus. 8 1 In dem K o n f l i k t zwischen Individuum und Gesellschaft favorisiert Hegel neben der »tragischen« L ö s u n g (dem Untergang des Helden) jene andere, in der das Individuum sich in das Ganze zu integrieren vermag - eine Lösung, die mit dem Bildungsromankonzept übereinkommt: Eine der gewöhnlichsten und für den Roman passendsten Kollisionen ist deshalb der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse sowie dem Zufalle äußerer Umstände: ein Zwiespalt, der sich entweder tragisch und komisch löst oder seine Erledigung darin findet, daß einerseits die der gewöhnlichen Weltordnung zunächst widerstrebenden Charaktere das Echte und Substantielle in ihr anerkennen lernen, mit ihren Verhältnissen sich aussöhnen und wirksam in dieselben eintreten, andererseits aber von dem, was sie wirken und vollbringen, die prosaische Gestalt abstreifen und dadurch eine der Schönheit und Kunst verwandte und befreundete Wirklichkeit an die Stelle der vorgefundenen Prosa setzen.81 Besonders der Hegelschüler Rosenkranz w a r es, der eine Harmonie v o n Ich und
Welt
für
den
Romanschluß
postulierte® 3
und
der
damit
die
Asthetiktheorien bis weit über 1848 hinaus beeinflussen sollte. Dieser Einfluß reicht noch bis in die geschichtspessimistischen Philosophien hinein, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Wort melden. Während bis 1848 die optimistischen Zukunftserwartungen überwogen, macht sich nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolutionsbestrebungen und im Z u g e des schwin78
Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 82. ^ Ebd. III, S. 254. 80 Ebd. III, S. 270. 81 Vgl. F. Rhöse, Konflikt und Versöhnung, S. 21. 82 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 393. 83 Vgl. die Stelle aus seiner Einleitung über den Roman·. »Je mehr nun das Subject von der es umgebenden Welt in sich aufnimmt und dadurch seine Einseitigkeit und Sprödigkeit vertilgt, hebt sich der Gegensatz von selbst auf und der Roman endet mit der Befriedigung des Subjectes in dem erlangten Bewußtsein von der Identität seines Selbstbewußtseins mit dem objectiven Sein seiner besonderen Welt.« (K. Rosenkranz, Einleitung über den Roman, S. 15 f.)
76
denden politischen Einflusses des Bürgertums ein Geschichtspessimismus breit, der sich etwa im Fall des Philosophen Eduard von Hartmann aus dem Gedankengut Schopenhauers herleitet. Obwohl Hartmann sich gegen eine christliche Ästhetik wendet, die die Konflikte und das Tragische in der Vorstellung einer letzten göttlichen Gerechtigkeit auflöst, hält er an einer individuellen Erlösung fest, die sich im Konzept einer transzendenten Versöhnung einlöst. In seinen Aphorismen über das Drama aus dem Jahr 1870 bezieht er den Begriff des Tragischen unterschiedslos auf alle Gattungen und beharrt auf der Unverzichtbarkeit einer abschließenden Versöhnung im Kunstwerk: [...] der Conflict ist auch nur das Fundament, die Krönung des Gebäudes jedes ächten Dichtwerks ist die Versöhnung. Wie ein Musikstück zwar ziemlich lange sich in Dissonanzen bewegen kann, aber schließlich dieselben doch in eine Harmonie auflösen muß, so kann auch die Poesie den Conflict nur als Anlauf und Durchgangsstufe brauchen, um seine Dissonanzen in harmonischer Befriedigung ausklingen zu lassen und mit voller Versöhnung zu schließen. Eine Dichtung ohne versöhnenden Schluß ist ein eben solches ästhetisches Unding wie ein Musikstück bloß aus Dissonanzen. 84
Während er einerseits der Tragödie als höchster Kunstform konzediert, das Unversöhnliche zu ihrem Prinzip zu erheben, fordert er von ihr bei allem tragischen Ausgang doch eine »transzendente Versöhnung«, die sich sowohl gegen die Desillusionierung eines weltimmanenten Glücksanspruchs als auch gegen die tröstlichen Angebote der Religionen behauptet: Wenn der Optimist consequenter Weise die Tragödie als Kunstform verwerfen muß, so beweist jeder Mensch, der an der Tragödie Genuß findet, daß er im Grunde seines Herzens an die Wahrheit des Pessimismus glaubt und daß er im Untergange des Helden die transcendente Versöhnung des Conflicts erkennt, der einer irdischen oder immanenten Versöhnung seiner Natur nach unfähig ist.®5
So kann Hartmann für den Untergang des Helden plädieren, für seinen tragischen Tod als Abschluß des Werks, aber eben im Licht eines tragischen Heroismus und einer »transcendenten Versöhnung«. Im Rahmen dieser romantheoretischen Diskussionen wird ersichtlich, auf welche Schwierigkeiten Keller mit dem unglücklichen Ausgang seines Romans stoßen mußte. Neben den schon erwähnten brieflichen Kontroversen wird dieser Konflikt exemplarisch sichtbar an der Auseinandersetzung mit seinem Freund Friedrich Theodor Vischer, dessen Ästhetik in drei Büchern (erschienen zwischen 1846 und 1857, also fast parallel zur Abfassung des Grünen Heinrich) bis zum Jahr 1890 zu den meistzitierten Ästhetiktheorien des Jahrhunderts gehören wird. 86 Auch wenn Vischer im Rahmen einer realistischen 84
E. v. Hartmann, Aphorismen über das Drama, S. 287^ > Ebd., S. 295. 8i Rhöse führt u. a. das Urteil Felix Dahns an, der Vischer Anfang der sechziger Jahre als den »bedeutendsten Ästhetiker der Gegenwart« bezeichnet (Rhöse, Konflikt und Versöhnung, S. 16). 8
77
Romankonzeption offen ist für die »Objektivität« der Verhältnisse und für die Dissonanzen der Wirklichkeit, so fordert er doch - gegen die Theoretiker des beginnenden Naturalismus - abschließend »Harmonie und Verklärung«.87 In seiner insgesamt wohlwollenden Studie zu Gottfried Keller (veröffentlicht im Jahr 1874 in der Allgemeinen Zeitung) widerspricht er aufs heftigste dem »ins Grillenhafte« gehenden Schluß des Romans: »wohl bewegt sich alle Individualität in Widersprüchen, aber es versteht sich, daß sie nicht dargestellt werden dürfen, als wären sie unlösbar«.88 Hinter der Kritik, der Schluß falle »ganz unorganisch« ab, 8 ' wird das Ideal der organischen Totalität sichtbar, das auch Vischer zum Maßstab für die Qualität eines Romans erhebt. Unter dieser Voraussetzung aber darf es keinen Widerspruch geben, der sich nicht im Ganzen auflösen ließe. Wenn sich Heinrichs Tod dem Ganzen einordnet, so nur in dem Sinne, daß er in den ewigen Stoffkreislauf der Natur zurückkehrt - also im Sinn jener naturhaften Einheit, die am Anfang der Jugendgeschichte evoziert wird. Das abschließende Bild vom >recht frischen und grünen Grass das auf seinem Grab wächst (A IV/15, S. 898), erscheint eher als Konzession an die romantheoretischen Forderungen seiner Zeit und kann als Antwort auf das Scheitern des Helden nicht wirklich befriedigen. Auch Keller muß sich bewußt gewesen sein, daß beim Erscheinen des Grünen Heinrich ein zyklisches, am organischen Kreislauf der Natur orientiertes Geschichtsmodell sehr problematisch geworden war.9° Wilhelm Kühlmann hat in einer ausführlichen Untersuchung auf die Problematisierung des Naturbegriffs am Ende des 18. Jahrhunderts und in der Folgezeit hingewiesen:9' Immer weniger ist der Naturbegriff in der Lage, die Glücksansprüche der Individuen einzulösen. Kühlmann zeichnet den naturphilosophischen Paradigmenwechsel nach von einer versöhnlichen, die Harmoniebedürfnisse absichernden Natur zu einem prädarwinistischen Naturkonzept, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr an Raum gewinnt. 92 Unter dieser Rücksicht ist auch Graevenitz' These, Keller vertrete im Grünen Heinrich den »populären Pantheismus des 19. Jahrhunderts«, zu hinterfragen.93 Gerade in der Radikalität des Todes, der entgegen dem Hegelschen Konzept sich nicht wirklich mehr ins Allgemeine eingliedert, sondern in der Vereinzelung befangen bleibt, ist der schärfste Gegensatz zu sehen zu dem mythischen Konzept, das der Roman vor allem in seinem ersten Teil entwirft. Die Irritation der Erstfassung beruht denn auch auf der Aporie, in die der 8
' Ebd., S. 50. F. Th. Vischer, Gottfried Keller. Eine Studie, S. 243. 8 ? Ebd., S. 244. 90 Vgl. den Hinweis bei W. Rohe, Roman aus Diskursen, S. 190. 91 W. Kühlmann, Das Ende der >Verklärung G . v. Graevenitz, Mythologie des Festes, S. 555. 88
78
L e s e r g e f ü h r t w i r d . E i n e r s e i t s g a r a n t i e r t d e r T o d des H e l d e n eine s t r u k t u r e l l e A b g e s c h l o s s e n h e i t des R o m a n s , d i e n o c h g a n z d e n a b e n d l ä n d i s c h e n P a r a d i g m e n des E r z ä h l e n s e n t s p r i c h t 9 4 u n d die, i m S i n n v o n B e n j a m i n s
»Erzähler«,
d e m L e s e r eine a b s c h l i e ß e n d e S i n n k o n s t r u k t i o n in b e z u g auf das L e b e n des H e l d e n e r l a u b t (in d e r a u t o b i o g r a p h i s c h e n V e r s i o n d e r Z w e i t f a s s u n g m u ß das L e b e n als S i n n s y s t e m n o t w e n d i g e r w e i s e o f f e n bleiben). A n d e r e r s e i t s e r w e i s t sich d i e s e r a b s c h l i e ß e n d e S i n n als h o c h g r a d i g d e f i z i t ä r , w e i l er d e n A n s p r u c h auf ein g a n z e s , » a b g e r u n d e t e s « L e b e n g e r a d e n i c h t einlöst. D e r R o m a n m ü n d e t a m E n d e w e d e r in d e n H e r o i s m u s des T r a g i s c h e n n o c h k a n n er m i t d e r b i o g r a p h i s c h e n V o l l e n d u n g des B i l d u n g s r o m a n s a u f w a r t e n . E i n e r
»transzendenten
V e r s ö h n u n g « ( i m S i n n e H a r t m a n n s ) v e r w e i g e r t sich d e r R o m a n e b e n f a l l s , d a s c h o n in d e n p h i l o s o p h i s c h e n , an F e u e r b a c h o r i e n t i e r t e n G e s p r ä c h e n ü b e r die Unsterblichkeit (Schloß-Sequenz) der H o r i z o n t einer konsequenten
Lebens-
i m m a n e n z p r ä f i g u r i e r t w i r d u n d a u c h H e i n r i c h selbst einen W a n d e l seiner E i n s t e l l u n g e n in d i e s e m S i n n e r f a h r e n hat. 9 5 D a s B i l d des S c h ä d e l s ist in seiner scheinzerstörenden, antiklassizistischen B e d e u t u n g dem unglücklichen T o d der E r s t f a s s u n g d u r c h a u s ä q u i v a l e n t . S o hat d a s E n d e sung 9A
auch das der Spätfas-
W i d e r h a k e n , die sich i n t e r p r e t a t o r i s c h n i c h t aus d e m T e x t e n t f e r n e n
Ricoeur erkennt nicht nur im Mythos die Bemühung um Einheit und Vollständigkeit, die »Nachahmung einer einheitlichen und vollständigen Handlung«, er stellt auch in der abendländischen Erzähltradition - bis ins 19. Jahrhundert hinein - das Vorherrschen von Konfigurationprinzipien fest, die sich an Ordnung und Konsonanz, an sinngebenden Erzählschlüssen orientieren. Die Fiktionen entsprechen offensichtlich dem Bedürfnis, »dem Chaos das Siegel der Ordnung, dem Unsinn das des Sinnes, der Dissonanz das der Konsonanz aufzuprägen« (Zeit und Erzählung, Bd. 2, S. 47). Die wachsende Unmöglichkeit, die Erzählung zu einem Abschluß zu bringen, bezeuge die Entkräftung dieses Paradigmas. Für Kermode (The Sense of an Ending, 1966) haben diese Paradigmen des Abschließens den Zweck, gerade im Angesicht des Todes Trost zu spenden und das Ende mit Sinn und Bedeutung aufzuladen.
" Vgl. die Ausführungen des Grafen über das »Naturkind« Dortchen: »Wer sagt, daß es keine Poesie gebe ohne den Glauben an die Unsterblichkeit, der hätte sie sehen müssen; denn nicht nur das Leben und die Welt um sie herum, sondern sie selbst wurde durch und durch poetisch. Das Licht der Sonne schien ihr tausendmal schöner als anderen Menschen, was da lebt und webt war und ist ihr teuer und lieb, das Leben wurde ihr heilig und der Tod wurde ihr heilig, welchen sie sehr ernsthaft nimmt. Sie gewöhnte sich, zu jeder Stunde ohne Schrecken an den Tod zu denken, mitten in dem heitersten Sonnenschein des Glückes, und daß wir alle einst ohne Spaß und für immer davon scheiden müssen. Dieser wirkliche Tod lehrt sie das Leben werthalten und gut verwenden und dies wiederum den Tod nicht fürchten, während das ganze vorübergehende Dasein unserer Person, unser aufblitzendes und verschwindendes Tanzen im Weltlichte diesem ganzen Wesen einen leichten, zarten, halb fröhlichen, halb elegischen Anhauch gibt [...]« (A I V / 1 2 , S. 844^). Der Schloßaufenthalt bringt auch Heinrichs Einstellung in Bewegung: »er fühlte ohne Freude und ohne Schmerz, ohne Spott und ohne Schwere die anerzogenen Gedanken von Gott und Unsterblichkeit sich in ihm lösen und beweglich werden« (ebd.). In der Zweitfassung steht die fast identische Stelle in I V / 1 1 , S. 379.
79
lassen. Die Radikalität des Todes und die Anstößigkeit des Schädelbildes, die sich in keiner mythischen Geschichtskonstruktion mehr aufheben lassen, können weder durch ein naturales noch durch ein teleologisches Geschichtsmodell abgemildert werden. Das glückliche politische Ende (die vollendete Umwandlung der Schweiz in einen Bundesstaat) und das persönliche Ende des Helden werden ineinandergeblendet, ohne zur Deckung zu kommen. So endet der Roman in letzter Konsequenz in einer Vielzahl konkurrierender Stimmen, die einen inneren Widerspruch darstellen zu seiner formalen Abgeschlossenheit. Gerade auf dieser inneren, auch am Ende nicht wirklich aufgelösten Spannung beruht das Anstößige, aber auch die Modernität dieses »polyphonen« Romans. Die Kunst Kellers bestand darin, das Abgeschlossene und Unabgeschlossene, das Alte und die Einbrüche einer »modernen« Zeit im Roman engzuführen, ohne sie zu einer Synthese zu bringen. Im Widerspruch zur Konzeption Hegels und zu den romantheoretischen Forderungen seiner Zeit läßt Keller das Inviduelle nicht im Allgemeinen, das Unversöhnte nicht in der Versöhnung des Schlusses aufgehen, sondern stellt den Tod des Helden in seiner Widersprüchlichkeit zum Ganzen dar. Eine Versöhnung von Tod und Leben, Individuellem und Allgemeinem wird in diesem Roman, der in seinem Verlauf die Entkräftung mythischer Sinnkonstruktionen vorgeführt hat, nicht mehr geleistet. Dem Leser wird durch den Tod am Ende zwar in formaler Hinsicht eine abschließende Sinnbildung gewährleistet, doch zugleich wird er, die widerstreitenden Stimmen des Romans im Ohr, in Widersprüchen entlassen. Wenn es eine Versöhnung gibt, dann hat der Leser sie, jenseits des Romanendes, selbst zu leisten. Wenige Texte haben mitten in einer fortschrittsorientierten Zeit die Stimme des Fortschritts und die Stimme des Todes in einer komplexen poetischen Konstruktion mit solcher Insistenz zusammengeführt, ohne die eine der anderen zu opfern. Durch die Macht der Erinnerung wird die Einlinigkeit eines zukunftsorientierten Geschichtsmodells aufgebrochen und die »Irreversibilität« eines teleologischen Modells subvertiert. Die Einbeziehung des Todes in die epische Konstruktion erscheint nicht nur als Gegenmittel gegen die Verdrängung, sondern auch als Restituierung eines verlorenen Zusammenhangs: eines Zusammenhangs, der weder transzendent noch mythisch, sondern episch begründet ist. Durch den Tod nämlich erhält der Roman jene Radikalität, die es ihm erlaubt, im selben Maß »seinen Anspruch auf ein ganzes Leben zu formulieren«. 96
96
80
W. Rohe, Roman aus Diskursen, S. 187.
IV. Allegorien der Zeitlichkeit: Wilhelm Raabes Unruhige Gäste Der Tod ist am Ende nichts anderes als die gesellschaftliche Abgrenzungslinie, welche die Toten von den Lebenden trennt. J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod
ι. Die Rehabilitierung der Allegorie Wenn Keller in seinem R o m a n die Entkräftung mythischer Sinnkonstruktionen vorführt, so tut er dies nicht, ohne jenen anderen Aspekt in seine literarische Welt miteinzubeziehen: die Fähigkeit des Mythischen, sich am Gegensatz von Tod und Leben abzuarbeiten und ihn auflösend zu umkreisen. Das C h a rakteristische an Kellers R o m a n ist nicht zuletzt, wie ich zu zeigen versucht habe, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: In ihm wird die Spannung aufrechterhalten zwischen mythischen Sinnkonstruktionen, dem Zusammenbruch mythischer Symbolwelten und einer barock anmutenden Allegorisierung des Todes, in welcher die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens sich vor einer A u f h e b u n g ins E w i g e behauptet. Die Abgeschlossenheit der F o r m , die hier ein individuelles Leben bis zu seinem Ende umfaßt, steht jedoch in unaufhebbarer Spannung zu dessen Unabgeschlossenheit - die F o r m enthält sozusagen einen utopischen Sinnüberschuß: Das Ästhetische zieht die prosaische Realität des Lebens in den Horizont seiner Utopie. Wenn sich bei Keller eine neue Erfahrung v o n »Zeitlichkeit«, ein neues Endlichkeitsbewußtsein literarisch verdichtet haben, so steht dies auch in Z u sammenhang mit jener »Rehabilitierung der Allegorie« (Gadamer), die f ü r die Erzählprosa des 19. Jahrhunderts bestimmend geworden ist. 1 Die Tendenz zur Allegorisierung ist nicht zuletzt eine Reaktion auf Säkularisierungsprozesse, auf die »Entzauberung der Welt«, wie sie f ü r das 19. Jahrhundert von Max Weber beschrieben wurden. Insofern läßt sich die allegorisierende Darstellungsweise auch als Ausdruck der Bemühung begreifen, die Veränderungs- und Bewußtseinsprozesse im 19. Jahrhundert literarisch zu verarbeiten. Die Unterscheidung von Symbol und Allegorie wird, wie Gadamer dargelegt hat, zu einer Signatur des »modernen« Zeitalters. Sie ist das Resultat einer philosophischen Entwicklung, die sich erst in den letzten zwei Jahrhunderten 1
Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 76; G. Reiss, »Allegorisierung« und moderne Erzählkunst; H. Schlaffer, Faust Zweiter Teil, S. i z j f f . 81
vollzogen hat.2 Noch Winckelmann gebraucht die beiden Begriffe synonym, während schon Klopstock, Lessing oder Karl Philipp Moritz den AllegorieBegriff Winckelmanns kritisch verwerfen und auf eine Unterscheidung der beiden Begriffe drängen. Die »Neuausprägung des Symbolbegriffs«, so Gadamer, entwickelte sich erst im Gedankenaustausch zwischen Schiller und Goethe. 3 In einem Brief, den Goethe am 17. August 1797 an Schiller schreibt, formuliert er zum erstenmal seinen Symbolbegriff, der sich nun vom Begriff der Allegorie abhebt und in der Folgezeit immer mehr ins Zentrum seines Kunstverständnisses rücken wird. Goethe denkt in diesem Brief über die »Gegenstände« nach, die ihn in sentimentalische Stimmung versetzen - in eine Gefühlslage, die der »poetischen Stimmung« vergleichbar ist: Ich habe daher die Gegenstände, die einen solchen Effekt hervorbringen, genau betrachtet und zu meiner Verwunderung bemerkt daß sie eigentlich symbolisch sind. Das heißt, wie ich kaum zu sagen brauche, es sind eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit als Repräsentanten von vielen andern dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, Ahnliches und Fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen.4
Die klassische Definition wird sich in Goethes Maximen und. Reflexionen (Nr. 749Í.) finden. Im Symbol ist die Idee (bzw. das Göttliche) unmittelbar anwesend, ohne mit dem Besonderen einfach identisch zu sein: Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe. Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei.5
Das Entscheidende dieser Definition liegt darin, daß im Symbol Bedeutung und Erscheinung verschmelzen, die Bedeutung in der Erscheinung selbst anwesend ist.6 Daß dieser Symbolbegriff kein spezifisch ästhetischer ist, sondern in Goethes Wirklichkeitsdeutung gründet, läßt schon der Brief an Schiller vermuten. Es spricht im übrigen vieles dafür, daß der Begriff bei Goethe in der 1
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 77. J Ebd., S. 81 f. 4 Goethes Briefe, Bd. 2, S. 297. ' H A 12, S. 47of. 6 In Philostrats Gemälde bringt Goethe dieses eigenartige Schwanken zwischen Identität und Nichtidentität sprachlich zum Ausdruck: Das Symbol sei »die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache; ein im geistigen Spiegel zusammengezogenes Bild, und doch mit dem Gegenstand identisch. Wie weit steht nicht dagegen Allegorie zurück; sie ist vielleicht geistreich witzig, aber doch meist rhetorisch und conventionell und immer besser, je mehr sie sich dem nähert, was wir Symbol nennen.« (Weimarer Ausgabe, I, 49, 1, S. 142). 82
protestantischen Hermeneutik und Sakramentenlehre seine Wurzeln hat.7 Der in diesem Begriff implizierte Zusammenfall von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Erscheinung und Ideal setzt, wie Gadamer betont hat, einen metaphysischen Horizont voraus, »der dem rhetorischen Gebrauch der Allegorie ganz abgeht«: »Es ist möglich, vom Sinnlichen aus zum Göttlichen hinaufgeführt zu werden. Denn das Sinnliche ist nicht bloße Nichtigkeit und Finsternis, sondern Ausfluß und Abglanz des Wahren. Der moderne Symbolbegriff ist ohne diese seine gnostische Funktion und ihren metaphysischen Hintergrund gar nicht zu verstehen.«8 Wenn also die symbolische Kunst sich durch sich selbst bestimmt und in ihr die sinnliche Darstellung bereits ihre ideale Bedeutung in sich trägt, so setzt eine solche Einheit immer schon einen inneren Zusammenhang von Endlichem und Unendlichem, Sinnlichem und Übersinnlichem voraus und somit einen metaphysischen Horizont, vor dem solche Einheit sich konstituieren kann. Der im Kunstwerk gestiftete Symbolzusammenhang ist somit abhängig von der Einheitlichkeit einer geistigen Welt, die eine wesentliche Voraussetzung für die innere Einheit des Symbols und für den Zusammenfall von Zeitlichem und Uberzeitlichem darstellt. Auf die Einheitlichkeit eines geistigen Horizonts als Möglichkeitsbedingung des klassischen Symbols hat Gunter Reiss in seiner Untersuchung »Allegorisierung« und moderne Erzählkunst hingewiesen: die Symbolstiftung als dichterischer Akt, die Konstitution eines symbolischen Verweisungszusammenhangs, steht in enger Wechselbeziehung zur Gemeinschaft, für die die symbolische Repräsentation gültig sein will. Erst die akzeptierende Ubereinkunft mit einer Gemeinschaft oder Gesellschaft ergibt den einheitlichen Horizont, in dem das Symbol verstanden wird. 9
Die Verabsolutierung des Goetheschen Symbolbegriffs, die in der Folgezeit zumindest in der poetologischen Theoriebildung immer wieder durchschlägt, läßt sich in diesem Zusammenhang auch als Abwehr der gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse begreifen, von denen gerade das 19. Jahrhundert bestimmt ist. Die Ausdifferenzierung und Abtrennung gesellschaftlicher Wertsphären ist ja nach Max Webers Analyse grundlegend für die Herausbildung okzidentaler Modernität. Im Rückzug der Interpreten auf die symbolischen Textlandschaften der Klassik drückt sich eine Erstarrung aus, die dieser klassizistischen Literatur selbst nicht gerecht wird. Daß nämlich Goethes Symbolbegriff auf unzulässige Weise verallgemeinert und verabsolutiert wurde, verdeutlicht Heinz Schlaffers Faust-Studie, in welcher der Autor gerade die Allegorie in Goethes Faust II »als die bildliche Form der Abstraktionen« enthüllt, »von
7 8 9
Vgl. H . - G . Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 81, Anm. 146. Ebd., S. 79. G . Reiss, »Allegorisierung« und moderne Erzählkunst, S. 19.
83
denen Goethe das Jahrhundert bestimmt sah«. 10 Bis ins 20. Jahrhundert hinein hält sich jedoch die Auffassung, alle wirkliche Dichtung sei symbolisch: so, wenn Emil Ermatinger im Jahr 1921 in seinem Buch Das dichterische Kunstwerk schreibt: »Alle Dichtung ist ihrem Wesen nach symbolisch«, 11 oder wenn man noch in den sechziger Jahren bei Elisabeth Frenzel nachlesen kann: »Symbolisieren ist ein Grundzug des Dichterischen überhaupt.« 12 Von solch einer ontologischen Überhöhung des künstlerischen Ausdrucks unterscheidet sich die Allegorie: Hier bildet nicht das Bezeichnete mit dem Bezeichnenden eine Einheit, vielmehr tritt in ihr an die Stelle des eigentlich Gemeinten »ein Anderes, Handgreiflicheres«, 13 wobei dieser Zusammenhang nicht mehr ontologisch begründet ist. Wird somit in der allegorischen Darstellung das Interesse auf etwas Abstraktes, Begriffliches, also Außerästhetisches gelenkt (für das das Anschauliche steht), so ist damit auch die ästhetische Einheit und Ganzheit des Kunstwerks zerbrochen. Nun war freilich die barocke Allegorie und Emblematik noch in transzendente Verweisungszusammenhänge eingebettet, denen die »moderne« Allegorie sich entzogen hat. Vom religiösen Horizont, der einen Umschlag vom Zeitlichen ins Ewige erlaubt, und von der dogmatischen Bindung der Barockdichtung hat sich die allegorische Darstellungsweise der Moderne weitgehend gelöst. Die oft willkürliche, nicht mehr in sich selbst begründete Beziehung von Sinn und Erscheinung scheint dem komplexer und abstrakter gewordenen Weltzustand der Moderne eher zu entsprechen als die auf einen einheitlichen metaphysischen Horizont bezogene Symbolik klassizistischer Literatur. Gunter Reiss hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Tendenzen zur Allegorisierung festgestellt, die er an Fontane, Hauptmann und, jenseits der Jahrhundertschwelle, an Ernst Barlach exemplifizierte; 14 Karl Pestalozzi hat den »allegorisierenden Charakter« der Lyrik C. F. Meyers analysiert und festgestellt, daß gerade das Schwinden traditioneller Weltdeutung das Bedürfnis nach Sinngebung wecke und das Bestreben hervorrufe, Vorstellungen mit neuen Bedeutungen zu verbinden; 1 ' Heinrich Detering sah in Raabes Roman Unruhige Gäste eine »in das Gewand eines realistischen Gesellschaftsromans gekleidete Allegorie«, 16 und Graevenitz hat in einem Aufsatz über den Stopfkuchen die 10
H. Schlaffer, Faust Zweiter Teil, S. V. Graevenitz wendet gegen Schlaffers These ein, die Festlegung der Allegorie auf ihre »Abstraktheit« vernachlässige das Strukturprinzip der Allegorie, das im Gegenüber von Abstraktheit und. Phänomen bestehe. (Graevenitz, Der Dicke im schlafenden Krieg, S. 19, Anm. 42)
11
E. Ermatinger, Das dichterische Kunstwerk, S. 286. E. Frenzel, Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, S. 35. Die beiden Zitate entnehme ich dem Buch von G . Reiss, »Allegorisierung« und moderne Erzählkunst, S. 12.
11
"3 H . - G . Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 78. 14 G . Reiss, Allegorisierung und moderne Erzählkunst, S. 30. 15 K. Pestalozzi, Tod und Allegorie, S. 3 1 7 . 16 H . Detering, Theodizee und Erzählverfahren, S. 125. 84
»moderne Allegorie« bei Raabe als eine »Grundstruktur seines Erzählens« nachzuweisen versucht.' 7
2. Bilder der Unruhe - »wie deutlich einem die Uhr dort im Turm die Zeit zuzählt« Gerade das Spätwerk Raabes ist die deutlichste Widerlegung des lange Zeit dominierenden Vorurteils, Raabe sei ein religiöser Dichter, der in naiver Weise realistisch erzähle und zur weltanschaulichen Erbauung der Leser beitrage. Seit etwa den siebziger Jahren hat dieses traditionelle Raabe-Bild entscheidende Korrekturen erfahren, indem einerseits auf den sozialkritischen Gehalt seiner Texte abgehoben und andererseits die »eigentümliche Modernität« seiner Erzählweise, besonders der späten Texte, betont wurde.' 8 Ebenfalls seit den siebziger Jahren traten an die Stelle bekenntnishafter, religiös vereinnahmender Interpretationen zurückhaltendere Deutungsversuche, die in Raabes Werk etwa einen »metaphysischen Agnostizismus« zu erkennen glaubten.'9 Insbesondere Wolfgang Preisendanz war es, der eine Art Doppelbödigkeit in Raabes Erzählweise feststellte: das Auseinandertreten von Gesagtem und Gemeintem, das Bemühen, das Erzählte »mit etwas ganz anderem« zu vermitteln20 - die horizontale Aufeinanderfolge der Ereignisse wird sozusagen überlagert von einer zweiten Bedeutungsschicht, die in ein Spannungsverhältnis zum Erzählten tritt. Ahnliches dürfte Barker Fairley gemeint haben, wenn er feststellte: »We still expect a novel to be more horizontal than vertical, we expect a sequence, and Raabe's mind was on something else.« 2 ' Daß dieses Auseinandertreten von Erscheinung und Bedeutung sowohl mit Brechungstechniken der Ironie als auch mit allegorischen Verfahrensweisen zu tun hat, wird aus einem Brief ersichtlich, den Raabe am 17. November 1890 an E. Sträter richtete (der Brief nimmt Bezug auf den Stopfkuchen): Als ich den Strich unter das Ding zog, war ich in der That selbst ein wenig zufrieden mit meiner ironischen Symbolik oder Allegorie, dachte aber: J a wohl, sauber hast Du Dich mal wieder vor dem verehrungswürdigen deutschen Publico hinein gesetzt! Das wird Dir liebe Augen machen! 22
Die Briefstelle macht nicht nur auf ironische Weise deutlich, wie unbequem der erwähnte Stopfkuchen den deutschen Lesern werden könnte, sondern di17
G . v. Graevenitz, Der Dicke im schlafenden Krieg, S. 2. Vgl. die Einleitung in H. Detering, Theodizee und Erzählverfahren, S. 16. 19 K . J . Ringel, Raabes metaphysischer Agnostizismus (1970). 2 ° W. Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft, S. 261. 21 B. Fairley, Wilhelm Raabe, S. 198. 22 Briefe, S. 287. 18
85
stanziert sich auch durch die Beifügung des Adjektivs »ironisch« von den gängigen Symboltheorien, die auf der Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Symbols beharren. Der ironische Gestus, in dem das Gesagte und Gemeinte auseinandertreten, bzw. in einem Umkehrungsverhältnis stehen, ist hier dem Allegorischen angenähert (bei dem sich der enge Zusammenhang von Gesagtem und Bedeutetem ebenfalls gelockert hat). Raabes Roman Unruhige Gästezi - es ist der einzige Text, den der Autor als Roman bezeichnete - umkreist das Thema der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit und läßt dieses Thema zugleich auf vielfältige Weise in die Erzählstrukturen eindringen. Schon der von Raabe hinzugefügte Untertitel »Roman aus dem Säkulum« präludiert dieses Thema. Die Untertitel-Varianten, die der Autor der Handschrift einfügte, präzisieren das Bedeutungsfeld des lateinischen Begriffs Säkulum: »Zeitlichkeit«, »Gesellschaft«, »Tagesleben« waren die deutschen Synonyma, die Raabe auf Wunsch des Verlegers als Varianten vorschlug.24 In Raabes Roman wird die Topographie zweier Welten entworfen: die Welt des Tales, eines quirligen Bade-Kurortes, wo an der »Tafel des Lebens« gespeist wird (S. 261), und die Welt des Berg-Dorfes, das zunächst als »Frieden dieses Kirchen- und Fliederschattens« (S. 188) eingeführt wird. Der Badeort steht ganz im Zeichen gesellschaftlicher Vergnügungen, »lichterglänzender« Tanzsäle (S. 257), ostentativer Gesundheit. Besonders in der zweiten Hälfte des Romans, die überwiegend dem Tal »da unten« gewidmet ist, wird der Kurort des Tales ausführlich beschrieben: Die Saison stand in ihrer üppigsten Blüte. Dieser beliebte Badeort für Gesunde hatte selten eine so gute Gesellschaft wie diesmal um seine unschädlichen Quellen versammelt gesehen [...] Musik am Morgen, Mittag und am Abend - das Wetter außergewöhnlich gut, und somit, wenigstens dem äußern Anschein nach, alle Welt höchlichst einverstanden mit ihrem Vorhanden- und Beisammensein, in diesen heiteren, andauernd gute Witterung versprechenden Tagen (S. 2.5 zf.)
Im Kontrast hierzu steht die Welt des Bergdorfes, das so hoch gelegen ist, daß Obstbäume »kaum noch« gedeihen können (S. 198). Im Winter ist es monatelang abgeschnitten von der übrigen Welt und wird von eisigen Schneestürmen heimgesucht. Dieses Dorf steht ganz im Zeichen des Pfarrhauses, des Pfarrers Prudens Hahnemeyer und seiner Schwester Phöbe - deren Name an die gleichnamige Gemeindedienerin der frühen Christengemeinschaft erinnert.25 13
24
15
86
Die Seitenzahlen des Romans, die fortlaufend im Text angegeben werden, beziehen sich auf die Braunschweiger Ausgabe der Sämtlichen Werke, Bd. 16, hg. von Karl Hoppe, Göttingen 1970. »Ein Roman aus der Gesellschaft« lautete der Untertitel bei der Erstveröffentlichung in der Gartenlaube — schon in der Buchausgabe wurde dieser Untertitel jedoch wieder rückgängig gemacht. Vgl. G. Höhler, Unruhige Gäste, S. 189. Vgl. Rom 1 6 , 1 - 2 . Diese Stelle wird im Brief Dorette Kristellers erwähnt (S. 320).
Hat schon die Beschreibung dieser beiden Orte sinnbildliche Qualität, so scheinen auch die Hauptpersonen des Romans Verkörperungen dieser zwei Welten zu sein, Personenallegorien für das Weltliche und Religiöse, das Zeitliche und Ewige. 26 Veit von Bielow, Professor der Staatswissenschaften, ist der »Mann aus dem Säkulum, der Zeitlichkeit« (S. 194), dem immer wieder allegorische Bedeutungen zugeschrieben werden: er ist der »Mann aus der Gesellschaft« (S. 225), »aus der Welt da draußen« (S. 190), der die Lust verspürt, einen Lastesel vom Zeltpflock seines gegenwärtigen Aufenthaltsortes »dort unten« loszulösen und sein Gepäck für einige Zeit nach oben ins Pfarrhaus zu seinem Studienfreund Prudens zu bringen. In den Augen des Badearztes Dr. Hanff ist Veit »ein Gottloser, ein Mann ohne allen Respekt vor Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist« (S. 293). Im Unterschied dazu scheint Phöbe noch beheimatet zu sein in einem religiösen Weltverständnis, in einem christlichen Vorsehungsglauben, der hinter der Kontingenz der Lebensabläufe eine höhere Ordnung, einen sinnvollen Zusammenhang erkennt. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ordnet Phöbe ihre Erfahrungen und Reaktionen in das Raster ihrer biblischen Zitate ein. Selbst die Naturphänomene erscheinen ihr als »Zeichen des Herrn« (S. 218). Doch verläuft weder die topographische Scheidelinie zwischen diesen beiden Welten so strikt, wie es den Anschein hat, noch verkörpern die beiden Hauptfiguren wirklich konsequent antagonistische Perspektiven. Das Motiv der »Unruhe«, das schon durch den Titel eine hervorrangige Bedeutung erhält, zieht sich als Gegenbegriff zu zeit-losem Stillstand durch beide Welten, die Unruhe ergreift den Pfarrer Prudens (»Er ärgerte sich ob dieser körperlichen Unruhe, die er vergebens niederzukämpfen suchte, gegen die er sich völlig machtlos fühlte«, S. 328), Phöbe (die wiederholt von ihrer »Unruhe« spricht, z.B. S. 295, S. 324), Veit von Bielow und natürlich die unruhigen Gäste im Tal: »denn die Tage waren hingegangen, und nichts ist so mächtig als die hinfließende Zeit« (S. 263). Man muß nicht gleich mit Georg Lötzsch die Meinung vertreten, der Roman Unruhige Gäste sei »von der griechisch-philosophischen Idee des >Alles fließt, alles ist im Fluß< durchzittert«.27 Doch wird gleich bei der ersten Begegnung zwischen Veit und Phöbe deutlich, daß auch das von der Talgesellschaft so weit entfernte Bergdorf sich dem Takt der Zeit nicht entziehen kann: »wie 26
27
Da die Allegorie selbst als eine Art narrativer Sequenz verstanden werden kann, als eine Erzählung mit deutlicher Handlungsstruktur, scheint sie zum Ausdruck der Idee der »Zeitlichkeit« besonders geeignet zu sein: Zeit nämlich ist selbst ein »konstitutives Element der Allegorie« (G. Kurz, Zu einer Hermeneutik der literarischen Allegorie, S.13). G . Lötzsch, W. Raabe: Unruhige Gäste, ein Roman aus dem Säkulum, in: Mitteilungen für die Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes 4 (1914), S. 43.
87
deutlich einem die Uhr dort im Turm die Zeit zuzählt«, sagt Phöbe zu dem Studienkollegen ihres Bruders, und der Erzähler fährt fort: »Man vernahm wirklich von der Laube aus in der tiefen Spätnachmittagsstille deutlich das Geräusch der Unruhe im Kirchturm jenseits der alten Gräber« (S. 187). Gegen Ende des Romans wird auf diese »Unruhe im Turme« nochmals angespielt (S. 3 1 1 ) - und jetzt verläßt der Erzähler die narrative Ebene und bezieht den Leser mit ein, wenn er kommentierend hinzufügt: »wir aber, wir in der Zeitlichkeit, wir ändern es leider nicht, daß wir zu viel angewiesen sind auf das, was die Menschen sagen.« (S. 3 1 1 ) Was die Menschen sagen, erfährt man vor allem unten im Tal: die Badegäste sind, wie Valerie (Bielows Freundin), »laut, lärmend, geschwätzig« (S. 288). Valerie, Verkörperung mondäner »Weltlichkeit«, liefert selbst das Interpretament für die Bade-Gesellschaft: mit Shakespeares Komödie Viel Lärmen um nichts. Ordnet Phöbe die Welt in das Raster ihrer Bibel-Zitate ein, so allegorisiert Valerie die Badegesellschaft mit Hilfe von Shakespeares Komödien-Personal: »Papa hat uns diesmal mit einer Geleitschaft von Vettern, Cousinen und braven Freunden umgeben, die in Hinsicht auf >Viel Lärm um nichts< nichts zu wünschen übrigläßt.« (S. 253) Wenn sie mitten hinein in die ShakespeareAllusionen mit einem Bibelzitat aufwartet (aus dem Buch Hiob, S. 278), so wird auch in dieser Hinsicht die Vermischung der beiden Welten sichtbar. Valerie selbst wird im Blick des Erzählers zur allegorischen Figur: zur »Zeitlichkeit als Weib« (S. 270), die auf dem Theater der Welt jene Doppelbödigkeit repräsentiert, die im barocken Kontext der Frau Welt zukommt: Schönheit nach außen, Leere nach innen. Nicht der Erzähler selbst, der sich mit Urteilen insgesamt zurückhält, sondern eine scheinbar nebensächliche Figur, der Eselstreiber, liefert eine scharfsinnige Analyse von Valeries schillerndem, zwischen Wahrheit und Lüge schwankendem Verhalten: Nachdem Valerie sich von ihm ins Bergdorf hat führen lassen - dorthin, »wo die Welt mit Brettern vernagelt war« (S. 278) - , denkt er über die Zwiespältigkeit dieses »kuriosen Frauenzimmers« nach: Verrückt sind sie meistens alle [...], aber dies war doch die Tollste, die jemalen dem Murjahn und mir aufgesessen ist. Lacht sie oder weint sie, ist sie lustig oder wütend und giftig, will sie einen Taler herausholen oder euch mit der Gerte zwischen die Ohren oder um den Buckel hauen, das kriege einer raus. Hört sie auf das hin, was du ihr über Ortsangelegenheiten berichtest, oder tut sie ihre dummen Fragen nur, um dich zum besten zu haben, - der Teufel werde klug daraus. Ja, so sind sie, diese Vornehmen! Unklug sind sie alle, und bringen die einen es hier schon mit her, so werden die andern es hier von unserer gesunden L u f t und berühmtem Wasser (S. 277)
Diese »Frau Welt«, die in ihrer mondänen Oberflächlichkeit eine spezifische Variante der Weltlichkeit darstellt, versucht zwar in die stille Welt des Bergdorfes einzudringen; doch sie wird dazu vor allem durch die Eifersucht auf ihren Freund und die Langeweile des Badeortes getrieben, denn »entsetzlich 88
heiß und staubig und langweilig ist's da unten« (S. 270). Zu einer inneren Verbindung der gegensätzlichen Sphären gelangt sie auf dem Weg ins Bergdorf nicht: Die Durchbrechung der Grenzen, die sich in Veit von Bielows Leben vorübergehend ereignen wird, bleibt ihr auch dann noch verschlossen, wenn sie sich mitten im Herzen dieser fremden Welt befindet. Wenn sie von ihrer Begegnung mit den Ausgestoßenen des Dorfes, dem »Räkel« und der »Feh« berichtet, geschieht dies in Form literarischer Versatzstücke, die das Erlebnis entrealisieren: »da saß ich nun im Herzen der Romantik und tauchte des Räkels schwarzes Brot in seinen Topf [...]« (S. 271). Die Verarbeitung des Motivs der Zeitlichkeit, des unaufhaltsamen Verfließens der Stunden, das alle Personen dieses »Romans aus dem Säkulum« bedroht, hat sich auch in die narrative Struktur des Textes eingeschrieben, ja, sogar in seine Grammatik. An den Stellen, wo diese Grammatik Auffälligkeiten aufweist, sind Zentren seiner poetischen Strategie angesiedelt. Der Erzähler verwendet fast durchgehend das Präteritum, das die Sukzessivität der Ereignisse sprachlich vermittelt: »denn nichts ist so mächtig als die hinfließende Zeit« (S. 263), bemerkt der Erzähler im 14. Kapitel, also etwa in der Mitte des Romans. Als eigentliches Erzähltempus steht das Präteritum für das Nacheinander der Ereignisse, und es wird bezeichnenderweise da aufgegeben, wo der Erzähler auf geschickte Weise die Gleichzeitigkeit der Geschehnisse ineinanderblendet: so wenn sich Phöbes und Spörenwagens Heimwege kreuzen, ohne daß die beiden einander sehen: »In der Dorfgasse sind sie auch einander begegnet oder vielmehr aneinander vorbeigekommen, Phöbe und der Meister Tischler. Sie haben aber einander bei der Dunkelheit und dem Sturm nicht erkannt und also auch nicht ein Wort miteinander wechseln können« (S. 326; Hervorh. J. P.). An drei Stellen des Romans ist ein solcher Tempuswechsel besonders auffällig; diese Stellen sollen im folgenden näher untersucht werden.
3. Wahnsinn, Typhus, Tod - Systeme der Ausgrenzung und ihre Subversion Am Ende des Romans wechselt die Erzählzeit zunächst ins Perfekt und dann ins Präsens; dieser Wechsel schließt sich unmittelbar an die Lektüre des langen Briefes, den Veit von Bielow aus Sizilien zusammen mit der Grablampe der Phoebe Domitilla den Freunden ins Pfarrhaus geschickt hat: Phöbe hat den Brief Veit von Bielows und die Grablampe der Phoebe Domitilla in ihr Stübchen getragen. Sie hat aus dem Schreiben ihres unruhigen Sommergastes begriffen, daß eine Antwort darauf nicht möglich sein wird. Es ist weit nach Mitternacht [...] Phöbe schreitet nicht unruhvoll, wie ihr Bruder, auf und ab in der wilden Nacht. Sie sitzt still in dem engen Lichtkreis, nicht der römischen Grablampe, sondern ihrer Arbeitslampe. Und trotzdem, daß man es ihren Augen ansieht, daß sie geweint hat, 89
weil Valerie von Bielow immer noch nicht ihr verzeihen kann, ist sie im Frieden und fürchtet sich nicht vor dem Lärmen des Windes (S. )τ>6ί.; Hervorh. J. P.) D a ß hier die Erzählung aus der U n r u h e der vergehenden Zeit und der beunruhigenden Ereignisse in eine R u h e mündet, die v o n Phöbe ausgeht, w i r d sowohl durch den Tempuswechsel als auch durch den Erzählinhalt nahegelegt (»Sie ist die einzige [...] Ruhige unter alle den Aufgeregten«, S. 337). Dieser sukzessive Wechsel der Erzählzeit bringt eine Verlangsamung der »Unruhe« in den Text und schließlich den Stillstand der Zeit. Heinrich Detering hat in seiner insgesamt sehr überzeugenden Arbeit die Meinung vertreten, dieser Tempuswechsel sei »ein grammatisches Signal f ü r den eschatologischen H o r i z o n t des Erzählten«, er stehe f ü r »die A u f h e b u n g und das E n d e der Zeit«. D e r R o m a n verweise so auf das Nicht-Erzählbare, auf eine jenseitige H o f f n u n g , die sich in Phöbes Perspektive eines »zeitenthobenen Ewigkeits-Glaubens« verkörpere. Die Multiperspektivität des R o m a n s münde am E n d e in den »Sieg der einen Perspektive«, der Perspektive Phöbes. 2 8 Dieser A u f f a s s u n g , so wichtig sie auch als Diskussionsbeitrag zu nehmen ist, ist doch mit Vorbehalten zu begegnen. Einmal wird hier die Perspektive einer Figur zur »siegreichen« Perspektive erhoben, was bei der konstatierten »Multiperspektivität« des Romans nicht unproblematisch erscheint. Z u d e m ist nicht zu übersehen, daß der Inhalt des Briefes den endgültigen Verzicht Phöbes auf ihre Zuneigung zu Veit und ihren R ü c k z u g in ein klösterliches Dasein bedeutet, und daß ferner zwischen den Zeilen die Aggression der Rivalin nochmals auflebt. Skeptisch muß schon der E i n w a n d v o n Raabes Verleger K r ö n e r stimmen, das Werk ermangele »eines Abschlusses« - deswegen bittet Kröner den A u t o r mit Nachdruck u m einen anderen Schluß. 2 9 D e r A u t o r aber verweigert sich dieser Bitte. Kröner beharrt auf seiner Bitte und stellt die Frage, »ob sich nicht mit einem einzigen Sätzchen die Dissonanz am Schluß des Romans lösen ließe« - und liefert dazu gleich eine Reihe möglicher Varianten. 3 0 Raabe bleibt hartnäckig. Wenig später erneuert der Verleger seine Bitte um »eine beruhigende Perspektive«. 3 ' D o c h der R o m a n wird mit dem v o n Raabe vorgesehenen Schluß in D r u c k gegeben. 3 2 U b e r die zwiespältige A u f n a h m e bei den Lesern wird K r ö n e r später berichten: »Die Gebildeten unter unseren Lesern zollen dem R o m a n uneingeschränktes L o b , aber die große Mehrzahl hat Sie gegen den Schluß hin nicht mehr verstanden und klagt darüber.« 3 3
28
H. Detering, Theodizee und Erzählverfahren, S. 13 jf. Vgl. den Anhang in der Braunschweiger Ausgabe Bd. 16, S. 548. 3° Ebd., S. 548. 3' Ebd. 32 Er wird zunächst in Fortsetzungen in der Gartenlaube veröffentlicht. « Ebd., S. 549. 19
90
Doch auch wenn man diese exopoetischen Umstände beiseite läßt, sind gegen die Auffassung vom »Sieg einer Perspektive« Bedenken anzumelden. Zweierlei Dinge sind zu beachten: Einmal der unmittelbare Kontext der zitierten Stelle, zum anderen der größere Zusammenhang mit den anderen beiden Textstellen, in denen ebenfalls ein auffälliger Tempuswechsel stattfindet (Detering läßt gerade die erste der drei Stellen unberücksichtigt). Gegen die eschatologische Interpretation der Schlußstelle spricht vor allem die Fortsetzung des Textes, in welcher der Tempuswechsel erst an sein Ende kommt und in der die Ruhe Phöbes sozusagen psychologisch motiviert wird. Der Erzähler stellt die Frage »Wo aber ist nun Phöbe in diesem Augenblick mit ihren Gedanken?« (S. 337) Aus der Antwort, die der Erzähler sich selbst gibt, wird deutlich, daß sie keineswegs in das Bedenken des Endes, einer eschatologischen Hoffnung oder eines möglichen apokalyptischen Horizonts versunken ist. Sie ist auch nicht, so bemerkt der Erzähler, bei den Freunden im fernen Palermo, nicht bei ihrem Bruder, nicht bei »all diesen unruhigen Gästen des Erdenlebens«. Sie ist vielmehr versunken in der Vergangenheit: »bei ihren Kindern in Schmerzhausen ist sie in ihren Gedanken« (S. 337). Mit dieser »lächelnden« Gedankenversunkenheit endet der Roman. Er schließt also mit einer Erinnerung, mit der Wiedergewinnung vergangener Zeit, aber auch mit der ausdrücklichen Erwähnung jener gesellschaftlich Ausgegrenzten, deren Erinnerung schon vorher mit einem Stimmungswechsel Phöbes assoziiert war. 34 Immer wieder kommt der Roman auf die Tätigkeit Phöbes unter den »Idiotenkindern« von Halah zu sprechen (z.B. S. 217, 261, 300, 304 u.a.). Daß der Roman am Ende zu den Ausgeschlossenen, den »Idioten«, den Wahnsinnigen zurückkehrt, ist kein Zufall. Die Akzentuierung und Problematisierung gesellschaftlicher Ausgrenzungssysteme gehört zum zentralen Themenkomplex des Romans. Die »weltliche« Gesellschaft des Kurortes wie auch die Dorfgemeinde arbeiten mit sozialen Ausgrenzungen, indem sie die Welt in gesund und krank, verrückt und vernünftig, normal und abnorm einteilen. Die markierte Position von »Schmerzhausen« am Romanende gliedert die ausgegrenzte Welt des Wahnsinns dezidiert in die literarische Welt des Romans ein und verknüpft diese Erwähnung mit jener anderen, aus der guten Gesellschaft ausgegrenzten Welt: der des Todes. Um die Rückgliederung der ausgestoßenen (und inzwischen verstorbenen) Anna Fuchs in die Dorfgemeinschaft nämlich geht es in der ersten Textstelle, die durch einen Tempuswechsel gekennzeichnet ist; und einen weiteren auffälligen Wechsel der Erzählzeit weist die Stelle auf, an der Phöbe und der Badearzt sich auf den langen Weg hinaus zum »Siechenhaus« begeben, wo der an Typhus erkrankte Veit exiliert ist. Alle diese drei Stellen,
34
»[...] lieber Herr Doktor, seit dem Begräbnis der Feh bin ich zum ersten Male in dieser Stunde wieder geworden in meiner Seele, wie ich früher war, und ruhig wie bei meinen armen Kindern im Schutze des Allmächtigen zu Halah«, S. 303.
91
an denen das Zeitgefüge des Romans sich verändert, beziehen sich auf gesellschaftliche Ausgrenzungen und deren Subversion: der des Todes, der anstekkenden Krankheit, des Wahnsinns. Der Name der »Idiotenanstalt« Halah verweist auf den Ort eines gesellschaftlichen Exils. E r eröffnet einen jener biblischen Bedeutungsbezüge, die für Raabe besonders typisch sind. Im zweiten Buch der Könige figuriert Halah als Ort der Deportation des israelischen Volkes. Der assyrische König fällt nach jahrelanger Belagerung in Samaria ein und verschleppt das Volk Israel ins Exil nach Halah: Im neunten Jahre Hoscheas aber nahm der König von Assyrien Samaria ein, führte Israel gefangen nach Assyrien und siedelte sie in Halah, am Habor, dem Flusse Gosans, und in den Städten der Meder an. (2 Kon 1 7 , 6 ) "
Durch den biblischen Bezug wird somit hinter dem konkreten Ort des »Irrenhauses« eine zweite (allegorische) Bedeutung sichtbar, die diese Institution in den Sinnkontext der Exilierung und der Gefangenschaft rückt. Die beiden anderen Orte der Deportation, bzw. der Exilierung, die der Roman vorführt, sind die Vierlingswiese außerhalb der Grenzen des Bergdorfes und das Siechenhaus am Rand des Kurortes - von der Menschengemeinschaft abgezirkelte Orte der Verbannung. Im ersten Fall sind es Veit und Phöbe, die diese gesellschaftlichen Ausgrenzungssysteme gemeinsam unterlaufen. Zu ihnen gesellt sich der Meister Spörenwagen, der selbst ein Randständiger, ein an den Rand der Dorfgemeinschaft Gedrängter ist: »Der ist ein Gottesleugner und glaubt weder an eine Auferstehung noch an eine Vergeltung« (S. 317), so lautet das Urteil der Dorfgemeinschaft über ihn. Der Kommunist und Revolutionär ist zugleich der beste Freund und Vertraute Phöbes - der Atheist und die Christin stehen in engem Bund gegen die Welt opportunistischer Traditionen. Im andern Fall sind es Phöbe und Dorothea Kristeller, die die Trennungslinien durchbrechen; während alle Badegäste vor dem Typhuskranken fliehen, ziehen sie zu ihm ins Exil weit außerhalb der bewohnten Welt des Badeortes hinaus. Auch Dorette Kristeller erscheint als ausgesprochene Randfigur des Kurortes (dies wird in ihrem Brief an Phöbe, aber auch im Urteil des Pfarrers Hahnemeyer deutlich: »Sie ist durch früheres Unglück verbittert und trachtet nicht auf unserm Wege nach dem, was allein nottut, nach dem letzten Heil und Trost.« S. 324). Die Linien der Segregation ziehen sich also fast spiegelbildlich durch den Kurort im Tal wie durch das Dorf »da droben«. Was die beiden Welten verbindet, ist paradoxerweise das, was sie in sich trennt. Der zentrale Konflikt entzündet sich an der Familie des Volkmar Fuchs, des ehemaligen Strafgefangenen und Wilddiebs - seine Familie wird auf die 35
92
Zit. nach der Jerusalemer Bibel: Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes, dt. Ausgabe mit d. Erläuterungen der Jerusalemer Bibel, hg. von Diego Arenhoevel u. a., 5. Aufl. Freiburg 1973.
Vierlingswiese vor die Grenzen des D o r f e s abgeschoben. Schon die Bezeichnung der beiden Eltern mit Tiernamen (»Räkel« und »Feh«) grenzt sie gattungsmäßig aus der Menschengemeinschaft aus und verdeutlicht ihren sozialen Tod. Diese Ausgrenzung wird im R o m a n allegorisch verdoppelt durch die ansteckende Krankheit, die die Mutter überfällt und die als nachträgliche Begründung f ü r die Abschiebung herhalten muß. Eine hellsichtige Analyse und A u f deckung dieser Begründung liefert der Ausgegrenzte selbst: Ich bin ein wilder Mensch gewesen, aber kein Vieh; sie aber haben uns, den Räkel, die Feh und ihre Jungen, lange vor dieser Krankheit zu dem Vieh gezählt, und dabei soll es nun verbleiben. (S. 238) Die Dorfgemeinschaft in Raabes R o m a n versucht durch die Abschiebung zu retten, was sie dadurch gerade verliert: ihre Integrität. Die soziale Ausgrenzung der Familie erschüttert nämlich das D o r f g e f ü g e aufs bedrohlichste, als sie in die Segregation der Toten umschlägt. Als der Familienvater seine tote Frau nicht zu einem christlichen Begräbnis herausgeben will, geraten jene »recht gesunden Zustände« (S. 259) ernsthaft aus dem Gleichgewicht - einem Gleichgewicht, das man sowohl im Kurort wie auch im Bergdorf durch die Absonderung des Bedrohlichen aufrechtzuerhalten versucht. Die Weigerung, die Tote zur Beerdigung auszuliefern, dekuvriert nur die Mechanismen, deren O p f e r die Familie Fuchs schon vorher geworden ist: »Wir hätten sie im Leben nicht unter uns gewollt, brüllt der Vagabunde, so brauchten wir uns auch im Tode nicht u m sie zu kümmern«. (S. zoo) In einer A r t U m k e h r u n g des AntigoneMotivs wird hier die Verweigerung der Bestattung zur Strafe f ü r die Gemeinschaft, die sich dadurch in besonderer Weise bedroht fühlt. Erst durch den ungewöhnlichen Entschluß Veits und Phöbes, ihren zukünftigen Grabplatz zu beiden Seiten der Toten zu wählen und damit den Ausschluß der Verfemten symbolisch rückgängig zu machen, wird »Räkel« schließlich zur Freigabe der Leiche veranlaßt. Genau im Moment der Beerdigung aber hält die Erzählung ihren A t e m an und verlangsamt den Duktus des Erzählens durch die Veränderung der Erzählzeit. Daß der Pfarrer bei dieser Gelegenheit »ungewöhnlich ruhige« Worte spricht, ist ein besonderes Zeichen f ü r die Verlangsamung der allgemein herrschenden Unruhe: Am nächsten Morgen, ganz in der Früh, als die Sonne eben erst über die Berggipfel heraufkam, hat man die Feh begraben, und ihr Mann hat keinen Einspruch mehr erhoben [...] An der Gruft, die Veit von Bielow gestern von dem Granitblock über dem Friedhof auf seinem Eigentume graben sah, hat auch Prudens Hahnemeyer sich mäßig gehalten und zu dem feierlichen liturgischen »Staub zu Staub, Asche zu Asche« nur wenige ungewöhnlich ruhige und freundliche Worte gesprochen. Sie haben alle ihre drei Hände voll Erde auf den armen Leib der Feh geworfen, und der Träger und der Totengräber haben die Grube rasch gefüllt. (S. 256; Hervorh. J. P.) Etwas Ähnliches wiederholt sich bei der Parallelgeschichte unten im Kurort. Veit selbst hat sich durch seinen Aufenthalt »da oben« und durch seinen Ein93
satz für die Verstoßenen mit Typhus infiziert, und ihn trifft nun die Segregation der Gesellschaft. Er wird noch weiter als die Familie Fuchs aus der Menschengemeinschaft verbannt, nämlich in das Siechenhaus, das gut eine Stunde von dem Badeort entfernt ist. Trotzdem bricht Panik unter den Badegästen aus, als sie von der ansteckenden Krankheit erfahren. Sie verlassen fluchtartig den Ort - das ganze Komödienpersonal aus Shakepeares Viel Lärm um nichts, einschließlich Valerie, flieht vor der ansteckenden Krankheit: »Sämtliche Hautevolee auf die Beine, in die Hotelwagen und auf die Eisenbahnzüge gebracht Papiere der Aktiengesellschaft für diesmal um fünfzig Prozent gesunken« (S. 284). Hinter der Beruhigung durch wissenschaftliche Fakten bleibt eine panische Unruhe spürbar: N u r Ruhe - ruhig Blut. Den Umständen nach haben wir den armen Teufel nach seinen Wünschen bestens versorgt. Pekuniäre Mittel im Uberfluß zur Verfügung Zimmer im Hotel ausgeräuchert, abgekratzt, neu tapeziert - alles, was dazu gehört, nach dem neuesten Stande der Wissenschaft - Kaliseifenlauge, Karbollösung, Bromdampf. (S. 285)
Wiederum ist es besonders Phöbe, die die Absonderung durchbricht und sich zu dem Kranken außerhalb des Ortes hinausbegibt, um ihn zu pflegen. Und wieder durchbricht auch der Erzähler das gewohnte Erzähltempus, wenn der Weg Phöbes hinaus zu dem Todkranken beschrieben wird: »Es war ungefähr gegen sechs Uhr am Nachmittag, vielleicht auch schon ein wenig mehr gegen sieben, gegen den Abend. Wir können das nicht genau angeben; denn nunmehr ist es, als stünde alles, was uns die Zeit mißt, auf der Erde still und als sei nur ein einziger ruhiger Pulsschlag durch das Weltall.« (29 jf.; Hervorh. J. P.) Der unaufhaltsame Fluß der Zeit hält inne, wenn die Grenzlinien überschritten werden, die die Gesellschaft zu ihrer vermeintlichen Absicherung gezogen hat. In welche Sphäre der Armut und der äußersten Bedürftigkeit dieser Weg führt, schildert der Roman in realistischer Deutlichkeit. Es ist die letzte Zone der bewohnten Welt, die Zone der Slums, die Doktor Hanff und Phöbe zu durchqueren haben: »Fast eine Stunde hatten Doktor Hanff und Phöbe Hahnemeyer zu gehen, ehe sie die letzten Häuser und Hütten der Ortschaft erreichten.« Während sich in dem weltbekannten Kurort alles versammle, so konstatiert der Erzähler, »was Menschen für herrlich und wünschenswert halten«, sei in diese abgeschiedene Gegend »von seiner Eleganz und seinem Luxus« noch nichts vorgedrungen. (S. 296) Wo die Bewohner dieser »letzten, vereinzelten Hütten für das ihnen noch immer unbegreifliche exotische Leben und Treiben nur ein stupides Hinstarren haben«, steht das neue Domizil des erkrankten Professors (ebd.). Es stellt noch eine Steigerungsform dieser slumartigen Behausungen dar; das ehemalige Spital sieht »recht verwahrlost und verkommen aus«, steht »auf den Abbruch« und bildet einen drastischen Kontrapunkt zu der Eleganz des Badeortes: »Es liegt ja auch für jedwedes nahrhafte Geschäft viel zu weit ab vom Brennpunkt des neuen Lebens, das hier sonst über alles gekommen ist.« (S. 297) 94
Es ist nicht unerheblich, wenn der Roman, in den Worten des Doktor Hanff, ausdrücklich eine Parallele zieht zwischen der Vierlingswiese und dem Siechenhaus - den beiden Regionen, denen eine ähnliche allegorische Bedeutung zukommt. Das alte baufällige Spital steht »dem Fuchsbau auf der Vierlingswiese wenig nach«, erklärt der Doktor, und der Patient selbst habe in seinen Fieberträumen, »in seiner letzten lichten Minute nach der Hütte der Feh verlangt« (S. 297). Macht der Text so die Parallelfunktion der beiden Orte deutlich, so markiert er die Überschreitung der Trennungslinien bei der A n kunft am Siechenhaus nochmals durch einen Umschlag ins Präsens. Die Sukzessivität der Ereignisse geht über in eine Gegenwart des Erzählten, die sich aus dem Fluß der Erzählung heraushebt - und in diese Gegenwart wird der Leser miteinbezogen: auf diesem Weg schreiten wir jetzt rascher mit Phöbe und dem Doktor Hanff zu dem alten, nun >auf den Abbruch stehenden* Spittel des früheren Dorfes [...] Die lautesten Töne der Bückeburger Jägermusik vor dem großen Pavillon sind längst hinter uns verhallt. Der Roggen steht rundum in Stiegen auf den Feldern, die Grillen zirpen in den Stoppeln; grünglänzende Goldlaufkäfer haben es wie immer eilig vor unsern Füßen, und die Gattung Aphodius ist schwerfällig und gemächlich tätig in ihrem nützlichen Geschäft auf den Pfaden der Erde wie im Anfang. (S. 297)
4. Leprosorien und Narrenschiffe - Uferflächen des Bösen Der Tod, die bedrohliche Krankheit, der Wahnsinn: sie stellen einen besonders gefährlichen Gegensatz dar zu den Systemen, die die okzidentale Rationalität zu ihrem eigenen Schutz errichtet hat. Auch die Unumkehrbarkeit der Zeit, die in die Idee einer unendlichen Akkumulation, einer »totalen« Zeit übergeht, kennzeichnet jenes zweckrationale Denken, das sich in disjunktiven Codes artikuliert.' 6 Eine Serie von Diskriminierungen und Ausschließungen des Fremden und Bedrohlichen steht an der Basis dieser zweckrationalen Kultur. Foucault läßt die Geschichte dieser Tradition mit der Einrichtung der Leprosorien beginnen, den Stätten der Verdammnis, die über Jahrhunderte hinweg als »Uferflächen« des Bösen, als unbewohnbare Orte aus der menschlichen Welt ausgesondert wurden. 3 7
36
37
Vormoderne Kulturen dagegen scheinen, so schreibt Baudrillard, ein Paradigma darzustellen für eine symbolische Ordnung, die »aus der Reversibilität selbst geboren wird« (J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 216). »Vom hohen Mittelalter bis zum Ende der Kreuzzüge hatten die Leprosorien, Stätten der Verdammnis, ihre Zahl in ganz Europa um ein Vielfaches vergrößert. Nach Mathieu Paris sollen es im ganzen christlichen Abendland bis zu 19.000 gewesen sein.« (M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 19)
95
Diese Geste der Abgrenzung, das Ziehen von immer festeren, undurchdringlicheren Grenzen erstarrt zur Struktur: »Die Lepra verschwindet, die Leprakranken sind fast vergessen, die Strukturen bleiben. Oft kann man an denselben Orten zwei oder drei Jahrhunderte später die gleichen Formeln des Ausschlusses in verblüffender Ähnlichkeit wiederfinden.«38 An die Stelle der Leprakranken treten die Wahnsinnigen oder - die Toten. Die Angst vor der »absoluten Grenze des Todes«39 wird zu einem immer bedrohlicheren Phantasma, und zwar in dem Maße, als der Tod nicht mehr durch soziale oder religiöse Praktiken und Riten in das gesellschaftliche System integriert werden kann. Die Verfestigung dieser Grenzen wird zu einem Strukturmerkmal der okzidentalen Gesellschaft. In der Grenzziehung zwischen Vernunft und Unvernunft, Gesundheit und Krankheit, zwischen Leben und Tod sieht Foucault eine der Ursprungshandlungen der modernen abendländischen Kultur begründet. Deswegen versucht er, die »Geschichte der Grenzen« zu schreiben, wobei er von der Grundannahme ausgeht, daß die Denksysteme zugleich die Systeme der Handlungen bedingen: in die »Universalität der abendländischen Ratio« ist jener Trennungsstrich eingezeichnet, mit dem eine Kultur etwas zurückweist, »was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau so viel über sie aus wie über ihre Werte [...] Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht«.40 Das Auftauchen von »Narrenschiffen«, die ihre geisteskranke Fracht aus den Städten entfernen und sie in einem Niemandsland ansiedeln,41 sind ein Ausdruck jener grundlegenden Verwerfung, die das vernünftige Denken gegenüber all dem praktiziert, was nicht in seine Denkstrukturen widerspruchsfrei integrierbar ist. Die feste Einschreibung der Grenzlinien führt zur Unmöglichkeit des symbolischen Tausches, der Zirkulation zwischen den Toten und Lebenden, den Kranken und Gesunden, den Vernünftigen und Verrückten. Die Verpflichtung zur Reziprozität verliert sich in dem Maße, als die Linearität der Zeit zur absoluten Norm erhoben wird und die zunehmende Individualisierung den einzelnen in eine letzte Einsamkeit vor dem Tod versetzt.42
3g Ebd., S. z i l 3 ' Ebd., S. 34. Ebd., S. 9 f. 41 Vgl. ebd., S. 25ff. 42 Vgl. N. Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen (1982). Elias kritisiert in dieser Abhandlung die Thesen von Philippe Ariès' Geschichte des Todes, stimmt aber der Ansicht zu, daß durch die zunehmende Individualisierung und durch den Zusammenbruch kollektiver Bewältigungsmechanismen die Einsamkeit des Einzelnen vor dem Tod bedrohlich zugenommen habe.
96
Die Begründung der »Rationalität« okzidentaler Kultur vollzieht sich nach einem Basismodell, das in der Ausschließung der Toten und des Todes gründet. Die »Volkskunde der Exkommunizierung« 4 3 verdeutlicht in besonderer Weise die Folgen einer begrifflichen Festschreibung, einer Universalisierung des Menschlichen: die Universalisierung ist immer mit einer Ausschließung und Reduktion des konkreten Menschlichen verbunden. Die Verbannung des Todes und der Toten zunächst aus der G r u p p e der Lebenden, dann in die Randbezirke der Städte, v o m Zentrum zur Peripherie, schließlich, als letzte Konsequenz, in ein N i r g e n d w o , »wie in den neuen Städten oder den gegenwärtigen Metropolen, in denen f ü r die Toten nichts vorgesehen ist«, weder ein physischer noch ein geistiger Raum: diese Verbannung ist f ü r Baudrillard »ein erstes Ghetto als Vorwegnahme aller künftigen Ghettos«, 4 4 eine Geste der Ausgrenzung, die sich als Paradigma in alle weiteren Abspaltungen einschreibt. Darin besteht das Verhängnis dieser basalen Ausgrenzungen: w o sich nichts mehr austauscht, w o der symbolische Tausch zwischen den gegensätzlichen Sphären zum Erliegen kommt, verfestigt sich jene Trennungslinie, die gleichwohl die ausgrenzende Welt in verhängnisvoller Weise mit dem Ausgegrenzten kontaminiert. 4 5 D e r Tod kehrt als Schreckgespenst in jene Welt zurück, die ihn aus sich verbannt, und macht sie zu einer Welt des Todes: Der Tod ist am Ende nichts anderes als die gesellschaftliche Abgrenzungslinie, welche die »Toten« von den »Lebenden« trennt, sie berührt also gleichermaßen die einen und die anderen. Entgegen der verrückten Illusion der Lebenden, sich durch den Ausschluß der Toten für lebendig zu halten, entgegen der Illusion, das Leben durch die Unterdrückung des Todes auf einen absoluten Mehrwert zu reduzieren, setzt die unzerstörbare Logik des symbolischen Tausches die Äquivalenz von Leben und Tod wieder ein, und zwar in der gleichgültigen Fatalität des Uberlebens. Ist der Tod ins Überleben verdrängt, so ist das Leben selbst, infolge einer wohlbekannten Rückläufigkeit, nur noch ein durch den Tod determiniertes Überleben.46 Beschrieben ist damit jene paradoxe Logik, nach der die angstvolle Flucht vor dem Tod den Fliehenden nicht wirklich von dem O b j e k t seiner Angst entfernt.
4Î 44 45
46
J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 196. Ebd. S. 197. Für Baudrillard bestimmt sich diese Grenzziehung als verhängnisvolle, unfreiwillige Teilhabe an dem Ausgegrenzten, als eine Art Wiederkehr des Verdrängten: »So ist der Wahnsinn immer nur die TrennungsXiriie zwischen Wahnsinnigen und Normalen, eine Linie, welche die Normalität mit dem Wahnsinn teilt und durch welche sie sich abgrenzend bestimmt. Jede Gesellschaft, die ihre Wahnsinnigen einsperrt, ist eine von Grund auf vom Wahnsinn durchdrungene Gesellschaft« (ebd. S. 200). Ebd., S. 200.
97
5· Die Flucht vor dem Tod und die narrative Strategie des Romans Raabes Roman gruppiert die Zentren der Ausgrenzung - den Wahnsinn, die bedrohliche Krankheit und den Tod - in einer narrativen Strategie des Textes zusammen und markiert diesen Zusammenhang durch das grammatische Signal der sich verlangsamenden, bzw. sich aufhebenden Zeit. Die Antinomien, an denen Liebe und Tod, Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit, Nacht und Tag, Krankheit und Gesundheit sich scheiden, relativieren sich in der poetischen Erfahrung. Die Objektivität der Zeit und deren Irreversibilität werden da zurückgenommen, wo die disjunktiven Grenzen überschritten werden. Träger solcher Uberschreitungen sind neben der Zentralfigur Phöbe die Personen des Romans, die selbst in den Schwellenbereichen der Gesellschaft angesiedelt sind: Spörenwagen, Dorothea Kristeller und Veit von Bielow, der seit seiner Berührung mit der Höhenwelt des Dorfes den Tod mit sich herumträgt und sich der Badegesellschaft »für Gesunde« entfremdet hat. Der Brief Bielows freilich, den Phöbe unmittelbar vor ihrer abschließenden Gedankenversunkenheit gelesen hat, beschreibt dessen Flucht vor dem Tod, indem er sie jener anderen Flucht analogisiert, die sich im 7. Buch von Laurence Sternes Tristram Shandy findet: >Ließ sich wohl jemals ein vernünftiger Mensch in einen so verworrenen Handel ein?< sagte der Tod. >Mit genauer Not bist du diesmal noch durchgekommen, TristramOhne mich umzusehen, jage ich bis an die Ufer der Garonne, und höre ich ihn mir auf den Fersen klappern, so fliehe ich bis zum Vesuv, von da nach Joppe und von Joppe bis an der Welt Ende, und wenn er mir dann noch folgt, na, so bitte ich Gott, daß er ihn den Hals brechen lasse!< (S. 330)
Was Veit nicht mehr zitiert, ist der offensichtliche Erfolg, den Tristram in seiner humoristischen Welt mit dieser Flucht erzielt. Gegen Ende des 7. Buches (Kap. 42) gibt der Erzähler darüber Auskunft: I had now the whole south of France, from the banks of the Rhône to those of the Garonne to traverse upon my mule at my own leisure - at my own leisure - for I had left Death, the lord knows - and He only - how far behind me - [...]. Still he followed, - and still I fled him - but I fled him chearfully - still he pursued - but like one who pursued his prey without hope47 47
98
L. Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, ed. by Melvyn New and Joan New, Bd. 2, S. 645. »Ich hatte nunmehr das ganze südliche Frankreich von den Ufern der Rhone bis an die Ufer der Garonne vor mir, um es ganz gemächlich auf meinem Maultier zu durchstreifen - ganz gemächlich, denn ich hatte den Tod,
Bielow dagegen ist von dieser ρ hantas matischen Entmächtigung der Welt, die Tristram Shandy spielerisch handhabt, weit enfernt. Sein Brief verweist auf den nahenden Tod, der sich dem Fliehenden buchstäblich an die Fersen geheftet hat: »Wie schwer hängt die Erde, die der Clown, Euer Totengräber, unter der Felswand auf Eurem Dorfkirchhof aufgeworfen hat, an meinen Füßen!« (S. 3 2 1 ) Alle Versuche, sich vor dem Tod in ein sonniges Leben zu retten, können Veit nicht hinter jenen »unheimlichen Wendepunkt« (S. 332), hinter jene Grenzlinie zurückführen, die er bei seinem »Seitensprung« ins Bergdorf ein für allemal überschritten hat. Schon der Badearzt Dr. Hanff hatte warnend darauf hingewiesen, daß »Madame Ansteckung und Monsieur Thanatos auf Deutsch Freund Hein« nicht jedesmal Spaß verstünden (S. 283). Die komische und skurrile Welt Tristram Shandys kennt noch Waffen, die der Welt Bielows nicht mehr zur Verfügung stehen. Auf den vor Wind und Wetter ungeschützten Höhen des Bergdorfes ist er jener »Krankheit zum Tod« begegnet, die die Gesunden im Badeort ängstlich aus ihrem Bewußtsein ausgeblendet haben. Der »Nebelheim-Schatten« (S. 331), der über den gelehrten Gast auf der Vierlingswiese gefallen ist (»Nebelheim« ist das Totenreich in der germanischen Mythologie), begleitet ihn auch in die sonnenüberfluteten Regionen des südlichen Italien; gegen Ende des Briefes kann man aus Andeutungen erschließen, von welcher Nacht der Briefschreiber umgeben ist: »Ich habe in die Dämmerung hinein geschrieben, ohne es zu merken, daß es beinahe ganz Nacht geworden ist.« (S. 335) Phöbe begreift bei der Lektüre des Briefes, »daß eine Antwort darauf nicht möglich sein wird« (S. 336). Die Flucht vor dem Tod ist die Bewegung Tristram Shandys, in die Veit von Bielow sich mit Hilfe literarischer Reminiszenzen einzureihen versucht. Doch sein Scheitern markiert den Abstand, den seine Welt von der Tristram Shandys trennt. Im Grunde knüpft er an die Fluchtbewegung an, mit der die Badegesellschaft auf seine eigene Erkrankung reagierte. Die allegorische Landschaft der Zeitlichkeit, die der Roman vor den Augen des Lesers entfaltet, kann durch solche Fluchtbewegungen nicht verlassen werden, und auch nicht durch die asketischen, weltflüchtigen Gedanken des strengen, mit sich selbst zerfallenen Pfarrers Prudens Hahnemeyer. Die Allegorie der Zeitlichkeit treibt aus sich selbst jene anderen Bilder hervor, die den abgespaltenen Teil der »Weltlichkeit« allegorisieren: Vierlingswiese, Siechenhaus, Schmerzhausen sind die N a men der allegorischen Regionen, die, wie das biblische Halah, ein gesellschaftliches Exil bezeichnen.
Gott allein weiß wie weit, hinter mir gelassen. [...] Er folgte mir noch immer, und ich floh ihn noch immer, aber ich floh guten Mutes; er setzte mir noch immer nach, aber gleich einem, der die Hoffnung aufgegeben hat, seine Beute zu erhäschen.« (L. Sterne, Das Leben und die Meinungen des Tristram Shandy, München 1963, S. 537)
99
Der objektive Takt der Uhren, den der Roman sich durch die Form des Präteritums einschreibt, wird nicht in einem eschatologischen Horizont des Zeitenendes aufgelöst, dieser Takt gerät da aus dem Rhythmus, wo die »Leprosorien«, die Uferlandschaften des Bösen betreten werden und sich mit der ausgrenzenden Sphäre verbinden. In diesen Augenblicken scheint die Zeit in ihrem Lauf stillzustehen. In narrativen Versuchsanordnungen führt der Roman vor, wie die disjunktiven Strukturen, die die Ausgrenzung zu ihrer Funktionsbedingung machen, subvertiert werden - bis in die Veränderung der grammatischen Strukturen hinein.
ioo
V. Schönheit, Tod und Vergänglichkeit: Die Wiener Moderne Denn das Innere, das diese Zeit ausmacht, ist ohne Form, unfaßbar: es fließt. R. M. Rilke, Auguste Rodin
In den literarischen Welten Kellers und Raabes spielt die Desintegration des Einzelnen eine vorrangige Rolle: der Verlust seiner Einheit mit dem gesellschaftlichen Ganzen. Das Motiv des Todes, das dadurch eine besondere Radikalisierung erfährt, ist dabei in jeweils unterschiedlicher Weise literarisch vermittelt. Die zunehmende Individualisierungs- und Isolierungserfahrung der damaligen Zeit mögen ein Grund dafür gewesen sein, daß bedeutende epische Dichter des 19. Jahrhunderts - neben Gottfried Keller etwa Theodor Storm und Conrad Ferdinand Meyer - die Konfrontation mit dem Tod zu einer besonderen Quelle ihrer dichterischen Produktion gemacht haben. Es ist sicher kein Zufall, wenn das Thema des Todes zu einem Schlüsselbegriff der literarischen Produktionen der Jahrhundertwende avanciert - insbesondere bei den Autoren, die man unter dem Begriff der »Wiener Moderne« zusammenfaßt. Scheinbar gegenläufige Tendenzen in der Auffassung von Subjektivität resultieren nicht zuletzt aus der Verabsolutierung des Subjekts und seiner gleichzeitigen Bedrohung durch den Verlust metaphysischer Sinnbezüge; was zur Folge hat, daß in widersprüchlicher Weise das emphatisch absolut gesetzte Subjekt sich der Flüchtigkeit und Vernichtung preisgegeben sieht. Der archimedische Punkt des Denkens, die letzte Bastion des transzendentalen Idealismus, erweist sich plötzlich als Phantasmagorie. Die Absolutsetzung des Ich und seine Verabschiedung haben mehr miteinander zu tun, als es der Gegensatz der Begriffe vermuten läßt. Vielleicht ist die »Unrettbarkeit des Ich«, die Ernst Mach um die Jahrhundertwende verkündete1 und die zur monnaie 1
Diese These findet sich in Machs Untersuchung Beiträge zur Analyse der Empfindungen aus dem Jahr 1886. Der bestimmende Eindruck, den diese Studie auf die Autoren des Jungen Wien ausübte, wird an Hermann Bahrs Reaktion ablesbar, der in seinem Aufsatz Das unrettbare Ich über dieses Buch schreibt: »Hier habe ich ausgesprochen gefunden, was mich die ganzen drei Jahre her quält: >Das Ich ist unrettbare Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen. Es gibt nichts als Verbindungen von Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen, Zeiten, und an diese Verknüpfungen sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. Alles ist in ewiger Veränderung. Wenn wir von Kontinuität oder Beständigkeit sprechen, so ist es nur, weil manche Änderung langsamer geschieht. Die Welt wird unablässig und indem sie wird, vernichtet sie sich unablässig. Es gibt aber nichts als dieses Werden. Es gibt kein Ding, das zurückbleiben würde, wenn man die Farben, Töne, Wärmen von ihm abzieht. Das Ding ist nichts außer dem
101
courante moderner und postmoderner Denkrichtungen geworden ist, auch als spezifische Reaktion auf jene Flüchtigkeit anzusehen, mit der das Subjekt der Moderne unausweichlich konfrontiert wird. Der »Tod des Subjekts« wäre dann eine Art Vorausverteidigung, eine philosophische Strategie der Angstbewältigung: Was sich schon immer als flüchtige Impression in einem beständigen Wechsel von Erscheinungen erweist, was nur als Konstrukt existiert, kann durch den Tod nicht wirklich bedroht werden. Paradoxerweise ist in dieser impressionistischen Welt gerade der Tod der letzte und einzige archimedische Punkt, die letzte aller Gewißheiten. 2 Daß das Todesthema in der Literatur der Jahrhundertwende fast überall gegenwärtig ist, wurde immer wieder festgestellt. So schreibt Peter Kampits: »Die Faszination durch Tod, Vergänglichkeit und Flüchtigkeit durchtränkt förmlich die literarische Produktion des >Jung-WienKörpern< und sprechen vom >Ich Vgl. ebd., S. 8f. 6 Vgl. auch Ansätze in der Germanistik und Romanistik, die die wegweisenden Innovationen früh- und spätromantischer Autoren betonen und deren Vorgriff auf die literarische Moderne ins Licht setzen. Darauf spielt schon der Titel des Sammelbandes Romantik. Aufbrach zur Moderne an, der von K. Maurer und W. Wehle herausgegeben wurde und in dessen Vorwort es heißt: »Aus der geschichtlichen Distanz gesehen, stellt sich indessen gerade die französische Romantik und Spätromantik als der U m schlagspunkt dar, von dem die europäische Moderne unter den sich ablösenden Kennzeichnungen des Realismus und Naturalismus, Symbolismus und Surrealismus ihren Ausgang nimmt.« (S. 7) 7
Diese Unterscheidung findet sich insbesondere bei S. Vietta, Die literarische Moderne, S. 2 i f f . Es würde zu weit führen, die unterschiedlichen Positionen zur Bestimmung des Moderne-Begriffs zu diskutieren. Neben den beiden bereits erwähnten Positionen von Kreuzer und Friedrich wurde immer wieder in der deutschen Frühromantik ein epochaler Wendepunkt gesehen (so z . B . K . H. Bohrer, Die Kritik der Romantik, 1989). Vgl. hierzu auch H. R. Jauß, Der literarische Prozeß des Modernismus, und das Kapitel Datierungsansätze der Forschung in Viettas Buch Die literarische Moderne, S. 1 7 20. Von einer Epochenschwelle von 1912 spricht Jauß in seinem gleichnamigen Buch (1986).
103
ästhetischer Hinsicht durchsetzen und die zugleich zu dialektischen U m schwüngen in der Selbstwahrnehmung und Welterfahrung des modernen Subjekts führen. Für die deutschsprachige Literatur soll hier im Anschluß an Helmut Kreuzer die Wende zum 20. Jahrhundert als Aufbruch in die Moderne, als epochale Schwelle verstanden werden. Die Thematik dieser Arbeit wird dabei ein zusätzliches Licht auf die literarischen Veränderungen und auf ihren Zusammenhang mit gleichzeitig verlaufenden Bewußtseinsprozessen werfen. Daß solchen Einordnungsversuchen immer etwas Unbefriedigendes anhaftet, steht außer Frage. Der Schwellenbegriff erscheint schon deshalb als problematisch, weil er einen punktuellen qualitativen Umschlag literarischer Phänomene nahelegt, die eher auf einem Kontinuum anzusiedeln wären. Trotz dieser Vorbehalte gehe ich heuristisch davon aus, daß sich in der deutschsprachigen Literatur um die Jahrhundertwende literarische Phänomene verdichtet haben, die zwar schon vorher anzutreffen waren, nun aber in ihrer Intensität oder in ihrer Ausschließlichkeit einen Innovationsschub auslösen, durch den neue Schreibweisen begründet werden.
2. Das individuelle Gesetz oder: Der »Frost der Einsamkeit«. Otto Weininger und Georg Simmel Die cartesianische Revolution in der Philosophie ist eine denkerische Bekräftigung der renaissancistischen Selbst- und Weltbemächtigung des Menschen und zugleich ein entscheidender Schritt in der Herausbildung neuzeitlicher Subjektivität. Die Philosophie des absoluten Ich, das zum archimedischen Punkt des Denkens überhaupt avanciert, führt den Menschen der Neuzeit in eine zweifache Richtung: Einerseits bildet sie eine Grundlage für den modernen Herrschaftsanspruch des Menschen über die Welt (die »res extensa«), andererseits führt sie das neuzeitliche Subjekt in eine neue metaphysische Einsamkeit, in die Erfahrung seiner Isolation im Kosmos - in jene Nacht, in der das Individuum vom »Frost der Einsamkeit« umgeben ist, von dem Nietzsches Zarathustra spricht. 8 Wie sehr diese Isolationserfahrung zum bleibenden Korrelat einer neuzeitlichen Welt- und Selbstwahrnehmung und einer wissenschaftlich-technischen Beherrschung der Welt geworden ist, macht eindrucksvoll ein (von Descartes inspiriertes) Gedankenexperiment deutlich, das Thomas Hobbes in seiner A b 8
»Niemand redet mit mir, der Frost der Einsamkeit macht mich zittern.« (Also sprach Zarathustra, K S A 4, S. 52) In Ecce homo wird Nietzsche auf seinen Zarathustra zurückkommen und sagen: »Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit« ( K S A 6, S. 276).
104
handlung Vom Körper durchexerziert. Ausgerechnet seine Naturphilosophie läßt Hobbes mit dem Gedanken einer »allgemeinen Weltvernichtung« beginnen, wobei nur noch das denkende Subjekt mit seinen Vorstellungen, seinen »Ideen und Phantasmen« eine sichere Grundlage des Philosophierens darstellt: Die Philosophie der Natur werden wir am besten [...] mit der Privation beginnen, d. h. mit der Idee einer allgemeinen Weltvernichtung. Gesetzt also, alle Dinge wären vernichtet, so könnte man fragen, was einem Menschen (der allein von dieser Weltvernichtung ausgenommen sein soll) noch als Gegenstand philosophischer Betrachtung und wissenschaftlicher Erkenntnis übrig bliebe oder was er zum Aufbau der Wissenschaft zu benennen dann noch Anlaß hätte. Ich behaupte nun, daß diesem Menschen die Vorstellungen von der Welt und all den Körpern, die er vor ihrer angenommenen Vernichtung mit seinen Augen geschaut oder anderen Sinnen wahrgenommen hätte, zurückbleiben werden, d.h. Erinnerungen und Vorstellungen von Größen, Bewegungen, Tönen, Farben und entsprechend Vorstellungen ihrer Ordnung und ihrer Teile. Alle diese Dinge sind zwar bloß Ideen und Phantasmen, die nur in seiner Einbildung existieren; gleichwohl werden sie ihm als äußerliche erscheinen, als ob sie in keiner Weise von seinem Geiste abhängig wären. Und dies sind die Dinge, die er mit Namen belegen und gedanklich miteinander verbinden und voneinander trennen würde. Denn da nach Voraussetzung der nach der Zerstörung aller Dinge allein übrigbleibende Mensch denken, vorstellen und sich erinnern soll, so kann das, woran er denkt, nur das Vergangene sein. Ja, wenn wir genau betrachten, was wir tun, wenn wir denken und schließen, werden wir finden, daß auch dann, wenn alle Dinge in der Welt bestehen, wir doch immer nur unsere eigenen Phantasmen ins Auge fassen und vergleichen. U m Größen und Bewegungen am Himmel und auf Erden zu berechnen, steigen wir nicht zum Himmel empor, um ihn zu teilen und die Bewegungen dort zu messen, sondern wir tun das ruhig in unserem Studierzimmer oder im Dunkeln. Dinge können nämlich in doppelter Weise wissenschaftlich betrachtet werden; einmal als innere Zustände unseres Geistes, wie es geschieht, wenn es sich um Erforschung unserer geistigen Fähigkeiten handelt; oder als äußerer Dinge Bilder, die zwar nicht reell existieren, sondern nur zu existieren, d. h. ein Schein außerhalb unserer zu haben scheinen. Und in dieser Weise werden wir sie nunmehr zu betrachten haben. 9
Die Ablösung der alten Metaphysik durch eine neue philosophische Erkenntnistheorie ist hier bereits vollzogen. Vorgeformt ist damit auch die Einsicht Kants, daß nur noch das transzendentale Subjekt eine einheitliche, sichere Erkenntnis garantieren kann. Kant wird die Welt in letzter Konsequenz in das Begreifbare und Nichtbegreifbare, in das Verfügbare und Nichtverfügbare, in Erscheinung und Ding an sich aufteilen. »Die Formierung der Natur zum Objekt (Erscheinung) anerkennt diese nur, insoweit sie beherrschbar ist - alles andere ist krasse Nicht-Signifikanz: >Ding an sichin der Wirklichkeit nicht vorfindbare Beziehung der Dinge zueinander (Dehmel) hergestellt wird. Die dargestellte Welt ist hier mit den darstellenden Mitteln kongruent. Am Horizont dieser orientalischen Märchenwelt taucht (wenn auch nur implizit) eine Erzählerfigur auf, die dem beschriebenen Verfahren innerer Verknüpfung eine immanente Reflexion über die Bedeutung des Erzählens zur Seite stellt: Scheherazade ist die Erzählerin der Märchen, und ihr Erzählen ist ein Erzählen gegen den Tod. Durch das Gewebe ihrer nächtlichen Geschichten schiebt sie den Tod hinaus, ihr unendliches Sprechen bedeutet die Aufhebung des Todes in ein Leben, das ihr durch das Geschichtenerzählen neu geschenkt wird. Schon im zweiten Kapitel enthält somit der Text Beer-Hofmanns eine Kontrafaktur des Midas-Mythos und eine Kritik an der »toten« Ornamentalität des Jugendstils: Das Erzählen setzt das Leben voraus und rettet es vor dem Tod. Oder vielmehr: es versöhnt die toten, zeitlosen Formen der Kunst mit dem Leben. Der Tempeltraum im zweiten Kapitel, der ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, eine Vision vergangener mythischer Welten entfaltet, verknüpft lebensphilosophische Anschauungen wiederum mit den beschriebenen Darstellungsmitteln des Jugendstils. Der Traum setzt Beschreibungen aus Nietzsches Tragödienschrift in sprachliche Bilder um, 101 in die an entscheidenden Stellen jugendstilhafte Darstellungsformen eingegangen sind. Im Mittelpunkt dieses Traums steht ein ritualisiertes, orgiastisches Frühlingsfest, zu dem Wallfahrer aus verschiedenen Himmelsrichtungen zusammenkommen. »Fühlen wollten sie - endlich ihr Leben fühlen« (S. 548): In Ritualen aus einer mythischen Zeit wird bei diesem Friihlingsfest das prindpium individuations überwunden. Das Fest ist eine Entfesselung rauschhafter Zustände, in der alle miteinander eins werden (S. $47). Die Beschreibung dieser Entgrenzung läßt das girlandenhafte Muster eines jugendstilhaften Arrangements erkennen: Männer und Frauen und Tiere gatteten sich in unerhörten Verschlingungen; Giganten, in Schlangenleiber endend, ringelten sich um Kentaurinnen; von einem Lust empfangend, einem anderen sie gebend, wand sich der Kreis von Gestalten, in sich zurückkehrend, einem Kranz gleich, um den Tempel. (S. 545)
101
Vgl. die Beschreibung der dionysischen Feste und ihrer »fieberhaten Regungen« bei Nietzsche: »Fast überall lag das Centrum dieser Feste in einer überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen hinweg flutheten.« (Die Geburt der Tragödie, K S A 1, S. 32.)
136
Die mythische Erzählung, die von orgiastischen Vereinigungen berichtet, eignet sich das jugendstilhafte Verfahren an, in dem Zusammenhänge ästhetisch produziert werden. Der Roman führt in synkretistischer Anstrengung erzählerische Landschaften vor, in denen der Einzelne in übergreifende lebensweltliche Zusammenhänge eingebettet ist - es sind die Welten des Mythos, des Tempelkultes von Hierapolis, 102 in denen sich der Wunsch nach Vereinigung und Verschmelzung zu erfüllen scheint. Aber auch in die wollüstigen Verschlingungen des Frühlingsfestes bricht am Ende - jedenfalls für den Wahrnehmenden - der Tod ein, der das nächtliche Ritual beschließt: Sie fanden sich im Gewühl und umschlangen sich aufrecht und glitten matt mit bebenden Knien zu Boden [...]. Uber sie hin sank verschlungen ein Knäuel, vielarmig und vielköpfig, löste sich und wirrte sich von neuem, ungesättigt mit fangenden Armen Leiber an sich heranziehend. [...] und in neuer Gier warf sich einer hin über die so wirr Verflochtenen, daß er nicht sah, daß es einer anderen Leib war, der ihn umschlang, und einer anderen Lippen, an denen sein Mund sog. Während lustbebende Hüften sich ihm entgegenhoben und gierig den heißen Strom des neuen Lebens tranken, fühlte er nicht, daß unter seinen Küssen halboffene Lippen langsam erkalteten und - nicht in Wollust - gebrochene Augen starr nach oben sahen. (S. 549)
Auch die dionysischen Rituale, in denen alles Individuelle sich auflöst, wird von den Schrecken des individuellen Todes eingeholt. Der Mythos relativiert sich am Ende selbst. Wenn Paul erwacht, findet er sich allein wieder in der subjektiven Welt seines Bewußtseins. 5.4 Die Immanenz des Selbstbewußtseins Das Raffinement der Erzählung besteht gerade darin, daß all diese märchenhaften und mythischen Sequenzen Bestandteile eines langen Traumes sind - auch das scheinbar auktorial Erzählte ist Inhalt eines perspektivisch gebrochenen Bewußtseins. Beer-Hofmanns Der Tod Georgs ist eine der frühesten Versuche in der deutschsprachigen Literatur, die Technik der erlebten Rede und des inneren Monologs konsequent zu entfalten. Die erlebte Rede ist über weite Strecken das vorherrschende Darstellungsmittel. Die personale Erzählperspektive in den ersten drei Kapiteln wird nur an wenigen Stellen durch kurze auktoriale Einschübe durchbrochen, so z.B. am Ende des ersten Kapitels, wo das Umkippen durch einen Gedankenstrich gekennzeichnet ist: »Wie mondhell das Zimmer war! Und das da an der Wand war der schwarze Schatten des Fensterkreuzes. [...] Was das für ein Duft war, den der Wind da durchs offene Fenster ,oi
Über die Quellen zum Tempeltraum vgl. R. Hank, Mortifikation und Beschörung, S. i22ff. Hank hat nachzuweisen versucht, daß Beer-Hofmanns Schilderungen des syrischen Astarte-Kults sich der Lektüre von Jacob Burckhardts Werk Die Zeit Constantin 's des Großen verdankt.
137
trug? Kam der aus dem Garten? Oder waren das frischgemähte Wiesen auf den Bergen. - Er schlief.« (S. S29)103 Scherer war sogar der Meinung, der ganze Roman sei eine »Experimentieranordnung zur Abbildung von Bewußtseinsprozessen«.104 Diese Immanenz des Selbstbewußtseins verbindet sich mit einem Höchstmaß an Individualisierung, die kaum mehr einen Weg zu übergreifenden Zusammenhängen offenläßt. So erlebt das gequälte Bewußtsein Pauls in seiner ego-zentrischen Wahrnehmung den Tod als Katastrophe, als definitive Weltvernichtung: »Nur sein Schicksal war wirklich; in den engen Rahmen seines einsamen Lebens war jedes Glück und jede Erfüllung gezwängt; von nirgends konnte Hilfe kommen; mit ihm alterte alles, alles starb mit ihm.« (S. 616) Wiederholt schlägt der Versuch Pauls fehl, die Innenperspektive seines Bewußtseins zu erweitern. Die Grenze zur Welt, zu den anderen ist der Ort seines Scheiterns. In seiner Bewußtseinsarbeit versucht Paul sogar, sich die Erfahrung von Sterben und Tod anzueignen. In endlosen Tagträumen soll Georgs Sterben imaginär reproduziert werden: Wie war der denn gestorben? [...] War er in traumlosem Kinderschlaf dem Leben entglitten - leise unmerklich vom Tod empfangen, wie von einer Muttter, die, vorsichtig aus den Armen der Wärterin, ihr schlafendes Kind empfängt? Oder hatte der Traum alles Frühere verlöscht, und nur undurchdringliches dunkles Drohen rings um Georg aufgetürmt? Und in fensterlosen Räumen mit vermauerten Türen hetzte ihn die Angst umher [...] Wußte er, wie Georg gestorben war? (S. 6o8f.)
Beer-Hofmann hat in seinem Roman Bewußtseinsvorgänge bis an die Grenze des Darstellbaren zu gestalten versucht - hierin vielleicht nur von Hermann Broch an Imaginationskraft übertroffen, der in seinem Tod des Vergil das Sterben und den Tod in die Innenperspektive des römischen Dichters zu verlagern suchte. Die absolute Selbstbegründung des Bewußtseins, die Beer-Hofmann in seinem Roman literarisch inszeniert, mißlingt. Damit wiederholt er in expliziter Form jenen Versuch, den die Frühromantiker bereits in Ansätzen durchexerzierten und der sie dazu führte, sich von der Philosophie des deutschen Idealismus abzuwenden.105 Das Bestreben nämlich, Subjektivität im Gestus reiner Selbstreflexivität zu begründen, erweist sich den Frühromantikern, insbesondere Schlegel und Novalis, als undurchführbar. Sie gelangen zu der Überzeugung, daß sich Selbstsein nicht bewußtseinsimmanent begründen lasse: Das Bewußtsein kann sich nicht aus der Zeit hinausstehlen, die Zeit dringt vielmehr unaufhaltsam in es ein und läßt es in einem unendlichen Regreß und Progreß 103 ,04 10!
138
Vgl. S. Scherer, Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne, S. 185. Ebd., S. 323. Dies ist die Hauptthese von Manfred Franks (neuaufgelegter) Doktorarbeit Das Problem »Zeit« in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, Paderborn 1990.
befangen bleiben. Die Wiederaneignung seiner Vergangenheit ist dem Bewußtsein nur als zukünftige denkbar. Deshalb schrieb Novalis: »Die Zeit kann nie aufhören - Wegdenken können wir die Zeit nicht - denn die Zeit ist ja Bedingung des denkenden Wesens - die Zeit hört nur mit dem Denken auf. Denken außer der Zeit ist ein Unding.« 1 0 6 Zur Struktur der Zeit gehört aber, daß »keine Phase ein selbstgenügsames Bestehen-in-sich hat, sondern etwas voraussetzt und von etwas Kommenden ihrerseits aus ihrer Position verdrängt wird«. 1 0 7 So entsteht ein unendlicher Zirkel des ins Zukünftige ausgreifenden und immer wieder ins Vergangene zurücksinkenden Bewußtseins. Insofern ist das Selbstbewußtsein nicht tauglich, als oberstes Prinzip, als absolute Begründung der Erkenntnis herzuhalten. Das Selbstbewußtsein kann in seiner zeitlichen Struktur nie in der Identität mit seinem jetzigen Zustand aufgehen, es kann nie in einem An-sich-Sein ruhiggestellt werden. Deshalb wurde das Selbstbewußtsein schon von den Frühromantikern nicht als absolutes, sondern als abkünftiges Phänomen begriffen, als etwas, dem ein Unverfügbares vorgeordnet ist, über das es nicht mehr selbst verfügt. Die Frühromantiker bezeichneten diese vorgeordnete, irreflexive Identität als »Seyn«. I o S Der Grund des Selbstbewußtseins läßt sich - dies ist eine frühromantische Konsequenz - nicht mehr reflexiv begründen, er kann nicht mehr philosophisch, sondern nur noch über die Kunst zugänglich gemacht werden. Die Philosophie vollendet sich in der Kunst, vor allem in der ironischen und allegorischen Darstellung (sowohl die Ironie als auch die Allegorie überschreiten ja das Ausgesagte auf ein Gemeintes hin, das nicht mit dem Ausgesagten identisch ist). Beer-Hofmann führt mit seinem Roman ein Erzählexperiment vor, in welchem im Rückgriff auf »moderne« Formen der Darstellung die Totalität eines Bewußtseins vermittelt werden soll, mit all seinen assoziativen Brüchen, zeitlichen Sprüngen, Reflexionen, traumhaften Verknüpfungen: »aus ihm geboren war die Welt, in der er träumte; von ihm gesteckt waren die Grenzen ihrer Himmel und ihrer Erden.« (S. 607) Auch die scheinbar bewußtseinstranszendenten Vorgänge sind nochmals als Traum oder Tagtraum in das Bewußtsein Pauls integriert. Die Grenzen dieses Erzählexperiments sind jedoch da gezogen, w o das Bewußtsein an das Nicht-Verfügbare stößt; es sind die Grenzen, die der Tod ihm zieht.
5.5 Die imaginative Logik der Konstruktion Damit rührt Beer-Hofmann an das »Gründungsproblem der Ästhetik« (P. H. Neumann) überhaupt: wie kann etwas dargestellt werden, dem keine Erfah,oé 107 108
Novalis, Werke II, S. 180. M. Frank, Zeitbewußtsein, S. 9. M. Frank, Das Problem »Zeit«, S. 501.
139
rung entspricht? Sein Text reiht sich ein in jene literarische Tradition, die sich vom mimetischen Charakter der Kunst abwendet und an dessen Stelle die imaginative Logik der Konstruktion setzt: Die Erkenntnisfunktion der Kunst beruht hier nicht mehr auf einem platonischen Effekt des Wiedererkennens, sondern auf einer ästhetisch vermittelten Produktion
von Erkenntis. 1 0 9 Nicht mehr
das Erkennen als Ergreifen einer präexistenten Wahrheit dient als Modell, sondern das Erkennen, das mit dem Hervorbringen, der »Poiesis« gleichzusetzen ist. Die Eigenlogik dieser produktiven Form der Wahrnehmung verdeutlicht sich in Pauls Blick: »rascher als das Bild des Blitzes seinen Augen entfloh, schuf er mit dem Senken seiner Lider tiefes Dunkel um sich, und zerstörte eine Welt, die er mit jedem Augenaufschlag von Neuem sich erschuf.« (S. 587) Paul Valéry hat diese »moderne« Konzeption von Kunst in seinem Aufsatz Introduction
à la méthode de Léonard
de Vinci (1894) idealtypisch am Beispiel
von Leonardo da Vinci beschrieben. A n ihm illustriert Valéry moderne Erkenntnisprinzipien, indem er aufzeigt, wie dieser Künstler und Wissenschaftler das Erkennen mit dem kreativen Hervorbringen verbindet: Savoir ne suffit point à cette nature nombreuse et volontaire; c'est le pouvoir qui lui importe. Il ne sépare point le comprendre du créer. [...] Par là cet homme est un ancêtre authentique et immédiat de la science toute moderne. 1 1 0
Bezeichnenderweise sieht Valéry in einem späteren Aufsatz (Eupalinos ou l'Architecte) die ausgeprägteste Form dieses schöpferischen Hervorbringens in der Architektur und der Musik verwirklicht - den Künsten also, die am wenigsten an mimetische Darstellungsformen gebunden sind. A m Beispiel eines von Eupalinos erbauten Tempels wird in dieser Abhandlung die Kreativität, die Freiheit der Produktion erläutert, die sich ein Universum mit seinen eigenen Formen und Gesetzen schafft. 1 1 1 Mit dieser Freiheit des künstlerischen Hervorbringens experimentiert BeerHofmann, wenn er versucht, den Tod selbst als innere Erfahrung dem Bewußtsein Pauls einzuprägen. Doch die ästhetische Produktion gerät hier an eine Grenze, die bei aller imaginativen Kraft nicht wirklich überschritten werden kann. Auch der Tod findet zwar noch Eingang in Träume und Phantasien, aber in seiner »Realität« stellt er eine Widerständigkeit dar, die bewußtseinsjenseitig bleibt. Was bleibt dem Bewußtsein noch, »wenn in die Mitte buntverkleideter hastiger Träume, die - fieberhaft über die Wirklichkeit erhöht - wie im Spiel sich drängten, der Tod, der wirkliche Tod trat, und alle Türen zum Leben
109
1,0 111
Jauß hat dies am Beispiel Prousts näher ausgeführt (vgl. Negativität und Identifikation, S. 286ff.). P. Valéry, Œuvres I, S. izzi. P. Valéry, Eupalinos ou l'Architecte, Œuvres II, S. 1 0 1 5 . Die Anstöße hierzu entnehme ich Jauß, Negativität und Identifikation, S. 1 0 1 5 .
140
hinter ihm zuschlugen?« (S. 608) Sind Träume vorstellbar, aus denen es »kein Erwachen mehr« gibt (ebd.)? Wie für Baudrillard der Tod nicht mehr ins System abendländischer Rationalität integrierbar ist, so erscheint hier der Tod als das schlechthin Bewußtseinstranszendente, Unverfügbare, als das der Selbstreflexion Entzogene. Im Grunde erscheinen alle Gedanken und Phantasien Pauls angestoßen von dem Unfaßlichen, das der Tod des Anderen (und der eigene Tod) bedeutet. Und zugleich markiert dieser Tod die Grenze des Bewußtseins. Der Tod als widerständige Realität, gegen die das Bewußtsein sich aufbäumt, ist der Krisenpunkt, wo die künstliche Welt des Königs Midas zerbrochen wird und die Kunst sich ins Leben, das subjektive Bewußtsein sich in ein Bewußtsein der Welt zurückzuverwandeln beginnt: »Wurden vor den Strahlen seines Ernstes nicht [...] alle Masken zu Antlitzen, stumpfe Waffen scharf, und aus erdichteten Wunden rann lebendiges Blut?« (S. 608) 5.6 Zusammensturz der Träume und »mémoire involontaire« - Der Weg zurück in die Zeit und die Geschichte Georg Lukäcs hat in einem Aufsatz über Beer-Hofmann diesen Augenblick beschrieben: als einen, in dem die Träume zusammenbrechen und das Asthetentum sich selbst zerschlägt: »Jemand stirbt, und, ihres Inhaltes beraubt, stürzen die Träume, die um ihn gestellt waren, in sich selbst zusammen und ihrem Sturz folgt der aller anderen Traumgebilde.« 112 Das Erlebnis des Todes zerreißt die künstlich geschaffenen Zusammenhänge, in denen die Ästheten sich eingerichtet haben: »nur von ihnen [den fiktiven Zusammenhängen, J. P.] riß es sie los, nahm ihnen nur das Gefühl, daß alles von ihnen ausgehe [...] und machte dem Wahn ein Ende, daß ihr Ich etwas Festes sei und im Mittelpunkt der Welt stehe; packte sie und warf sie ins Leben hinein, in den Zusammenhang von allem mit allem.« 113 Die reine ästhetische Anschauung wird durch den Tod als Schein entlarvt analog der scheinzerstörenden Macht, die die allegorischen Bilder in Kellers Grünem Heinrieb aufweisen. Was sich als jugendstilhafte Stillstellung der Zeit dem Text in ästhetischen Bildern einprägte, zerfällt und zerbricht im wahrnehmenden Bewußtsein an der unaufhebbaren, uneinholbaren Realität des Todes. In das Spiel mit Girlanden und Arabesken wird eine Ernsthaftigkeit eingeführt, die der Tod der Kunst abtrotzt. Aber Lukäcs' Schlußfolgerung erscheint trotz allem zu apodiktisch: In die dem Asthetentum entrissene Welt wird etwas von dem hinübergerettet, was die ästhetische Welt auszeichnete: die innere Verbindung der Dinge untereinan112
G . Lukács, Der Augenblick und die Formen, S. i6of. "> Ebd., S. 1 6 1 .
141
der. Beer-Hofmann projiziert hier gewissermaßen die ästhetizistische Formenwelt auf das erzählte Universum - er vollführt eine Transposition der Zusammenhang schaffenden Formen auf eine bewußtseinsjenseitige Welt der Erzählung. Es ist besonders bemerkenswert, daß hier die bilderreiche, verschlungene Formenwelt des Jugendstils in den größeren Kosmos einer überindividuellen Welt hinein verlängert wird, in welcher nun die ästhetischen Formen die G e setzmäßigkeit lebensweltlicher Zusammenhänge begründen. Die Lebenswelt, die der Roman in seinem vierten Kapitel entwirft - in diesem Kapitel findet ein Bruch mit den vorausgehenden Darstellungsprinzipien statt - , nimmt A n leihen an der Welt des Ästhetischen, die in den vorausgehenden Kapiteln entstanden ist. Man könnte fast sagen, daß die nicht mehr mimetische Welt der Kunst (Kapitel 1 - 3 ) zur Vorlage des mimetischen Erzählens im vierten Kapitel geworden ist. Die Technik der jugendstilhaften »architektonischen« Verknüpfungen der Dinge untereinander wirkt modellhaft auf die bewußtseinstranszendente Welt des Schlußkapitels, in welcher die Menschen und die aufeinanderfolgenden Generationen durch »ewige Gesetze« miteinander verbunden sind. Erzählerisch erfolgt der Umschlag in dem Park von Schönbrunn, in den Paul vor den bedrängenden Gedanken an Georgs Tod geflohen ist. Inzwischen ist es Spätherbst geworden; die Acker sind kahl, der Boden ist mit welken Blättern übersät. Selbst die Jugend spürt in dieser Jahreszeit, »wie schnell die Zeit verrann« (S. 601). Der Anblick zweier Frauen, deren Bild sich im Wasser eines Beckens spiegelt, setzt in Paul die Mechanik einer »mémoire involontaire« in Gang: »Unklar fühlte Paul, wie eine Erinnerung ihn traf, durch ihn glitt, und ihn wieder verließ.« (S. 604) »Paul fühlte, wie eine Erinnerung immer von neuem an ihn heranspülte, und ehe sie ihn erreichte, wieder zurückebbte. Jetzt war es da, — nein, jetzt war es wieder weit weg von ihm und schien immer weiter nach rückwärts zu verrollen.« (S. 606) Die Wiedergewinnung der verlorenen Erinnerung gestaltet sich als Kampf, in dem es Paul nur mit größter Anstrengung gelingt, die verschwundenen Erinnerungsfragmente dem Zusammenhang des Bewußtseins einzugliedern. Schließlich erreicht die versunkene Erinnerung das Bewußtsein - es ist der Traum vom Tod der Frau: Und das alles war verloren und lag wie ertrunken in einer Tiefe, in die er nicht tauchen konnte. Er fühlte sich verlassen, und litt um eine Frau, die ihm gestorben war; und von den Jahren, die er mit ihr gelebt, lösten sich die Erinnerungen vieler Tage und Stunden, und rollten ihm zu, und sanken schwer in seinen Schmerz. (S. 607)
Die Erinnerung an den (geträumten) Tod »seiner« Frau und an den (mit dem Traum zeitgleichen) Tod Georgs führt schließlich zu einer »Erkenntnis«, die im Schnittpunkt des gegenwärtigen Bewußtseins die drei Zeitachsen miteinander verbindet: »Unverhüllt, aus nicht lügenden Augen, sah eine Erkenntnis ihn an. Gleichgiltiges, das er sonst übersah, hatten seine Gedanken umklammert, und 142
daran emporwuchernd, schlugen sie nach rückwärts Wurzeln in Vergangenes, und rankten zu Kommendem weit in die Zukunft.« (S. 615) Diese Wiedergewinnung der verlorenen Zeit durch die »mémoire involontaire« erweist sich, noch vor Prousts Recherche, als Produktion eines Zusammenhangs, der sich in der Zeitlichkeit des Erinnerns und des Vorgriffs auf die Zukunft konstituiert. Der neue epische Zusammenhang steht in einem unverkennbaren Korrespondenzverhältnis zu den verschlungenen ornamentalen Linien der Darstellungen, die der Text zuvor entwarf: »Denn was einer auch lebte, er spann nur am nichtreißenden Faden des großen Lebens, der - von andern kommend, zu andern - flüchtig durch seine Hände glitt [...] Unlöslich war ein jeder mit allem Früheren verflochten.« (S. 617) Das Bild des Fadens, der sich über den einzelnen hinaus fortspinnt und unter den Individuen Zusammenhänge stiftet, geht über in den Gedanken eines »Gesetzes« (S. 616), das sich aus der Vergänglichkeit der Augenblicke heraushebt und zum Garanten jener »Gerechtigkeit« wird, die zugleich mit der Erinnerung dem Bewußtsein Pauls sich als Erkenntnis aufdrängt: Nicht wie ein einsamer Ton, ins Leere, verhallte sein Leben. Verschlungen in ein großes, von Urbeginn gemessenes, feierliches Kreisen, trieb sein Leben, mitdurchtönt von ewigen Gesetzen, die durch alles klangen. Kein Unrecht konnte ihm geschehen, Leiden war kein Verstoßensein, und der Tod schied ihn nicht von allem. (S. 619)
Die ästhetische Welt der schönen, bildhaften Formen steht in unverkennbarer Analogie zu der Welt ewiger Gesetze, die das Bewußtsein Pauls erkennt. Der Tod ist es, der zu dieser Erkenntnis anstiftet - aus ihm geht eine Bewegung hervor, die die Formen der Kunst auf die »ewigen Gesetze« des Lebens überträgt: »Um Georgs Tod hatten quälend seine Gedanken sich gerankt und, ohne seinen Willen, war für ihn daraus etwas erwachsen, was seinem Leben Zuversicht gab.« (S. 623) Diese unerwartete Wendung im vierten Kapitel des Romans hat von Anfang an Mißfallen und Kritik bei den Lesern hervorgerufen. 114 Dabei wurde weitgehend übersehen, daß dieser Umschlag sich einerseits als immanente Kritik der ästhetizistischen, zeitenthobenen (»toten«) Welt des Jugendstils verstehen läßt, daß dabei aber die Lösungsformel dieser Kunstsprache auf die außerästhetische Welt projektiv übertragen wird. Es ist die Geburt einer Welt der Gerechtigkeit aus dem ästhetischen Geist des Jugendstils. Die Verknüpfung ästhetischer mit ethischen Formen, von Poesie und Gesetz erscheint als kühner Versuch, die Aufteilung und Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die die Entwicklung im 19. Jahrhundert charakterisiert, wieder aufzuheben. Daß dabei 1M
So schreibt ζ. B. Arthur Schnitzler in einem Brief an Beer-Hofmann: »Im vierten Kapitel steckt übrigens irgendwo ein frecher Schwindel - das dürfte Ihnen nicht unbekannt sein. Sie setzen sich sozusagen plötzlich an eine andere Orgel, die auch herrlich klingt - aber das beweist nichts.« (A. Schnitzler, Briefe 1 8 7 5 - 1 9 1 2 , S. 380)
143
das Ästhetische eine hervorragende Rolle spielen sollte, hatte Georg Simmel ausdrücklich postuliert - die Befreiung der Kunst von mimetischen Zwängen ermögliche dieser, eine eigene Welt zu schaffen, in der die Atomisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ästhetisch zu überwinden sei. Einer solchen Ästhetiktheorie fühlten sich im übrigen auch darstellende Künstler wie Paul Cézanne verpflichtet - das Grundanliegen Cézannes in seinem Spätwerk war es, figürliche Kompositionen zugunsten von Landschaftsdarstellungen zurücktreten zu lassen, in denen Grundformen und Strukturgesetze der visuellen Wahrnehmung hervortreten konnten. Sein besonderes Anliegen bestand darin, »die Einzeldinge der Welt als miteinander unerschütterlich verbunden darzustellen«."s Dieser Schritt von der ästhetischen zur kosmologischen Wahrnehmung 116 bleibt jedoch über das Medium der Kunst vermittelt: Das Ästhetische erschließt eine in der außerästhetischen Welt nicht erkennbare Wahrheit, die zunächst im Bereich der Kunst geschaffen werden muß. Es ist nicht die WiederErkenntnis eines ursprünglichen Zusammenhangs - dies wäre das platonische Verfahren der Wiederentdeckung eines Urbilds - , vielmehr erschließt sich der Zusammenhang über die ästhetische produktive Erkenntnis, über die schöpferische Arbeit der Kunst, die die Fragmente wieder zusammenfügt. Bei Proust wird sich der Tod ebenfalls als Möglichkeitsbedingung der ästhetischen Erfahrung und der literarischen Erkenntnis erweisen." 7 Lange vorher schon hat Beer-Hofmann diese Form der Erkenntnis seinem Roman eingeschrieben. Er hat sich damit eine Grundauffassung Simmeis ästhetisch zu eigen gemacht: dadurch, daß der Tod durch die Natur als Grenze mitgesetzt sei, erhalte das Leben eine Form.11*
5.7 Der jüdische Traditionszusammenhang und die Wiedergewinnung der verlorenen Zeit Dieser ästhetisch und episch gewonnene Zusammenhang ist jedoch bei BeerHofmann am Ende darauf angewiesen, sich in den Traditionsstrom einer Gemeinschaft zu versenken, die ihre Kontinuität gerade in der größten Zersplitterung und Zerstreuung bewiesen hat. Insofern beschreibt das vierte Kapitel den Schritt aus der bewußtseinsimmanenten Welt in die Geschichte. Die Gemeinschaft des Judentums ist es, die sowohl in der Verbindung der Generationen untereinander als auch in ihrer geistig-religiösen Tradition ihren Zusammenhalt durch die Jahrhunderte bekräftigt hat: »Vorfahren, die irrend, den Staub aller
116 117
"8
K. Badt, Das Spätwerk Cézannes, S. 1 1 . Vgl. H . R . Jauß, Negativität und Identifikation, S. 293. Vgl. Einleitung, 1,2. Vgl. V,2.
144
Heerstraßen in H a a r und Bart, zerfetzt, bespieen mit aller Schmach, wanderten; alle gegen sie, von den Niedrigsten v e r w o r f e n - aber nie sich selbst verwerfend« (S. 621). Was hier beschrieben wird, ist das Beharrungsvermögen eines Selbstbewußtseins, das sich nicht individualistisch, sondern über die G e meinschaft konstitutiert. Die Gemeinschaft des jüdischen Volkes schafft einen Zusammenhalt, der die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung nicht ausschließt. Leitmotivisch kehrt in diesem letzten Kapitel die Metapher des Blutes wieder, das als materielles Zeichen f ü r die Verbundenheit der Generationen untereinander anzusehen ist. Wenn Paul am Ende deutlich »das Schlagen seines eigenen Blutes« spürt (S. 624), so ist dies eine Konkretisierung nicht nur seiner biologischen, sondern auch seiner geistigen Verwandtschaft mit dem jüdischen Volk. Dieser geistige Traditionszusammenhang, den der R o m a n am Ende beschwört, ermöglicht Paul die Ö f f n u n g f ü r eine bewußtseinstranszendente Welt, die seinem ästhetischen K o s m o s bis dahin fremd geblieben war. Paul erblickt Straßenarbeiter, deren Schritten er sich schließlich anschließt: Arbeiter standen bis zu den Hüften im Boden. Er sah nur die Umrisse der Grabenden, die Linie der vielen gebeugten Nacken und Rücken und der Arme, die, aus dem Boden wachsend, Spitzhauen schwangen und schmetternd niederfallen ließen. Manchmal fiel von unten ein roter, flackernder Feuerschein verzerrend über die Gesichter. Ein Trupp abgelöster Arbeiter, ihr Werkzeug auf den Schultern, ging mit schweren Schritten vor Paul einher [...] Langsam ging er hinter ihnen, unbewußt in den schweren Takt ihrer Schritte verfallend. (S. 6z}f.) Die Berufung auf eine Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft mag in der ästhetischen Konstruktion dieses Romans wie ein Fremdkörper erscheinen. Beer-Hofmann wollte darauf hinweisen, daß die drohende Vernichtung des Einzelnen letzten Endes nicht nur durch die Gesetzmäßigkeit ästhetischer oder ethischer Formen, sondern v o r allem durch die Integration in gemeinschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge überwunden werden könne. Ästhetisch mag dies recht gewaltsam und wenig überzeugend erscheinen. E s sollte jedoch nicht übersehen werden, daß der Gottesbegriff hier nicht als »Deus ex machina« eingeführt wird, vielmehr in seiner produktiven Entwicklung sichtbar gemacht wird, so daß er in seiner »poietischen« Qualität durchaus den ästhetischen Produktionen vergleichbar ist: »Und langsam ihren G o t t von O p fern und Räucherungen lösend, hoben sie ihn hoch über ihre Häupter, bis er, kein Kampfesgott von Hirten mehr - ein Wahrer allen Rechtes -
über
vergänglichen Sonnen und Welten, unsichtbar, allem leuchtend, stand.« (S. 622) Die Entwicklung von einem mythischen zu einem nachmythischen, abstrakten Gottesbegriff wird somit als produktive »Arbeit am M y t h o s « (als Bewußtseinsprozeß) dargestellt. Z u m anderen ist die Erkenntis des »Gesetzes« an die Aisthesis, an eine ästhetische Wahrnehmung gebunden, die einer abstrakten Erkenntnis entgegengeordnet ist. Der Zusammenhang der Dinge erschließt »45
sich nicht einer begrifflichen Erkenntnis; er ist vielmehr Ergebnis einer produktiven ästhetischen Wahrnehmung. Dieses Erkenntnismuster wird zu Beginn des vierten Kapitels allem weiteren vorgegeben. Die Einleitung dieses Kapitels hat somit geradezu programmatischen Charakter. Sie verdeutlicht die ästhetische Qualität der Erkenntnis als entbegrifflichtes Sehen. Am Anfang des Spaziergangs, den Paul im Park von Schönbrunn unternimmt, steht der Wunsch, sich der begrifflichen Erkenntnis zu entledigen, da diese die Wahrnehmung der Formen, die sich nun klar abzeichnen, gerade behindert: »selbst seine Gedanken waren ihm dann zu viel, und schienen hindernd und schwer zwischen ihn und die milde herbstliche Klarheit sich zu drängen, die ihn umgab« (S. 600). Diese Klarheit, in der die Dinge nun deutlich konturiert erscheinen und das Gesetz ihrer Formen für den Beobachter erkennbar wird, erweist sich als Kontrafaktur zu der verschwommenen Landschaft, die Paul am Ende der Zugfahrt vom Fenster aus wahrnahm. Dort hatte es geheißen: »An den Wipfeln ferner Bäume und über dem breiten grauen Fluß hingen Nebel [...] Dahinter schwammen im Dunst niedere Hügelketten.« (S. 599) Nun präsentiert sich die Landschaft dem Blick in klaren, abgegrenzten Linien: Von den Bäumen war schon ein wenig Laub gefallen; wo sonst grüne Massen wirr ineinanderquollen, entwirrten sich Stämme, und man verstand ihren Wuchs, ihr Verzweigen, wie sie zueinander sich neigten oder, dem beherrschenden Schatten anderer entweichend, sich dem Licht entgegenbogen. [...] Die Fernen schwammen nicht im Dunst; in sicheren Linien schieden sie sich von den Wolken. Klar schien sich alles um ihn zu gliedern. Wie es sich sonderte und stufte, erkannte er die Zusammenhänge. Was ihn umgab, begriff er so, als übersähe er es aus der Ferne. Das Einzelne bestach nicht mehr. Gerechter als vorher, vermochte er im stillen klärenden Licht des Herbstes den stummen Willen der Landschaft zu erfassen, durch die er schritt, und ihr Gesetz. (S. 600; Hervorh. J. P.)
Die produktive Tätigkeit des Wahrnehmenden ist der Erkenntnis der Zusammenhänge vorgeordnet. Im Fortgang dieses letzten Kapitels wird denn auch die »mémoire involontaire« sich die verlorene Erinnerung (welche die Erinnerung an den Tod impliziert) aneignen und damit erst zur Erkenntnis des »Gesetzes« fähig sein. Diese literarische Erinnerungsarbeit ist es, die den Fluß der Zeit umkehrt und im epischen Erzählen, das über die drei Dimensionen der Zeit verfügt, die Erkenntnis hervorzubringen vermag. Die Visualität der jugenstilhaften Bilder entzieht sich den Dimensionen des Raumes, der Zeit und der Geschichte; im vierten Kapitel wird dieser ästhetischen Wahrnehmung die zeitliche Dimension wieder hinzugefügt, die in der Wiederaneignung der verlorenen Erinnerung die Erkenntnis eines übergreifenden, gesetzmäßigen Zusammenhangs ermöglicht. Der Zusammenhang entsteht nun aus der Zeitlichkeit des Erzählens - auch die religiöse Komponente wird ja als narratives Element, als Geschichte des jüdischen Volkes, eingeführt: Der Zusammenhang ist episch geboren, ein aus der Zeit entstandener Sinn. Als ob der Tod die reine Innenperspektive des Bewußtseins aufgesprengt 146
hätte, findet die Erzählung nun zur »alten« Erzählzeit und zur Sukzessivität des auktorialen Erzählens zurück: Paul schritt langsam dem Ausgang zu. Er hatte Georg lieb gehabt; und jetzt blieb von seinem Empfinden nichts als eine Erinnerung, über die Trauer wie ein leichter Schleier gebreitet war. Um Georgs Tod hatten quälend seine Gedanken sich gerankt und, ohne seinen Willen, war für ihn daraus etwas erwachsen, was seinem Leben Zuversicht gab. [...] Paul trat durch das Gittertor des Schloßhofes ins Freie. (S. 623; Hervorh. J. P.)
Das Erzählexperiment ist zu Ende. Die verlorene Zeit ist wiedergewonnen, der Tod aufgehoben im Erzählen. 5.8 Die Korrelation von Bewußtseins- und Erzählstrukturen Die Wiedergewinnung der verlorenen Erinnerung bewirkt die Wiedergewinnung der Zeit des Erzählens: Aus dem haltlosen Fluß der Eindrücke entsteht durch die Integration der Erinnerung an den Tod ein Erzählen in den Koordinaten von Raum und Zeit. Die Gewinnung dieses neuen epischen Zusammenhangs ist gebunden an die Anerkenntnis des Todes, die aber wiederum aufgehoben ist in dem ästhetisch und ethisch begründeten Zusammenhang. Es erscheint fast wie ein Vorausgriff auf Heideggers Existentialontologie, wenn der nahende Tod hier nach Maßgabe des Erzählers eine »Vereigentlichung« der Existenz bewirkt: »Langsam schien sie seiner Herrschaft zu entgleiten. Wie sie schlafend dalag, war aus ihren Zügen alles gelöscht, was nicht ihr eigen gewesen.« (S. 564) Diesem neugewonnenen epischen Zusammenhang entspricht eine Transformation der narrativen Strukturen am Ende. Aus der formlosen Masse der Eindrücke, die wie aus Träumen auftauchen, in ungeordneter Folge sich ablösen und »wie Sand zwischen den Fingern« zerrinnen, löst sich eine klar erkennbare Form, die in ein episch gerundetes Erzählen mündet. Es ist eine Rückkehr zum »alten« Erzählen (im Sinn Benjamins), in dem aber die »modernen« Erzählformen - insbesondere die imaginative, traumlogische, produktive Form des Erzählens - aufbewahrt sind. Nach dem Durchgang durch das Labyrinth des Bewußtseins und die »rettenden« Formen visueller Darstellungen eignet sich der Roman am Ende die Raum- und Zeitstruktur epischen Erzählens wieder an. Der Text erweist sich als bemerkenswerter Versuch, das große Thema der Jahrhundertwende, das Thema der Vergänglichkeit und des Todes, formalästhetisch zu verarbeiten.
147
6. Der erzählerische Kontrapunkt: Arthur Schnitzlers Sterben Gemessen hieran ist Schnitzlers Auseinandersetzung mit diesem Thema von ganz anderer Art. Seine Erzählung Sterben,119 erschienen 1894, nur wenige Jahre vor Beer-Hofmanns Roman, ist ein weiterer repräsentativer Prosatext der Wiener Moderne; er verdeutlicht die Pluralität der Stilmittel und der literarischen Absichten dieser Zeit bei einer gleichzeitigen relativen Einheitlichkeit der thematischen Entwürfe. Schnitzlers Erzählung ist weniger fein ziseliert, traditioneller in der formalen Verarbeitung, aber »moderner« in der inhaltlichen Durchführung - ein Vorgriff auf thematische Einlassungen, wie sie vor allem für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmend geworden sind. Zieht das Thema von Sterben und Tod bei Beer-Hofmann eine Reihe formalästhetischer Innovationen nach sich, so geht es Schnitzler in der Erzählung Sterben um die schonungslose Seelenzergliederung mit literarischen Mitteln. Wird bei Beer-Hofmann der Tod zum Mittel der Erkenntnis, so geht es Schnitzler um die Erkenntnis des Todes und deren Wirkungen auf das Bewußtsein des Menschen. Beide Autoren kreisen um die Verdrängung des Todes, um seine Integration ins Bewußtsein und um die völlige Isolation, in die er das wahrnehmende Bewußtsein stößt; beide arbeiten dem Verlust seiner Erinnerung entgegen. Schnitzlers Text ist im eigentlichen Sinn eine Anti-Verdrängungsgeschichte, ein schonungsloser Text der Aufklärung und der Desillusionierung, der konsequenten psychologischen Analyse. Die Mittel, mit denen Beer-Hofmann das bedrohliche Thema aufzufangen vermag, stellt Schnitzler seinen Lesern nicht mehr zur Verfügung: etwa den Rückgriff auf mythische und religiöse Gesetze und Formen, die den Einzelnen seiner Verlorenheit und seiner Beziehungslosigkeit entreißen, den Trost ästhetisch produzierter Zusammenhänge, die sich auf die lebensweltlichen Zusammenhänge übertragen. Sein Text ist »modern« in dem nüchternen Sinn der Verabschiedung traditioneller Wert- und Sinnhorizonte: Der Tod enthüllt die letzte Einsamkeit des Menschen in der Gesellschaft, er läßt Bindungen zerbrechen, zerschlägt humanitäre Werte und metaphysische Lebensbegründungen. So wird er zum Hohn auf den neuzeitlichen Versuch des Subjekts, sich selbst als letzte und absolute Instanz der Erkenntnissicherung zu begreifen. Ein Sinn ist ihm nicht mehr zuzuordnen. Auch in Schnitzlers Text finden sich intertextuelle Verweise, die traditionelle Bewältigungsformen - ästhetischer wie existentieller Art - evozieren, doch sie werden in parodistischer Absicht aufgerufen und als illusionär entlarvt. So operiert Schnitzler mit konventionalisierten Sprechweisen über den Der Text der Erzählung wird zitiert nach den Gesammelten Werken in ben, Das erzählerische Werk Bd. 1, Frankfurt/M. 1989, S. 9 8 - 1 7 5 . 148
Einzelausga-
Tod, 120 er stattet seine Figuren mit der romantischen Sehnsucht nach einem gemeinsamen Tod aus und läßt sie in idyllische Regionen außerhalb der Angst und der Zeit entfliehen. Doch nur, um all diese ästhetischen und gedanklichen Gebäude wie Luftschlösser zusammenbrechen zu lassen. Mit Schnitzler setzt ein anderes Schreiben über den Tod ein: Nicht die ästhetische Durchdringung, die literarisch-ästhetische Bewältigung der Zeitlichkeit und des Todes ist in seinen Texten das Ziel, vielmehr die Aufdeckung menschlicher Triebstrukturen und ideologischer Uberblendungen. Bestimmend ist der Verlust jedes utopischen Horizonts, jedes ideellen Trostes. Die für die Epoche der Fortschrittsgläubigkeit so charakteristische Flucht vor dem Tod wird hier nüchtern, mit fast wissenschaftlichem Blick, konterkariert. Das Geschehen in Schnitzlers Erzählung berührt sich in mancher Hinsicht mit dem zweiten Kapitel von Beer-Hofmanns Roman; eine Einflußnahme auf den Tod Georgs ist vermutet worden. 121 In beiden Texten geht es um die Auseinandersetzung mit dem nahenden Tod und die Reaktionsweisen eines (aus der Innenschau vermittelten) Bewußtseins. Auch Schnitzler, dessen Erzählung 1894 zum erstenmal veröffentlicht wurde, benützt streckenweise die Technik der erlebten Rede, um die Erzählung personal zu perspektivieren. 122 Doch der Erzählverlauf und die Anlage von Schnitzlers Erzählung machen den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Texten deutlich. Einem jungen Schriftsteller mit dem verheißungsvollen Namen Felix schon der Name bedeutet hier einen Bruch zwischen Erwartung und Erfüllung - wird mitgeteilt, daß er höchstens noch ein Jahr zu leben habe. Sein zunächst hellsichtiger, aber auch selbstquälerischer Blick nimmt imaginativ die Zukunft vorweg: »Es ist etwas so Unbegreifliches, nicht wahr? Denk' einmal, ich, der da neben dir hergeht und Worte spricht, ganz laute, die du hörst, ich werd' in einem Jahr daliegen, kalt, vielleicht schon vermodert.« (S. 103) Seine Geliebte Marie reagiert mit Erschütterung, aber auch mit der Versicherung ewiger Treue auf diese Nachricht. In ihre Liebesbekundungen mischen sich Schwüre, mit ihm in den Tod zu gehen: »Ohne dich werde ich keinen Tag leben, keine Stunde.« (S. 102) »Ich hab' mit dir gelebt, ich werde mit dir sterben. ... Nie, nie werd' ich dich verlassen.« (S. i04f.) Wie in einem psychologischen Experiment läßt der Autor seine beiden Figuren verschiedene psychologische Stadien der Konfrontation mit dem Tod durchlaufen, bis alle traditionellen Bewältigungsformen in sich zusammenstürzen. 120 121
So auch Th. Anz, Der schöne und der häßliche Tod, S. 426. Vgl. S. Scherer, Richard Beer-Hofmann, S. 467. Scherer geht allerdings auch davon aus, daß Der Tod Georgs wiederum Schnitzler und dessen Monolognovelle Leutnant Gusti beeinflußt habe. D. S. Low hat nachzuweisen versucht, daß Schnitzler hier zum erstenmal in seiner Prosa die Form der erlebten Rede und des inneren Monologs anwendet (Schnitzler's Sterben. A Technique of Narrative Perspective, 1974)·
149
A m Anfang steht die heroische Reaktion auf das Unausweichliche: Es ist eine Reaktion aus dem Vorratshaus der Philosophen und Dichter, insbesondere der romantischen Poesie; am Ende steht die alle Vorsätze und Strategien auflösende nackte Angst vor dem »nahenden Tod« (»Nahender Tod« war ursprünglich als Titel der Erzählung vorgesehen). Die heroische Haltung des hellsichtigen Philosophen wird zur Pose und erweist sich als austauschbares Versatzstück, dem keine innere Uberzeugung entspricht: »Wenn man philosophisch über die Sache denkt, so ist es nicht so fürchterlich ...« (S. 104). Gegenüber dem befreundeten Arzt reagiert Felix mit einem Repertoire von idées reçues: »Es handelt sich jetzt nur darum, das letzte Jahr so weise als möglich zu verleben. Du wirst schon sehen, mein lieber Alfred, ich bin der Mann, der lächelnd von dieser Welt scheidet.« (S. 108) Auch gegenüber der Geliebten tritt Felix als Stoiker auf, der gelassen sein Lebensende herannahen sieht: »der Gedanke an den nahen Tod macht mich, wie andere große Männer auch, zum Philosophen.« (S. 1 1 3 ) Bevor Schnitzler den sukzessiven Zusammenbruch dieser Überlegenheit vorführt, läßt er das junge Paar zur Erholung an einen idyllischen Seeort reisen, der alle erdenkbaren Attribute idyllischer Regionen bereithält: »hinter dem Hause stiegen die Wiesen hügelig hinan, weiter oben lagen Felder in Sommerblüte.« (S. 109) In dieser abgeschiedenen Welt, so heißt es weiter, »war ein wunderbarer Friede über sie gekommen, den sie selber kaum begriffen.« (ebd.) Die Beschreibung des idyllischen Lebens entspricht der literarischen Idyllentradition: 123 Der abgegrenzte Raum, die kleinräumige Welt, der Rückzug aus der Gesellschaft, das geborgene Glück, der Stillstand der Zeit - all diese Topoi finden sich fast zitathaft im Text wieder: »die Zeit stand stille. Und sie waren allein. N u r umeinander kümmerten sie sich, der Wald, der See, das kleine Haus - das war ihre Welt.« (S. 1 1 7 ) Auch der Anfang der Erzählung hatte bereits von der Flucht aus der Zeit gesprochen - in dem Augenblick, als Felix, mit der Unglücksbotschaft beladen, in der hereinbrechenden Abenddämmerung seiner Geliebten begegnet (»ich habe ganz vergessen, auf die Uhr zu sehen«, S. 98). Die Abgeschiedenheit erscheint in den Erzähler-Konnotationen von Anfang an als Flucht. Die »erquickende Einsamkeit« ist aus dem Stoff von Romanen gemacht, die dem Leser ein eskapistisches Glück vorgaukeln: »hier, in den neuen Verhältnissen, galt nichts mehr von dem, was in einer anderen Welt über sie verhängt worden.« (S. 1 1 0 ) Mit fast klinischer Präzision leuchtet Schnitzler die verborgenen seelischen Nischen seiner Figuren aus, verdeutlicht ihre wachsende Einsamkeit und Entfremdung schon erzähltechnisch durch eine Verschiebung vom Dialog zum (inneren) Monolog, der in der zweiten Hälfte der Erzählung signifikant zunimmt. Die Gereiztheiten zwischen den Partnern wer}i>
Vgl. R. Böschenstein-Schäfer, Idylle, S. 13.
150
den häufiger, abwechselnd bestimmen Verleugnung, Schuldgefühle, G e f ü h l e der Gleichgültigkeit und des Hasses die Beziehung zwischen den beiden. In die entsagungsvolle und aufopferungsbereite Liebe Maries bricht das Bedürfnis nach einem neuen Leben, während das Mißtrauen und der N e i d auf seilen des Kranken wachsen. D e m Blick Maries aus dem Fenster folgt der G a n g ins Freie, der mit einem G e f ü h l großer Erleichterung verbunden ist: Da stand sie nun auf der Straße, und nach einem raschen Gang durch ein paar stille Gassen gelangte sie zum Parke und war froh, wie sie zu ihren Seiten Sträucher und Bäume und oben den dämmerblauen Himmel schaute, nach dem sie sich so lange gesehnt hatte. [...] Vergeblich suchte sie sich zu überreden, daß all dieses Leben um sie etwas Nichtiges, Vergängliches sei, daß nichts daran gelegen wäre, daraus zu scheiden. Sie konnte das Wohlbehagen, das allmählich in sie zu dringen begann, nicht aus ihren Sinnen treiben. (S. i49f.) Schließlich gewinnt der Wunsch des Kranken die Oberhand, seine Freundin gewaltsam mit in den Tod zu nehmen - dieser Wunsch vermittelt sich dem Leser durch lange innere Monologe. Dabei nimmt die Phantasie Anleihe bei romantischen Liebestoden, die als Schablone f ü r den Tötungswunsch herhalten müssen: »Er hatte zuweilen ein Bild vor sich in romantischen Farben: wie er ihr den Dolch ins H e r z stoßen wollte.« (S. 1 3 5 ) Diese romantischen Versatzstücke zerbrechen unter der H a n d und verwandeln sich in Bilder unverhohlenen Schreckens: »Aber es erschien ihr nicht das Bild eines zärtlichen Jünglings, der sie an seiner Seite betten mochte für die Ewigkeit. Nein, ihr war, als risse er sie zu sich nieder, eigensinnig, neidisch« (S. 149). Die Phantasie verwandelt sich in Wirklichkeit: Der v o m Tod Gezeichnete versucht seine Geliebte zu erwürgen, um sie mit sich in den Tod zu nehmen und so der Angst vor der letzten Einsamkeit zu entgehen. Die romantische Poesie des Todes, die am A n f a n g in den Gesprächen und Gedanken der Figuren noch anklang, wird im Verlauf der Erzählung zunehmend konterkariert. Das Lebensende ist nicht mehr romanhaft ästhetisierbar, das Wissen um den Tod erscheint als heillose Uberforderung, in der das erreichte Soziale und die humanen Umgangsformen in sich zusammenstürzen. Alle traditionellen Bewältigungsstrategien versagen. Es bleibt nichts als die nackte, ungeschminkte Angst vor dem einsamen Verlöschen, das die schon bestehende soziale Einsamkeit in eine letzte und absolute überführt und das keinen anderen Trost mehr bereithält als die Freude der Uberlebenden, noch nicht zu sterben. Schnitzlers Erzählung ist ein radikales Stück Aufklärungsliteratur, eine »Nervenkunst«, 1 2 4 124
Hermann Bahr hat in seinem Aufsatz ¿ur Überwindung des Naturalismus diese Überwindung in einer neuen Kunst der »Nerven« gesehen: »wenn die Moderne Mensch sagt, so meint sie Nerven. [...] Ich glaube also, daß der Naturalismus überwunden werden wird durch [...] eine Mystik der Nerven.« (Zur Uberwindung des Naturalismus, S. 87) Die »Nervenkunst« wird zu einem Synonym der Kunst der Moderne, die auf die verändert wahrgenommene Wirklichkeit mit entsprechenden künstlerischen Verfahrensweisen reagiert. M'
die die Seelenregungen bis in verborgene Winkel hinein enthüllt und die Strukturen der mauvaise foi und der Selbsttäuschung offenlegt. Was die Erzählung freilich auch widerspiegelt, ist die moderne Erfahrung einer Unumkehrbarkeit der sich stets beschleunigenden Zeit, verbunden mit einer obsessiven Zukunftsorientierung, die keine Aneignung der Vergangenheit mehr erlaubt, der völlige Verlust sozialen Zusammenhalts und symbolischen Austausches, der Umschlag der extremen Individualisierung in Isolation, die der nahende Tod in ihrer ganzen Inhumanität ins Licht setzt. Auch die literarischen Mittel, die der Text verwendet, dienen der Veranschaulichung dieser Isolationserfahrung: Der Preis, der für die Idylle bezahlt werden muß, ist die Abschottung von der gesellschaftlichen Realität - der Rückzug in ein gesellschaftsloses Glück erweist sich als brüchig und illusionär. Der innere Monolog, der sich im Verlauf der Erzählung ins Monologische, Paranoide steigert, ist Ausdruck einer Subjektivität, die den Kontakt zur Realität, bis hin zum psychotischen Versinken, verloren hat. Besonders auffällig ist die Abwesenheit von Erinnerungen und Träumen in der Erzählung: Die obsessive Orientierung an der bedrohlichen Zukunft korreliert mit der fehlenden erzählerischen Aneignung der Vergangenheit ebenso wie mit dem Mangel an erfüllter Gegenwärtigkeit. Die erzählte Zeit, die einer unerbittlichen Chronologie folgt, ist irreversibel geworden: Die Wiedergewinnung der verlorenen Erinnerungen, die das Leben episch abrunden könnten, hat sich dem Horizont des Erzählens entzogen. Dem Verlust der Erinnerungen entspricht ein Utopieverlust: Beides führt zu einer Vernichtung der gestundeten Zeit. Die Erzählung weist weder ironische noch allegorische Sinnschichten auf, die auf einen Horizont jenseits des Ausgesagten verweisen könnten; so verdeutlicht der Text auch in seinen Erzählstrukturen das dicht gewordene Gewebe der Immanenz, aus dem es für die monologischen Existenzen keinen Ausweg mehr gibt. Bei aller thematischen Nähe haben sich Beer-Hofmanns Roman und Schnitzlers Erzählung weit voneinander entfernt. Und doch sind sie Produkte derselben Zeit, Reaktionen auf ähnliche Konstellationen und Beunruhigungen. Beide sind geprägt von einer Auseinandersetzung mit Phänomenen der Moderne, auf die sie unterschiedliche literarisch-ästhetische Antworten bereithalten. Während Beer-Hofmanns Roman das bedrohte Subjekt noch in einem übergreifenden, ästhetisch ebenso wie ethisch begründeten Zusammenhang aufzuheben vermag, entwirft Schnitzler eine sich im Monologischen immer mehr verschließende Welt des Bewußtseins, die keine epische Gerundetheit, keine erfüllte, in der Erinnerung umkehrbare Zeit mehr zu kennen scheint. Vorweggenommen sind damit Formen der Auseinandersetzung mit Tod und Vergänglichkeit, wie sie besonders die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg prägen: Der Tod wird als das Sinnlose schlechthin erscheinen, das die Zeit und die 152
Erinnerung vernichtet und das Leben nicht etwa zur Eigentlichkeit oder zu neuer Intensität befreit, sondern ihm noch den letzten Sinn raubt. Quellen neuer poetischer Darstellungsformen vermag der Tod nicht mehr aufzuschließen - abgesehen von einer ausgeprägten Ästhetik des Schreckens. Dennoch berührt sich Schnitzlers Text mit Beer-Hofmanns Roman insofern, als auch er von jener negativen Dialektik geprägt ist, die in der Darstellung des Negativen den Anspruch auf seine Uberwindung enthält: auf ein ganzes, in der Zeit erfülltes und gerundetes Leben.
153
VI. Der Tod in der Menge und die traumhafte Welt: Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge,1 Heinrich Heine, Ernst Jünger und Franz Kafka Der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. R. M. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
In Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge tritt die ästhetische Aneignung des Todes in ein neues Stadium. Der Roman nimmt einen vorrangigen Platz ein im Kontext der neuen Wahrnehmungsweisen der Moderne und des Massenphänomens der Großstadt. Wie das Kunstwerk nun seine auratische Funktion, seine Einzigartigkeit und Unnahbarkeit zunehmend verliert und im Zuge der »technischen Reproduzierbarkeit« (Benjamin) zu einem Massenartikel zu werden droht, so verliert analog dazu der Tod seine Bedeutung als »Formgeber« des Lebens. Auch er verändert sein Gesicht im neuen Kontext der Massen und der Massenproduktion. Er wird zur Allegorie der Entfremdung. Dieser Prozeß ist in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge deutlich ablesbar. Dem Text Rilkes kommt nicht nur eine Durchbruchsfunktion in der Entwicklung des modernen Romans zu, er enthält auch einen prophetischen Vorgriff auf die Szenarien der Weltkriege, auf den massenhaften Tod und die »Ästhetik des Schreckens« (Bohrer),2 die das 20. Jahrhundert kennzeichnen. In ihm werden die problematischen Versuche Ernst Jüngers, dem Tod inmitten der Materialschlachten des Weltkrieges eine heroische Dignität zu verleihen, im vorhinein desavouiert. Hatte Keller in seinem Roman die grüngebundene Jugendgeschichte dem Totenschädel assoziiert, so setzt Rilke umgekehrt den Verfall des Erzählens in ein analogisches Verhältnis zu dem Verlust der Erfahrung, der Erinnerung und des »eigenen« Todes. Der Widerstand gegen die Modernität, die der Roman enthält, ist freilich dieser Modernität selbst inhärent,3 deren Prozeß er reflexiv und kritisch begleitet. Die allegorische Bedeutung des Todes mit ihrer scheinzerstörenden Funktion geht über in eine parodistische: Der Tod wird zur Parodie der Moderne.
' Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge werden nach Bd. 6 der Sämtlichen Werke, hg. vom Rilke-Archiv, zitiert (Seitenzahlen fortlaufend im Text). 2 So lautet der Titel einer Untersuchung von Karl Heinz Bohrer aus dem Jahr 1978. 3 So H. Rudolph, Kulturkritik und konservative Revolution, S. 1.
154
ι. Die Veränderung der Wahrnehmungsqualitäten Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge spiegelt die radikal veränderte Wahrnehmung einer Wirklichkeit wider, die dem verstehenden Blick des Einzelnen zu entgleiten droht. Dieser »Unfaßlichkeit« der Wirklichkeit4 wird das alte Erzählen nicht mehr gerecht, das noch ein bestimmtes Maß an Verstehbarkeit und Kohärenz der Lebenswelt voraussetzte. Wie die Regionen der Moderne bieten sich die Textlandschaften nun als zersplitterte dar, als Konglomerat von Fragmenten. Rilkes Malte reagiert höchst sensibel auf den »Chock« der Moderne, dem das Subjekt in der Großstadt ausgesetzt ist. Dieser Erfahrungsschock läßt sich mit den Mitteln des zeitlich geordneten, auktorialen Erzählens nicht mehr bewältigen. In einem »Briefentwurf« bringt der Erzähler Malte die neue Erfahrung als Mischung von Faszination und Schrecken zum Ausdruck: Ich bin in Paris, die es hören freuen sich, die meisten beneiden mich. Sie haben recht. Es ist eine große Stadt, groß, voll merkwürdiger Versuchungen. Was mich betrifft, ich muß zugeben, daß ich ihnen in gewisser Beziehung erlegen bin. Ich glaube, es läßt sich nicht anders sagen. Ich bin diesen Versuchungen erlegen, und das hat gewisse Veränderungen zur Folge gehabt, wenn nicht in meinem Charakter, so doch in meiner Weltanschauung, jedenfalls in meinem Leben. Eine vollkommen andere Auffassung aller Dinge hat sich unter diesen Einflüssen in mir herausgebildet, es sind gewisse Unterschiede da, die mich von den Menschen mehr als alles Bisherige abtrennen. Eine veränderte Welt. (S. 774L)
Die veränderte, atomisierte Welt stürzt das wahrnehmende Ich in eine neue Einsamkeit. Die zahllosen, widersprüchlichen Eindrücke ermüden seine Abwehrkraft und transformieren seine Wahrnehmung und sein inneres Erleben. In Maltes Wahrnehmung spiegelt sich jene »Chockerfahrung« wider, die Benjamin in seiner Baudelaire-Studie beschrieben hat. Benjamin geht von dem Begriff des »Chocks« aus, den er in Freuds Essay Jenseits des Lustprinzips vorfindet. Freud spricht darin von dem Reiz-Schutz, den das Ich entwickelt, um seinen inneren Energie-Haushalt vor zerstörerischen äußeren Eingriffen abzuschirmen. »Die Bedrohung durch diese Energien ist die durch Chocks. Je geläufiger ihre Registrierung dem Bewußtsein wird, desto weniger muß mit einer traumatischen Wirkung dieser Chocks gerechnet werden.«5 In der psychoanalytischen Theorie wird der traumatische Schock aus der Durchbrechung des Reizschutzes erklärt. Die Reaktion auf die Reizüberflutung besteht in einer veränderten Wahrnehmung, die beständig von Bewußtseins-Prozessen begleitet wird. Die verstärkte und beschleunigte Arbeit des Bewußtseins bewirkt einerseits den Schutz vor traumatischen Schocks,
4 5
O. Gutjahr, Erschriebene Modernität, S. 370. W. Benjamin, Uber einige Motive bei Baudelaire, in: Charles Baudelaire, S. 109.
ISS
verhindert aber auf der anderen Seite, daß die Eindrücke zu Erfahrungen verarbeitet werden können. Diese neue Wahrnehmungssituation hat sich, so Benjamin, der artistischen Arbeit Baudelaires eingeschrieben, in welcher der Einfall des Schreckens aufs Peinlichste registriert wird. Die Figur Makes scheint dieser Situation hilflos ausgeliefert zu sein. Makes Grunderfahrung ist die eines ubiquitären Schrekkens, der die L u f t erfüllt und bis in die innersten Organe vordringt: »Die Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft. D u atmest es ein mit Durchsichtigem; in dir aber schlägt es sich nieder, wird hart, nimmt spitze, geometrische Formen an zwischen den Organen.« (S. 776) Die Sukzessivität der schockartigen Erfahrungen, die keine innere, kaussallogische Verkettung mehr aufweisen, findet ihren literarischen Ausdruck in atomisierten, lose verbundenen Textfragmenten, denen ein erzählerisches Organisationsprinzip nicht mehr anzusehen ist. Impressionen haben sich verselbständigt, das Ich ist zu einem Kreuzungspunkt von Wahrnehmungspartikeln geworden: Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. [...] Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. (S. 710)
Der Zufälligkeit und Disparatheit dieser Eindrücke korrespondiert ein aufgelöstes Ich, das sich selbst abhanden gekommen ist. Diese Auflösungserfahrung bedingt eine allgegenwärtige Angst vor der endgültigen Vernichtung. Das Ich entwickelt eine Reihe von Strategien, um sich als organisierendes Zentrum und damit als den Zusammenhang der Welt wiederzugewinnen. Zugleich versucht es, die Ursachen dieser Auflösung und den Zusammenhangsverlust zu analysieren. Der Versuch cartesianischer Selbstbegründung über die Gewißheit des C o gito erscheint als eine der Versicherungsstrategien Makes, die jedoch schnell die Nichtigkeit der reflexiven Operationen erneut bekräftigt: »Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken« (S. 726). Das Denken verliert sich in der Feststellung gerade der Vergeblichkeit des bisherigen Denkens; den Menschen sei es in all den »Jahrtausenden« nicht gelungen, zur Erfassung der Wirklichkeit der Dinge und ihrer Zusammenhänge vorzudringen: »Ist es möglich, daß alle Wirklichkeiten nichts sind für sie; daß ihr Leben abläuft, mit nichts verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer - ? Ja, es ist möglich.« (S. 727) Die konstatierte Haltlosigkeit des Denkens läßt es auch als fragwürdig erscheinen, gerade in der Selbstreflexivität des erzählerischen Bewußtseins die 156
narrative Lösungsformel des R o m a n s zu erblicken. 6 Das Versagen der Reflexion führt, ähnlich wie in Beer-Hofmanns R o m a n , zu dem Versuch einer ästhetisch vermittelten Wahrnehmung und Erkenntnis: A n die Stelle der Spekulation tritt eine produktive F o r m der literarischen Wahrnehmung. D e r R o man zeichnet den Weg nach, der zu einem »neuen Sehen« (»Ich lerne sehen. Ja, ich fange an.« S. 7 1 1 ) und damit zu einem neuen Schreiben führen könnte: »Dieser junge, belanglose Ausländer, Brigge, wird sich fünf Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht, ja er wird schreiben müssen, das wird das Ende sein.« (S. 728) Das E n d e wäre ein neuer A n f a n g - ein A n f a n g , in dem der Zusammenbruch und der Verlust des Ichs aufgehoben wären. Die Frage ist, ob das Ich unter den Wahrnehmungs- und Erfahrungsbedingungen der Moderne, die in der Großstadt paradigmatisch gegeben sind, zu einer neuen Kohärenz gelangen und ob es sich neue Erzählformen aneignen kann, in denen die veränderte Ausgangssituation zu bewältigen ist. Rilke unternimmt hier ein erzählerisches Experiment, das im Verlauf des Romans sein Scheitern erweisen wird. B e e r - H o f m a n n hat seiner narrativen Versuchsanordnung einen positiven Ausgang gegeben. Rilkes R o m a n läßt jedoch deutlich werden, daß die »formgebende« Bedeutung, die bei B e e r - H o f m a n n dem Tod zukam und die ein zeitliches Erzählen erneut ermöglichte, nur unter vormodernen
Bedingungen
ästhetisch realisierbar ist. Die Ausgangsposition in Rilkes R o m a n hat sich unter den Vorzeichen der Moderne sowohl in bezug auf das erschriebene Selbst als auch auf die Möglichkeit des Erzählens radikal verändert. Die »Formgebung« durch den Tod (und die mit ihm gesetzte Grenze), die f ü r Simmel wesentlich war, ist obsolet geworden, weil eine ästhetische Formgebung im traditionellen Sinn nicht mehr den modernen Wahrnehmungsbedingungen entspricht. Dies wird im einzelnen zu zeigen sein. B e v o r sich Malte seine Kindheits-Erinnerungen narrativ anzueignen versucht, führt sein Weg durch die Katastrophe der Modernität, in der sich zusammen mit der F o r m des Erzählens auch die Wahrnehmung des Todes radikal zu verändern beginnt.
2. Der Tod im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit D i e Bedeutung des Todes als Formprinzip und als »eine der ursprünglichsten Schulen der Hermeneutik« 7 setzt ein empirisches Subjekt voraus, das sich als kohärent erfahren und in seiner Individualität affirmieren kann. Beides sind 6 7
So O. Gutjahr, Erschriebene Moderne, S. 390. W. Wehle, Der Tod, das Leben und die Kunst, S. 221.
157
Bedingungen des von Rilke so häufig verwendeten Topos eines »eigenen Todes«. Im Erlebnisraum der Moderne, den hier die Großstadt Paris absteckt, hat sich die Qualität des Todes signifikant verändert. Daß er obsessive Ängste auslöst, weil er das nach Selbstbeglaubigung strebende Individuum bedroht, ist zur Zeit der Jahrhundertwende nicht neu. Wenn der Roman mit dem Erschrekken vor dem Tod einsetzt, so läßt sich dies noch durchaus in den thematologischen Kontext der Epoche einordnen. Auffällig ist jedoch, daß sich die urbane Welt dem erzählerischen Ich in eine Todeslandschaft verwandelt hat: »So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.« (S. 709) Der programmatische Beginn führt unvermittelt zur Feststellung einer neuen Wahrnehmungsqualität: Der Tod wird für den durchdringenden Blick des Erzählers zu einem Massenphänomen. Und er wird zur Ware im modernen Sinn: im Sinn einer seriellen Reproduzierbarkeit. Die Analogie von Ware und Tod in Rilkes Roman ist unverkennbar, und sie bezeichnet den Ort einer scharfsichtigen, kritischen Analyse des Erfahrungsraums, den die M o derne eröffnet. Die folgende Stelle, die sich auf das Hospital Hôtel-Dieu in Paris bezieht, ist oft zitiert worden. Was dabei wenig beachtet wurde, ist die Vielschichtigkeit der Bilder, die sich als Verdichtung mehrerer Vorstellungskomplexe erweist. Im überformenden Blick des jungen Künstlers Malte verdichtet sich die Erkenntnis, daß in der Hauptstadt der Moderne sich alles zur Ware zu transformieren beginnt. Die Bilder des Todes, der Kunst und der Stadt Paris durchdringen sich gegenseitig. Die geschilderte Transformation des Todes gleicht auf frappierende Weise dem Schicksal der Kunst: Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott, das ist alles da. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist gezwungen: nun, keine Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur. Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehört, die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt, weiß man auch, daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen nichts zu tun). (S. 714)
Im Benjaminschen Sinn könnte man sagen, daß der Tod hier seine Aura verloren hat. Die »Aura« war für Benjamin ein Signum der Einmaligkeit, Einzigartigkeit und Unnahbarkeit des Kunstwerks - Eigenschaften, die alle auf seinen kultisch-religiösen Ursprung zurückverweisen. Diese Herkunft aus dem Ritual begründete den hohen Stellenwert seiner Echtheit und entzog das künstlerische Produkt zugleich dem possessiven Zugriff: der Verdinglichung. Denn das 158
Kunstwerk war die »Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.« 8 Aus diesem Traditionszusammenhang wird das Kunstwerk in der Moderne gelöst, es wird als Ware verfügbar und in seinem Ausstellungswert (im Unterschied zum ursprünglichen Kultwert) bestimmbar. Die neuen Möglichkeiten eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks (Foto, Film, Massenmedien) beschleunigen die Zertrümmerung seiner Aura. Dieses Phänomen steht für Benjamin in unmittelbarem Zusammenhang mit der zunehmenden Bedeutung der Massen: »Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung.« 9 Daß am Kunstwerk die Warenform und an den Rezipienten die Massenform zum Ausdruck kommt, gehört für Benjamin zu den einschneidendsten Veränderungen im 19. Jahrhundert. 1 0 In Rilkes Roman hat der Tod die Eigenschaften assimiliert, die in das Kunstwerk der Moderne einzudringen beginnen: die Warenform und die Massenhaftigkeit. Während bei Baudelaire das künstlerische Subjekt auf diese Veränderungen mit einer heroischen Haltung, mit einer wenn auch melancholisch gefärbten Absonderung reagiert, versucht Malte die Schockerfahrung durch ironische Darstellungsmittel zu bewältigen: Es wäre sehr häßlich, hier krank zu werden, und fiele es jemandem ein, mich ins Hôtel-Dieu zu schaffen, so würde ich dort gewiß sterben. Dieses Hôtel ist ein angenehmes Hôtel, ungeheuer besucht. Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris betrachten ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell wie möglich über den freien Plan dort hinein müssen, überfahren zu werden. Das sind kleine O m nibusse, die fortwährend läuten, und selbst der Herzog von Sagan müßte sein Gespann halten lassen, wenn so ein kleiner Sterbender es sich in den Kopf gesetzt hat, geradenwegs in Gottes Hôtel zu wollen. Sterbende sind starrköpfig, und ganz Paris stockt, wenn Madame Legrand, brocanteuse aus der rue des Martyrs, nach einem gewissen Platz der Cité gefahren kommt. Es ist zu bemerken, daß diese verteufelten kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster haben, hinter denen man sich die herrlichsten Agonien vorstellen kann; dafür genügt die Phantasie einer Concierge. Hat man noch mehr Einbildungskraft und schlägt sie nach anderen Richtungen hin, so sind die Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe auch offene Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck, die nach der üblichen Taxe fuhren: Zwei Francs für die Sterbestunde. (S. 712Í.)
Die ironische Situationsbeschreibung enthält bezeichnende Merkmale: A n die Stelle der Erfahrung tritt die Sensation, an die der unerhörten Begebenheit der serielle Vorfall. Das Vorfahrtsrecht der Sterbenden, denen alle anderen auf dem Platz vor Notre Dame weichen müssen, leitet sich nicht aus deren Dignität her, es handelt sich vielmehr um ein funktional begründetes Privileg, das wie-
8
W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S.15. » Ebd., S. 16. 10
Vgl. Charles Baudelaire, S. 172.
159
derum in der Massenhaftigkeit der Passagiere und Vehikel sich auflöst. »Omnibusse« bewerkstelligen den öffentlichen Verkehr zwischen Leben und Tod. Die Insassen werden keineswegs als Subjekte wahrgenommen, sie sind der Einbildungskraft der Wahrnehmenden ausgeliefert. Der Wert der Sterbestunde bemißt sich nach dem Aquivalenzprinzip des Geldes. Das Besondere verliert sich im Allgemeinen. Mit den Toten-Omnibussen wird das Sterben ein Verkehrsproblem: »ganz Paris stockt«, wenn die Wagen ihre Vorfahrt behaupten. Diese Ablenkung vom eigentlichen Geschehen auf ein akzidentelles, die Diskrepanz zwischen Erhabenem und Banalem ergibt die ironische Wirkung. Indem Rilke den Tod zur Allegorie macht und ihm die Qualität der Warenform zuschreibt, macht er die Allegorie zur Grundlage einer Kritik der Entfremdung. Die falsche Re-Auratisierung des Todes, die ihm die Aureole der Sensation verleiht (man kann sich hinter den Milchglasfenstern »die herrlichsten Agonien vorstellen«) und ihm dadurch eine neue (mythische) Bedeutung zuweist, wird durch dieses allegorische und ironische Verfahren zerstört. Der Tod wird zum Anschauungsobjekt der Entfremdung; er verdeutlicht in seiner allegorischen Bedeutung, daß er aus dem Kontext der Natur und des Subjekts gelöst und mit neuen, willkürlichen Bedeutungen aufgeladen wurde.
3. Toten-Omnibusse: Heines ironische Metaphorik in den Französischen Zuständen11 Diese Darstellungsweise hat - bis in topographische Details hinein - einen literarischen Vorläufer. In Heinrich Heines Französische Zustände (Art. VI) 1 2 wird eine ironische Metaphorik bemüht, um der Pariser Cholera-Epidemie von 1832 literarisch Herr zu werden. Für Heine wird das cholerakranke Paris zu einem Darstellungsraum, in dem Zerrformen der Moderne ins Licht gesetzt werden können. Die allegorische Bedeutungsschicht enthüllt eine verborgene Wahrheit: »Die Salons lügen, die Gräber sind wahr.« 13 Obwohl es sich bei Heines Text um eine journalistische Arbeit handelt er wurde ursprünglich für die Allgemeine Zeitung verfaßt und dann mit den anderen Artikeln als Buch herausgegeben - , ist die literarische Stilisierung unverkennbar. Gerade diese Uberformung macht die Life-Berichterstattung vom Ort des Geschehens, der als »Schlachtfeld« apostrophiert wird, erträglich. Voraussetzung dieser »Kriegsberichterstattung« ist das Aufkommen neuer Kom11
12
Anstöße zu diesem Kapitel bekam ich durch einen Vortrag, den Karlheinz Stierle im Jahr 1992 an der Universität Eichstätt gehalten hat und der in sein Buch Der Mythos von Paris (1994) eingegangen ist (vgl. S. ¿88ff.). Darauf möchte ich dankbar verweisen. Sämtliche Schriften Bd. 3, S. 1 6 4 - 1 8 0 . Ebd., S. 164.
160
munikationsmedien, die den Weg öffnen für eine aktuelle Darstellung der Katastrophe. Die Verbindung von Unmittelbarkeit und distanzierender Ironie machen diesen Text zu einem bemerkenswerten Beispiel moderner literarischer Verarbeitung des Schreckens. Ironisch mißt der Text selbst die Distanz aus zu den berühmten älteren Darstellungen epidemischer Katastrophen: Die folgende Mitteilung hat vielleicht das Verdienst, daß sie gleichsam ein Bulletin ist, welches auf dem Schlachtfelde selbst, und zwar während der Schlacht, geschrieben worden, und daher unverfälscht die Farbe des Augenblicks trägt. Thucydides, der Historienschreiber, und Boccaccio, der Novellist, haben uns freilich bessere Darstellungen dieser Art hinterlassen; aber ich zweifle, ob sie genug Gemütsruhe besessen hätten, während die Cholera ihrer Zeit am entsetzlichsten um sie her wütete, sie gleich, als schleunigen Artikel für die Allgemeine Zeitung von Korinth oder Pisa, so schön und meisterhaft zu beschreiben. 14
Die Unmittelbarkeit der Darstellung erkennt der Autor seinem Text als Qualität zu; zugleich macht er daraus eine Karikatur der durch Tageszeitungen entfachten Aktualitäts- und Sensationsgier. Es erinnert schon fast an modernes Reality-TV, wenn Heine die grauenhaften Schreie einer an Cholera erkrankten Nachbarin schildert, die ihn während der Abfassung seines Artikels stören. 1 ' Diese Anspielungen auf die neue Begierde nach Aktualität und schierer Informationsanhäufung wird in einem vorausgehenden Passus konterkariert, in dem die Nützlichkeit des Versuchs betont wird, »die Gegenwart durch die Vergangenheit zu erklären« und die Vergangenheit aus dem Abstand der Gegenwart zu verstehen. 16 Dieser programmatischen Reflexion folgt Heine auch insofern, als er seinen Augenzeugen-Bericht in einen reflektierenden und kommentierenden Rahmen einbettet, der Betrachtungen über die geistige Entwicklung Frankreichs enthält: »ich will so viel als möglich parteilos das Verständnis der Gegenwart befördern, und den Schlüssel der lärmenden Tagesrätsel zunächst in der Vergangenheit suchen«. 17 In der Buchfassung wird der Artikel überdies durch einen kommentierenden Einschub unterbrochen 18 und am Ende durch eine »Beylage« ergänzt, die geschichtliche Rückblenden auf die französische Revolution enthält. Heines Bericht macht sich somit als Darstellungsprinzip das Changieren zwischen Unmittelbarkeit und distanzierter Betrachtung zu eigen, in dem sich komplementär der Sinn der Geschichte erschließen soll. Wie Malte nicht vor dem Entsetzen flieht, sondern ihm schreibend standhält, so flieht Heine im Unterschied zu Boccaccios Rahmenerzählern nicht vor dem epidemisch sich ausbreitenden Tod. Er verläßt Paris nicht, was auf das Ebd., '> Ebd., 16 Ebd., 17 Ebd., ,8 Ebd.,
S. S. S. S. S.
169. 168. 167. 164. 164. 161
Unverständnis seiner Zeitgenossen stößt.' 9 Daß der Tod hier zum Massenphänomen unvorstellbaren Ausmaßes geworden ist, daran läßt Heine keinen Zweifel: »tausendweise« wirft die Cholera ihre Opfer nieder. 20 Seine Beschreibungen lesen sich wie ein Vorgriff auf die Szenarien der großen Kriege. Immer wieder werden aber die Bilder auch zu Allegorien, die auf Vergangenes zurückverweisen. So wird die Cholera selbst zur allegorischen Figur, die sich Respekt zu verschaffen weiß, indem sie das Volk dezimiert. 21 Der beiläufige Verweis auf Robespierre und Napoleon macht die mythische Naturgewalt des Todes transparent für Geschichte. Unvermittelt erscheint hinter der Epidemie die Epoche der Terreurs: »Es war eine Schreckenszeit, weit schauerlicher als die frühere, da die Hinrichtungen so rasch und so geheimnisvoll stattfanden. Es war ein verlarvter Henker, der mit einer unsichtbaren Guillotine ambulante durch Paris zog.« 22 Sichtbar wird in der Cholera freilich auch der große Jahrmarkt der Moderne, in dem alles, auch der Tod und die Toten, zu einem großen Basar umfunktioniert werden. In einer großen Kaufhalle - Vorläuferin der Passagen, Kaufhäuser und Malis - erinnert sich der Berichterstatter an die Säcke mit Leichen, die hier anstelle der Waren aufgestapelt waren: Als ich vorige Woche [an] einem öffentlichen Gebäude vorbeiging und in der geräumigen Halle das lustige Volk sah, die springend muntern Französchen, die niedlichen Plaudertaschen von Französinnen, die dort lachend und schäkernd ihre Einkäufe machten, da erinnerte ich mich: daß hier, während der Cholerazeit, hoch aufeinandergeschichtet, viele hundert weiße Säcke standen, die lauter Leichname enthielten; und daß man hier sehr wenige, aber desto fatalere Stimmen hörte, nämlich wie die Leichenwächter, mit unheimlicher Gleichgültigkeit, ihre Säcke den Totengräbern zuzählten, und diese wieder, während sie solche auf ihre Karren luden, gedämpfteren Tones die Zahl wiederholten, oder sich grell laut beklagten, man habe ihnen einen Sack zu wenig geliefert; wobei nicht selten ein sonderbares Gezänk entstand. Ich erinnere mich, daß zwei kleine Knäbchen mit betrübter Miene neben mir standen, und der eine mich frug: ob ich ihm nicht sagen könne, in welchem Sacke sein Vater sei? 1 5
Eindringlicher und grotesker läßt sich die Kommerzialisierung des Todes nicht darstellen. Bezeichnenderweise sind es gerade Kinder, die den Leichen-Waren wieder ihr Gesicht zurückgeben und sie aus dem kommerziellen Kontext herauslösen. Die Atmosphäre merkantiler Geschäftigkeit, verbunden mit der Fata' 9 »Wenn ich in einen Salon trete, sind die Leute verwundert, mich noch in Paris zu sehen« (S. 175). Der Autor liefert zuvor eine Erklärung für sein Ausharren in der cholerakranken Stadt: »Ein mehr körperliches als geistiges Unbehagen, dessen man sich doch nicht erwehren konnte, würde mich mit den andern Fremden ebenfalls von hier verscheucht haben; aber mein bester Freund lag hier krank darnieder. Ich bemerke dieses, damit man mein Zurückbleiben in Paris für keine Bravade ansehe.« (S. 168) 20
Ebd., Ebd., 22 Ebd., 2 ' Ebd., 21
162
S. S. S. S.
169. 169Í. 168. i68f.
lität eines rein numerischen Umgangs mit den Dingen, wirft ein grelles Licht auf die rechnerische Attitüde einer rationalistisch bestimmten Form von Moderne. Hier herrscht die kühle Ordnung des Additiven vor, die die Ordnung des Todes ist: »l'ordre règne à Paris [...] Eine Totenstille herrscht in ganz Paris.« 24 Die Toten aber enthüllen als allegorische Gebilde die Wahrheit: »Aber ach! die Toten, die kalten Sprecher der Geschichte, reden vergebens zur tobenden Menge«. 2 ' Heines Bericht macht in fortlaufender Steigerung die Entpersonalisierung der Toten sichtbar. Aus den anfänglich wahrgenommenen Gesichtern werden abstrakte Zahlen. Die ersten Opfer der Cholera sind Arlequine, die, in individueller Auflehnung gegen die mythische Gewalt, »die Furcht vor der Cholera und die Krankheit selbst verspotteten«. 26 Die karnevaleske Revolte, in welcher der Krankheit mit lachendem Gesicht getrotzt wird, erstickt die Cholera im Keim: Unter der Karnevalsmaske kommt ein »veilchenblaues Gesicht« zum Vorschein. Im Hôtel-Dieu, in das die Erkrankten eingeliefert werden, sterben sie sofort. Sie werden so geschwind beerdigt, »daß man ihnen nicht einmal die buntscheckigen Narrenkleider auszog, und lustig, wie sie gelebt haben, liegen sie auch lustig im Grabe.« 27 Das lustige Gelächter verstummt von diesem Tag an. Schneller als die Guillotine tötet die Cholera ihre Opfer. Eine alte Frau auf dem Montmartre zählt die vorbeigetragenen Leichen; sie kommt auf dreihundert, bis sie selbst zur Leiche geworden ist. 28 Die Stadt verwandelt sich in eine Totenstadt, in der Toten-Omnibusse den öffentlichen Verkehr bestimmen: Wo man nur hinsah auf den Straßen, erblickte man Leichenzüge, oder, was noch melancholischer aussieht, Leichenwagen, denen niemand folgte. Da die vorhandenen Leichenwagen nicht zureichten, mußte man allerlei andere Fuhrwerke gebrauchen, die, mit schwarzem Tuch überzogen, abenteuerlich genug aussahen. Auch daran fehlte es zuletzt, und ich sah Särge in Fiakern fortbringen; man legte sie in die Mitte, so daß aus den offenen Seitentüren die beiden Enden herausstanden. Widerwärtig war es anzuschauen, wenn die großen Möbelwagen, die man beim Ausziehen gebraucht, jetzt gleichsam als Totenomnibusse, als omnibus mortuis, herumfuhren, und sich in den verschiedenen Straßen die Särge aufladen ließen, und sie dutzendweise zur Ruhestätte brachten. 29
Die mortifizierende Verwandlung der Stadt läßt in der Lesbarkeit ihrer Zeichen 30 die Dialektik der Moderne erkennen; die Nachtseite der Dinge, die Heines Bericht enthüllt, ist das unretouchierte Negativ jenes Bildes von Paris, das der Autor ebenfalls - in den Eigenschaften der Lebensfreude, des Tanzes, der ** Ebd., S. 175. 2 > Ebd., S. 164. Ebd., S. 170. 27 Ebd., S. 170. 28 Ebd., S. 178. 2 ' Ebd., S. i 7 8 f . 30 K. Stierle, Der Mythos von Paris, S. 306. 163
Geistesgegenwart - beschreibt. Selbst in dem geisterhaften Tableau der vor dem Friedhof Pere-la-Chaise sich stauenden Leichenwagen sind noch Spuren einer Vitalität zu erkennen, die Paris als »die Stadt der Freiheit, der Begeisterung und des Martyrtums« 3 ' auszeichnet: Manchmal jedoch, wenn die Trauerpferde an den Leichenwagen sich schaudernd unruhig bewegten, wollte es mich bedünken, als regte sich die Ungeduld in den Toten selbst, als seien sie des Wartens müde, als hätten sie Eile ins Grab zu kommen; und wie nun gar an dem Kirchhofstore ein Kutscher dem andern vorauseilen wollte, und der Zug in Unordnung geriet, die Gendarmen mit blanken Säbeln dazwischen fuhren, hie und da ein Schreien und Fluchen entstand, einige Wagen umstürzten, die Särge auseinander fielen, die Leichen hervorkamen: da glaubte ich die entsetzlichste aller Erneuten zu sehen, eine Totenemeute.32
Diese Szenen gleichen den ironischen Dispositiven Rilkes, der in seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ebenfalls die »Mortifizierung« des öffentlichen Verkehrs und die grotesken Omnibusse der Toten beschreibt. Allegorisierungen des Todes sind es in beiden Fällen, die die Enfremdungsprozesse, den Verlust der Zusammenhänge, die Abtrennung des Todes von den Toten und den Verlust der Individualität in der Masse beschreiben. Einen wesentlichen Unterschied freilich gibt es zwischen den beiden Darstellungen: Was bei Heine als Ausnahmezustand, als exzeptionelle Katastrophe erscheint, ist bei Rilke zum Normalzustand geworden.
4. Der Tod als Fest: Der Cornet und Ernst Jüngers Frühschriften Diese katastrophische Erfahrung des Todes, der nicht mehr zur Beglaubigung des eigenen Lebens taugt, scheint eine Auffassung zu revidieren, die in einem früheren Text Rilkes ablesbar ist. Als Rilke 1904 mit den ersten Entwürfen seines Malte begann, hatte er gerade die zweite Fassung von Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke}} abgeschlossen. Dieses kleine Werk, das zunächst mit Zurückhaltung, später mit umso größerer Begeisterung aufgenommen wurde, entwickelte sich zu einem Kultbuch, das die Soldaten der beiden Weltkriege - oft zusammen mit der Bibel - im Tornister führten. Das Büchlein vermochte, so wird in einem Aufsatz aus dem Jahr 1951 geurteilt, »Entzücken und Begeisterung der Jugend zu wecken und viele junge Männer bis zum letzten Augenblick in beiden Weltkriegen zu begleiten, sie für etwas
31 32 33
Französische Zustände, S. 180. Ebd., S. 179. Damals stand im Titel noch irrtümlich »Otto Rilke«, vgl. die von Walter Simon hg. Texte und Dokumente, S. 330.
164
unvergänglich Schönes, in all dem Furchtbaren rund um sie, zu entzünden«.34 Dieses »unvergänglich Schöne« besteht in einer poetisierten Prosa, die in ihrer knappen Diktion eine eingängige, mühelose Lektüre erlaubt. Es gibt nicht wenige Kritiker, die in dem Prosagedicht mehr Kitsch als Kunst zu erkennen glaubten 3 ' - das kleine Werk ist in der Tat sowohl ästhetisch als auch inhaltlich von zweifelhaftem Wert.36 Allerdings bekommt man bei näherer Betrachtung der Wirkungsgeschichte den Eindruck, daß sich die kultische Verehrung des Büchleins gegenüber dem Text verselbständigte und zur Projektionsfläche willkürlicher Phantasien wurde. Rilke selbst war der Cornet-Kult wohl eher peinlich, wie er überhaupt zu diesem Jugendwerk, das er in einer »Mondnacht« verfaßte, 37 später auf Distanz ging. Einer französischen Übersetzerin schreibt er entschuldigend, der Inhalt in diesem Gedicht sei »so dürftig«, »seine Sprache so unentwickelt, daß das Einzige, was sein Bestehen zu entschuldigen vermöchte, eben jene Allüre bleibt, die Gangart, dieses atemlose Vorübergehen, für das [...] Wolken, die über den Mond zogen, mir mehr noch Vorbild waren, als Alles, was ich, legendär, von jenem Vorfahren wußte, wissen konnte ,..« 38 In einem Brief vom 18.9.94 äußert Rilke die Meinung, der Cornet »bestünde schlecht« vor seinem heutigen Urteil. 39 Der starke Identifikationsreiz, den der Cornet über Jahrzehnte hinweg besonders auf Soldaten ausübte, ist in unterschiedlichen Momenten des Textes begründet: Die romantische Verbindung von erfülltem Liebesaugenblick und heldischem Tod war sicher für viele ein Grund zu projektiver Identifizierung. Entscheidend ist, daß der Text die rauschhafte Erfüllung des Lebens im Schicksal eines sehr jungen Mannes suggeriert: Der Cornet ist gerade achtzehn Jahre alt. In wenigen Sätzen verdichtet Rilkes Frühwerk den Reifeprozeß des Christoph Rilke vom Kind über den Jüngling zum Mann: In der ersten und letzten Liebesnacht ist »das Kindsein ihm von den Schultern gefallen«.40
34 35
36
37
Wolfgang Schneditz, in: Die Weise von Liebe und Tod, Texte und Dokumente, S. 328. Am schonungslosesten geht wohl ein Spiegel-Artikel vom 2.4.56 mit dem Cornet ins Gericht. Anläßlich der Verfilmung verurteilt der Autor die literarische Vorlage als »deutschen Edelkitsch« (Texte und Dokumente, S. 350). Vgl. hierzu auch M. Wagner-Egelhaaf, Kultbuch und Buchkult (1988), S. 542. Die Autorin verweist am Ende auf parodistische Bearbeitungen des Cornet-Stoffs (S. 556, Anm. 23). »Der Cornet war das unvermutete Geschenk einer einzigen Nacht, einer Herbstnacht, in einem Zuge hingeschrieben bei zwei im Nachtwind wehenden Kerzen; das Hinziehen von Wolken über den Mond hat ihn verursacht, nachdem die stoffliche Veranlassung mir, einige Wochen vorher, durch die erste Bekanntschaft mit gewissen, durch Erbschaft an mich gelangten Familienpapieren, eingeflößt worden war.« (Br. an Dr. Hermann Pongs, 17.7.24, in: Texte und Dokumente, S. 158)
38
Die Weise von Liebe und Tod, Texte und Dokumente, S. 163. « Ebd., S. 159. 40 Die Weise von Liebe und Tod, Texte und Dokumente, S. 60. 165
In der nächtlichen Turmstube ist die Zeit aufgehoben: Es gibt »kein Gestern, kein Morgen; denn die Zeit ist eingestürzt.«4' Die gemeinsame Liebesnacht und der Schlaf weisen schon auf den unmittelbar bevorstehenden Tod voraus. In dieser Kontamination von Schlaf und Tod wird der alte Topos, der Tod sei des Schlafes Bruder, ausdrücklich bemüht: »Wie hinter hundert Türen ist dieser große Schlaf, den zwei Menschen gemeinsam haben; so gemeinsam wie eine Mutter oder einen Tod.« 42 Der Cornet, der Fahnenträger, der zunächst das Signal zum Aufbruch verschläft, stürzt sich dann umso leidenschaftlicher in die Schlacht, als ob die Liebesnacht sich in den Kampf hinein verlängern würde. Der Tod des jungen Mannes ist ein Beispiel nicht nur der Heroisierung des »großen« Individuums, sondern auch der Asthetisierung des Kampfes und des Todes in der Schlacht: Der von Langenau ist tief im Feind, aber ganz allein. Der Schrecken hat um ihn einen runden Raum gemacht, und er hält, mitten drin, unter seiner langsam verlodernden Fahne. Langsam, fast nachdenklich, schaut er um sich. Es ist viel Fremdes, Buntes vor ihm. Gärten - denkt er und lächelt. Aber da fühlt er, daß Augen ihn halten und erkennt Männer und weiß, daß es die heidnischen Hunde sind - : und wirft sein Pferd mitten hinein. Aber, als es jetzt hinter ihm zusammenschlägt, sind es doch wieder Gärten, und die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest. Eine lachende Wasserkunst. 43
Daß die Beschreibung des festlichen Todes in das Wort »Kunst« mündet, bekräftigt die ästhetisierende Absicht, die der Text auf diese Weise selbst verrät. In Interpretationen zu Rilkes Prosagedicht wurde immer wieder der Aspekt der Lebensvollendung im Tod hervorgehoben: »Das Motiv des Cornets ist Selbstverwirklichung einer reinen Individualität, zu der auch der festliche Tod als höchste Steigerung gehört.«44 Für Werner Kohlschmidt ist die Gestalt des Cornets »Symbol der Verwirklichung eines vom Tode geweihten unbedingten dichterischen Augenblicks«. 45 Daß spätestens nach den beiden Weltkriegen eine solche Interpretation als gefährliche ästhetische Verharmlosung des Soldatentodes erscheinen mußte, steht außer Frage. Wolfgang Paul, der selbst den Cornet während des Zweiten Weltkriegs im Sturmgepäck mit sich führte, beschreibt die impulsivische Geste, mit der er sich im Mai 1945 des Buches entledigte und sich dabei die Frage
41
Ebd., S. 62. Ebd., S. 64. 4 ' Ebd., S. 68. 44 W. Kohlschmidt, Rainer Maria Rilke, in: Die Weise von Liebe und Tod, Texte und Dokumente, S. 318. 4 ' Ebd. 42
166
stellte, wer von jenen, die mit dem Cornet im Gepäck fielen, »je sein eigenes Leben gelebt« habe.46 Man darf dabei jedoch nicht übersehen, daß Rilke seine Darstellung bewußt in eine längst vergangene Zeit verlegte (der Vorspann zur dritten Fassung erwähnt das Jahr 1663), in die er die rückwärtsgewandte Utopie eines heroischen Individuums projizierte. In einem Brief vom 22.1.20 distanzierte sich Rilke ausdrücklich von einer Vereinnahmung seines Cornet durch die Soldaten des Ersten Weltkriegs: »Das Datum der Entstehung (1899) beweist Ihnen schon, daß das bewegte Gedicht nichts mit den Kriegsläuften der unseligen jüngsten Jahre zu tun hat; den Anlaß dazu bot vielmehr jene auf der ersten Seite eingereihte Stelle aus den Familienpapieren, die auf meinen Vorfahren, den Cornet Otto von Rilke Bezug nimmt, der 1663 gegen die Türken in Ungarn geblieben ist.«47 Auch bei Baudelaire gibt es die Figur des Heros, aber bei ihm ist es nicht mehr das heroische, sich im Untergang vollendende Individuum, sondern der moderne Außenseiter, der outlaw, der »Apache« am Rand der ausgetretenen Wege, der Einsame und Ausgestoßene, es sind die Prostituierten, mit denen der Poet sich identifiziert und denen er selbst seine Gestalt geliehen hat.48 Auch der moderne Held bei Baudelaire akzeptiert seinen Untergang - aber es ist ein Untergang ohne Aureole und ohne öffentlichen Ruhm. Trotzdem sind sich diese beiden Helden-Typen ähnlicher, als es zunächst den Anschein hat. Denn beide versuchen, sich aus der Masse herauszuheben durch ihre trotzige Absonderung und durch die Verachtung eines gesicherten bürgerlichen Lebens. Beide bekräftigen ihre unverwechselbare Individualität im Einzelgängertum und durch die Bereitschaft, im Angesicht des Untergangs zu leben und aus dieser Grenzsituation ihre Einzigartigkeit zu beziehen. Während der Heroismus der Baudelaireschen Figuren jedoch ein vom Schicksal aufgezwungener ist, kann Rilke seinen jungen Cornet aus freier Selbstbestimmung die Vollendung des Lebens im Tod wählen lassen. Die Baudelaireschen Gestalten dagegen sind immer schon verwundet an Leib und Seele. Nicht ohne Grund ging Rilke mit seiner idealisierenden Dichtung weit zurück in die Vergangenheit. Der moderne Held Malte wird den Cornet ebenso wie die Künstler-Helden Baudelaires widerrufen. Die militärische Usurpation des Cornet im Ersten Weltkrieg zog nicht nur eine Trivialisierung des Textes nach sich, sie ignorierte auch die Textelemente, die sich einer martialischen Anverwandlung entgegenstellen. Im Grunde ist der Cornet als soldatisches Vorbild denkbar ungeeignet. Er mag einer Erotisierung und Heroisierung des Krieges und des Soldatentodes Vorschub leisten, aber 46 47 48
Ebd., S. 3 4 i f . A n Amelie de Gamerra, in: Texte und Dokumente, S. 149. W. Benjamin, Charles Baudelaire, S. 80.
167
militärische Unterordnung, Gehorsam und Disziplin - Voraussetzungen moderner Kriegsführung - kann er keineswegs repräsentieren. Da er im Text als einsamer, ja eigensinniger Held geschildert wird, würde er in einem Regiment des 20. Jahrhunderts eher als subversives Element erscheinen: Wegen seiner Liebesnacht mit der Gräfin verschläft er den Appell zum Aufbruch und nimmt mit großer Verspätung wahr, daß das Schloß längst von den Feinden in Brand gesteckt wurde. Mit knapper Not gelingt es ihm, dem Flammeninferno zu entkommen. Wie im Taumel - man könnte auch sagen: völlig kopflos - stürzt er sich in die Schlacht, ungerüstet (man erkennt »den hellen, helmlosen Mann«, S. 67),49 ohne Beachtung möglicher Befehle, ohne Rücksicht auf die Kampfgenossen - ein Einzelkämpfer im eigentlichen Wortsinn: »über alles dahin und an allem vorbei, auch an den Seinen«. s ° In einer Anleitung aus dem Jahr 1726 wird die Aufgabe des Cornet dagegen so definiert: »Der Cornet ist ein Officier, der die Standarten führt [...] In einen [sie] Combat ist sein Platz in der Mitten des ersten Ranges der Esquadron.«'' Der jugendliche Ubermut des Cornet ist mit der kühlen Rationalität moderner Kriegsführung und den Erfordernissen eines Massenheeres schwer vereinbar. Rilke wollte seinen Helden als großes Individuum vorführen, abgesondert von der übrigen Armee, im Alleingang gegen den Feind. Daß dieser individualistische Held sich nicht auf die Situation des Weltkriegs übertragen ließ, muß Hermann Pongs deutlich gespürt haben, wenn er im Rilke-Sonderheft von Dichtung und Volkstum (N. F. des Euphorion) 1936 schreibt: »Den Kriegshelden mit dem eigenen großen Tod« nur erkenne Rilke an, nicht das »Heldentum der Millionen, die tagaus tagein das unausdenklich Schwere geleistet haben, standzuhalten, ihr Ich auszulöschen um des Vaterlandes willen [...] Darum verblaßt Rilkes Gestirn vor dem tieferen Glanz der Georgischen Dichtung, die gerade im Krieg sich aus den Urbildern des Volkes kräftigt und mit seherhafter Würde diesem Volk neue Leitbilder gibt.«' 2 Was den Cornet als Propagandafigur für die Großen Kriege des 20. Jahrhunderts untauglich macht, ist sein einsames Kämpfertum, sein selbstbezogener Stolz, sein Anflug von Humanität (wenn er etwa eine blutig gefolterte Frau von ihren Fesseln befreit), die eher in alten Rittertugenden beheimatet ist als in den Erfordernissen einer modernen Vernichtungsschlacht. Die Rahmenbedingungen der Großen Kriege sind andere. Das alte Individuum hat hier ausgedient. Hier geht es um die strategische Bewegung von Menschenmassen, die von moderner Technik und Technologie in Dienst ge-
« Hervorh. J . P. Die Weise von Liebe und Tod, Texte und Dokumente, S. 67. " Ebd., S. 173. >2 Hermann Pongs, Rilkes Umschlag und das Erlebnis der Frontgeneration, S. 60. Zit. nach A. Stahl, Rilkes Rede über den Tod, S. 94. 168
nommen werden. Es geht um Vernichtungszonen, die mit Giftgas, Sprengkörpern oder Bombenteppichen angefüllt werden. Niemand hat so präzise die Vernichtungsmaschinerie des Ersten Weltkriegs beschrieben wie Ernst Jünger, und niemand hat die kühle Technik des Untergangs so hingebungsvoll in Poesie verwandelt. In seinem Frühwerk, besonders in den Kriegstagebüchern, aber auch in Texten der 30er Jahre ist es Jünger gelungen, noch die schrecklichsten Szenarien der Explosionen und der Zerstückelung in berauschende literarische Gemälde zu verwandeln, die eine seltsame Polarität von technischer Unterkühlung und romantischer Überhitzung in sich tragen. »Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch«, beginnt das Kriegstagebuch In Stahlgewittern,'3 Immer wieder ist vom Rausch die Rede, in dem die Langeweile des bürgerlichen Alltags transzendiert wird, vom »fabelhaften Tumult«, vom farbigen Kugelregen und metallischen Schimmern der Maschinengewehre. »Ja, dieser Zauber der blitzenden Waffen, des schäumenden Blutes und des kühnen Spieles um Leben und Tod schien allem weit überlegen, was das Dasein sonst zu bieten hatte.«'4 Mit dem romantischen Pathos verbindet sich die kühle Poesie des Metalls und der artifiziellen Lichter: Das Bild gräbt sich glühend in mein Gehirn: der Trichter ist wie ein Krater von einer dicken milchweißen Wolke erfüllt. Ein Rudel von schattenhaften Gestalten klimmt die steilen Wände hinan, und ich sehe sie oben tief gebückt, nach allen Seiten in die Dunkelheit jagen. Im Grunde strahlt eine magische Beleuchtung, ein Licht in stechendem Rosa auf. Das ist die Maschinengewehrmunition, die mit langen Stichflammen verbrennt, vermischt mit dem Sprühlicht der Leuchtgeschosse aus den Patronentaschen."
Ernst Jüngers Frühwerk sei einer der letzten Versuche gewesen, »den Begriff der Vernunft durch die pure Anschauung des Schönen aufzukündigen«, behauptete Karl Heinz Bohrer.' 6 Was dabei auch aufgekündigt wurde, ist die Gestalt des Individuums, das von Hölderlin bis Rilke in aufklärerischem Impetus verteidigt wurde, und das Jünger als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft verächtlich verwirft. In der programmatischen Schrift Der Arbeiter aus dem Jahr 1932 fällt unter den Hieben einer bedingungslosen Bourgeoisie-Kritik auch der Exponent dieser bürgerlichen Kultur, das bürgerliche Individuum, dem Jünger nur noch den Totenschein ausstellt: Die Schilderung des »ungeheuren Todesprozesses, dessen Zeugen wir sind«, betrachtet er als seine ureigene Aufgabe: »Dieses Sterben bezieht sich auf die bürgerliche Welt und die Werte, die sie verwaltet hat.«' 7 In der Sphäre der Gewalt und des Todes, die Jünger beschwört, ist die bürgerliche Individualität dem Untergang preisgegeben. Der 11
E. Jünger, Werke 1, S. 1 1 . Feuer und Blut, Werke 1, S. 459. » Ebd., S. 490. >6 Κ. H . Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, S. 19. Der Arbeiter, Werke 6, S. 216. S4
169
»Akt einer totalen Mobilmachung« 58 und ein »neues Verhältnis zum Elementaren« 5 9 sind die Antriebskräfte dieses unausweichlichen Untergangs, dem neue Ordnungen folgen werden - »Ordnungen, die nicht auf den Ausschluß des Gefährlichen berechnet, sondern die durch eine neue Vermählung des Lebens mit der Gefahr erzeugt worden sind.« 60 Das Unbekannte, das Außerordentliche und das Gefährliche werden in Jüngers Vision zum Substrat einer neuen Kultur, in der »die Katastrophe als das Apriori eines veränderten Denkens« erscheint. 6 ' Immer geringer werde der Widerstand, »den der Einzelne seiner Mobilmachung entgegenzustellen vermag«. 62 Dieser Einzelne verschwindet nicht im Kollektiv, sondern im »Typus«, also einer Abstraktion, welche an die Stelle des bürgerlichen Individuums tritt. Es ist unverkennbar, daß der Krieg der Geburtsort dieser neuen typologischen Auffassung vom Menschen ist. Der Mensch im aufklärerischen Sinn, etwa in der Theorie Kants, ist der schlechthin Unverfügbare - das Wesen, das immer nur als Zweck, nie als Mittel betrachtet werden darf. Jünger schreibt diese Theorie um - mehr noch, er negiert sie. Unter der Perspektive des Krieges wird der Einzelne austauschbar; wer ausfällt, muß in seiner Funktion umgehend ersetzt werden. Deswegen definiert Jünger den neuen Typus, der die zukünftigen Ordnungen tragen wird, als »Arbeiter«: Dieser zeichnet sich nicht durch seinen Namen und durch seine Singularität aus, sondern durch die Aufgabe, die er in einer postindividualistischen Gesellschaftsordnung zu erfüllen hat. Gezeugt wird dieser Typus auf dem Schlachtfeld: Der Weltkrieg des zo. Jahrhunderts ist nicht etwa als Summe von Nationalkriegen anzusehen, sondern als ein »umfassender Werkvorgang«, »bei dem die Nation in der Rolle der Arbeitsgröße erscheint«. 63 Die nationale Anstrengung bringt eine neue »organische Konstruktion der Welt« hervor. Deren initiales Element ist der namenlose Soldat: »So kommt es, daß der Held dieses Vorganges, der namenlose Soldat, als der Träger eines Höchstmaßes von aktiven Tugenden, von Mut, Bereitschaft und Opferwillen erscheint. Seine Tugend liegt darin, daß er ersetzbar ist und daß hinter jedem Gefallenen bereits die Ablösung in Reserve steht. Sein Maßstab ist der der sachlichen Leistung [...]«. 6 4 Eine Konsequenz dieses Denkens - die neue Theorie versucht hier sozusagen ihre Früchte zu sammeln - ist die Lösung des grundlegenden Problems, das sich der Gesellschaft um 1900 stellte: das der Vernichtung des Einzelnen, der sich sowohl sozialer wie metaphysischer Bindungen und symbolischer >8 Ebd., S. " Ebd., S. Ebd., S. 61 Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd.
170
219. 224. 65. 63. 158. 162.
Sinngebungen beraubt sieht. Jünger wird nicht müde, auf die neue Qualität des Todes hinzuweisen, die sich aus der Verabschiedung des Individuums ergibt: »Es gehört ferner in diesen Zusammenhang, daß das Sterben einfacher geworden ist. Diese Beobachtung ist überall dort zu machen, wo man den Typus am Werke sieht.« 6 ' Diese Feststellung verrät den Antrieb, der Jüngers Überlegungen zugrundeliegt. Die Perpetuierung des Schreckens, die als ästhetische Signatur gerade des Frühwerks zu erkennen ist, rettet das in der modernen Gesellschaft entfremdete und zerbrechende Ich in die Exaltation. Wenn das Sterben »einfacher« geworden ist, so liegt dies vor allem daran, daß das Subjekt in der kriegerischen Feuertaufe sich in einen anderen Zustand katapultiert, in dem es den Bedingungen des modernen bürgerlichen Alltags entzogen ist. Die Schockerfahrung, die nach Benjamin das moderne großstädtische Leben begleitet, wird bei Jünger umgeschrieben zu einem bleibenden Entsetzen, das ästhetische Formen annimmt und das den Einzelnen von der quälenden Selbstreflexivität aufklärerischer Subjektivität befreit. Genau in diesen Zusammenhang ist auch Jüngers Versuch zu situieren, in einer eigenen Abhandlung Über den Schmerz (1934) nachzudenken. Der Schmerz, so schreibt er einleitend, gehöre zu jenen Schlüsseln, »mit denen man nicht nur das Innerste, sondern zugleich die Welt erschließt. Wenn man sich den Punkten nähert, an denen der Mensch sich dem Schmerze gewachsen oder überlegen zeigt, so gewinnt man Zutritt zu den Quellen seiner Macht und zu dem Geheimnis, das sich hinter seiner Herrschaft verbirgt.«66 Will man den »Typus« für die Prüfungen des Schmerzes vorbereiten, so muß er in einen transsubjektiven Zustand versetzt werden, der in einem »zweiten und kälteren« Bewußtsein,67 im technischen Vorgang, im Ritual des Stierkampfes oder dem rituellen Ablauf eines Arbeitsvorgangs realisiert ist. Diese Vorgänge kommen alle in dem Phänomen der »Entsubjektivierung« überein: Darin besteht das Ziel von Jüngers Angriff auf »die Welt des sich selbst genießenden und sich selbst beklagenden Einzelnen«.68 Die Transformation des Individuums in den Typus (»Arbeiter«) stellt sich als eine Operation dar, »durch welche die Zone der Empfindsamkeit aus dem Leben herausgeschnitten wird«. 69 Die Versachlichung und Vergegenständlichung des Lebens, die Jünger in der Ausbreitung der Technik bewillkommnet, dient der Uberwindung herkömmlicher Subjektivität und der Zerstörung bohemienhafter Empfindsamkeit. Der Subjektverlust wird von Jünger nicht gefürchtet, sondern herbeigesehnt. Der Schmerz vermit-
66
68
Ebd., Uber Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 156. den Schmerz, Werke 5, S. 151. S. 187. S. 165. S. 168.
171
telt, wenn man nicht vor ihm flieht, eine Form der Ekstase: die Todesangst ist demjenigen überwindbar, der sich in den Tod stürzt wie in einen Rausch. »Wir sahen, daß der Mensch in demselben Maße fähig wird, dem Angriff des Schmerzes zu trotzen, in dem er sich aus sich selbst herauszustellen vermag.« 70 Geht man die Spuren zurück, die zu solch einem Denken führen, so gerät man in den Umkreis einer sadianischen, ekstatischen, exzessiven Literatur, die sich jenseits der Pfade der europäischen Aufklärung - oder vielmehr in ihrem Schoß - entwickelt hat. Es ist eine Literatur der schwarzen Romantik, der Grausamkeit und des Traums, die sich kontrapunktisch zur bürgerlich-aufklärerischen Tradition herausbildete.71 Jünger greift zum Teil auf solche vorgeprägten Muster zurück, um im Herzen des Schreckens das Individuum zu liquidieren, das auch in ihm, dem Bürgersohn, Geltung beanspruchte und das an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert vielfachen Ängsten und Bedrohungen ausgesetzt war. Daß Jüngers Texte - insbesondere die vor dem Zweiten Weltkrieg entstandenen - präfaschistische Züge tragen, steht für mich außer Frage. Das bedeutet natürlich nicht, daß ein direkter Zusammenhang zwischen Jüngers Werk und dem Aufkommen des Nationalsozialismus auszumachen ist. Auch Der Arbeiter ist in seiner ästhetischen Stilisierung kaum als politisches oder soziologisches Manifest anzusehen. Aber wer das Werk liest, erkennt mit Schrecken, daß hier in einer rhetorisch geschliffenen Sprache ein Gedankenfeld abgesteckt wird, das deutliche Affinitäten zu der späteren Barbarei aufweist. Die Rechtfertigungen im Vorwort des Arbeiters, das der Nachkriegsausgabe hinzugefügt wurde, haben evasiven Charakter und scheinen nicht frei von Zynismus. Es ist bedauerlich, daß sich Jünger nicht ausgiebiger mit der Frage nach seiner geistigen Mitveranwortung für den nationalsozialistischen Terror auseinandersetzte - auch wenn inzwischen deutlich geworden ist, daß Jünger während der Naziherrschaft die humanitären Werte hochhielt, die er in seinem Werk zum Teil bekämpfte.72 Es ist im übrigen sinnvoll, Jüngers Bourgeoisie- und Individualitätskritik im größeren Kontext der Vorkriegszeit zu verorten. Dann wird nämlich deutlich, daß es sich - jedenfalls bei seinen Frühschriften - weniger um einen 70 71
71
Ebd., S. 196. Bohrer erblickt in Jünger den Endpunkt einer literarischen Entwicklung, die sich in Edgar Allan Poe wie in einem Prisma bündle. Autoren wie Baudelaire, Wilde oder Huysmans kämen in der Absolutsetzung der Phantasie überein, die eine aggressive Opposition zur Gesellschaft darstelle. (Die Ästhetik des Schreckens, S. 22) Vgl. hierzu den Aufsatz von Wolfgang Matz Jünger und Heidegger. »An Ernst Jüngers persönlicher, biographischer Integrität während der Jahre der Diktatur kann kein Zweifel bestehen; die Dokumente belegen, wie hier einer auch das persönliche Risiko nicht scheute, um trotz allem an einem Begriff der Menschenwürde festzuhalten.« (S. 74)
172
Impetus der Kriegsverherrlichung an sich handelt, als vielmehr um die Reaktion auf eine Krise, die von allen Autoren der Zeit registriert wurde. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde mit einhelliger Begeisterung begrüßt nicht nur vom Militär, sondern auch von weiten Schichten des Volks und den intellektuellen Eliten unterschiedlichster Färbung. 73 Im Krieg schien »die Uberwindung der geistigen und gesellschaftlichen Krise der Vorkriegszeit« realisierbar.74 Die extreme Ausdifferenzierung der Lebensbereiche und Wertsphären, die Partialisierung des gesellschaftlichen Lebens und das Gefühl individueller Bedrohung sollten überwunden werden in der Substantialität eines übergreifenden Gesetzes, einer »Nation«, eines »Volkes« oder eines »geläuterten Freiheitsbegriffs«. Die Kriegsaufsätze Hugo von Hofmannsthals zeigen exemplarisch, wie groß das Bedürfnis war, durch überindividuelle, mitunter mythische Konzepte die gesellschaftliche Zersplitterung zu überwinden. In seinen Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien (1916) nimmt Hofmannsthal immer wieder Kräfte in den Blick, die in der Lage sein könnten, das Individuelle, Singuläre zu transzendieren: Da ist von der »Prädisposition des Deutschen« die Rede, »einen geläuterten Freiheitsbegriff aus sich zu gebären« und von dessen vorzüglicher Anlage zum Gehorsam. Stichwortartig notiert Hofmannsthal dann weiter: »Kein Kontrast zwischen Individuum und Gesamtheit«75 in einer neuen organischen Einheit könne das Individuum wieder mit dem Ganzen verbunden werden. Das »Hineinnehmen des Individuums ins Gesetz [...] ohne contrat social«76 wird als Heilmittel für die Krise empfohlen; daraus könne sich ein höherer Begriff der Persönlichkeit entwickeln. Hermann Rudolph hat im einzelnen ausgeführt, wie sehr die Inhalte der Hofmannsthalschen Kriegsaufsätze der repräsentativen intellektuellen Kriegspublizistik entsprachen.77 In »Gedanken zum gegenwärtigen Augenblick« erscheint der Krieg geradezu als naturgeschichtliches, als »meteorologisches« Phänomen, auf dessen atmosphärische Reinigungskraft sich alle Hoffnungen richten: »Dieser verklausulierte und hinterhältige Zustand war zu lange der unsere. Er ist es nicht mehr. Ein ungeheueres meteorologisches Phänomen hat die Atmosphäre verändert, in der wir atmen - und auf immer: denn nichts kehrt wieder, das einmal dahingegangen ist.« Ein kaum übersehbarer Zustand »wie der jetzige« verlange »den mutigen Blick dessen, der noch viel vor sich hat, den Ernst, der
73
Näheres hierzu bei H . Rudolph, Kulturkritik und konservative Revolution, S. 83^ Umfassend informiert zu diesem Thema Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkriegs (1969). 74 H. Rudolph, Kulturkritik und konservative Revolution, S. 85. 7 > Hofmannsthal, G W Prosa III, S. 357. 76 Ebd., S. 358. 77 H. Rudolph, Kulturkritik und konservative Revolution, S. S j f f . I
7i
ins Ganze geht, den Sinn, dem Ganzen etwas zu liebe zu tun.« 78 In einem anderen Aufsatz spricht Hofmannsthal davon, daß die Menschen »in dieser Zeit« aus dem Gewöhnlichen herausgehoben seien, 79 gesammelter »als in der beständigen Zerrüttung des einzig auf hastigen oder mühsamen Erwerb gestellten Lebens, und fähiger, das Gehaltvolle zu erkennen«; sie seien »in einem erhöhten Zustand und dem Geistigen zugänglicher«. 80 Der enthusiastische Tonfall weist an manchen Stellen eine erstaunliche Nähe zu den Texten Ernst Jüngers auf: Nichts ist befreiter vom Druck der Materie als eine Kriegszeit; dies erleben wir, wir konnten es nicht voraus wissen. [...] das Scheinhafte, das Anspruchsvolle, das innerlich Ungute, das herzlos Grelle, das seelenlos Weitläufige und Getiftelte zergeht wie Zunder. Das Unwahre ist unerträglich, aber das scheinbar Geringe wird gewichtiger, das einfach Menschenhafte, das Elementare besteht glorreich. 8 '
Die Idee einer Rückkehr zum Elementaren verbindet die beiden sonst so unterschiedlichen Autoren: Auch hier scheint der Krieg das abgestandene und fragmentierte Leben zu intensivieren und das Individuum in einem größeren Ganzen aufgehen zu lassen, auch wenn es dabei selbst ausgelöscht wird. Gemeinsamer Ursprung dieser Kriegs- und Untergangsbegeisterung ist das große Unbehagen, welches das Individuum in geistiger, sozialer und politischer Hinsicht erfüllte. Jünger gibt dieses Individuum der Vernichtung preis - im explosiven Rausch, im Kugel- und Bombenhagel des Weltkriegs: in jenem Schmelztiegel, in dem das bürgerliche Subjekt vernichtet und der neue »Typus« geboren wird: der metallische, transsubjektive Mensch, dem die Todesangst fremd ist. Der Rausch ist zweifellos eine Grundkategorie in Jüngers Werk, und er findet sich darin nicht nur als Rausch des Krieges, sondern auch als Rausch der Drogen, des Traums, der Todesnähe - immer sind es Phänomene veränderter Wahrnehmung, die Jünger in ihren Bann ziehen. 82 Daß diese Wahrnehmungsveränderungen für Jünger primär eine literarisch-ästhetische Qualität haben, ist in seinen Texten durchgehend erkennbar. Bohrer warnt zu Recht vor der schnellen und einseitigen politischen Einordnung Jüngers und vor einer ausschließlich wirkungsgeschichtlichen Betrachtung seines Werks, weil dadurch
78 79 80 81 8s
Die Bejahung Österreichs (1914), G W Prosa III, S. 192. Bücher für diese Zeit, ebd., S. 2 1 5 . Ebd., S. 2 1 7 . Ebd., S . 2 1 8 . Vgl. hierzu Ulrich Baron, »Qualitäten des Uberganges«, Der Rausch in Leben und Werk Ernst Jüngers (1990). Baron zählt den Rausch (der in enger Beziehung zur Todes- und Traumthematik stehe) zu den »Schlüsselerlebnissen und -motiven« in Leben und Werk Ernst Jüngers (S. 89). In seinem Buch Annäherungen. Drogen und Rausch aus dem Jahr 1970 hat sich Jünger selbst eingehend mit diesem Thema auseinandergesetzt (Sämtliche Werke Bd. 1 1 , Essays V, Stuttgart 1978).
174
eine differenzierte Analyse seiner Schriften im Kontext der europäischen Moderne von vornherein verhindert würde 83 - auch wenn Bohrer die Affinitäten zwischen Poesie und Politik zu schnell beiseite schiebt. Wenn man Jüngers ästhetische Produktionen als Reflex auf die »Krise der Vernunft« begreift, werden sie als eine Antwort auf das Unbehagen sichtbar, das die Dialektik der Aufklärung auf andere Weise in den Blick nimmt. Der aggressive Impuls gegenüber dem vernunftgesteuerten Subjekt, das die Verheißungen der Aufklärung nicht einlösen konnte, ist den meisten Produktionen nicht nur der Jahrhundertwende, sondern generell einer avantgardistischen Kunst inhärent. Schon für Baudelaire war der Drogenrausch ein Mittel nicht nur der Bewußtseinserweiterung, sondern auch der Erweiterung ästhetischer Wahrnehmungsformen und ein Protest gegen die wahrnehmungs- und erfahrungsverengende Attitüde des Bourgeois. Das Aggressionspotential, das noch dem erlesensten Asthetizismus innewohnt, steht in innerem Zusammenhang mit dem Protest gegen eine funktionalisierte und entzauberte Welt. Daß Jugendstil- und Dekadenzliteratur nicht einfach eskapistisch zu deuten seien, hatte auch Benjamin gefordert. Den Augenblick der Gefahr, der Todesbedrohung, ja den Todesaugenblick selbst zum Stimulus ästhetischer Erfahrung und zum Geburtsort neuer Darstellungsformen zu machen, mag fragwürdig erscheinen und sich im Kontext massenweiser Vernichtung in Zynismus verwandeln. Dennoch schimmert noch durch diese ästhetische Ausbeutung des Todesaugenblicks der Protest hindurch gegen eine Welt, die in fortschrittsorientierter Funktionalität den Tod nur als das Andere der Vernunft, als zu vermeidenden Schrecken ansieht. Jünger hat diesen Schrecken vereinnahmt und zu einem Ausgangspunkt und Antrieb seines Werks gemacht.
5. Tod und Erzählen Für Rilkes Malte bedeutet der Tod weder Lebenssteigerung noch Exaltation; er wird zur Metapher eines traumatischen Schreckens, der die Koordinaten der bisherigen Welt radikal verändert. Daß es in der Großstadt »Heere von Kranken« gibt, »Armeen von Sterbenden«, »Völker von Toten«, 84 hatte Malte als 83 84
Die Ästhetik des Schreckens, S. 16. Dies schreibt Rilke an seine Frau Clara über die »große fremde Stadt« Paris (Br. vom 31.8.1902; Briefe Bd i., S. 126). Vgl. auch den Brief vom 3 1 . 1 2 . 1 9 0 2 an Otto Modersohn: »Paris (wir sagen es uns täglich) ist eine schwere, schwere, bange Stadt. Und die schönen Dinge, die da sind, machen mit ihrer strahlenden Ewigkeit doch nicht ganz gut, was man durch die Grausamkeit und Wirrheit der Gassen und die Unnatur der Gärten, Menschen und Dinge leiden muß. Paris hat für mein geänstigtes Gefühl etwas Unsäglich-Banges. Es hat sich ganz verloren, es rast wie ein bahnverirrter Stern auf irgendeinen schrecklichen Zustoß zu.« (Briefe Bd. 1, S. 141 f.)
175
Schock wahrgenommen und auf diese Eindrücke zunächst mit ironischer Distanz reagiert. Dieses Mittel ironischer Darstellung, das als eine Form von Reizschutz fungiert und die Umwandlung der Eindrücke in Erfahrung verhindert, versagt im Verlauf der weiteren Aufzeichnungen. Das Durchbrechen der Abwehr führt zu einem traumatischen Schock, der sich in den Darstellungen Maltes widerspiegelt. Zentral sind für Malte dabei zwei Erlebnisse, die nach einer veränderten Form des Schreibens verlangen. Das erste Erlebnis, das sich dem jungen Dichter einprägt, ist der Abbruch von Häusern, an deren Stelle nur noch ein leerer Raum zurückbleibt. Die Wände der umstehenden Häuser, die die abgerissenen Bauten begrenzten, markieren eine Leere, die eben noch mit Leben und G e schichte angefüllt war. Die Vernichtung dieser Häuser erscheint als Zerstörung einer Vergangenheit, deren Spuren nun fast vollständig getilgt sind. »Wird man es glauben, daß es solche Häuser gibt? Nein, man wird sagen, ich fälsche. [...] es waren Häuser, die nicht mehr da waren. Häuser, die man abgebrochen hatte von oben bis unten.« (S. 749) Der Blick des Künstlers versucht den stehengebliebenen Wänden ihre verlorene Geschichte zurückzugeben. Dies kommt dem Versuch gleich, der toten Materie wieder eine Bedeutung zuzuschreiben und die Fragmente zu einem neuen Zusammenhang zu ordnen. Die toten Dinge verwandeln sich unter dem künstlerischen Blick in eine ästhetische Form, die Ähnlichkeiten mit einem impressionistischen Bild aufweist: A m unvergeßlichsten aber waren die Wände selbst. Das jähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren, es stand auf dem handbreiten Rest der Fußböden [...] Man konnte sehen, daß es in der Farbe war, die es langsam, Jahr für Jahr, verwandelt hatte: Blau in schimmliches Grün, Grün in Grau und Gelb in ein altes, abgestandenes Weiß, das fault. [...] Und aus diesen blau, grün und gelb gewesenen Wänden, die eingerahmt waren von den Bruchbahnen der zerstörten Zwischenmauern, stand die L u f t dieser Leben heraus, die zähe, träge, stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. (S. 750)
Die sinnlichen Eindrücke der Farben verbinden sich mit anderen Sinneswahrnehmungen und beschwören eine (wenn auch traurige) Vergangenheit herauf, die aus der dichterischen Einbildungskraft entsteht: Da standen die Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte Rauch und der Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die Kleider schwer macht, und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch gärender Füße. Da stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Ruß und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von alterndem Schmalze. Der süße, lange Geruch von vernachlässigten Säuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule gehen. (S. 7jof.)
A m Ende der Erzählpassage wird klar werden, daß der von den abgebrochenen Häusern ausgehende Schrecken der vor einer völligen Vernichtung ist. Die Wahrnehmung des Verfalls und der Abwesenheit bleibt kein äußerlicher Ein176
druck, vielmehr erkennt das wahrnehmende Ich die innere Verwandtschaft des Beobachteten mit sich selbst: »ich will einen Eid geben dafür, daß ich zu laufen begann, sobald ich die Mauer erkannt hatte. Denn das ist das Schreckliche, daß ich sie erkannt hatte. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.« (S. 7 5 1 ) A n dieses Erlebnis schließt sich unmittelbar ein zweites an, das den IchErzähler mit dem Tod konfrontiert. Es ist die Begegnung mit einem Mann in der Crémerie an einem Faschingsabend, an dem Confettis gestreut werden und Menschenmassen sich in den Straßen verkeilen. Der Blick richtet sich von den Massen weg auf diesen einzelnen, der plötzlich vom Tod überrascht wird. Dieser individuelle Tod vermittelt nicht den Eindruck eines »eigenen Todes«, der ein selbstbestimmtes Leben beschließen würde. Es handelt sich vielmehr um ein völlig passiv erlittenes Schicksal, das den Betroffenen wie den Beobachter vor Entsetzen lähmt. Das Beobachtete dringt in den Beobachtenden ein, als wäre es ein Teil von ihm selbst: »Gerade seine Regungslosigkeit fühlte ich und begriff sie mit einem Schlage. Die Verbindung zwischen uns war hergestellt, und ich wußte, daß er erstarrt war vor Entsetzen.« (S. 754) In der völligen Anonymität dieses Schicksals wird der Todesaugenblick nur noch als erschrekkende Zufälligkeit und als Verlust jedes Sinnzusammenhangs wahrgenommen: »er wußte, daß er sich jetzt von allem entfernte nicht nur von den Menschen. Ein Augenblick noch, und alles wird seinen Sinn verloren haben, und dieser Tisch und die Tasse und der Stuhl, an den er sich klammert, alles Tägliche und Nächste wird unverständlich geworden sein, fremd und schwer. So saß er da und wartete, bis es geschehen sein würde. Und wehrte sich nicht mehr.« (S.755) A n die Stelle einer Sinnkonstituierung durch den Tod tritt die radikale Sinnvernichtung. Dieser Todes-Augenblick markiert einen entscheidenden U m schlagspunkt für Malte, für seine Weltwahrnehmung wie für sein Schreiben. Der Tod in der Crémerie wird zum Anlaß einer radikalen Verschiebung der Koordinatensysteme, einer grundlegenden Veränderung der Bedeutungen. Genauer gesagt: es ist der Moment einer radikalen Bedeutungsvernichtung, den nur die Erschaffung einer Welt neuer Bedeutungen überwinden könnte. Durch die Erfahrung von Kontingenz, die sich mit diesem Tod verbindet, kommt dem jungen Dänen jeder vorgegebene Halt, jede Ruhigstellung in einem vorgegebenen Sinn abhanden. Wie der Abbruch des Hauses dessen Geschichte vernichtet hat, so bedeutet der Tod dieses Mannes den Untergang der »gedeuteten Welt«: die Vernichtung jeder Erinnerung und jedes tradierten Sinns. Diese Kontingenzerfahrung ruft eine »namenlose« Furcht in Malte hervor: »ich fürchte mich, fürchte mich namenlos vor dieser Veränderung. Ich bin ja noch gar nicht in dieser Welt eingewöhnt gewesen, die mir gut scheint. Was soll ich in einer anderen? Ich würde so gerne unter den Bedeutungen bleiben, die mir lieb geworden sind, und wenn schon etwas sich verändern muß, so möchte ich doch 177
wenigstens unter den Hunden leben dürfen, die eine verwandte Welt haben und dieselben Dinge.« (S. 75 jf.) Der Verlust der »verwandten« "Welt ist die Erfahrung einer tiefgreifenden Entzweiung von Welt und Ich. Im Anschluß an diese Erfahrung stellt Malte sich die Frage, ob es ihm möglich wäre, im Akt des Schreibens eine neue Welt zu erschaffen, in der er wieder »alles begreifen und gutheißen« könnte (S. 756). Solch eine völlige Neuschöpfung der Welt aus dem Geist der Poesie, in der literarisch neue Zusammenhänge und Bedeutungen gestiftet werden könnten, war das Ideal der Romantik 85 und neoromantischer Richtungen um die Jahrhundertwende (etwa des Jugendstils). Malte meldet jedoch selbst grundlegende Zweifel an, ob ihm eine solche Neuschaffung der Welt und des Sinns mit den Mitteln der Kunst gelingen könnte. Auf jeden Fall würde sie die völlige Zerstörung der bekannten und vertrauten Bedeutungen voraussetzen: »Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen.« (S. 756) Dieses apokalyptische Bild vom Untergang der gedeuteten Welt, das die biblische Vision vom Ende der Welt evoziert,86 verbindet sich in Maltes Phantasie mit dem Tod des Erzählens, jedenfalls mit einer Erzählform, die eine synthetisierende Schöpferkraft, ein einheitliches und zur Einheitsbildung fähiges Ich voraussetzt. Wilhelm Emrich hat in einer Untersuchung aus dem Jahr 1968 festgestellt, in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge werde zum erstenmal die »Zertrümmerung der epischen Fiktion« als zweiter Wirklichkeit radikal durchgeführt. In dem durchdringenden Blick Makes würden die gewohnten Wirklichkeitsbezüge schrittweise abgebaut und als nichtig entlarvt. Diesem Zerfall der Wirklichkeitsbezüge entspreche auch ein Zerfall der Form des Erzählens. 87 Die 71 Abschnitte des Romans stellen in der Tat nur noch Textfragmente dar, die keine klare innere Verknüpfung erkennen lassen. Immer wieder allerdings haben sich die Interpreten bemüht, ein Organisationsprinzip und eine sinnvolle Struktur des Textes aufzudecken. So sah E. F. Hoffmann im Ubergang von den tagebuchartigen Paris-Eindrücken zu den erzählerischen Passagen der Kindheitserinnerungen und den historisch-biographischen Geschichten des zweiten Teils die schrittweise Wiedergewinnung des 8
' Das Ziel, das in den Athenäumsfragmenten als Programm beschrieben wird, besteht in einer völligen Aufhebung und Neuschaffung der Wirklichkeit in der Kunst (vgl. Fr. Schlegel, Athenäumsfragment Nr. 1 1 6 ; dazu auch Novalis, Werke Bd. 2, S. 420). 86 »Kein Stein hier wird auf dem anderen bleiben, der nicht weggerissen wird.« (Mt 24,2; M k 13,2 und L k 21,6 passim). 87 W. Emrich, Protest und Verheißung, S. 182. 178
traditionellen Erzählens verwirklicht: Malte dringe immer mehr zu einer neuen dichterischen Gestaltung seines Erzählens vor, wobei der Leser selbst Einblick in diesen Gestaltungsprozeß erhalte. Am Ende sei es, im Durchgang durch die mühevolle poetische Arbeit, »wieder möglich geworden, chronologisch zu erzählen«. 8 8 Ulrich Fülleborn weist auf die Revolutionierung der künstlerischen F o r mensprache in Rilkes Roman hin, die einen Reflex auf eine völlig veränderte Wirklichkeitserfahrung darstelle. In detaillierten Textanalysen versucht Fülleborn dann nachzuweisen, daß nicht nur ein dichtes Geflecht von Motiven und Verweisungen den Text strukturiere, sondern daß sich in ihm darüberhinaus ein »Gesetz der Komplementarität« feststellen lasse, 89 das einen inneren Ausgleich der Gegensätze herstelle. Dieses Formprinzip vergleicht Fülleborn mit dem musikalischen Gesetz des Kontrapunkts, nach dem sich gegensätzliche Motive zu einem »polyphonen Ganzen« zusammenfügen. 9 0 In der Fähigkeit, eine sinnberaubte Wirklichkeit in ästhetische Form zu verwandeln und dabei »Sinnleere in Sinnfülle« umschlagen zu lassen, erblickt Fülleborn eines der Geheimnisse dieses Textes und der modernen Kunst überhaupt. 9 ' Es geht nicht darum, solche Interpretationen pauschal zu verwerfen. D o c h haben nicht nur Autoren wie Judith Ryan oder Andreas Huyssen Bedenken gegen den Versuch angemeldet, neue Formgesetze des Erzählens und eine »Statik« des Textes in Rilkes Roman zu entdecken. 9 2 Rilke selbst bestand auf der offenen F o r m und Fragmentarität des Romans, die er keinem expliziten F o r m prinzip mehr subsumieren wollte: »was nun das Buch ausmacht, ist durchaus nichts Vollzähliges. Es ist nur so, als fände man in einem Schubfach ungeordnete Papiere und fände eben vorderhand nicht mehr und müßte sich begnügen. Das ist, künstlerisch betrachtet, eine schlechte Einheit, aber menschlich ist es möglich.« 9 3 Die Verwirrung, die der Roman - besonders auch unter den Verehrern Rilkes - ausgelöst hat, rührt vor allem daher, daß hier gerade der Zerfall des traditionellen Erzählens dargestellt wird. Sein Formprinzip wäre also die Gestaltlosigkeit selbst. Der Tod des Mannes in der Crémerie bildet dabei ein Schlüsselerlebnis: Der Tod wird zu einer Metapher für den Verlust der Vergangenheit, des Gedächtnisses, der Erinnerung und jeglicher Bedeutung, also der Voraussetzungen des Erzählens. Die Hoffnung auf eine neue Sprache und die 88
E. F. Hoffmann, Zum dichterischen Verfahren in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 244. 89 U. Fülleborn, Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 184. Ebd., S. 189. »' Ebd., S. 190. 92 J. Ryan, >Hypothetisches ErzählenHypothetisches Erzählen«, S. 279. Davon sind allerdings die ironischen Darstellungen auszunehmen, die ganz am Anfang des Romans angesiedelt sind (vgl. VI,2), im weiteren Verlauf aber keine Rolle mehr spielen.
180
könne, und er rechnete und rechnete, und es kam eine Summe heraus, wie er noch nie eine gesehen hatte.« (S. 865) Diese vermeintliche Zeitvermehrung erweist sich jedoch regelmäßig als Irrtum, wenn Kusmitsch an den Sonntagen mit seiner Zeit Abrechnung hält und erkennen muß, daß er »unglaublich viel ausgäbe« (S. 866). Die Einsicht, daß gerade das »infame Kleingeld« hingeht, »man weiß nicht wie«, bringt ihn schließlich auf den Gedanken, sein »Geld« auf eine Zeitbank zu bringen, um die »lumpigen Sekunden« wieder in größere Scheine umzutauschen. Doch all diese Versuche können nicht verhindern, daß Nikolaj Kusmitsch in einen panischen Taumel verfällt und von der Angst überwältigt wird, der Boden unter seinen Füßen werde ihm entzogen. Erst durch das Rezitieren von Gedichten gewinnt er wieder einen Halt, der seine Panik besänftigt: »Wenn man so ein Gedicht langsam hersagte, mit gleichmäßiger Betonung der Endreime, dann war gewissermaßen etwas Stabiles da, worauf man sehen konnte, innerlich versteht sich.« (S. 870) Mit dieser Beruhigung verbindet sich die Einsicht, daß es eine andere Zeit geben könne, die nicht mechanisch abläuft, die vielmehr mit dem Schreiben, der Kunst und der ästhetischen Erfahrung zu tun hat. Von der fragmentierten, in kleinste Einheiten umgemünzten Zeit des Nikolaj Kusmitsch hebt sich die holistische Zeiterfahrung des Großvaters Brahe ab, der dank seiner Erinnerung auch vergangene Erlebnisse als gegenwärtig erfahren kann. Seine Erfahrungsweise bildet die entschiedenste Opposition zu einer rein linearen Zeitrechnung. Deswegen erwecken auch der Tod und die Toten keine Angst in ihm: »Die Zeitfolgen spielten durchaus keine Rolle für ihn, der Tod war ein kleiner Zwischenfall, den er vollkommen ignorierte, Personen, die er einmal in seine Erinnerung aufgenommen hatte, existierten, und daran konnte ihr Absterben nicht das Geringste ändern.« (S. 735) Während die anderen Gäste auf Schloß Urnekloster, vor allem Makes Vater, bei der Erscheinung der toten Christine Brahe zutiefst erschrecken, bleibt der Großvater ganz ruhig und beharrt darauf, daß Christine »das Recht hat, hier zu sein« (S. 738). Dem Großvater ist nicht nur die Vergegenwärtigung der Vergangenheit durch die Kraft seiner Erinnerung möglich, er antizipiert auch die Zukunft: man erzählt, »wie er auch das Zukünftige mit demselben Eigensinn als gegenwärtig empfand.« (S. 735) An einer späteren Stelle im Roman erfährt man, daß sich der Großvater schriftstellerisch betätigt. Er ist noch fähig zu erzählen, während Abelone und alle anderen diese Fähigkeit schon verloren haben: »Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein. Ich habe nie jemanden erzählen hören. Damals, als Abelone mir von Mamans Jugend sprach, zeigte es sich, daß sie nicht erzählen könne. Der alte Graf Brahe soll es noch gekonnt haben.« (S. 844) Der Großvater versucht seine Kindheitserinnerungen niederzuschreiben. Seine völlig andere Zeiterfahrung, in der die verschiedenen Zeitdimensionen ebenso wie die unterschiedlichsten Vorstellungen und Phantasien zu einer Einheit zusammenwachsen, ist die Vor181
aussetzung für ein holistisches Erzählen, zu dem die Kinder und Enkel nicht mehr fähig sind. Dieses Erzählen, in dem die Erinnerungen nicht als abgestorbene Erfahrungen mechanistisch abgerufen, sondern buchstäblich wieder zu Blut werden, ist das Vorbild für Graf Brahes Erinnerungs- und Schreibarbeit: »das Blut, darauf kommt es an, da muß man drin lesen können« (S. 848). Auch dem jungen Schriftsteller Malte erscheint gleich am Anfang seiner Aufzeichnungen eine solche Form des Erinnerns und Schreibens als Ideal, das er aber selbst keineswegs einzulösen vermag: Man müsse »Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der andern glich«; man müsse bei Sterbenden gewesen sein und bei Toten gesessen haben. Aber solche Erinnerungen allein genügten noch nicht: Verse könnten erst dann entstehen, wenn diese Erinnerungen »Blut werden in uns« (S. 724^). Verse nämlich seien nicht, wie die Leute meinen, Gefühle, »es sind Erfahrungen« (S. 724). Maltes Verse aber, so wird dann festgestellt, seien »anders entstanden«. Sie sind nicht in der Lage, die toten Erinnerungen zum Leben zu erwecken. Dieses dichterische Programm, demzufolge aus Erinnerungen Erfahrungen werden sollen, stößt bei Malte auf grundlegende Schwierigkeiten. Auf den ersten Seiten der Aufzeichnungen wird diese Schwierigkeit bereits artikuliert: »Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat die? Wäre die Kindheit da, sie ist wie vergraben.« (S. 721) Diese Stelle wurde oft zitiert, und wiederholt wurde daran die Behauptung angeschlossen, daß im weiteren Verlauf des Romans die verlorenen Erinnerungen und damit auch das Erzählen zurückgewonnen würden. Dieser Behauptung ist mit Vorbehalt zu begegnen. In den Kindheitserinnerungen tauchen freilch Individuen auf, die zu einem »runden« Leben, einem eigenen Tod und damit auch zu einem sinnstiftenden Erzählen befähigt sind. Neben dem Großvater Brahe mütterlicherseits, der selbst seine Kindheitserinnerungen zu Papier bringt, gibt es auf der väterlichen Seite den eigensinnigen, widerborstigen Großvater, den Kammerherrn Christoph Detlev Brigge, dem man es noch ansah, »daß er einen Tod in sich trug. Und was war das für einer: zwei Monate lang und so laut, daß man ihn hörte bis aufs Vorwerk hinaus.« (S. 715) Mit der ausführlichen Beschreibung dieses wochenlangen, das ganze Schloß ausfüllenden Todes beginnen die narrativen Einschübe der Kindheitserinnerungen. Dieser raumgreifende Tod ruft »des Untergangs Fülle« über die Zimmer von Ulsgaard herab (S. 717); er ist, im Unterschied zu dem massenhaften, anonymen Tod in der Großstadt ein Siegel auf das pralle und herrische Leben, das dieser Christoph Detlev geführt hatte. »Und wenn ich an die andern denke, die ich gesehen oder von denen ich gehört habe: es ist immer dasselbe. Sie alle haben einen eigenen Tod gehabt.« (S. 720) Diese Erinnerung wird sich später als trügerisch erweisen. Schon mit dem Tod des Vaters, so heißt es gegen Ende des Romans, sei alles anders geworden: »Mein Vater starb in der Stadt, in einer Etagenwohnung, die mir feindsälig und befremdlich schien.« (S. 851) 182
Das relativ zusammenhängende Erzählen der Kindheitserinnerungen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um Erzählfragmente handelt, die in assoziativer Folge in die Aufzeichnungen eingefügt sind und die immer wieder durch Pariser Tagebuchnotizen unterbrochen werden. Die längere Erzählpassage über den Großvater Brahe wird mit der Bemerkung eingeleitet, die Erinnerung selbst sei zu Splittern zerbrochen: sie sei »wie aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen« (S. 729). Auch diese »zerschlagenen« Erinnerungen also bestehen aus Fragmenten, die nicht zu einer wirklichen erzählerischen Einheit zusammengefügt werden können. Dazu kommt, daß nicht nur das schreibende und erinnernde Ich sich selbst als zerbrochen erfährt (»ich kann mich nicht mehr aufheben, weil ich zerbrochen bin«, S. 756), sondern daß auch das erinnerte Ich der Kindheit als fragmentiertes dargestellt wird. Dem in der Urbanen Situation zerbrechenden Ich Makes entspricht ein zerbrochenes erinnertes Ich der Kindheit. 95 Dies ließe sich an zahlreichen Beispielen aufzeigen. Erwähnt seien nur zwei besonders auffällige Episoden: die von der Hand und die vom Spiegelbild. Die Geschichte von der Hand bezieht sich auf ein sehr frühes Erlebnis Makes, das so sehr mit Angst besetzt ist, daß er es trotz mehrerer Versuche weder seiner Mutter noch seinem Freund Erik erzählen konnte. Erst aus der Distanz des Erwachsenen scheint es möglich zu sein, diese frühe Erinnerung ins Licht der Sprache zu heben: Dem kleinen Malte, der ins Zeichnen bunter Bilder vertieft ist, fällt ein Malstift unter den Tisch. Bei dem Versuch, in der dunklen Zone am Boden nach ihm zu suchen, beobachtet er die sich vorwärtstastende Hand und erschrickt zutiefst, als dieser Hand »eine andere Hand entgegenkam, eine größere, ungewöhnlich magere Hand, wie ich noch nie eine gesehen hatte.« (S. 795) Die Wahrnehmung dieser anderen Hand, die die eigene ist, aber nicht als zum eigenen Körper gehörig empfunden wird, erfüllt den kleinen Jungen mit einem Grauen, das sich jeder sprachlichen Mitteilung verschließt. In der anderen Episode probt der Junge verschiedenste Kleidungsstücke an, die er in einem abgelegenen Schrank des Schlosses Ulsgaard findet: »Niemand wird es verwunderlich finden, [...] daß ich ein Kostüm, welches etwa passen konnte, hastig anzog und darin, neugierig und aufgeregt, in das nächste Fremdenzimmer lief, vor den schmalen Pfeilerspiegel, der aus einzelnen ungleich grünen Glasstücken zusammengesetzt war.« (S. 803) Als der kleine Malte sein Gesicht mit einer Maske verdeckt und dabei durch Ungeschicklichkeit einen Flacon zerschlägt, gerät er in Panik, und trotz verzweifelter Versuche gelingt es ihm nicht mehr, sich aus dem Kostüm zu befreien. Aus dem Spiegel blickt " Unter psychoanalytischen Vorzeichen kam Andreas Huyssen zu diesem Ergebnis in seinem Aufsatz Paris/ Childhood: The Fragmented Body in Rilke's >Notehooks of Malte Laurids Brigge< (1989). 183
ihn plötzlich ein Fremder an, »eine fremde, unbegreifliche monströse Wirklichkeit« (S. 808), die zum Auslöser einer tiefgreifenden Selbst-Entfremdung wird. Der »große schreckliche Unbekannte« verselbständigt sich in einem Maß, daß dieser abgespaltene Teil des Selbst das kindliche Subjekt völlig vernichtet: »ich verlor allen Sinn, ich fiel einfach aus. Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts außer ihm.« (S. 808) Auch die Geschichten aus dem grünen Buch sind Erzählabschnitte, die in assoziativer Folge dem Gedächtnis entspringen und immer wieder das Thema des fragmentierten Körpers umkreisen: so z.B., wenn vom Tod Karls des Kühnen die Rede ist, dessen festgefrorenes Gesicht am Eis haften bleibt, so daß eine Identifzierung aufs äußerste erschwert wird: »das Gesicht war eingefroren, und da man es aus dem Eis herauszerrte, schälte sich die eine Wange dünn und spröde ab, und es zeigte sich, daß die andere von Hunden oder Wölfen herausgerissen war; und das Ganze war von einer großen Wunde gespalten, die am Ohr begann, so daß von einem Gesicht keine Rede sein kann.« (S. 889) Selbst in der Erwähnung der großen Liebenden, die verlassen wurden oder deren Liebe unerfüllt blieb, erweist sich das platonische Gleichnis von den zwei Hälften, die »zu einer heilen, goldenen Kugel zusammengehen« (S. 928f.), als Illusion. Die Vorstellung des »Einsamen in seiner Nacht« (S. 929) ergibt wie die von der intransitiven, objektlosen Liebe, welche den Roman beschließt, das Bild einer aus allen Beziehungen gefallenen Sehnsucht. Die Zitate und biographischen Geschichten, auf die der zweite Teil des R o mans über weite Strecken zurückgreift, verwirklichen nicht die neue Sprache, die den Schock der Sinnvernichtung überwinden könnte; ebensowenig bringt dieser Teil in seiner Unabgeschlossenheit die Abgeschlossenheit und Ganzheitlichkeit des alten Erzählens zurück.
7. Im Grenzgebiet von sozialer und ästhetischer Subjektivität Was bei der Lektüre des Romans besonders irritiert, ist das eigenartige Grenzgängertum, dem das Erzähler-Subjekt beständig ausgesetzt ist. Die Krisenerfahrung, die den Text durchzieht und die schließlich in das Konstrukt einer objektlosen Liebe mündet, schafft eine Spannung, die sich im Text an keiner Stelle wirklich auflöst. Einen Höhepunkt dieser krisenhaften Spannung stellt die Erzählpassage vom Tod in der Crémerie dar, zu der wir nun nochmals zurückkehren müssen. Dieser Abschnitt bildet insofern einen Kulminations- und Umschlagspunkt, als hier der völlige Zusammenbruch sozialer Identität und philosophischer Selbstbegründung dargestellt wird und zugleich die Antizipation einer anderen, vom empirischen Subjekt abgetrennten ästhetischen Subjektivität auf184
scheint, die weder auf reflexive Selbstbegründung noch überhaupt auf Selbsterhaltung (im Sinn sozialer Identität) angewiesen wäre. Diese Textstelle scheint mir ein Basistext für den Übergang zur literarischen Moderne überhaupt zu sein: Sie bezeichnet genau die Grenzlinie, an der noch einmal der verzweifelte, aber nicht mehr gelingende Versuch einer Selbstverteidigung des Subjekts dargestellt wird. Der Todesaugenblick wird hier zum Augenblick des völligen Zusammenbruchs sozialer Identität und gesellschaftlich vermittelter Sinnkonstruktionen (»Ein Augenblick noch, und alles wird seinen Sinn verloren haben«, S. 755). Die Grenze, an der das Erzähler-Subjekt steht und die es nicht überschreiten kann, stellt so etwas wie den Rubikon der literarischen Moderne dar: Jenseits dieser Grenze würde aus der Vernichtung traditioneller Bedeutungen eine ästhetisch konstruierte Subjektivität entstehen, die nicht mehr auf Identitätserhaltung ausgerichtet wäre. Malte bringt die produktive Kraft zu diesem Schritt nicht auf: »Nur ein Schritt, und mein tiefes Elend würde Seligkeit sein. Aber ich kann diesen Schritt nicht tun, ich bin gefallen und kann mich nicht mehr aufheben, weil ich zerbrochen bin.« (S. 756) Die Antizipation einer solchen grundlegenden ästhetischen Verwandlung der Subjektivität wird in den Aufzeichnungen dennoch deutlich zum Ausdruck gebracht (»Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird«, S. 756). Karl Heinz Bohrer hat den Prozeß der literarischen Moderne darzustellen versucht, in welchem das sozial bestimmte, teleologisch und philosophisch fundierte Ich schrittweise durch einen spezifisch ästhetischen Modus der Subjekt-Konstruktion abgelöst wird.' 6 Das autobiographische Subjekt ist auf seine Selbsterhaltung und -Stabilisierung ausgerichtet: es will sich selbst gewinnen oder sich gegenüber identitätsgefährdenden Angriffen verteidigen, es zielt letztlich auf seine Rettung, auch da, wo es sich in Geständnisritualen schonungslos enthüllt. Die Radikalität der Selbstdarstellung etwa bei Rousseau dient einer tieferen Wahrheit des Selbst, das es gegen alle Anfechtungen und gesellschaftlichen Angriffe zu verteidigen gilt. Auch die literarischen Subjekte bei Karl Philipp Moritz oder Lenz sind auf Selbsterhaltung ausgerichtet, orientieren sich am Ideal einer ungebrochenen sozialen Identität und klagen diese gerade da ein, wo sie als gefährdet oder gescheitert erfahren wird. In dieser Hinsicht berühren sie sich mit den Selbsterforschungs-Projekten pietistischer Autobiographien, die als eine Quelle der literarischen Autobiographie-Tradition anzusehen sind.97
96 97
Κ . H . Bohrer, D e r romantische Brief (1987). Vgl. hierzu G . N i g g l s Untersuchung Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (1977), in welcher der Zusammenhang autobiographischer Gattungstradition mit pietistischen Selbsterforschungs-Texten, aber auch die kritische Distanzierung v o n diesem Schrifttum und die bald einsetzenden Säkularisierungsprozesse dargestellt werden.
185
D e r Authentizitäts-Anspruch sowie der Rechtfertigungscharakter autobiographischer Texte ist in dem berühmten Vorspann zu Rousseaus
Confessions
deutlich ablesbar: »Voici le seul portrait d'homme, peint exactement d'après nature et dans toute sa vérité, qui existe et qui probablement existera jamais.« 98 Rousseau ruft in feierlicher Weise seine Leser als Zeugen auf, damit sie die Wahrheit seiner Selbstdarstellung erkennen und v o r aller Welt beglaubigen mögen. Bohrer meint in Brieftexten der mittleren Romantik (Kleist, Günderrode, Brentano) zum erstenmal eine Verabschiedung dieses Authentizitätsprinzips zu erkennen; an die Stelle eines aufklärerischen Autonomieanspruchs oder einer emphatischen Selbstbekräftigung des Ichs tritt die Bereitschaft, das soziale Ich zusammen mit dem Bedeutungsanspruch einer konventionell und sozial geregelten Sprache aufs Spiel zu setzen und sie dem Untergang preiszugeben. A n die Stelle der Intersubjektivität des Gedankens und der Rede tritt eine ästhetisch konstruierte Subjektivität, die sich von autobiographisch-historischen Bedingungen ablöst und sich der Imagination und dem Traum verd a n k t . " In den späteren Rêveries Confessions
Rousseaus, die Bohrer in Absetzung von den
dieser imaginativen Subjektivität zuzählt, läßt sich die Beschrei-
bung ekstatischer Augenblicke feststellen, die einer anderen L o g i k als der v o n Zeit und R a u m gehorchen: Die Beschreibung des exzessiven Glücks, das R o u s seau bei seinem Aufenthalt auf der Insel St. Pierre erfahren hat, kulminiert in der Schilderung eines dauerhaften, zeitlosen Zustands der Seele, »sans avoir besoin de rappeler le passé ni d'enjamber sur l'avenir«. 1 0 0 D e r Todesaugenblick in der Crémerie ist der Augenblick sowohl eines Z u sammenbruchs sozialer Identität und der K r a f t zur Selbsterhaltung als auch ein Moment, in dem der Wunsch nach einer völligen N e u s c h a f f u n g der Bedeutungen im Schreiben jenseits konventioneller Semantik entsteht. Die Herausbildung eines neuen emphatischen Ich-Begriffs (»Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird«, S. 756), der von sozialen und biographischen Kategorien abgekoppelt wäre, ist das literarische Programm Makes, das er jedoch selbst nicht einzulösen vermag. Stattdessen verfällt er in seiner N o t auf das » A b schreiben« von Texten (S. 756t.) und - im Schlußteil - auf die Beschwörung historischer Gestalten, die je auf ihre Weise in sozialen Kontexten verankert (oder aus ihnen gefallen) sind. A u c h die Kindheitserinnerungen sind auf die Sozialisation des Ich unter bestimmten familialen Bedingungen bezogen, und gerade in der Evokation der Fragilität dieses Ich wird seine Integrität nochmals eingeklagt. Zugleich weist aber der Text des Romans auch eine Reihe von Merkmalen auf, die f ü r die imaginative Subjektkonstruktion typisch sind: die Überwältigung durch den Augenblick, die momentanistische Subjektivität, die
98 99 100
Les confessions, in: Œuvres complètes Bd. ι, S. 3. Vgl. Κ. H. Bohrer, Der romantische Brief, S. 267. Rousseau, Les rêveries du promeneur solitaire, in: Œuvres complètes Bd. 1, S. 1046.
186
Diskontinuität und Kontingenz, die das Subjekt von übergreifenden Sinnkontexten loslösen. Die zitierte Textstelle, die den Todesaugenblick in der Crémerie zu einem antizipierten Paradigmenwechsel ästhetischer Darstellungsmodi macht, gibt zu einer Korrektur der Bohrerschen These Anlaß: A n dieser Stelle des Romans ist die Simultaneität beider Darstellungsformen und der Grenzgang zwischen sozialer und ästhetischer Subjektivität realisiert (sozusagen als implizite Poetologie des Textes), beide erscheinen nicht als sich ausschließende Alternativen. Auch in der weiteren literaturgeschichtlichen Entwicklung w i r d die Spannung zwischen sozial vermittelten und imaginativ-ästhetischen Kategorien zu verzeichnen sein, auch wenn sich der Schwerpunkt zu einer imaginativen Darstellungslogik hin verschiebt: Besonders in expressionistischer und surrealistischer Literatur wird die traumhafte Verdichtung der Gegenstände und die Zerstörung der Koordinaten von R a u m und Zeit, die Diskontinuität und die Offenheit der Form zu ästhetischen Prinzipien erhoben. Der Schock, den Malte in der Crémerie erfährt, bezeichnet genau den Umschlagspunkt, der den Weg zu einem neuen momentanistischen Selbstverhältnis in der literarischen Darstellung freigibt: Die Verabschiedung des (auto)biographischen Selbsterhaltungsanspruchs und die damit verbundene ästhetische Subjekt-Konstruktion, die nicht mehr dem Authentizitätsparadigma unterworfen ist, lassen sich als genuin poetische Antwort der Moderne auf die individuelle Bedrohung durch den Todesaugenblick begreifen. In seiner Abkoppelung vom referentiellen, empirischen Ich w i r d der Schrecken dieses Augenblicks verwandelt in eine traumhafte, imaginative literarische Welt. Im Labyrinth der Träume stirbt der Tod; er w i r d zu einem Spiel von Signifikanten, dem der Schrecken genommen ist.
8. Im Labyrinth der Träume: Kafka Läßt Rilke seinen jungen Dichter Malte sich an der Grenze von biographischmimetischem Schreibprojekt (das sich explizit in den biographischen Passagen des Schlußteils artikuliert) und imaginativer, augenblicksverhafteter Subjektkonstruktion bewegen, so hat Kafka diese Grenzlinie definitiv überschritten. Die Subjektentwürfe seiner literarischen Texte und seiner Tagebuchaufzeichnungen haben nichts mehr zu tun mit dem vernunftgemäßen, teleologisch orientierten Subjektbegriff aufklärerischer Anthropologie. Während noch Nietzsche den drohenden Kulturverfall und den Zerfall des aufklärerischen Subjekts durch die Idee des Übermenschen und des »Willens zur Macht« aufzufangen suchte, verwirft Kafka eine solch heroische Position und setzt dem Willen zur Macht den Tod und die Auflösung seiner Figuren oder deren völliges Verschwinden entgegen. Es ist auffällig, welch große Rolle der Tod in Kafkas literarischer Welt spielt: Er trifft die meisten Protagonisten der bekannten Erzähl187
texte, wie z.B. in Der Prozeß, Die Verwandlung, Das Urteil, In der Strafkolonie, Ein Hungerkünstler, Josefine, die Sängerin oder Der Jäger Gracchus, aber auch in Kurztexten wie z.B. Ein Brudermord. Es wäre sicher verfehlt, wollte man diesen Texten (und den in ihnen vorkommenden Toden) mit denselben Maßstäben begegnen, mit denen man sich mimetisch-naturalistischer Literatur annähert. In Kafkas Tagebuch gibt es eine Eintragung, die eine poetologische Reflexion auf solche Textstellen darstellt. Darin weist der Autor nicht ohne Schadenfreude auf den Irrweg einer mimetischen Lektüre hin: Auf dem Nachhauseweg sagte ich Max, daß ich auf dem Sterbebett, vorausgesetzt daß die Schmerzen nicht zu groß sind, sehr zufrieden sein werde. Ich vergaß hinzuzufügen und habe es später mit Absicht unterlassen, daß das Beste, was ich geschrieben habe, in dieser Fähigkeit, zufrieden sterben zu können, seinen Grund hat. A n allen diesen guten und stark überzeugenden Stellen handelt es sich immer darum, daß jemand stirbt, daß es ihm sehr schwer wird, daß darin für ihn ein Unrecht und wenigstens eine Härte liegt und daß das für den Leser, wenigstens meiner Meinung nach, rührend wird. Für mich aber, der ich glaube, auf dem Sterbebett zufrieden sein zu können, sind solche Schilderungen im geheimen ein Spiel, ich freue mich ja in dem Sterbenden zu sterben, nütze daher mit Berechnung die auf den Tod gesammelte Aufmerksamkeit des Lesers aus, bin bei viel klarerem Verstände als er, von dem ich annehme, daß er auf dem Sterbebett klagen wird, und meine Klage ist daher möglichst vollkommen, bricht auch nicht plötzlich ab wie wirkliche Klage, sondern verläuft schön und rein. Es ist so, wie ich der Mutter gegenüber immer über Leiden mich beklage, die bei weitem nicht so groß waren, wie die Klage glauben ließ. Gegenüber der Mutter brauchte ich allerdings nicht so viel Kunstaufwand wie gegenüber dem Leser. 1 0 1
In dieser bemerkenswerten Eintragung spricht Kafka davon, daß er in seinen Texten mimetische Deutungsreize sozusagen wie Fallen auslegt, die den Leser gerade in bezug auf die Todesdarstellungen besonders anrühren, obwohl sie eine bestimmbare referentielle Bedeutung nicht mehr enthalten. Der Gewinn, den der Autor aus solchen Texten bezieht, besteht nicht etwa in einer literarischen Selbsttherapie, sondern in dem ästhetischen Konstrukt- und Spielcharakter, der gerade die »überzeugenden Stellen« auszeichnet. Die ironische Selbstdistanzierung, die der Autor diesen Stellen eingeschrieben hat, wird vom Leser zunächst nicht durchschaut. Der Konstruktcharakter des Textes (Kafka spricht von großem »Kunstaufwand«) impliziert ferner eine durchgehende Selbstfiktionalisierung, die der Autor »mit Berechnung« in seinem Schreiben betreibt. Wenn er davon spricht, daß er sich freue, »in dem Sterbenden zu sterben«, und daß die Klage auf seinem Sterbebett vollkommen sei und »schön und rein« verlaufe (eben nicht »wie wirkliche Klage«), so verweist dies auf die völlige Transformation empirischer in eine imaginativ-traumhafte Subjektivität. Der Autor freut sich, »in dem Sterbenden zu sterben« und auf dem Sterbebett zufrieden sein zu können - nicht etwa, weil das Schreiben ihn von der Todesangst befreit hätte, sondern weil alles für ihn zur Literatur geworden ist und 101
188
13. Dez. 1 9 1 4 , Tagebücher, S. 32of.
der außerliterarische Tod nicht mehr in den Blick kommt. Die spielerische Existenz verwandelt permanent den Todesaugenblick in Literatur. Wenige Autoren haben sich mit solcher Entschiedenheit die Verwandlung der außerliterarischen Erfahrung in eine fiktionale zum Ziel gesetzt, bis zu dem äußersten Punkt, w o auch der letzte Kern der empirischen Existenz in literarische Fiktion eingelöst wäre. So kann bei Kafka alles zur Autobiographie werden, weil alle Biographie zur Literatur geworden ist: »Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein«, schreibt Kafka im August 1 9 1 3 an Feiice Bauer. 1 0 2 Und in einem anderen Brief an seine Verlobte heißt es: »Der Roman bin ich, meine Geschichten sind ich«. 1 0 3 Wenn alles zur Fiktion geworden ist, hat auch das soziale Subjekt sich in ein ästhetisch erschriebenes verwandelt, das sich permanent fortschreibt. G e nau darin besteht das merkwürdige Schicksal des Jägers Gracchus, der sich in einem seltsamen Schwebezustand zwischen Himmel und Erde, Leben und Tod befindet - »bald oben, bald unten, bald rechts, bald links, immer in Bewegung«. 1 0 4 Wie Kafka in seinem Tagebuch-Eintrag schreibt, er werde »zufrieden sterben können«, so ist der Jäger Gracchus »gern gestorben«: 105 Er schlüpfte in das Totenkleid »wie ein Mädchen ins Hochzeitskleid«. Diese romantische Inszenierung des Todes verrät im metaphorischen Duktus der Rede das Geheimnis, das sich hinter dem Schicksal des Jägers verbirgt, der >vor ungemein vielen Jahren< starb, aber »gewissermaßen« auch lebt: Gracchus teilt das Schicksal Kafkas, insofern auch er ein Schriftsteller ist. Dies macht der Fiktionsbruch am Ende der Erzählung deutlich (»Niemand wird lesen, was ich hier schreibe« 106 ). Dieser schreibende Jäger aus dem Schwarzwald führt eine Existenz, die jedem empirischen Zugriff auf rätselhafte Weise entzogen ist: »niemand weiß von mir, und wüßte er von mir, so wüßte er meinen Aufenthalt nicht, und wüßte er meinen Aufenthalt, so wüßte er mich dort nicht festzuhalten, so wüßte er nicht, wie mir zu helfen.« 1 0 7 Es ist der Zustand eines traumhaft-unwirklichen Lebens: gestorben und doch nicht tot, der Zeit und der zeitlichen Vollendung entzogen, unabschließbar wie ein Traum, eine spielerische Existenz, die sich im Gestus der Selbstfiktionalisierung beständig fortschreibt. Wenn der Jäger Gracchus am Ende der Erzählung ein Wort des Bürgermeisters lächelnd umdeutet, so bringt er damit den Verlust der Zeitdimension in einem Sprachspiel zum Ausdruck:
IOÎ
Br. vom 14.8.1913, Briefe an Feiice, S. 444. Br. vom 2 . / 3 . 1 . 1 9 1 3 , Briefe an Feiice, S. 226. 104 Sämtliche Erzählungen, S. 287. ,0 < Ebd., S. 288. Ebd. Ebd.
105
189
»Und nun gedenken Sie bei uns in Riva zu bleiben?« »Ich gedenke nicht«, sagte der Jäger lächelnd und legte, um den Spott gutzumachen, die Hand auf das Knie des Bürgermeisters.
Der Verlust des Eingedenkens und der Erinnerung markiert die entscheidende Differenz zum »alten« Erzählen, dessen Ziel in der Wiedergewinnung der verlorenen Erinnerung bestand, in der das Leben sich (im Positiven oder Negativen) runden konnte - und die dafür auch den Tod in Kauf zu nehmen hatte. Die spielerische Existenz Kafkascher Fiktionen verzichtet auf die Möglichkeit einer Vollendung in der Zeit, wie die fiktionalen Texte selbst auch ohne Ende bleiben - so unabgeschlossen wie das Leben des Jägers Gracchus, das zu einem unabgeschlossenen und unabschließbaren Text geworden ist. Der Gewinn solcher Literatur ist eine enorme Erweiterung des Spektrums der Darstellung; unter der Perspektive der Aufhebung des referentiellen Bezugs, in der Zone des Traums wird alles möglich, und die Möglichkeit ironischen Spiels erlaubt es, unzählige Male in den Figuren zu sterben. Auch die schonungslosen und grausamen Bilder gedeihen in dieser traumhaften Welt: die Spiele der Macht und der Gewalt, des grausamen und ungerechten Todes, der schrecklichen Gewissensqualen. Kafka wurde zu einem Experten der Macht und der Entfremdung. Nur ein schwacher Schimmer, als käme er aus dem Gesetz, läßt in Kafkas Texten eine andere Sehnsucht erkennen: »Mein Leben habe ich damit verbracht, mich gegen die Lust zu wehren, es zu beenden.« 108 Dem Jäger Gracchus bleibt die Lust einer endlichen Existenz verwehrt. Erst jenseits des entfremdeten Lebens, das sich nicht mehr in Fiktionen aufheben müßte, könnte sich diese Lust in den Wunsch verwandeln, alt und lebenssatt zu sterben.
108
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, S. 338.
190
VII. »Dem Tod keinen Platz einräumen in seinen Gedanken«: Thomas Manns Zauberberg und Freuds Zeitgemäßes über Krieg und Tod Er wußte, was er sah: Das Leben ohne Zeit, das sorg- und hoffnungslose Leben, das Leben als stagnierend betriebsame Liederlichkeit, das tote Leben. Th. Mann, Der Zauberberg
Traum und Rausch spielen in Thomas Manns Werk eine große Rolle. Sie stehen bei ihm jedoch - jedenfalls seit seiner Arbeit am Zauberberg - in einem Spannungsfeld, in welchem die Humanität und die »Form« gegen die Formauflösung, das Individuum gegen die Entindividualisierung und das Aufgehen im »Unbegrenzten« und Formlosen verteidigt werden. Dieser Wille zur Form, der auch in einer relativen Geschlossenheit des Erzählens seinen Ausdruck findet, scheint jenem Prozeß der literarischen Moderne zu widersprechen, wie er beispielhaft in Rilkes Malte zum Ausdruck kommt. Der klassische Gestaltungswille, der für Thomas Mann charakteristisch ist und der mit seiner Verteidigung des Subjekts in Beziehung steht, ist jedoch in vielfacher Weise gebrochen und hat epische Formen hervorgebracht, die bei aller Klassizität vieles von der Schreibweise der »Modernen« in sich aufgenommen haben. An Thomas Manns Zauberberg läßt sich dies exemplarisch verdeutlichen. In diesem Roman, der 1924 erschienen ist und dessen Abfassung zu einem beträchtlichen Teil mit der Zeit des Ersten Weltkriegs zusammenfällt, wird, wenn auch mit gebrochener Kraft, das Individuum in seiner sozialen Identität verteidigt und die Form gegen die »Unform« und »Überform«, gegen den Tod als völlige Auflösung auf der einen und als asketische Erstarrung auf der anderen Seite beschworen. Daß dieser Roman insbesondere eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg darstellt und sich episch mit ihm auseinandersetzt, gilt inzwischen als communis opinio.1 Es hat ebenfalls mit der Erfahrung des Krieges zu tun, wenn der Tod, der zu einem Leitmotiv dieses Romans geworden ist, eine charakteristische Umwertung erfährt und nicht mehr wie bei Georg Simmel als Grenze und als formgebendes Gesetz des Lebens angesehen wird, sondern umgekehrt als »Unform«, als Macht der Zerstörung. Thomas Mann spricht in seinen Selbstkommentaren immer wieder von der Abwehr gegen eine »romantische Todesphilosophie«, die unter dem Eindruck eines bis dahin beispiellosen Vernichtungskrieges ihre Gefährlichkeit und Absurdität offenbarte. 2 Für diese ' Vgl. z.B. H. Koopmann, Der klassisch-moderne Roman, S. 71. Vgl. z.B. den Brief an Helmuth Ulrici, in dem Thomas Mann 1925 schrieb, es handle sich im Zauberberg »letzten Endes um Kritik und Uberwindung der als Todesfaszina-
2
191
Abkehr von der Romantik oder vielmehr von ihrer Wirkungsgeschichte und der aufkommenden »deutschtümelnden Romantikverherrlichung« in den zwanziger Jahren 3 bildet der Zauberberg eine wichtige Nahtstelle, weil in ihm sowohl der Konflikt zwischen romantischer Todessehnsucht und aufklärerischer Humanität als auch bereits die zunehmende Hinwendung Thomas Manns zu aufklärerischen Positionen ablesbar ist. Daß der Zauberberg auch eine epische Auseinandersetzung mit Schopenhauers Metaphysik und Nietzsches Tragödienschrift enthält, wurde ebenfalls - wenn auch mit unterschiedlichen Vorzeichen - festgestellt.4 Zugleich stellt der Roman - und dies wurde bisher nicht beachtet - eine kritische Abwehr der kulturpessimistischen Thesen Sigmund Freuds dar, die sich in ihren anthropologischen Implikationen in dessen Doppelaufsatz Zeitgemäßes über Krieg und Tod aus dem Jahr 1915 finden. Mit Thomas Manns Zauberberg und Freuds Kriegsaufsatz liegen, wie zu zeigen sein wird, zwei in ihrer Ausrichtung gegensätzliche Reaktionen auf das Ereignis des Ersten Weltkriegs vor. Dieser Bezug zu Freud ist in Thomas Manns Roman mit intertextuellen Markierungen versehen; die »Umwertung« des Todes im Zauberberg hat mit einem erkennbaren Affront gegen Freuds Todesauffassung und dessen intellektuelle Verarbeitung des Krieges zu tun. Der Roman enthält eine komplexe Kritik der Modernität und der »modernen« Anthropologie, wie sie sich in Freuds psychoanalytischen Schriften manifestiert; diese kritische Position ist in das Form-Konzept des Romans selbst eingegangen.
ι. Traum und Rausch Es ist bezeichnend, daß Thomas Mann manche der literarischen Formen, die für die Moderne typisch geworden sind, in seine Texte integriert, dabei aber eine relativ klassische Form bewahrt.' Dies gilt z.B. für das »traumhafte« Schreiben, das zur charakteristischen Schreibform Kafkas geworden ist. Thomas Mann eignet sich etwa ab 1 9 1 1 - das hat Manfred Dierks im einzelnen nachgewiesen - die Traumtechnik an, die zwischen 1910 und 1914 in einem hochassoziativen Schreibstil ihren literarischen Ausdruck fand und als Reak-
1 4
5
tion verstandenen Romantik zugunsten des Lebensgedankens und eines neuen Humanitätsgefühls« (Selbstkommentare, S. 72). H. Koopmann, Philosophischer Roman oder romanhafte Philosophie?, S. Sif. Hierzu vor allem B. Kristiansen, Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik (1986), und die der Untersuchung vorangestellte Einführung von Helmut Koopmann, S. I X - X X V . Dies veranlaßte Helmut Koopmann, den Ausdruck »klassisch-moderner Roman« zu verwenden (vgl. den Titel seines Buches Der klassisch-moderne Roman in Deutschland, 1983).
192
tion auf die Ich-Krise der Jahrhundertwende angesehen werden kann.6 Die Verfahren der Verdichtung und Verschiebung, die nach Freuds Traumdeutung grundlegende Mechanismen der Traumarbeit darstellen, finden in den Jahren nach 1910 in verstärktem Maß Eingang in die Literatur: An die Stelle des kausalen und linearen Erzählens treten die Assoziation, die Klanganalogie und die Verdichtung von Vorstellungen,' die zu vielschichtigen Bildkomplexen verschmelzen.7 Thomas Mann bedient sich dieses neuen Darstellungsverfahrens, ohne aber die traditionelle Erzählform aufzulösen: Er gibt nicht nur den epischen Wirklichkeitsbezug nicht auf, sondern verstärkt noch die Kohärenz des Erzählens; diese ästhetische Integrationsleistung8 stellt eine Gegenkraft gegen die »modernen« Tendenzen zur Formauflösung dar. Die Integration der traumhaften Welt in die realistische Erzählung liefert einen besonderen erzähltechnischen »Zugewinn«:9 Die Anschauungsformen von Zeit und Raum, die dem realistischen Erzählen zugrundeliegen, werden transzendiert bzw. überlagert durch eine überzeitliche Ebene und geben somit den Blick auf eine zweite allegorische Bedeutungsschicht frei. Das Erzählen in der Zeit wird transparent für eine Welt, die der Ordnung von Zeit und Raum enthoben ist. Diese »allegorische Doppelbödigkeit« des Erzählens 10 ist schon im Tod in Venedig anzutreffen, wo z.B. die reale Gestalt des fremden Mannes am Nordfriedhof transparent wird für einen mythischen Hintergrund, in dem die Gestalt des Totenführers Hermes und die des Gottes Dionysos verschmelzen: Die Erzählfigur erweist sich als traumhafte Verdichtung mehrerer Vorstellungen. Für den Leser wird diese »überzeitliche«, das reale Erzählgeschehen überlagernde Bedeutungsschicht erkennbar durch die leitmotivische Verknüpfung von Gestaltkonfigurationen (der fremde Mann offenbart sich als Hermes-Gestalt durch seine mythische Wiederkehr u. a. in dem venezianischen Gondoliere und dem rothaarigen Gitarristen). Daß aber das Erzählen, jedenfalls auf seiner ersten Bedeutungsebene, dennoch der Zeit und der chronologischen Ordnung zu folgen habe, wird im Zauberberg in einer poetologischen Selbstreflexion des Romans zu Beginn des siebten Kapitels (>Strandspaziergang»Dacht' ich's doch, daß das geträumt warGanz reizend und fürchterlich geträumt. Ich wußte es im Grunde die ganze Zeit und alles hab ich mir selbst gemacht [...], Schönes wie Scheußliches, ich wußte es beinahe im voraus.«« (S. 68}) Der Konstruktcharakter der Träume, in denen sich die Subjektform auflöst und die transzendentalen Anschauungsformen von Raum und Zeit ungültig werden, wird als Verirrung bezeichnet, denn »Schlaf« und »Traum« sind dem »jungen Leben im höchsten Grade gefährlich« (S. 686). Diese poetologische Volte im Schneekapitel, in dem die Gefährlichkeit der Literatur als Traum hervorgehoben wird, ist umso signifikanter, als die vorausgehenden Träume tatsächlich literarische Versatzstücke sind: Der Traum von den »Sonnenleuten« und friedlichen Hirten (S. 6jjiî.) beschwört die harmonische Welt Arkadiens herauf, während der Traum vom »Blutmahl« (in ihm wird in einem Tempel ein kleines Kind zerrissen, S. 682Í.) bei einem Text aus Nietzsches Tragödienschrift Anleihe nimmt. 13 In einem Kafka-Aufsatz mit dem Titel Dem Dichter zu ehren nimmt Thomas Mann auf die Traumlogik Kafkascher Texte Bezug und stellt ihnen die Ansicht entgegen, daß Kunst nicht eine asketische Verneinung des Lebens und
13
Vgl. M. Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie, S. 43; B. Kristiansen, Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik, S. 172. Vgl. hierzu auch die Stelle im Schneekapitel: »Die große Seele, von der du nur ein Teilchen, träumt wohl mal durch dich, auf deine Art, von Dingen, die sie heimlich immer träumt.« (S. 684) In Nietzsches Tragödienschrift wird die Zerstückelung des Knaben Dionysos durch die Titanen beschrieben: »In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysos der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei, [...] wobei angedeutet wird, dass diese Zerstückelung, das eigentlich dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten.« (Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 72)
196
dessen fiktionale Aufhebung in der Kunst sein müsse, vielmehr eine »ethische Außerungsform des Lebens selber« sein könne.' 4 Kafka »war ein Träumer«, so schreibt Thomas Mann, »und seine Dichtungen sind oft ganz und gar im Charakter des Traumes konzipiert und gestaltet; sie ahmen die alogische und beklommene Narretei der Träume, dieser wunderlichen Schattenspiele des Lebens, zum Lachen genau nach.«' 5 Die völlige Selbstfiktionalisierung, die Kafka im Schreiben betreibt, bedeutet für Thomas Mann eine »abtötende Verneinung des Lebens zugunsten des Werkes«, und er belegt dies mit der berühmten Briefstelle, in der Kafka schreibt: »der Sinn für die Darstellung meines traumhaften inneren Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt, und alles andere ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern«.' 6 In seinen weiteren Ausführungen beharrt Thomas Mann - bei aller respektvollen Würdigung Kafkas - auf der sozialen Bezogenheit der Kunst: In ihr müsse sich die einsame Phantasiewelt des Dichters mit der Sozialität, das Fiktionale mit der Welt verbinden. Dies ist ein deutlicher Vorbehalt gegenüber jenem Prozeß der literarischen Moderne, in dem an die Stelle sozialer Subjektivität zunehmend die ästhetische Konstruktionslogik des Traums und die imaginative Subjektkonstruktion tritt. Thomas Mann zitiert in seinem Kafka-Essay mit Emphase einen Satz Goethes, in dem die Verknüpfung und Versöhnung von Kunst und Sozialität gefordert werden: »Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.«' 7 Diese Verteidigung des referentiellen Bezugs des Kunstwerks und die damit korrelierende Verteidigung des sozialen Subjekts ist auch im Zauberberg unübersehbar. Sie artikuliert sich in der formalen wie inhaltlichen Anlage des Romans: als Verteidigung der Form gegen die (regressiven) Mächte der »Unform« und des Todes, die aber zugleich einen entscheidenden Platz in der Anlage des Romans einnehmen. Einen so entscheidenden freilich, daß sie, wie die Mächte des Traums, keineswegs einfach in die Negativität verbannt werden können. Den zum Teil negativen Bewertungen Castorps und des Erzählers widerspricht immer wieder die Gesamtanlage des Romans, in welchem der Rausch, der Traum, die Regression und die Todesnähe durchaus erkenntnis- und bewußtseinserweiternde Funktionen haben. Hans Castorp ist auf den Höhen des Zauberbergs der erfahrungsverengenden Sphäre der bürgerlichen Welt entzogen und befindet sich gleichsam am Schnittpunkt unterschiedlicher, zum Teil gegensätzlicher
'* GW X, S. 774. " Ebd., S. 772. 16 Ebd., S. 774. 17 GW X, S. 775; Hervorh. im Original. 197
Einflußbereiche. Die Einlassungen Castorps auf diese Gegensätze sind geradezu experimenteller Natur - was etwa in der Formel des »placet experiri« zum Ausdruck kommt.' 8
2. Umwertung des Todes Die schiere Umkehrung des Simmelschen Todesbegriffs bei Thomas Mann ist augenfällig, und gerade im Zauberberg tritt diese umgestürzte Begrifflichkeit besonders hervor. Während für Simmel in lebensphilosophischer Perspektive der Tod als Begrenzung des Lebens sowohl ein Moment der Formgebung als auch der Lebensintensivierung darstellt, verschiebt sich diese Auffassung in Thomas Manns Werk sukzessive ins Gegenteil: Der Tod wird zur formauflösenden Macht, die das individuell bestimmte, humane und in soziale Formen eingebundene Leben zerstört. Noch Thomas Buddenbrook erlebt bei seiner Schopenhauer-Lektüre ein tiefes Glücksgefühl, wenn er begreift, daß der Tod nicht die Zerstörung des Ichs, sondern seine Befreiung aus den Fesseln der Individuation bedeutet. Diese Erkenntnis wird freilich vom Erzähler sanft ironisiert, wenn er sie dem lebensmüden Senator mit einem Überschwang an Pathos zuteil werden läßt und wenn dabei dessen Brust »vor innerlichem Schluchzen erzittert«.19 Diese Erkenntnis bedeutet für Thomas Buddenbrook zunächst eine Erlösung aus dem Geist Schopenhauerscher Philosophie: »Der Tod war ein Glück so tief, daß es nur in begnadeten Augenblicken, wie dieser [sie],20 ganz zu ermessen war. Er war die Rückkunft von einem unsäglich peinlichen Irrgang, die Korrektur eines schweren Fehlers, die Befreiung von den widrigsten Banden und Schranken - einen beklagenswerten Unglücksfall machte er wieder gut.«21 Schon bald jedoch wird der Senator selbst diese Erkenntnis widerrufen, oder zumindest ihre Tragfähigkeit in Frage stellen: Der Vorsatz, dieses »ungeheure Glück« festzuhalten und sich »die ganze Weltanschauung« anzueignen, »aus der es hervorgegangen war«, wird unter dem Einfluß seiner bürgerlichen Instinkte schnell wieder fallengelassen: »Immer noch mit dem Vorsatz beschäftigt, die wunderbare Lektüre wieder aufzunehmen, fing er doch an, sich zu fragen, ob die Erlebnisse jener Nacht in Wahrheit und auf die Dauer etwas für ihn seien und ob sie, träte der Tod ihn an, praktisch standhalten würden. Seine
lS
20 21
198
F ü r Anregungen hierzu bin ich Prof. Ruprecht Wimmer, Universität Eichstätt, dankbar. G W I, S. 656. Der Erzähler verwendet hier vor lauter Überschwang den falschen Kasus. G W I, S.656.
bürgerlichen Instinkte regten sich dagegen.«22 Bereits nach zwei Wochen gibt er seine philosophischen Pläne auf und befiehlt dem Dienstmädchen, das Buch, das »unordentlicherweise« in der Schublade des Gartentischs herumliegt, wieder in den Bücherschrank zu stellen.23 Der bald erfolgende Tod wird denn auch alles andere als ein Glücksmoment sein. Er überfällt nicht nur den Körper, sondern auch den Geist des Senators mit großer Brutalität und bewirkt geradezu eine Verelendung des »Gehirns«: »Es war genau, als würde sein Gehirn ergriffen und von einer unwiderstehlichen Kraft mit wachsender, fürchterlich wachsender Geschwindigkeit in großen, kleineren und immer kleineren konzentrischen Kreisen herumgeschwungen und schließlich mit einer unmäßigen, brutalen und erbarmungslosen Wucht gegen den steinharten Mittelpunkt dieser Kreise geschmettert.«24 In den Selbstkommentaren zum Zauberberg wird Thomas Mann immer wieder betonen, daß sein Ziel die Uberwindung einer »romantischen Todesfaszination« gewesen sei. Schon 1915, also in der Anfangsphase der Arbeit am Zauberberg, schreibt Thomas Mann an Paul Amann, in dem geplanten Roman habe sich ein junger Mensch »mit der verführerischsten Macht, dem Tode« auseinanderzusetzen,25 wobei allerdings die Tendenz eher der »Sympathie mit dem Tode« zuneige. In einem Gespräch mit Bernard Guillemin aus dem Jahr 1925 bezeichnet Thomas Mann den jungen Hans Castorp als einen »geopfert e ^ ) Vorläufer«, dem es nicht mehr vergönnt sei, den neuen, im Zauberberg antizipierten »Begriff von Humanität« zu erleben.26 Es hat nicht an Stimmen gefehlt, die Thomas Manns Selbstkommentare nach 1922 als Umdeutung des Romans ins Positive verstanden haben, während die Anlage des Romans selbst diesem demokratischen Lebensoptimismus widerspreche.27 Schon sehr früh, im Jahr 1915, spricht Thomas Mann allerdings von »pädagogisch-politischen Grundabsichten«, die er mit dem Roman verfolge: Der Held solle »durch die geistigen Gegensätze von Humanität und Romantik, Fortschritt und Reaktion, Gesundheit und Krankheit« geführt werden.28 Auch die finale Anlage des Romans entspricht einer sehr frühen Konzeption Thomas Manns; der Roman solle mit dem Kriegsausbruch enden: »der Schluß, die Auflösung, - ich sehe keine andere Möglichkeit, als den Kriegsaus22
Ebd., S. 659. > Ebd., S. 66o. 2 " Ebd., S. 680. 25 Selbstkommentare, S. n f . 26 Ebd., S. 77. 27 Vgl. z.B. Herbert H . Lehnen, der in einem Aufsatz die Meinung vertritt, Thomas Mann wolle »die Bedeutung des Romans ins Positive wenden«, während er erkenne, daß die Struktur des Romans diesem Wunsch nicht entspreche. Gerade dieses Bedürfnis nach Umdeutung sei »ein biographisches Faktum ersten Ranges, das einen Hinweis auf die Intention des Joseph« enthalte (Hundert Jahre Thomas Mann I, S. 1 i2f.). 2
28
An Paul Amann, 3.8.1915 (Selbstkommentare, S. 13). 199
bruch. Man kann als Erzähler diese Wirklichkeit nicht ignorieren, und ich glaube ein Recht auf sie zu haben, da das Vorgefühl davon in allen meinen Conceptionen war.«19 Diese »Wirklichkeit« des Krieges ist für Thomas Mann ein wesentlicher Schreibantrieb, und der ganze Roman läßt sich als epische Auseinandersetzung mit diesem Krieg begreifen, an den Thomas Mann zunächst nicht glauben wollte. 30
3. Die Oppositionen: »Uberform« und »Unform« Durch den ganzen Roman zieht sich ein Geflecht von Oppositionen, die in leitmotivischer Verknüpfung auftreten und die lineare Chronologie des Textes überlagern. Diese Oppositionen bestimmen die Struktur und den Zusammenhalt des Romans und machen nach Thomas Manns eigener Maßgabe eine zweite Lektüre erforderlich: »seine besondere Machart, sein Charakter als Kompositum bringt es mit sich, daß das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird«.31 Die Leitmotivtechnik, nach der sich das Werk als ein »Themengewebe« darstellt, sei im Zauberberg »auf die komplizierteste und alles durchdringende Art angewandt«.32 Neben dem Zweck der strukturellen Verklammerung hat die Leitmotivik insbesondere eine zeitaufhebende Funktion, durch welche die lineare Erzählabfolge gewissermaßen transzendiert wird.33 Die Polarität des Romans spannt sich zwischen zwei anthropologischen Extremformen aus, die beide Travestierungen des Todes sind: der »Unform«, der Auflösung aller Lebensform einerseits und der »Überform«, der asketischen Strenge und Maßregelung des Lebens auf der anderen Seite. Dem zweiten Pol ist der »spanische Komplex« zuzuordnen.34 Er findet seine ausführliche Explikation in einem Gespräch, in das sich Hans Castorp mit Joachim Ziemßen vor dem Leichnam des Herrenreiters einläßt: Die »Uberform« ist bestimmt durch das Asketisch-Strenge, das Militärische, die schwarze Kleidung, wie sie am spa-
30
Ebd., S. 13. Vgl. den Brief an Paul Amann vom 25.3.1917, in dem es heißt: »Aber merkwürdig bleibt mir, wie ich schon vor dem Kriege, an den ich nicht glaubte, die Politik, und zwar die politischen Probleme des Krieges, im Blute und Sinne hatte« (Selbstkommentare, S. 15). Vgl. die auffallend ähnliche Stelle in Freuds zuvor erschienenem Aufsatz Zeitgemäßes über Krieg und Tod: Freud spricht von dem »Krieg, an den wir nicht glauben wollten.« (StA I X , S. 38)
3
' Einführung in den Zauberberg (1939), G W X I , 6iof. Ebd., S. 6 1 1 . 33 Vgl. B. Kristiansen, Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik, S. 203. 34 Es ist ein besonderes Verdienst der Arbeit von B. Kristiansen, diesen Komplex des »Spanischen« detailliert herausgearbeitet zu haben (vgl. ebd. S. 34). 32
200
nischen Hof des Königs Philipp getragen wird (S. 410); die Zucht und die Ordnung, die dort herrschen, zeugen von einer »anderen Geistesrichtung«, sind nicht bestimmt von »humanistischer Courtoisie« und Liberalität. Die Sprache, die man dort spricht, ist kein »Bildungslatein«, sie ist vielmehr verwandt mit dem »unterirdische(n) Gesang« der mittelalterlichen Mönche, der »Totensprache«, dem »streng Abgezirkelten« und Akkuraten, womit die Königin (die aus Frankreich stammt) sich nicht abfinden kann: »>In meinem Frankreich war's doch anders*, natürlich, der ist es zu akkurat und umständlich, die möchte es fideler haben, menschlicher« (S. 410). Hans Castorp bringt dieses »Spanische« besonders mit der militärischen Disziplin in Verbindung: Beim Militär müsse man immer »mit dem äußersten Ernstfalle rechnen und damit, es mit dem Tod zu tun zu bekommen. Ihr habt die Uniform, die ist knapp und proper und hat einen steifen Kragen, das gibt euch Bienséance. Und dann habt ihr die Rangordnung und den Gehorsam und erweist euch umständlich Ehre untereinander, das geschieht in spanischem Geiste« (S. 410). Von solcher Disziplin war schon Hans Castorps Großvater, Hans Lorenz Castorp, durchdrungen, der am Anfang des Romans im lebensgeschichtlichen Rückblick (2. Kap.) erwähnt wird. Der junge Castorp erinnert sich an ein G e mälde, das den Großvater in schwarzem Talar zeigte, mit einer »gestärkte(n) und vielfach gefältelte(n) Tellerkrause, vorn niedergedrückt und an den Seiten aufwärts geschwungen« (S. 40). Dieses Bild erweckt in dem Betrachter »allerlei spanisch-niederländisch-spätmittelalterliche Vorstellungen« (S. 41). Hans Castorps Blick wird ganz besonders von der »spanische(n) Krause«, diesem »bewunderungswürdige^) Kleidungsstück«, angezogen (S. 41). In seiner ersten Begegnung mit Naphta wird Castorp sofort den »militärischen Stand« mit dem Jesuiten in Verbindung bringen und die Versatzstücke in seiner Erinnerung abrufen, die dem Komplex der »Überform«, der Strenge und des Todes korrespondieren: E r habe, so sagt Castorp, »eine Menge Verständnis und Neigung für den militärischen Stand«. Es habe damit »eine verteufelt ernsthafte Bewandtnis«: immer müsse dieser Stand damit rechnen, »es mit dem Tode zu tun zu bekommen, - mit dem ja letzten Endes auch der geistliche Stand es zu tun hat, - womit denn sonst. Daher hat der Soldatenstand die bienséance und die Rangordnung und den Gehorsam und die spanische Ehre, wenn ich so sagen darf, und es ist ziemlich gleich, ob einer einen steifen Uniformkragen trägt oder eine gestärkte Halskrause, es kommt auf dasselbe hinaus, auf das A s k e t i sches wie Sie vorhin so hervorragend sich ausdrückten« (S. $25). Naphta wird den »spanischen Komplex« prototypisch repräsentieren: nicht zuletzt dessen Tödlichkeit, wenn er sich selbst erschießt. Daß der Gründer des Jesuitenordens aus Spanien stammt und sein »Exerzierreglement« in spanischer Sprache verfaßte (S. 619), wird in dem Jesuitenkapitel >Operationes spirituales< ausdrücklich erwähnt. A n Naphtas geistiger Zuordnung besteht von Anfang an kein Zweifel. 201
Umso erstaunter muß Hans Castorp sein, wenn er von Joachims Mutter erfährt, daß Clawdia Chauchat sich nach Spanien begeben will: Und da denke er nun darüber nach, daß Frau Chauchat also nach Spanien zu gehen beabsichtige. Hm. Spanien, das liege [...] ebenso weit von der humanistischen Mitte ab, - nicht nach der weichen, sondern nach der harten Seite; es sei nicht Formlosigkeit, sondern Uberform, der Tod als Form, sozusagen, nicht Todesauflösung, sondern Todesstrenge, schwarz, vornehm, und blutig, Inquisition, gestärkte Halskrause, Loyola, Eskorial . . . Interessant, wie es Frau Chauchat in Spanien gefallen werde. Das Türenwerfen werde ihr dort wohl vergehen (S. 69γ) } ί
Madame Chauchat stellt zunächst jedoch den anderen Pol der epischen Philosophie des Romans dar, sie ist der Antipode zur Form, vertritt in der Perspektive der Castorpschen Verfallenheit an den Eros die völlige Formauflösung, die Freiheit, die Hingabe an den Rausch und die ekstatische Entindividualisierung. Also alles das, was der geordneten Flachlandexistenz des Ingenieurs entgegengeordnet ist. Settembrini spricht etwas abfällig vom »asiatische(n) Prinzip«, dem er die Unbeweglichkeit und die »untätige Ruhe« zuordnet (S. 221). In der Walpurgisnacht-Szene läßt sich Hans Castorp ganz von diesem »asiatischen« Bereich affizieren und plädiert dort - im Schutz der französischen Sprache emphatisch für die völlige Form-Auflösung: »Pourquoi, au fond, de la forme? La forme, c'est la pédanterie elle-même!« (S. 475) Eine auffällige Positionsveränderung Castorps, eine langsame Aufweichung seiner Idee von der formalen Strenge der Kunst, der Wissenschaft und des Lebens vollzieht sich schon in dem Kapitel >HumanioraTatarenschlitze< und >Steppenwolfslichter< bezeichnet hatte, - an früh erschaute und unvermeidlich wiedergefundene, an Hippe's und Clawdia Chauchats
Augen.«
(S. 661) In dieser Welt mineraler Zeitlosigkeit scheinen die transzendentalen A n schauungsformen von Raum und Zeit aufgehoben, die »Schatten der Erscheinungswelt« (S. 667) treten zurück und geben den Blick frei auf eine bewußtseinstranszendente Sphäre jenseits der sinnlichen Phänomene. Daß hier Thomas Manns Roman einer Schopenhauerschen Optik folgt, die Vorstellungswelt ihren Schleier zurückzieht und eine noumenale Welt - die eigentliche Welt des »Willens« - freigibt, wurde wiederholt festgestellt. 39 Allerdings ereignet sich in dieser Auflösung des Lebens und seiner Formen und in dieser Aufhebung der Zeit keineswegs jener Glücksaugenblick, den Schopenhauers Philosophie dem Senator Buddenbrook versprach: Der Tod ist hier nicht die glückliche Lösung von den Fesseln der Individuation und die beruhigende Reintegration des Individuums in den Seins-Urgrund, in die Welt des Willens. Castorps Weg mündet vielmehr in die widersprüchliche Erfahrung eines zweifachen Traumes, der durch den Portweingenuß und die Erschöpfung ausgelöst wird. Diese Traumwelt führt in das »Nichts« der Schneelandschaft wiederum eine polare Spannung ein, die in gewisser Hinsicht die polare Spannung des Romans reproduziert. Der erste Traum von den »Sonnenleuten« enthält eine Art Menschheitsutopie:
die Utopie
eines
harmonischen,
»sonnig-gesitteten«
Glücks
(S. 681), in dem sich würdevolle Strenge mit heiterer Liebenswürdigkeit verbindet. Es ist das utopische Bild einer »verständig-heitere(n), schöne(n) jungein) Menschheit« (S. 679). Ein »schöner Knabe« weist jedoch den Betrachtenden »ins Weite« und läßt seinen Blick auf ein Tempeltor fallen, hinter dem sich die Szenerie des zweiten Traums abspielt. N u n erlebt Castorp - in völliger Gegensätzlichkeit - einen Traum, der blankes Entsetzen in ihm hervorruft: Es ist ein Traum der körperlichen Zerstückelung und der zerfallenden Formen. Zwei »graue Weiber« zerreißen über einem Becken ein kleines Kind und verschlingen seine Körperteile: »Grausende Eiseskälte hielt Hans Castorp in Bann.« (S. 683) Dieser doppelte Traum ist weniger von Schopenhauerschem als von Nietzscheschem Geist geprägt, insofern sich darin die Doppelheit von apollinischer Schönheit und dionysischem Schrecken spiegelt. Entscheidend
39
zur Natur sich mit vollem menschlichen Recht als das bekennen und offenbaren kann, was es ist: als Furcht, als Fremdheit, als unzukömmliches und wildes Abenteuer.« ( G W X I , S. 3 9 4 f.). Vgl. z.B. M . Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie, S. 122: Thomas Mann »erzähle« hier Schopenhauersche Philosophie. Dazu auch B. Kristiansen, Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik, S. 2o8ff.
204
sind jedoch die Überlegungen, die Castorp nach seinem Erwachen daran anschließt: Sie stellen eine Art Lösungsformel des ganzen Romans dar. Diese Überlegungen spielen sich in einem Zwischenbereich zwischen Traum und Realität, zwischen Fiktion und Geschichte, Dichtung und Wahrheit ab. Der Bereich des Übergangs bewahrt das wahrnehmende Subjekt sowohl vor einer völligen Regression in den Traum als auch vor einer Unterwerfung unter das Diktat des Faktischen. Er kennzeichnet jene intermediäre Sphäre, die Freud dem Tagtraum zuordnet und die D. W. Winnicott als den eigentlichen Ort der Kreativität bestimmt hat.40 Im Zauberberg heißt es an dieser Stelle: »Es war jedoch kein rechtes und eigentliches Erwachen [...] er träumte gewissermaßen fort, - nicht mehr in Bildern, sondern gedankenweise« (S. 683). In diesem die Erkenntnis befördernden intermediären Bereich beschreitet Hans Castorp nun nach der Regression in den Traum den umgekehrten Weg: von der Auflösung zurück zum Leben und zur Form. Diese Umkehrung zeichnet Castorp auf einer gedanklichen Ebene nach: »Wer aber den Körper, das Leben erkennt, erkennt den Tod. Nur ist das nicht das Ganze [...] Man muß die andere Hälfte dazu halten, das Gegenteil. Denn alles Interesse für Tod und Krankheit ist nichts als eine Art von Ausdruck für das am Leben« (S. 684). Auf seinem »Erkenntnisweg« gewinnt Hans Castorp nun Einsicht in eine mögliche Vermittlung der Gegensätze zwischen »Durchgängerei« und »Vernunft« (S. 685), zwischen rauschhafter Auflösung und rationalistischer Lebens-Erstarrung: Diese »Mitte«, in der des »Homo Dei Stand« sich befinde (S. 685), stellt eine dialektische Vermittlung zwischen den Oppositionen dar, die der Roman leitmotivisch entworfen hat: Der Mensch nämlich »ist Herr der Gegensätze« (S. 685). In einem weiteren Schritt kehrt Castorp wieder zu dem Formbegriff zurück und setzt ihn entschieden von der Macht des Todes ab, der nichts sei als »Durchgängerei« und »Unform« und bestenfalls »Lust« (S. 686). Er trennt ihn aber nicht nur von den individualitätszerstörenden Mächten des Todes ab, sondern auch von der Sterilität der Vernunft: nur die Liebe, »nicht die Vernunft, ist stärker als er. [...] Auch Form ist nur aus Liebe und Güte.« (S. 686) Hans Wysling hat zurecht darauf hingewiesen, daß die Liebe an dieser Stelle als neuer Begriff in den Roman eingeführt werde, während er bis dahin keine Rolle gespielt habe.4' Dieser gedankliche Zugewinn ist auch insofern bedeutsam, als der bisher schon vertraute und zentrale Begriff der »Form« damit definitiv ins Recht gesetzt und zugleich auf eine neue Ebene gehoben wird. Nun folgt in Castorps Gedankengang der bekannte Satz, der als einziger im Roman durch Sperrung hervorgehoben ist: »Der Mensch soll um der Güte 40
41
Vgl. hierzu C. Pietzcker, Z u m Verhältnis von Traum und literarischem Kunstwerk (1974); D. W. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität (1985). H. Wysling, Der Zauberberg, S. 4 1 5 . 205
und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.« (S. 686) Diese typographische Hervorhebung eines ganzen Satzes entspricht keineswegs der sonstigen Praxis in Thomas Manns epischen Schriften. Sicherlich kommt darin eine emphatische Betonung der Erkenntnis Hans Castorps zum Ausdruck, die so etwas wie eine Summe und einen Höhepunkt auf seinem Initiationsweg darstellt. Aber in der Hervorhebung manifestiert sich darüberhinaus eine intertextuelle Markierung: eine Bezugnahme auf einen Satz Sigmund Freuds, der in markierter Position am Ende von dessen Doppelaufsatz Zeitgemäßes über Krieg und Tod steht. Dort heißt es: »Wäre es nicht besser, dem Tode den Platz [...] in unseren Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt ,..« 42
4.1 Freuds Verteidigung der Regression Freuds Aufsatz aus dem Jahr 191 5 43 ist insofern in seinen Entstehungsgründen mit Thomas Manns Zauberberg-Projckt verwandt, als auch er eine geistige Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg darstellt. Wie wir gesehen haben, bringt Thomas Mann bereits 1915 - also im Jahr der Publikation von Freuds Aufsatz - seine Absicht zum Ausdruck, daß der Roman auf den Kriegsausbruch als Abschluß hinauslaufen solle.44 Es gilt als gesichert, daß Thomas Mann den Kriegsaufsatz Freuds spätestens im Jahr 1916 gelesen hat. Dies geht aus einer Notiz aus diesem Jahr hervor, die sich auf Freuds Aufsatz bezieht: »Freud hat vollkommen recht, wenn er das Gewissen als >soziale Angst< definiert.«45 In Freuds Aufsatz lautet die Stelle, auf die Thomas Mann hier anspielt: »unser Gewissen ist [...] in seinem Ursprünge >soziale Angst< und nichts anderes.«46 Zwei Jahre später erwähnt Thomas Mann diese Stelle nochmals in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), und diesmal geht er zu Freud auf kritische Distanz: »Ein großer Neurologe hat eines Tages das Gewissen als >soziale Angst< bestimmt. Das ist, mit allem Respekt, eine unangenehm >moderne< Bestimmung.« 47 In dem einzigen gesperrt gedruckten Satz des Zauberbergs kehrt Thomas Mann den Sinn des Freudschen Satzes um, er negiert ihn. Um die Bedeutung und Tragweite dieser Umkehrung ermessen zu können, müssen wir Freuds These in ihrem größeren Kontext betrachten; dann wird ersichtlich, daß der Freudsche Satz sich primär nicht auf die Verdrängung des eigenen Todes richtet 42 43 44 45
46
Ebd., S. 59. Hervorh. J. P. Er erschien Anfang des Jahres in der Zeitschrift Imago. Vgl. den Brief an Paul Amann vom 3.8.1915, in: Selbstkommentare S. 13. Notizbuch 10, S. 46t. Datierung: Vor April 1916 (zit. nach H. Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 223). Zeitgemäßes über Krieg und Tod, StA IX, S. 40. GW XII, S. 571.
206
(was in Übereinstimmung mit dem ersten Teil des Doppelaufsatzes stünde), sondern auf die Verdrängung der archaischen Tötungsimpulse im Menschen, des Erbes aus der »Urhordenzeit«: Dieses archaische Erbe, die »unbewußte Einstellung zum Tode«, die wir bisher »so sorgfältig unterdrückt haben«, sollten wir wieder »ein wenig mehr« hervorkehren.48 Der Bedeutungskontext des fraglichen Satzes ergibt einen recht zwiespältigen Befund: Die Kultivierung des Lebens und die »kulturell konventionelle Einstellung gegen den Tod« 49 führe zu einer »Verarmung« des Lebens: »es verliert an Interesse, wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen, eben das Leben selbst, nicht gewagt werden darf. [...] Wir getrauen uns nicht, eine Anzahl von Unternehmungen in Betracht zu ziehen, die gefährlich, aber eigentlich unerläßlich sind wie Flugversuche, Expeditionen in ferne Länder, Experimente mit explodierbaren Substanzen. [...] Die Neigung, den Tod aus der Lebensrechnung auszuschließen, hat so viele andere Verzichte und Ausschließungen im Gefolge. Und doch hat der Wahlspruch der Hansa gelautet: Navigare necesse est, vivere non necesse!^° Durch das Verschwinden des Lebensrisikos werde das Leben »schal« und »gehaltlos«, mit der alltäglichen Gefahr verliere es auch an Interesse. Dagegen sei evident, »daß der Krieg diese konventionelle Behandlung des Todes hinwegfegen muß«.' 1 Der Tod läßt sich jetzt nicht mehr verleugnen: »Das Leben ist freilich wieder interessant geworden, es hat seinen vollen Inhalt wiederbekommen.«'2 Es geht Freud hier offensichtlich nicht um die Anerkennung der eigenen Sterblichkeit, sondern um die Anerkennung der archaischen Bedürfnisse und Antriebe im Menschen, die im Kriegszustand in einer recht kruden Form wieder zum Durchbruch kommen. In einer prekären Gratwanderung versucht Freud, den Krieg gewissermaßen für die Kritik an den übertriebenen »Kulturauflagerungen« fruchtbar zu machen: Der Krieg nämlich »streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen.« 53 Der Erkenntnisgewinn, den der Krieg vermittelt, besteht in der Einsicht in die bleibende archaische Strukturierung des psychischen Apparats, die auch auf einer »höheren Stufe der Sittlichkeit« nicht überwunden werden kann. Dieser anthropologische Pessimismus Freuds, der das rousseauische Menschenbild verwirft oder vielmehr Rousseaus Ätiologie umkehrt, äußert sich in dem zweiten Teil des Kriegsaufsatzes unmißverständlich: »In Wirklichkeit gibt es keine >Ausrottung< des Bösen. Die psychologische - im strengeren Sinne die psychoanalytische - Untersuchung zeigt vielmehr, daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen 48 49
>° '' >J »
Freud, StA IX, S. 59. Ebd., S. 50. Ebd., S. 5of. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 59.
207
besteht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen.«S4 Die anthropologische Funktionsbestimmung des Krieges läßt eine unerwartete Nähe Freuds zu Ernst Jünger erkennen, der, wie sich gezeigt hat, den Krieg für seine Kulturund Bourgeoisie-Kritik in Dienst genommen hatte. Die Verteidigung der elementaren Antriebskräfte gegen die von der Aufklärung postulierte Kulturnorm erfolgt allerdings bei Jünger und Freud unter verschiedenen Vorzeichen und ist auf ein jeweils anderes Ziel ausgerichtet. So wird es Freud letztlich um die psychohygienisch motivierte Aufdeckung jener Dialektik der Aufklärung gehen, deren Erkenntnis für ihn eine Voraussetzung für eine neuerliche Verteidigung des Individuums darstellt. Aber es bleibt der Umstand bestehen, daß die regressive Schubkraft des Krieges für Freud einen Erkenntnisgewinn bedeutet und daß er die Regression als psychohygienische Maßnahme verteidigt, sie also den versittlichenden Kräften der Kultur nicht einfach unterordnet. Dies geht klar aus dem im Zauberberg negierten Satz hervor, der hier nochmals in seinem Kontext wiedergegeben werden soll: Der Krieg ist aber nicht abzuschaffen; solange die Existenzbedingungen der Völker so verschieden und die Abstoßungen unter ihnen so heftig sind, wird es Kriege geben müssen. Da erhebt sich denn die Frage: Sollen wir nicht diejenigen sein, die nachgeben und sich ihm anpassen? Sollen wir nicht zugestehen, daß wir mit unserer kulturellen Einstellung zum Tode psychologisch wieder einmal über unseren Stand gelebt haben, und vielmehr umkehren und die Wahrheit fatieren? Wäre es nicht besser, dem Tode den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt, und unsere unbewußte Einstellung zum Tode, die wir bisher so sorgfältig unterdrückt haben, ein wenig mehr hervorzukehren? Es scheint das keine Höherleistung zu sein, eher ein Rückschritt in manchen Stücken, eine Regression, aber es hat den Vorteil, der Wahrhaftigkeit mehr Rechnung zu tragen und uns das Leben wieder erträglicher zu machen."
Diese Verteidigung der Regression als kulturkritische Maßnahme ist natürlich noch keine Verteidigung des Krieges. Darauf weist Freud gleich zu Beginn seines Aufsatzes ausdrücklich hin: »man kann die biologische und psychologische Notwendigkeit des Leidens für die Ökonomie des Menschenlebens einsehen und darf doch den Krieg in seinen Mitteln und Zielen verurteilen.«'6 Aber Freud begründet sein Postulat, dem »primitive(n) Seelische(n)« wieder einen gebührenden Platz einzuräumen, mit dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit, den er der »Kulturheuchelei« entgegensetzt.57
54
Ebd., » Ebd., Ebd., Ebd.,
208
S. 41. S. 59f. Hervorh. J. P. S. 35. S. 45.
4-2 Thomas Manns Auseinandersetzung mit Freud Es leuchtet ein, daß solche Ausführungen Thomas Mann nachdrücklich berühren mußten. Sie führen in das Zentrum der Auseinandersetzungen, die den Zauberberg durchgehend bestimmen. In seinem Schneetraum verteidigt Hans Castorp am Ende die »Form« gegen die »Unform« des Todes und gegen die Schopenhauersche Auflösung des Individual-Subjekts in der bewußtseinstranszendenten Welt des Willens. Die Aufforderung an den Menschen, »dem Tode keine Herrschaft ein(zu)räumen über seine Gedanken«, erfolgt im Wissen um das Schreckliche, das sich im Blutmahl-Traum abgespielt hat: »Auch Form ist nur aus Liebe und Güte: Form und Gesittung verständig-freundlicher Gemeinschaft und schönen Menschenstaats - in stillem Hinblick auf das Blutmahl.« (S. 686) Thomas Mann verteidigt hier in seiner Romanfigur die »Form« gegen Freuds kulturkritische Verteidigung der regressiven, archaischen Antriebe im Menschen. Die Verwendung des Freud-Zitats und die Umkehrung seines Vorzeichens lassen eine kontroverse Auseinandersetzung mit der Kulturphilosophie und Anthropologie Freuds sichtbar werden. Es gibt eine Reihe von Gründen, die zumindest die Plausibilität einer solchen Hypothese erhöhen können. Thomas Mann hat mit Freuds Regressions-Begriff sicherlich früh Bekanntschaft gemacht. Dieser Begriff bildet eine Grundlage von Freuds Traumtheorie, die sich Thomas Mann um 1 9 1 1 über den Freud-Essay Der Wahn und die Träume in W. Jensens >Gradiva< angeeignet hat. Manfred Dierks hat dies in verschiedenen Publikationen hinlänglich aufgezeigt.' 8 Im Schlaf lösen sich die Raum-Zeit-Strukturen des Wachbewußtseins auf, es kommt zu einer topischen Regression vom Bewußten zum »System« des Unbewußten. 59 In späteren Bezugnahmen auf Freuds Theorie des Unbewußten wird Thomas Mann immer wieder den Bereich des Es (der im Instanzenmodell zum Teil den Begriff des Unbewußten ersetzt) mit Schopenhauers Bereich des Willens, also der bewußtseinstranszendenten Welt gleichsetzen. So z.B. in dem Essay Freud und die Zukunft: »Freuds Beschreibung aber des >Es< und Ich - ist sie nicht aufs Haar die Beschreibung von Schopenhauers >Wille< und >IntellektPsychologie< in östliche Psychoanalyse«. 67 Die Auflösung der Form ist im Roman Bestandteil des östlichen Komplexes, der prototypisch durch Madame Chauchat verkörpert wird, aber z.B. auch durch das russische Ehepaar, das sich schon morgens recht ungenierten Liebesspielen hingibt. (S. 59f.) Die Dechiffrierung des gesperrt gedruckten Satzes als implizite Auseinandersetzung mit Freuds Aufsatz läßt eine zusätzliche Verknüpfung des Schneekapitels mit dem Thema des Kriegsausbruchs am Ende des Romans erkennen. 62
65 66
Vgl. M. Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann, S. 154. G W I X , S. 578. Ebd., S. 577. So H . Wysling, Der Zauberberg, S. 398. G W I, S. 278. G W X I , S. 52.
210
Die leitmotivische Verknüpfung von Schneekapitel und Romanschluß hat Thomas Mann schon durch analoge Bilder signalisiert: So stehen der Traum von glücklicher Humanität und der vom »Blutmahl« in Korrespondenz mit dem Traumbild glücklicher Menschen (S. 992) und den Bildern eines »zerstückelten Menschentum(s)« (S. 993) am Ende des Romans. Mitten in die Beschreibung der Schrecken des Krieges - Projektile schlagen »in die Stirn, in das Herz, in das Gedärm« ein und zerstückeln die jungen Krieger (S. 992Í.) - fällt die Bemerkung des Erzählers, man könne sich für das »junge Blut« auch andere Bilder erträumen: »Rosse regend und schwemmend in einer Meeresbucht, mit der Geliebten am Strande wandelnd, die Lippen am Ohre der weichen Braut, auch wie es glücklich freundschaftlich einander im Bogenschuß unterweist« (S. 992). Diese Vorstellung greift den Humanitätstraum Castorps im Schneekapitel wieder auf, in dem es hieß: »Jünglinge tummelten Pferde«, »trieben sie [...] ins Meer hinein«, »Paare ergingen sich das U f e r entlang, und am Ohr des Mädchens war dessen Mund, der sie vertraulich führte«; eine Jungmannschaft »übte sich im Bogenschießen. Es war glücklich und freundschaftlich zu sehen, wie Altere noch Ungeschickte im Anlegen unterwiesen« (S. 697f.). Im Gegensatz dazu sind die Zerstückelungen des Kriegs die geschichtliche Version der mythischen Bilder, welche die kultische Tötung des Kindes im BlutmahlTraum vor Augen führen. Durch solche Korrespondenzen mit dem Romanschluß wird der Kriegsausbruch schon im Schneekapitel präfiguriert; diesem Kapitel wird dadurch eine Schlüsselposition im Ganzen des Romans zugewiesen. In einem Gespräch mit Bernard Guillemin wird Thomas Mann die Meinung vertreten, es sei ein »kompositioneller Fehler« des Romans, »daß das Schneekapitel nicht am Ende steht. Die Linie senkt sich, anstatt sich nach oben zu wenden und in jenem positiven Erlebnis zu gipfeln.« 68 Das Schneekapitel stellt aber nicht nur eine Präfiguration des Kriegsausbruchs dar, sondern auch ein Gegengewicht gegen die zersetzenden Mächte, die am Ende das Übergewicht erhalten. Der gesperrt gedruckte Satz, zu dem Hans Castorp sich bekennt, negiert den Freudschen Versuch, den atavistischen Antrieben einen größeren Platz einzuräumen »in unseren Gedanken«. Die Verteidigung der Form und die Verteidigung der »gesitteten Menschheit« gegenüber den formauflösenden Mächten des Todes, des Rausches und des Traums sind auch gegen die Psychoanalyse Freuds gerichtet, die Thomas Mann in einer Notiz aus dem Jahr 1916 als »fortschrittlich-zersetzend« bezeichnet/ 9
68
Selbstkommentare, S. 79.
69
N o t i z b u c h i l , S. 6. Zit. nach H . Wysling, N a r z i ß m u s und illusionäre E x i s t e n z f o r m , S. 224.
211
4-3 Kulturpessimismus oder Humanismus? Die Meinungen der Interpreten gehen allerdings in der Bewertung des Schneetraums weit auseinander. Kritische Stimmen verweisen auf den letzten Satz des Schneekapitels, in dem Castorps Einsicht bereits wieder zurückgenommen werde: »Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr.« (S. 688) Am weitesten ging B. Kristiansen mit der Relativierung des Castorpschen Erkenntnis-Satzes. Für Kristiansen folgt die ganze Struktur des Romans der dualistischen Metaphysik Schopenhauers: Das allegorische Erzählverfahren Thomas Manns reproduziere nicht nur narrativ die Schopenhauersche Dualität der (vordergründigen) Welt der Vorstellung und der (eigentlichen) Welt des Willens, vielmehr sei der Roman überhaupt darauf angelegt, die »Vorstellungswelt« als Schein zu entlarven und die hinter dieser Scheinwirklichkeit verborgene Seins-Wahrheit zu enthüllen. 70 Im Schneetraum bildeten der Traum von einer glücklichen Menschheit und der Erkenntnis-Satz Hans Castorps nur ein retardierendes Moment, eine illusorische »Schutzmaßnahme gegen die Wirklichkeit des Todes« 71 - eine humanistische Illusion, die schließlich ihre Fruchtlosigkeit erweise. In der Schneevision werde die menschliche Kultur und Formwelt durchsichtig für die dahinterliegende Wahrheit, die sich in den dämonischen Mächten des Blutmahl-Traumes als eigentlicher tragischer Grund des Seins enthülle: »Die gesittete Lebensgemeinschaft der Sonnenleute ist nichts Autonomes, sondern eine moralische Abwehrreaktion und ein ausschließlich im Wollen begründetes Standhalten gegen die dämonischen Mächte des Seins, die in der Blutmahl-Vision als bildhafte Wirklichkeit erscheinen.« 72 Kristiansen deutet denn auch das abschließende Kriegsgeschehen als konsequentes Eingehen in den dämonischen Urgrund, den Bereich des »Willens«, der sich am Ende als die eigentliche und letzte metaphysische Wahrheit des Seins offenbare. »Unter den strukturellen Bedingungen des Zauberbergs wird Form aufgebrochen, damit ihr wahres Wesen in der ihm alleingültigen [sie] Gestalt der >Unform< zur Darstellung gebracht werden kann.« 73 Während im Schneekapitel noch die Dualität von Vorstellungswelt und Willenswelt zum Ausdruck komme, werde am Ende im Kriegsgeschehen die Vorstellungswelt aufgehoben zugunsten des bewußtseinstranszendenten Bereichs des Willens. Die Welt der »Form« löse sich auf in der »Unform« des Todes. 74 Die Strukturanalogie zwischen Schopenhauers Metaphysik und den Erzählstrukturen des Romans, der am Ende in eine endgültige Durchbrechung der trügerischen Anschauungsformen von Raum und Zeit münde (so Kristiansens 70 71
7J 74
212
B. Kristiansen, Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik, S. 2 1 3 . Ebd., S. 222. Ebd., S. 228. Ebd., S. 248. Ebd., S. 295.
These), hat etwas Bestechendes, zumal Kristiansen sehr textnah zu argumentieren versteht. Doch eine solche Interpretation legt den Zauberberg auf einen Kulturpessimismus - in geradezu metaphysischen Ausmaßen - fest, der den Freudschen Pessimismus noch beträchtlich überbietet. Daß aber gerade dieser Pessimismus, der die Aggressivität und Mordlust des Menschen als bleibendes Konstituens seiner Natur betrachtet, im Zauberberg zurückgewiesen werden sollte, ist die Quintessenz der impliziten Freud-Kritik, die nach meiner Auffassung der Roman enthält. Im übrigen wäre das pessimistische Menschenbild, das im Blutmahl-Traum wie im abschließenden Kriegsausbruch zum Ausdruck kommt, nur schwer mit Schopenhauers Philosophie vereinbar, die doch gerade aus der Durchschauung des Individuationsprinzips »im geringem Grade die Gerechtigkeit, im höhern die eigentliche Güte der Gesinnung« hervorgehen läßt, welche »sich als reine, d. h. uneigennützige Liebe gegen andere« erweist so steht es in Paragraph 67 von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung.7'' Die Mitleids-Ethik Schopenhauers76 widerspricht den grausamen Bildern des Blutmahl-Traums wie auch den am Ende geschilderten Kriegs-Szenarien ganz entschieden. Dieser Widerspruch wäre zumindest zu bedenken, wenn man die Strukturanalogie von Roman und Schopenhauers Metaphysik in Kristiansens Sinn aufrechterhalten wollte. Die Selbstkommentare Thomas Manns nach 1918 sprechen eine durchaus andere Sprache; sie plädieren für eine Verteidigung der Humanität, und diese Verteidigung findet ihren Auslöser offensichtlich in dem Ereignis des Ersten Weltkriegs. Wenn man mit Hans Wysling davon ausgeht, daß das Schneekapitel im Sommer 1923 verfaßt wurde, 77 besteht Grund zu der Annahme, daß Thomas Manns Positionswechsel auch die Abfassung dieses Kapitels beeinflußte. Im Jahr 1920 schreibt Thomas Mann in einem offenen Brief an den Grafen Keyserling/ 8 die »fortschreitende Zerstörung aller psychischen Wirklichkeit und seelischen Form, die scheinbar unaufhaltsame Anarchisierung und Barbarisierung der Menschenwelt« sei der Antrieb für ihn gewesen, das Buch Betrachtungen eines Unpolitischen zu verfassen. »Und die dialektische Aufgabe fiel ihm [dem Buch] zu, das seelische Prinzip, das erhaltende, das Prinzip der Form [...] zu verteidigen.«79 In einem Brief an Pfitzner aus dem Jahr 1925 Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 510. Schopenhauer leitet aus seiner metaphysischen Konzeption eine Ethik der Nächstenliebe ab: »alle wahre und reine Liebe ist Mitleid, und jede Liebe, die nicht Mitleid ist, ist Selbstsucht.« (ebd., S. j n ) Uneigennützige Tugend und reiner Edelmut gehen für Schopenhauer aus einer intuitiven Einsicht in das Individuationsprinzip und dessen illusionären Charakter hervor: die Liebe, »als deren Ursprung und Wesen wir die Durchschauung des principii individuationis erkennen«, sei in ihrem Wesen Mitleid und führe zur Erlösung, (ebd., S. 509^) 77 H. Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 363, Anm. 20. 78 Dieser Brief wurde im Jahr 1920 abgedruckt in Das Tagebuch, Jg. 1, Η . ι 1/12. 7 ' G W X I I , S. 597; Hervorh. J . P. 76
213
schreibt Thomas Mann: »ein literarischer Künstler, der in einem europäischen Augenblick, wie diesem, nicht die Partei des Lebens und der Zukunft gegen die Faszination des Todes ergriffe, wäre wahrhaftig ein unnützer Knecht«. 80 Diese Selbstkommentare ließen sich beliebig vermehren. Immer wieder betont Thomas Mann, der Roman sei, »obgleich er vom Tode handelt«, ein »lebensfreundliches Buch«. 81 Nun wäre es sicher falsch, die Meinung des Autors als verbindlichen Maßstab für die Interpretation seines Werks zu betrachten.82 Aber wenn man auch die Eigeninterpretation des Autors vernachlässigen kann, so doch nicht das geistige Umfeld und die zentralen Inhalte, die ihn bei der Abfassung beschäftigten. Thomas Manns Kampf gegen kulturpessimistische Strömungen seiner Zeit, 83 auch die in Freuds Kriegsaufsatz vorgefundenen, ist ab 1918 ebenso nachweisbar wie die Ablehnung einer Literatur, die sich ganz dem Unbewußten verschreibt und dazu Anlaß gibt, das »Dichterische« mit dem »Unbewußten« zu identifizieren.®4 Die Warnung Hans Castorps vor der Gefahr, sich ganz den Träumen zu überlassen, läßt sich auch als poetologische Distanzierung von einer Literatur verstehen, die die soziale Identität zugunsten einer imaginären Subjektivität aufzulösen bestrebt ist. Die Verteidigung der Individualität, die der Roman Thomas Manns trotz der in ihm versammelten Gegenkräfte enthält, steht mit einer Aufwertung des Kognitiven, Intellektuellen und Philosophischen in Beziehung, die den Zauberberg (wie andere Romane der zwanziger Jahre) als »philosophischen Roman« kennzeichnen. 8 '
4.4 Die Korrektur aufklärerischer Positionen Wenn man diesen philosophischen Gehalt näher in Betracht zieht, erkennt man allerdings, daß es Thomas Mann zunächst um eine Korrektur aufklärerischer Positionen ging - um das aufklärerische Projekt zu retten. In dieser Hinsicht ist seine Absicht noch durchaus mit Freuds Position vergleichbar. Wo die Auf80 81 82
83
84
Selbstkommentare, S. 70. A n R . Foesi, 2 1 . 1 1 . 1 9 2 5 , Selbstkommentare S. 81. B. Kristiansen deutet die Selbstkommentare Thomas Manns als Versuch, »den Zauberberg als eine Konsequenz des demokratischen Lebensoptimismus und der Lebensfreundlichkeit nachträglich umzudeuten.« (Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik, S. 277) Z u seiner Beschäftigung mit Spenglers Kulturpessimismus vgl. H . Koopmann, Philosophischer Roman oder romanhafte Philosophie?, S. 8zf. Vgl. das Gespräch mit B. Guillemin: »Man neigt in Deutschland viel zu sehr dazu, das Dichterische mit dem [...] Unbewußten, Außergeistigen zu identifizieren. Ich halte es für notwendig, den Wert des Schriftstellerisch-Geistigen zu betonen.« (Selbstkommentare, S. 80)
8
* Vgl. hierzu H. Koopmann, Philosophischer Roman oder romanhafte Philosophie? (1988).
214
klärung reduktionistisch von einer mit der Vernunft übereinstimmenden Natur des Menschen ausging, setzt Thomas Manns Roman dieser Vernunft-NaturSynthese eine anthropologische Konzeption entgegen, die den aufklärerischen Begriff vom Menschen korrigiert und ihn um die beunruhigenden und von der Aufklärung verdrängten Aspekte (vor allem der Triebnatur des Menschen, der Bereiche des Unbewußten und des Traums) erweitert. Der Zauberberg enthalte, so sagte Thomas Mann in einer einführenden Rede vor den Studenten der Universität Princeton, »die Konzeption einer zukünftigen, durch tiefstes Wissen um Krankheit und Tod hindurchgegangenen Humanität«: 86 Hans Castorp müsse im Verlauf seines Sanatoriums-Aufenthalts begreifen, »daß alle höhere Gesundheit durch die tiefen Erfahrungen von Krankheit und Tod hindurchgegangen sein muß«. Es sei gerade diese Auffassung von Krankheit und Tod »als eines notwendigen Durchgangs zum Wissen, zur Gesundheit und zum Leben«, die den Zauberberg zu einem »Initionationsroman« mache.87 Thomas Mann griff bei dieser Gattungsbestimmung auf kurz zuvor erschienene Interpretationen von Hermann J. Weigand und Howard Nemerow zurück, die den Roman als Initiationsgeschichte bzw. als »Quester Legend« gedeutet hatten. Vor allem Helmut Koopmann hat diesen Deutungsversuch aufgegriffen und ihn zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen und Interpretationen zum Zauberberg gemacht.88 Koopmann setzt dieses Grundmuster des Inititationsromans vom Konzept des Bildungsromans ab, das »vom Roman selbst wiederholt und nachdrücklich widerlegt« werde: 89 Während es dem Bildungsroman um Persönlichkeitsentfaltung und Vervollkommnung gehe und er deswegen eine prinzipiell vervollkommnungsfähige Persönlichkeit seiner Handlung zugrundelegen müsse, sei das Ziel der Initiationsgeschichte Einsicht und Erkenntnis: die Einführung des Neophyten in eine Lehre, in eine Philosophie, die episch, »romanhaft« vermittelt wird. Dieses insgesamt sehr überzeugende Erklärungsmuster kann in der Tat manch schwierige Textstelle erhellen. Gerade das Initiationsschema erklärt auch die dem Roman inhärente Korrektur eines aufklärerischen Menschenbildes, in das nun die ausgeblendeten Elemente: Krankheit, Tod, Sehnsucht nach Entindividualisierung integriert werden können. Castorp kann auf diesem Initiationsweg schließlich zu einem tieferen Wissen um die widersprüchliche Natur des Menschen vordringen. Insofern steht Thomas Manns Romankonzept zunächst noch durchaus in der Nähe von Freuds Versuch, die aufklärerische Idee eines mündigen, autonomen, zur Tugend und zur »Glückseligkeit« 86
88
89
G W I X , S. 617. Ebd., S. 6i}i. Der klassisch-moderne Roman in Deutschland (1983); Philosophischer Roman oder romanhafte Philosophie? (1988). Der klassisch-moderne Roman in Deutschland, S. 7 1 .
215
befähigten Menschen zu relativieren und die menschliche Seele als Austragungsort von Konflikten und widersprüchlichen Strebungen zu bestimmen. Doch gerade die Affinität zu Freuds Auffassungen mußte Thomas Mann auch zu einer kritischen Abgrenzung veranlassen, nämlich dort, wo sich seiner Ansicht nach die beabsichtigte Rettung des Individuums ins Gegenteil verkehrte. Die Weiterentwicklung des kulturkritischen Ansatzes in Freuds Schriften und das spätere Freudsche Konzept des »Todestriebs« scheinen die Vorbehalte Thomas Manns a posteriori bestätigt zu haben. 4.5 Der Todestrieb und Freuds Das Unbehagen in der Kultur Mit dem Aufsatz Jenseits des Lustprinzips aus dem Jahr 1920 und einige Jahre später in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur setzt Freud dem lebenserhaltenden Eros, der das Leben »zu immer größeren Einheiten« zusammenschließt, einen anderen elementaren Trieb entgegen, der mit dem Lebenstrieb beständig im Kampf steht und bestrebt ist, »diese Einheiten aufzulösen und in den uranfänglichen, anorganischen Zustand zurückzuführen.« 90 Es gibt »außer dem Eros einen Todestrieb«, so stellt Freud nun ausdrücklich fest. 9 ' Was an dieser Hypothesenbildung Anstoß erregte, war nicht so sehr das Postulat eines Aggressionstriebs, der bedrohliche Ausmaße annehmen könnte, sondern seine Zuordnung zu einem für den Menschen konstitutiven Todestrieb, als dessen Abkömmling Freud ihn definierte. Freud vertritt den Standpunkt, »daß die Aggressionsneigung eine ursprüngliche, selbständige Triebanlage des Menschen« darstellt' 2 und daß sich dieser »natürliche Aggressionstrieb« dem »Programm der Kultur« permanent entgegenstellt und der »Feindseligkeit eines gegen alles und aller gegen einen« beständige Nahrung liefert.93 Von dieser H y pothese aus schließt Freud auf den »Sinn der Kulturentwicklung« überhaupt, den er in einem beständigen Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb zu erkennen glaubt: »Dieser Kampf ist der wesentliche Inhalt des Lebens überhaupt, und darum ist die Kulturentwicklung kurzweg zu bezeichnen als der Lebenskampf der Menschenart. Und diesen Streit der Giganten wollen unsere Kinderfrauen beschwichtigen mit dem >Eiapopeia vom Himmel·.« 94 Freud war sich durchaus bewußt, daß diese Annahme eines mit der Menschennatur gegebenen Todes- und Destruktionstriebes auch in psychoanalytischen Kreisen auf massiven Widerstand stoßen würde. Dennoch hielt er bis zuletzt an diesem umstrittenen Konzept fest und machte daraus ein
Das Unbehagen in der Kultur, StA IX, S. 246. Ebd. 5» Ebd., S. 249. « Ebd. Ebd.
216
wesentliches Element seiner Anthropologie, die in dieser Hinsicht nicht nur als anti-rousseauistisch, sondern auch als anti-aufklärerisch interpretiert werden konnte. Auf den erwarteten Widerspruch weist Freud selbst hin, wenn er schreibt: »Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum >Bösen