Sprachliche Spur der Moderne: In Gedichten um 1900: Nietzsche, Holz, George, Rilke, Morgenstern 9783110230017, 9783110230000

From a literary point of view, modernism is primarily a linguistic project. And lyric poetry is seen as the paradigm of

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German Pages 159 Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
1. Hinführung
2. Zur Lage
3. Literarisch-linguistische Interpretation
4. Sprache als Kunst: Friedrich Nietzsche
5. »Wortkunst«: Arno Holz
6. »literatur sprache«: Stefan George
7. Verwandlung in Worte: Rainer Maria Rilke
8. »Umwortung aller Worte«: Christian Morgenstern
9. Rückblick
Backmatter
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Sprachliche Spur der Moderne: In Gedichten um 1900: Nietzsche, Holz, George, Rilke, Morgenstern
 9783110230017, 9783110230000

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 137

Helmut Henne

Sprachliche Spur der Moderne In Gedichten um 1900: Nietzsche, Holz, George, Rilke, Morgenstern

De Gruyter

ISBN 978-3-11-023000-0 e-ISBN 978-3-11-023001-7 ISSN 0083-4564 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.  2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin / New York Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Gçttingen

¥ Gedruckt auf surefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorbemerkung

Der Untertitel soll darauf verweisen, daß nicht ein vollständiges lyrisches Werk in den Blick genommen wird; wohl aber Gedichte um 1900, die in einem Zusammenhang stehen: durch ihre Autoren, auch in ihrer Entwicklung, ihre Ab- und Zuwendung, ihren Einstieg in die Moderne und deren Fortführung. »Sprachliche Spur« setzt darauf, daß die literarische Moderne erst einmal ein Sprachprojekt ist, das neue Wege sucht und literarische Traditionen in Frage stellt. Das mag eher konventionell klingen; das Außerordentliche ist allemal im Text der Gedichte verborgen, die exemplarisch zur Darbietung und Interpretation kommen. Thema und Methode weisen auf ein interdisziplinäres Unternehmen: Linguistisches und historisch-philologisches Interesse wendet sich literarischen, hier lyrischen Texten zu. Um Nachsicht darf man da nicht bitten, wohl aber darum, die Arbeit »gefälligst« aufzunehmen. Sie hat gewonnen durch Hinweise, die Jan Eckhoff, Tobias Heinz und Helmut Rehbock gegeben haben, auch in Gesprächen, die mich weiterführten. Ihnen gilt mein Dank – und einer, die ungenannt bleiben möchte, sei von Herzen gedankt. Im Januar 2010

H.H.

V

Inhalt

1.

Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2.

Zur 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

3 3 4 5 6 7

3.

Literarisch-linguistische Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 3.1 Interpretation und Gedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 3.2 Methodik der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 3.3 Die Gedichte, Weiteres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

4.

Sprache als Kunst: Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

5.

»Wortkunst«: Arno Holz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

6.

»literatur sprache«: Stefan George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

7.

Verwandlung in Worte: Rainer Maria Rilke . . . . . . . . . . . . . . . . 87

8.

»Umwortung aller Worte«: Christian Morgenstern . . . . . . . . . . . 111

9.

Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ueber Wahrheit und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Post)naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symbolismus als Ästhetizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachskepsis und Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Es sind ihrer fünf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 10.1 Gedichte in der Reihenfolge ihrer Interpretation . . . . . . . . 139 10.2 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

VII

Lesen aber, was ist es anderes als sammeln: sich versammeln in der Sammlung auf das Ungesprochene im Gesprochenen? Heidegger

Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn. Goethe

wer trennte sie: die Worte und die Dinge Benn

1.

Hinführung

In seinem »Buch der Zeit. Lieder eines Modernen« von 1886 überschreibt der Berliner Dichter Arno Holz ein Kapitel »Berliner Schnitzel«. Das sind, entsprechend der Bedeutung von Schnitzel, kurze, auch freche, zumeist gereimte Zeitgedichte – vielfach Vierzeiler – , die die Zeitläufte, auch die zeitgenössische Poesie und deren Kritiker, auf den Arm nehmen, sie attakkieren, runtermachen. Ein Gedicht dieser Schnitzelverse lautet:

Natürlich ist der Titel des Gedichts relativ zu seiner einfachen Aussage semantisch überdimensioniert; fast trivial wirken die gereimten Verse, die aufrufen, sich von den »Idolen« der Vergangenheit abzuwenden und »modern« zu sein, d.h. ja wohl, nach vorne zu schauen. Und doch haben die »programmatischen« Verse zugleich einen Unterton, der aufhorchen läßt: »unfaßliche Idole« – da klingt im Attribut die Ambivalenz an, die die Moderne u.a. bestimmt: unfaßlich als ›unbegreiflich, dem Verstand nicht zugänglich‹ und in der Bedeutung ›unglaublich, das normale Maß übersteigend‹. Die Blendung des modernen Poeten ist also doppelt perspektiviert und wird vor allem in der Benennung Idol im Sinne von ›Trugbild‹ deutlich. Dabei ist offensichtlich, daß das ambige, eher positiv konnotierte unfaßlich und die verachtenswerten Idole in einer nicht aufgelösten Spannung stehen. Die Schau nach vorne erschöpft sich im Begriff modern, der 1

als ganz und gar den Poeten in Besitz nehmender ausgewiesen wird – mit einer Redensart, die ihren Ursprung in der Bibel (5. Mose 28, 35) hat. Im Laufe der Jahrhunderte ist vom Scheitel bis zur Sohle sowohl auf Äußeres wie Inneres bezogen worden, letzteres dominiert hier sicherlich; aber der übertragenen Bedeutung ist ein ordentlicher Schuß Ironie beigemischt. Die »Moderne«, dieser Name für die neue Epoche setzt sich allmählich durch, ist gesellschaftlichen Entwicklungen am Ende des 19. Jahrhunderts geschuldet. Die Problemkreise heißen u.a. : Reichsgründung von oben; industrielle und technische Revolution; Verstädterung der Gesellschaft; Aufstieg der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften (vgl. H. Henne 1996, 17). Diese Entwicklungen fordern die Literatur heraus, und Holz’ Vierzeiler ist ein Aufruf und ein literarisches Versprechen – mehr nicht. Daß dieser literarische Aufruf hier im lyrischen Kontext steht, ist nicht zufällig. Gilt doch die »Lyrik als Paradigma der Moderne« (München 1966, Titel). So im von W. Iser herausgegebenen Sammelband, wo es im Vorwort heißt: »Die aus verschiedenen Literaturen gewählten Themen der Vorlagen beziehen sich vorwiegend auf die Lyrik, die als paradigmatische Gattung für die Wende zur modernen Literatur deshalb gewählt wurde, weil sich in ihr der Formbruch am frühesten und zugleich am entschiedensten dokumentiert.« In seinem Vortrag »Poesie und Leben« rechnet H.v. Hofmannsthal (1895/96) die Poesie »der leichtesten der Künste« zu und fährt fort: »Die Worte sind alles, die Worte, mit denen man Gesehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen [...] kann.« (105) Und wenn es bei Hofmannsthal weiter heißt, es führe »von der Poesie kein directer Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie« (a.a.O.), so sind doch »die Worte« der Poesie gezeichnet – schon indem sie den Ansprüchen unterschiedlicher Konzepte unterworfen sind; indem die Worte der Zeit und so dem historischen und sozialen Wandel ausgesetzt sind; indem sie im (literarischen) Leben stehen, geschrieben, gedruckt, gelesen und der Kritik unterworfen werden. Der komprimierte Text, der der lyrische heißt, ist »verwundbar«, zugänglich den Ansprüchen des Wandels, der Wende, die am Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Begriff der Moderne steht. Diese Moderne ist gesellschaftlich, sozial und kulturell unterfüttert, und sie greift auf Sprache und Literatur aus. Insofern Lyrik als Paradigma der Moderne angesehen wird, stehen im folgenden Gedichte im Licht der Aufmerksamkeit: ihre sprachliche und literarische Verfaßtheit im kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang.

2

2.

Zur Lage

2.1

Ueber Wahrheit und Kunst

Friedrich Nietzsche ist der Agent provocateur im späten 19. Jahrhundert. Eine solche Person verführe »verdächtige Personen zu strafbaren Handlungen«, formuliert das Fremdwörterbuch. Es sind die üblichen (und bekannten) Verdächtigen, die der Moderne anhängen, die Tradition umdeuten oder sich ihr zu entziehen versuchen und, in der Lyrik, einen neuen Ton anschlagen. Nietzsche verführt nicht nur durch seine philosophischen Schriften, von deren Verfasser es schon 1889 heißt: »Er ist der größte Virtuos der deutschen Prosa« (Leo Berg 1889, vgl. B. Hillebrand Bd.1.1978, 4); Nietzsche macht auch selbst vor, was es heißt, Gedichte gegen die Tradition zu schreiben: Zwischen August 1888 und Anfang Januar 1989 verfaßt Nietzsche u.a. die Dionysos-Dithyramben, »deren Publikation Nietzsche nachweislich bis zum 2. Januar 1889 beabsichtigte« (M. Montinari, KSA Bd. 6, 7). Das sind Gedichte, die Titel tragen wie: »Nur Narr! Nur Dichter!«; »Unter Töchtern der Wüste«; »Zwischen Raubvögeln«. Hatte man solche Titel schon gehört oder Verse wie diese: »Ha! / Feierlich! / ein würdiger Anfang! / afrikanisch feierlich! / eines Löwen würdig / oder eines moralischen Brüllaffen ... /« (»Unter Töchtern der Wüste«)? Mit Nietzsche beginnt nicht die Lyrik der Moderne – die ist den französischen »Bewegungen« verpflichtet; aber er setzt Akzente, die die kunsttheoretische Entwicklung beschleunigen, auch insofern, als eine intensive Nietzsche-Rezeption stattfindet. Nietzsche ist derjenige, der die Fähigkeit von Sprache zur Aufdeckung der Wahrheit mittels begrifflicher Arbeit verruft und aufruft zu einer Kunst, die, von »Intuition« geleitet, die Begriffe (die lügen) durcheinanderwirft und sie zum »Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke« macht (F. Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. KSA Bd. 1, 888). Kunststücke, hier die der Literatur, gestalten »die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmässig folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu [...], wie es die Welt des Traumes ist« (a.a.O., 887). Der Traumdeuter 3

Sigmund Freud wird um 1900 ans Werk gehen. Der Gestalter der Träume in der Kunst ist schon am Werk. »Nur Narr! Nur Dichter!« Auf Nietzsche antworten sie alle, die in der Kunst der Moderne eine Rolle spielen (vgl. B. Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. 1.2. 1978).

2.2 (Post)naturalismus Die Ableitung Moderne, Substantivierung des Adjektivs modern, wird erstmals 1886 gebildet und setzt sich durch als Benennung einer neuen literarischen Epoche. »Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne«, heißt es im Programm der »Freien litterarischen Vereinigung« mit dem sprechenden Namen »Durch« (vgl. H. Henne 1996, 15, 37). Offensichtlich nach dem Vorbild von Antike gebildet, war (und ist) Moderne ein Leitwort, das einen nach vorne offenen Epochenbegriff beschreibt und noch in einer Präfixbildung (Postmoderne) Kraft und Vergeblichkeit zugleich ausbreitet. Die Moderne wird zunächst auf naturalistische Verfahren in der Literatur bezogen, was T. Nipperdey in seiner »Deutschen Geschichte, 1866– 1918« so formuliert: Eine »erste Welle der Moderne« ist der Naturalismus. »Alle moderne Literatur [i.e. Literatur der Moderne] ist post-naturalistisch« (Bd. 1, 1993, 770f.) – das meint, daß eine erste »Schule« der Moderne heranwächst (des Naturalismus), die – selbstverständlich – sofort Widerstand hervorruft und in die Kritik gerät. Der Theoretiker des Naturalismus ist Arno Holz (u.a. mit seiner Schrift »Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze« Bd. 1.2. 1891–93), u.a. auch einer der wenigen Lyriker des Naturalismus. Aber – und diese Einschränkung muß sofort gemacht werden – in der Lyrik zeigen sich die Beschränkungen des naturalistischen Konzepts deutlich: Gedichte sind keine gleichsam objektiven Darstellungen der »Natur« (diese verstanden als thematisch nicht begrenzter Themenvorwurf); vielmehr sind Gedichte überschaubare textliche Entwürfe, in denen man, vor allem in der Moderne, ein lyrisches Ich (das sich in den Text einbringt) von dem empirischen Ich des Autors unterscheidet (vgl. K. Pestalozzi 1970, 348ff.). Dieser lyrische Entwurf erfolgt in einer rhythmisierten Versrede, die durch zusätzliche (Mikro)strukturen (Reim, Äquivalenzen, Oppositionen, semantische Überlagerungen) gekennzeichnet sind (O. Knörrich 2005, XXff.). Das wird ersichtlich auch durch Holz’ praktische Arbeit am »Phantasus« (und hier ist schon der Name der Dichtung Widerstand gegen den Naturalismus). Diesen Gedichtzyklus aus dem Jahre 1886 – eine sprachliche Skizze eines Schriftsteller-Daseins in einer Großstadt-Klause – nimmt Arno Holz 4

auf und publiziert unter diesem Titel 1898 und 1899 zwei jugendstilhaft geschmückte Heftchen, die, ohne Numerierung, insgesamt 101 Gedichte präsentieren, reimlos und auf Mittelachse geschrieben, eine neue Lyrik, eine solche der Moderne. Es beginnt so: Nacht. Der Ahorn vor meinem Fenster rauscht, von seinen Blättern funkelt der Thau ins Gras, und mein Herz schlägt.

Das ist postnaturalistisch und gehorcht Regeln, die Arno Holz selbst formuliert. Aber es sind keine des Naturalismus, wie er sie 1890 ff. darbot. Arno Holz’ Lyrik ist eine der Moderne, aber sie ist nicht naturalistisch. Und sie ist sein eigentliches Lebenswerk. Von »Wortkunst« spricht Arno Holz, wenn er von seiner Lyrik spricht (s.S. 55). Die neue »Kunst« ist das, was die Moderne, in ihrer unterschiedlichen Akzentuierung, verbindet: eine neue S p r a c h e , die eine konstitutive Rolle spielt. »Alle moderne Literatur ist post-naturalistisch« – das erhält, bezogen auf die Lyrik, einen besonderen Klang.

2.3

Symbolismus als Ästhetizismus

Daß die Moderne erst einmal ein Sprachprojekt ist, verdankt sich auch dem französischen Symbolismus. Dichtung ist ein s p r a c h l i c h e s Kunstwerk eines Poeten (Mallarmé: »Der Dichter überläßt die Initiative den Worten«, H. Friedrich 1956, 103), der mit allen Finessen literatursprachlicher Mittel einen poetischen Text gestaltet und dabei Symbole konstituiert, die »auf der suggestiven Qualität der Worte« beruhen (A. Simonis 2000, 247). Ein Symbol evoziert, nach Mallarmé, einen Gegenstand, um eine seelische Verfassung anzuzeigen, oder ein Gegenstand wird gewählt, um, dechiffrierend, einen Seelenzustand auszuloten (vgl. W. Braungart 1997, 15). Weil der Begriff des Symbols (und der damit verbundene -ismus) changiert, greift die Forschung vielfach auf den Begriff des Ästhetizismus zurück (W. Braungart 1997, 14f. u.ö.; A. Simonis, Literarischer Ästhetizismus. 2000, Titel). ›Ästhetizismus‹ betont, gemäß dem Prinzip des l’art pour l’art, den Primat des sprachlichen Kunstwerks vor den Dingen und ihrer Sortierung; die Arbeit des artifiziellen Textes liegt zwischen den Dingen, die mehr verrätselt als erklärt werden. Sprache und ihre Wörter im Text sind eher bedeutsam (im Sinne von Referenz auf sich selbst) als bedeutend 5

(im Sinne von Referenz auf die Welt), sprachliche Kunstwerke haben die Tendenz zur Verselbständigung. Stefan George in Deutschland geht diesen Weg und setzt doch eigene Akzente. Und Rilke folgt ihm nicht und steht doch in engem Zusammenhang mit ästhetisierenden Konzepten.

2.4 Sprachskepsis und Sprachkritik Setzen Nietzsche, (Post)naturalismus und Ästhetizismus die lyrische Szene in Bewegung und ist damit ein Abstoß von der Tradition verbunden (die Moderne ist also eine von vielgestaltigen Kräften angetriebene und somit vielgestaltige Epoche), so ist überdies eine untergründige und zugleich übergreifende Bewegung zu verzeichnen. Sie beschleunigt die Entwicklung und setzt am Fundament der Literatur an; ich spreche von der durchgehenden Sprachskepsis und Sprachkritik am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts. Das meint, daß die Fähigkeit von Sprache, Wirklichkeit wirklich einzufangen, problematisiert wird: Skepsis steigert sich zur Kritik, die vielfach auch auf die Dinge der sich technisierenden Welt zielt. Zur scheinbaren oder wirklichen Insuffizienz der Sprache tritt die Kritik an der »neuen Welt«, die von Technik und (Natur)wissenschaft dominiert wird. Gustav Gerber ist ein wenig bekannter Name. Sein Werk »Die Sprache als Kunst« (2. Aufl. 1885) findet bei Nietzsche ein Echo, insofern er Sprachkritik zum Programm erhebt und die wissenschaftliche Begriffssprache und ihre Einsicht und Erkenntnis gewährende Funktion verruft und ein neues literarisches Sprachspiel favorisiert, das »Sprache als Kunst« heißt (s. Kap. 4). Sprache, v.a. die literarische, gerät somit in Bewegung und wird in unterschiedlichen Schulen und Richtungen aufgefangen und gestaltet. Einer, für den Friedrich Nietzsche v.a. zu Beginn seiner literarischen Laufbahn zu einer Leitfigur wird, ist Christian Morgenstern. Seinen ersten Gedichtband »In Phanta’s Schloss« von 1895 widmet der Verfasser »Dem Geiste Friedrich Nietzsches«; der Erneuerungswille wird gleich im »Prolog« des Bändchens, eher konventionell, formuliert: »Längst Gesagtes wieder sagen, / Ach! ich hab’ es gründlich satt. / Phanta’s Rosse vor den Wagen! / Fackeln in die alte Stadt!« (2). Und elf Jahre später, im Jahre 1906, im Gedichtband »Melancholie«, ist seine Hommage an Nietzsche nicht eine Widmung, sondern ein Gedicht, das den Namen des Philosophen im Titel trägt und dessen erste Strophe lautet: »Wen er nicht einmal zu Tode beschämt, / wen er nicht einmal zu Tode gelähmt, / hat nie auch nur im Traum geahnt, / was für ein Geist da fragt und mahnt.« (78) Nietzsche, 6

sein Werk, v.a. seine Sprachkritik, ist für Morgenstern und seine Dichtung der »Ausgangspunkt« (A.T. Wilson 2003, 83); zugleich ist Nietzsche mehr, wie eine Notiz aus dem Jahre 1905 verrät: »Ein philosophisches System zu verstehen, erfordert schließlich ein Maß von Intellekt, nichts weiter. Einen leidenschaftlichen Wegsucher aber wie Nietzsche begreift man nicht bloß als kluger Kopf; man muß ihm noch obendrein ein bißchen – verwandt sein« (C. Morgenstern 1918, 78). Der Gedankenstrich soll ein gelindes Entsetzen signalisieren. »Wegsucher« ist Morgenstern sein kurzes Leben lang geblieben, vor allem in seinen jungen Jahren fühlte er sich dem Philosophen verwandt. Die Grenzen der Sprachkritik zeigt ihm, überraschenderweise, Fritz Mauthner auf, dessen sprachkritisches Hauptwerk »Beiträge zu einer Kritik der Sprache« in drei Bänden 1901 bis 1902 erscheint. Morgensterns Notiz aus dem Jahre 1907 lautet: »Kritik der Sprache [das ist Teil des Titels von Mauthners Werk] ist zuletzt auch nur ein Gesellschaftsspiel. Es gibt kein Wort, das außerhalb der Sprache noch irgendwelchen Sinn ergäbe. Wer sich außerhalb der Sprache setzen möchte, findet keinen Stuhl mehr [...]« (1918, 93). Das ist ein schöpferisches Versprechen: Morgenstern weiß, daß der Dichter des Stuhls oder einer Bank bedarf; er sitzt – mitten im Leben und in der Sprache. Selbst wenn er das stumme Wasser beschreibt, dichtet er: »Ohne Wort, ohne Wort / rinnt das Wasser immerfort [...]« (Galgenlieder 1905, 41). »Zwischen Nietzsche und Mauthner« – das ist eine Formel, die Morgenstern um 1900 einholt, der dem Motto frönt: »Du mußt es anders singen und sagen« (H. Henne 2003, 282).

2.5

Es sind ihrer fünf

Fünf Gestalten der Moderne stehen im folgenden im Fokus, richtiger und bescheidener: Gedichte aus ihrer Feder. Es sind sprachsensible Gestalten, die, jede auf ihre Weise, den Worten trauen und mißtrauen, ihnen nachhorchen, sie wägen, ihnen besondere Aufmerksamkeit widmen – eben weil die Sprache verrufen ist, abgründig, scheinbar verbraucht. Jeder der fünf spielt seine eigene Rolle – und doch beziehen sie sich aufeinander, sich gegenseitig abstoßend und sich fördernd. »Fünf Finger sind keine Faust« – d.h. auch, daß man vergleichen, gegeneinander abwägen, akzentuieren, herausheben kann. U.a. gibt Kap. 9 dazu Gelegenheit. Im hier veranstalteten Konzert der Moderne in der Lyrik fehlt eine wichtige Figur: Hofmannsthal. Ich darf hier auf die Dissertation meines Schülers Tobias Heinz verweisen (vgl. Literatur). Ihm wollte und konnte ich nicht vor- oder nacharbeiten. 7

3.

Literarisch-linguistische Interpretation

3.1

Interpretation und Gedicht

Im Deutschen ist Interpretation (lat. interpretātio liegt zugrunde) erst seit 1571 lexikographisch notiert (S. Rot). Das Wort wird hier durch ›Außlegung / erklärung / erleutrung / verdolmetschung‹ paraphrasiert, hat also schon bei seiner ersten Notation einen weiten Bedeutungsspielraum. Etymologisch ist Interpretation von interpres ›Vermittler, Ausleger, Übersetzer‹ abgeleitet, was deutlich macht, daß jeweils eine Person diese Tätigkeit ausübt. Damit wird der subjektive Handlungscharakter jeder Interpretation deutlich. Sie ist der Versuch, z.B. einen Text zu verstehen u n d verständlich zu machen mittels einer (zumeist) schriftlich verfaßten Analyse, die speziellen Regeln folgt. Ins Auge gefaßt sind hier literarische Texte lyrischer Provenienz, also Gedichte (der Moderne). Das zur Interpretation – wenn es so einfach wäre! »Der Begriff der Interpretation ist von Schimpfwörtern umstellt« (K. Grubmüller 2002, 117) – das darf nicht verhindern, sich ihrer (der Interpretation!) kritisch zu bedienen. »Dieses ›Verstehen – als‹, das Verstehen des Verstandenen scheint mir der gesuchte Kandidat für die Bezeichnung Interpretation zu sein« (K. Weimar 2002, 109), heißt es im gleichen Heft des »Deutschen Germanistenverbandes« an anderer Stelle. So ähnlich hatte schon M. Heidegger im berühmten »§ 32 Verstehen und Auslegung« von »Sein und Zeit« formuliert: »Das im Verstehen Erschlossene, das Verstandene ist immer schon so zugänglich, daß an ihm sein ›als was‹ ausdrücklich abgehoben werden kann. Das ›Als‹ macht die Struktur der Ausdrücklichkeit eines Verstandenen aus; es konstituiert die Auslegung« (14. Aufl. 1977, 149). S. Winko stellt in dem zitierten »Heft« die Begriffe ›Lektüre‹ und ›Interpretation‹ nebeneinander, grenzt sie gegeneinander ab und fordert, sehr einsichtig, für den letzteren: »Anstatt allgemein von ›Interpretation‹ zu sprechen, ist es in den meisten Fällen sinnvoller, eine präzisere Bezeichnung zu wählen, den Begriff also mit einem erläuternden Zusatz zu verwenden« (S. Winko 2002, 140). Wohlan denn, das soll im folgenden geschehen. 8

Literarisch-linguistische Interpretation meint, daß literarische Texte zugrunde liegen, die »Gegenstand« einer linguistisch orientierten Interpretation sind. Die literarischen Texte sind aus einem Stoff, den man gemeinhin ›Sprache‹ nennt; deshalb liegt eine linguistische, also s p r a c h wissenschaftlich orientierte Interpretation nahe. Die hier vorliegenden literarischen Texte sind in eine spezifische Form gebracht, für die der Begriff ›Gedicht‹ reserviert ist. Gottfried Benn sagt von solchen lyrischen Gebilden, sie seien »gemacht« (G. Benn 1951, 6). Robert Gernhardt bestimmt sie näher als »links bündig, rechts flatternd«, und er sagt vom guten Gedicht: »Gut gefühlt, gut gefügt, gut gedacht, gut gemacht« (F.A.Z. 13.3.2006, 39); und in einer Schrift fügt er hinzu, daß er jene Texte meint, die »durch allzuviel weißen Raum pro Seite signalisieren, daß die wenigen schwarzen Worte ebenjenes Konzentrat an Geist, Gefühl und Sprache bergen, auf das er [der Leser] gerade noch gewartet hat« (R. Gernhardt 1990, 12 f.). Gedichttexte sind, traditionell gesprochen, zumeist in Versen geschrieben, d.h., sie haben Metrum und zudem Rhythmus, können überdies in Strophen stehen, die durch End-, Binnen- und Stabreim (Alliteration) ausgezeichnet sind (oder nicht). In Anlehnung an J. Sartorius (1999, 13) kann man vielleicht so zusammenfassen: Gedichttexte sind dicht gewebt; formbewußt – sie lassen den Inhalt in der Form aufgehen; rhythmisiert und (zumeist) versifiziert; zudem gespeist von der »Versenkung ins Eigene« (Sartorius a.a.O.), dem das lyrische Ich Ausdruck gibt, entflieht, widerspricht. Solche eher allgemeinen Bestimmungen des Gedichts sind hergebracht und nicht neu; sie können eben in der Moderne, z.B. in der Werkpoetik, subversiv und artistisch unterlaufen werden – zum Beispiel durch Durchbrechung des Reimzwangs, (bewußte) Versetzung des Rhythmus, destabilisierte Syntax. Hier dienen sie der Verständigung über das, was im Titel des Buches »Gedichte« heißt. Spezifischer sind die Ansätze zu einer literarischlinguistischen Interpretation, zu der Hinweise formuliert werden, die sich aber nicht zu einer erschöpfenden Darstellung verbinden; die Arbeit am Text ist allemal reicher.

3.2

Methodik der Interpretation

Die strukturelle Linguistik hat unterschiedliche Ebenen von Sprache herausgehoben: die phonologische, grapheologische, morphologische, syntaktische, semantische und pragmatisch-textuelle. Innerhalb dieser Ebenen kann man nun, im Prozeß der Interpretation, Akzentuierungen setzen 9

und Begrifflichkeiten in Anspruch nehmen, die Aufschluß über poetische Verfahren und Inhalte geben können. Die grapheologische Ebene ist gewissermaßen die zugrundeliegende. Der Text zeigt sich erst einmal als gedruckter: D.h., die Schrift, wir sprechen von der Zeit um 1900, ist vom Manuskript in den Druck überführt worden, der üblicherweise vom Autor Korrektur gelesen wurde. Ein solcher Vorgang fehlt (im Normalfall), sofern das Gedicht in einer Zeitung oder Zeitschrift veröffentlicht wird. Ein erster »Eintrag« für die grapheologische Ebene in den Kapiteln vier bis acht ist der Rekurs auf das historische Druckbild: Die Gedichte werden (hier) so zitiert, wie sie in der ersten Druckfassung der ersten B u c h publikation (sofern es eine solche gibt, s. dazu S. 14) erschienen sind. Insofern geben sie ein historisch authentisches Bild des Textes, ohne orthographische Neuerungen oder sonstige Eingriffe, ohne Veränderung des Druckbildes. Am Beispiel von Arno Holz: Die zwei im Zentrum der Darstellung stehenden Gedichte erscheinen 1898 in einem Heft in Klein-Oktav mit 26 ungezählten Blättern mit je einem Gedicht auf Vorder- und Rückseite (das letzte Blatt bleibt rückseitig leer). Das ist die erste selbständige Ausgabe des ›Phantasus‹. Das Titelblatt (und auch der Umschlag) ist in der Manier des Jugendstils gestaltet, vielfach verschlungen, ornamental, Schwingungen und Kurven dominieren. Damit wird angedeutet, daß die Gedichte in einem ästhetischen Kontext stehen, der sich gegen naturalistische und realistische Konzepte wendet. Die verspielte Drucktype, vor allem in den Großbuchstaben schmuckhaft präsentiert, gibt dieser Wendung Form und Gestalt. Mit der Wiedergabe der historisch authentischen Fassung werden die Gedichte von ihrer Anthologie-Unbestimmtheit erlöst und in ihre Zeit und deren kulturellen und sozialen Kontext gestellt. Die phonologische Ebene ist die Übersetzung der grapheologischen Struktur in die Lautstruktur. Am auffälligsten sind die Reime als End-, Anfangs- und »assonantische« Reime (die nur in der Vokalstruktur übereinstimmen). Die Prosodie beschreibt die die lexikalischen Einheiten übergreifenden Strukturen, »Versfüße«, als Einheiten des Versmaßes und deren Verhältnis zur »sprachlichen Erfüllung« (C. Wagenknecht 1993, 135); dieses Verhältnis wird unter den Begriff ›Rhythmus‹ gefaßt (ebd.). Am Beispiel: Der Titel »Nur Narr! Nur Dichter!« der in unregelmäßigen Rhythmen verfaßten ersten Dithyrambe von Friedrich Nietzsche (s.u. S. 27ff.) zeigt schon in seinem unregelmäßigen Rhythmus den folgenden Text an. »Nur Narr!« – ein Jambus, der betont beschließt und dem ein dreisilbiger Fuß: »Nur Dichter!«, ein Amphibrachys ( ˘ ¯ ˘ ) (a.a.O.,34) folgt. So stehen zwei Versfüße, der eine betont abschließend und der andere unbetont einset10

zend und auslaufend, nebeneinander. Und doch bilden sie, als Parallelismus, auch eine Einheit. Das zweite »Glied« ist umfangreicher und führt gleichsam das erste fort – und hier hat der Grammatiker O. Behaghel in seiner »Deutschen Syntax« mit Blick auf die Literatur von dem »Gesetz der wachsenden Glieder« gesprochen (Bd. 3, 1928, S. 360). So gilt, gesehen auf den Titel des Dithyrambus, ein Miteinander im Nebeneinander. Der »Dichter« füllt den Vers aus – wie anders. Die phonologische Ebene ist auch die Grundlage der Lautmalerei, die in der Lautstruktur den außersprachlichen Sachverhalt nachzubilden versucht (»Ein Kukuk / ruft« s.u. S. 57) bzw. in der Klangsymbolik Bedeutungen evoziert (vgl. die in ›Liebe‹ und ›Lied‹ klanggleichen, und deshalb diese Inhalte evozierenden i-Laute in Rilkes Liebesgedicht: »Drum bin ich so still, du Ziere, / weil oft mir Angst geschieht, / daß ich einen Laut verliere / aus deinem lieben Lied.« Vgl. unten S. 91). Die morphologisch-syntaktische Ebene ist ohne Semantik nicht verfügbar. In der letzten Strophe von Christian Morgensterns Gedicht »Mondaufgang« (In Phanta’s Schloss 1895) heißt es: »Pan aber blickt / mit klopfendem Herzen – / verhaltenen Atems – / Ihr nach« (s.u. S. 112). Hier wird ein Satz mit Subjekt (Pan), Konjunktion als Ausdruck eines gewissen Gegensatzes (aber), Prädikat (blickt nach), zwei Adverbialen, präpositional (mit klopfendem Herzen) und kasusbestimmt (verhaltenen Atems), und einem Dativobjekt (Ihr [der zerbrechlichen Mondkugel]) in eine Strophen- und Versstruktur gebracht, die eben als solche einen ästhetischen Reiz entfaltet: Die daktylische Versstruktur ( ¯ ˘ ˘ ) , die in den ersten drei Versen den steigenden Mond, im Nachsehen, charakterisiert, wird konterkariert durch den zweihebigen Spondeus ( ¯ ¯ ) im vierten Vers (Ihr nach), der der Intensität des Nachblickens Gestalt verleiht. Der solchermaßen poetisierte Satz erhält einen zusätzlichen Reiz durch die grammatische Variation der Adverbiale, durch die Klammerstruktur des Satzes (blickt ... nach) und die Position des Objekts (Ihr), das, zu Anfang des vierten Verses, groß geschrieben, seine Bedeutung auch optisch ausdrückt. So stehen Grammatik, Strophik und Versstruktur in einem besonderen, d.h. poetisierenden Verhältnis, das aufzudecken Teil der Interpretation ist. F.G. Jünger spricht mit Bezug auf solche Strukturen von einem »doppelten continuum« (1952, 11), insofern Satz und Vers mitund gegeneinander stehen. Die Einzelwortsemantik im Gedicht ist nur als kontextuelle, also als Textsemantik verfügbar. Einzelnes steht in einem textlichen Zusammenhang, der das Sprachzeichen »verformt«, es in die Disposition des Textes einfügt. Doch gerade in den lyrischen Texten der Moderne bleibt eine den 11

zentralen Zeichen eigene ambige Struktur zurück. Die daraus resultierende Ambiguität lyrischer Texte der Moderne, die man auch unter den Begriff ›Dunkelheit‹ zu fassen versucht (C. Bode 1988, 3f.), ist eine semantische Figur, die die Bedeutung in der Schwebe läßt, Anklänge schafft, Irritation hervorruft. »Wechsel« ist der Titel eines Gedichts von Stefan George. Die auf den ersten Blick ganz unpoetische Überschrift zieht ihre poetische Kraft aus der ihr innewohnenden Ambiguität als ›Vorgangsbezeichnung‹, ›Zahlungsverpflichtung‹ und ›Urkunde über sie‹ (s. S. 73), die in dieser Trias nebeneinander stehen und zugleich, mit Blick auf den Gedichttext, ineinander verflochten sind. In Nietzsches Dithyrambus »Nur Narr! Nur Dichter!« heißt es: »Der W a h r h e i t Freier – du? so höhnten sie / nein! nur ein Dichter!« Freier ist ursprünglich der ›Eheanwärter‹, dann auch ›der im Auftrag eines anderen Werbende‹, schließlich der ›Buhlende‹, auch ›Kunde einer Dirne‹ (W. Pfeifer 1997, 373); und schimmert nicht auch die etymologische Verwandtschaft mit frei durch? »Der W a h r h e i t Freier«, wahrlich ein von Ambiguität gezeichneter Ausdruck. Ist der Zugang über die lexikalische Semantik im Text des Gedichts semasiologisch geprägt – er geht vom Einzelzeichen aus –, so ist der onomasiologische ›Zugriff‹ durch den lexikalisch-semantischen Rahmen (Frame) verfügbar. Dieser faßt, unter Nennung eines Themas, die das Thema gestaltenden lexikalischen Einheiten und ihre textuellen Bezüge zusammen (vgl. H. Henne 2006, 122ff.; J. Schönert, P. Hühn, M. Stein 2007, 8f.). So ist es z.B. möglich, die Darstellung des Dichters (in Nietzsches Dithyrambe) unter das Thema ›Dichter als Raubtier‹ (mit den zugehörigen Variationen) zu fassen. Nietzsche schreibt dem Dichter die Prädikate zu, die für ein Raubtier charakteristisch sind – und durchsetzt sie zugleich mit menschlichen Zügen, da es sich um ein Dichtertier handelt. Semantische Rahmen stellen eine Ordnung her, geben zur zusammenhängenden und abgestuften Interpretation frei. Skripts hingegen setzen semantische Rahmen in Bewegung; sie steuern Handlungsabläufe, wie Drehbücher Filme steuern. Skripts stehen in enger Beziehung zu narrativen Aspekten von Gedichten (vgl. J. Schönert, P. Hühn, M. Stein 2007, 8), sind also eine dynamische, in Szene setzende Kategorie. So kann man mit Bezug auf Stefan Georges Gedicht »Wechsel« von ›Abstand und Annäherung‹ des »Ich« an eine »Sie« sprechen, ein Skript, das dann schließlich (»Heute«) in ein Liebesgedicht überführt wird. Daß Gedichte Texte sind, die durch eine durchgängige Pronominalisierung ausgezeichnet sind, die also Textstücke durch Pronomina und andere Proformen ersetzen und durch semantischen Auf-einander-Bezug der Textelemente eine Kohärenz schaffen, ist einsichtig; sichtbar zu machen ist 12

die besondere Poetizität dieser Textverflechtung. »Lachend in die Siegesallee / schwenkt ein Mädchenpensionat. / Donnerwetter, sind die chic!«: Das sind die ersten drei Verse eines Gedichts von Arno Holz (s. S. 59). »Mädchenpensionat« steht hier metonymisch für die Mitglieder des Pensionats, die, weil (junge) Mädchen, »lachend« ihren Marsch (»schwenkt«) absolvieren. Und dann der dritte Vers, der direkten Bezug auf die Mädchen nimmt (»die«), aber in verfremdeter Sprache: »Donnerwetter«. Die dritte Zeile ist ein bezüglicher Kommentar zum lachenden Marsch, aber doch von außen, herablassend und bewundernd zugleich, aus fremdem Mund (dem von preußischen Offizieren): »Donnerwetter«, dem sich auch das aus dem Französischen übernommene Adjektiv (chic) passend zugesellt. Zeilen fügen sich, vorgängig, zu Strophen; zudem können Zeilen sich zu Sequenzen formen. Sequenzen sind sinnhaft und von spezifischer Kohärenz gezeichnet. Sie stehen in äquivalenten, d.h. gleichwertigen oder nur ähnlichen Beziehungen, sind auch oppositiv ausgerichtet: aufzuzeigen etwa im Blick auf lautliche, semantische und syntaktische Strukturen. Gedichte konstituieren eine fiktionale Wirklichkeit, die der Imagination des Dichters geschuldet ist; aber sie können auch selbstbezüglich sein, auf sich selbst zurückweisen und so eine Poetologie entwerfen, die im Gedicht dieses selbst meint. Das Gedicht »Schweigen« von Christian Morgenstern (s. S. 131) wurde geschrieben, um das Gedicht aufzuheben, zu »fallen und vergehn« –, und das Gedicht kündigt das im Titel an. Gedichte stehen zudem in einem Kontext, der biographisch, kulturund/oder zeitgeschichtlich akzentuiert ist. Überdies gibt es intertextuelle Verweise und Zusammenhänge, die, offensichtlich oder auch verborgen, implizit sind. Kontextualisierungen und Intertextualität sollen, sofern sich dadurch neue Einsichten ergeben, aufgezeigt werden. Am Ende dieses Kapitels sei hinzugefügt: Nicht schematisierende Applikation hier entworfener Begrifflichkeit ist Ziel der Methodologie; vielmehr selektive Anwendung, die verspricht, Nennenswertes darzustellen.

3.3

Die Gedichte, Weiteres

Die Auswahl der Gedichte folgt dem Interesse, das hinter dieser Arbeit steht. Es sind Gedichte, die sprachsensibel sind, also besondere Einblikke in Text- und Strukturprobleme geben, die der Moderne geschuldet sind. Dazu rechnen poetologische Gedichte, die die Regeln ihrer lyrischen Verfaßtheit, wie unvollständig auch immer, selbst formulieren; zudem sprachthematisierende wie auch sprachreflexive Gedichte, die ihre eige13

ne Konstitution als sprachliche reflektieren. Im Zentrum stehen demnach Sprache fokussierende Eigenschaften und Tendenzen: solche Gedichte also, die unter sprachlichen Aspekten auffallen, berühren, ansprechen. Der Blick richtet sich auf einzelne Gedichte. Das war unabweislich. Der Versuch, sie wieder in das Werk einzufügen und sie in einen Bezug zu stellen, der über den einzelnen Autor hinwegreicht, möge die Vereinzelung wettmachen. Die Gedichttexte sind (das ist oben S. 10 a m B e i s p i e l schon dargelegt worden) jeweils der Erstausgabe – als Originalausgabe – entnommen: eine vom Autor veranlaßte und überprüfte Edition, die, von einem Verleger betreut, im Buchhandel erschienen ist. Bezogen auf Stefan George trifft ›Betreuung durch einen Verleger‹ nicht durchgehend zu deshalb, weil z.B. ein Privatdruck als Erstausgabe fungiert; diese »muß nicht im buchhändlerischen Sinne erschienen sein« (H. Hiller 1980, 304). Sofern ein Gedicht nicht in einer Erstausgabe aufgehoben, sondern z.B. aus dem Nachlaß publiziert ist, wird der Erstdruck zugrundegelegt. Zweck der Übung ist, ein authentisches Schriftbild (als Druckbild) herzustellen, das insofern den ästhetischen Vorstellungen des Autors entspricht. Gedichte stehen, auch und gerade als Druckerzeugnisse, im gesellschaftlichen Kontext und sind Produkte ihrer Zeit. Als solche stiften sie in ihrer zeitspezifischen Gestalt literarischen Sinn, der eben nicht frei verfügbar, sondern nur »so« zu haben ist. Die Freude am Thema hat mich auf fünf Dichter gewiesen, die Gegenstand intensiver Forschung waren. Ich bin dieser Forschung verpflichtet, wenn ich sie auch, vor allem die ältere Forschung, nicht insgesamt aufnehmen konnte. Ich durfte, so meinte ich, darauf vertrauen, daß sie in neuerer Literatur aufgehoben ist.

14

4.

Sprache als Kunst: Friedrich Nietzsche

Ein Gymnasiallehrer versucht im Jahre 1871 das Wesen von Sprache zu bestimmen: »Wir fassen also nicht Dinge auf, oder Vorgänge, sondern Reize; wir geben nicht Empfindungen wieder, sondern Bilder von Empfindungen. Wir kommen also durch die Wechselwirkung unseres Geistes mit unseren Lautäußerungen zu einer Entwicklung, welche uns von dem Naturleben entfernt und in eine künstliche Welt versetzt, welche Wahrheit und Gültigkeit nur für uns beanspruchen kann« (G. Gerber 1885, 150). An anderer Stelle wird Gerber deutlicher: »Sprache ist eben Kunst« (121) und das »in dem Sinne, daß Kunst vor allem ein freies Können bezeichnet« (V). Indem Sprache Reize, Empfindungen in Laute und Lautbilder (die die Bedeutung aufnehmen) überträgt, ist Sprache nur ein Mittelbares, das die »Dinge« nur vermittelt erreicht. »Da es nur aber ein fremdes ist, – der Laut – wie kann da Genaueres herauskommen, als ein Bild? [...] es [das Bild] setzt also ein Allgemeineres an die Stelle des Individuellen [...] und schafft demnach absichtslos Materialien zu Werken der Kunst« (a.a.O.,149). Gerbers Werk hat zu Lebzeiten des Verfassers eine zweite Auflage erfahren. Einen aufmerksamen Leser hat schon die erste Auflage gefunden: Friedrich Nietzsche. In seinem Essay »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, den er 1873 verfaßt (KSA 1, 873–890; vgl. M. Haar 1999, 63–75; H. Kiesel 2004, 183–186), nimmt er Gerbers Gedanken (und die anderer, vgl. S. Reuter 2009) auf, formuliert sie in sein NietzscheDeutsch um und stellt sie in einen aggressiven Kontext, der Sprache zum »Kunststück« zurichtet (vgl. H. Henne 1996, 17–21). Die Wissenschaft ist erst seit gut 20 Jahren Nietzsche als Rezeptor auf der Spur (A. Meijers 1988, 369–390) – was den Einfluß seines Essays nur vergrößerte. Was ist ein Wort nach Nietzsche? »Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue« (KSA 1, 879). Was folgt für Nietzsche daraus?

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Der wissenschaftlichen Begriffsbildung liege eine »Bildermasse« (a.a.O., 883) zugrunde, und insofern verfehle die Wissenschaft die Wahrheit [der »Dinge«]. Damit aber eröffne sich eine Chance für die Kunst: »Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke:« – und was nun folgt, hat man ein Programm der literarischen Moderne genannt: »und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, [...] dass er jetzt nicht von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet wird« (a.a.O., 888). Man hört den Zusammenhang mit Gerber und erkennt doch Nietzsches »Fortschritt«, seinen Aufruf zu einer Kunst der Moderne: – zerschlagen, – durcheinanderwerfen, – ironisch wieder zusammensetzen, – Fremdestes paarend, – Nächstes trennend. Dieses Programm findet man in vollendeter Schönheit bei Gottfried Benn, der 1912 seinen Zyklus »Morgue [›Leichenschauhalle‹] und andere Gedichte« veröffentlicht. Das erste Gedicht des Zyklus hat den Titel »Kleine Aster« und folgenden Wortlaut: (s. S. 17) – zerschlagen: der Mensch – »ersoffen«, seziert; – durcheinandergeworfen: die »Aster« »zwischen die Zähne geklemmt«, »glitt in das nebenliegende Gehirn«; – ironisch wieder zusammengesetzt: »Aster« »in die Brusthöhle«; – Fremdestes paarend: »die Brusthöhle« als »Vase«; – Nächstes trennend: »Ruhe sanft!« Der Grabstein-Spruch gilt der Aster – und nicht dem »Bierfahrer«. In der von B. Hillebrand herausgegebenen Sammlung »Nietzsche und die Literatur« (1978) wird der Einfluß Nietzsches auf die Literatur der Moderne eindrucksvoll dokumentiert. Kein Name von Rang fehlt. Und der vom Herausgeber beigesteuerte Aufsatz »Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche« beginnt mit dem Satz: »Gottfried Benn hat in seinen kunsttheoretischen Äußerungen keinen Namen so oft genannt wie den Nietzsches« – dieses Faktum mag es erlauben, auf Benn vorauszuweisen, wenn es um Nietzsches Programm für die Moderne geht. Natürlich ist dies ein exemplarischer Fall; doch die Moderne ist keine Planerfüllung von Programmpunkten Nietzsches. Eines aber bleibt seit 16

Gerbers und Nietzsches »Einsatz«: Sprache wird die Instanz, die zum Problem und hinterfragt wird. Sprache ist, mit Bezug auf die Welt, brüchig (weil vielfach vermittelt und insofern gebrochen), aber gerade deshalb zur Kunst disponiert. Sprache wird zum Gegenstand der Reflexion und programmatischen Kon- und Destruktion. Am 22. September 1954 schreibt Benn an seine Geliebte Ursula Ziebarth: »Von Herrn Lichtenford einen netten Dankesbrief für ›Ausdruckswelt‹. Dazu Abschrift von dem Gedicht ›Albatros‹, tatsächlich von Nietzsche. Bitte sage ihm von mir, dass ich den 2. Vers kannte, selbst in meinen Büchern zitiert habe, diesen wunderbaren Vers, dass ich aber nicht wusste, dass das ganze ›Albatros‹ heisst.« (Hernach. G. Benns Briefe an U. Ziebarth. 2001, 82f.) 17

Das Gedicht Nietzsches, auf das sich Benn hier bezieht (und aus dem er, ohne Kenntnis des Gedichts, zitiert), heißt nicht »Albatros«, sondern »Vogel Albatross« – vielleicht ist die »Korrektur« Benns tatsächlich eine Verbesserung. Das Gedicht ist Teil der »Idyllen aus Messina«, acht Gedichten, die Nietzsche 1882 in der »Internationalen Monatsschrift«, 1. Jg., 269–275 veröffentlicht hat. G. Colli bemerkt in seinem Nachwort zu den »Schriften von 1888« (KSA 6, 455), daß Lyrik innerhalb Nietzsches philosophischem Werk eine »architektonische Aufgabe« wahrgenommen habe, »um innerhalb ausgefeilter Prosaschriften das Spielerische und Leichte hervorzuheben oder aber, um auf gefällige Weise eine gewisse Spannung zu lockern.« (a.a.O., 455). Lyrik habe also eine komplementäre Funktion in Nietzsches Werk. Ausgenommen davon sind einerseits die »Idyllen aus Messina« von 1882, die Colli »episodisch« (a.a.O., 455) nennt, und die »Dionysos-Dithyramben«, die Nietzsche 1888 zur Publikation vorbereitet, eine Niederschrift anfertigt und am 1. Januar 1889 zur Veröffentlichung bestimmt (W. Groddeck, Bd.1, 1991, LI, LVI). Den »Idyllen aus Messina« von 1882, »das Unbekannteste von dem, was Nietzsche veröffentlicht hat« (E.F. Podach 1963, 175), entnehme ich den Gedichttext, den Benn in seiner Korrespondenz hervorhebt: (s. S. 19) Die erste Strophe setzt ein mit einem Ausruf, der zum Ausdruck bringt, daß hier das normale Maß, ja die Gesetze der Natur überschritten werden: »O Wunder!« Die anschließende Frage soll das »Maßlose« unterstreichen; sie mündet in die – nach Benn berühmte – Aussage von Zeile 2: »Er steigt empor und seine Flügel ruhn!« »Empor« ist ein dem hohen Stil verpflichtetes Literaturwort und lenkt den Blick dorthin, wohin der Albatros fliegt – in eine Dimension, die über das hinausführt, was der Erklärung zugänglich ist. Die Fragen der dritten und vierten Zeile unterstreichen das Unerklärliche und bereiten zugleich die »erzählende« zweite Strophe vor. Ist also die erste Strophe den überraschenden Ausrufen und der fragenden Verwunderung hingegeben und somit eine Strophe der kommunikativen Bewegung, so strebt die zweite Strophe eine erzählende Perspektive an, die aber gleichwohl dem »Wunder« verpflichtet ist. Das adverbielle »nun« (mit Inversion) der ersten und dritten Zeile zeigt die Abfolge der Ereignisse an. Die Aussagen innerhalb dieser Folge sind lexikalisch akzentuiert (gegenüber der syntaktischen Profilierung der ersten Strophe): Superlativ (zu höchst), Partizip Präsens-Bildungen (Fliegenden, Siegenden) und Wortfamilienstrukturen (Sieg, siegreich, Siegenden) zeichnen Strophe 2 aus. Strophe 3 lebt, gleichfalls lexikalisch akzentuiert, von Extrem-Wörtern und -Phrasen: Ewigkeit, Stern, Höhn ... die das Leben flieht, mitleidig ... dem Neid : Inhaltlich sind Strophe 2 und 3 Antworten auf Vers 2 (von Strophe 1), 18

der in Vers 3 und 4 derselben Strophe in Fragen detailliert wird. Strophe 4 schließlich, wie Strophe 1 eine solche der kommunikativen Bewegung, bezieht das Geschehen, nach einer direkten Anrufung des »Albatross«, auf das lyrische Ich. Man darf das eine Wende nennen, die »plötzlich« herbeigeführt wird (R. Görner 2000, 244 spricht von »Wiederholung und Plötzlichkeit« mit Bezug auf Nietzsches Gedichte): Der Flug des Albatros ist wie der Denk-Flug des Dichter-Ich; des Albatros gedenkend, fließen Tränen, und es wird ein Bekenntnis formuliert, das nur scheinbar traditionell ist. Indem »ich liebe dich« einem Wunderwesen zugerufen wird, ist eine Grenze überschritten – eine Überschreitung, Transzendenz, die eigentlich jede Kunst auszeichnet, schon in Strophe 1 avisiert ist und die der Verfasser ausdrücklich für sich in Anspruch nimmt: Kunst der Moderne als Grenzüberschreitung. Und die Frage ist, ob hier nicht auch ein parodistisches Moment aufscheint. Tatsächlich ist dieses Gedicht nicht unmittelbar in den Kontext der philosophischen Schriften eingebunden, sondern formuliert eine poetologische Position, die Benn im Zitat des zweiten Verses kondensiert findet. 19

Den »Vogel Albatross« als Metapher hat Nietzsche wohl von Baudelaire entlehnt (vgl. R. Görner 2000, 335). Die letzte Strophe von »L’albatros« übersetzt Stefan George (Charles Baudelaire’s Blumen des Bösen, 1891, hier in der Typographie von 1901, 14) so: »Der dichter ist wie jener fürst der wolke · / Er haust im sturm · er lacht dem bogenstrang./ Doch hindern drunten zwischen frechem volke / Die riesenhaften flügel ihn am gang.« Baudelaire skizziert in den drei Strophen zuvor die bösen Umstände vom Leben des Albatros zwischen dem »schiffsvolk« – davon nimmt Nietzsche in seinem Gedicht keine Notiz. Wohl aber nimmt Nietzsche sein Gedicht, gekürzt um Strophe 2 und unter neuem Titel, in seine Sammlung »Lieder des Prinzen Vogelfrei« wieder auf (die er als Anhang zur 2. Auflage seiner »Fröhlichen Wissenschaft« 1887 veröffentlicht).

Der neue Titel (»Liebeserklärung«, was sich auf den letzten Vers des Gedichts bezieht) und der Untertitel: »(bei der aber der Dichter in eine Grube fiel –)«: Nietzsche ironisiert seinen Dichter-Vogel-Flug, stellt ihn in einen sarkastischen Kontext (vgl. Ph. Grundlehner 1986, 145f.). Nicht zufällig wird der zweite Vers (der G. Benn faszinierte, s.o.S. 17) mit einem Fragezeichen statt dem Ausrufezeichen der ersten Fassung versehen und so in Frage gestellt (B. Buschendorf 1999, der das parodistische Element von Nietzsches Lyrik herausarbeitet, spräche sicher von »Parodie«). Aber: Nietzsche will auch in diesem Kontext nicht vom Albatros lassen. Noch 20

schöner hat er es am Ende der »Morgenröthe« formuliert: »W i r L u f t S c h i f f f a h r e r d e s G e i s t e s ! – Alle diese kühnen Vögel, die in’s Weite, Weiteste hinausfliegen, – gewiss! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können [...]« (KSA 3, 331). Vor »Die fröhliche Wissenschaft« von 1882 stellt Nietzsche ein »Vorspiel in deutschen Reimen« (Untertitel), dem er den Titel »Scherz, List und Rache« gibt. Es sind 63 Epigramme, und dem Leser bleibt es überlassen, diese den Kategorien des Titels zuzuordnen. Zu denen, die unter die Kategorie ›Scherz‹ fallen, gehört sicherlich dieser Text:

Zum Titel: Die Bedeutung von Geschmack schwankt zwischen ›individueller Empfindung‹ und ›kollektiver Sichtweise‹. Zumeist wird unterschieden durch Zusätze: »Über Geschmack läßt sich nicht streiten« einerseits; ›herrschender‹ bzw. ›guter Geschmack‹ andererseits. Nietzsche geht in die individuelle Richtung und verstärkt sie durch ein Attribut: wählerisch. Damit wird die Bedeutungssphäre radikal individualisiert. Das Attribut hat die Bedeutung ›schwer zufrieden zu stellen‹: wählerisch ist nur auf den ersten Blick harmlos. Die ersten drei Verse stellen ein Bedingungsgefüge dar. Zunächst ein Bedingungssatz (Konditionalsatz: »wenn«) im Konjunktiv (»liesse«), der im Hauptsatz gleichfalls einen Konjunktiv (»wählt’«) im Sinne von ›würde wählen‹) führt. Die Erfüllung der Bedingung wird nicht ausgeschlossen, jedoch eher für unwahrscheinlich gehalten. Der Konjunktiv-Hauptsatz ist u.a. erweitert durch ein modales (»gern«) und ein lokales Adverbiale: »im Paradiese«, das noch durch ein Attribut näher bestimmt wird: »mitten drin«. Drei Personalpronomen schmücken die regelmäßig im trochäischen Maß geformten Verse: »mich«, »ich«, »mir«. Also, für das »Ich« gern ein Plätzchen im Paradiese – unter den genannten Bedingungen. Die Überraschung sind die folgenden Doppelpunkte; man erwartet nun genauere Aufklärung darüber, was z.B. »mitten drin« heißt. Statt dessen eine grammatische Provokation, ein falscher (nur in der »Volkssprache« noch üblicher) Komparativ (»gerner«), der das Adverbiale des Hauptsatzes (»gern«) aufnimmt. Es folgt ein Gedankenstrich, nach dem dann die lokale Bestimmung geliefert wird, die das Ich aus dem Paradies herausführt. 21

Schon der (bewußte) Verstoß gegen die schriftsprachliche Grammatik zerstört das »Paradies«. Dieses ist in seiner etymologischen Herleitung (aus dem Altpersischen) mit ›Einzäunung‹ verbunden. Warum der Autor der »Fröhlichen Wissenschaft« diesen Ort flieht, ist also mehrfach offensichtlich. Christliches Versprechen und »historische« Eingrenzung stoßen ab. »V o r seiner Thür« ist die Freiheit. Wie eine Antwort klingt folgendes Epigramm:

Nunmehr steht »Paradies« in einem positiven Kontext; allerdings in seiner »volkstümlichen« Lautprägung, die regional bestimmt ist. Paradeis ist lautgerecht hergeleitet aus mittelhochdeutsch paradîs, das im Neuhochdeutschen, weil î zu ei diphthongiert wird, Paradeis lautet (Paradies ist Anlehnung an lateinisch paradīsus). Das »Paradeis« ist das richtige Paradies, dasjenige auf Erden, in dem sich Tänzer wohlfühlen. Man muß »Tanzenkönnen ... mit den Worten« (KSA 6, 110). Der Autor spielt nicht nur mit der Grammatik, er spielt auch mit dem Wortschatz, mit Variation und Regionalisierung und entsprechend differenter Bedeutung. Und der Autor kündigt seine Schriften im Epigramm an.

In »Zarathustra’s Vorrede« (KSA 4, 11) heißt es (Zarathustra spricht die Sonne an): »Ich möchte verschenken und austheilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichthums froh geworden sind. Dazu muß ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends thust ...« »Niedergang« ist traditionell der absteigende Gang der Sonne (vgl. Paul 2002, 705); wie sie steigt Zarathustra hinab. Das erste Paar der Verse schildert, in regelmäßigem Jambus, dieses Faktum, vergißt aber nicht den 22

höhnischen Kommentar der Betroffenen (»ihr«), die »Niedergang« als ›Abstieg, Verfall‹ begreifen. Nietzsches Überschriften changieren. Und dann im dritten und vierten Vers die Gegenüberstellung von »ihm« und »euch« (»eurem Dunkel«). Die Eigenschaften dessen, der herniedersteigt, werden mit eigenwilligen, neuen Wortbildungen (»Ueberglück«, »Ueberlicht«) umschrieben; was den anderen zukommt: »Ungemach«, »Dunkel«, bleibt im Rahmen des traditionellen Wortschatzes. Das Neue, die Sonne Zarathustras, muß aufleuchten im Strahl des »Ueberlichts«, die anderen werden (wohl) im Gewohnten verbleiben. Literatur im philosophischen Kontext der Moderne greift aus, weist nach vorne, ist ein Sprachspiel. Im Zusammenhang der »Lieder des Prinzen Vogelfrei« steht »Sils Maria«. »Prinz Vogelfrei« ist ursprünglich ein Gedicht aus den »Idyllen«. Er, der »Prinz«, gibt nun den Sammeltitel für die neuen Gedichte im »Anhang« her. »Prinz Vogelfrei«, zu dem sich das lyrische Ich erklärt, steht ganz nahe am Verfasser (wenn er nicht in die Grube fällt).

Der Titel des Gedichts – ein Ortsname, der einen (religiös konnotierten) Rufnamen birgt – verweist auf Nietzsches Sommeraufenthalte im Oberengadin von 1881 bis 1888 (mit Ausnahme von 1882); der Titel wird im ersten Wort des Gedichts, im textverweisenden und deiktischen »hier«, aufgefangen und herausgestellt. Das Partizip Präsens von warten zeigt in der Doppelung, gewissermaßen semiotisch an, was dem lyrischen Ich (»sass ich«) widerfährt. Nach retardierender Zeichensetzung wird das Präpositionalobjekt (»auf Nichts«) genannt, verbunden mit einem adverbialen »doch« im Sinne von ›entgegen der Erwartung‹. Dieses Präpositionalobjekt zerstört eigentlich die Semantik von warten, die hier ein ›Harren‹ ist; denn warten auf Nichts ist ein Widerspruch in sich. Das »ich« scheint sich selbst aufzuheben, neu fassen zu wollen. Dieses Spiel gegen sich selbst wird in den nächsten drei Versen umkreist: nicht ohne Moral (»Gut und Böse«), 23

sondern »jenseits« davon. Dem partizipialen »wartend« folgt »genießend«, das, mit dem Genitiv verbunden, auf historischen Sprachgebrauch verweist und insofern gehoben, ja prätentiös wirkt und das Moment des Spiels mit »Licht« und »Schatten« durch das zweigliedrige »bald« intensiviert. Diese Zweigliedrigkeit wird durch das viermalige »ganz« gesteigert, dessen Begleiter »nur Spiel«, »See«, »Mittag«, »Zeit ohne Ziel« eine aufsteigende Linie bilden: das erste Substantiv mit einer vorangestellten Einschränkung, die in Wahrheit eine Steigerung ist; das letzte mit nachgestellter Einschränkung, die die Zeit ins Zeitlose führt. Die Mittelteile »See« und »Mittag« sind lokale und zeitliche Grenzstationen: (der) See, der den Zauber birgt; (der) Mittag, der den Umschlag ankündigt. Die erste Strophe führt, in nuancenreicher Sprache, einen gewissen »Einklang« (H.-G. Gadamer 1999, 23) des Ich mit der Gebirgslandschaft vor. »Da, plötzlich [...]« – die »Plötzlichkeit« (und Wiederholung, die man für Nietzsches Lyrik ausgemacht hat (s.o. S. 19)) wird von Nietzsche selbst formuliert. Und die kommunikative Akzentuierung formt auch diesen Text, der eine Anrede an die »Freundin« (wohl) Lou von Salomé enthält (Ph. Grundlehner 1986, 134). Und noch sind Subjekt und Prädikat dieses Verses nicht benannt: » ... wurde Eins zu Zwei – «, zum Autor gesellt sich der Andere, sein zweites Ich und – zwei Gedankenstriche – »Zarathustra« selbst ist Zeuge dieses Wandels. Indem er »an mir«, dem Ich, vorbeig e h t , ist es tatsächlich ein Wandel: »Zarathustra, die Vision seines Werkes« (W. Ries 2008, 94), erhält Gestalt. Der epigrammatische Text, fragil schon durch die partizipiale Struktur der Verben, wird durch den Zeilensprung von Vers 2 auf 3 noch einmal aufgebrochen (vgl. J. Klein 1936, 73). Die Worte beginnen zu flimmern, ein Mensch, das lyrische Ich, wird zur Zweizahl, und auch Zarathustra gibt, vorbeigehend, keinen Halt. Und doch verströmt der Text, im Anruf an die Freundin, einen Hauch inneren Glücks, das schon der Titel »Sils-Maria« versprochen hatte.Und auch das nicht regelmäßig jambische Versmaß vermittelt ein Gefühl der Entspannung; der vierte Vers scheint dem Herz- und Wellenschlag nachempfunden, um dann im abgesetzten fünften Vers in eine Spannung umzuschlagen, die durch zwei Hebungen zu Anfang des Verses (»Dá plö´tzlich ...«) erzeugt wird. Der Gedichttext, entstanden 1882, hat von der Nietzsche-Philologie Aufmerksamkeit erfahren. Nietzsche nimmt im »Nachgesang« (»Aus hohen Bergen«) am Ende von »Jenseits von Gut und Böse« von 1886 (KSA 5, 243) Aspekte seines »Sils-Maria« (das seinerseits in Vers 2 auf diese Schrift verwiesen hatte) auf: »[...]/ Der Mittags-Freund – nein! fragt nicht, wer er sei – / Um Mittag war’s, da wurde Eins zu Zwei ..... / [...]« (vgl. L. An24

dreas-Salomé 2000, 288). Und zuvor heißt es: »Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt« – »Freund Zarathustra« (vorletzter Vers von »SilsMaria«) ist auch hier am Werk. Nietzsche selbst berichtet (»Ecce homo«, KSA 6, 335), daß »die Grundconception« des Zarathustra im August 1881 gefaßt sei: »Ich gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder ...«. »Zarathustra«, »See«, »Mittag«, »Eins zu Zwei«: der Gedichttext ist vielfach mit seinem Werk verwoben, er steht ja auch im »Anhang« eines Werkes (»Die Fröhliche Wissenschaft«), während »Vogel Albatross« aus dem Zyklus »Idyllen aus Messina« (1882) eine gewisse Selbständigkeit eignet – die dann im »Anhang« zur »Fröhlichen Wissenschaft« durch neuen Titel und Untertitel (s. S. 20) aufgehoben wird. Neben den »Idyllen aus Messina« sind die »Dionysos-Dithyramben« das poetische Projekt, das Nietzsche als selbständiges plante – aber nicht mehr, wie die »Idyllen«, zur Publikation bringen konnte. Drei der Dithyramben sind dem vierten Teil des »Zarathustra« (1885, »[…] dem Buchhandel noch nicht übergeben«. KSA 4, 7) entnommen und in veränderter Form Teil der neun Dithyramben (»Klage der Ariadne«; »Nur Narr! Nur Dichter«; »Unter Töchtern der Wüste«). Nietzsche zieht sich in seinem letzten Jahr zurück, zum Ende erzählt er sein Leben (»Ecce homo«) und nimmt die »Dionysos-Dithyramben« aus dem Kontext seines »Zarathustra«. So sucht er Zuflucht in der Versdichtung. Nietzsche beginnt »aller Wahrscheinlichkeit nach« (W. Groddeck Bd.1, 1991, XXI) das Unternehmen im Juli 1888. Er stellt von den zur Veröffentlichung bestimmten Gedichttexten schließlich eine Reinschrift her und verfügt am 1. Januar 1889 ihre Veröffentlichung (W. Groddeck a.a.O., LVI), die vom Autor in ihrer Drucklegung nicht mehr kontrolliert werden konnte. Deshalb lege ich im folgenden die Reinschrift von »Nur Narr! Nur Dichter« meiner Interpretation zugrunde. Ich entnehme sie dem Buch von W. Groddeck a.a.O., Tafel 94 bis 99, wie ich auch dessen »Umschrift« übernehme. Nach dem 27. November 1888 notiert Nietzsche ein (vorläufiges) Verzeichnis von sechs (seiner neun) Dithyramben. Auf dem Blatt (vgl. Groddeck a.a.O., Tafel 91b) bemerkt Nietzsche überdies: »ich komme aus hundert Abgründen, in die noch kein Blick sich gewagt, ich kenne Höhen, wohin kein Vogel sich verflog, ich habe am Eis gelebt, – ich bin verbrannt worden von hundert Schneen: es scheint mir, daß warm und kalt in meinem Munde andere Begriffe sind« (Text nach F. Nietzsche, Sämtliche Briefe 8, 495; der Text ist wohl kein Brief, eher ein Notat, vgl. Groddeck a.a.O., XLVIII) – vielleicht trifft diese Verschiebung der Semantik auch auf Narr und Dichter und dasjenige zu, was unter diesen Titelwörtern steht. 25

Die Moderne drängt auf eine neue, veränderte Begrifflichkeit, und das heißt allererst: neue Semantik, Umbruch der Bedeutung. Wohl vom 1. Januar 1889 ist ein Briefentwurf überliefert (F. Nietzsche, Sämtl. Briefe 8, 571), der an den französischen Dichter Catulle Mendès gerichtet ist und folgenden Wortlaut hat: »Indem ich der Menschheit eine unbegrenzte Wohltat erweisen will, gebe ich ihr meine Dithyramben. Ich lege sie in die Hände des Dichters der Isoline, des größten und ersten Satyr, der heute lebt – und nicht nur heute ... Dionysos.« Dieser Brief (als Notat) verweist darauf, daß in den »Dionysos-Dithyramben« eben der griechische Gott durch den Mund des Dichters spricht. Am Schluß der (an siebenter Stelle stehenden Dithyrambe) »Klage der Ariadne« (KSA 6, 401) spricht Dionysos leibhaftig (»Ein Blitz. Dionysos wird in smaragdener Schönheit sichtbar. D i o n y s o s : ›Sei klug, Ariadne!...‹ «). Die »Dionysos-Dithyramben« haben ihren Titel nicht von ungefähr – insofern »Dithyrambus« dem Dionysos auch als Epitheton, als Beiname, beigegeben ist. W. Groddeck (a.a.O. Bd. 1, XVIII) formuliert es so: »der Gott ist mit der Mehrzahl seiner selbst identisch.« Der Dithyrambus, »von außen her in die griechische Welt gekommen« (Der Kleine Pauly Bd. 2.1979,106), preist, ursprünglich in Form einer chorischen Hymne, in ekstatischer Manier Dionysos. Künstlerisch wurde der Dithyrambus u.a. durch Pindar ausgeformt, charakteristisches Kennzeichen ist die polyrhythmische, durch unregelmäßige Strophik gegliederte Komposition. Im Deutschen gibt es Nachbildungen des griechischen Dithyrambus, ausgezeichnet durch einen hymnisch-ekstatischen Ton in freien Rhythmen: von Klopstock und Goethe (»Ganymed«, »Wanderers Sturmlied«) und eben von Nietzsche, der sich aber als der eigentliche Erfinder dieser Kunstform ausgibt.

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Den Titel der Dithyrambe bilden zwei Ausrufe mit jeweils einem Ausrufezeichen: Das einsilbige Narr geht dem zweisilbigen Dichter voraus. Die zweiteilige Struktur dürfte nicht nur silbisch eine Steigerung darstellen; beide Teile sind adverbiell (nur) eingeschränkt – zumindest auf den ersten Blick. Das Gedicht Nietzsches ist ein Tanz um das goldene Kalb, das den Namen Wahrheit trägt. Der Text spricht (Z. 15) von »Der Wahrheit Freier«, also von dem lyrischen Ich des Gedichts, das sich um (die) Wahrheit als Freier bemüht (um dann in der nächsten Zeile (16) den Freier zum Dichter herabzustufen: »nein! nur ein Dichter!«). Schon die Benennung Freier, hier in übertragener Bedeutung, gibt die Problematik vor: Freier ist der »werbende, bulende, nicht schon der bräutigam und heiratende« (J. Grimm u. W. Grimm, DWb 1878, 107) – er ist ein »Noch nicht«, der einen schlechten Ruf hat: »sie hat freier aber keinen nehmer«, sagt ein Sprichwort im 19. Jahrhundert (a.a.O.). Diese negative Konnotation schreibt sich in die übertragene Bedeutung ein und springt natürlich auf den Dichter über. In wechselnden, überwältigenden Bildern spricht der lyrische Text von den Gründen und Abgründen, in die der Dichter sich begibt und geführt wird: »d a ß i c h v e r b a n n t sei / v o n a l l e r W a h r h e i t « (Z. 99f.) – und nur in der »Schöpfung« des Textes findet er, was der »weltlichen« (der auf die Welt bezogenen) Wahrheit nicht vergleichbar ist. Furiose Interpretationen dieser Dithyrambe haben G. Kaiser (1996, 199–217) und W. Groddeck (Bd. 2,1991, 3–42) vorgelegt; mir geht es darum, an und in der lyrischen Sprache die semantischen Verrückungen aufzuzeigen, das instabile, bewegliche Moment, das den lyrischen Text zum »verwegenen Kunststück« (in Anlehnung an »Ueber Wahrheit und Lüge«, KSA 1, 888) macht. Das Gedicht ist »geklammert«, zudem zwei- und dreigeteilt. Schon seine Makrostruktur zeigt den ambigen Charakter des Textes an. ›Klammerung‹ heißt, daß den Text 14 Zeilen ein- und 21 Zeilen ausleiten. Das lyrische Ich spricht einleitend sich selbst an, am Ende eines Sonnentages: »gedenkst du ... / wie einst du ... / versengt und müde durstetest / dieweil ... / boshaft abendliche Sonnenblicke / ... um dich liefen /«. Es folgt der Hauptteil, eine direkte Rede des Ich, in der dieses Ich sich des Spotts und Hohns der »Sonnen-Gluthblicke« erinnert. Die Zeilen 15 bis 32 fasse ich unter dem Titel »Verruf des Dichters«. Die Bedeutung von Verruf schafft eine semantische Tendenz, die den Freier der Wahrheit zum Dichter degradiert, der zum »Thier« wird. In Zeile 17 bis 23 fährt der Autor eine Batterie von Zuschreibungen auf, die auf der untersten Stufe, dem Freier als »Thier«, ansetzen: »ein listiges, raubendes, 36

schleichendes« – die nachgestellten Adjektive machen das »Thier« zum Raubtier, und die zwei partizipialen Adjektive (raubend, schleichend) steigern, ob ihrer verbalen Anteile, seine Gefährlichkeit. Nachfolgend werden menschliche Merkmale der Metapher ›Dichter als Thier‹ zugeschrieben, »das lügen muß« (Z. 18), ja dieses »wissentlich, willentlich« (Z. 19) tut, also intentional und reflexiv handelt, um dann sofort wieder in das »Raubtierhafte« umzusteigen, »nach Beute lüstern« (Z. 20): Dieses Raubtier sucht Beute nicht, weil es überleben will, sondern seiner »Lust« folgt. In Z. 21f. wird ein neues Merkmal des Tierischen aufgedeckt: »bunt verlarvt / sich selbst zur Larve«. Tiere, Schmetterlinge z.B. oder Maikäfer, »verlarven« sich, haben eine Frühexistenz, die zu einer Tarnung (»bunt verlarvt«, Z. 21) wird, die sich selbst nicht erkennt (»sich selbst zur Larve«, Z. 22). In einer parallelen sprachlichen Konstruktion (wie überhaupt der Text mit Anaphern und Alliteration durchsetzt ist) wird das raubende Tier »sich selbst zur Beute« (Z. 23) – es verschlingt sich selbst; »d a s « (Z. 24), hier durchaus in verächtlicher Bedeutung, – das raubende, sich verlarvende, sich selbst zur Beute werdende Dichtertier – »der Wahrheit Freier?« Die Frage enthält die vernichtende Antwort. Und doch: »D e r W a h r h e i t F r e i e r – du? .../ nein! nur ein Dichter« (Z. 15f.) – diese Frage, preziös mit vorgestelltem Genitiv formuliert, erhält eine Antwort, die man entgegen der vorstehenden Interpretation auch so lesen könnte: »Nein, nur ein Dichter [kann der Wahrheit Freier sein]!« (W. Groddeck, Bd. 2,1991,13) – und »der Verruf« erhielte eine neue Richtung. Hier wird der »Verruf«, fast möchte ich sagen: nach traditionellem Verständnis, fortgesetzt. Indem Nietzsche den Titel wiederholt (Z. 25), kommt der Dichter als Narr ins Blickfeld. Der redet »Buntes« (Z. 26), also ›Wirres‹ (vgl. Paul 2002,196), ja die Narren werden als Larven (»Narrenlarven«, Z. 27) bestimmt, aus denen der Dichter »bunt«, also ›wirr‹ herausredet: »herausredend« eben als Verlarvter, Getarnter, mit seiner Rede »herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken« (Z. 28) – die Rede erreicht nicht die Welt, dichterische Rede geht über »Lügen-Regenbogen / zwischen falschen Himmeln« (Z. 29f.), »herumschweifend, herumschleichend« (Z. 31) – wie ein Tier. Und nun eine typographische Variante des Titels: »N u r [gesperrt] Narr! N u r [gesperrt] Dichter« (Z. 33) – weiter nichts, weiter nichts als Narr und Dichter in der Zeichnung von Z. 15 bis 32. Wirklich? Und welcher Narr? Er bleibt eher blaß. Ist es der, welcher ›geisteskrank, geistesschwach, geistesgestört ist‹ oder der ›gesunden Vernunft zuwiderhandelt‹ oder der ›Hofnarr, Spaßmacher‹ (Paul 2002, 692)? Der Autor hat da, im Geflecht seiner Schriften, eigene Vorstellungen. Narr – das Wort, der Begriff, die Benennung changiert; immer aber ist jemand im Visier, der 37

geistig auf eigene Kosten lebt, der sich nicht aushalten läßt. Am schönsten formuliert es Nietzsche im »Zarathustra« so: »Lieber Nichts wissen, als Vieles halb wissen! Lieber ein Narr sein auf eigne Faust, als ein Weiser nach fremdem Gutdünken!« (KSA 4, 311) Eine einzeilige Strophe des Dithyrambus, die die bekannte Frage »Das – der Wahrheit Freier?...« (Z. 32) formuliert, gibt scheinbar eine endgültige Antwort. Scheinbar? Ist nach solcher Darstellung Rettung denkbar? Die vierte Strophe – und das läßt aufhorchen – setzt ein mit einer negativen Akkumulation, angeführt von der Negationspartikel nicht: »Nicht still, starr, glatt, kalt« (Z. 34), waren doch zuvor »positive« Zuschreibungen die Regel – so wie man in der Medizin von einem positiven Befund spricht, der die Krankheit feststellt. Jetzt, zumindest Z. 34 bis 39, dominieren die negativen Zuschreibungen, die die große Gesundheit anzeigen. Es entwickelt sich das, was ich »Anruf« des Dichters nennen möchte. Die Bedeutung von »Anruf« schafft eine Perspektive, die den Dichter absetzt von »Standbildern« (Z. 39) (hinter denen sich wohl feste Begriffe verbergen) und ihn insofern in Bewegung setzt – durch Negationen: er ist nicht »starr«, nicht »Bild« (also Abbild), nicht »Gottessäule« also Statue, nicht »Gottes Thürwart« (Z. 38), »nein! feindselig solchen Tugend-Standbildern« (Z. 39) – diese Zeile faßt die Negationen zusammen, zieht eine Summe –, und dann übernimmt das Dichtertier wieder das Wort, fast könnte man sagen die Herrschaft, nun in Bildern, die eine Verheißung sind (Z. 40 bis 50): Der Dichter, »der Wahrheit Freier«, wird in der »Wildniß« verortet, hat die Mentalität einer Katze (»Katzen-Muthwillen«), springt wie diese durch »jedes Fenster« und »husch!« (als Ausdruck schneller und leiser Bewegung) in jedes mögliche ›Vorkommnis‹ (so die historische Bedeutung von Zufall, vgl. Paul 2002, 1212), gar dem Urwald »zuschnüffelnd« (›hörbar und prüfend riechend‹) – der Dichter als (Raub)katze, bizarr gezeichnet, aber doch ein Kerl, der sich stellt. Die Strophe wird abgeschlossen durch eine konjunktivische Passage (Z. 45ff.): »daß du [...] schön und bunt liefest / [...] raubend, schleichend, l ü g e n d liefest ...«, die zum einen die künftige Welt des Dichters zeichnet und zum anderen das Vokabular des »Verrufs« (»raubend, schleichend«) aufnimmt (Z. 50), das im neuen Kontext des »Anrufs« aber eine positive Deutung erfährt. In dieser konjunktivischen Passage brilliert der Verfasser (mittels neuer Wortkomposita) mit der Zeichnung von Urwald-Bildern, die radikale Gegensätze verschränken: »sündlich gesund«, »selig höhnisch«, »selig-höllisch« und »selig-blutgierig« bewegt sich der Raubtier-Dichter – in »Urwäldern« zu Hause, in seiner Befindlichkeit ohne Vorbild, selig und höhnisch wie höllisch und blutgierig zugleich, »mit lüsternen Lefzen« (Z. 48). Diese alliterierende Phrase 38

belegt, daß der Verfasser auch vor Trivialem nicht zurückschreckt, um den Dichter freizustellen im Urwald; »raubend, schleichend, l ü g e n d « (Z. 50): Die Sperrung des dritten Partizips in dieser klimaktischen Aufzählung demonstriert, daß der Dichter als Lügner im positiven Kontext des »Anrufs« akzeptiert ist, Wahrheit ist kein Kriterium für einen literarischen Text. Entscheidend ist (siehe oben) der Text als verfaßter; »Wortweltschöpfung« überschreibt G. Kaiser seine Interpretation (1996, 199). Die zweite Hälfte des Gedichts, die 5. Strophe, wird eröffnet mit »oder«, der Konjunktion, die eine Alternative anbietet: »Oder dem Adler gleich« (Z. 51), der Dichter wird vergleichbar dem »Raubthier« – im »Nicht«-Text hielt er sich noch »unter ... Raubthieren« auf. Jetzt »blickt« er »starr« »in s e i n e Abgründe« (Z. 53) – der Dichter versucht sich als Erkennender, doch die Abgründe »ringeln« sich in »immer tiefere Tiefen«. Diese Formulierung, die zugleich die Schlange evoziert, verspricht, daß die Abgründe abgründig, ohne Ende sind. Das Scheitern ist dem erkennenden Blick (»lange, lange starr«) des Dichters vorgegeben. Und dann die Auflösung in Aktion und Bewegung: »Dann«. Der Dichter als Adler stößt »jach« (›jäh‹) hinab (Z. 62), und dieser Sturzflug wird auch visuell angezeigt in der Art eines barocken Figurengedichts: »Dann, [ein-] / plötzlich, [zwei-] / geraden Flugs [viersilbig]« – es folgen 4-, 5- und 6silbige Verse – dann ist der Adler am Ziel: »jach hinab« (Z. 57–62). Das Infinitivprädikat »stoßen« (Z. 61) bildet das syntaktische Zentrum (W. Groddeck Bd.2, 1991, 28), und die (Unschulds-)»Lämmer« sind die Beute; dabei wird der Dichter (im Gewand des Adlers) zum grausamen Akteur: »heißhungrig«, »lüstern«, »gram«, »grimmig gram« – ein Verfolger der »Lamms-Seelen« und von allem, was damit zusammenhängt. Nicht der »starre« Blick des Adler-Dichters in die eigenen unermeßlichen Abgründe – »blicken« ist auch eine Form des Verstehens – führt weiter, sondern der (Sturz-)Flug, der gezielt die Beute schlägt, leidenschaftlich, mitleidlos dem gegenüber, was »Lamms-Seelen« auszeichnet. Zweimal setzt der Autor an, um den zuvor erfolgten V e r r u f des Dichters zu widerrufen, A n r u f und Z u r u f seien für diese Passagen eingesetzt. In der mit »also« einsetzenden Passage (Z. 68) wird eine Konklusion gezogen. Die Attitüde des Adlers (»adlerhaft«) und die des Panthers (»pantherhaft«) sind unterschiedliche Formen, dichterisch die Wahrheit zu überspielen: »Bedeutungsvertiefung« durch den (Adler-)Blick in Abgründe; »Bedeutungsübertragung« (»tropisch«) durch das Raubtier im Urwald (die Begriffe nach W. Groddeck Bd. 2,1991, 29); »des Dichters Sehnsüchte« (Z. 70), die »adlerhaft« und »pantherhaft« sind und »unter tausend Larven« sich verbergen – »du Narr! du Dichter!« ...« (Z. 71f.): das ist eine Selbstan39

rede, evoziert durch das »du« der direkten Rede der »Sonnenblicke« (Z. 12). Doch das Bild des Panther- und Adlerdichters wird fortgeführt: Dieser Dichter »schaute« den Menschen. Die Infinitivkonstruktionen »den Gott zerreißen« und »zerreißend lachen« steigern, in ihrer grammatischen Unbestimmtheit, die Grausamkeit der Handlung und sind über den Einsatz des mehrdeutigen zerreißen (als Infinitiv und Partizipialform) verbunden. Sie destruieren die christlichen Vorstellungen vom Lamm Gottes und Gott im Menschen; so ist »deine Seligkeit« (»du Dichter«), es ist die eines Panthers und Adlers, eines Dichters und Narren. Sie führt weit weg von Seligkeit als ›Seelenheil im Jenseits‹. Mit Zeile 81 setzt die »Ausleitung«, der Rahmentext ein – mit demselben Vers, der die »Einleitung« ziert: »Bei abgehellter Luft«. Dieses Zitat aus des Barockdichters Fleming Lyrik, dem Grimmschen Wörterbuch entnommen (W. Groddeck Bd. 2, 1991, 9), ist doch wohl eine Fortführung (»Übertragung«) der historischen Bedeutung von »abhellen«, die Grimm mit ›abklären, sich aufklären‹ angibt; bei Nietzsche trägt »abgehellt«, wie die Neubearbeitung des »Grimm« (DWb. Bd. 1.1983, 386) vermerkt, die Bedeutung ›von verminderter grelle des lichts‹. Es ist eine Abendstimmung, die in beiden Rahmentexten beschworen wird. Der Schluß zeigt das sprechende Ich »aus meinem Wahrheits-Wahnsinne« in den Abend versinken, »von Einer Wahrheit [die das Ich vergeblich suchte] / verbrannt und durstig« (Z. 95f.) – mit einer einzigen Sehnsucht: »d a ß i c h v e r b a n n t s e i / v o n a l l e r W a h r h e i t ! / [Wahrheit – es ist nur ein Wort] N u r N a r r ! N u r D i c h t e r ! ...« (Z. 100f.). Drei Zeilen, alle drei gesperrt! »Verbrannt« löst sich in »verbannt« auf (W. Groddeck Bd. 2, 1991, 41 faßt das Wortspiel unter den rhetorischen Begriff ›Paronomasie‹) – die Sprache, Ausfall des Phonems |r|, bringt Heilung: verbannt und doch aufgehoben – im literarischen Text. Die dem Gedichtverlauf folgende Interpretation läßt sich systematisch zusammenfassen mit Hilfe einer Rahmen-Analyse. Ein solcher Rahmen (Frame) wird aufgebaut durch das Thema »Dichter als (Raub)tier«. Zuschreibungen wie listig · raubend · schleichend · nach Beute lüstern kennzeichnen das Raubtier; Tierisches enthalten die Prädikate: bunt verlarvt · sich selbst zur Larve · sich selbst zur Beute. Diesen »tierischen« Rahmen durchsetzt der Autor, da es sich um einen Dichter handelt, mit menschlichen Zügen: das lügen muß · wissentlich, willentlich lügen muß. Den Verruf setzt der Verfasser fort durch Variation des Rahmens, die den Narren ins Visier nimmt: Buntes redend · aus Narrenlarven bunt herausredend · herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken · auf Lügen-Regenbogen · zwischen falschen Himmeln · herumschweifend · herumschleichend. 40

Insofern Hinweise auch auf »Tierisches« gegeben werden, und sei es nur ob des ambigen Charakters der Sprachzeichen (»Narrenlarven«, »herumschleichend«), ist dies Indiz dafür, daß Närrisches und Tierisches verbunden, verzahnt ist: Dichter und Narr als (Raub)tier. Im »Anruf« des Dichters wird eine weitere Variation des Rahmens etabliert, in der negiert (nicht (2x), nein) und ausgegrenzt wird durch Abgrenzungswörter (feindselig) und komparative Strukturen. Negation und Ausgrenzung gelten: Adjektivbegriffen (still · starr · glatt · kalt ) und mit ihnen verbundenen, religiös orientierten, nominal besetzten Partizipialstrukturen (zum Bilde geworden · zur Gottessäule [geworden] · aufgestellt vor Tempeln); Konstruktionen, die von »feindselig« abhängig sind (solchen Tugend-Standbildern) oder durch Komparation zu verworfenen Orten werden (in jeder Wildniß heimischer als in Tempeln). Schon die Komparativkonstruktion gleitet ins Positive über. Text und Kontext erhalten plötzlich einen enthusiastischen Anstrich: voll Katzen-Muthwillens · durch jedes Fenster springend · husch! in jeden Zufall · jedem Urwalde zuschnüffelnd. Dann jedoch verändert Nietzsche den grammatischen Duktus des Textes. Nicht mehr nominal gesetzt, allenfalls durch Partizipialadjektive in Bewegung gehalten, sondern durch verbale und konjunktivische Konstruktionen mit Du-Anrede in Bewegung gestoßen: »dass du in Urwäldern / [...] liefest (Z. 46 bis 48), »mit lüsternen Lefzen, / [...] liefest« (Z. 49 bis 51) – die Progression, der Urwald-Lauf unterstreicht das positive Bild vom Dichter als Raubtier, das hier die Gestalt einer Katze annimmt. Nietzsche stiftet dann eine weitere Variation des Rahmens, um das Dichtertier, das nun Adler heißt, zu zeichnen. »Oder« heißt der Kontext, den ich unter »Zuruf« gefaßt habe. Die Variation, innerhalb derer der Adler »blickt« und dann zum Beuteflug hinabstürzt, ist zu übersichtlich, als daß sie hier skizziert werden müßte. Sollen vielmehr die Merkwürdigkeiten notiert werden: Der Adler blickt »in s e i n e Abgründe«, natürlich: der D i c h t e r adler; »hinab, hinunter, hinein« »ringeln« sich die Abgründe – die Schlange, Symbol der ewigen Wiederkehr, ist mit von der Partie; »heißhungrig«, »lüstern«, »gram«, »grimmig gram« – welch seltsame Tiere bevölkern (sic) die Alpen. Aber der Adler und die Raubtier-Katze, die zum Panther (Z. 69) wird, kamen ja nur ins Spiel, um das »Adlerhafte« und »Pantherhafte« des Narren und Dichters zu zeichnen. Verruf, Anruf und Zuruf sind Stationen im Zusammenhang mit der erinnerten Rede der »Sonnen-Gluthblicke«. Was ist geschehen? Nietzsche hat den Dichter verrufen, angerufen und ihm zugerufen, indem er ihn als »Thier« in negative und positive Kontexte stellt. Das Bretterwerk starrer Begriffe wird aufgelöst; der Dichter wird 41

zum Chamäleon, das sich, je nach Gefahrenlage, den Umständen (farblich) anpaßt. Sprache ist ein verwegenes Kunststück – beweglich bis haltlos, »gleitend« (E. Kleinschmidt 1992, Titel). Himmel und Regenbogen, die Welt, geben ihr keinen Halt, wie sie die Welt nicht erklärt. Schon das Wort Freier deutet den Spielzeug-Charakter der Sprache an. Er ist der ›Buhlende‹, aber er trägt das Lexem frei mit sich. Der »Freier« wird zweimal in einer Frage aufgerufen (Z. 15, 33), nein (Z. 15) und ja (Z. 33) kann man antworten. Nein – indem er die Wahrheit verfehlt, ja – indem er sich auf seinen Text, seine Schöpfung bezieht. Auch das einschränkende und heraushebende nur des Titels und der Zeile 32 weist in dieselbe Richtung. Der Titel »Nur Narr! Nur Dichter!« ist auf den ersten Blick einschränkend; aber schon die silbisch wie inhaltlich aufsteigende Linie Narr, Dichter läßt Zweifel an der »reinen« Einschränkung aufkommen. Indem in Z. 32 nur im Sperrdruck erscheint, wird der Umschlag eingeleitet: »n u r Narr! n u r Dichter!« soll heißen: ›nicht mehr als‹ und zugleich ›nicht weniger als‹ im Sinne von ›ganz und gar‹; Narr und Dichter, nichts sonst, »voll Katzen-Muthwillens« (Z. 19). Schon das erste Wort des Gedichts (im Titel) nur ist eine, je nach Kontext, positiv oder negativ besetzte Partikel par excellence. Der Text folgt dieser WendeSemantik. Überdies ist er pragmatisch verschlungen, soll heißen: Eine komplexe Redekonstellation liegt ihm zugrunde. Einer (Dionysos) spricht durch den Autor Nietzsche, dessen sprechendes (lyrisches) Ich sich an sein »heißes Herz« (Z. 7) wendet. Das gibt dem Text eine dialogische Komponente insofern, als dieses heiße Herz mit »du« angesprochen wird: »gedenkst du da, [...], heißes Herz, / wie einst du durstetest« (Z. 7f.). Dieses heiße Herz erinnert sich der Reden der schadenfrohen »Sonnen-Gluthblicke« (Z. 14) und erzählt sie bzw. berichtet von ihnen in direkter Rede (»Redestrophen«, Kaiser 1996, 204). Diese Reden, Spottreden und Gegenreden, bestimmen das Gedicht – bis das »Ich« zu sich selbst zurückkehrt (Z. 81), wiederum sein »heißes Herz« (Z. 97) als »du« anspricht und den Titel des Gedichts als letzte Zeile setzt und so den Gedichttext wirklich »einschließt« – die Türöffner, Interpretationen, Kommentare, Lektüren sind allesamt »unzugänglich« und damit unzulänglich. Der komplexen Redekonstellation, die doch nur die »Rede einer einsamen Seele mit sich selbst« ist (P. Pütz 1981, 238), entspricht eine »unruhige« Syntax. Sie setzt mit einem Ausruf im Titel ein und fährt fort mit einer durch Nominalstrukturen (»Bei abgehellter Luft« (Z. 1, usw.)) erweiterten Frage (»gedenkst du da« Z. 7), die einen Anruf (»heißes Herz« Z. 7) enthält und eine Erweiterung in einem indirekten Fragesatz findet. Die Frageform 42

wird in Z. 15, der erinnerten Rede der »Sonnen-Gluthblicke«, aufgenommen: »Der W a h r h e i t Freier – du?«, und die erste Antwort ist der folgende Verruf des Dichters, die zunächst als Ausruf: »nein! nur ein Dichter!« (Z. 16) gefaßt ist und dann durch nominale Satzstrukturen gewissermaßen fundiert wird: »ein Tier, ein listiges, raubendes, schleichendes« (Z. 17 usw.). Die Ausruf-, Frage- und Antwortsyntax spiegelt die Redekonstellation in angemessener Weise wider. Syntax und Pragmatik des Gedichts (also auch seine dialogische Komponente) sind Voraussetzung und zugleich Ausdruck des verwegenen Kunststücks. »Verwegenes Kunststück« – Nietzsches Stil ist rhetorisch bestimmt (K. Kohl 2003). Seine auf Überredung, ja Überwältigung zielende Darstellungsweise schlägt nach oben und unten aus. Sie zerrt – im Fall des Narren und Dichters – herab und stellt ihn anschließend ins gleißende Licht. Verruf: »du? so höhnten sie ... ein Thier ... das lügen muß ... herumsteigend ... auf Lügen-Regenbogen ...«; Anruf: »voll Katzen-Muthwillens ... sündlich gesund ... selig-blutgierig ...«; Zuruf: »... plötzlich ... gezückten Zugs ... jach hinab, heißhungrig ... gram allen Lamms-Seelen ...« Das ist ein Spiel mit der Sprache, das den Leser in Taumel versetzt, ihn verwirren soll und ihn dem Verfasser »hörig« macht. Greift Nietzsche, zum Ende, auf eine »Erstsprache« (Botho Strauß) zurück, die Dichten und Denken nicht trennt? Das »sprechende« oder auch »lyrische« Ich, von dem zuvor die Rede war, ist eine wissenschaftliche Konstruktion, die die Biographie des Dichters vom lyrischen Text (mehr oder weniger) fernhält. Ich finde eine »Konstellation« im Leben und Werk Nietzsches, die einen engen Zusammenhang stiftet zwischen der Person Nietzsche und dem lyrischen Text:

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»Beim Heimtransport durch den Gotthard sang er zu einer eigenen Melodie verständlich sein letztes Lied, das er um die Weihnachtszeit gedichtet hatte« (C.A. Bernoulli 1908, Bd. 2, 230f.). Franz Overbeck notiert »im Exemplar ›Nietzsche contra Wagner‹« (KSA 6, 413ff): »Diese Verse sang Nietzsche beständig – bald trillernd, bald summend – meist eine vermeintliche Weise Peter Gast’s anrufend, in der Nacht, da ich ihn über den Gotthard von Turin transportierte. Ich wußte nicht, daß er sich selbst zitierte, und staunte namenslos darüber, ihn in seinem damaligen Zustande solche Worte vorbringen zu hören. Erst der Druck klärte mich auf.« (R.J. Benders und S. Oettermann 2000, 734f.) Das Lied setzt auf ausgesuchte t r a d i t i o n e l l e Mittel der Lyrik und versucht, sie zu überbieten. Die »braune Nacht« des Barock (Nietzsche benutzt diesen literarischen Topos schon 1869 in einem Brief an Erwin Rohde; vgl. W. Groddeck 1995, 29) ist der hüllende Mantel, unter dem der »Gesang« (Z. 3) dem »Ich« (Z. 2) zuströmt. »Brücke« (Z. 1) – »an der« das Ich steht und die hinüberführt ins Fernher – und Gesang von »Fernher« (Z. 3) skizzieren die Situation. Das alles wird in inversiver Syntax formuliert, die die Normstellung umkehrt: Die Subjekte »ich« und »Gesang« stehen nach den adverbialen Bestimmungen und den Prädikaten. So wird eine emphatische Stimmung erzeugt, die auch das ›Überwältigtsein‹ des Ich widerspiegelt. Das setzt sich in der ersten Strophe fort: Das »Es-Subjekt«, das »Gesang-Ding« (Scheier 1985, 114), ist apostrophiert (»quoll’s«) und steht am Ende von Vers 4; »goldener Tropfen« ist Genitiv Plural – Musik, hier Gesang ballt sich in Wasser und quillt »über die zitternde Fläche weg«: Musik (als a k u s t i s c h e s Element) wird, synästhetisch, s i c h t b a r in Tropfen und in der zitternden Bewegung des Wassers. Der nominal ausgerichtete und zusammenfassende Vers 6: »Gondeln, Lichter, Musik«, offensichtlich eine triadische Steigerung, wird aufgefangen und zusammengenommen von einem Vers mit Partikelverb mit wiederum apostrophiertem Subjekt »es« (»schwamm’s […] hinaus«, zuvor »quoll’s […] weg«), dessen adverbiale Ergänzung »trunken« Natur (das Wasser) und Person (ihre Stimmung) zusammenführt, der »Dämmrung« übergibt. Der »verstellten« Syntax der ersten Strophe, die Emphase und Bewegung ausdrückt, folgt die zweite Strophe gleichsam dialogisch nach Art der Gondellieder (vgl. W. Groddeck 1995, 27) in Normalstellung. Das Echo der Musik wird auf das lyrische Ich bezogen: »Meine Seele [...] / sang sich [...] / [...] ein Gondellied dazu« (Z. 8 bis 10). Fast religiös wird die Sprache, wäre da nicht die Apposition: »meine Seele, ein Saitenspiel« (Z. 8). Das Innere (die Seele) ist ein Äußeres (das Saitenspiel), das von der Musik »unsichtbar berührt«, »heimlich ein Gondellied« (Z. 10) singt und 44

so Inneres (die Stimme) und Äußeres (das Lied) zusammenführt, »zitternd vor bunter Seligkeit« (Z. 11). Im Zittern der Person zeigt sich, ja äußert sich das Innere, die Seligkeit des Sängers (die »zitternde Fläche« in Vers 5 zeigt das Akustische). Es folgt ein Gedankenstrich am Anfang der Zeile und die rhythmisierte skeptische Frage »Hörte Jemand ihr zu? ...« Der Gedankenstrich zeigt die reflexive Ebene auf, die das Gedicht erreicht hat. Kunst bedarf der Rezeption, wird es (künftig) »jemanden« geben, der zuhört, »ihr«, meiner Seele? Nicht »Jemand« vielleicht (und eine negative Konnotation dieses Indefinitpronomens an dieser Stelle läßt sich nicht leugnen), sondern Kunstliebhaber, die ahnen, daß diese Form der Stimmungslyrik eine Grenze darstellt, an der die Moderne aufzieht. Nietzsche selbst, nicht etwa sein lyrisches Ich, hört sich zu – indem er sein eigenes Lied singt. »Ich habe den Kopf voll der ausgelassensten Lieder, die je durch den Kopf eines Lyrikers gelaufen sind«, schreibt er in einem Brief vom 30.9.1884 (Sämtl. Briefe 6, 538). Lyrisches Ich und Autor kommen sich hier so nah wie nie, Ausdruck zugleich der Einsamkeit, die dieses Gedicht grundiert. Zum Ende: Gedichte. Und Nietzsche hatte zuvor formuliert: »Sind wir nicht eben darin – Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum – K ü n s t l e r ? ...« (KSA 6, 439; vgl. R. Görner 2008, 39f.) Die rhetorischen Fragen zeigen an: Leben rechtfertigt sich als ästhetisches.

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5.

»Wortkunst«: Arno Holz

Ist Einsamkeit Teil von Nietzsches Aufruhr, so begibt sich Arno Holz auf den Markt der Literatur. Zusammen mit Johannes Schlaf entwickelt er um 1890 ein Konzept dessen, was man dann literarischen Naturalismus nennt; zugleich publizieren Holz und Schlaf exemplarische Prosa- und Dramentexte, zunächst unter norwegischem Pseudonym (Bjarne P. Holmsen) »Papa Hamlet« (und weitere Prosatexte,1889); dann unter ihren Verfassernamen das Drama »Die Familie Selicke« (1890) sowie zwei Jahre später wiederum ein Gemeinschaftswerk (»Neue Gleise« 1892), das Dramen- und Prosatexte enthält. Holz und Schlaf geht es um naturalistische Verfahren in der Literatur, die die Wirklichkeit wirklich, detail- und milieugetreu im sog. Sekundenstil abbilden sollen. Holz, der theoretische Kopf der literarischen Arbeitsgemeinschaft, formuliert in seinem Werk »Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze« (1891–93) ein Kunstgesetz, dem er später folgende Fassung gibt: »Die Kunst hat die Tendenz, die Natur zu sein; sie wird sie nach Maßgabe ihrer Mittel und deren Handhabung« (A. Holz 1962, 30). Natur – das ist der Vorwurf für die Kunst, und Natur ist im weitesten Sinne zu interpretieren. Die Kunst muß die Natur einholen, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, also z.B. denen der literarischen Sprache. Insofern geht es Holz um den Zusammenhang von Kunst und Wirklichkeit, der die literarische Sprache immer nur partiell nachkommt. Sprache wird somit Holz zum Problem, ja er rückt sie in den »Mittelpunkt der Aufmerksamkeit« (G. Schulz 1974, 62). Deshalb reichen seine Überlegungen über naturalistische Fragestellungen hinaus. »Es sind also zwei Hauptgedanken in Holz’ Theorie enthalten und verbunden: die Anerkenntnis des grundsätzlichen und nie aufzuhebenden Gegensatzes zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit [...] und die Forderung, diesen Gegensatz mit der Durchbildung und Handhabung des Kunstmittels [Sprache], so weit es irgend geht, zu verringern« (I. Strohschneider-Kohrs 1967, 56). In Prosa und Dialog brillieren die Verfasser, gemäß ihren Regeln; doch die Lyrik bleibt eher konventionell. 1886 erscheint eine Sammlung von Gedichten von Arno Holz: »Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen«. Dem Werk ist ein gereimter »Widmungsbrief« vorangestellt, in dem der 46

Verfasser in der Schlußstrophe sich folgendermaßen vorstellt: »Ergo, Alter vom Zürichberg,/ Schreib mir ›All right!‹ und verzeihe,/ Daß ich, ein winziger lyrischer Zwerg,/ Dir dieses Liederbuch weihe!« Der »lyrische Zwerg«, der dieses Johannes Scherr zuschreibt, war drei Jahre zuvor mit Lyrik in der Manier Geibels hervorgetreten (»Klinginsherz!«) und versucht 1885 – die »Lieder eines Modernen« waren ein Jahr vordatiert – zumindest im Titel und thematisch den Anschluß an die Moderne. Zwar zieren noch immer Nachrufe auf den 1884 verstorbenen spätklassizistischen Lyriker Emanuel Geibel das Werk (101–120); aber es findet sich auch das (schon erwähnte) Kapitel »Berliner Schnitzel«, das zeitkritische Vier- und Mehrzeiler vorstellt, etwa folgenden unter dem Titel »Kritiksucht. Wenn die Kritiksucht unsre Kunst / En masse schablonenhaft verhunzt, / Fällt mir der Vers ein, der famose: / ›Du stinkst, sprach einst das Schwein zur Rose‹«. (332) Die neue »Kunst« muß kämpfen gegen die »Kritik« – und da hilft ein grober Vers, der versucht, die Dinge umzukehren: Das arme Schwein, der Dichter, kämpft mit seinen Mitteln, einem Vers, gegen die Kritik, die sich als die feinste aller Blumen geriert. Daß Friederike Kempner an seiner Seite steht, würde Arno Holz nicht zur Freude gereichen. Sie formuliert unter dem Titel »Die Poesie«: »Die Poesie, die Poesie,/ Die Poesie hat immer Recht,/ Sie ist von höherer Natur,/ Von übermenschlichem Geschlecht.« Viermal (einschließlich der Überschrift) wird »die Poesie« beschworen (F. Kempner 1891, 90) – und sie ist, nach Meinung der Verfasserin, gerade nicht den Strömungen der Zeit unterworfen, da sie von »höherer

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Natur« und »übermenschlichem Geschlecht« (im Sinne von lat. genus ›Art, Gattung‹) sei. Gegen eine solche geschichtslose Verabsolutierung kämpft der Modernisierer Holz (1886, 334), und er versucht, hierfür Argumente anzuführen: (s. Gedichttext S. 47) Auch bei der Präsentation im lyrischen Schriftbild (das, wie schon erwähnt, »durch allzuviel weißen Raum« sich auszeichnet, R. Gernhardt 1990, 12) wird Arno Holz’ Lyrik, Großstadtlyrik, wie er sie selbst nennt, nicht moderner. Die kreuzgereimten Verse (abab) in unregelmäßiger Metrik haben statt eines neuen Entwurfs nur eine ziemlich alte Aussage, nämlich die: Die traditionelle Lyrik (mit »circa zehn« Wörtern) ist erstarrt – die »höhere Natur« der Kempner ist inzwischen das Immergleiche von Herz und Schmerz. Das ist sichtlich übertrieben, selbst die Strophe der Kempner (es ist die erste) enthält 12 Wörter, zählt man die »types« (›Typen‹), nicht die »tokens« (›Vorkommen‹). Doch der Versuch, innerhalb der Lyrik Widerstand zu leisten, Erneuerung zu probieren, wird in den »Liedern eines Modernen« spürbar – wenn auch noch keine spezifischen Mittel und Themen zur Verfügung stehen. Immerhin steht vor dem »Ausgang« der »Lieder eines Modernen« ein Gedichtzyklus von 13 Gedichten, der im Inhaltsverzeichnis mit »Phantasus 1–13« verzeichnet ist und im Text den Titel »Phantasus!« für den Zyklus insgesamt trägt. Das Ausrufezeichen hebt heraus, ist Holz’ Form der besonderen Ankündigung. Tatsächlich wird der Zyklus durch ein Gedichtzitat (eines Verfassers Adolf Friedrich Graf von Schack) und drei Seiten Prosa eingeleitet (die wir hier übergehen). »Phantasus« – Holz kündigt hier ein Thema an, an dem er lebenslang festhält – ist in der antiken Mythologie der wandelbare Sohn des Schlafs, der zum Träumen verleitet. Er wurde in die deutsche Literatur 1811 durch Ludwig Tieck eingeführt, der »Eine Sammlung von Mährchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen« so benannte und herausgab und in einem einbettenden Gedicht Phantasus als »ein Knäblein«, »gekränzt mit jungen Rosen« (L.Tieck 1828, 130) darstellt, »das den Dichter von der Überlast spekulativer Philosophie befreit und ihn zurückführt zum frischen Leben der Dichtung [...]« (G. Schulz 1984, 130). Holz’ Gedichtzyklus »Phantasus!« (Das Buch der Zeit 1886, 389–419) stellt sich in anderem Kontext dar: Er begabt einen kreativen Literaten, der sich als armer Dachstubenpoet in einer geist-, kunstfernen und verderbten Großstadt-Welt zu erkennen gibt (die Holz nachzeichnet); der aber in seine Welt der Träume und Phantasie (die er gleichfalls zur Sprache bringt) flüchtet und – am Ende des Zyklus verhungert und stirbt (»Sein Reich war nicht von dieser Welt!«). In diesem Zyklus wird das Neben- und Gegeneinander von harter Realität und literarischer Traumwelt skizziert. Holz 48

schreibt »sein lyrisches Selbstporträt« (Schulz 1974, 32) und erweitert es in seinem späteren Werk; aber die gereimten Verse dieser frühen Fassung in nahezu regelmäßigen Rhythmen stehen noch v o r den revolutionären Ansprüchen der Lyrik, die Holz später, in den 90er Jahren, formuliert. Das erste Gedicht des Zyklus hat folgende Gestalt:

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Kataphorisch (»Ihr Dach«) setzt der Text ein – das Pronomen »ihr« bezieht sich auf die erst im dritten Vers genannte »Miethskaserne«, die das »naturalistische« Objekt darstellt und im folgenden gezeichnet wird: mit »Leiermannsmusik« (I 4) – dem »Leiermann« wird (was nicht ins Gedicht kommt) aus den Fenstern Kleingeld zugeworfen – ; mit der »Ratte« »im Keller« und dem Alkoholverkauf »Parterre«, insgesamt: ein Ort großstädtischer Not (»Vorstadtelend«). Damit wäre die Exposition für ein naturalistisches Drama (»Die Ratten«) gegeben; doch es folgen nun drei Strophen mit gleichfalls jeweils acht Versen, die den armen Poeten »nachts vor seinem Lichte« (II 1) und bei der Arbeit zeigen. Nach dem Ort nun, in der zweiten Strophe, die Person: »Und fieberte und schrieb Gedichte / Ein Träumer, ein verlorner Sohn!« (II 3/4). Diese beiden Verse werden am Ende der vierten Strophe wiederholt, sie führen ins Zentrum des Textes. Und diese Rolle wird gegen den Widerstand der Umwelt geführt, der Ausrufesatz von II 2 versucht, durch Wiederholung (»nieder, nieder«) die Intensität des Widerstandes auszudrücken. Die vierte Strophe nimmt wiederum den Poeten in den Fokus, nachdem zuvor in der dritten Strophe erneut »Die Welt« (III 2), die gegen den Träumer steht, ins Spiel gebracht wird. Die Abfolge lautet also: Ort, Person, Welt, Person – der durch Phantasus inspirierte Poet ist in der Welt und erhebt sich doch über sie, wenn auch »So arm und so verlassen, / Wie jener Gott aus Nazareth!« (II 7/8). Arno Holz greift hoch, um seinen Blick auf die Dichtung zu verdeutlichen: Der lyrische Erzähler ist bemüht, den Gegensatz von literarischem Träumer und feindlicher Umwelt möglichst kraß herauszustellen. Nicht nur muß er in einer »Miethskaserne« (die allerdings, man horcht auf, »bis an die Sterne reicht«) in einem Stübchen (II 5) verweilen; er ist auch sonst verwahrlost: »seine Blouse« »in Fetzen« (IV 1), »trocknes Brot« (IV 2) geliehen. »Er ist verrückt!«, ruft die Welt (III 2); »O Muse!«, antwortet der Poet. »Ver-rückt« ist er tatsächlich. Er »fiebert«, er ist »ein verlorner Sohn«, der die Rolle des Außenseiters annimmt – wozu gehört, daß er (Miethskaserne reimt sich auf Sterne) nach den Sternen greift, also nach Höchstem strebt und so, als Poet der Nacht, der Erdenschwere entflieht. Träumen, fiebern, stammeln: Der Poet ist außer sich – er schreibt Gedichte. Holz zeichnet den Dichter der Moderne, der bürgerliche Konventionen aufhebt und die Position des Außenseiters sucht. An diesem Prozeß nehmen, je unterschiedlich, die in dieser Arbeit eingefangenen Dichter teil. Die vier jeweils aus vier Reimpaarversen bestehenden Strophen zeigen eine jambische Metrik, die an wenigen, inhaltlich bedeutsamen Stellen gestört ist. Zum Beispiel: »Im Keller nistete die Ratte.« (I 5) oder: »Und fieberte und schrieb Gedichte« (II 3; IV 7). Fast könnte man meinen, die 50

metrische Störung verweise auf das Wesentliche. – Mit dem in traditioneller Manier verfaßten »Phantasus« Zyklus (als Zyklus von 13 Gedichten) hat sich der Dichter inhaltlich die Voraussetzung dafür geschaffen, seine Poeterei in die Moderne zu überführen. In dem kleinen Berliner Verlag Sassenbach erscheint 1898 im DuodezFormat mit Kartonage-Einband im Umfang von 51 ungezählten Seiten »Phantasus / von / Arno Holz / Berlin 1898 Sassenbach / Erstes Heft«. Der Umschlag hat einen farbigen – roten – Titel im Jugendstil. (Man muß den Titel in der Manier des Jugendstils sehr genau »studieren«, um ihn zu entziffern.) Ein Jahr später folgt das zweite Heft: »Phantasus / von / Arno Holz / Berlin Sassenbach Zweites Heft 1899«. Der Umschlag hat einen wiederum farbigen, diesmal grünen Titel im Jugendstil. Er ist überdies ausdrücklich »mittig« gesetzt, übernimmt also die Mittelachse der Gedichte. Hier das Umschlagblatt des Ersten Heftes:

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Diesem Phantasus der Moderne (gegenüber dem »Ur-Phantasus« von 1886) liegt ein vorläufiger Abschluß von Holz’ theoretischen Überlegungen zugrunde, und er demonstriert seine praktische Arbeit zur Modernisierung seiner Lyrik in den 90er Jahren. P r a k t i s c h : Bereits 1891 veröffentlicht Holz ein Gedicht (»Nacht«) ohne regelmäßige Metrik und ohne Reim, das er dann in die 2. Auflage des »Buchs der Zeit« von 1892, S. 288–290 übernimmt:

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Die Thematik des Gedichts wandelt das Thema des »Phantasus« von 1886 nur ab: Die Muse, verachtet, »todt«, für eine Nacht dem Sarg entkommen, besucht den Dichter ... Doch anders als die Phantasustexte von 1886 versucht Holz diesen Gedichttext »zu gestalten« (G. Schulz 1974, 67) derart, daß der Text die Natur, d.h. den Dichter und, hier, eine mythische Gestalt (die Muse), ihr Inneres und Äußeres, Leben und Tod, wie auch die Pflanzenund Tierwelt zur Sprache bringt. Dazu gehört, daß die Verse Sinnabschnitte wiedergeben und akzentuieren. Der zweite und dritte Vers formuliert, einleitend, jeweils ganze Sätze mit Subjekt, Prädikat und Adverbiale(n). Der vierte und fünfte Vers hebt sich von dieser Struktur jedoch ab. Ein durch eine Konjunktion eingeleitetes Subjekt (»Und mein Herz«) sowie das Prädikat (»schlägt«) erhalten j e w e i l s eine eigene Verszeile. Dadurch werden sie herausgehoben, ja der Herzschlag (des Dichters) wird im fünften Vers separiert und (fast) hörbar. Dazu gehört weiterhin, daß Wiederholungen sowohl in lexikalischer Form (»Nacht, Nacht, Nacht.«) wie Satzzeichen (»… still! / still!! / still!!!«) die Aussage intensivieren; daß Gedankenstriche Zeiträume im Verlauf der Handlung ausweisen (»Ein Hund bellt – – ein Zweig knickt – – still!«) und Punktreihen, sowohl selbständig (nach Zeile 9) wie im Anschluß an Verszeilen (»Todt, todt, todt ...«) Verstummen anzeigen (sollen) und Sperrungen (»ah, w e i n e nicht! / Weine n i c h t «) Aussagen hervorheben. Der Gedichttext wird eine Partitur zur Darstellung der »Natur«, eine Partitur, die den Leser beim stillen Lesen wie beim Vortrag leiten soll. Literarische Sprache im Gedicht zielt auf Rekonstruktion der Laut- und Bedeutungsstruktur, die vom Thema bestimmt sind. Die Stille, welche die Nacht und die temporäre Rückkehr der toten Muse erfordert, ist nicht allein lexikalisch aufzurufen, sondern durch Wiederholung des Adjektivs und Vermehrung der Ausrufezeichen zu stützen. Und das Gedicht ist gerahmt: Die erste (Titel)zeile »Nacht« wird in der letzten Zeile variiert insofern, als sie zum Ende dreifach erscheint (»Nacht, Nacht, Nacht ...«), zum Zwecke der Intensivierung. Auch die Zeilen 2 bis 5 werden, mit Variation der dritten, am Ende wiederholt, sie sollen den Text als abgeschlossenen, als Gedicht-Text kennzeichnen. Doch dieser Text könnte auch der Monolog einer Figur sein, die im Sekundenstil spricht; er ist (noch) naturalistisch markiert. Die lyrische Einheit des Textes steht in Frage. Um diese zusätzlich zu sichern, erfindet Holz die Mittelachse, die Zusammenhalt und weitere Ordnung geben soll. »Nacht« wird deshalb, leicht verändert, d.h. sparsamer mit »Partiturzeichen« versehen, wie andere Gedichte der 90er Jahre, in den Phantasus von 1898/99 übernommen und auf »Mittelachse« umgeschrieben (im folgenden die ersten fünf Zeilen von »Nacht« im »Phantasus« von 1898): 54

Ein erstes Gedicht auf der Mittelachse, ungereimt und ohne Strophik, wird 1897 zum ersten Mal veröffentlicht (G. Schulz 1984, 133). Die beiden Hefte von 1898 und 1899 sind, mit ihren Gedichten, eine zusammenfassende Darstellung in neuer Form. 1913, 1916, 1925 und, in einer Nachlaßfassung 1961/62 werden vielfach erweiterte Fassungen vorgestellt – Phantasus wird zu einem Lebensthema von Holz. T h e o r e t i s c h : Holz faßt seine Überlegungen zur Lyrik in seiner Schrift von 1899 »Revolution der Lyrik« zusammen. Darin schwört Holz dem Reim und den Strophen ab, sie seien formale »Prinzipien«, überflüssig und verbraucht. Stattdessen favorisiert er einen »natürlichen Rhythmus« (»Revolution der Lyrik« 1899, 222), den er an anderer Stelle auch »notwendigen Rhythmus« (a.a.O., 114) nennt: »Der notwendige Rhythmus [...] wächst [...] jedesmal neu aus dem Inhalt« (a.a.O.): »Klang« und »Inhalt« müssen »eins« sein. Sieht man Rhythmus als eine Bewegung, die die Versstruktur »frei umspielt«, »wo die Betonungen in ihrer Schwere dauernd abgestuft werden« (Kayser 1954, 105), so muß sich ein n a t ü r l i c h e r Rhythmus aus dem Sprechstil metrisch nicht regelmäßig besetzter literarischer Zeilen ergeben. Dabei kann man, wie in »traditioneller« Lyrik, rhythmisch gegliederte Abschnitte unterscheiden, die sich aber nicht aus der akzentuierten Versstruktur herleiten, sondern aus den semantisch-syntaktischen Strukturen des »natürlichen« literarischen Sprechtons. Die um eine Mittelachse gruppierten Zeilen sollen das unterschiedliche Gewicht der Zeilen unterschiedlicher Länge hervorheben. Holz selbst nennt diese »Druckanordnung« später »unregelmäßig abgeteilte Zeilen und unsichtbare Mittelachse«, die »die jeweils beabsichtigten Lautbilder möglichst auch schon typographisch« andeutet (A. Holz 1962, 72). Insgesamt beansprucht Arno Holz, »Die befreite deutsche Wortkunst« (so der Titel einer Sammelschrift, das Substantiv im Titel ist seine Schöpfung) entworfen zu haben (Holz 1948, 261f.; Holz 1962, 76ff.; vgl. H. Heißenbüttel 1994, 66). Um seine neue Technik nochmals zu verdeutlichen: »Ueber die Brücke, langsam Schritt, reitet ein Leutnant.« E i n e solche (Lang)zeile präsentiert sich in drei rhythmischen Abschnitten, die durch zwei Adverbiale (»ueber die Brücke« / »langsam Schritt«) und Prädikat und Subjekt (»reitet ein 55

Leutnant«) bestimmt werden. Zumindest der zweite rhythmische Abschnitt (»langsam Schritt«) beruhigt die Bewegung des Schritt reitenden Leutnants, was auch durch das unflektierte attributive Adjektiv erreicht wird (das die Bewegung in gewisser Weise staut). Die Syntagmen (Satzglieder, Satzgliedteile) sind ein subtiles Mittel der Gestaltung der Zeilen auf der Mittelachse (vgl. G. Schulz 1974, 82). Der Aussagesatz »Ein Kukuk / ruft« hingegen steht in demselben Gedicht auf z w e i Zeilen. Natürlich wird dadurch der Ruf des Vogels hervorgehoben und in einen tieferen Zusammenhang mit dem vorstehenden Text gebracht. Der Ruf wird dazu nicht isoliert, sondern im Schrift-, eigentlich Druckbild akzentuiert, gezeigt (s. dazu unten). Die Verweigerung traditioneller lyrischer Formen (Metrik, Strophe, Reim) und die Annäherung an einen »natürlichen« bzw. »notwendigen« Rhythmus, wobei die Zeilen auf einer Mittelachse stehen, führen Holz – als Lyriker – auf die Spur der Moderne, die sich experimentellem Sprechen öffnet: Die herkömmliche Lyrik wird sich selbst fremd. Die zuvor zitierten Zeilen sind einem Gedicht entnommen, das in der Sekundärliteratur besondere Beachtung gefunden hat:

Dieses Gedicht ist den Berliner Szenen im »Phantasus« zuzurechnen. Sie spielen an realen Orten Berlins (hier: »Thiergarten« und Landwehr»Kanal«); ein lyrisches Ich, positioniert in der Szene, schildert ebendiese und den »natürlichen« und sozialen Kontext. Diesem Gedicht hat H. Esselborn eine glänzende Interpretation gewidmet (1995, 81–89), die auf »Sprachstruktur und Rhythmus« (83) aufbaut: Der auf der Mittelachse und »ueber die Brücke« reitende »Leutnant«, dessen »Spiegelbild« »pfropfenzieherartig« (ein Beispiel, wie auch »siegellackrot«, für Holz’ wortbildnerische Kreativität) »ins Wasser gedreht« erscheint – die Figur des Gedichts ist ein Spiegelbild des Pfropfenziehers –, ist ein Paradebeispiel für eine umfassende Interpretation. Zumal im Spiegelbild nur die Uniform, und hier auch 56

nur der Kragen, »siegellackrot« erscheint – das Spiegelbild wird metonymisch verengt. Daß eine tiefergehende Interpretation sich aufdränge (die u.a. auch die »feudale Ordnung Preußens« und »die ausschweifende Atmosphäre des Kasinos« kontextualisiert), hat H.D. Zimmermann bestritten (1994, 96f.). Hier soll insofern in diesen Streit eingegriffen werden, als die letzten beiden Zeilen Ein Kukuk ruft.

in der Interpretation H. Esselborns exemplarisch überprüft werden sollen. Der Interpret betont zunächst, daß nach den »optischen Eindrücken«, die das Gedicht biete, nun ein »charakteristischer Tierlaut hörbar« werde, der, im Kontrast zu dem vorhergehenden Abschnitt, in einem bewußt einfachen Satzbau und Rhythmus präsentiert werde. H. Esselborn geht nun die »symbolischen Funktionen« durch, die dem Kuckuck zugeschrieben werden und die »hier« gleichfalls in Anspruch genommen werden: der Kuckuck als Frühlings- und Liebesbote; als »Zerrbild des preußischen Adlers« und somit als »Anspielung auf das nichtsnutzige Leben der Offiziere«; als »Zaubervogel«: »Denn der Ruf erfolgt hier in einem fast mystisch zu nennenden Augenblick, wenn die optische Wahrnehmung durch das Ineinanderfließen von Wirklichkeit und Spiegelbild einen auffälligen Höhepunkt aufweist und die zufälligen Ereignisse in ihrer Simultaneität durch die Intensität des Eindrucks des meditativ-empfänglichen Ich einen übergreifenden Sinn bekommen« (87). Non multa, sed multum: Der arme Kuckuck, im Volksglauben wohl mehr verachtet als geliebt, aber durchaus als magischer Vogel durch seinen eher eintönigen und doch betörenden Ruf zur Kenntnis genommen, gerät hier, durch den Interpreten, vielleicht doch in eine überdimensionierte Rolle. Was der Text unbestreitbar aussagt, wird übergangen. »Ein Kukuk« – neue Zeile – »ruft«. Der Einsatz des Rufs, in phonetischer Umschrift: ›kukuk‹, steht in einer Zeile, man hört also den Kuckuck, und danach, durch eine Pause abgesetzt, folgt erst das Prädikat »ruft«, das die Kette des Rufes andeutet. Nicht umsonst schreibt Arno Holz den Kuckuck so, wie er sich lautlich präsentiert: ›kukuk‹, während der Orthographie-Duden von 1880 wie auch der von 1903 ihn in der heutigen Schreibung führen. Fast könnte man meinen, der Interpret folge dem Dichter, der die zwei magischen Zeilen z.B. in der Fassung des Phantasus von 1916, der sog. ›großen Inselausgabe‹, folgendermaßen aufschwellt (47):

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ein ganz wahrhaftiger, wahrer und wirklicher Kuckuck, irgendwo, ruft.

Schon die Duden-Schreibung mindert den vollen Laut des Kuckuckrufs; ein anderer Dichter wußte um den wirklichen Ruf des Kuckucks. Rainer Maria Rilke (1950, 31) beginnt sein Kuckucksgedicht so: O erster Ruf wagrecht ins Jahr hinein –, die Vogel-Stimmen stehn. Du aber treibst schon in die Zeit dein Schrein, o Kukuk, ins Vergehn –

Vielleicht ist das eine zureichende Interpretation der zwei Kuckuckszeilen von Arno Holz: Der Offizier, hoch zu Roß, im Spiegelbild ins Wasser gezogen, ist dem »Vergehn« preisgegeben ... Und gilt das nur dem Offizier, nicht auch dem »Ich« der Gedichte? Wieviel mal »ruft« er? Der »Reiterszene« im Phantasus von 1898 folgt anschließend eine weitere Berliner Szene:

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Die Phantasus-Gedichte sind, wie schon dargelegt, in Abschnitte nach dem Sinn gegliedert; sie stellen, insgesamt, eine »Zeilenkomposition« (C. Heselhaus 1962, 167) dar. Die Zeilen selbst wiederum sind, dem natürlichen Sprechton folgend, rhythmisch gegliedert. Die Szene wird »lautlich« und durch Bewegung eröffnet: Wie in einer Filmszene »schwenkt« eine »Truppe« – eine Gruppe von Mädchen – in die Siegesallee. Die militärische Assoziation wird verstärkt durch den Namen der Straße (»Siegesallee«), in die »ein Mädchenpensionat«, hier metonymisch für die ›Mädchentruppe‹, einschwenkt. Der Rhythmus der ersten zwei Zeilen ist jeweils zweigeteilt: Láchend (kurze Pause) in die Síegesallée / schwénkt (kurze Pause) ein Mä´dchenpénsionát. Mit lautem Auftakt eröffnet das Gedicht (láchend), um dann in einen Schritt-Rhythmus zu verfallen; diese Bewegung wiederholt sich in der zweiten Zeile: der Schwenk (schwenkt) als Auftakt der zweiten Zeile steht dem raumgreifenden Rest (ein Mädchenpensionat) gegenüber. Die Gliederung der Zeilen resultiert aus der Besonderheit der Satzglieder, die einer inversiven Struktur folgen: Adverbialen der Art und Weise (lachend) und des Ortes (in die Siegesallee) folgen in der zweiten Zeile Prädikat (schwenkt) und Subjekt (ein Mädchenpensionat): Die Endstellung des Subjekts zeugt eine Spannung, die einem »Erzählgedicht« angemessen ist. Auf diese Szene reagiert ein Akteur der »Erzählung« als Beobachter mit einem Ausruf – das Ausrufezeichen ist untrüglicher Indikator – , der umgangssprachlich akzentuiert ist (Donnerwetter) und zugleich Berlinisches (chic, auch schick: W. Kiaulehn 1965, 160) einführt. Um die Bewertung des entzückten Ausrufs zu bestätigen, schwenkt die Kamera wiederum auf die Mädchentruppe, deren Changeantschirme (deren Farben ›schillern‹), Handschuhe und Velvetblousen (Velvet ›Samt‹) mit einer Batterie ausgesuchter Attribute, auch solcher, die nominal erweitert sind (von roten Tulpen durchflammte), belegt werden. Auffallend daktylische Versformen (eine nach Holz unerlaubte Charakterisierung) wie wíppende, schíllernde, schwédische, báuschende sind es, die den leichtfüßigen Schritt der Truppe nachahmen. Und dann kommen die preußischen Leutnants ins Bild, die aus Verlegenheit und vor Bewunderung ihre Schnurrbärte drehen. Das in einer Zeile stehende Monocles (Monokel ›Einglas, das durch die Muskulatur der Augenlider gehalten wird‹) ist eine metonymische Bezeichnung für die Offiziere; dadurch werden sie als Gaffende herausgestellt. In der nächsten Zeile, einem Subjekt-Prädikat-Satz mit reflexivem Verb, wird das kollektive Amusement in Szene gesetzt (Kavalkade ›prächtiger Aufzug zu Pferde, Reiterzug‹). Die drei den Offizieren gewidmeten Zeilenabschnitte sind in 59

ihrer syntaktischen Struktur systematisch variiert: Dem Subjekt-PrädikatObjekt-Satz folgt eine eingliedrige Nominalphrase, die wiederum durch einen Subjekt-Prädikat-Satz aufgefangen wird. Auffällig ist die Stabilität der syntaktischen Strukturen, die sich auf die Offiziere beziehen, gegenüber der u.a. durch die Partizipien dynamisierten Syntax, bezogen auf das »Mädchenpensionat«. Anschließend kommt wieder, im leichtfüßigen Schritt-Rhythmus, mit Daktylen unterfüttert, das Objekt der erotischen Begierde in den Blick: Dieser geht nach unten (von Schirmen, Handschuhen und Blousen zuvor) und bleibt an den Strandschuhen hängen (sind die Mädchen auf dem Weg zum Wannsee oder kommen sie dorther?), um sich dann wieder nach oben zu ziehen und die Bettelarmbänder in den Blick zu nehmen (bettel- ist ein Bestimmungswort zur Bezeichnung von Wertlosem). Zugleich wird die Stärke der »Kompagnie« verraten: Fünfzig Schuhe machen 25 Pensionats-Mädchen. Eine solche Truppe kommt nicht ohne »Führer« aus: Vier Kurzzeilen sind ihm gewidmet. Weshalb weiß man sofort, daß es eine Lehrerin oder Erzieherin ist? Historisches Wissen verortet den Drachen in übertragener Bedeutung als weibliche Person. Mit links, auf einer Zeile stehend, wird der Zeilenabschnitt eröffnet und erinnert an das »links, zwo drei vier« der Führer marschierender Truppen. Die Erzieherin, der nur das Scheltwort Drache zukommt, wird als Marschierende: links, / hinter ihnen drein dargestellt u n d als jemand, der den bösen Blick hat (die Blicke kohlschwarz). Und dann das Wehe! der Einzelzeile als Ausruf und Warnung des Drachen. Die Fortführung des Wehe! (mir tanzt jemand aus der Reihe!) hört man nahezu zwangsläufig aus der Drohung heraus. Mit dem zehnten Zeilenabschnitt beginnt die Dekonstruktion der geordneten weiblichen Wandertruppe – zumindest im überbordenden Bewußtsein des erzählenden Ich. Einen »erotischen Tagtraum« hat das H. Esselborn (1985, 86) genannt. Eine meditative Zeile, erotisch unterfüttert: Wie die Sonne durch die Bäume goldne Kringel wirft ... , mit drei vielsagenden Punkten, eröffnet das Finale. Es folgt ein weiterer Ausruf mit entsprechendem Interpunktionszeichen: Ach was!, der, als Rede des sprechenden Ich, alle Bedenken über Bord wirft. Und im nächsten vierzeiligen Abschnitt greift der Erzähler zur Ich-Rede, also einer Form des inneren Monologs im Tagtraum. Indem das »Ich« eingreift – Holz greift ausdrücklich zu einem umgangssprachlichen berlinischen Ausdruck: Und ich kriege (›bekomme‹, ›nehme‹) die Schönste [...] um die Taille –, wird die vorgegebene Marschordnung zerstört; und Huuch! die alte Anstandsglucke, immerhin die »führende« Gestalt, fällt in Ohnmacht; und [ich] rufe : Der Ruf erklingt in 60

der letzten Zeile und ist eine Aufforderung an die Mädchen, eine neue Ordnung herzustellen: entgürtet euch und tanzt nackt zwischen Schwertern! Daß die Mädchen sich entgürten sollen, heißt, die Schuluniformen abzulegen, sich dergestalt freizumachen. Assoziationen an den mittelalterlichen Keuschheitsgürtel sind wohl gewollt. Der daran anschließende Tanz ist ein Schwertertanz besonderer Art: Nicht ein K a m p f mit Schwertern (im Bilde des Tanzes), sondern ein T a n z nackt zwischen Schwertern : die erotische, ja sexuelle Konnotation ist beabsichtigt und schafft die Provokation, die das Gedicht darstellt. Zwei Welten werden in dem Gedicht zusammengeführt: die eines Mädchenpensionats, das, geleitet von einer Lehrerin (»Drache«), in Reih und Glied marschiert (»schwenkt ein Mädchenpensionat«), u n d die Welt preußischer Offiziere. Die »Szene« überrascht den Leser insofern, als die »Mädchen« marschieren, das aktive Moment bilden, während die Offiziere (»Leutnants«, »Monocles«) wie auch die Kalvakade (›Reiterzug‹) aufnehmen, betrachten (»drehn ihre Schnurrbärte«, »amüsiert sich«). Zwischen diesen beiden Welten vermittelt das »erzählende« Ich nur scheinbar – steht es doch eher auf der Seite der »Leutnants« und »greift ein« (»Und ich kriege ...«) und ruft dann auf zum Schwertertanz ... Das Gedicht ist in 13 Zeilenabschnitte geordnet. Neun Abschnitte verweisen auf Pensionat und Soldaten und die Stellungnahme und Reaktion von erzählendem Ich und Offizieren. Mit dem zehnten Abschnitt (»Wie die Sonne durch die Bäume goldne Kringel wirft ...«) setzt der Tagtraum ein (nachträglich durch drei (Reflexions)punkte gezeichnet), der das Bild des marschierenden Mädchenpensionats auflöst. Das Ich faßt »die Schönste« »um die Taille« und richtet an die »Mädchen« seinen provozierenden Appell. Die Fassung des »Phantasus« von 1916 bestätigt die vorliegende Einschätzung. Hier fügt Arno Holz nach der Zeile »Ach, was!« (so die Zeichensetzung 1916, 48) eine neue Zeile: »Phantasus!« ein, die er im Text in Anführungszeichen setzt. Das soll die naiven Leser daran erinnern, daß die folgenden Zeilen »Phantasus«, dem Sohn des Schlafs und Boten der Nacht gewidmet sind, der auch am Tage träumt und seine »Phantasien« ins lyrische Bild setzt. Das »Thiergarten«- und das »Siegesallee«-Gedicht zeigen in nuce von Arno Holz im »Phantasus« propagierte literatursprachliche Kunstmittel auf: Die Vermeidung von Reim (den er z.B. in der »Blechschmiede« 1921 überreich einsetzt) und geregeltem Versmaß. Statt dessen Setzung der einem sog. »natürlichen Rhythmus« folgenden »Zeilen« auf eine »Mittelachse«, die schon im barocken Figurengedicht und in französischer Dichtung am Ende des 19. Jahrhunderts präsent ist (H.D. Zimmermann 1994, 98). Her61

vorzuheben sind die die Wortbildung ausbeutenden lexikalischen Reihen (»sich bauschende, silbergraue, von roten Tulpen durchflammte Velvetblousen«) – H. Heißenbüttel spricht in anderem Zusammenhang von »vokabulärer Verwandlungskunst« (1994, 74), H. Kiesel von »evokativen Wortkaskaden« (2004, 147) – , »W o r t kunst« erhält einen Beigeschmack von Wahrheit. Bemerkenswert auch Neologismen (»pfropfenzieherartig«) und umgangssprachliche Mittel (»Donnerwetter«, »huuch!« als Interjektion, »Anstandsglucke«, »kriegen«), die den lyrischen Wortschatz augenscheinlich erweitern. Verstörend, schön und problematisch zugleich die Zusammenfassung der rhythmisierten Zeilen zu Zeilenabschnitten. Überzeugend: Die Einzelzeilen, auf denen ein Wort (»Monocles«) oder ein Ausruf (»Wehe!«; »Ach was !«) zu stehen kommt, sie geben diesen besonderes Gewicht. Aber auch im Verbund mit der nächsten Zeile können Wörter allein auf einer Zeile erscheinen: »Links / hinter ihnen drein, ...« Hat dieses Wort (auf einer Zeile), also »links«, dann dasselbe Gewicht wie die »reflexiven« Zeilen »Wehe!« und »Ach was!«? Ein Ausrufe- und ein Fragezeichen scheinen mir ein gemäßer Abschied von Holz’ »Wortkunst« zu sein.

62

6.

»literatur sprache«: Stefan George

»In der kunst glauben wir an eine glänzende wiedergeburt.« Blaetter fuer die Kunst 1892

Amhara alai tunis enis alsa – so lautet (sic) der Satz, der als einziger aus dem »Kalifentum von Amhara« überliefert ist – oder überliefert scheint (R. Boehringer 1967, 17; M. Durzak 1968, 32). Amhara, einen »Ortsnamen«, darf man als Subjekt des Satzes einschätzen, und der Rest ist wohl ein (erweitertes) Prädikat, das eine Aussage, vielleicht über die Lage oder (Wunsch)wirklichkeit des Kalifentums macht: (Der Kalif) George schafft, auch mit Hilfe einer Kunstsprache, eine eigene kindliche Welt, die nur den Imri, den Freunden und Vertrauten bekannt ist (E. Morwitz 1969, 290); diese »kindliche Sprache« (a.a.O.) ist die erste, dem 8- bis 9jährigen zugeschriebene Stufe einer Eigen-Sprache. Sie findet ihre Widerspiegelung in der letzten Strophe der »Urspruenge« (In: »Der Siebente Ring« 1907, 129, letzte Strophe Vers 1 bis 4): Doch an dem flusse im schilfpalaste Trieb uns der wollust erhabenster schwall: In einem sange den keiner erfasste Waren wir heischer und herrscher vom All.

Man hat diesen »schilfpalast« – eine Schilfhütte am Fluß – »am stilleren Ufer der Nahe, nicht fern von der Mündung dieses Flusses in den Rhein« (E. Morwitz 1969, 290) lokalisiert. Wasser- und Luftmassen schwellen an, bilden einen Schwall, hier ist es ein erhabenes, also von Grenzen nicht eingefangenes Anschwellen von wollust, eines, in alter Bedeutung, inneren Glücksgefühls, das sich im sange – für niemanden, der außerhalb steht, verständlich – entlädt. So früh, im Nachblick von 1907, schon eine Formel für die Zukunft? Im sange des inneren Zirkels (keiner schließt die Menge aus) stiften sie sich eine eigene Welt (All, bei George in seltener Großschreibung, verweist auf den unbedingten Anspruch). Auch in seinem Gedicht: »Des sehers wort ist wenigen gemeinsam« (In: »Das Jahr der Seele«, 1897) leuchten die Tage im Schilfpalast nach: 63

Des sehers wort ist wenigen gemeinsam: Schon als die ersten kühnen wünsche kamen In einem seltnen reiche ernst und einsam Erfand er für die dinge eigne namen –

»Eigne namen« – es ist keine Geheimsprache, die, nach einem Code verschlüsselt (z.B. werden Buchstaben nach bestimmten Regeln versetzt), dazu dient, vertraulich, eben »geheim« zu kommunizieren; es ist vielmehr eine künstliche Eigensprache (»wenigen gemeinsam«), deren Grammatik und Lexik (bis auf einen Satz) nicht überliefert und insofern unbekannt ist. Sie entwirft eine eigene Welt der »dinge« – kraft eigener Benennung und Ausdrucksstärke. »Er habe ganz früh – acht-, neunjährig – Gefühl für die Süssigkeit der Sprache, ihr Körperhaftes bekommen«, erzählt George im Gespräch (K. Breysig 1960, 13). Sprache war sehr früh im Fokus. Im Anfang war der eigne Name. (Merke: eigen als Adjektiv leitet sich von germ. eigan ›besitzen‹ her.) Die eignen »namen« wurden verwandelt in einem zweiten Anlauf. In die Zeit, in der George die Binger Realschule besuchte (1880/81) und bei Geistlichen u.a. Griechisch und Hebräisch lernte (M. Durzak 1968, 33), also in die Lebenszeit des 12- bis 13jährigen, fällt der Anfang des Entwurfs einer v.a. griechisch inspirierten neuen Eigensprache. Die letzten vier Verse der letzten Strophe von »Urspruenge« sprechen hiervon und geben in den beiden letzten Versen ein Exempel: Süss und befeuernd wie ATTIKAS choros Über die hügeln und inseln klang: CO BESOSO PASOJE PTOROS ~ CO ES ON HAMA PASOJE BOAN.

Entzifferungsversuche dieser beiden Zeilen sind (wie auch solche des ImriSatzes) gescheitert. Grammatische Endungen wie auch lexikalische Stämme sind griechisch inspiriert, wie schon ATTIKAS choros andeutet: Der attische Chor markiert den Ursprung altgriechischer Lyrik und wird hier – pompös – dem jugendlichen Gesang in der Eigensprache verglichen. George soll in dieser Sprache den ersten Gesang der Odyssee übersetzt und in einem Oktavheft bei sich geführt haben, das nach seinem Tode vernichtet wurde (R. Boehringer 1967, 17). »Ob man nach den Worten am Schluss der Ursprünge fragen dürfe?« – so E. Landmann (1963, 77) zu George im Jahr 1919. Die Antwort a.a.O.: »Ja, nein, [...] da haben sich schon manche den Kopf zerbrochen. Seltsames Urerlebnis einer Sprache, diese Idealsprache, die völlig ausgebildet war mit Grammatik und allem, und das von einem Kinde ohne philologische Anregung. Gott weiss, aus welchen Reminiszenzen das herkommt.« 64

George literarisiert seine zweite Eigensprache, nähert sie dem Griechischen an und spricht, im Präteritum, von einer ausgebildeten »Grammatik« und, undeutlich, von »allem« (was dazugehört). Das ist sicher zu bezweifeln; auch die zweite Eigensprache ist ein Fragment, das Georges Sprachphantasie in ausgrenzender Absicht anzeigt. Die Wirklichkeit, seine Wirklichkeit, wird über die zur Verfügung stehenden Sprachen nur unzulänglich eingeholt. Da hilft (oder soll helfen) ein fremdsprachlich unterfütterter Entwurf, der »süss und befeuernd« w i e ATTIKAS choros klingt und die Dinge zu eigen macht. Ein Mitschüler des Darmstädter Gymnasiums, der zur »Gemeinschaft« um den »sprachkundigen George« gehörte, verweist darauf, »daß damals eine künstliche Sprache nach der andern aus den Gehirnen schoß: Volapük, Ido, Esperanto. Und George war auch hier Selfmademan« (C. Rouge 1930, 21). Das Graecopük (meine Benennung, inspiriert von Rouge) Georges reicht also bis in die Gymnasiastenzeit zurück: »In seinem Nachlaß findet sich ein blauer Schulheftdeckel mit der Aufschrift ›Odyssaias I‹« (U. Oelmann 1986, 220). Wenn G. Kaiser (1996, 238f.) Georges zweite Eigensprache von den zeitgenössischen »Kunstsprachen« als »Medien zur Kommunikations-Universalierung«, eben von Esperanto und Volapük, ausdrücklich absetzt, so ist ihm hierin zuzustimmen. Wenn er jedoch überdies die zwei Zeilen im Kontext des Gedichts »Urspruenge« deutet als »reine Ausdruckssprache, die jeden Informationscharakter verloren hat. Sie ist als ›sprachlose‹ Sprache gleichzeitig reine Sprachstruktur«, so ist ihm zu widersprechen. Das – so nicht zureichend benannte – ›Graecopük‹ dieser Zeilen v e r w e i s t eben auf die Eigensprache, ist also nicht »reine Sprachstruktur«. Diese Verweisung fordert auch der Titel ›Urspruenge‹ ein. Der Leser unterstellt zudem, daß die Zeilen eine Bedeutung haben, die von ihm nicht aufgelöst werden kann, aber Anlaß zur Spekulation bietet. Die rhetorische Figur der Anapher (Co .. Co), die die Zeilen bindet, wie auch die metrische Struktur (u.a. daktylisch inspiriert) und der Kreuzreim, in dem die Zeilen stehen, demonstrieren ›Verssprachliches‹, das zur Auflösung drängt. So vermutet z.B. P.G. Klussmann (1961, 135), PTOROS leite sich von griech. IJó ɥIJİȡóȞ ›der Flügel‹ her, während für M. Durzak (1968, 33) hinter PTOROS sich griech. potamós ›Fluß‹ verbirgt, der auch in den vorhergehenden Versen im Bild erscheine. Klussmann a.a.O. nimmt für HAMA griech. ȐȝĮ ›zugleich, gleichmäßig‹ in Anspruch, und für BOAÑ griech. ȕȠãȞ ›rufen, laut preisen‹ (hierfür vermutet Durzak spanische Herkunft). Die lebensgeschichtlichen Beglaubigungen der Eigensprache (der Titel des Gedichts lautet: »Urspruenge«) semantisieren die beiden letzten Verse und setzen sie der spekulativen Interpretation aus. P.G. Klussmann (1961, 38) 65

gibt auch dem »sprachleib« (F. Gundolf nach G. Mattenklott 1985, 243) eine Ordnung. Er zeichnet die Vokalstruktur der beiden Verse nach und kommt zu folgendem Bild: O–E–O–O–A–O–E–O–O O–E–O– A– A–A–O–E– O–A Die Ordnung der ersten Reihe, mit zwei symmetrischen Flügeln, geteilt durch A, wird in der zweiten Reihe systematisch variiert dergestalt, daß sie (bis auf das letzte A) spiegelbildlich arrangiert ist. Auch das darf festgehalten werden: George setzt auf eine Vokalsprache, die der deutschen Konsonantensprache entgegensteht. Die hohe Klangqualität des Altgriechischen und romanischer Sprachen mag der Antrieb gewesen sein. »Alles« barg ein »Oktavheft«. Nach dem Abitur (1888) begann George ein »Wanderleben« (so liest man es häufig), das ihn in die Wirklichkeit der modernen Sprachen führte: nach England, in die französische Schweiz, nach Italien, Frankreich und Spanien. Bedeutsam der Aufenthalt im Sommer 1889 in Paris, wo er Zutritt zu dem Kreis um Stéphane Mallarmé erhielt: »Weihevolle Stunden genoß er an den Empfangsabenden bei dem Haupt der Symbolisten, bei Stéphane Mallarmé und bei Paul Verlaine« (C.A. Klein 1935, 10). In einer späteren (1903) Würdigung Mallarmés, den George »meister« nennt, »weil du am wenigsten nachgeahmt werden kannst und doch so grosses über sie [genossen und jünger] vermochtest« (»Tage und Thaten« 1925, 55), schreibt er auch: »Jeden wahren künstler hat einmal die sehnsucht befallen in einer sprache sich auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre bestimmung erkenne« (a.a.O., 53). Noch hat George s e i n e Sprache nicht gefunden. Im Wintersemester 1889 nimmt er in Berlin ein Philologie-Studium auf, das ihn in romanistische, germanistische und kunstgeschichtliche Vorlesungen führt. Es wird nur drei Semester währen. In diese Zeit fällt das Konzept einer, wie George sie nennt, »lingua romana«. An seinen Freund Arthur Stahl schreibt er im Januar 1890: »Der gedanke, der mich von jugend auf geplagt und heimgesucht hat, der in gewissen perioden sich wieder und wieder aufdrängte hat mich seit kurzem wieder erpackt: Ich meine der gedanke aus klarem romanischem material eine eben so klingende wie leicht verständliche literatur sprache für meinen eigenen bedarf selbst zu verfassen« (R. Boehringer 1967, 38). Und eine Probe dieser Sprache präsentiert George gleich in der Brieferöffnung: »Amico de meo cor!« ›Freund meines Herzens!‹ Die lingua romana wird nun, anders als ihre Vorgängerinnen, literarisch wirklich aktiviert: »Die Zeichnungen in Grau sowie die erste der Legenden waren 66

zuerst verfasst in einer eigenen dem spanischen angeähnelten lingua romana«, schreibt George im Anhang seiner »Fibel«, des ersten Bandes der »Gesamt-Ausgabe der Werke« (»Die Fibel. Auswahl erster Verse«. Berlin 1927, 129). Und er fügt hinzu: »Diese [die lingua romana] steht jedoch in keinem zusammenhang mit den erdachten sprachen der kindheit-stufe (wie die schlussverse der Ursprünge im Siebenten Ring).« »Zeichnungen in Grau« und »Legenden« sind 1889 entstandene Gedichtzyklen, die in deutscher Fassung in die »Fibel«, eine Auswahl seiner frühen Gedichte von 1886–87, wieder aufgenommen sind. (»Die Fibel. Auswahl erster Verse« erscheint zuerst 1901.) Daß George in der »Fibel« von 1901 keinerlei literarische Dokumente seiner »lingua romana« abgedruckt und erst 1927 im ersten Band der Gesamt-Ausgabe zwei handschriftliche Proben von 1889 präsentiert (»Rosa galba«, ein Gedicht von 12 Versen; fünf Zeilen (»Schluss«) der »romanischen Fassung von Legende 1«), dokumentiert eindringlich, daß die lingua romana ihn nicht weitergeführt hat; vielmehr ein weiteres Sprachexperiment war, das neue Kräfte gerade nicht freisetzte. Zu sich selbst, zu einer eigenen Sprache, führten ihn Übersetzungen, im besonderen die aus dem Französischen: 1891 erscheint in Berlin »Charles Baudelaire’s Blumen des Bösen, umgedichtet von Stefan George«. An der Übertragung bzw. »Umdichtung« der Literatur der europäischen Moderne arbeitet George spätestens seit 1889 (und er wird sie durch das ganze letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus fortsetzen). Diese Arbeit führt ihn in die eigene »literatur sprache« (s.o.S. 66), gibt ihm eine eigene Handschrift. Die Umdichtung von »Les fleurs du mal« (1861) sei die »poetische Folie« seiner frühen Dichtungen, schreibt H. Arbogast (1967, 56); »der ursprünglichen reinen freude am formen« verdanke die Umdichtung ihre Entstehung, sie sei »als ein deutsches denkmal geschaffen«, schreibt George in der Vorrede zur »Umdichtung« der »Blumen des Bösen« (1. [öffentliche] Aufl. 1901). Das soll wohl heißen: Hier erprobt einer seinen Stilwillen, den er der d e u t s c h e n »literatur sprache« zueignet. Ich greife als Beispiel für Georges »freude am formen« Baudelaires berühmtes Gedicht »Correspondances« heraus, das George mit dem Titel »Einklänge« in die 40 Umdichtungen von 1891 aufnimmt. Zunächst der französische Text von Baudelaire, dann Georges Umdichtung »in fadendünner, schulmässig regelmässiger Schrift« seines Freundes C.A. Klein, vervielfältigt in »25 stücken« (G.P. Landmann 2004, 165):

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Eine Übersetzung, die nah am Text bleibt, könnte folgendermaßen lauten (sie soll die Grundlage bilden für die Darstellung der Eigenart des GeorgeTextes): Entsprechungen Die Natur ist ein Tempel, in dem lebendige Säulen Manchmal konfuse Worte hervorkommen lassen; Der Mensch geht dort durch Wälder von Symbolen Die ihn beobachten mit vertrauten Blicken. Wie lange Echos, die von weit her sich vermischen In einer düsteren und tiefen Einheit, Gewaltig wie die Nacht und wie die Helligkeit, So antworten sich die Düfte, Farben und Töne. Es gibt Düfte frisch wie Kinderhaut, Süß wie die Hoboen, grün wie die Wiesen, – und andere [Düfte], verdorben, reich und triumphierend, welche die Ausdehnung unendlicher Dinge besitzen, wie Ambra, Moschus, Benzoë und Weihrauch welche die Bewegungen des Geistes und der Sinne besingen.

Dieses Gedicht, das man als »Programm-Gedicht« (H. Arbogast 1967, 63) des Symbolismus aufgefaßt hat, ist im Französischen in unregelmäßigem Jambus geschrieben, zuweilen sind Anapäste eingestreut, und wird von George in einem (unsicheren) fünfhebigen Jambus präsentiert. Die vorliegende ›Rohübersetzung‹ vernachlässigt metrische Form und Reimstruktur. Sie dient nur dem Verständnis des Inhalts. ›Programmgedicht‹ meint, daß Entsprechungen, »Korrespondenzen« (so der Titel) die Grenzen üblicher Wahrnehmungen aufheben und neue und kühne Zusammenhänge herstellen: So werden Düfte gefühlt, gehört, gesehen; sie sind »frisch«, »süß« und »grün« usw. Es öffnet sich ein ungeheures (sic) Beziehungsgefüge, das aus einer synästhetischen Schau resultiert, die den Blick des Dichters bestimmt. »Correspondances« hat eine übersichtliche syntaktische Struktur mit zwei Satzgefügen in der Form von Hauptsätzen, die durch Relativsätze erweitert werden: erste Strophe; mit einem nachgestellten Hauptsatz der zweiten Strophe (achte Zeile), der mit einem – durch einen Relativsatz erweiterten – Vergleich eingeleitet wird; mit einem durch Vergleichsattribute erweiterten Hauptsatz (dritte Strophe), der in der vierten Strophe durch einen Relativsatz weiter spezifiziert, durch Vergleiche erweitert und einen Relativsatz abgeschlossen wird. Das Gedicht präsentiert ein Ensemble von 70

Satzgefügen (Haupt- und Relativsätzen), Vergleichs- und Partizipialkonstruktionen, die variativ durch das Gedicht gleiten. Vor allem die beiden Quartette verändert George in ihrer syntaktischen Struktur. Die übersichtliche Anlage des ersten Quartetts mit zwei Hauptsätzen und jeweils zugeordnetem Relativsatz wird aufgelöst. Die ersten beiden Verse werden zu einem Hauptsatz gebündelt: Der Relativsatz wird zum Hauptsatz, und der ursprüngliche Hauptsatz wird zum Adverbiale »aus belebten tempelbaun«, das attributiv erweitert ist (»der natur«). Diese Zusammenziehung führt zu einem kompakten Nominalstil, der durch den vorangestellten Genitiv (»der natur«) und den ungewöhnlichen Plural (Baue im Dativ, synkopiert: »tempelbaun« statt: -bauten) einerseits verrätselt und andererseits, im zweiten Vers, durch alliterative Häufung überladen wirkt. Diese Bewegung setzt sich, variiert, in der zweiten Strophe fort: Der Relativsatz wird adverbial und in einem Verbprädikat aufgelöst, und damit verselbständigt sich der partizipial erweiterte Vergleichssatz (der über drei Verse läuft). Die Vergleichsformulierungen und der Hauptsatz des vierten Verses stehen, syntaktisch, weit auseinander, zudem der Hauptsatz auf den ersten und zweiten Blick eine erratische Struktur hat: Die vier nebeneinander gestellten, also asyndetisch und ohne Lesezeichen präsentierten Substantive scheinen eine Subjektreihe zu bilden mit »tauschen« als Prädikat; hingegen setzt George auf das Prädikat »rede tauschen«. Dem ungewöhnlichen Plural des ersten Verses und zwei weiteren Pluralformen folgt ein gleichfalls ungewöhnliches (weil ad hoc zusammengestelltes) zweigliedriges Prädikat: »Parfüme farben töne [ – ] rede tauschen.« Das alles sind eigenwillige Formen der Übertragung, die anzeigen, daß hier ein »Umdichter« in der Aufnahme des Fremden seinen eigenen Stil sucht: Komprimiert, nominal, widerspenstig, ein Stil, der sich möglichst weit vom Liedton entfernt. George zwängt die variative metrische Struktur in z.T. holpernde fünffüßige Jamben; Verkürzung in lexikalischer und syntaktischer Hinsicht ist also angezeigt. Und da ich auf die Terzette im einzelnen nicht eingehe, sei vermerkt, daß Vers 2 des zweiten Terzetts eine Formulierung (»geweihter qualm«) enthält, die womöglich Ausdruck eines heiligen Unernstes, eher Parodie als Übertragung ist. »Einklänge« ist nur ein Beispiel. H. Arbogast (1967, 63ff.) hat die vorliegende Übersetzung wie auch weitere Beispiele untersucht, die Georges stilistische Manier anzeigen. Er spricht u.a. von »Ballung« und »Härte« (a.a.O., 63), von »Gedrungenheit« und »harte(r) Fügung des Georgischen Verses« (a.a.O., 74). Übung macht den Meister. Die »Zeichnungen in Grau« (es sind acht Gedichte) gehören zu den Gedichten seiner »Fibel«, die, nicht vor Oktober 1889 (U. Oelmann 2003, 101), 71

wie oben vermerkt, zunächst in der »lingua romana« verfaßt sind und dann in eine deutsche Fassung gebracht wurden. Hier kann man sicher nicht von Übertragung, schon gar nicht von Übersetzung sprechen; vielmehr werden die Gedichte rücküberführt, der Kampf g e g e n die deutsche »literatur sprache« wird eingestellt oder besser: er wird in einen Kampf m i t deutscher »literatur sprache« überführt. George spricht in der »Vorrede« seiner »Fibel« rückblickend von »zarten erstlingen« und fährt fort: »wir sehen in ihnen die ungestalten puppen aus denen später die falter leuchtender gesänge fliegen und lassen uns gern durch sie erinnern an die zeit unsrer reinsten begeisterung und unsrer vollen blüh-willigkeit« (George 1901, Vorrede). Die späteren Gedichte als »falter leuchtender gesänge«, die sich aus »ungestalten puppen« entwickeln – vielleicht lohnt es doch, eine »ungestalte puppe« herauszugreifen und, exemplarisch, einen Blick auf sie zu werfen.

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Darf man den Titel dieses Gedichts ›profan‹, ja ›trivial‹ nennen? Wie lauten etwa die Überschriften der Gedichte, gegen die Georges Gedichte stehen? »Sonntagmorgen im Walde«, »Ostseelieder«, »Ode«, »In das Mozartalbum« – so etwa Überschriften aus den »Spätherbstblättern« von Emanuel Geibel von 1877. Dieser Titel Georges ist also programmatisch, und er hat es in sich – bei näherem Hinsehen. Wechsel ist zunächst eine ›Vorgangsbezeichnung‹, die zum Beispiel für den Wohnungs-, den Brief-, den Wortwechsel usw. steht; dann ist Wechsel aber auch eine ›Verpflichtung zu einer Zahlung‹ (für italenisch cambio) und schließlich auch eine ›Urkunde über eine Wechselzahlung‹ (vgl. Paul 2002, 1149). Vielleicht fangen alle Aspekte der Bedeutung von Wechsel den ihm folgenden Gedichttext ein. Bedeutung von Worten in lyrischen Texten ist eine Tiefenstruktur, die erkundet sein will. Das Gedicht setzt einen lexikalischen Rahmen, innerhalb dessen ein grammatisches Feld lagert. Das Gedicht ist zugleich ein Skript, dessen Akteure Rollen besetzen und dessen Vorgänge als Szenen zu deuten sind. Das grammatische Feld wird durch 22 Personal- und Possessivpronomina (als Vorkommen) besetzt: Vers 1: ich, sie, sie; 2: es, ihr; 3: ihre; 4: mein, sie; 5: mir, ihre; 6: ihre; 7: es, ihr; 8: ihre, ihre; 9: ich, sie; 10: mir, ihre; 11: ihr; 12: ihr; 13: mir; 14: ich. Die »pronominalisierte« Struktur verleiht dem Text einen Hauch von Spröde; zugleich aber auch Erratik. Zum Beispiel: Das doppelte »sie« von Zeile 1 ist eine Sie im Akkusativ und Nominativ (in dieser Reihenfolge); aber »sie« in Zeile 9 steht für eine »Hand« – oder doch für »Sie«, die »ich drückte«? Das erste (Zeile 1) und letzte (Zeile 14) Pronomen ist »ich«. Das lyrische Ich setzt sich entschieden in Front. Das häufigste Pronomen ist das Possessivpronomen »ihre« (6 mal): Damit wird die Ich-Sie-Opposition, die dann eine Beziehung wird, in Szene gesetzt. Pronominal-Grammatik im Gedicht. Den semantischen Rahmen möchte ich unter zwei zusammenhängende Überschriften stellen: 1a. Prüfende Annäherung an eine »Sie« durch ein »ich«; 1b. Eigenschaften dieses zu prüfenden Wesens. Zu 1a: Die Annäherung, die schließlich in Anbetung mündet, führt über Verbprädikate, die dann jeweils durch syntaktische Mitspieler wie Adverbiale, Objekte, Subjekte und Mitspieler der Mitspieler (Attribute) sowie durch Negation näher bestimmt sind: sehen · gefallen · sein · berühren · gefallen · sein · drücken · gefallen · sein · gefallen · anbeten: so die Verben in der Reihenfolge ihres Auftretens. Die viermalige Anführung von »gefallen« belegt eindringlich, daß der Verfasser sich der (üblichen) stilistischen Variation enthält, vielmehr auf nachdrückliche Wiederholung setzt. Man kann zwei Sorten von Verbprädikaten unterscheiden: solche Verben, die 73

emotional unterlegte Urteile zum Inhalt haben: gefallen · anbeten; und solche, die die Handlung des Prüfens zum Inhalt haben: sehen · berühren · drücken. Eine äußerst wichtige Funktion kommt der Negation der Verben zu (dazu unten). Zu 1b: An der »Sie« des Gedichts ist »nichts schönes als«: »ihre schwarzen, schwarzen haare«; »ihre feine hand«; »ihr mund« – und »nichts«, »was mir nicht sehr gefiele / was ich nicht glühend anbetete.« Innerhalb des grammatischen Feldes und des zweifachen semantischen Rahmens setzt ein lyrisches »Ich« (erstes Wort des Textes) zur Prüfung und anschließenden Bewertung eines weiblichen Gegenübers an. Das Ich setzt sich in die Rolle des Aktiven, die »Sie« bleibt passiv. Das Gedicht ist in den ersten 11 Versen eine Geschichte von Abstand und zarter, ja raffinierter Annäherung. Im Präteritum wird eine kurze Geschichte dieses Abstands und der Annäherung skizziert. Man könnte das auch, übergreifend, ein »Script der Begegnung« nennen. Dann der neue Einsatz im Präsens: »Heute ist ...« – die Wende wird formuliert: glühende Anbetung, heißt es zum Schluß. Ein Liebesgedicht verbirgt sich unter dem spröden Titel »Wechsel«. Könnte man den reimlosen Gedichttext, der auch metrisch ganz unregelmäßig daherkommt, in Prosa umformulieren – ohne Verluste? Damit löschte man die heimliche Sonett-Struktur. Beide Terzette (9–11 und 12–14) sind deutlich abgesetzt. Vor allem das letzte Terzett hebt sich ab: Es formuliert die Wandlung (»heute« im Präsens) von einem, der Abstand hielt, zu einem, der glühend anbetet. Zugleich zerstörte man das, was ich die Zeilensemantik nennen möchte. In Zeile 2 zieht das lyrische Ich den Schluß aus dem, was Zeile 1 sich als Anblick bot: »Es ist an ihr nichts schönes« – kompromißlos und radikal formuliert, sofern man, üblicherweise, zeilenorientiert liest. Und dann die Einschränkung, grammatisch weich angeschlossen, zwar ein Enjambement, aber doch nicht eines, das sich aufdrängt: »Als ihre schwarzen, schwarzen haare.« Von dieser »Konzessionsstruktur« lebt das Gedicht, variiert wiederholt in Zeile 7 und 8 und besonders raffiniert in Zeile 12 demonstriert: »Heute ist nichts mehr an ihr« – schlimmer kann es eigentlich nicht kommen, wenn nicht die Konzession geradezu konzessionslos ausfiele. In einem prädikativen Nebensatz wird im negierten und irrealen Konjunktiv (»gefiele«) ausgeschlossen, daß dem lyrischen Ich nicht alles sehr gefiele – durch eine raffinierte Konstruktion doppelter Negation: Nichts, was nicht sehr gefiele. Und der Prädikativsatz in Zeile 13 wird durch eine grammatisch parallele Struktur semantisch gesteigert, indem dem inhaltlich blassen, aber durch »sehr« gesteigerten »gefiele« ein »glühend anbetete« folgt. Einzig die formale Identität des irrealen Konjunktivs (»anbetete«) mit dem Präteritum irritiert. Ist das ein Indiz für Wankelmut? 74

»Zeichnungen in Grau« (so der Titel des Zyklus) sind solche »mit Silberstift oder Kreide auf grau getöntem Papier« (E. Morwitz 1962, 95). Das Gedicht, das keine Namen nennt, pronominal besetzt ist, sich selbst Mut macht (durch das in »Hochpunkte« (s.u.) eingeschlossene Satzwort »ja«, Zeile 8), also ein Gedicht auf grauem Untergrund, das in Vers 3 durch »schwarze haare« nicht Farbe, aber Dunkelheit ins Spiel bringt, dieses Gedicht einer anfänglichen Verweigerung verwandelt sich zum Schluß in einen Text, der nicht nur Liebe, sondern – und da wird es farbig – glühende Anbetung enthüllt. Wer wird angebetet? Eine Frau, so sagt es das Gedicht (»sie«). Eine wirkliche, oder nur das Bild einer Frau? Ein Bild kann man nicht mit dem Munde, vielleicht doch »flüchtig«, berühren; aber kann man auch ihre Hand drücken? Vielleicht ist »Sie« auch nur ein Bild für die Lyrik und deren Sprache (beide mit femininem Genus). Verpflichtet sich hier der Autor, ein zukünftiger Dichter, zu einer Zahlung (in Form von Gedichttexten), und ist dieser Text die Urkunde hierfür? Auf jeden Fall erfolgt eine Bewegung, ein »Wechsel« von äußerster Distanz zu nächster Nähe. Der Autor ist im »Heute« angekommen: »Heute ist nichts mehr an ihr / [...] Was ich nicht glühend anbetete.« Von »blühwilligkeit« spricht die Vorrede der »Fibel«. Spröde, verschlossen, versteckt löst der »Wechsel« diesen Neologismus, der nur ein Versprechen ist, ein. Da die »Fibel« 1901 erscheint, sind dem Gedicht »Wechsel« schon die »manchmal erbetenen wiewol oft entbehrlichen lesezeichen« (Stefan George, »Vorrede der zweiten Auflage« zu »Hymnen · Pilgerfahrten · Algabal« von 1899) beigegeben. Damit ist das »Hochkomma« (auch: »Hochpunkt«) gemeint, das George zum ersten Mal, in der Funktion dem Komma vergleichbar, in dieser öffentlichen Ausgabe einsetzt und das wohl dem mittelalterlichen Reimpunkt nachempfunden ist. Satzzeichen strukturieren üblicherweise einen Text, gliedern Sinneinheiten und sind insofern hilfreich für die Aufnahme eines Textes im Vollzug des Lesens und des Vortrags. Doch eigentlich sind es, aus der Sicht Georges, »entbehrliche lesezeichen«, weil sie den Blick vom poetischen Wort lenken, das George in Kleinschreibung (ausgenommen den Versanfang) präsentiert. Im Verzicht auf Satzzeichen folgt George zunächst dem Beispiel Mallarmés (vgl. A. Simonis 2000, 87); seine knappe Aufrüstung in Drucken seit 1890, seit 1899 mit dem Hochkomma, sind Konzessionen, die wohl auch im Zusammenhang der äußeren »Präsenz« seiner poetischen Texte gesehen werden müssen. Seit 1897 entwirft George eine »Stilschrift«, also eine spezielle Handschrift, in der er Manuskripte bzw. Manuskriptteile für seine Gedichtbände notiert: Zuerst »25 blatt ohne seitenzählung« (Stefan George, »Das Jahr der 75

Seele«. Berlin 1929, Gesamt-Ausgabe Bd.4, »Anhang«, letzte Seite) für die erste Auflage von »Jahr der Seele« (1897). Aus diesem Entwurf entwickelt George zusammen mit Melchior Lechter die »Stefan-George-Schrift«, die für den Druck ab 1904 Verwendung findet, zuerst für die 3. Auflage von »Das Jahr der Seele«. Die Drucktypen, die hier Verwendung finden, sind der griechischen und lateinischen Tradition verbunden, sie sind eine der Groteskschrift nachempfundene Antiqua. Die St.-G.-Schrift meidet Oberund Unterlängen, ist ohne Serifen und Verzierungen. Sie fördert, da die Buchstaben auf einer Linie liegen, das nachdrückliche, ja buchstabierende und damit langsame und intensive Lesen. In ihrer Kunstfertigkeit ist sie ein »Authentizitätszertifikat« (A. Schäfer 2005, 103), das das »dichtwerk als gebilde« (Stefan George, »Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal«. 2. Ausgabe. Berlin 1899, 5) herausstellt, als ein Gesamtkunstwerk, das von der Drucktype bis zum Buchschmuck, zum Einband und zur Papiersorte reicht (vgl. R. Reuß 2003; S. Kurz 2007).Man darf diese Buchkunst, als spezifische Form der Medialisierung, zu dem rechnen, was E. Osterkamp so ausführt: »In seiner Publikationspolitik, seiner Medienstrategie, seiner Selbstinszenierung gegenüber der zu gewinnenden Öffentlichkeit [...] handelte er durch und durch modern« (2005, 232). Den Fibel-Gedichten und den Übertragungen von Gedichten Baudelaires folgen: »Hymnen«. Berlin 1890. »In 100 abzügen für den verfasser gedruckt von Wilhelm u. Brasch«. Der Band wird eröffnet mit folgendem Gedicht: (s. S. 77) Der Titel des Gedichts »Weihe« spiegelt den Titel des ersten Gedichts in Baudelaires »Blumen des Bösen«: »Bénédiction«, den George mit ›Segen‹ übersetzt. »Weihe« ist eine feierliche Handlung, bei der eine Segnung vorgenommen wird – und diese muß dann wohl von oben kommen, zumindest eine Überschreitung des Ich-Raumes sein. Der Ausruf der ersten Zeile (mit Ausrufezeichen!) lädt ein, sich zu lösen und hin-aus zu ziehen »zum strom!«, der im Kontext einer menschlichen Natur zu fließen scheint. Gegen die gleitende Bewegung der ersten Strophe steht das Rasten der zweiten, einem lyrischen Ich zugesprochen, das sich selbst mit Du anspricht (damit einen zusätzlichen Abstand gewinnt) und aufgefordert wird, sich »an starkem urduft« zu »betäuben«, »So dass die fremden hauche all zerstäuben« (hauch als Entsprechung zu französisch souffle meint ›Eingebung, Konzept‹, wohl innerhalb des Symbolismus auch ›Dichtungsweise‹, vgl. H. Arbogast 1967, 91). Dadurch wird das Du empfänglich: »Das auge schauend harre der erhörung.« Diese integrierte synästhetische Bereitschaft von Auge und Ohr wird imperativisch (»harre«)

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formuliert, wie zuvor die intellektuelle Reinigung (»ohne denkerstörung«) im modalen Verb im Imperativ (»sollst du«) erscheint. Der Stau der zweiten Strophe wird auch erreicht durch »harte Fügung« (J. Jacob 2004/05, 33; H. Arbogast 1967, 121ff.), die das Werk Georges durchzieht. Das sind solche Verse, in denen das einzelne Wort als selbständige »taktische Einheit« hervortritt: »Im rasen rastend ...« oder: »Das auge schauend ...« Die Partizipien, unkonventionell gesetzt, verselbständigen sich und werden im ersten Fall alliterativ und assonantisch, im zweiten Fall assonantisch gestützt. Auch die Diskrepanz von Vers- und Wortakzent wie im ersten und vierten Vers der dritten Strophe (»Siehst du ...«; »Hörst du ...«), wo die Anfangsbetonung die auftaktspezifische jambische Struktur zerstört, schafft eine Fügung, die in diesem Fall das Verb heraushebt, was durch die parallele syntaktische Struktur der ›Sinnesverben‹ noch gestützt wird. Der Blick auf die Natur der Flußlandschaft und die Disposition zu lauschen (dritte Strophe) gibt dem Du (in der vierten Strophe) die Fähigkeit, die Natur zu verwandeln – rezeptiv: »sternenstädte« zu erblicken, »die alten namen« zu verlieren »und raum und dasein bleiben nur im bilde«. Die Voraussetzung für die Initiation ist gegeben: »nun schwebt die herrin nieder« (deren »traumesschwere lider« an die Bilder der Präraffaeliten und die hier vollzogene »Traumtat« (E. Morwitz 1969, 9) erinnern). »Zu dir geneigt die segnung zu vollbringen« (fünfte Strophe) – der Leser erwartet nun die Handlung, den Vollzug der Weihe, im Gedicht also ihre Beschreibung. Doch die Erwartung wird nicht erfüllt; nicht die Darstellung der Segnung folgt, sondern ein Bericht im Präteritum, der den Vollzug als Vergangenes, Geschehenes herausstellt und Wesentliches ausspart. Das Gedicht ist in der fünften und sechsten Strophe von sprachlicher Finesse geprägt, die so nur im »Sprachraum« von Literatur anzutreffen ist – von Literatur auf dem Weg in die Moderne. Eher konventionell ist der Einsatz der fünften Strophe: Der erste Vers geht in zwei parallel gesetzten und jeweils mit »nun« eingeleiteten Hauptsätzen auf, denen im zweiten Vers ein die ganze Zeile füllender inversiver Hauptsatz folgt: Nun bist du reif nun schwebt die herrin nieder Mondfarbne gazeschleier sie umschlingen

Es folgt im dritten Vers eine Attributkonstruktion, die grammatisch keinen Anschluß hat (wohl aber semantisch), gefolgt von einer Partizipialphrase mit bekleidetem Infinitiv: Halboffen ihre traumesschweren lider Zu dir geneigt die segnung zu vollbringen

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Ohne Subjekt und Prädikat wird eine Initiation vorbereitet; die Verse zeigen in ihrem sprachlich defizitären Status das Verschwinden, das sichtbar nicht Zugängliche der Segnung. Es bleibt der Bericht (in der sechsten Strophe) im Präteritum (»bebte«, »sah«, »strebte«), der seine Partialität wiederum in seiner sprachlichen Konstruktion zeigt. Der durch »als« eingeleitete Nebensatz, dem im zweiten Vers sich ein weiterer Nebensatz anschließt, wird abgelöst durch eine gleichfalls syntaktisch u n t e r ordnende und mit »dass« eingeleitete Konstruktion, ohne daß ein Hauptsatz die sprachliche Bewegung erfüllt. Die Grammatik, d.h. die Syntax, ist gerade nicht »unklar« (S. Kurz 2007, 104), sondern zeigt die poetische Wirklichkeit an: Hauptsätze (am Ende der fünften und am Anfang der sechsten Strophe), die die Initiation zum Thema haben, fehlen. Die Weihe des Dichters (»du«) ist, »literatur sprachlich«, ins Gedicht gebannt – die Ästhetik der Syntax konterkariert den Inhalt, der somit als solcher problematisiert, einem Zweifel ausgesetzt wird. Dass sie im kuss nicht auszuweichen strebte Dem finger stützend deiner lippe nah.

Der letzte Vers ist leicht rätselhaft. Daß hier eine »typische Lesehaltung« (K. Pestalozzi 1970, 331) ins Bild kommt, ist wohl einsichtig: Lesend wird beglaubigt, was das Gedicht aussagt (a.a.O.) – Problematisierung und Beglaubigung liegen dicht beieinander. »Zweck der Sprache der ›Hymnen‹ ist es, einen Gegensatz zum alltäglichen Gebrauch zu bilden«, schreibt C. David 1967, 52. Schon die Analyse der ersten beiden Strophen macht die Besonderheit der Literatursprache deutlich: der vorangestellte Genitiv (»junger wellen schmeichelchore«), der den sonst notwendigen Artikel überflüssig macht; die Vorliebe für Partizipialkonstruktionen (»kosend«, »rastend«, »schauend«), die, in ihrer Mittellage zwischen Nomen und Verb, ganze Sätze ersetzen; die »schweren« Komposita (»schmeichelchor«, »denkerstörung«), die in eine Wortbildung bannen, was nur weitläufig auszudrücken wäre. Dies führt zu einer komprimierten Sprache, die dicht, konzentriert, kunstvoll ist. Und auch die lautliche Basis ist kalkuliert. Man sehe nur auf den ersten Vers, der, gemäß dem angesprochenen »strom«, vier Mal weiterhin dem o verpflichtet ist, dem der »wind« des zweiten Verses folgt und demgemäß hier das helle i (als Kontrast) dominiert. Das lyrische Ich dieses Gedichts spricht sich als Du an, dem eine Sie in der Gestalt einer niederschwebenden »herrin« begegnet: Die Personalpronomina (ich, du, sie) sind durchdekliniert, die Laufbahn Georges beginnt. In der Fassung der von George besorgten »Gesamt-Ausgabe«, die als Ausgabe letzter Hand zu betrachten ist, hat das Gedicht folgende Gestalt: 79

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Die Lesezeichen greifen in den Text ein. So teilen die Hochkommata den zweiten Vers der zweiten Strophe und den ersten Vers der fünften Strophe. Im ersten Fall setzen sie die beiden Halbzeilen gegeneinander ab, im zweiten Fall heben sie die parallele Struktur hervor. Bedeutungsschwerer ist der Doppelpunkt am Ende des vierten Verses der fünften Strophe: Die Erwartung gerinnt hier zu einem Lesezeichen, und es ist fraglich, ob seine Kennzeichnung als »entbehrlich« (s.o.S. 75) durch George gerechtfertigt ist. Drei Änderungen des Textes nimmt George vor. Das Partizip »verbietend«, das wohl zu erzieherisch klingt, ersetzt er durch »Und wehren« (dritter Vers erste Strophe), wodurch zugleich das Gedicht alliterativ gestärkt wird. Der Austausch der Konjunktion »als« (erster Vers sechste Strophe) durch »indem« darf als Verbesserung gelten. Die (neue) Konjunktion hat hier eine instrumentale Bedeutung im Sinne von ›dadurch, daß‹. Die letzte Strophe wird so semantisch (nicht grammatisch, denn es bleibt ein Nebensatz) näher an die vorige Strophe gerückt, die Segnung erscheint unmittelbarer. Die grammatische Akzentuierung der zweiten Zeile der letzten Strophe (die Struktur als Nebensatz wird deutlicher durch die Einfügung von »Und«) ist wohl gleichfalls der eindeutigeren Aussage dienlich. Die Arbeit Georges besteht also auch darin, seine frühen Gedichte durchzusehen, aber auch, sie in ein Kleid zu fassen, das materiell ihre Präsenz, ihre Darstellung unverwechselbar macht. Was erhalten bleibt, ist Georges intensiver Blick auf die Sprache, der sich u.a. in sprachreflexiven Wortgedichten kundtut. Eines steht im Gedichtband »Das Jahr der Seele«. Dieses Werk, von Otto von Holten gedruckt und im November 1897 in 206 Exemplaren im Verlag der »Blätter für die Kunst« erschienen, ist ein sehr frühes Beispiel für die um 1900 sich entfaltende Buchkunst. Das Gedicht lautet: (s. S. 82) Wollte man, gemäß einem Skript, also einem Drehbuch, die lyrische Szene ordnen, so hätte man drei Teile bzw. vier zu unterscheiden: Zunächst die (tatsächlich fehlende) Überschrift, die in der ersten Zeile aufgehoben ist. Sie steht im Präsens und enthält eine Feststellung: »Des sehers wort ist wenigen gemeinsam:« Der Doppelpunkt zeigt an, daß hierfür in der Folge eine Erklärung gegeben wird, hier in der Form lyrischen Erzählens, das die Jugend des Sehers zum Inhalt hat. Allerdings sind die Verse zwei, drei und vier der ersten Strophe von den nächsten getrennt: durch einen Gedankenstrich, der das Reich der ersten Strophe, in dem erfundene »eigne namen« gelten, von den Begebenheiten in den weiteren Strophen absetzt. Doch ist der folgende Text durch das deiktische »hier« des ersten Verses der zweiten Strophe ausdrücklich auf das Reich der ersten Strophe bezogen. 81

Das (lyrische) Erzählen füllt die ersten drei Strophen aus. Zu Beginn der vierten Strophe wird ein Fazit gezogen, dessen im Perfekt (das in die Gegenwart des Sehers hineinreicht) formuliertes Ergebnis: »Nur sie [»eigne namen«] [...] hat er sich erlesen« zugleich abgesetzt wird von dem, was der Ablehnung verfällt: »und nicht der sanften lehre lallen · / Das mütterliche.« Das positive wie negative Fazit wird in der vierten und fünften Strophe weiterhin gestützt, zwei Mal (Vers 15 und 17) mit einem temporalen »als« eingeleitet, wobei die letzte Strophe zugleich leidenschaftlicher Ausdruck eines Appells an eine höhere Instanz ist. 82

Dieses Erzählen wird in einem jambischen Fünfheber kreuzgereimt präsentiert, der in jeder Strophe Stolpersteine bereithält. So fällt: »Das mütterliche [...]« (vierte Strophe Vers zwei) aus einem strengen jambischen Versmaß und wird so auffällig, also »schwer« zu betonen, folglich eine schwere Fügung, die inhaltlich der Abweisung verfällt. Die ›Überschrift‹ ist eine Feststellung – folgt man ihrer Syntax; sie ist pragmatisch eine Behauptung und setzt den semantisch-lexikalischen Rahmen für die folgenden Verse und Strophen. Indem diese die Behauptung lebensgeschichtlich detaillieren, umkreisen sie den hohen Anspruch der Behauptung – daß es nämlich einen »seher« (der Dichter als vates) gebe, dessen »wort«, also Sprache, nur »wenigen« zugänglich ist. Damit ist n i c h t eine »Privatsprache eines einzigen« (G. Kaiser 1996, 241), sondern damit sind Worte für wenige gemeint; wenige stehen am Rande des Wortfeldes: alle, viele, einige, manche, wenige, und diese semantische Randstellung (C. Perels 1979, 183 sagt: »Ränder der Sprache«) wird der folgende Wortschatz einlösen: »erste kühne wünsche« werden angesprochen, in einem »seltnen reiche« (dieses im Sinne von ›Herrschaft‹) mit »eignen namen« – die aber den wenigen vermittelbar sind. Diese Namen »erdonnerten von ungeheuern Befehlen« (das Adjektiv, am Versende stehend, läßt zugleich an ›grauenerregende Tiere‹ denken) oder »lispelten wie bitten«, die in »rubinenfeuern« (wie Paktolos, hier im Plural, der Goldsand führende Fluß des Altertums) oder wie »linde frühlingsbäche (gleichfalls Plural, der als grammatische Kategorie hier wie dort die Semantik verstärkt) glitten«. Das setzt sich fort in der dritten Strophe (»im höchsten schwunge«, »heilge zunge«), wenn es auch erst einmal darum geht, die Wirkung der Worte auf ihren Schöpfer (sic) darzustellen: kraft und klang sind Bedeutung und Lautstruktur der neuen Sprachzeichen, sie ergezen (mit altdeutscher Schreibung der Affrikata ts), also ›erquicken‹, aber sie machen auch, in alter Bedeutung von ergetzen (Paul 2002, 287), die alte Welt vergessen – so wie es auch die angesprochenen träume leisten, in denen die »worte« sakrale Musik (»des tempels saitenspiel«) und heilige Sprache (»heilge zunge«) zugleich sind: »Des sehers wort« führt in sakrale Bezirke, ja es ist ein solcher Bezirk. In der vierten Strophe erfolgt der Abstoß von »der sanften lehre lallen«, die Alliteration zieht die Lehre herab, der gegenüber die »worte« gestellt werden, die er, der Seher, sich »erlesen« (welche Bedeutungsfülle in einem Wort!) hat. Und dann wieder der hohe Ton, der die semantischen Ränder besetzt: »rausch«, »mai«, »nachtigallen«, »erster sehnsucht fabelwesen« (zweimal Plural). »Nur sie«: »eigne namen« sind, variativ, fortwährend präsent. Der Schluß (letzte Strophe) ist ein metaphysischer »rausch«. Das lyrische Ich, das jeweils in der dritten Person Singular (»er«) aufgerufen wird, 83

»rief« seinerseits, im Gebet, nach einem Gott (»lenker der lebensfrühe«), der gefragt wird, »ob die verheissung löge« – der Konjunktiv gewährt ein Reimspiel, das mit »möge« abgeschlossen wird. Zugleich »erflehend« – dies ist ein Partizip Präsens, das den Schluß des Gedichts in einen präsentischen Kontext überführt –, »dass [...] / Das denkbild sich zur sonne heben möge.« Die Tempora haben die Gegenwart des Dichters eingeholt. Vom generellen Präsens (einer Behauptung) zum Präteritum des jugendlichen Reichs und dem in die Gegenwart reichenden Perfekt des Abstoßes bis zum partizipischen »erflehend«, das zugleich Dynamik ausstrahlt, reicht die temporale Palette. Denkbild ist ein eher seltenes altes deutsches Wort (J. Grimm und W. Grimm, DWb 2.1860, 927) und hat eine Entsprechung im Niederländischen (denkbeeld). Hier bedeutet es ›Begriff, Idee, Vorstellung‹. Im vom Dichter erzeugten Wort zeigt sich sein Denken, sein Gedanke – so anschaulich die Wortbildung ist, sie löst das Bild, das »sich zur sonne heben möge«, nicht ein. Es bleibt ein Geheimnis. »Alles an diesem Gedicht ist Schöpfungsmythos« (J. Eckhoff 2005). Die Welt wird neu erschaffen über das »wort«, das »eigne namen« jenseits des »mütterlichen« setzt. Vor der Welt steht »seine« Sprache, die den Zugang des Dichters zur Welt be-deutet. Und dieser Dichter wird in dem letzten Gedichtband, der im 19. Jahrhundert erscheint: »Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod, mit einem Vorspiel« (1899) nicht nur die Welt nach seinen Maßstäben deuten und schöpfen; sondern er wird geistige Führerschaft beanspruchen, die »leisesten Wink und unerbittlichen Spruch« (F. Wolters 1930, 201) nebeneinander stellt. Am Ende der drei Gedichtzyklen (die auch der Titel des Bandes abbildet) steht folgendes Gedicht: (s. S. 85) Eine alliterierende zweigliedrige Formel steht über dem Gedicht, und sie spielt auf ›Imagination‹ (Traum) und ›Verstummen‹ (Tod) an. Das ist eine Überschrift, unter der eine Künstler-Biographie skizziert, ins Gedicht gebracht wird. Solche Formeln beherrschen die erste Strophe: »glanz und ruhm«; »berg und belt«; »jung und groß«; »auf die flur auf die flut«. Diese sprachlichen Zweierstrukturen formulieren Umgreifendes: Jeder Vers singt die Ruhmesmelodie des »wir«, hinter dem sich, ganz unkeusch, das lyrische Ich verbirgt. Der erwachende Held »bannt« die Welt, die sogleich zur »unsren« erklärt wird. Ein erstaunlicher Einstieg, der so nur möglich ist, weil das Verfasser-Ich auf die vorstehenden »Lieder von Traum und Tod« zurückschaut. Auch Gedichttexte sind durch ebensolche kontextualisiert.

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Der Einbruch und der Umschwung erfolgt in der zweiten Strophe, eingeleitet durch das demonstrative »Da«. Jetzt lautet die Formel »rausch mit der qual«. Das lyrische Ich, das »gebot« – es »weint und sinnt« nun und »beugt sich gern« mit einem Anruf, dessen sprachliche Archaik, in wörtlicher Rede, an historische Eidesformeln erinnert: »Du mir heil du mir ruhm du mir stern«. Der Stern als Ausdruck der Wegweisung und Erleuchtung wird, verwandelt, im Text wiederkehren. Die dritte Strophe, eingeleitet durch temporales »dann«, formuliert in den ersten zwei Versen den Aufstieg des Traums, das heißt des dichterischen Schöpfertums, das, nahezu lästerlich, den Gott (in Großschreibung) bezwingt – bis (in derselben Strophe) der Verstoß erfolgt: »Uns so klein vor dem tod so entblösst!« 85

Die vierte Strophe faßt zusammen. Sie läßt in ruhigen, eine spezifische Dynamik entwickelnden Verbformen (stürmen, reissen, schlagen, blizen, brennen) die Bewegung spüren, die den Künstler treibt und dem dann doch »spät« ein »licht-kleinod« sich zeigt: »vereint schimmernd still«. Ein Doppelpunkt kündet davon, was dieses Kleinod faßt, ausdrückt, bedeutet: »glanz und ruhm rausch und qual traum und tod«. In regelmäßigem Rhythmus (dreimal: zwei Hebungen und eine Senkung), nahezu abgeklärt, endet das Gedicht mit einer Zeile, die den Lebenslauf, im Nominalstil, resümiert. Es sind die Prädikate, die von der Jugend zum Schöpfertum führen, zum Traum, hinter dem der Tod lauert. Er beschließt den »Teppich des Lebens« – aber der das schreibt, gebietet, indem er schreibt, noch über ihn. Das Gedicht am Ende des »Teppichs« ist Einsicht in die Zukunft und Auflehnung in eins. Der letzte Satz poetologischer Einsicht lautet: Vor dem Tod steht der Traum. »Traum und Tod« eröffnen und beschließen das Gedicht. (E. Morwitz 1969, 213f. setzt die Strophen jeweils mit einem »Jahrsiebent« gleich – das Gedicht würde dann bis ins Jahr 1896 führen – ; über eine solche biographische »Verhaftung« geht der Text wohl hinaus.) Die existentielle Verhaftung der Lyrik Georges wird deutlich in einem Buch, das aus der George-Schule kommt und dessen Text (er stammt aus dem Nachlaß) von der Witwe des Verfassers so erweitert wurde: »Der schon aus allen Bezügen sich still Lösende, Entgleitende verlangte im Mai 1940 noch einmal, Georgeverse zu hören: ›Bring doch den Teppich des Lebens.‹ Und als ich fragte: ›Was soll ich lesen?‹, sagte er: ›Fang doch mit dem Letzten an.‹ Glanz und ruhm! so erwacht unsre welt ... Es war eine wunderbare, die einzige Abschiedsstunde.«

Gertrud Breysig, Aufzeichnungen. In: Kurt Breysig, Stefan George 1960, 8

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7.

Verwandlung in Worte: Rainer Maria Rilke

Dies ist das erste Gedicht des ersten Gedichtbandes Rilkes mit dem Titel »Leben und Lieder. Bilder und Tagebuchblätter«. Das »Büchlein« (so Rilkes eigene Benennung) erscheint Ende 1894 – der Autor trägt noch den Vornamen »René«. »Vally von R ....... zu eigen«, hier setzt die Tradition der Widmungen ein, und die Praxis der Widmung gewinnt schon ein gewisses Maß an Preziosität, indem die sieben (Auslassungs)punkte den Nachnamen »Rhonfeld« zumindest mit Bezug auf die Zahl der Buchstaben präzise re87

konstruieren. Rilke ließ diesen (mit 19 Jahren publizierten) Gedichtband, anders als seine folgenden Jugenddichtungen, später fallen – er war erleichtert, als er vom Markt verschwunden war (vgl. J. Heinz 2004, 187). »Vorbei« nimmt die vierzeilige, a b a b reimende, dreihebig-jambische Volksliedstrophe auf (mit weiblichem (a) und männlichem (b) Ausgang) und verweist damit schon im ersten Text auf Heinrich Heines »Buch der Lieder« (von 1827). Die den Gedichtband überwölbende »Vergänglichkeitsklage« (J. Heinz 2004, 186) gewinnt auch hier Gestalt: Ein Liebesverhältnis ist, im ersten Gedicht des Bändchens, zu Ende gegangen (die für den frühen Rilke charakteristische Liebesklage ist gleich zu Anfang präsent, vgl. A. Stahl 1978, 49). Das (zeitliche) Ende ist in dem adverbiellen Titelwort »Vorbei« lexikalisiert, das seinerseits zusätzlich dreimal den Gedichttext schmückt, unübersehbar zu Anfang und Ende der dritten Strophe. Die ersten drei Strophen besiegeln ein Ende, das nicht nur durch lexikalische Mittel, sondern auch durch die Tempora der Vergangenheit aufgerufen wird. Die vierte Strophe fragt u.a., ob die »frohen Lieder« damit endgültig (»auf ewig«) »verhallt« seien. Diese selbstgestellte Frage beantwortet das lyrische Ich in der fünften und letzten Strophe für sich selbst: »Mir« (in die Position des Versanfangs gebracht und damit groß geschrieben) ist das Lied unverloren, es zieht »immerfort« durchs Herz: »das Leben in Liedern aufgehen zu lassen« sei Rilkes Sendung (R. Görner 2004, 22); hier zu Anfang wird es im (zu) schlichten Volksliedton formuliert. In den folgenden Jahren publiziert Rilke mehrere Gedichtbände, zunächst »Larenopfer« (1896, erschienen Weihnachten 1895), dann gleichfalls 1896 eine Zeitschrift in drei Heften, die er »Wegwarten. Lieder dem Volke geschenkt« (was wörtlich zu nehmen ist: sie sind, im Selbstverlag erschienen, »frei«) nennt; dann 1897 »Traumgekrönt. Neue Gedichte«; 1898 (unter dem neuen Vornamen »Rainer« statt René) »Advent« (erschienen Weihnachten 1897). Diese letzten drei Gedichtbände hat Rilke 1913 unter dem Titel »Erste Gedichte« zusammengefaßt und wieder veröffentlicht (die er überarbeitet und erweitert). Damit legt er selbst eine Zäsur, indem er seine »ersten« Werke (1896, 1897, 1898) von seinem (späteren) »Frühwerk« abgrenzt, das auch die Forschung mit »Mir zur Feier« (1899) beginnen läßt (KA 1, 628). Doch zwischen den letzten Gedichtband seiner »Ersten Gedichte« (1898 »Advent«) und »Mir zur Feier« (1899) schieben sich Gedichte, die »vom 26. Mai 1897 bis zum 22. Mai 1898« verfaßt sind (SW 3, 791). Sie sind »(geschrieben für Lou Andreas-Salomé)« (SW 3, 172) erst aus deren Nachlaß unter dem Titel »Dir zur Feier« 1959 veröffentlicht worden (SW 3, 171–198). »Eine Publikation zu Lebzeiten Rilkes unterblieb auf Wunsch von Lou Andreas-Salomé« (A. Stahl 1978, 107). 88

In diesen Liebesgedichten lenkt Rilke u.a. ausdrücklich den Blick auf die Sprache – unter dem Eindruck seiner Hingabe an eine geliebte Frau. Hier in einem Gedicht vom 10. Juni 1897: (s. o.) Dies ist ein Gedicht zu Anfang des Zyklus (das die Nummer 5 trägt, in dem überlieferten Corpus aber an dritter Stelle steht), in dem der Dichter wirklich beim wir angekommen ist. »Ich möchte dir ein Liebes schenken«, lautet der erste Vers des ersten Gedichts, und: »Du meine Hohe, weise« der erste des zweiten Gedichts. Hier (im dritten Gedicht) spricht das lyrische Ich, das dem Dichter-Ich ganz nahe steht, schon vom wir (zweimal) und von uns im Akkusativ und Dativ: Das Gemeinsame wird durchdekliniert. Die Konjunktion ob, hier eher literarischem Gebrauch folgend – üblicher ist wenn (auch) – leitet einen Konzessivsatz ein, der im Hauptsatz des zweiten Verses übertrumpft wird: »wir sind immer beisammen im Traum«. Der zeitweiligen realen Entfernung wird die Dauer (immer) der Liebe (beisammen) entgegengesetzt. Das Traumgeschehen wird dann durch einen Vergleich ›verwirklicht‹: »wie unter einem aufblühenden Baum«. Auf-blühend – die Liebe entfaltet sich. Da aber Liebe ein wir ist, bedarf es der Zwiesprache, des Dialogs. Und es wird eine gemeinsame (wir) Sprache angekündigt (im Futur), die etwas verlernt: »Worte, die laut sind«. Sicher ist, daß damit nicht nur die Lautstärke, vielmehr auch das ›deutliche, ja offenkundige Wort‹ (vgl. Paul 2002 s.v. laut) gemeint ist. Der folgende Wie-Vergleich holt das geheimnisvolle, das vieldeutige Wort in das Gedicht hinein: »und von uns reden wie Sterne von Sternen« – Sterne stehen im Geheimnis, sie ziehen ihre Bahn und beziehen sich so aufeinander, ihr Reden ist ›unlaut‹, unhörbar und unverständlich, wie die Sprache Liebender. Im sechsten Vers wird die Botschaft des Gedichts, die im vierten Vers in einem Satzgefüge mit Relativsatz geboten wird, in eine einfache Aussage umgewandelt und durch den Zusatz von »alle« gesteigert: »alle lauten Worte verlernen:« – und der »aufblühende Baum« wird zum Dach dieses (Ver)lernprozesses. Diese letzte Zeile des Gedichts ist eine 89

Wiederholung von Zeile drei. Der »Traum« »beisammen« wird verlängert – und damit auch der Prozeß des Lernens, der gleichfalls zweimal, in Zeile vier und sechs, aufscheint. Liebe und Lernen – sie sollen dauern und sind doch nur dem »aufblühenden Baum« zugeschrieben. Ein schlichter Siebenzeiler mit gemischten Versmaßen und entsprechend unruhigem Rhythmus, der im 6. Vers Trochäen bietet (állƟ láutƟn WórtƟ ...), die aufhorchen lassen (wobei der »Worte«-Trochäus im folgenden in einen Daktylus verwandelt wird). Das Reimschema präsentiert sich in den ersten vier Versen als ein »umarmendes« (a b b a), dem sich ein »Paarreim«, der zugleich »rührend« ist (a a) und ein weiterer »rührender« Reim (b) anschließt. Die Termini technici der Reimschemen entbergen eine zusätzliche Bedeutung, die auf das Miteinander zielt und dem Gedicht eine hintergründige Qualität zuweist. Den »lauten Worten«, die es zu verlernen gilt, stehen (in einem Gedicht vom 22. Juni 1897) die »leisen« der Geliebten gegenüber:

Der leise Ruf ist der sanfte, der den Empfänger »in jedem Flüstern und Wehn« erreicht, er stiftet die Begegnung, das Miteinander. Im Ad-hocKompositum (mit Possessivpronomen): dein Zu-mir-gehen wird die Besonderheit der Liebe betont. Die Stufen, auf denen die Geliebte schreitet, sind solche der Einbildung des Liebenden: weiß – auf ihnen hebt sich die Geliebte deutlich ab. Die ersten zwei Verse des folgenden Gedichts führen die Semantik von leise weiter: »Das Land ist licht und dunkel ist die Laube, / und du sprichst leise und ein Wunder naht.« (SW 3, 177). »Wunder«, solche der Liebe, folgen dem leisen Sprechen, das die lauten Worte ausschließt. Erst 90

die leisen Worte evozieren das Gedicht über dieses Wunder. Die Sprache im Gedicht gewinnt eine neue Dimension. Sie führt zum Schweigen und zum Lied (geschrieben in einem Gedicht vom 18. November 1897):

Das Thema ›Liebe jenseits der lauten Worte‹ stiftet einen thematischen Rahmen, der die beiden Konstituenten ›Liebe‹ und ›jenseits der lauten Worte‹ aufeinander zuführt und eine Verbindung schafft, die Neues gebiert: ›Stille‹ (als Lexikalisierung von: ›jenseits der lauten Worte‹) wird überführt zu fortwährendem (»immer«) Schweigen, in dessen Verlauf die Geliebte zum Instrument (»Laute«) wird, auf dem die Natur (»Frühling«) spielt. Ein »liebes Lied« erklingt, dessen »Laute« das lyrische Ich zu verlieren fürchtet ... Die Zusammenführung von ›Liebe‹ und ›Stille‹ im Lied auf der Laute wird zudem unterfüttert von ›Anreden‹, die sich in einem Verbund von Personal- und Possessivpronomina zeigen: Dreimal wird die Geliebte mit du angesprochen, zweimal erweitert durch eine Apposition (»Traute«, »Ziere«); dreimal bringt sich der Liebende selbst ins Spiel (ich). Im wir finden du und ich zusammen. Die Bedeutung der Geliebten wird zum Schluß hervorgehoben durch das Possessivpronomen dein : ihr gehört ein »liebes Lied«, dem der Liebende lauscht. Im Lied, hier in den anspruchslosen, aber dennoch oder gerade deshalb eindrücklichen Vierzeilern, im Kreuzreim mit alternierendem, (natürlich) männlichen u n d weiblichen Ausgang, erfüllt sich die Liebe, die dennoch immer bedroht ist (»weil oft mir Angst geschieht«). Nicht zu überhören das Spiel mit der Laute – als welche die Geliebte angesprochen wird – und dem Laut (aus dem Lied), das die Laute hervorbringt. Beide stehen g e g e n das Adjektiv laut, das doch lautlich [!] gleich ist, also homonyme Qualität hat. So lernt Rilke die Sprache der Liebe. In seinem Band »Mir zur Feier« (1899), mit »Schmuck und Schönheit« von H. Vogeler, kommt er auf Sprachthematisches zu sprechen, setzt er zur Sprachreflexion an: 91

Geschrieben am 6. November 1897 (SW 3, 926), also im selben Jahr wie die Liebesgedichte aus »Dir zur Feier«, widmet sich dieses Gedicht dem Thema ›Sprache‹, und zwar speziell ihren »armen Worten«. Rilke vergewissere sich nun des »primären Materials« der Sprache, schreibt R. Görner (2004, 24 f.) mit Bezug auf »Mir zur Feier« u n d dieses Gedicht. »Die armen Worte« werden von Rilke in einen anthropologischen Kontext gestellt; wie arme Menschen »darben« sie »im Alltag«. Das Ergebnis ihres Hungers: Sie sind »zage« und »blass« – und gerade deswegen nimmt 92

sich das lyrische Ich ihrer an. Für »die zagen, blassen Worte« setzt Rilke später »die unscheinbaren Worte« (»Die frühen Gedichte« 1909, 6) ein, im Vergleich zur Erstfassung, die mit zage und blass den semantischen Bezug auf menschliche Eigenschaften deutlicher, überzeugender herstellt (zag i.S.v. ›schwach‹, heute selten: Paul 2002, 1191), sicher ein Verlust. Aus meinen Festen schenk’ ich ihnen Farben, da lächeln sie und werden langsam froh.

Rilke hält den Vergleich durch: Äußerlich (»Farben«), mimisch (»lächeln«) und innerlich (»froh«) werden die »armen Worte« beschenkt. »Aus« literarischen »Festen«, die nichts anderes sein können als das Gedicht selbst. Die zweite Strophe konkretisiert das Mensch-Sein der »Worte«. Sie werden durch ein literarisches »Wunder« aus ihrem »Weh« geführt, (»die weissen Winterwangen« erhalten Farbe durch Wärme), und die Aufnahme der »armen Worte« in den »Gesang« läßt »schauernd schreiten sie in meinem Lied«; schauernd, d.h. ›fröstelnd, zitternd‹ (Paul 2002, 834), verweist hier auch auf eine seelische Empfindung, die das Fremdsein der Worte im Lied anzeigt: »in meinem Lied« heißt es selbstbewußt im letzten Vers, in dem die armen Worte »schreiten«; sie richten sich auf und lassen die Armut hinter sich. Eine »Sprachfläche« nennt A. Pagni (1984, 32) u.a. dieses »Lied«, »auf der die Worte sich bewegen« – ein anregendes Bild für Rilkes sprachreflexive Arbeit, der im literarischen Text die eigentliche Bedeutung der Worte aufhebt (vgl. A. Stahl 1978, 116). Rilke insistiert auf seinem Thema; in einem Gedicht vom 21. November 1897, also 15 Tage später verfaßt und im Nachlaß aufgefunden, lauten die ersten zwei Verse: »Das ist der Zauber: arme Worte finden / und leis sie lehren, im Gedicht zu gehn.« (SW 3, 585). Der semantische Rahmen, den das Gedicht auslotet, ließe sich leicht skizzieren und wurde fortlaufend angesprochen: Worte sind wie Menschen, die, arm wie sie sind, der Dichter in sein Lied führt und beseelt. Gern erläuterte man diese innere Bereicherung; doch so die Worte im Gedicht erscheinen, sind sie schon geschmückt, z.B. durch üppige Alliteration: »sie wärmen sich die weissen Winterwangen / am Wunder, welches ihrem Weh geschieht.« Genau diese Verse der zweiten Strophe »erneut«, wenn auch nicht verbessert Rilke (»Die frühen Gedichte« 1909, 6): »Ihr Wesen, das sie bang in sich bezwangen, / erneut sich deutlich, daß es jeder sieht;« – auch ein Hinweis darauf, daß Rilke auf den Wandel der Worte im Gedicht setzt. Überhaupt sind »Worte« des Gedichts eher erlesen: darben, zage, schauernd. Das Gedicht widerspricht sich somit in gewisser Weise – vielleicht gewollt. Auch als Gegengedicht wird es gelesen, »als Distanzierung von der bis 93

ins Druckbild hinein streng stilisierten Dichtersprache Stefan Georges« (U. Fülleborn, KA 1, 663; vgl. auch A. Stahl 1978, 116 u. E.C. Mason 1963, 221). S. Löwenstein (2004, 143) nennt (in seiner sehr lesenswerten Arbeit) Rilke mit Bezug auf das »Wunder« der zweiten Zeile (Strophe 2) einen »Sprachmagier«. »Verwandlung der armen Worte« (a.a.O., 144) ist ein Zauber, den man mit dem späten Rilke auch »Magie« (KA 2, 375) nennen kann; aber die »Magier-Gedichte« führen insgesamt in einen anderen »Umkreis« (a.a.O., 836). Und man darf festhalten, daß die erlesenen Worte, die doch die Armut beschwören sollen, keine Fremdlinge im Werk Rilkes sind: darben ist (nach der Vers-Konkordanz von U.K. Goldsmith 1980) dreimal verzeichnet; zag (als Adjektiv) gar dreißigmal (u.a. »Zag, wie sich Kinder küssen«); schauernd neunmal (»Da ahnte Gott, der schauernd niederblickte«). Daraus ist wiederum nicht zu folgern, daß die Armut über dem Werk Rilkes liegt; aber doch die Pointierung mittels ausgewählter, eben erlesener Wörter. Der Text ist das Kunstwerk, die Wörter sind die Diener der Worte. Ist das vorstehende Gedicht eine (Selbst)einladung, untere Schichten der Sprache, Alltägliches in die Sprache der Literatur aufzunehmen und dem literarischen Fest seiner Lyrik, v e r w a n d e l t , zuzuführen, so schafft Rilke im folgenden Gedicht Distanz zur Gebrauchs- und Wissenschaftssprache, er taucht ein in die zu der Zeit gängige Sprachskepsis, die er »literarisch« überwindet: (s. S. 95) Das vergleichweise spät entstandene Gedicht (21. November 1898, KA 1, 663 bzw. 682 gegen SW III, 931 und A. Stahl 1978, 117, die 21. Nov. 1897 ansetzen) ist in seiner Abweisung entschieden und folgt in Strophe 1 und 2 der gleichen Struktur der Argumentation: Strophe 1, Vers 1: Die Furcht des »Ich« bezieht sich auf die Sprache, genauer: den Sprachgebrauch »der« Menschen (»der Menschen Wort«). Vers 2: Begründung: Ihr (zu) deutliches Aussprechen. Vers 3: Damit ist gemeint: Die Benennung der Dinge, die semantisch eindeutige Zuweisung der Namen, Beispiel Hund (Lebewesen) und Haus (Artefakt). Vers 4: Beispiel: Zeiteingrenzung: Beginn, Ende (Abstrakta). Verbunden sind die Beispiele durch Formen deiktischen Sprechens: dieses, jenes; hier, dort. Strophe 2: Die inhaltliche Struktur von Strophe 1 wird wiederholt. Vers 1: Bangen vor dem Sinn, dem Bedeutungsspiel (der Menschen), das zudem in unernste Kontexte gestellt wird. Vers 2: Daraus folgt das (scheinbare) Allwissen (der Menschen). Vers 3: Beispiel: Mit Bezug auf das Alte Testament wird der Verlust des Wunderbaren durch Benennung (Berg Sinai; vgl. Löwenstein 2004, 124) angeführt. Vers 4: ... und ihre nur scheinbare Nähe zu Gott (die Wissen nur vorgibt). 94

Strophe 3 setzt an die Stelle der Furcht und des Bangens Warnung und Abwehr: Vers 1: Bleibt den Dingen mit der Sprache fern. Vers 2: Weil dann die Dinge zum Gesang werden. Vers 3: Begründung für die geforderte Enthaltsamkeit: Eure Benennung (»anrühren«) macht die Dinge »starr und stumm« (Nietzsche spricht vom »Bretterwerk der Begriffe«). Vers 4: Ihr tötet sie »mir«. Ein Gedicht, das Argumentation in lyrische Verse umsetzt. Strophe 1 und 2 haben eine parallele Reimstruktur: Der umklammernde a b b aReim, männlich akzentuiert, ist den Sprechakten der Furcht und des Ban95

gens gewidmet. Das lyrische Ich fühlt sich eingeschlossen. Die anschließende Warnung in der dritten Strophe präsentiert sich in Reimpaarversen (a a b b): Vers 1 und 2 bezieht sich auf das Handeln des lyrischen Ich, 3 und 4 auf das verderbliche Tun der anderen (»ihr«). Drei Strophen, in denen zu Beginn ein »Ich« spricht (Strophe 2 variiert: »Mich bangt«). Dem steht ein »Ihr« bzw. »Sie« gegenüber. Ich gegen Ihr und Sie: Nur die Literatur(sprache) verbürgt »Sinn«, der die »Dinge« zum Gesang, zum Leben führt. Das Gedicht ist ein »pragmatisches« Kunstwerk. Es lebt vom deiktischen Sprechen – eine Sprechszene wird formuliert –, von Zeigdefinitionen (»dieses«, »jenes«) sowie von (unzulänglicher) Benennung (»heisst Hund«, »heisst Haus«). Diesem deiktischen, zeigenden Sprechen wird eine Antonymie unter-stellt: Ich gegen Ihr gegen Sie mit unterschiedlichem Bezug auf die Dinge. Man könnte das Gedicht ein in Versform formuliertes Programm nennen, das aus der Entgegensetzung zum alltäglichen, wissenschaftlichen und theologischen Sprechen seine Verve zieht und in der dritten Strophe sich aus der begrifflichen Umklammerung löst und »imperativisch« freisetzt: »Bleibt fern.« ›Entzauberung‹ der Dinge durch die eindeutige Begrifflichkeit (vgl. W. Müller-Seidel 1996, 96) – dagegen steht das Gedicht. Sein Versprechen folgt aus dem Versagen der anderen. Erst in den »Neuen Gedichten« werden die »Dinge« wirklich. Doch genau ein Jahr zuvor, am 21. November 1897, verfaßt Rilke ein Gedicht, das, gleichfalls in »Mir zur Feier« veröffentlicht, die eigene literarische Sprachkraft, trotz allem, in Worte faßt: (s. S. 97) Worte ist die bevorzugte Benennung Rilkes, wenn es um Sprache geht. In dieser Form des Plurals, gegen Wörter gesetzt, sind sie mehr als die Konstituenten des lyrischen Texts, sie sind der Text. Worte vermitteln Sinn. Noch sind sie Mauern, aber das »nur« deutet an, daß sie zu überwinden sind und hinter ihnen, hoch über ihnen, der Sinn nicht einfach zu greifen ist, aber doch »schimmert« – jedenfalls für den, der »tief im Leben« steht. Und die zweite Strophe formuliert, wie man zu Sinn (über Worte) findet: Nicht, indem der Dichter auf »Marken«, soll heißen ›Kennzeichen‹ setzt, die über Wortmarken Sinn vermitteln (solches stünde einem gut an, der über ein wissenschaftliches Fach Sinn erschließt); sondern: »ich lausch in sein [des Wortes] Land«: Und der Dichter h ö r t selbst dann noch »die Stille am Strand«. Sind auch die »scheuen Schauern« und das »Baden der Barken« (die auf »Harken« reimen) noch ganz der frühe Rilke, einfach u n d überladen, so liegt doch hier, im Gegensatz zur Abweisung des vorigen Gedichts, eine selbst ausgestellte Ermächtigungserklärung vor. Rilke weiß 96

zwar um die Ferne von Bedeutung und Sinn, vermag aber gleichwohl beides zu erblicken. Ein Gedicht aus dem Nachlaß, verfaßt am 21. März 1897, beginnt mit folgenden Versen: Die ganze Sprache ist verbraucht. Ich möchte jedes Wort vertiefen, (SW III, 560)

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Vielleicht liefern diese Verse, ante litteram, eine Zusammenfassung von Rilkes Blick auf »Sprache« und »Wort« in seinem lyrischen Frühwerk: Die »weltliche« Sprache, die des alltagsweltlichen Verkehrs, ist untauglich, abgenutzt; dagegen steht das »tiefe« Wort im Gedicht, das durch die Verwandlung im lyrischen Text zu sich selbst findet – wenn denn diese Verwandlung gelänge. In Berlin-Schmargendorf notiert Rilke am 3. November 1899 folgenden Vierzeiler:

Die Stille und die Dunkelheit, das vom Ohr und Auge Wahrgenommene, wird durch die Sprache, die »vielen Worte« (vgl. J. Steiner 1971, 173f.) nur unzulänglich ins Gedicht gebracht – so legt es der sprachskeptische Text nahe. Und doch kann, bezogen auf Sprache, nur das dichterische Wort Stille und Dunkelheit evozieren: Das Paradox aller Sprachskepsis und -kritik wird deutlich – das zu sagen (zu versuchen), was unaussprechlich scheint. Nun darf man nicht erwarten, daß Gedichte und Gedichtsammlungen ein kohärentes Sprachprogramm formulieren; aber auch in seinen »Schriften«, so die Benennung von Rilkes (kunst)kritischer Prosa in der »Kommentierten Ausgabe« von 1996 (Band 4), gibt es keine Texte, die etwa Hofmannthals fiktionalem Brief des Lord Chandos (»Ein Brief«, 1902) in Stil und Niveau gleichkommen. Dennoch gibt es Hinweise, Akzentuierung, Verwerfung. So schreibt Rilke 1897 in einem Aufsatz über das Drama (»Demnächst und gestern«): »Sein [des Dichters] Wort zum Beispiel in der Lyrik, welches sich selbst Hintergrund und Glanz und Tiefe geben muß, hat ja nichts mit dieser Scheidemünze gemein [...]« (KA 4, 54). »Scheidemünze« ist das Wort im Gemeinen, das gegen das Wort des Dichters steht – und man sieht, daß sich Lyrik und kritische Prosa aufeinander beziehen: »Die modernen Dichter haben den Glauben an das Wort verloren« (a.a.O.) und schaffen sich Worte mit Hintergrund, Glanz und Tiefe. Im Jahre 1898, dem »Theorie-Jahr« Rilkes (R.Görner 2004, 42), hält er seinen Vortrag »Moderne Lyrik«. Hier wirft er einen kritischen Blick auf zeitgenössische deutsche Gedichtproduktion (u.a. auf Arno Holz und Stefan George) und formuliert seine »Vorwand«-Poetik: daß z.B. eine »Abendstimmung« oder eine »Frühlingslandschaft« »nur der Vorwand für noch feinere, ganz persönliche Geständnisse« seien, die über den »Abend« 98

und den »Blütentag« hinausreichen, »aber bei dieser Gelegenheit in der Seele sich lösen und ledig werden« (KA 4, 65). Die Vorwand-Poetik Rilkes folgt u.a. zwei Vorgaben des Symbolismus: Sie enthält eine »Absage an Alltagssprache und an jede Form von Erlebnislyrik« (U. Fülleborn, KA 1, 663). Im Zusammenhang mit der von Rilke skizzierten Vorwand-Poetik fällt dann auch der Begriff, welcher die Lyrik besonders auszeichne: »Wenn alle Künste Idiome der Schönheitssprache sind«, so zeichne diese im besonderen Maße die Lyrik aus, »welche im Gefühle selbst ihren Stoff findet« (a.a.O.). Rilkes sprachlicher Widerstand, seine Kritik der Sprache, gilt der gemeinen, also alltagsweltlichen Sprache. Rilkes »Schönheitssprache« ist, in gewisser Weise, eine Entsprechung zu Georges »literatur sprache«. War diese 1890 ein individueller, ja origineller Schritt auf dem Weg zu einer eigenen Sprache, so generalisiert Rilke (»alle Künste«) und bezieht »Schönheitssprache« dann speziell auf die Lyrik. Das Eigene als Individuelles (George) und als Spezielles (Rilke) – es liegen jeweils lexikalische Neubildungen vor. Nicht umsonst hat sich Georges Begriff ›Literatursprache‹ durchgesetzt (vgl. Paul 2002, 618) und ist Rilkes Begriff ›Schönheitssprache‹ dem Vergessen anheimgegeben. Rilke wird nicht müde, seine Sprachkritik zu wiederholen. Nach einem Beitrag 1898 über den »Wert des Monologs« schreibt er in einem Zusatz hierzu (»Offener Brief an Rudolf Steiner«): »Das Wort des Verkehrs, das kleine, tägliche, bewegliche, habe ich beobachtet, das im Leben wirkt oder doch zu wirken scheint und also auch auf der Bühne die Entwicklung der Ereignisse hemmt und fördert. An dieses Wort denke ich, wenn ich behaupte, die Seele hätte nicht Raum in ihm. Ja es erscheint mir geradezu, als wären Worte solcher Art vor den Menschen wie Mauern; und ein falsches, verlorenes Geschlecht verkümmerte langsam in ihrem schweren Schatten« (KA 4, 125). Die Mauern werfen Schatten, schwere gar; im Gedicht (auch zeitlich) zuvor (s.o. S. 97) schaut der Dichter über die Mauern aus Worten hinaus und sieht »in immer blauern / Bergen« ihren Sinn schimmern: einprägsam die Wortmauern des Verkehrs, in deren Schatten die Menschen verkümmern, und die Wortmauern im Gedicht, hinter denen Sinn aufleuchtet. Das läßt sich mit »Schönheitssprache« nicht zureichend erfassen; Rilke ist weiter auf der Suche nach Sinn durch Sprache im Gedicht: »dem noch nicht Vollendbaren mußte ›Sentimentalität‹ aushelfen« (Lou AndreasSalomé 1968, 114) – Rilkes Geliebte formuliert gelassen, was die Gedichte noch nicht einlösen konnten. Einen wirklichen Fortschritt bringt der Blick auf die bildende Kunst, die eine »Schulung am Sichtbaren« (A. Büssgen 2004, 137) bedeutet. Und zwar sieht Rilke auf »Kunst-Dinge«. 99

Er verfaßt vom 1. bis 28. Mai 1902 als Auftragsarbeit eine Monographie über die Maler von »Worpswede«. 1903 erscheint das Buch unter diesem Titel. Daß die Natur dem Menschen fremd ist (A. Büssgen 2004, 139 spricht von »radikaler Entfremdung von der Natur«), daß die Kunst auf dieser Erfahrung aufruht, stellt Rilke dar: »Es wird Frühling, obwohl sie [junge Mädchen] traurig sind [...], und wenn sie wieder zu einem Lächeln kommen, dann sind die Tage des Herbstes da, die schweren, gleichsam unaufhörlich fallenden Tage des November [...]« (Rilke 1903, 310). Mensch und Natur leben »nebeneinander« (a.a.O. 311), und das gilt erst recht für das Leben in den Städten: »Ähnlich wie die Sprache nichts mehr mit den Dingen gemein hat, welche sie nennt, so haben die Gebärden der meisten Menschen, die in den Städten leben, ihre Beziehung zur Erde verloren [...]« (a.a.O., 315). Dennoch führt die Kunst Mensch und Natur, führen die Worpsweder Künstler Menschen und Natur zusammen: »Menschen und Dinge, in stillem Nebeneinander [...]. Sie tragen nichts in ihr Leben hinein, [...] aber sie holen aus der Tiefe dieses Lebens eine Wahrheit heraus, an der sie selbst wachsen [...]« (a.a.O., 324). Ja die Natur und wohl auch die Menschen in ihr sind eine »Sprache« mit »Wortschatz« und »Syntax« (a.a.O. 360), die der Künstler lernt: »Alles Eigene erfordert also, wenn es nicht schweigen will, eine eigene Sprache. Es ist nicht ohne sie« (a.a.O., 349). Der Künstler führt Mensch und Natur im Bild zusammen und folgt dabei einem eigenen Bild-Wortschatz und einer eigenen Bild-Syntax. Nur so entbirgt das Bild eine Wahrheit. Rilke schaut somit in seiner kunstkritischen Arbeit auf die Bezugsobjekte der Sprache, die Kunst-Dinge, Bilder also. Diese nimmt er in ihrer künstlerischen Formung auf. Sprachkritik verwandelt sich zur künstlerischen Gegenstandskritik, die kreativ zurückweist auf Rilkes »eigene« dichterische Sprache. Die Schule des Sehens setzt Rilke in seiner Monographie zu »Auguste Rodin« fort, verfaßt Mitte November bis 16. Dezember 1902 in Paris, erschienen 1903. Nunmehr überträgt er die »Sprache der Hände« (Rilke [1903], 42), mit der Rodin seine »Kunst-Ding[e]« (a.a.O., 22) schafft, in seine Sprache. Er übersetzt die plastische (Kunst)welt in seine literarische Sprache, er entwirft »Sprachbilder« (R. Görner 2004, 203) wie die des »Mannes mit der gebrochenen Nase« (Rilke [1903], 18–20):

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Man muß diese Passage vollständig zitieren, im vollen Wortlaut – wie ein Gedicht. Dann wird deutlich, daß Sprachbilder die lyrischen Texte der Zukunft vorbereiten (sollen), so daß Rilke schließlich sagen kann: »in die Dinge hinein Dichten statt von ihnen weg« (nach einem Notat von Harry Graf Kessler 1908 im Anschluß an ein Gespräch mit Rilke; vgl. R. Görner 2004, 209f.). Rilke setzt ein mit dem Wahrnehmungsverb fühlen (Zeile 1), das auch in Zeile 21 und 52 die Anschauung leitet; das Verb ist auf seelische Empfindung bezogen, nimmt aber in Zeile 17 a u c h die ursprüngliche Bedeutung ›Wahrnehmung durch Tastsinn‹ (Paul 2002, 358) an. Weiterhin tritt erkennen (Zeile 30) hinzu. Das Subjekt bildet das Indefinitpronomen man, das, bezogen auf die jeweilige Person oder Gruppe, eine sehr unterschiedliche Reichweite hat und hier wohl bedeutet: ›jeder aufmerksame Betrachter‹. Die Wahrnehmungsverben fühlen und erkennen werden erweitert durch Verben der persönlichen Einschätzung: meinen (Zeile 38) und Verben des Wissens: wissen (Zeile 25) und sich erinnern (Zeile 34). Diese Verben (als Prädikate) stellen das Gerüst der Wahrnehmung, Einschätzung und des Wissens dar. Der Text Rilkes wird nun zu einem Wahrnehmungs-Ereignis, weil die Fachwerke des Gerüsts kunstvoll gefüllt werden. Rilke deutet den Kopf (Zeile 1–14), »als hätte eine unerbittliche Hand es [das Gesicht] in das Schicksal hineingehalten« (Zeile 12f.). In parallelen Konstruktionen (»es war«, Zeile 5 und 6) nähert er sich dieser Einschätzung. Und dann folgt (Zeile 15f.) ein rigoroser Akt der Empirie: »Wenn man diese Maske in Händen hält und dreht« – so wie Rilke später »Grimms großes Wörterbuch« benutzen, ja um den lexikalischen »Zufallsvorrath« (Rilke am 12. Mai 1904 an L. Andreas-Salomé. In: Briefe 1902–1906, 157) zu überwinden, in ihm »weiden« wird (»ich war gerade hinter einem Ausdruck her und habe ›geweidet‹ stundenlang«; Rilke am 3. Februar 1914 an A. Kippenberg, Briefe 103

1950, 439) –, so dringt er hier auf handgreifliche Anschauung. Noch einmal setzt er auf direkte Erfahrung, und man darf das als Steigerung auffassen: Rilke legt die Maske vor sich nieder (Zeile 37) – und das Gesicht wird ein »unebenes Land« (Zeile 39), »über dessen wirre Wege viele Völker gezogen sind«: Die Empirie, nur sie, treibt die Imagination hervor. Und indem der Verfasser die Maske wieder aufhebt (Zeile 41), wird die Wirrnis zur Vollendung und Schönheit (Zeile 42f.). Erst die Fülle der Perspektiven erkundet das Kunstding wirklich. Erst das »Weiden« der Worte im Gedicht fügt sie zu einem wirklichen Kunst-Werk. In dem Bändchen »Neue Gedichte« von 1907 wird Rilkes neue Kunst sichtbar. (Der nachfolgende Band »Der neuen Gedichte anderer Teil« von 1908 steht überdies unter dem Eindruck der Begegnung mit dem Werk Cézannes im Oktober 1907.) Vor den »Neuen Gedichten« und nach »Mir zur Feier« (1899) liegen u.a. »Das Buch der Bilder«, 1. Auflage 1902, veränderte und vermehrte 2. Auflage 1906, und »Das Stunden-Buch enthaltend die drei Bücher: Vom moenchischen Leben, Von der Pilgerschaft, Von der Armuth und vom Tode«, 1905. »Das Stunden-Buch« steht im Zusammenhang mit Rilkes Rußlandreisen (an der Seite von Lou Andreas-Salomé, 1899 und 1900). Äußerlich, auch in ausdrücklicher Formulierung, ist sein Vertrauen in seine literarische Sprache ungebrochen:

Daß der Autor überdies eine »sprachunsichere Situation« (R. Görner 2004, 78) in den Blick nimmt, allerdings deutlich distanziert, darauf verweist folgendes Zitat, auch aus dem Buch »Von der Pilgerschaft« (die Rede ist von »jenen Heiligen«):

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Dennoch: Der Autor scheint sich seiner literarischen Gebete sicher zu sein. Die Zuflucht zur Malerei und bildenden Kunst, seine Prosa-Arbeit als Schule des Sehens, spricht wiederum eine andere Sprache. Im »Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth«, »Geschrieben am 4. und 5. November 1908 in Paris«, also nach der Publikation der »Neuen Gedichte«, heißt es u.a.:

In diese Verse sind die Erfahrungen eingegangen, die Rilke im Umgang mit der Landschaftsmalerei von Worpswede und den Skulpturen von Rodin sammelte: sagen statt klagen; bilden statt urteilen; verwandeln in Worte ... In das »Buch der Bilder«, erste Auflage 1902, nimmt Rilke ein Gedicht auf, das den Weg weist zu den »Neuen Gedichten«. Der Titel »Fortschritt« überrascht zunächst. Liest man jedoch in den Wörterbüchern und stellt fest, daß das Titelwort seit dem späten 18. Jahrhundert v.a. auf geistige und künstlerische Entwicklung bezogen wird (Paul 2002, 345), ist »Fortschritt« als Titel eines Rilke-Gedichts weniger überraschend (weil der heute vorherrschende technische Akzent ausscheidet): (s. S. 106) Es ist am 27. September 1900 in Worpswede entstanden und steht inmitten eines Tagebuchtextes, der »die positiven Erfahrungen der Worpsweder Zeit notiert« (KA 1, 816). Es trägt ursprünglich den Titel »Gebet«; sowohl dieser Titel wie der Kontext des Tagebuchs stellt das Gedicht noch in den Zusammenhang des »Stunden-Buchs« (M. Engel, KA 1, 816). Dennoch weist es (»Fortschritt«) darüber hinaus. Das Gedicht in Versalien, also Großbuchstaben, wie alle Gedichte des Bandes, überrascht in dieser Gestalt. An den Verleger Axel Juncker schreibt Rilke, er lege Wert auf die »monumentalen« Buchstaben; »so wird das Charakteristische von Versen am besten ausgedrückt durch das Stehen, 105

Monumentalwerden auch der kleinsten Worte« (Rilke am 7. November 1911, Briefe 1902–1906, 115). Es scheint, wie E. C. Mason (1963, 222) formuliert, eine »Umstülpung der Georgeschen Neuerung mit den ausschließlich kleinen Buchstaben«, vermag aber ästhetisch, wie auch H.v. Hofmannsthal anmerkt, nicht zu überzeugen: »... aber wie peinlich hindert sie [die Schrift in Großbuchstaben] den Sinn, sich in die rhythmischen Zeilen hineinzuleben« (H.v. Hofmannsthal, R.M. Rilke. Briefwechsel 1899–1925. 1978, 43). ›Rhythmische Zeilen‹: Gerade der Bewegung, die die Gedichte formen, widerstehen die Monumental-Buchstaben – »Schlagzeilentypen« nennt sie E.C. Mason a.a.O, 223. Das Gedicht in neun Versen ist jambisch geprägt, Vers 3, 7 und 9 fallen durch rhythmische Störungen auf – z.B. Vers drei: »ímmƟr vƟrwándter«. Die Reime laufen über zweimal vier Verse (a b b a; a c c c); Vers 9 ist reimlos und insofern hervorgehoben. Der poetische Text ist eingerahmt durch Phrasen, die sich auf die Befindlichkeit des Dichters beziehen: »mein tiefes Leben« (Vers 1) und »mein Gefühl« (Vers 9). Dazwischen liegt ein lyrischer Bericht, der Bilder des lyrischen Ich (als »sichtbare Aussagen« A. Pagni 1984, 175) mit Blick auf sein Verhältnis zur Natur entwirft. Ein Fazit steht in Vers 5, der die numerische Mitte bildet: »Dem Namenlosen fühl ich mich vertrauter«. Die grammatische Form des Komparativs (»vertrauter«) weist den »Fortschritt« aus. In den Versen 1 bis 4 wird dieser eher prinzipiell entfaltet, vier Komparative (lauter, breiter, verwandter, angeschauter) verbreiten, fast plakativ, die Botschaft. Das Rauschen des Flusses, evoziert durch die »breitern Ufer«, greift in das Leben ein, Dinge und Bilder rücken näher. In Worpswede »lernte Rilke nach eigenen Aus106

sagen sehen (A. Stahl 1978, 171). Und nach dem Fazit von Vers 5 detailliert der Text: In die Höhe (»Himmel«) und in die Tiefe (»Teiche«) reichen die Sinne, wobei »Vögel« und »Fische«, die durch einen Wie-Vergleich ins Ding-Spiel kommen, Anschauung liefern. »Fortschritt« mit Bezug auf »die Dinge / und alle Bilder« – das ist in diesem Gedicht noch ein Versprechen, das in der Skizze der Bilder dieses nur partiell einlösen kann: »die windigen Himmel aus der Eiche« ist ein anziehendes Bild; das »Gefühl«, das »in den abgebrochenen Tag der Teiche / Sinkt, wie auf Fischen stehend« ruft vor allem im Wie-Vergleich eher die Distanz zu den Dingen auf. Die Bilder verirren sich, sind noch zu einseitig auf das dichtende Subjekt bezogen. Komparative sind der Weg, das Ziel liegt in ihrer Steigerung. Die »Neuen Gedichte« bieten sie:

»Abschied« ist im Frühjahr 1906, »vermutlich in Meudon« (also vor der Begegnung mit dem Werk Cézannes) entstanden (KA 1, 941). Abschied handelt von dem, was man »›dinghaft‹ erfaßten Situationen« (W.G. Müller, 2004, 297) zurechnen kann; es liegt eine eingreifende, lebensweltlich bestimmte Kommunikationssituation und Handlung vor, die »Abschied heißt«. Damit setzt Rilke ein reflexives Signal (vgl. Fülleborn 1997, 174): »was Abschied heißt« steht für: ›was man mit Abschied benennt‹ – aber 107

dahinter steht viel mehr, nämlich das, was im Gedicht steht. Die Semantik von Abschied erschöpft das Gedicht nicht: K. Hamburger (1971) bringt Rilkes Anschauung in einen Zusammenhang mit Husserls Philosophie und spricht von der »phänomenologischen Struktur der Dichtung Rilkes« (Titel), die »das ›Wesen‹ ›originär‹ erscheinen« lasse (97). »Wie hab ich das gefühlt was Abschied heißt« – fast nahtlos schließt das Gedicht an den Satz über den »Mann mit der gebrochenen Nase« an: »Man fühlt, was Rodin anregte, diesen Kopf zu formen [...]« (s.o.S. 102). Rilke, auf der Suche nach Entwicklung und Dynamik, stellt »Abschied« in den Mittelpunkt eines Gedichtes, das eine Szene mit Mitspielern in kommunikativer Bewegung präsentiert. Das Gedicht ist das poetische »Script«, die schriftliche Darstellung einer Szene. Zunächst agiert ein negativ empfundenes »Etwas«, das ein »Schönverbundnes« zerstört (1. Strophe). Das lyrische Ich, der »Mitspieler«, ist wehrlos; ein Etwas (»das«, »es«) ruft ihn und läßt ihn zugleich gehen – zurück bleibt die Mitspielerin (»so als wären’s alle Frauen«) und »dennoch« [ist sie] »klein und weiß« (2. Strophe): in der konjunktivischen Generalisierung und auch perspektivisch schon fast verschwunden. Zwischen den Mitspielern: »ein Winken«, das sich verliert und »kaum erklärbar mehr« (3. Strophe) – und dann folgt ein erratisches Naturbild, das sich erst recht der Erklärung zu verweigern scheint. Die vorstehenden Zeilen, so wenig sie der Poesie des Gedichts nachkommen, dienen der Vergewisserung: »Abschied« ist nicht nur kommunikative Bewegung, die sich in den Köpfen der Abschied-Nehmenden abspielt; sie ist erst einmal ein »Ding«, ein »Etwas«, das agiert: »zeigt«, »hinhält«, »zerreißt«. Das »Etwas« ruft und läßt gehen (»mich«) und zurückbleiben ([sie]). Die Gesten (»Winken«) verselbständigen sich, sind »kaum erklärbar«. Ü b e r diesem Abschied liegt eine dunkle Macht, die trennt (und in Kommunikation gerade nicht aufgeht). ›Die trennt‹ – was zuvor eng verbunden war. Vers 2 und 3 der zweiten Strophe zeigen eine Schachtelsyntax, die in ihrer mehrfachen Einbettung die enge Verbindung der Abschied-Nehmenden anzeigt: Relativsatz »das ... zurückblieb«; eingebettet: »da es mich ... gehen ließ«; eingebettet: »mich rufend.« Erst die literarische Sprache macht das Gedicht zum wirklichen Abschied. Die Macht, die über dem Abschied liegt, ist ein substantiviertes Indefinitpronomen (»Etwas«), ein nicht näher bestimmtes »Ding«, das durch die Adjektivprädikate umso näher charakterisiert wird: »dunkel«, »grausam«, »unverwunden«. Drei sehr konkrete und sich steigernde Verbprädikate (zeigen, hinhalten, zerreißen) demonstrieren die zerstörerische Potenz von »Etwas« gegenüber einem (wiederum) substantivierten Adjektiv, das, 108

gegenüber dem unbestimmten »Etwas«, sich umso deutlicher semantisch zeigt, d.h. selbst erklärt: ein »Schönverbundnes«. Die sprachliche Form der Substantivierung setzt sich in der dritten Strophe fort: ein »Winken« und ein »Weiterwinkendes« bestimmen das Gedicht. Die Substantivierung unterschiedlicher Wortarten (im letzten Fall von Verben) schafft ein unsicheres Zwischenreich (zwischen Verb usw. und Substantiv), das durch die entsprechenden Partizipialformen (die zwischen Verb und Adjektiv stehen): »unverwundnes«, »Schönverbundnes«, »rufend«, »Weiterwinkendes« noch verstärkt wird. Das ungewisse »Etwas« zeigt sich in der Sprache, gleichfalls als ein »Dazwischen«, zwischen den Dingen stehend (sic). Und zu übersehen ist auch nicht die »Neutralisierung« der grammatischen Formen (»Etwas«, »Schönverbundenes«, »Winken«), die das Dazwischen als eine unbekannte, dunkle Macht zeichnet, ja schließlich auch das Geschlecht der Abschied-Nehmenden aufzuheben scheint (vgl. W.G. Müller 2004, 311f.). Und dann das rätselhafte Bild zum Schluß: Textuell ist der »Pflaumenbaum« mit der »weißen« Frau verknüpft, blüht er doch (weiß) im Frühling, wenn der Kuckuck »hastig« abfliegt. Der Kuckuck als Sinnbild desjenigen, der sich »hastig« i.S.v. ›abrupt‹ und ›schnell‹ abwendet, um weiterzuziehen. Und sollte der Kuckuck rufen (schließlich ruft auch das »Etwas«: »da es mich, mich rufend, gehen ließ«), so mag die weiße Frau rätseln, ob ›er‹ wiederkommt (»Kuckuck an der Brück’, wann bringst ihn zurück?«) oder ob er nicht doch dem Tod anheim gegeben ist (»Lieber Kuckuck sag mir doch, wieviel Jahre lebt er noch?«). Der Kuckuck und der Pflaumenbaum, beide durch repetitive Lautstruktur (u und au) im Wortinnern verbunden, sind ein Bild der Natur, das sich bedrohlich über den Abschied legt (vgl. A. Stahl 1978, 203). Die in der Rilke-Literatur viel diskutierten Begriffe ›Umschlag‹ und ›Verwandlung‹ in den »Neuen Gedichten« (J. Ryan 1972) – hier haben sie ihren Ort. Eingeleitet durch die Wendung (sic) »Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen«, fortgeführt nach dem Gedankenstrich durch »schon kaum / erklärbar mehr« wird der ›Umschlag‹ deutlich, die Sicht auf ein Drittes, das den Abschied verwandelt, transzendiert: »vielleicht ein Pflaumenbaum, / von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.« »Abschied« wird zu einer »Figur«, die ins »Natürliche« umschlägt und in dieser Verwandlung Raum läßt für Ahnung, wohl auch: letzten Abschied. Unauslotbar. Das dreistrophige Gedicht präsentiert sich im umarmenden (Strophe 1 und 3) und Kreuzreim (Strophe 2), jeweils mit wechselnder männlicher und weiblicher Endung: wiederum stützt die Form die ›Fakten‹. Assonanz (»ein dunkles unverwundnes«) und Alliteration (»Weiterwinkendes«; »Wie 109

war ich ohne Wehr«) sind sparsam gesetzt, die jambischen Verse werden nur zweimal versetzt: »grausames Etwas« ist im Adjektivprädikat daktylisch, die Störung hebt die Grausamkeit hervor; die Störung wiederholt sich im zweiten Vers der dritten Strophe (»Weiterwinkendes«) – der Winkende tritt in eine (wiederum) daktylische Struktur, die auf einen Gedankenstrich trifft, dem wieder ein jambischer Versfuß folgt. An dieser Stelle wird das Gedicht verrätselt, wo es erklären sollte – die Versstruktur zeigt Verstörung und Umschlag zugleich an. »Erst die literarische Sprache macht das Gedicht zum wirklichen Abschied« – sie ist in der Lage, die wirkliche, d.h. dichterische Semantik von Abschied zu entwerfen, indem sie den Text grammatikalisiert, hier also substantiviert, partizipialisiert und, bezogen auf das Genus, neutralisiert. Rilke ist fähig, Sprache seinem thematischen Vorwurf gefügig zu machen. »Das Wesen« liegt in der Sprache, sie ist das Resultat von Sehen und Anschauung.

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8.

»Umwortung aller Worte«: Christian Morgenstern

Der Morgenstern ist, wie man weiß, dasselbe wie der Abendstern. Es kommt nur darauf an, zu welcher Tageszeit man für den Stern schwärmt, ihn so oder so zu nennen. Unser Morgenstern hatte am Morgen allerlei schöne und allgemeine Gefühle, die ihm am Abend nicht mehr gefielen. Also wiederholte er sie abends, indem er sie persiflierte, um doch andern Morgens wieder in den Gemeinplatz seiner sternhaften Stereotypie zu fallen. Das schreibt Franz Blei (1924, 47f.) in seinem Versuch, »eine so kurze wie anschauliche und genaue Beschreibung derer lebenden Tiere [der Moderne] zu geben, so ans Licht der Bücherwelt zu stellen Gott dem Herrn gefallen hat, ...« (a.a.O., 7). Er sieht in Morgenstern auch den Abendstern – die Venus, die entweder in der Nacht untergeht oder als Morgenstern vor der Sonne aufgeht. Die literarischen Texte des Dichters, die Gedichte, seien kontextuell geformt: Die »schönen Gefühle« am Morgen sind ihm am Abend verdächtig; sie werden persifliert, »um doch andern Morgens ...«: »Irgendwie« hat Blei recht. Vor allem, der Abendstern strahlt heute weit heller als sein morgendliches Pendant. Aber wann ist der Übergang vom Morgen zum Abend? Das Bild Franz Bleis ist anregend, aber es ist zu präzisieren – durch Rückgriff auf Christian Morgensterns Texte. Im Jahre 1895 erscheint Morgensterns erster Gedichtband »In Phanta’s Schloss«. Er trägt den Untertitel »Ein Cyklus humoristisch-phantastischer Dichtungen«. Die Widmung lautet: »Dem Geist Friedrich Nietzsches«. Dem versuchte Morgenstern nahe zu bleiben. »Denn bei Phanta / ist nichts unmöglich«, heißt es in »Kosmogonie« (Morgenstern 1895, 29). Morgensterns Werk ist befeuert von Nietzsche, »dessen suchende Seele mein eigentlicher Bildner und die leidenschaftliche Liebe langer Jahre wurde« (C. Morgenstern 1918, 3; vgl. R. Furness 2003, 125–137). Am 17. IX. 1896 schreibt René Maria Rilke (der noch nicht seinen neuen Vornamen trägt) aus »Prag II. Wassergasse 15B I« einen Brief an Morgenstern, dessen Anfang lautet: »Geehrter Herr, gestern abends habe ich ›In Phantas Schloß‹ zu Ende gelesen; Alle Gedichte einmal manche zweimal ›Mondaufgang‹ und ›Epilog‹ wohl zehnmal« (R.M. Rilke 1946, 47).

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»Mondaufgang« hat in der Erstauflage von 1895 folgende typographische Gestalt (62f.):

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Das Gedicht mythologisiert. Der Autor, der sich gegen die philiströse Alltagswelt (wie sie der 23jährige sieht) in Natur und Mythos rettet, schildert einen Vorgang, eine Bewegung, den »Mondaufgang« (Titel). Doch dieser Aufgang ist zugleich ein Anfang, eine Schöpfung des Mondes durch Pan, Hirten- und Fruchtbarkeitsgott Arkadiens, der später auch der »große Pan« genannt wird (in weitläufiger Interpretation von griech. ʌȐȞ, lat. pan ›ganz, all-‹) und auf jeden Fall mit Fertilität verbunden ist. So auch hier: »Der heitere Gott« erschafft, »Schilfrohr« blasend, »Blasen«. Sie platzen zumeist; nur eine hält sich – und sie ist der aufgehende Mond, nein: »eine zerbrechliche Kugel«. Und dann das Atemberaubende dieses Gedichts: Der Schöpfer, der Vater zeigt eine Reaktion, die ihn als Gott ausweist, der auf dieser Erde lebt: Pan »blickt / Mit klopfendem Herzen – / Verhaltenen Atems – / Ihr nach.« Er bangt um »sie«, luna, den weiblichen Mond, eine Mondin – ein ängstlicher Vater. Die erste Strophe skizziert eine eher statische Szene: die »glänzende Seifenblase« »in den Wipfeln des Walds«, von der man durch die Überschrift weiß, daß sie ein Bild des Mondes ist. Sie »hängt«; Bewegung zeigen eher die Wipfel, die »gespenstern«, sich also gespenstische Figuren schaffen, sich wiegen. Und dann setzt der Dichter die Szene in Bewegung, er verfaßt ein lyrisches Script, die Beschreibung einer Folge von Vorgängen und Handlungen. Strophe 2 schildert den Aufstieg »in den Aether« und Strophe 5 den Flug »Ueber die Lande« (»Vom Winde getragen«), der zugleich ein weiterer Aufstieg (»Immer höher«) ist. Der szenischen Disposition (Strophe 1) folgen also zwei Szenen in Bewegung (Strophe 2 und 5). Zwischen diesen Szenen geht der Blick nach unten: Pan, im Munde ein Schilfrohr, schaum-schillernd, kommt ins Bild (Strophe 3), und der Bericht greift noch weiter zurück und schildert im Präteritum das Blasen der Blasen, von denen nur eine sich tapfer hielt und der der Aufstieg (»hinaus / Aus den Kronen«) gelang (Strophe 4). Nach dem weiteren Aufstieg (Strophe 5, s.o.) geht der Blick wieder nach unten: zu dem seiner Schöpfung nachblickenden Gott. Der Aufgang des Mondes ist hier eine heidnische Schöpfung. Durch die Metapher der Seifenblase wird das Fragile herausgestellt, das auch im Akt der Schöpfung sichtbar wird: zerplatzende Blasen aus dem Schilfrohr, getaucht in den Teich und geblasen von Pan. Und der Zerbrechlichkeit des Mondes (und wohl auch der Welt) entspricht die Ängstlichkeit des Schöpfers, der über seine Körperlichkeit ins Bild rückt (klopfendes Herz, verhaltener Atem). (Welches Gegenbild zur Genesis, wo es Mose 1, Vers 14 lapidar heißt: »Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des 113

Himmels, die da scheiden Tag und Nacht ...«) Das Rohr Pans, schaumschillernd, das »Blasen blies«, erinnert doch an den Fruchtbarkeitsgott Pan, der zeugt und erzeugt. Wie der Dichter, der Nietzsches Artistentum nachzukommen versucht und »In Phanta’s Schloss« die Welt neu schafft: »Auf, mein Herz! Empor zum frohen / Aether, tänzergleich geschürzt!« (Prolog S. 2); »tänzergleich« – das ist Zarathustras Tanzliedern geschuldet (F. Nietzsche KSA 4, 139–141; 282–286), wie auch die metrische und rhythmische Form Nietzsches Lyrik zum Vorbild hat. Der freirhythmische Vers, Nietzsches Dithyramben abgelauscht (vgl. C. Morgenstern Bd. 1. 1988, 705), bestimmt das Maß der Verse. Nehmen wir die letzte Strophe: In den ersten drei Versen dominiert eine daktylische Struktur, die das HérzklǂpfƟn Pans zum Ausdruck bringt. Den zweiten und dritten Vers könnte man auch, als eine Kombination von (hier auftaktigem) Daktylus und einem Trochäus, als »adonischen Vers« bezeichnen, der u.a. den Schluß der »Sapphischen Strophe« (C. Wagenknecht 1993, 127) schmückte und dessen Name sich herleitet aus der Klage über den Tod des Adonis. Der letzte Vers (Íhr nách) ist ein Spondeus. Er ruht, mit seiner nachdrücklichen Akzentsetzung, in sich selbst. Der Blick »Ihr nach« ist ein langgezogener, dauernder ... Freie Rhythmen sind für Morgenstern ein Beitrag zu dem neuen Ton, den er in die Lyrik zu bringen hofft. Im schon zitierten und auch von Rilke herausgehobenen »Prolog« heißt es (S. 2): »Längst Gesagtes wieder sagen, / Ach! ich hab’ es gründlich satt. / Phanta’s Rosse vor den Wagen! / Fackeln in die alte Stadt! / Wie die Häuser lichterlohen, / Wie es kracht und rauscht und stürzt!« »In Phanta’s Schloss« versucht Morgenstern, diesem Vorsatz nachzukommen; aber schließlich bleibt er doch ein »Gelegenheitsdichter und n i c h t s weiter«, wie er 1906 notiert (»In me ipsum«, C. Morgenstern Bd. 5. 1987, 41). Gelegenheitsdichter – wohl im schönsten Sinne des Worts; aber doch nicht so programmatisch, neu und hintersinnig, wie es der Prolog im ersten Gedichtband und sein Untertitel (»ein Cyklus humoristisch-phantastischer Dichtungen«) verspricht. Schon die Titel der nächsten beiden Gedichtbände: »Auf vielen Wegen« (1897) und »Ich und die Welt« (1898), jeweils mit dem Untertitel »Gedichte«, legen das nahe. Und ihnen folgen zwei weitere: »Ein Sommer« (1900) mit dem Untertitel »Verse« und »Und aber ründet sich ein Kranz« (1902), ganz ohne Untertitel. Schaut man in größere Lyrik-Anthologien, exemplarisch etwa in den von Marcel Reich-Ranicki besorgten »Kanon. Die Gedichte und ihre Autoren« (2005), so ist, so scheint’s, Morgensterns sog. ernste Lyrik (das, was nach Franz Blei dem M o r g e n stern eignet) dem literarischen Gedächtnis entschwunden; nur seine sog. humoristische Lyrik, einsetzend mit dem Ge114

dichtband »Galgenlieder« von 1905 (das dem A b e n d stern Gemäße), ist in Erinnerung geblieben (10 Gedichte dieser Provenienz sammelt M. R.-R.). Dabei ist der Abendstern mit dem Morgenstern verknüpft. Darauf ist später zurückzukommen. Zunächst ist noch bei M o r g e n stern zu verweilen. Dazu greife ich auf ein Gedicht aus dem Band »Ein Sommer« mit dem Untertitel »Verse« zurück.

Dieses Gedicht nehme, schreibt Martin Kießig in der kommentierten Ausgabe (Bd. 1. 1988, 894), »formal eine einzigartige Stellung in Morgensterns lyrischem Werk ein«. Um die Spannbreite seiner Dichtung darzustellen, wird es hier präsentiert. Das Versmaß ist das herausragende Merkmal dieses Gedichts: Das reimlose Distichon (das Hexameter und Pentameter verbindet) stellt den Text in die Tradition der Elegien des 18. und 19. Jahrhunderts (z.B. Klopstock, Goethe und Platen). Hier liegt ein Hymnus vor, der »mit dem breit ausrollenden antiken Versmaß« (M. Kießig a.a.O.) die nordische Natur feiert. Das lyrische Ich, das in der ersten Person spricht, setzt ein mit einem Ausrufesatz, der innere Anteilnahme ausdrückt (»Wie mir der Abend ...«). Es 115

folgen Hörereignisse in der Nähe (»beseligte Meisen«) und Ferne (»spätes Gefährt«; »Flut«, »Dampfer«). Das aus zwölf Versen (und sechs Distichen) bestehende Gedicht erhält seinen »Einschlag« genau zu Beginn der zweiten Hälfte, also des siebten Verses: »Aber da schaudert es plötzlich – die Sonne versank hinter Bergen,« – alles Weitere ist Folge dieses Naturereignisses: »der purpurne Glanz« der Wolken, der farblose Wald, die Gewässer, die noch strahlen »das rötliche Blau«. Und dann die letzten zwei Verse, die den Widerschein der Sonne noch um Mitternacht in der Spiegelung eines Fjords (»rosige Schimmer«) wiederfinden: eine andere Mitternachtssonne, hier am Ende dieses farbigen Hymnus. Farbig deshalb, weil Farben, fast möchte man sagen systematisch, ausgebreitet werden: Grün und Golden, leuchtendes Rot und Purpur, rötliches Blau und Rosiges. Dem steht der farblose (nicht dunkle oder schwarze) Wald entgegen. Das Gedicht ist eine Impression, die eben die Abend- und Nacht-Zeit bis zur Mitternacht abschreitet. Es ist eine Feier der Natur, gespiegelt im lyrischen Ich. Der Text ist, wie dargestellt, zweigeteilt (1–6; 7–12); er ist mit sprachlichen Partizipialstrukturen durchsetzt (»feiernde Tannen; leuchtendes Rot; beseligte Meisen; verborgene Zeile; rauschender Bug; entloderte Luft; zitternde Spiegelung«), die in ihrer Mittellage zwischen Nomen und Verb eine Spannung herstellen, die dem Text seine Nachdrücklichkeit verleiht. Der zudem eher erlesene Wortschatz soll das Wunder eines nordischen Abends und der ihm folgenden Nacht kenntlich machen. M o r g e n stern, der Nacht anheimgegeben, ohne Galgenlied, Palmström und Korf, Morgenstern ist doch mehr als nur der Abendstern. Doch es gibt einen Morgenstern, dessen Lyrik v o r den »Galgenliedern« (1905), in den Gedichtbänden von 1895 bis 1902, man nicht »ernst« nennen sollte. Sie ist ernst und heiter. Und die »Galgenlieder« (1905) und »Palmström« (1910) sollte man nicht »humoristisch« nennen. Sie sind, wie wir sehen werden, heiter und ernst, sie sind »Lyrische Grotesken« (C. Heselhaus 1962, 286). Als solche deformieren sie die Ordnung, insofern sie zusammenfügen, was heterogen ist, sich nicht fügt (vgl. a.a.O. 287f.) – und so die Welt kenntlich machen. Und die lyrischen oder Vers-Grotesken – Morgenstern notiert 1907: »Je älter ich werde, desto mehr wird ein Wort mein Wort vor allen: Grotesk« (Bd. 5.1987, Aphorismen, 46) – haben »Vorfahren«; sie werden gewissermaßen in der ernsten und heitern Lyrik heimlich erprobt. In Morgensterns zweitem Gedichtband »Auf vielen Wegen« von 1897 gibt es ein bedrohliches Kapitel, das »Vom Tagwerk des Todes« handelt. Hierunter findet sich folgender Gedichttext:

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Der Untertitel (»Scene«) verweist auf die dialogische Struktur, das Bestimmungswort (»Mitternacht«) auf die Geisterstunde, in der sich Unerhörtes, Schauriges ereignet. Die freundliche Begrüßung (»Guten Abend, Freund!«) darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Anrede »Freund« seitens des Todes eine Bedrohung ist, die der »einsame Trinker« nicht mehr zu erkennen vermag. Die Antwort »Dein Wohl!« dient sowohl (!) dazu, weiter zu trinken, wie sie auch der Anfang einer stereotypen Antwortkette ist, welche Trunkenheit und Verblödung gleichermaßen zum Ausdruck bringt. 117

Überdies ist die Stereotypie, die zugleich eine Form der Sprachlosigkeit ist, mehr: Sie wirft ein Schlaglicht auf die Dialoge in der Moderne, die scheitern deshalb, weil man (wie Tod und Trinker) aneinander vorbeiredet, sich im Wege stehet, zusprechend scheitert. Das Drama der Moderne wird dem Rechnung tragen. Die einfühlenden Worte des »Freundes« Tod suchen die Verständigung und bilden eine semantisch und pragmatisch variable Staffel. Der Begrüßung folgen vier Fragen, die das Wohlbefinden des anderen und die Zustimmung zum Werk des Fragenden zum Inhalt haben. Der Dank, den der Tod dann ausspricht, ist wohl nur eine Form der Höflichkeit; denn nun setzen Einspruch und schließlich Beschimpfung des Trinkers (»Narr!«) ein, eine Tirade, die mit einem »Genug!« endet – wobei zu erinnern ist, daß »genug haben« umgangssprachlich ›betrunken sein‹ bedeutet (vgl. Paul 2002, 397). Hier ist »genug« noch gesteigert: Es bedeutet den Tod des Trinkers. Ausweis dieses Todes ist seine unvollendete Antwort. Die Wortlücke zeigt den Tod an, das nicht gesprochene Wort ist das Ende. Die Leere, die der einsame Trinker ausstrahlt, wird schließlich mit seinem Tod sinnbildlich. Robert Gernhardt hat Morgensterns Lücke weitergetragen, die Moderne ist auch gelehrig. In seinem »Ach« überschriebenen und mit demselben Ausruf einsetzenden Gedicht von 1997 (»Lichte Gedichte«, 206) steht der Tod vor der Tür: Ach, noch in der letzten Stunde werde ich verbindlich sein. Klopft der Tod an meine Türe, rufe ich geschwind: Herein!

In der zweiten bis fünften Strophe versucht der Herein-Rufer, die Gefahr zu bannen, indem er sich u.a. für die Utensilien des Todes: »Sanduhr« und »Sense« allzusehr interessiert und im übrigen die vom Tod eingeleitete Prozedur des Sterbens hinterfragt. Die letzten zwei Verse der sechsten Strophe lauten dann: – ach! Ich soll hier nichts mehr sagen? Geht in Ordnung! Bin schon

In dieser letzten Strophe reimt sich nichts mehr. Auch nicht das letzte, nicht gesprochene Wort. Robert Gernhardt, leider auch schon verstorben, grüßt Christian Morgenstern. In dem Gedichtband »Ein Sommer« von 1900 (oben schon erwähnt), in dem Morgenstern u.a. den nordischen Sommer Norwegens und seine 118

Geliebte in Norwegen preist (s. S. 11: »Dagny«), steht ein epigrammatisches Gedicht, das durch eine besondere Überschrift und Druck auf der Mittelachse ausgezeichnet ist:

Die Häkchen im Titel heben das Personalpronomen heraus und präsentieren es gleichsam wie ein sprachwissenschaftliches Objekt. Dadurch erhält Dich, natürlich groß geschrieben, einen Mehrwert. Es ist, zentriert, Geliebte und Benennung in eins. Die das Gedicht eröffnende Frage, die die Geliebte meint und doch nach dem »Was« fragt, stellt das Anliegen in den weitesten Kontext, der denkbar ist: das weite Sein. Von diesem erbittet (»möcht’ ich«) das lyrische Ich etwas – sofort und allein. In der Formulierung Morgensterns: »jetzund alleinziglich«. Das archaisierende Zeitadverb jetzund (mhd. iezunt), das so noch bei Goethe und Heine Verwendung findet (Paul 2002, 510), und das modale, durch zwei intensivierende Suffixe Morgensternscher Prägung ausgezeichnete Modaladverb alleinziglich verstärken die im Gedicht aufgeworfene Frage. Obwohl sie mit Nachdruck gestellt wird, erhält sie zugleich etwas Schwebendes und Spielerisches. Die Antwort auf das »Was« des ersten Verses kennt der Leser natürlich schon durch den Titel des Gedichts; aber Vers drei und vier geben eine Auflösung der Häkchen. Sie zeigen an, daß drei Zeichen /d/ /i/ /ch/ auf die Geliebte verweisen. Ersetzt man Zeichen durch Phonem, so darf man feststellen, daß der Verfasser eine exakte phonematische Analyse liefert. Er läßt sich von der Orthographie nicht täuschen, die z.B. das Phonem /ch/ in einer Kombination von Buchstaben präsentiert. Dich ist ein Wort aus drei Phonemen – Morgenstern kennt seine Geliebte. Der dritte Vers archaisiert, nach berühmtem Beispiel: Röslein rot, die Syntax: »drei Zeichen klein« sind eine zarte Liebeserklärung, die im »klein« das »Dich« umkost. Zudem erlaubt die Analyse, daß »Dich« insgesamt den 119

vierten Vers ausfüllt. »Dich« am Anfang und Ende, als Titel und Analyseobjekt: Auch Laien-Linguistik ist Teil der Moderne. Wie gewichtig der »kleine« Gedichttext ist (war), zeigt sich u.a. darin, daß Margareta Morgenstern, die spätere Frau des Dichters und Verwalterin seines Nachlasses, dieses Liebesgedicht aus späteren Ausgaben entfernte (C. Morgenstern Bd. 1.1988, 896). Nehmen wir zudem die Kinderlieder. Sie werden »In Phanta’s Schloss« (»Wolkenspiele« III. »Wäsche ist heute wohl«, 16f.; »Abenddämmerung« 56f.) und vor allem in »Auf vielen Wegen« versteckt (»Kinderglaube«, 25f.; »Das Häslein«, 102f.; »Beim Mausbarbier«, 107f. und »Elbenreigen«, 110f.). Greifen wir, exemplarisch, das letztgenannte Gedicht heraus: (s. S. 121) Diminutive, die »Lust zum Kleinen« (C. Morgenstern Bd. 3.1990,864) kündigen Morgensterns Texte als Kinderlieder (denen die Noten fehlen) an: »feiner Füßchen Schnee sich hebt«; es ist die Rede von Köpfchen, Trotzeköpfchen, Leuchtlaternchen, Sternchen und Schöpfchen. Insgesamt wird ein kindlicher Ton erzeugt, der schon im zweiten Vers der ersten Strophe in dem Kompositum Elbenringelreigen sein lexikalisches Zentrum findet. Die letzten beiden Strophen intensivieren durch direkte Rede (drei Stimmen sprechen) den kindlichen Kontext, wozu auch die Interjektionen (hei, husch, oh) und die Imperativform (horcht!) ihren Beitrag leisten. Das Gedicht ist ein Script, eine szenische Darstellung eines ›Elfentanzes‹; so müßte man Elbenringelreigen übersetzen. Morgenstern greift zu der historisch älteren Form Elbe, die im Deutschen im 18. Jahrhundert, nach dem Vorbild von englisch elf, durch die Elfe abgelöst wird. (Die männliche Form ist der Elf.) Elben sind hier zarte Naturgeister, Feen, die sich nachts (im Licht des Mondes (Strophe 2, Vers 4)) und »auf der Wiese« (Strophe 1, Vers 1) zu einem Ringelreigen, einem ›Kindertanz‹ (Paul 2002, 803) treffen. Eindringlich schildert der Dichter in den ersten drei Strophen die Grazie der Elfen, die mithilfe von Assonanzen (»webt und schwebt«; »geheime Geigen«) und Alliterationen (»Schleier schlingen«; »scheu im Monde schimmern«; »Köpfchen krönt ein Kranz« usw.) ins sprachliche Werk gesetzt werden. Scheinbar läuft der anmutige Tanz auch über die vierte Strophe; doch der Leser stockt: »Busen wogen, Wangen glühn / bräutliches Begehren – :« Busen sind weibliche Brüste, »besonders im Hinblick auf ihren erotischen Reiz« (Duden Bd. 2, 1999, 691), und gar wogende Busen und glühende Wangen, die als »bräutliches Begehren« ausgelegt werden!? Und der dritte und vierte Vers der vierten Strophe führen das erotische Spiel, das seine Erfüllung im Sexuellen findet, weiter – bis hin zur fünften Strophe (erster und zweiter Vers), in dem die Natur sich einstimmt auf die Liebesabenteuer von Elfe und erwartetem Elf ... Doch dann, »plötzlich«, 120

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die Warnung, die in einer Frage formuliert (nach dem Muster: ›Horch, was kommt von draußen rein?‹) und in einem Ausruf beantwortet wird, der durch Doppelung (»Zwerge, dummen Zwerge / wolln uns fangen, fangen!«) die große Gefahr aufruft. Warn- bzw. Frage- und Antworthandlung finden ihren ›Beschluß‹ in einer Anweisung, die die Elfen wieder »hinaus! und auf den Strom!« führt. »Trüb« bleiben die Zwerge zurück, vergeblich versuchten sie, die Elfen, die auf dem Wasser leben und möglicherweise deshalb »Elben«, Wassernixen sind, sich zur (sexuellen?) Beute zu nehmen. Welcher Teufel reitet Morgenstern, Elfen Füßchen wie Schnee, Flügel wie von Schmetterlingen und zugleich wogende Busen und glühende Wangen anzudichten? Ihnen zudem bräutliches Begehren zuzusprechen, das die Natur unter dem Prädikat lüstern weiterträgt? Zwar: »Alle elbe haben unwiderstehlichen hang zu musik und tanz.« Und auch: »der elbinnin gesänge locken jünglinge auf den berg und es ist um sie geschehen,« schreibt Jacob Grimm (1835, 264); aber Morgenstern hebt die erotische Komponente ausdrücklich hervor. Dahinter steht das Verlangen, die Ordnung zu verkehren, zusammenzuführen, was nicht zusammengehört – um zu zeigen, daß der Schein trügt. Elfen, diese geheimnisvollen Geschöpfe, sind auch nur liebestolle Wesen, die dann aber doch ihren Verfolgern entkommen. Elfen, Feen als mythologische Geschöpfe menschlicher Einbildung, werden dekonstruiert – in einem Kinderlied. Diese Dekonstruktion macht das Kinderlied zu einem grotesken Gedicht. Wie reagiert die Leserschaft auf diese Dekonstruktion? Sie macht sie rückgängig: »Nach einer Mitteilung Margareta Morgensterns (auf dem Handschriftenblatt) hat der Dichter auf die Bitte von Paula Dehmel um einen Kinderbuchbeitrag die vierte Strophe weggelassen und Lüstern (17) in Listig geändert. Im Druck in »Klein Irmchen« (1921) [Ein Kinderliederbuch von Christian Morgenstern und Josua L. Gampp] heißt es jedoch Lustig« (C. Morgenstern Bd. 3.1999, 874): lüstern, listig, lustig – die aus den Fugen geratene Welt wird, vorübergehend, wieder verfugt – indem man »wegläßt« (die 4. Strophe) und ändert (lüstern zu lustig). Im folgenden die »korrigierte« Fassung nach der 2. Auflage von »Klein Irmchen« (1931): (s. S. 123) Literarische Kränzchen gab es in Berlin um die Jahrhundertwende in großer Zahl. Morgenstern war mit seiner Gefolgschaft zum Galgenberg (in Werder bei Potsdam) (M. Bauer o.J., 152) gezogen. Daraus erwuchs eine Vereinigung von Brüdern, deren Vereinsnamen Morgenstern in der ersten Auflage seiner »Galgenlieder« von 1905 so wiedergibt: Schuhu; Rabenaas; Verreckerle; Veitstanz zubenannt der Glöckner; Gurgeljochem; Spinna; Stummer Hannes, zubenannt der Büchner; Faherügghh, mit dem Beinamen der Unselm (Galgenlieder. 1905, IIIf.). Die Namen geben eine 122

Ahnung von dem, was die Galgenbrüder beschäftigte. Rabenaas Morgenstern war der Vereinsdichter, und er dichtete zum Gesang und u.a. zur Laute. Galgenbrüder – das war eine Gesellschaft gegen die Gesellschaft. Denn entweder w a r e n sie gehängt (wie das Titelblatt der »Galgenlieder« von 1905 anzeigt); oder sie waren zur Hängung v o r g e s e h e n . Daß sie dichteten, zur Laute sangen usw., genau das stellt die Galgenbrüder in eine groteske Situation. Und erst recht die lyrischen Produkte von Rabenaas Morgenstern. Zunächst landeten die Lieder im Cabaret, im »Überbrettl« von Ernst von Wolzogen und wurden dann, 1905, ins Buch gebracht: Der Kern von 17 Liedern wurde auf 42 erweitert (E. Kretschmer 1985, 79). Eins dieser Lieder lautet (sic) so: 123

Die Angabe (am Schluß) »Zur Laute« verweist auf den Text als gesungenes Lied, im Kreis der Galgenbrüder bzw. im Cabaret. In Anmerkungen aus dem Nachlaß spricht Morgenstern von »schlechte[n] deutsche[n] Formen«, und er führt hierzu »verdämmet, Kinde u.a.m.« auf (C. Morgenstern Bd. 3.1990, 303), sicher hätte er auch »das Hemmed« dazu rechnen können. Das ist eher ein ironischer Hinweis; denn es liegen historische »Formen« vor, die im Text als Archaismen fungieren. Auch die weiteren Hinweise Morgensterns folgen der ironischen Linie; das Lied wird in den Kreis der Galgenbrüder eingeschlossen und so interpretatorisch eingeengt: »Das Hemd eines Galgenbruders, das Sophie gewaschen und auf die Leine gehängt hat, draußen auf der Galgenwiese« (a.a.O., 302). Aber natürlich löst sich das Gedicht aus diesem aktuellen Kontext und gewinnt damit eine neue Dimension. Fünf gegeneinander abgesetzte Verse, vier mit einem »flüssigen« (also wechselnden) Lautrefrain bilden das karge Lied im unregelmäßigen, vorwiegend daktylisch bestimmten Versmaß. Das Gedicht gibt eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage, indem es vom Träger des Hemdes, vom Hemd auf der Leine und bildlich davon spricht, wie das Hemd abtropft (»es weint wie ein kleines Kinde«). Der fünfte Vers (ohne Refrain) zieht ein Resümee. 124

Die »gedehnte« Form Hemmed ist an das mittelhochdeutsche hemede angelehnt. Grimms Wörterbuch (1877, 980) belegt den Gebrauch noch aus dem 17. Jahrhundert: »dasz er ihme ein hemmet entfremdet habe.« Bei Morgenstern ist »das Hemmed« gleichfalls »entfremdet«, der es trug (also Präteritum), ist »baß«. d.h. ›sehr, wirklich‹ (vgl. baß erstaunt sein) »verdämmet« – auch hier liegt eine mittelhochdeutsche Form vor. Sie bedeutet hier ›erstickt‹ (vgl. M. Lexer Bd. 3.1878, 268). Morgenstern hat sich mit mittelhochdeutscher Sprache näher beschäftigt, u.a. Walthers Gedichte (Berlin 1906) »neu ausgewählt und durchgesehen«. Begleitet werden der erste und zweite Vers jeweils von einem einmal wiederholten Lautrefrain, der den Verbstamm flatter- mit der iterativen Lautfolge -tata verbindet und so die Lautmalerei und Bewegung, die sowohl flatter- wie -tata zum Ausdruck bringt, dem Text beigibt. Der dritte Vers verstärkt diese doppelte Richtung, indem durch lautmalerische Verben (knattern und rattern) die durch den Wind verursachte Bewegung h ö r b a r wird, nochmals verstärkt durch einen Lautrefrain, der das Substantiv Wind mit einem PhantasieSuffix -urudei (vielleicht inspiriert von Walthers tandaradei, vgl. C.Palm 1983, 54f.) zusammenfügt. Eine gleichsam schaurige Stimmung soll erzeugt werden. Im nächsten Vers (mit demselben Lautrefrain) wird die Personifizierung (a.a.O., 54) des Hemdes, das schon im ersten Vers das Prädikat einsam erhielt, vorangetrieben. Die Tropfen des Stoffes sind »wie« die Tränen eines kleinen Kindes – »windurudei«. Die Antwort auf die Eingangsfrage gibt der fünfte und letzte Vers. Das »einsame Hemmed« steht metonymisch für den, der das Hemd getragen hat und der »verdämmet«, also erstickt, ausgelöscht ist. Die Einsamkeit des Hemdes, das verloren im Wind flattert, knattert und rattert, steht für die des Toten. Er wird beweint von dem Hemd, das er getragen. Das Hemd steht nicht nur für den Toten, es erfüllt auch noch die Funktion der Trauernden. Es weint. »Das ist das einsame Hemmed«. Das letzte Hemd hat keine Taschen – vielfältig sind die Beziehungen, die zwischen dem Hemd und dem Tod geknüpft werden. »Das Hemmed«, mittelhochdeutsch verfremdet, holt die schaurige Stimmung der Galgenbrüder, ihr morbides Spiel ins Gedicht. Sie treiben mit Entsetzen Spott. Das einsame und weinende Hemd ist eine groteske Nummer: Morgenstern führt den Text in eine Enge, die nur im gegenstandsnachahmenden Lautrefrain sich weitet. Lapidarer, reduzierter ist kein Totengedicht (»Epitaph«) geschrieben worden – literarisches Sprechen versucht, sich selbst zu begrenzen. Die fabulöse Tierwelt der Galgenlieder darf nicht fehlen, will man Morgensterns Sprachgrotesken exemplarisch aufrufen. Die Tierwelt hat 125

zugleich märchenhafte Züge, sie ist vielfach der Wirklichkeit entfremdet. Nehmen wir dieses Gedicht:

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Schon der Titel ist erratisch. Elf, die maskuline Form der femininen Elfe, ist die seltenere und nur im älteren Deutsch belegte Form. Sie steht homonym zu der Zahl elf, und deshalb ist das Kompositum »Zwölf-Elf« besonders sperrig. Erst die erste Strophe gibt eine Erläuterung. Der ZwölfElf läutet, natürlich mit der linken Hand, die Mitternacht ein, zwölf Uhr nachts, es ist die Stunde der Geister. Und jetzt belebt sich die Natur, nennt man die Elfen doch auch Naturgeister. Auf jambischer Reimpaarbasis entfaltet sich ein Stationendrama: das Tiere aufruft, die einen seltenen (»Dommel ... im Rohr« statt Rohrdommel, vgl. Paul 2002, 228) oder seltsamen Namen haben (»der Schneck«, analog zu der Elf ) oder auch nur einen seltsamen Plural (»Maulwürf«); die durch Wortkomposition erst geschaffen werden (»Moorfrosch«, »Kartoffelmaus«, »Schluchtenhund« und »Mondschaf«). Zu den richtigen und den Wortbildungs-Tieren gesellen sich »Teich« und »Irrlicht«, beide animalisch belebt, der eine mit »offnem Mund«, das andere, indem es sich auf einem Ast ausruht. Und erst dann kommt der Homo sapiens ins Spiel. »Sophie, die [Henkers-]Maid, hat ein Gesicht« – also eine ›Vision, Erscheinung‹, die (ausgerechnet) das »Mondschaf« zum Hochgericht führt: Hinter der Absurdität verliert sich das menschliche Gesicht. Auch die Galgenbrüder, am Galgen verendet, sind nur Spielball der Natur (des Windes). Erst das »Kind« »im fernen Dorf« erinnert daran, daß der Mensch wirklich dazugehört; die »Maulwürf«, die sich, gerade weil sie nur Mäuler haben, »auf den Mund« küssen – so möchte man im Sinne des Verfassers formulieren –, konterkarieren diese »humane« Erinnerung, zeugen sie doch, »als Neuvermählte«, ganz sicher einen der ihren. Die Handlung – das Drama – wendet sich dann dem Zentrum der Mitternachtsfeier, dem »finstern Wald« zu: Der »Nachtmahr«, englisch nightmare, der das Alpdrücken, die Angst der Menschen im Schlaf verursacht, kommt, »Fäuste ballend«, ins Spiel, vermag allerdings den Wanderstrumpf, der metonymisch für den Nachtwanderer steht (und wohl auch eine Parallelbildung zu »Lederstrumpf« ist), nicht zu verführen. Der »Rabe Ralf« (wie könnte er »alliterativ« anders heißen) ist aufgerufen, das Ende mit seinen Mitteln einzuleiten: »Krah! / Das End ist da!« Offiziell besorgt dies der »Zwölf-Elf«, der durch die Senkung der linken Hand das Land wieder in den Schlaf schickt. Die Geisterstunde nach Mitternacht führt Mensch, Tier und animierte Natur zusammen. Der Elf setzt den zeitlichen Rahmen, der von zwölf Uhr (Mitternacht) bis »Krah!« dauert. Die Natur belebt sich mit ungewöhnlichen Kreaturen, von denen die im Wind wehenden Galgenbrüder (fast) alte Bekannte sind. 127

Hinter dem »Zwölf-Elf« steht übrigens statt des Einmaleins das »Simmaeins«, wie es im »Versuch einer Einleitung« der Galgenlieder heißt (›Siebenmaleins‹, gebildet wohl mit Bezug auf die magische Sieben). Auf die homonyme Struktur des »Zwölf-Elf« mit den »schaurigen Zahlen« (L. Spitzer 1918, 66) wurde schon verwiesen. Im Gedicht »Das Problem« (Galgenlieder 1905, 19) nimmt Morgenstern die fragwürdige Position des »Zwölf-Elf« auf, er wechselt vom »Koboldhaften ins Rein-Rechnerische« (a.a.O., 67): »Der Zwölf-Elf kam auf sein Problem / und sprach: Ich heiße unbequem. [Guten Morgen, Herr Unbequem!] / Als hieß’ ich etwa Drei-Vier / statt Sieben – Gott verzeih’ mir! // Und siehe da, der Zwölf-Elf nannt’ sich / von jenem Tag ab Dreiundzwanzig.« Damit hebt der Autor sein Gedicht »Zwölf-Elf« nachträglich auf: »Dreiundzwanzig« vernichtet den »Elf«, der um Mitternacht zu wirken beginnt – die Galgenlieder spotten dessen, was man, bürgerlich, den sicheren Besitz nennen könnte. Spitzer macht überdies darauf aufmerksam (a.a.O.), daß, zumal mit dem Raben Ralf, hier drei Mitglieder (Elf, Zwölf, Ralf ) der im Deutschen nicht sehr großen -lf-Familie (u.a. noch Schilf und Wolf ) versammelt sind. Rückläufige Wortbildung – das ist eine gemäße Sicht auf Morgensterns verquere Worte. Wenn Morgenstern die Tempora ins Spiel bringt, horchen Linguisten auf:

Diese Überschrift trägt die »semantische Dichte« (P. Blumenthal 1983, Titel) schon im Titel. In der Präposition unter sind (im Germanischen) ursprünglich zwei verschiedene Präpositionen zusammengefallen, die mit lat. inter ›zwischen‹ und dem Gegensatz von über wiederzugeben sind (Paul 2002, 1064). Diese beiden Bedeutungen bestimmen auch die Präposition im Gedicht. »Unter Zeiten« meint sowohl die Tempora, die linguistischen Zeiten, also ›zwischen den Tempora‹, wie auch ›unter den Zeitläuften‹, unter ihrer Herrschaft. 128

Z w i s c h e n den Tempora beginnt die Handlung. Die ›vollendete Gegenwart‹ (»Perfekt«) und die ›Vergangenheit‹ (»Imperfekt«) »tranken Sekt«: Der Verfasser blickt auf vergangene Ereignisse zurück. Handelnde sind, statt der Sekttrinker, ganz ungewöhnlich, die Tempora. Sie trinken auf das, was sie ›erreicht haben‹ und ›erreichten‹ und hoffen, das für die Zukunft (»Futurum«) zu sichern. Welche Komprimierung: Der Text orientiert auf die »Zeiten« und verallgemeinert zugleich dergestalt, als ob das eine übliche Bewegung sei. Dann betreten die »kritischen Zeiten« die Bühne. »Plusquamper«, als Kurzwort für ›Plusquamperfekt‹ eingeführt, möchte schon im Namen die Nähe zu »Perfekt« vermeiden. Und erst »Exaktfutur«, ›vollendete Zukunft‹ – was ist schon exakt in der Sprache und im Leben? Das »Exakt«-Futur. Diese beiden Spötter wissen, was die ›vollendete Vergangenheit‹ (Plusquamperfekt) wirklich war und wie die ›vollendete Zukunft‹ (»Exaktfutur«) einmal (gewesen) sein wird. Ihr Grinsen ist Ausdruck des Spotts über die Naivität ihrer Zeit-Genossen »Perfekt« und »Imperfekt«. So weist der Zusammenstoß der Tempora, der linguistischen Zeiten, auf die wirklichen Zeitläufte, unter denen (im Gegensatz zu über) der Mensch steht. Die »Zeiten« sind kategoriell, als Tempora, nicht berechenbar. Das mitleidlose Grinsen bringt das zum Ausdruck. Morgenstern hat in der Auflage der »Galgenlieder« von 1908 »grinsten« in »blinzten« geändert und dazu bemerkt: »Blinzen setze ich statt grinsen, weil »grinsen« für mich hier ein zu kaltes böses Wort ist« (C. Morgenstern Bd. 3. 1990, 652). Morgenstern entschärft sein Gedicht, die Vergeblichkeit wird durch blinzen, also ›zwinkern‹ ersetzt, das häufig ›Einverständnis‹ signalisiert (Paul 2002, 178). Übereinstimmend verkünden die »Zeiten« das Scheitern; die Beklemmung ist dennoch auch dieser verbindlicheren Fassung eingeschrieben. Am 14. Oktober 1906 notiert Morgenstern: »Ich bin Gelegenheitsdichter und nichts weiter« (ich erwähnte es schon). So steht es in dem von Margaretha Morgenstern 1918 (also postum) publizierten Aphorismenbuch »Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen«. Im Manuskript des Nachlasses findet sich im Anschluß hieran u.a. folgender Satz: »Ich bin der Gefangene der Lyrik« (C. Morgenstern Bd. 5. 1987, 499). Schon 1906, ein Jahr nach den »Galgenliedern«, erschien ein neuer Gedichtband des »Gelegenheitsdichters« und »Gefangenen der Lyrik«. Der Band trägt den Titel »Melancholie«, und er ist, um mit Franz Blei zu sprechen, wieder der Morgenstern (nach dem Abendstern der Galgenlieder). Das folgende Gedicht aus diesem Band ist sowohl ein Gelegenheitsgedicht 129

– es ist im Sommer 1905 an der Nordsee geschrieben – wie es auch den Titel der Sammlung entfaltet:

Ein eher sachlicher Titel läßt ein Naturgedicht erwarten. Dieses mutiert zu einem Stimmungsgedicht. Die beiden ersten Verse geben den »natürlichen« Befund, der allerdings schon eine Disposition zur Stimmung durch die Prädikate »still« und dessen Steigerung zu »totenstill« erhält. Im dritten Vers wendet sich die Perspektive eindeutig dem lyrischen Ich zu: »Trauer« und »Seele« sind, jeweils, menschliche Attribute. Die Trauer legt sich, weitergefaßt, wie der Nebel über die (ganze) Erde, die Trauer ist unbegrenzt – dadurch soll ihre Intensität gezeichnet werden. Im vierten Vers wird die »Seele« des lyrischen Ich angesprochen, dieser Vers hat deduktiven Charakter: Die Folge der »unendlichen« Trauer sei Schweigen und Traum. Im grammatischen Imperativ steht dieser letzte Vers, und er versteht sich als eine Ermahnung an die Seele. Der schwere und fallende Bewegung vermittelnde Trochäus der Verse und die das gesamte Gedicht durchlaufenden Anaphern verstärken die inhaltliche Aussage. »Nebel am Wattenmeer« – das ist nur die Ausgangslage, die zum Schweigen und Träumen der Seele führt. Im Jahre 1906 beginnt Morgenstern sein »Tagebuch eines Mystikers« (Stufen. 1918, 209 bis 249). Dort schreibt er zu Anfang, eben im Jahr 1906:

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»Schweigen«, »Zerflattern«, »Erstummen« – die zum Teil neuen Wortbildungen werden als eine Möglichkeit angesehen, zum Wesentlichen vorzudringen. Dazu gehört folgendes Gedicht aus »Melancholie«:

Nun wird Schweigen und Träumen nicht mehr aus melancholischen Stimmungen abgeleitet; vielmehr steht »Schweigen« programmatisch im Titel. Eine strukturelle Verwandtschaft ergibt sich mit »Nebel am Wattenmeer«. »Schweigen«, in der Verdoppelung angerufen und mit einer Interjektion eingeleitet, steht in Verbindung mit einem grammatischen Imperativ: Eine sehnsuchtsvolle Bitte eröffnet das Gedicht, die gestützt wird durch eine kausale (»da«) Begründung. Hier schließt sich ein weiterer Imperativ sowie ein sog. Adhortativ (lassen u. Infinitiv) an, die beide den ersehnten Eingriff des Schweigens mit Bezug auf die Rede des lyrischen Ich (»meine Rede«) nachzeichnen. Obgleich Schweigen erst einmal das Unterdrücken einer Sprechhandlung ist, breitet die erste Strophe ein sprachliches Handlungsgefüge aus, welches das Schweigen herbeiwünscht. Die zweite Strophe formuliert ein Versprechen (wiederum eine Sprechhandlung) unter der Voraussetzung der Erfüllung der Bitte: Schließlich soll Schweigen dann doch das Wort schenken, »das mir und andern frommt.« 131

Und die dritte Strophe eröffnet dann wieder mit einem Adhortativ, der das Schweigen anspricht und die Möglichkeit herbeisehnt, »ihnen [den Menschen] dieses eine tiefste [Wort zu] sagen« – um dann das Schweigen in die Wälder zu tragen und selbst als Person »wie ein Wild« zu »vergehn«. Das jambische Versmaß, die vierzeilige Strophe, der umarmende Reim, alles das bleibt unauffällig. Auffällig und dem Gedicht ein gewisses Pathos verleihend sind eher die drängenden Anrufe und die davon abhängigen Inhalte (»Ich will dich tragen, wohin niemand kommt«) sowie der Wortschatz, der das in Szene setzt. Es gibt eine gewisse superlativische Wortsemantik: Wiederholung (Schweigen, Schweigen; viele, viele); Sonder- und Extremwortschatz (O, einwärts sprossen; letzter Schluß; niemand; nur einmal; tiefste; vergehn). Sprache findet, über extreme Formen, zum Schweigen – nicht bevor das »tiefste Wort« gesagt wird. Damit wird eine neue Sprache aufgerufen, die, weil wohl doch unerreichbar, zum Schweigen und »Vergehn« führt. Morgensterns »Umwortung aller Worte« (Bd. 5. 1987, 147; parallel zu Nietzsches »Umwerthung aller Werthe«, KSA 6, 179) – ihre äußerste Konsequenz ist das Schweigen im Gang »in die Wälder«.

132

9.

Rückblick

Texte, auch und vor allem literarische, insbesondere lyrische, haben eine je subjektive Bedeutung, die durch eine Interpretation objektiv nicht zu erschließen ist. Ihr bleibt der Charakter des Entwurfs des s o möglichen Verständnisses, das sich nährt von Kenntnissen: der Sprache, ihrer Lautund Schriftstruktur, ihrer Grammatik, ihres Wortschatzes, ihrer Semantik und Pragmatik, ihrer literarischen Superstrukturen (Strophik, Rhythmus, Metrik, Reim, Alliteration), der Tradition, der gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte. Deshalb sind Interpretationen, auch literarisch-linguistische, nicht objektiv, sondern höchstens plausibel. Friedrich Nietzsche ist ein lyrischer Verwirrspieler. Er veröffentlicht Gedichte, auch in einer Zeitschrift, greift, die Texte verändernd, sie wieder auf und hängt sie an seine philosophischen Schriften an, die er zudem mit neuen Gedichten garniert. Die Gedichte nehmen also eine »komplementäre Position« (G. Colli 1980, 455) zum philosophischen Text ein – illustrieren ihn, spielen mit ihm, machen ihn scheinbar leicht. Und doch erhalten sie Gewicht, werden Logbücher der »Luft-Schifffahrer des Geistes« – »diese kühnen Vögel, die in’s Weite, Weiteste hinausfliegen ...« (»Morgenröthe« KSA 3, 331). Und kurz vor seinem Übertritt ins Reich der Träume hinterläßt Nietzsche ein lyrisches Dokument als Vermächtnis, dem er den Titel »Dionysos-Dithyramben« gibt und deren erste den erratischen Titel »Nur Narr! Nur Dichter!« trägt. Friedrich Nietzsche gibt die Sprache frei, er löst sie, sprachtheoretisch und sprachphilosophisch argumentierend, aus Fesseln, die sie an die »vorgestellte« Wirklichkeit bindet. Damit löst er sie auch aus historischen und gesellschaftlichen Bindungen und stellt sie zur Disposition: als literarisches, stilistisch akzentuiertes Sprachspiel – S p r a c h e a l s K u n s t . Instabile Semantik, verstellte Syntax und kommunikative Akzentuierung legen sich über die Gedichte, »Wiederholung und Plötzlichkeit« (Görner 2000, 244) werden ein Kennzeichen der Lyrik. Die Doppelrollen, die die »neue Seele« (»als die er sich selbst schrieb und erträumte«, Detering 2007, 925) spielt – Dichter und Philosoph, Künstler und Kunstkritiker, Rhetor und Prediger –, machen seine Gedichte zu einer faszinierenden Textur: Sie spiegeln 133

wider, daß hier einer spricht, der rhetorisiert, also Wirkung erzeugen will; der wiederholt, abwandelt, akzentuiert, jählings überrascht, auch durch neue lexikalische Bildungen und grammatische Provokationen, insgesamt: der »Kunst des Stils« (»Ecce homo« KSA 6, 304) verpflichtet ist. Nietzsche sieht auf die Sprache als ästhetische Form und steht so gegen den Glauben an die Grammatik (KSA 6, 78), setzt auf die Sprache als Spiel und Stil. »Das Erste, was noth tut, ist Leben. Der Stil soll l e b e n «, schreibt er am Anfang einer längeren Notiz zur »Stillehre« mit dem Zusatz »Einen guten Morgen, meine liebe Lou!« (KSA 10, 38). Ein Liebesbrief (Görner 2000, 183) als Stillehre – der Stil lebt. Die naturalistische Linie von Arno Holz stößt in der Lyrik schnell an eine Grenze. Das naturalistische Programm, das die »Natur« nie ganz in den Text einholen kann, wird in seinen Gedichten (und den ihnen zugeordneten theoretischen Bemerkungen) zu einer Partitur der Sprache zur Darstellung der Natur. Somit wendet sich die Aufmerksamkeit, unversehens, der Sprache und ihrem Zuschnitt zu. Die Partitur – ohne Reim und Strophen, mit natürlichem, nicht durch Versmaße eingeengten Rhythmus und einem auf Mittelachse geschriebenen Text – ist Holz’ »Revolutionierung«. Sie betrifft weniger die »Natur« als die lyrische Form und ihre Sprache. Hier liegt eine Spur der Moderne, die Holz unter den Begriff ›W o r t k u n s t ‹ faßt. Sie strebt danach, das traditionelle Gedicht sich selbst zu entfremden und in die sprachliche Partitur auch eine breite Fülle des Wortschatzes einzuholen, dem er z.B. auch Berliner Umgangssprache und Offiziersjargon zurechnet. In immer neuen Anläufen versucht Holz, sprachlich detaillierend, sein Programm zu erfüllen. Heißenbüttel spricht von »vokabulärer Verwandlungskunst« (s.o. S. 62), die sich u.a. im Synonymenrausch seines »Phantasus« zeigt. Phantasie ist ›schöpferische Einbildungskraft‹ – die Natur ist ihr über die Sprache freigegeben. »Eigne Namen« – Stefan George schafft sich in Jugendjahren Eigensprachen, die den schöpferischen Eigensinn herausstellen und zugleich die unheilige Menge ausschließen sollen. Die letzte Sprache der drei Versuche, die »lingua romana«, dient gar der poetischen Produktion. Doch sie ist künstlich, George bricht die Versuche ab. Seine intensive Kenntnis der europäischen Kultursprachen läßt ihn die Vergeblichkeit dieser Sprachexperimente erkennen. Übersetzungen, nein Umdichtungen führen ihn in die Moderne, die er durch den Terminus und Begriff »l i t e r a t u r s p r a c h e « bereichert. Das ist »seine« Sprache, keine Eigensprache, sondern eine Spielform literarischer Tradition, die diese verdeckt, beiseiteschiebt. Seine Syntax ist nominal, komprimiert, widerspenstig, die Semantik elitär, von den Rändern der Wortfelder lebend und hochgradig ambig, die lautliche 134

Basis streng kalkuliert. Gleichermaßen ist die Stefan-George-Schrift mit eigenwilliger Interpunktion eine Schrift, die der »Meister« nach Vorgaben entwickelt, ja bastelt, und die sich, umgesetzt in eine entsprechende Druckfassung, über das Werk legt. »George (vertraut) auf die Materialität der Sprache«, schreibt H. Heißenbüttel (2007, 418). Wo sie sich in Merkverse auflöst, sich im Gebrauch verflüchtigt, flieht auch George die Sprache. Er nimmt sie ganz, stellt das Unerwartete nebeneinander und das Archaische und Fluktuierende heraus. George sucht den Widerstand in der Sprache, »literatur sprache« ist ihm ein Vorwurf, dem nachzukommen den Einsatz der eigenen Existenz lohnt. Die Welt wird über das Wort neu erschaffen – im lyrischen Text. Das traditionelle sprachliche Begriffsgehäuse bleibt hinter der Literatursprache zurück, sie ist die Grundlage für »des sehers wort«. Rainer Maria Rilke stürzt sich in die Literatur, um das Leben in Liedern aufgehen zu lassen, V e r w a n d l u n g i n W o r t e heißt das Programm. Erst auf dem Weg seines Studien- und Bildungsgangs wird ihm Sprache zum Problem. Er lernt die »leisen Worte« von seiner Geliebten, er schaut auf die »armen Worte«, die er im Gedicht wandeln möchte, kurz: Er versichert sich des »primären Materials« (Görner 2004, 24) der Sprache. Rilke nimmt die geläufige Sprachskepsis auf, ja in Anspruch, die die Sicherheit begrifflichen Sprechens in Frage stellt und den Dichter als Sinnstifter sucht, ihn ermächtigt, der verbrauchten Sprache die der Literatur, s e i n e r Literatur entgegenzustellen. Rilkes Begriff ›Schönheitssprache‹ läßt ahnen, daß die »Wortmauern« zwar erkannt, aber nicht wirklich überstiegen werden. Eine neue Qualität literarischer Sprache erschließt sich Rilke im Umgang mit zeitgenössischer Malerei und bildender Kunst: Rilke spricht von »eigene[r] Sprache. Es i s t nicht ohne sie« (Rilke 1903, 46). Eine »Schule des Sehens«, des Schauens wird ihm zuteil; die Empirie der Kunst treibt die Imagination hervor. »Neue Gedichte« ist der Titel der Sammlung, die Rilke auf eine höhere Stufe hebt. Vorbereitet durch das »Buch der Bilder« ist ein Rilke-Ton zu vernehmen, der die »Dinge« über das Sentiment stellt, ein Ton, dem wirklich Verwandlung und »Umschlag« eignen, die sich in der Sprache, im lyrischen Text zeigen. Literarische Sprache wird zum Wachs in den Händen des Dichters. Sie wird Funktion des Wesens der Dinge. Nietzsches Artistentum steht, zumindest nominell, über dem Werk Morgensterns: »Dem Geist Friedrich Nietzsches« (Widmung im ersten Gedichtband) fühlt sich der Autor verpflichtet. M o r g e n stern – das sind die Gedichte bei Tag, die z.B. den nordischen Sommer und seine hellen Nächte preisen oder seine Geliebte »kunstvoll« anrufen. Und doch ist 135

auch der A b e n d stern dem beigegeben, bergen doch auch die Taggedichte Dunkles, die Ordnung Verkehrendes, wenn sie Tod und Trinker zusammenführen und die Lücke, die der Tod reißt, auch im Gedicht kenntlich machen. »Erst das Wort reißt Klüfte auf, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Sprache ist in unsere termini zerklüftete Wirklichkeit« (C. Morgenstern 1918, 90; vgl. H. Henne 2006, 410). Die Kinderlieder, die den Gedichten untergemischt sind, deformieren die Kategorie z.B. dadurch, daß Erotik und Sexuelles untergründig aufleuchten, »zerklüftete Wirklichkeit« ans Tageslicht kommt. Morgenstern, das ist auch der Abendstern, fügt zusammen, was nicht zusammengehört, er verkehrt die Ordnung durch eine anspielungsreiche, »schielende« Sprache, die die vorgegebenen W o r t e u m w o r t e t . Vollends sind die Galgenbrüder und ihr Vereinsdichter dem Grotesken hingegeben: Sie nehmen zusammen, was sich widerspricht und doch für sich spricht. Daß »M a u l würf« (Plural) sich auf den M u n d küssen, ist zweifach verwunderlich (daß Maulwürfe überhaupt und dann auf den Mund küssen) und doch nicht unverständlich. Die sprachliche Dekonstruktion der Welt erfolgt in der Lyrik, die den Leser unterhält und die Welt (und damit den Leser) bloßstellt. Letzte Wahrheit vermag auch die umgewortete Sprache nicht zu bieten; Wahrheit liegt in einem Bereich, der in das Schweigen führt – der Gelegenheitsdichter entzieht sich bei Gelegenheit selbst seine Lizenz. Insgesamt: Sprach-Spuren zeichnen das Werk der Dichter. In den Überschriften der Kapitel werden sie, generalisierend, benannt. Weiter geführt, verändert, destruiert, je unterschiedlich, werden sie in der Folge. Die literatursprachliche Moderne ist ein v a r i a b l e s Ensemble neuer Spuren, die aus den alten herausführen. Dieser Prozeß nachdrücklicher Wandlung sichert der Moderne ihre Dauer; daß sie in der Postmoderne gar konterkariert wird, ist Ausweis ihrer Überlebensfähigkeit. Überdies: Die sprachliche Moderne ist mehr als die der literarischen Sprache. Die Moderne greift über auf standard- und wissenschaftssprachliche Bereiche. Diesen ›Übergriff‹ nachzuzeichnen, ist der Sprachgeschichte vorbehalten (vgl. P. v. Polenz 1999). Es bedürfte zudem, explizit, einer Theorie, die das »dialogische Verhältnis von Literatur-, Sprach- und ›allgemeiner Geschichte‹« (J. Eckhoff 1999, 16) herstellt. »Nietzsche-Linie und Duden-Linie« (H. Henne 1996, 31) – das ist nur ein Hinweis, der zu substantiieren wäre. Fünf Sprach-Konzepte der literarischen Moderne um 1900 – sie ist eben ein vielgestaltiges Unternehmen, das sich zudem im Werk der Dichter individualisiert. Zuweilen übersehen und hier hervorzuheben: Die Dichter bringen i h r e Sprache, i h r individuelles Sprechen in die Literatur ein 136

(G. Objartel 2001, 305 ff.) – im Kontext ihrer Poetologie und Reflexion, der sozialen und kulturellen Situation. Indem sie überdies eine sprachliche Kunstform anstreben, eben Gedichte veröffentlichen, stellt sich ihr Text der Rezeption, die in die Öffentlichkeit führt und den Text den Lesern aussetzt. Und das heißt auch: einem allgemeinen Verständnis. Nunmehr wird der Text Teil der Tradition und Innovation, er stellt sich dem Vergleich und wird der literarischen Wertung unterworfen. Mein Versuch konnte Gedichttexte nur in Auswahl aufnehmen; das ermöglichte zugleich den Blick auf unterschiedliche Entwürfe. Die Gedichte reichen vom Anfang der 80er Jahre des 19. bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Innerhalb dieses Zeitraums entfaltet sich die literarische Moderne. Die Auswahl der Gedichte wurde gesteuert durch die literarische Bedeutung der Protagonisten. ›Erste Kämpfer‹, so die wörtliche Übersetzung des Fremdworts, waren sie allemal.

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10. Literaturverzeichnis

10.1 Gedichte in der Reihenfolge ihrer Interpretation Arno Holz, Programm. In: Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich 1886 Gottfried Benn, Kleine Aster In: Morgue und andere Gedichte. Berlin-Wilmersdorf 1912 Württembergische Landesbibliothek, Sign. 44a 90016 Friedrich Nietzsche, Vogel Albatross In: Idyllen aus Messina. In: Internationale Monatsschrift 1.1882 Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign. C 835 Friedrich Nietzsche, Liebeserklärung In: Die fröhliche Wissenschaft. Neue Ausgabe mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei. Leipzig 1887 Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. G 3500-9201 Friedrich Nietzsche, Wählerischer Geschmack. In: Die fröhliche Wissenschaft. Chemnitz 1882 Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. G 3500-17325 Friedrich Nietzsche, Für Tänzer. In: Die fröhliche Wissenschaft. Chemnitz 1882 Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. G 3500-17325 Friedrich Nietzsche, Niedergang. In: Die fröhliche Wissenschaft. Chemnitz 1882 Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. G 3500-17325 Friedrich Nietzsche, Sils-Maria. In: Die fröhliche Wissenschaft. Neue Ausgabe mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei. Leipzig 1887 Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. G 3500-9201 Friedrich Nietzsche, Nur Narr! Nur Dichter! Am 1. Januar 1889 zur Veröffentlichung bestimmt. Ich übernehme das Manuskript des Autors (mit freundlicher Genehmigung des Goethe- und Schiller-Archivs, GSA 71/31, Foto: Klassik Stiftung Weimar) nach der Vorlage von W. Groddeck sowie dessen Druckfassung (siehe Literatur) Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. 31 A 7294 Friedrich Nietzsche, »An der Brücke stand ...« In: Ecce homo. Wie man wird, was man ist. Leipzig 1889 (nicht erschienen). Erstdruck Leipzig 1908 Universitätsbibliothek Heidelberg, Sign. KD 658

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Arno Holz, Unser Wortschatz. In: Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich 1886 Arno Holz, »Ihr Dach stieß fast bis an die Sterne, …« In: Phantasus! In: Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich 1886 Arno Holz, »Nacht« In: Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zweite, vermehrte Auflage. Berlin 1892 Arno Holz, »Im Thiergarten, auf einer Bank ...« In: Phantasus. Berlin 1898. Erstes Heft Arno Holz, »Lachend in die Siegesallee ...« In: Phantasus. Berlin 1898. Erstes Heft Charles Baudelaire, Correspondances In: Les Fleurs du Mal. Paris 1861 Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau, Exemplar NB 1/1202 Stefan George, Einklänge In: Charles Baudelaire’s Blumen des Bösen umgedichtet von Stefan George. [Berlin 1891] Stefan-George-Archiv, Stuttgart Stefan George, Wechsel In: Die Fibel. Auswahl erster Verse. Berlin 1901 Stefan George, Weihe In: Hymnen. Berlin 1890 Württembergische Landesbibliothek, Sign. A 29/330 Stefan George, Weihe In: Hymnen · Pilgerfahrten · Algabal. Berlin 1928 (Gesamt-Ausgabe der Werke. Bd. 2) Fakultätsbibliothek Neuphilologie, Universität Tübingen, Sign. Germ Sg 120/5 Stefan George, »Des sehers wort ist wenigen gemeinsam: ...« In: Das Jahr der Seele. Berlin 1897 Württembergische Landesbibliothek, Sign. A29c-73 Stefan George, Traum und Tod In: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod, mit einem Vorspiel. Berlin 1899 Württembergische Landesbibliothek, Sign. RA 20 Geo1 René Maria Rilke, Vorbei. In: Leben und Lieder. Bilder und Tagebuchblätter. Strassburg i.E. und Leipzig [1894] (Nachdrucke aus den Beständen der Staatsbibliothek Berlin. Bd. 1) Rainer Maria Rilke, »Ob auch die Stunden uns wieder entfernen ...« In: Dir zur Feier. Sämtliche Werke. Hrsg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit R. Sieber-Rilke besorgt durch E. Zinn. Bd. 3. Wiesbaden 1959 Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. Kf IV 793

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Rainer Maria Rilke, »Leise hör ich dich rufen ...« In: Dir zur Feier. Sämtliche Werke. Hrsg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit R. Sieber-Rilke besorgt durch E. Zinn. Bd. 3. Wiesbaden 1959 Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. Kf IV 793 Rainer Maria Rilke, »Ich bin so still, du Traute ...« In: Dir zur Feier. Sämtliche Werke. Hrsg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit R. Sieber-Rilke besorgt durch E. Zinn. Bd. 3. Wiesbaden 1959 Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. Kf IV 793 Rainer Maria Rilke, »Die armen Worte, die im Alltag darben, ...« In: Mir zur Feier. Berlin 1899 Rainer Maria Rilke, »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. ...« In: Mir zur Feier. Berlin 1899 Rainer Maria Rilke, »Oft fühl ich in scheuen Schauern, ...« In: Mir zur Feier. Berlin 1899 Rainer Maria Rilke, »Wenn längst der letzte Laut verdorrte, ...« In: Tagebücher aus der Frühzeit. Hrsg. von R. Sieber-Rilke u. C. Sieber. Leipzig 1942 Rainer Maria Rilke, »Ich bete wieder, du Erlauchter, ...« In: Das Stundenbuch enthaltend die drei Bücher: Vom moenchischen Leben, Von der Pilgerschaft, Von der Armuth und vom Tode. Leipzig 1905 Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. Dk XI 4409 Rainer Maria Rilke, »Sie lasen selten; ...« In: Das Stundenbuch enthaltend die drei Bücher: Vom moenchischen Leben, Von der Pilgerschaft, Von der Armuth und vom Tode. Leipzig 1905 Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. Dk XI 4409 Rainer Maria Rilke, »O alter Fluch der Dichter, ...« In: Requiem. Leipzig 1909 Universitätsbibliothek des Saarlandes, Sign. 75-99 Rainer Maria Rilke, Fortschritt In: Das Buch der Bilder. Berlin [1902] Rainer Maria Rilke, Abschied In: Neue Gedichte. Leipzig 1907 Christian Morgenstern, Mondaufgang. In: In Phanta’s Schloss. Ein Cyklus humoristisch-phantastischer Dichtungen. Berlin 1895 Christian Morgenstern, »Wie mir der Abend das Grün der feiernden Tannen vergoldet ...« In: Ein Sommer. Verse. Berlin 1900 Christian Morgenstern, Der Tod und der einsame Trinker. Eine Mitternachtscene. In: Auf vielen Wegen. Gedichte mit einer Umschlagzeichnung von Friedrich Beblo. Berlin 1897

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Christian Morgenstern, ›Dich.‹ In: Ein Sommer. Verse. Berlin 1900 Christian Morgenstern, Elbenreigen. In: Auf vielen Wegen. Gedichte. Mit einer Umschlagzeichnung von Friedrich Beblo. Berlin 1897 Christian Morgenstern, Elbenreigen In: Klein Irmchen. Ein Kinderliederbuch von C. Morgenstern und J.L.Gampp. Berlin 1931 Christian Morgenstern, Das Hemmed. In: Galgenlieder. Berlin 1905 ULB Düsseldorf, Sign. 19 ger/b5471 Christian Morgenstern, Der Zwölf-Elf. In: Galgenlieder. Berlin 1905 ULB Düsseldorf, Sign. 19 ger/b5471 Christian Morgenstern, Unter Zeiten. In: Galgenlieder. Berlin 1905 ULB Düsseldorf, Sign. 19 ger/b5471 Christian Morgenstern, Nebel am Wattenmeer. In: Melancholie. Neue Gedichte. Berlin 1906 Christian Morgenstern, Schweigen. In: Melancholie. Neue Gedichte. Berlin 1906

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