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German Pages 411 [412] Year 2006
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Conrad Wiedemann
Band 180
Sabine Schneider
Verheißung der Bilder Das andere Medium in der Literatur um 1900
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-13 978-3-484-18180-9 ISBN-10: 3-484-18180-X
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Christian Naser, Würzburg Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt Einleitung I.
II.
Bildverheißung: Poetologische Konsequenzen medialer Grenzgängigkeit
9
Sprachdramen: Schwellen/Dämme (Der >Brief< des Lord Chandos) Die literarische Verheißung der Bilder: Mediale Herausforderung an die Sprache Ikonische Wende: Die Rückkehr der Bilder Semiotische Experimente und Bildobsessionen: Zum Beispiel >Elektra< Vernetzungen: Innere und äußere Bilder Peripherisches Sehen und hypnagoge Bilder Starre Blicke: Kreativer Schwindel Limesgestalten: Literatur und Wissen oder das Bildwissen der Literatur Verwischte Grenzen: Poetik des Übergänglichen
48 50
»Vor Cezanne, vor Van Gogh zu lernen« — Die Faszination des anderen Mediums
59
Pathos der stummen Dinge Blendung und Epiphanie: Das Erlebnis des Sehens Der Weltzweifel und die »kolossale Wirklichkeit« der Bilder Klaffende Augen: Subjektlose Blicke und das Glück der Verschmelzung »Wendung« zum Material III.
1
9 20 26 29 36 39 43
59 67 . . 74 85 94
Über Bilder schreiben: Die Mediendifferenz als Problem der Kunstphilosophie und der literarischen Kunstkritik . . . .
109
1. »Unvereinbarkeit zweier Kunstwelten« — Mediale Ausdifferenzierung in der Kunsttheorie der Moderne
109
Das Schweigen des Bildes und die Fremdheit der Sprache Sprachlose Sichtbarkeit: Konrad Fiedlers dissoziative Anthropologie und ihre Aporien Das Bild als das Andere der Sprache: Julius Meier-Graefe und die »Reinigung der Mittel«
.
109 120 131 V
Die Sprache als das Andere des Bildes: Fiedlers Konzept der Ausdruckssprache und Theodor A. Meyers >Stilgesetz der Poesie
GiocondaDer Tod des Tizian
Farbenlehre< Pathos der Farben: >Die Briefe des Zurückgekehrten* . . . Farben, Brüder der Schmerzen - An den Grenzen des Körpers
VI
175 186 190 194 197 202 202 208 213 218 228
3. »In einem Jenseits von Farbe« — Die Farben, die Dinge und die Wörter in Rilkes >Neuen Gedichten< und den >Briefen über Cezanne
Briefe über CezanneBlaue HortensieDas Karussell·
232 248 257 264 276
. .
V.
Evidenz im Verworrenen: Poetik des Visionären
283
1. Das doppelte Gesicht der Dinge: Die inneren Bilder und die Schrift bei Hofmannsthal und Musil
283
»... in einer fliegenden vagen Bildersprache« — Bild und Schrift in Hofmannsthals allegorischer Novelette >Das Glück am Weg< Der >bunte Glanz< der Bilder und der >Aschenregen< der Schrift — Törleß' >Verwirrungen< Flimmernde Bilder: Die Medienmetapher des Kinematographen und die Kino-Ästhetik Musils und Hofmannsthals
283 294
308
2. Anthropologie der inneren Bilder: Eine physiologische Diskussion mit poetologischer Relevanz
323
Endogene Bilder des Bewusstseins: Neuronale Bildprojektion, >unbewusste Schlüssen >Logik des Traums< (Helmholtz, Tylor, Nietzsche) . . . . An der Schwelle zur Bedeutung: Hypnagoge Bilder . . . .
323 330
3. Helldunkel - Elektras Schattenbilder oder die Grenzen der semiotischen Utopie »Leibhaftige Zeichen«? — Eine semiologische Lesart der >Elektra< Gleißende Schatten: Die Lichtregie visionärer Überschreitung (>ElektraBildwissenschaften< als »ikonische Wende< im Verhältnis zwischen dem kulturellen Leitmedium der Schrift und der Konkurrenz der Bilder beschrieben worden ist.1 Die verschiedenen »Entwürfe für eine Bildwissenschaft« 2 aus den Bereichen der Kunstwissenschaft, der Medienwissenschaft, der »neuronalen Ästhetik« 3 und der phänomenologischen Philosophie 4 haben es in den letzten Jahren unternommen, den Begriff des Bildes aus seiner jeweils ganz unterschiedlichen Verankerung in den akademischen Disziplinen herauszulösen und im interdisziplinären Dialog als kulturelles Grundphänomen zu konturieren. »Was ist ein Bild?« ist sicher eine der am häufigsten gestellten und produktivsten kulturwissenschaftlichen Fragen des letzten Jahrzehnts, bedingt durch die Diagnose einer Medienrevolution, die der Schrift im medialen Wandel einen veränderten Status zuweist. 5 Zugleich ist sie jedoch eine der kulturwissenschaftlichen Fragestellungen, bei der die Interdisziplinarität Gefahr läuft, letztlich einer Logik des kleinsten gemeinsamen Nenners zu verfallen. So haben sich abstrakte Schematisierungen wenig hilfreich erwiesen, wie sie etwa W.J.T. Mitchell vorgelegt hat, wenn als deren Quersumme die Attribute »Bild, Ähnlichkeit, Ebenbild« übrig bleiben. 6 Für die Literaturwissenschaft birgt die kultur- und mediengeschichtliche Diskussion um die Bilder eine Herausforderung, die ihr die Chance zu me1
So an prominenter Stelle von Gottfried Boehm: Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München: Fink (Hg.): Iconic Turn. D i e neue Macht der Bilder, 2. bara Naumann (Hg.): Bilder-Denken: Bildlichkeit Fink 2004.
2
So der Untertitel der Studie von Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bild Wissenschaft, München: Fink 2001. Z.B. die Forschungen von Olaf Breidbach: Das Anschauliche oder über die Anschauung von Welt. Ein Beitrag zur Neuronalen Ästhetik, Wien, N e w York: Springer 1997. Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek: Rowohlt 1997; ders.: Phänomene im Bild, München: Fink
3
4
Die Wiederkehr der Bilder. In: 1994, S. 11-38; Christina Maar Aufl. Köln: D u m o n t 2004; Barund Argumentation, München:
2000. 5
Vgl. William J. Thomas Mitchell: Was ist ein Bild? In: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 17-68; Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?
s
Mitchell, Was ist ein Bild?, S. 20.
1
thodischer Selbstbesinnung im Feld der Kulturwissenschaften bietet. Ihr genuiner Beitrag zur Frage nach dem Bild kann dabei - so paradox es klingen mag - nur über ihre Kompetenz als Textwissenschaft erfolgen. Die ikonische Wende in der Moderne - von dieser Grundüberzeugung ist die vorliegende Arbeit geleitet — ist nicht eine Verdrängung der Literatur durch die Bilder, sondern ein Katalysator fur mediale und semiotische Reflexivität in der modernen Literatur. Es wird zu zeigen sein, dass sie in einer Konstellation zwischen theoretischen Bilddiskursen und dem spezifischen Bildwissen der Literatur literarisch produktiv zu werden vermag und in einem Innovationsschub neue literarische Strategien hervortreibt. Die Reaktion der literarischen Konzepte auf die Konkurrenz und zugleich die >Verheißung der Bilden kann geradezu als ein konstitutives Kriterium der literarischen Moderne gelten. Die historischen Voraussetzungen dieser Konstellation hat die Semiotisierung und mediale Ausdifferenzierung der Künste seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts geschaffen, fxir die Lessings >Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie* nur ein besonders prägnantes Beispiel ist. Das Bewusstsein von der jeweiligen medialen Eigenart tritt an die Stelle einer gemeinsamen ontologischen Referenz, die Künste scheinen aufgrund ihrer unterschiedlichen Medialität nicht mehr ineinander übersetzbar. Am Ende des 19. Jahrhunderts wird diese Medienkonkurrenz in der Kunsttheorie als >Reinigung der Mittel· verhandelt, welche die Sphären des Sichtbaren und des Sprachlichen radikal trennen will. Die komplementäre Bewegung zu diesem Auseinanderdriften von Bild und Sprache erfolgt in der charakteristischen Transgressionslust zwischen den Medien, die der Kunstkritiker Walter Pater das »Anders-Streben« der Künste nennt.7 Es entspricht der neueren Auffassung der Moderne als einer Makroepoche seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, dass der schon seit 1800 konstatierten Krise der Repräsentation eine auffällige Konjunktur von Bildern in der Literatur korrespondiert. Dieser Entsprechung zwischen Sprachkrise und Bilderkonjunktur in der Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert hat sich die germanistische Forschung der letzten Jahre verstärkt zugewandt — unter den Paradigmen eines »visuelle[n] Gedächtnis[ses] der Literatur« etwa,8 einer Konjunktion von »Bildersturm und Bilderflut«9 oder im Namen literarischer Ekphrasis.10 Freilich kommt auch dieses intermediale Interesse der LiteraturwisWalter Pater: The Renaissance. Studies in Art and Poetry, London, New York: Macmillan and Co 1900, Kap. T h e School of GiorgioneBenvenuto Cellini< von Goethe, G W R u A I I I , S. 468. Die Stelle bezieht sich auf II, 13 in Goethes Übersetzung der Vita. Sartre, Das Imaginäre, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 6 4 - 6 7 . Mauervisionen bei Johannes Müller, Phantastische Gesichtserscheinungen, § 79, S. 125, Cellinis Vision § 107, S. 142. Mach, Analyse der Empfindungen, S. 84, Anm. 43.
Es ist zugleich ein auf Leonardo da Vinci zurückgehender Topos der künstlerischen Inspirationslehre aus visuellen Impulsen vager, schwachbestimmter Formen, der um 1900 in Wahrnehmungspsychologie und Gestalttheorie wieder aufgegriffen wird. Sowohl Helmholtz als auch Mach gehen auf Leonardos Empfehlung im sogenannten >Malerbuch< ein, durch das Starren auf Mauerflecken die Phantasie zum Fortzeugen des Gesehenen zu stimulieren.159 Hofmannsthal setzt sich immer wieder mit diesem Inspirationsmodell Leonardos auseinander und knüpft sprachschöpferische Überlegungen daran.160 Das Starren auf die leere Mauer als gleichsam cineastischer Projektionsschirm visueller Imagination ist ein wiederkehrendes Thema seiner Texte - gleichsam ein mythe personnel. Brennender noch wird dieser Mauerblick dadurch, dass er ihn an eine Kerkermauer bannt. Das »gefangene Bewußtsein«, wie Sartre das Fasziniertsein von den erscheinenden Konfigurationen nennt, wird in diesen Kerkervisionen visualisiert.161 So hat der Reisende in den >Briefen des Zurückgekehrtens eingesperrt in seinen Verschlag, an der Schwelle von Leben und Tod, auf die gelbgraue Wand aus Büffelmist gestarrt und das Leben dieses Farbenspiels als wirklicher erfahren, als es die scheinbar so sichere Welt der Gegenstände für ihn sein konnte.162 Und auch in der >Bühne als Traumbild< steht im Zentrum einer Ästhetik, welche »das unerschöpfliche Spiel des Lichts« zu imaginativen Formzeugungen nutzen will, das Tableau eines Kerkerblicks. »Das schöpferische Auge«, welches »ein Bild schaffen [müsse], auf dem nicht fußbreit ohne Bedeutung ist«, wird im tagträumenden Auge eines Sträflings vorgestellt, der auf die Mauer des Gefängnishofs »hinüberstarrt«: U n d er, der hinüberstarrt, geschmiedet in Ketten oder gebäumt auf seinem Sterbekissen, er hat an dem Farbewechseln jener getünchten Wand mehr Herrlichkeit als zehntausend Gesunde, die von Waldesklippen die Sonne sinken sehen und Bucht und Tal aufglühen sehen in Purpur, Gelb und versinken in Nacht. 1 6 3
159
Hermann Helmholtz: Handbuch der physiologischen Optik, Leipzig: Leopold Voss 1867, S. 307f., S. 4 2 6 ; Mach, Analyse der Empfindungen, S. 84f., Anm. 44. Zur Leonardo-Renaissance um 1900 vgl. Ingrid und Günther Oesterle: Der Imaginationsreiz der Flecken von Leonardo da Vinci bis Peter Rühmkorf. In: Dieter Borchmeyer (Hg.): Signaturen der Gegenwartsliteratur. Festschrift fiir Walter Hinderer, Würzburg: Königshausen & N e u m a n n 1999, S. 2 1 3 - 2 3 8 .
160
Vgl. die Notizen unter dem Titel .Rodauner Anfänge«, S W X X X I , S. 1 2 6 - 1 3 4 , S. 3 9 2 - 3 9 9 . Sartre, Das Imaginäre, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 78f.: »Dieses Bewußtsein ist aber selbstverständlich nicht Gefangener der Objekte, sondern Gefangener seiner selbst. [...] wir betrachten die hypnagogische Vorstellung nicht, wir sind durch sie fasziniert.« Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W X X X I , S. 167. H u g o von Hofmannsthal: Die Bühne als Traumbild (1903), G W RuA I, S. 4 9 2 .
161
162 163
47
Limesgestalten: Literatur und Wissen oder das Bildwissen der Literatur Visuelle Schwindelerfahrungen, Agnosie und Aphasie, halluzinatorische Überblendung und ekstatische Grenzüberschreitung, Auflösung der Gestalt zu sensorischer Reizüberflutung, Reiz- und Aufmerksamkeitsschwellen, die »Enge des Bewusstseins< und die inkommensurable Fülle der Welt - das Bildwissen der Literatur ist mit den Wissensdiskursen des Umfelds durch ähnliche Problemstellungen verbunden. Das lässt sich auch metaphorologisch belegen. Die Leitmetaphern der Verflüssigung und Gerinnung, des Aufquellens und Versiegens, des Stroms und der hitzigen oder wiedererstarrenden Flüssigkeiten, des Mahlstroms und des Wirbels, der erleuchteten Augenblicke und hellen Plötzlichkeiten strukturieren auch die Bildtheorien der Wahrnehmungsphysiologie, der Phänomenologie, der Kulturanthropologie, der Sprachphilosophie und der Kunsttheorie, die >Sichtbarkeitsgebilde< zu ihrem Gegenstand macht. Grundsätzliches steht in einer Anthropologie und Semiotik der Bilder auf dem Spiel, letztlich die Frage nach dem symbolisierenden Wesen des Menschen zwischen Bemächtigungsgestus und einer Ohnmacht, die zugleich das Glück der Entlastung von Bedeutung verspricht. Das Sprachproblem in der Spannung von Bild und Bedeutung teilt die selbstreflexiv gewordene Literatur mit der Phänomenologie und ihrer Suche nach einer >Schmiegsamkeit< der Sprache ebenso wie mit der Kunstkritik, die sich mit der medialen Übersetzung herumschlägt, wie »bildende Kunst in die schreibende Hand« gelangen könne und den Kunstschreiber vor die unmögliche Aufgabe stellt, eine »alräunchenhafte« Verwandlung des Mediums zu bewerkstelligen. 104 Sie teilt es auch mit der kulturanthropologischen Philosophie des Metaphorischen, die als verblassten Untergrund der rhetorischen Übertragungen eine halluzinatorische Überblendung im primitiven Denken entdeckt und die rhetorische Figur auf einen physiologischen Projektionsmechanismus zurückfuhrt. 165 Auch das Gestaltproblem der Konstitution des Gegenstandes ist ein gemeinsames. Und sie teilt mit den Problemen auch die affektiv besetzten Phantasmen ihres diskursiven Umfelds, So nennt Alfred Kubin es in seiner Widmung zum sechzigsten Geburtstag MeierGraefes eine »wundervolle Ironie der Natur«, dass im Werk dieses Kunstkritikers »Malerei, ja überhaupt bildende Kunst in die schreibende Hand gelangt sei.« Julius Meier-Graefe. Widmungen zu seinem sechzigsten Geburtstage, München, Berlin, Wien: Piper, Rowohlt und Zsolnay 1927; Hofmannsthal schreibt über den Kunstkritiker Walter Pater: Der Kritiker »ist in den Künstler verliebt, wie dieser ins Leben. In seinen Händen zuckt das Alräunchen dort, wo die Schätze der Erde nicht mehr verborgen schlafen, sondern gehoben worden sind.« (Walter Pater [1894], G W R u A I , S.195); vgl. Schneider, Utopie Bild. 165 So bei Edward B. Tylor: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Unter Mitwirkung des Verfassers ins Deutsche übertragen von J.W. Sprengel und Fr. Poske. 2 Bde., Leipzig: C.F. Winter 1873. Vgl. Schneider, Das Leuchten der Bilder in der Sprache, Abschnitt 3: »Philosophie des Metaphorischen^ 164
48
die Suche nach dem absoluten Anfang vor dem Sündenfall des »Definitiven«, der literarischen »Verkalkung«, 166 und die Sehnsucht nach Evidenz, nach dem Einleuchtenden und Gewissen jenseits der kulturellen Gewöhnungen. Dennoch thematisiert sie diese Erfahrungen auf ihre Weise, die zeigen kann, was Literatur von Wissensdiskursen unterscheidet. Affektpotentiale, die in der aseptischen Form der rein formalen Ästhetik unterschlagen werden oder einem wissenschaftlichen Systemzwang unterliegen, agiert sie aus und treibt sie auf die Spitze. In den Textdramen der Literatur können sie inszeniert werden. Nicht die »Schmiegsamkeit« der Sprache, sondern ihre Sperrigkeit am Rande des Verstummens lässt das Erschrecken vor dem »Sturz des Daseins«, 167 vor der inkommensurablen atopischen Verschmelzung von Gehirn und Welt etwa im leuchtenden Farbpunkt hervortreten. Ihr Ehrgeiz ist es, »dem Nichts ein Gesicht zu geben«, 168 und dazu sucht sie die unmöglichen Schwellenorte und blinden Flecken auf, welche die Wissensdiskurse mit einem Verbot belegen. Sie destabilisiert, wo die Theorien stabilisieren. Dort, wo das psychopathologische Argument eines Max Nordau und Theodule Ribot repressive Aufmerksamkeitsschranken errichtet, die Normalität definieren sollen, sucht Hofmannsthal nach dem »Rapiden« und »Inkommensurablen«. 169 Wo der Empiriokritizismus von Avenarius ebenso wie die Lebensphilosophie Bergsons die Konsequenz einer psychotischen Struktur des Bewusstseins abwehrt und den »natürlichen Weltbegriff« oder die »Aufmerksamkeit aufs Leben« normativ festsetzen will, 170 wo Husserl gegen den Mahlstrom eines »Gewühls der Erscheinungen« den »Anker« der reinen Phänomenologie auswirft, um »Anhalt« und »Fundierung« in der Tiefe einer »Vereigendichung« zu finden,171 und wo Dilthey das Seelenleben »unbetrefflich« machen möchte, um die Zerreißung des Erlebniszusammenhangs für unmöglich zu erklären 172 - da reizen die literarischen Texte die Vgl. Hofmannsthal, Notizen zu >Diese RundschauBriefen des ZurückgekehrtenDie Briefe des Zurückgekehrtem. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1988, S. 2 2 6 - 2 5 2 , hier S. 242. 169 Vgl. Theodule Ribot: Die Psychologie der Aufmerksamkeit, Leipzig: Eduard Maerter 1908; Max Nordau: Entartung. Bd. 1, 3. Aufl. Berlin: Carl Duncker 1896, S. 104. Vgl. Crary, Aufmerksamkeit. Dagegen Hofmannsthal, Das Schöpferische, S W X X X I , S. 96: »Schwierigkeit das Vortreffliche zu erkennen: gerade darin liegts, wo der bourgeois sich abgestoßen fühlt: in dem Abrupten, Lückenhaften, Rapiden, Incommensurable^« 170 Zu Avenarius vgl. Sommer, Husserl und der frühe Positivismus, S. 18ff.; zu Bergson vgl. Crary, Aufmerksamkeit, S. 259ff. 171 Vgl. Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen (1907), Hamburg: Meiner 1986, S. 45f. 166
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gesetzten Grenzen aus, profitieren von den unvermittelten Plötzlichkeiten ebenso wie von der ausgegrenzten Peripherie. Sie lassen wie in Musils früher Prosa den »Schwindel« des Protagonisten Besitz von der Textökonomie ergreifen.173 Sie setzen harte Fügungen wie in Rilkes Gedicht >Der BlindeMalte Laurids Briggeguten 172
173
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Vgl. Manfred Sommer: Leben aus Erlebnissen. Dilthey und Mach. In: Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Dilthey und der Wandel des Philosophrebegriffs seit dem 19. Jahrhundert, Freiburg i.Br., München: Alber 1984, S. 5 5 - 7 9 , hier S. 7 5 - 7 8 . Doris Claudia Borelbach: »Ein Erdbeben ganz tief am Grundec Schwindelerfahrungen in Robert Musils >Die Verwirrungen des Zöglings TörleßEntweder-OderÜbergänglichenGespräch über Gedichte< über jene fragilen Illuminationen heißt, sie gälten nur »fiir die mystische Frist eines Hauchs«,178 wenn im Essay über Balzac diese »blitzhaft sich auftuenden« Evidenzen »schwebende Wahrheiten« genannt werden, »die alle nur fiir einen Augenblick sind«,179 dann ist der Zauber des glissando in diesen Visionen der Sprache geschuldet und nicht ontologischer Wesensschau. Es bleibt bei aller ekstatischen Verschmelzung die ästhetische Distanz des »als ob« und damit die Differenzstruktur der Sprache gewahrt.180 Aus einer »Zusammenstellung von Worten« zündet der »Funke« in einem Gedicht, der als plötzliches Licht unter »den tausenden von dunklen erstarrten Augenblicken« einen heraushebe.181 Und jener »Hauch«, jener »unbegreiflich flüchtige Glanz«, wie es an anderer Stelle heißt, der jenseits aller Worte sei, muss sich doch mitteilen »in der unübertragbaren Art, wie die Worte nebeneinander gestellt werden, wie sie aufeinander hindeuten, einander verstärken und verwischen, miteinander spielen, ja sich verstellen, und eines des anderen Maske vornehmen.«182 Was fiir das sprachliche Ordnungsverlangen eines Adalbert Stifter das perhorreszierte »Gemische« ist, dem die entmischenden Nomenklaturen nicht mehr beikommen können,183 wird um 1900 gerade zur sprachlichen Aufgabe. Vgl. Musil, Törleß, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 47: »Was geschieht in solchem Augenblicke? Was schießt da schreiend in die Höhe und was verlischt plötzlich?« 176 Diese Suche nach einer Poetik des Übergänglichen beschäftigt Hofmannsthal von Anfang an, vgl. die Aufzeichnungen aus dem Nachlass (1891), G W RuA III, S. 324: »Die Sprache (sowohl die gesprochene als die gedachte, denn wir denken heute schon fast mehr in Worten und algebraischen Formeln als in Bildern und Empfindungen) lehrt uns, aus der Alleinheit der Erscheinungen einzelnes herauszuheben, zu sondern; durch diese willkürlichen Trennungen entsteht in uns der Begriff wirklicher Verschiedenheit und es kostet Mühe, zur Verwischung dieser Klassifikationen zurückzufinden [...]« (Herv. S.Sch.). Ebd., S. 334 über »die starken Stimmungen der Übergänge«. Dieselbe Formulierung im Brief an Richard Beer-Hofmann vom 8.7.1891, vgl. BW Beer-Hofmann, S. 4. Vgl. auch den Brief vom 15.5.1895, ebd., S. 48: »II faut glisser la viel« 177 In einer Rezension von Hermann Stehrs Roman >Der begrabene Gott· am 9.4.1905 in der Berliner Zeitung >Der Tag« beschreibt er dieses poetologische Ideal und setzt es zu Rembrandt in Beziehung. Vgl. Hofmannsthal, Die Wege und die Begegnungen, S. 146. 178 Hofmannsthal, Das Gespräch über Gedichte, SW XXXI, S. 82. 179 Hofmannsthal, Balzac, GW RuA I, S. 390, 395. 180 Hofmannsthal, Balzac, GW RuA I, S. 390, 395. Vgl. SW XXXI, S. 131: »Rodauner Anfänge glissando.« 181 Hofmannsthal, Das Gespräch über Gedichte, SW XXXI, S. 86. 182 Hugo von Hofmannsthal: Französische Redensarten (1897), GW RuA I, S. 237. 175
51
Vom im Gleichgewicht schwebenden »Gemenge der Worte« träumt Hofmannsthal, von den »schwebenden Bildern« der Sprache.184 >Die Bühne als Traumbilds ein dramaturgisch bemerkenswerter Text aus dem Jahr 1903, entwirft die Bühne als visionären Raum, der im Helldunkel von Licht- und Schatteneffekten zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem aufleuchtet und das imaginative Potential ungewisser Lichter und ständig wechselnder Formen nutzt. Was hier als das »unerschöpfliche Spiel des Lichts« die »Schranken« der so genannten Wirklichkeit »in Wirbeln von Duft und Glanz« auflöst, beschreibt nicht nur eine Bühnenästhetik, sondern auch eine Poetologie.185 Auch hier ist die Illumination, der »Blitz«, eine poetologische Metapher für diese Ästhetik der kreativen Vagheit und der Transzendierung der kategorialen Grenzziehungen, für das »unerschöpfliche Spiel« der »schwellenden«, »fliegenden« und »verhauchenden« Nuancen.186 Eine »fliegende, vage Bildersprache« nennt Hofmannsthal sie in einem ganz frühen Prosatext.187 Die Infragestellung unserer Konzepte der Wirklichkeit, das verfremdende In-die-Ferne-Rücken des scheinbar Selbstverständlichen, die »schaudernde« Frage, »ob denn das Sichtbare nicht, vor allen Dingen, nicht existiert«,188 setzt die kreative Potenz eines Möglichkeitssinns frei, ermöglicht ein unendliches Sprechen im konjunktivischen Modus. »Denn die Welt ist nur Wirklichkeit, ihr Abglanz aber ist unendliche Möglichkeit«.189 Die Nähe zu Musils »Möglichkeitssinn« und zu dessen »gleitender Logik der Seele« ist frappierend. Diese Spiegelungen als »Abglanz« können die »unendliche Möglichkeit« nur als Sprachspiel einlösen, es sind semantische Spiegeleffekte, die sich auf der Ebene des Wortmaterials ereignen. Mit welchen genuinen Mitteln die Literatur eine »Welt der Bezüge« schaffen kann, fuhrt beispielsweise ein poetologisch so bewusster Erzähltext wie die >Sommerreise< (1903) vor.190 Er ist die konsequenteste Umsetzung einer Ästhetik der Ähnlichkeit, die einer Logik von sprachlichen und phonetischen 183
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185 186 187
188 189 190
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Vgl. Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart: Metzler 1995, S. 330ff. zur Begrifisordnung der Zimmer im Rosenhaus als »Entmischung«, wonach die Zimmer mit ihrem reinen Begriff zur Deckung kommen sollen. Die traumatisierende Gegenmacht eines gestaltauflösenden »Gemisches« analysiert Juliane Vogel an Stifters Text >Aus dem bairischen Walde«. Vogel, Mehlströme/ Mahlströme. Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlass (1897), G W RuA III, S. 423; ebd. (1896), S. 4 1 3 . Hofmannsthal, Die Bühne als Traumbild, G W RuA I, S. 4 9 1 f. Hofmannsthal, Die Bühne als Traumbild, G W RuA I, S. 491f. Hofmannsthal, Das Glück am Weg, S W XXVIII, S. 9: »All diese Dinge dachte ich nicht deutlich, ich schaute sie in einer fliegenden, vagen Bildersprache.« Hofmannsthal, Die Bühne als Traumbild, G W RuA I, S. 492f. Hofmannsthal, Die Bühne als Traumbild, G W RuA I, S. 492. Vgl. Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, G W RuA I, S. 68: Der Dichter schafft im »Gewebe seines Leibes« »aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Tier und Mensch und Traum und Ding, aus Groß und Klein, aus Erhabenem und Nichtigem die Welt der Bezüge.«
Korrespondenzen, von variierenden Wiederholungen und Wiedererkennungseffekten gehorcht. 191 Vom ersten Satz an oszilliert das Geschehen, ist der Status des Erzählten in der Schwebe gehalten, zwischen Traum und fiktiver Realität und zwischen eigentlicher und metaphorischer Bedeutung. Die Vermischung der Ebenen, die Auflösung der logischen Grenze zwischen Sach- und Bildebene lässt die Handlung als Folge des Sprachgeschehens erscheinen. Diese Reiseerzählung, welche kein persönliches Erlebnis-Ich der Reise kennt, folgt stattdessen der sprachlichen Logik der Metaphorik, einer metaphorischen Bewegung von Begehren und Erfüllung, von Strömen und Sistieren. 192 Der Mallarme'sche Dämon der Analogie hat dieses Erzählen infiziert und unterläuft seine lineare Konsistenz, welche etwa der narrativen Abfolge des Reiseverlaufs folgen würde. 193 Die Analogie als rhetorische Figur der Übertragung, als Vergleich, als personifizierende Metapher oder Allegorie, wird zum Agens einer Textbewegung, welche die Herstellung von Bedeutung als textimmanente Logik semantischer Verschiebung vorführt. Das Wortmaterial löst sich auf und wird neu zusammengesetzt. Die verheißungsvollen »flaumumhüllten Früchte« des Texteingangs etwa kehren wieder in der Flaumfeder des Adlers auf dem Barett einer im Tagtraum versunkenen Figur aus dem erzählten Bild des Giorgione. 194 Das Segel transformiert sich in der Metathese des seligen Spiegeins. 195 So hat die Traumlogik der >SommerreiseSommerreise< stammen könnte: »es heißt die eigene Schwere abgeben: sich im schwebenden Adler finden«.197
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Vgl. David E. Wellbery: Narrative Theory and Textual Interpretation: Hofmannsthal's »Sommerreise« as Test Case. In: DVjs 54/2 (1980), S. 3 0 6 - 3 3 3 . Vgl. meine Interpretation in: Das Leuchten der Bilder in der Sprache. Vgl. Michael Pauen: Der Dämon der Analogie. Stephane Mallarme und die Lehre vom Ähnlichen. In: Gerald Funk, Gert Mattenklott und Michael Pauen (Hg.): Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne, Frankfurt/M.: Fischer 2001, S. 9 5 - 1 1 0 . Hofmannsthal, Sommerreise, G W E, S. 595 »duftigen, flaumumhüllten Früchten«, S. 600 »dem Korb, dem Früchte entrollen [...] die Flaumfeder des Adlers auf smaragdgrünem Barett.« Hofmannsthal, Sommerreise, G W E, S. 595 »bläht es wie ein Segel«, S. 598 »bläht sich ihr Name wie ein gelb und purpurnes Segel«, ebd. »dies selige Spiegeln«, S. 6 0 0 »Zum Segel wird die Decke«, ebd. »selig spielen sie.« Hofmannsthal, Das Gespräch über Gedichte. Varianten, S W XXXI, S. 3 2 3 und 326f. Hofmannsthal, Das Gespräch über Gedichte. Varianten, S W XXXI, S. 321. Vgl. auch den Entwurf >Der Revenant« (1907), ebd., S. 178: »Es war schon während des wirklichen Lebens meine Tendenz mehr von den Ähnlichkeiten als von den Unterschieden afficiert zu werden.«
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Ganz ähnlich hat Robert Musil diese Ästhetik des Vagen, Flüchtigen und Verwischten und ihre Simultaneitätseffekte beschrieben, wenn er von dem »irrationale [n] Simultaneffekt sich gegenseitig bestrahlender Worte« in der Dichtung spricht, von den »Zwischentöne[n], Schwingungen, Schwebungen, Lichtstufen, Raumwerten, Bewegungsachsen zwischen den Worten.«198 Musils frühe Prosa gehorcht einer ähnlichen sprachlichen Eigenlogik einer gleitenden Semiose, in der kategoriale Trennungen zur Disposition stehen und sprachlich vermittelt in »Schwingungen, Schwebungen« versetzt werden. Die metaphorische Übertragung verselbstständigt sich gegenüber der Erzählung und erzeugt in einer für ihn spezifischen Übergänglichkeit zwischen literaler und figurativer Bedeutung Texte. Deren eigendiches Subjekt ist das metaphorische Sprachgeschehen, welches sich ausgehend von rhetorischen Figuren der Übertragung zu textuellen Räumen erweitert. Das Novellenprojekt der Bereinigungen« ist ein radikales Beispiel fiir diese Ästhetik des glissando, die Zusammenhänge nicht auf der inhaltlichen Ebene der Erzählung, sondern über die sprachlichen Übertragungen vermittelt. Auch Musil fasst wie Hofmannsthal »Handlung« als »Gleichnisse, aus vielen Gleichnissen zusammengesetzt«199 auf und entbindet im Schreiben unter dem konjunktivischen Vorbehalt des >als ob< die Fülle der Möglichkeiten aus der Analogie und der Verweigerung des Definitiven.200 Was in diesen Texten immer wieder als Überschreitung einer Schwelle, als Ästhetik der Entgrenzung thematisiert wird, ist gerade nicht die sprachskeptische Resignation des Wortes vor der wortlosen Gewissheit der stummen Dinge. Dem vielzitierten »Ekel vor den Worten« steht »die tiefe Einsicht des Künstlers in sein Material« gegenüber, welche die Vorstellung einer gleichsam zeichenlosen Unmittelbarkeit als naiv erscheinen lässt.201 »Es ist töricht zu denken«, notiert Hofmannsthal 1896 unter der Überschrift >Macht der Worte im Allgemeinens »daß ein Dichter je seinen Beruf, Worte zu machen, verlassen könnte.«202 Bezeichnenderweise formuliert er diese Einsicht in die Unhintergehbarkeit des eigenen Mediums zum einen in Auseinandersetzung mit Goethes >Farbenlehre< und zum anderen im Kontext der mystischen Schau, also im Zusammenhang einer Faszination der Wortkunst durch visuelle Evidenz. Keiner »Poetik des Schweigens« wird das Wort geredet, im Gegenteil. »Wenn er schweigt und ein Heiliger wird, so wird er auch ein Dichter-Heiliger sein und kontemplieren«, und als Asket werde er stets »sich selbst sehen«, sich und seinem Material zugewendet bleiben somit, selbstreflexiv in einem wörtlichen Sinne.203 198 199 200
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Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 1147. Hugo von Hofmannsthal: Bildlicher Ausdruck (1897), G W RuA I, S. 234. Zur sprachlichen Realisierung vgl. Jürgen Schröder: Am Grenzwert der Sprache. Zu Robert Musils »Vereinigungen«. In: Euphorion 60 (1966), S. 3 1 1 - 3 3 4 , sowie Albrecht Schöne: Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil. In: Euphorion 55 (1961), S. 1 9 6 - 2 2 0 . Hofmannsthal, Eine Monographie, G W RuA I, S. 479, 481. Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlass (1896), G W RuA III, S. 4 1 4 .
Es sind literarische Versuchsanordnungen, denen die Inszenierung von visionären Öffnungsbewegungen als eines vermeindichen Auswegs aus der Schrift dient. So wird in den >Briefen des Zurückgekehrtem der epiphanische Augenblick der Begegnung mit van Goghs Bildern als radikal neues »Erlebnis des Sehens« gestaltet, das mit der Unschuld des Anfänglichen aus der Uneigentlichkeit der kulturellen Zeichenordnungen erlöst. Dies ist jedoch Anlass, um ein Sprechen ins Innerste zu erproben als ein immer wieder neu ansetzendes und sich selbst ins Wort fallendes Umschreiben eines Eigentlichen, ein Tasten ins Ungestaltete und Ungesicherte hinein, das eine Poetik der Verschiebung und der nicht sistierbaren Textbewegung ermächtigt. Die Evidenz des Unsäglichen gibt den Texten ihr Spannungsgefälle, das immer auch selbstreflexiv vom Verlangen nach sprachlichem Ausdruck, von der Suche der sprachlichen Dinge nach der Einlösung ihrer verheißenen Bedeutung spricht. Das Unsagbare ist die Leerstelle, um die das Sprachspiel des Textes kreist und das weitere Texte hervortreibt. Das Problem wird sozusagen von Text zu Text weitergereicht, die unterschiedlichen Ansätze verweisen aufeinander und wollen konfigurativ gelesen werden. Hofmannsthal hat sich ein Zitat aus Baudelaires Prosagedicht >Le >confiteor< de l'artiste< angemerkt, das vom Stachel der Unendlichkeit des Unausgedrückten spricht, und es zum Motto eines unendlichen Sprechens gesetzt.204 »Alle >Werke< sind Abfälle: das Streben ist alles«, notiert er an anderer Stelle, »jeder einzelne vermag das, was er gemacht hat, wieder aufzulösen, es wieder unendlich zu machen. Wir sind die, deren Mund nicht stumm ist.« 205 Immer enden diese visionären Überschreitungen mit einem Verweis aufs eigene Medium der Schrift. So wird in den >Augenblicken in Griechenland< eine magisch vorgestellte Medienschwelle vorgeführt, die von der Schrift zum Blick zu fuhren scheint. »Es endet mit dem Überschreiten einer Schwelle, mit 203
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Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlass (1896), G W R u A I I I , S. 4 1 4 . Auch Ernst Osterkamp sieht im >Brief< einen »Schlüsseltext für die Poetik des Schweigens in der literarischen Moderne« nur insofern, als er in seiner paradoxalen Verfässtheit elaborierter Vermittlung von Sprachlosigkeit zeige, dass das »Schweigen nur unter der Bedingung der Sprachbeherrschung seine kommunikative Funktion entfaltet und Ausdruck wird.« Ernst Osterkamp: Die Sprache des Schweigens bei Hofmannsthal. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 2 (1994), S. 1 1 1 - 1 3 7 , hier S. 1 1 1 - 1 1 4 . Die rhetorische Stilisierung eines Redens unter der Prämisse des Schweigens untersucht Andreas Härter: Der Anstand des Schweigens. Bedingungen des Redens in Hofmannsthals »Brief«, Bonn: Bouvier 1989. Das Exemplar mit der Anstreichung und dem Vermerk »Motto« auf S. 9 hat sich in seiner Bibliothek erhalten: Charles Baudelaire: Petits po£mes en prose. Les paradis artificiels, Nouvelle Edition, Paris: Calmann-Levy o.J. (FDH 1070). Vgl. auch Stefan Nienhaus: Die »scharfe Spitze der Unendlichkeit«. Bedeutung eines Baudelaire-Zitats im Werk Hugo von Hofmannsthals. In: Poetica 2 1 / 1 - 2 (1989), S. 8 4 - 9 7 . Hofmannsthal, Notizen zu »Diese Rundschau«, in: Die Wege und die Begegnungen, S. 130.
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einem Gelandetsein, einem Hier«, beschreibt der Reisende sein Erlebnis des Augenblicks vor fünf archaischen Korai der Akropolis, während ihm diese Präsenz des »Hier« in der Lektüre von Sophokles' >Philoktet< zuvor verweigert war. »Wie ich las, von Zeile zu Zeile, so war es Zeichen um Zeichen, wie hier um mich diese Trümmer.« 206 Das Lesen der antiken Klassiker, der kulturell kodierten Schrift, bleibt wiewohl klar und deutlich und dem rationalen Verstehen zugänglich, doch Zeichenklauberei, während das von ihr zu Vermittelnde hinter einem »Schleier« verborgen, »fremd über die Maßen und unbetretbar« bleibt. 207 Dieser Schleier hebt sich dann im Kontrast dazu als Vorhang an der Türschwelle zu jenem Bildraum der archaischen Körper, in dem der Reisende ohne sein Zutun, wiederum im Dämmerlicht wie Lord Chandos, Glück und Schrecken der intentionslosen Augenblicke erfährt. In diesem Augenblick geschah mir etwas: ein namenloses Erschrecken: es kam nicht von außen, sondern irgendwoher aus unmeßbaren Fernen eines inneren Abgrundes: es war wie ein Blitz, den Raum, wie er war, viereckig, mit den getünchten Wänden und den Statuen, die dastanden, erfüllte im Augenblick viel stärkeres Licht, als wirklich da war. 208
Auch hier ist wie in anderen Texten, welche das schöpferische Vergessen der kulturellen Zeichenordnungen, die Transzendierung der Schrift zur visionären Öffnung auf Traumbilder vorzufuhren scheinen, nicht die Kunst des NichtLesens die Pointe. 209 Am Ende kommt jener (semiotische) Vorhang wieder ins Spiel, im Rieseln der Gewänder wird auf die Oberfläche zurückverwiesen. Vom Zeichenlesen ist die Rede, und dass jenes Leben ihn, den zeichenproduzierenden Dichter brauche. Mit diesem Fingerzeig schließen auch andere >visionäre< Prosatexte. Im >Glück am Weg< starrt der von den Bildsequenzen berauschte Blick am Ende auf die blinkenden Buchstaben eines allegorischen Schriftzugs, dessen Goldglanz die Sinnlichkeit des Bildes in die Schrift absorbiert hat. 210 206
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Hugo von Hofmannsthal: Augenblicke in Griechenland (1908/1914), G W E , S. 620, 625. Zur Klassik-Rezeption in diesem Text vgl. Hans-Jürgen Schings: Hier oder nirgends: Hofmannsthals Augenblicke in Griechenlands In: Olaf Hildebrand (Hg.): »... auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Festschrift für Jochen Schmidt zum 65. Geburtstag, Freiburg i.Br.: Rombach 2004, S. 365-388. Hofmannsthal, Augenblicke in Griechenland, G W E, S. 624. Vgl. Gerhard Neumann: »Kunst des Nicht-lesens«. Hofmannsthals Ästhetik des Flüchtigen. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 4 (1996), S. 227-260. Zur Dialektik von Vergessen und Erinnern in diesem Text vgl. Heike Grundmann: »Mein Leben zu erleben wie ein Buch«: Hermeneutik des Erinnerns bei Hugo von Hofmannsthal, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. Hofmannsthal, Das Glück am Weg, SW XXVIII, S. 11. Vgl. Sabine Schneider: Evidenzverheißung. Thesen zur Funktion der »Bilder« in literarischen Texten der Moderne um 1900. In: Gerhard Neumann und Claudia öhlschläger (Hg.): Inszenierungen in Bild und Schrift, Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 49-79.
D i e Schlusspointe der >Sommerreise< geht noch einen Schritt weiter. H i e r soll der »unsägliche H a u c h « der poetologischen Eingangsphantasie im Schlussabschnitt, n a c h d e m er n u n d e m » D r a n g der starken Wässer« gefolgt ist, in »einem wundervoll geformten Ziel« erlöst werden. »Erlöst« aber ist er »in einem Gleichnis«. U n d zu j e d e m Gleichnis lässt sich im unendlichen Regress der Sprache i m m e r ein weiteres
finden.
» D i e Unendlichkeit der
Gleichnisse«,
schreibt H o f m a n n s t h a l in sein E x e m p l a r v o n G o e t h e s »Theatralischer SendungSehen Lernens< vor den Bildern der zeitgenössischen Avantgarde gehören zur intellektuellen Biographie vieler Schriftsteller der Jahrhundertwende. 1 Sie werden als schockhafter Einbruch eines Fremdartigen in die eigene und vertraute Sphäre geschildert, als krisenhafter Wendepunkt in der eigenen literarischen Existenz. Was der junge Hofmannsthal 1894 in seinem Tagebuch scheinbar lapidar notiert als »Beeinflussung. Wie bildende Kunst auf meine Poesie wirkt«, 2 lässt sich mit der harmlosen Formel einer Anregung durch die Nachbarkunst - etwa gar unter stofflichen Gesichtspunkten einer gemeinsamen symbolistischen Motivwelt — nicht angemessen beschreiben. »Durch Maler sehen lernen«, formuliert eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1902 die Maxime der bildkünstlerischen Avantgarde in deutlicher Nähe zur Problematik des »Chandos-Briefsc »Erhabenheit eines Heumandels, einer Straße eines Gasometers. Man sieht, daß die größten Maler nicht ausgewählt haben, sondern niedergeworfen waren von der Schönheit jedes entgegenkommenden Dinges.« 3 Die Überwältigung durch die fraglose Bedeutsamkeit der stummen Dinge, ihre aus sich selbst strahlende Wirklichkeit und unerhörte Präsenz ist es also, was der Dichter von den Malern lernen und vor ihren Bildern erfahren kann. Es ist das Suchprogramm des Dichters, das der >Chandos-Brief< als Drama der Sprachohnmacht und der Überwältigung der Augen-Blicke inszeniert hat und das in den >Briefen des Zurückgekehrtem noch einmal aufgegriffen wird - nun explizit unter den Vorzeichen der bildenden Künste. Das innerste Leben, das sich Lord Chandos in den unscheinbaren Formen eines Schwimmkäfers oder einer Vision sterbender Ratten offenbart, erweist sich hier als medial vermittelt. 4 Dennoch ist es gerade deshalb - nur ' Das Zitat der Überschrift: Rainer Maria Rilke an Clara Rilke, Paris, 13. Oktober 1907. Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 4. Schriften zur Literatur und Kunst. Hg. von Horst Nalewski, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 6 1 6 : »Ich schritt einher und sah, sah nicht die Natur, sondern die Gesichte, die sie mir eingab. Wie wenig hätte ich damals vor Cezanne, vor Van Gogh zu lernen gewußt. Daran, wieviel Cezanne mir jetzt zu tun gibt, merk ich, wie sehr ich anders geworden bin. Ich bin auf dem Wege, ein Arbeiter zu werden.« 2 Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlass (1894), G W RuA III, S. 380. 3 Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlass (1902), G W RuA III, S. 4 4 1 .
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scheinbar paradox, wie sich zeigen wird - in der materiellen Existenz der Farben van Goghs so unversehrt bei sich, dass es mit geradezu aggressiver »Wucht« die Seele des Betrachters anfällt.5 Ein Bruder des Lords im Geiste ist der Zurückgekehrte, der vor den Bildern van Goghs die ekstatische Erfahrung einer sonst nicht erfahrbaren gesteigerten Wirklichkeit macht, während er mit den sperrigen Worten hadert, die fiir solch wortloses Erleben ungeeignet scheinen. Dabei ist das »innerste Leben« dieser Bilder ausdrücklich nicht an die dargestellten Gegenstände gebunden. Nicht in einer gleichsam zeichenlosen Unmittelbarkeit zum Leben hinter der Kunst liegt die Verheißung der Bilder. Der Zurückgekehrte beginnt mit der Aufzählung der unscheinbaren Bildsujets, »ein Sturzacker, eine mächtige Allee gegen den Abendhimmel, ein Hohlweg mit krummen Föhren« - schon diese parataktische Aufreihung nivelliert die Gegenstände, indem sie von ihnen abstrahiert — nur um sich selbst ins Wort zu fallen und das Dargestellte als unwesendich fur das »Unfassliche« und »Starke« ihrer Wirkung zu erklären.6 Vielmehr bricht aus den Farben und den aus den Farben aufgebauten Beziehungen der »Gebilde untereinander« dieses innerste Leben hervor.7 Seine Aura ist unzertrennbar an die materielle Faktur, das Medium der Bilder geknüpft. Und wie im >Chandos-Brief< bedeutet »Leben« hier Bedeutsamkeit, ist es eine Kategorie von Sinn, eine privilegierte Sprache, in der eine sonst verschlossene Botschaft sich unverstellt zu erkennen gibt. Das »Schauen« des Zurückgekehrten erfährt die Farben als »eine Sprache [...], in der das Wortlose, das Ewige, das Ungeheure sich hergiebt, eine Sprache, erhabener als Töne, weil sie wie eine Ewigkeitsflamme unmittelbar hervorschlägt aus dem stummen Dasein und uns die Seele erneuert.«8 Die semiotische Frage nach der Sprachform dieser Bilder, bzw. nach dem Verhältnis von Leben und Sprache, macht in der komparativischen Überbietung deutlich, dass hier ein Paragone der Medien angesprochen ist. Die starke Sprache der Bilder vermag die Differenzstruktur der Begriffssprache mit ihrem unendlichen »Geschiebe« zwischen »vielen tausend abstracten, in einanderübergehenden, einander durchdringenden abstracten Begriffen«9 dadurch zu 4
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Eine Unmittelbarkeitssuche und Zeichenverleugnung wirft Claudio Magris dem >Chandos-Brief< vor: Der Zeichen Rost. Hofmannsthal und »Ein Brief«. In: Sprachkunst 6 (1975), S. 5 5 - 7 4 . Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W X X X I , S. 169: »nur die Wucht ihres Daseins, das wütende, von Unglaublichkeit umstarrte Wunder ihres Daseins fiel meine Seele an.« Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W XXXI, S. 169. Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W X X X I , S. 170: »Und nun konnte ich, von Bild zu Bild, ein Etwas fühlen, konnte das Untereinander, das Miteinander der Gebilde fühlen, wie ihr innerstes Leben in der Farbe vorbrach und wie die Farben eine um der andern willen lebten«. Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W XXXI, S. 173. Brief an Edgar Karg von Bebenburg vom 18. Juni 1895, B W Karg Bebenburg, S. 81.
übertreffen, dass sie zugleich ist und bedeutet. Dieser Utopie einer Überkodierung, einer sinnlichen Absättigung des Zeichens, das mehr sein soll als abgeblasster Stellvertreter fur ein immer Abwesendes, gilt die Sehnsucht des auf Worte verwiesenen Dichters. D e m Jugendfreund Edgar Karg von Bebenburg vertraut Hofmannsthal 1895 diesen Grundimpuls seiner dichterischen Existenz an: Die meisten Menschen leben nicht im Leben, sondern in einem Schein, in einer Απ von Algebra, wo nichts ist und alles nur bedeutet. Ich möchte das Sein aller Dinge spüren und in das Sein getaucht, das tiefe wirkliche Bedeuten.10
Acht Jahre später macht Hofmannsthal diese Gegenüberstellung zwischen einer Representations- und einer Präsenzsemiotik zum Gegenstand seines fiktiven >Gesprächs über Gedichtet »Niemals setzt die Poesie eine Sache für eine andere«, so belehrt der innovative Wortführer Gabriel seinen biederen Gesprächspartner Clemens, »denn es ist gerade die Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zu setzen, mit einer ganz anderen Energie als die stumpfe Alltagssprache, mit einer ganz anderen Zauberkraft als die schwächliche Terminologie der Wissenschaft.« 11 U n d bereits in dem frühen Brief an Karg von Bebenburg wirft diese bohrende Frage nach einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen der Zeichenwelt und dem, was als Formel des »Lebens« ihre Bedeutsamkeit fur das sinn- und sinnenhungrige Wesen Mensch ausmachen könnte, die weitergehende Frage nach der Transponierbarkeit dieses Sinns zwischen den verschiedenen Medien auf: Die Worte sind nicht von dieser Welt, sie sind eine Welt für sich, gerade so eine ganze vollständige Welt, wie die Welt der Töne. Man kann alles, was es gibt, sagen; und man kann alles, was es gibt, musicieren. Aber man kann nie etwas ganz so sagen wie es ist. Darum erregen Gedichte eine eben solche unfruchtbare Sehnsucht wie Töne. 12
Der junge Dichter auf der Suche nach seiner Position im System der Künste und nach dem eigenen poetologischen Selbstverständnis erteilt somit jedem Ansinnen einer mimetischen Repräsentationsfunktion der Dichtung und der Künste überhaupt eine klare Absage. Grundvoraussetzung aller künstlerischen Arbeit ist die Einsicht, dass die Sinnproduktion eine immanente Arbeit im eigenen Medium zu sein hat. Erster Schritt der Initiation zum Dichter ist deshalb die Verabschiedung des »sehr tief in uns [steckenden] Kinderglauben[s], dass wenn uns nur immer die richtigen Worte einfielen, wir das Leben so wiedererzählen könnten, wie man ein Vierkreuzerstückel a u f s andere legt.« 13 Hofmannsthal knüpft an eine Medienästhetik an, wie sie Lessing in >Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie< grundgelegt hatte und wie 10 11 12 13
Brief an Edgar Karg Hofmannsthal, Das Brief an Edgar Karg Brief an Edgar Karg
von Bebenburg vom 18. Juni 1895, BW Karg Bebenburg, S. 81. Gespräch über Gedichte, SW XXX], S. 77. von Bebenburg vom 18. Juni 1895, BW Karg Bebenburg, S. 82. von Bebenburg vom 18. Juni 1895, BW Karg Bebenburg, S. 82.
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sie in einer neuen Laokoon-Debatte um 1900 gegen die Anschauungsästhetik der nachhegelianischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts verteidigt wurde.14 Sie geht aus von einer »tiefen Einsicht des Künstlers in sein Material«.15 Auch die bildende Kunst ist den Dingen nicht insofern näher, als sie diese unmittelbarer kraft ikonischer Ähnlichkeit abzubilden vermöchte. Weder das Anschauungsparadigma noch die alte Unterscheidung zwischen den willkürlichen (d.h. arbiträren) Zeichen der Sprache und den natürlichen Zeichen der Malerei spielen eine Rolle, wenn es darum geht, was die Poesie vom Zeichensystem der bildenden Künste lernen könne. Auch die bildende Kunst ist eine der Welt nebengeordnete Konfiguration von Zeichen, die wie die Poesie eine Welt fur sich bildet. Hofmannsthal formuliert dieselbe Einsicht, wie sie zehn Jahre später Rilke in Auseinandersetzung mit Cezanne gewinnt, wonach die Künste nur auf einer Ebene struktureller Entsprechung der Natur zugeordnet sein können. Sinn entsteht nicht durch die Referenz der einzelnen Elemente, sondern im lateralen Wechselbezug untereinander. Man könnte von einer Art Strukturalismus avant la lettre sprechen. Ein Fleck auf einem Bild hat keinen ikonischen Zeigegestus auf die Natur, sondern definiert sich an den Randzonen zum benachbarten Fleck. Erst die Gesamtheit aller im Bild aufweisbaren Beziehungen zwischen einzelnen Elementen und dem Ganzen, die als unausschöpfbare Blickbewegung den Raum des Bildes als dynamischen Prozess vor den Augen des Betrachters erschafft und verzeitlicht, macht die Bedeutung des Bildes aus. Hofmannsthal betont den Abstraktionsaspekt, wenn er dabei an »einen wundervollen Jongleur« denken möchte, »der durchs Ballwerfen in dem Medium von Schwere und Bewegung (dem Architecten ziemlich verwandt), etwas ganz gleiches zuwege brächte.«16 Dem Maler scheint nun das Übersetzen des Lebens durch abstrahierendes »Vereinigen« der Elemente kraft seines spezifischen Mediums im besonderen Maße zu gelingen: 14
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Zur semiotischen Bedeutung der Laokoon-Debatte grundlegend: Gunter Gebauer (Hg.): Das Laokoonprojekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart: Metzler 1984. An Lessing knüpfen sowohl Walter Pater in seiner Renaissance-Monographie als auch Meier-Graefe an. Die ausfuhrlichste Auseinandersetzung liefert Theodor A. Meyer 1901, der das >Stilgesetz der Poesie« (so der Titel seiner Monographie) aus ihren spezifischen Darstellungsmitteln in kritischer Auseinandersetzung mit Lessing ableitet. Hofmannsthal, Eine Monographie, G W R u A I , S. 4 8 1 : »Jedem Erlebnis aus einer Kunst liegt die tiefe Einsicht des Künstlers in sein Material zugrunde. Es kommt bis zu einem unaussprechlichen Grade darauf an, daß der Bildhauer wisse, was das tiefste Wesen des Marmors sei.« Brief an Edgar Karg von Bebenburg vom 18. Juni 1895, B W Karg Bebenburg, S. 83. Eine ähnliche poetologische Bedeutung (eine Reflexion der Reflexion auf das Kunstding) hat dieses Bewegungsbild auch in Rilkes Gedicht >Der Ball* aus dem zweiten Teil der >Neuen Gedichte*, Werke, Bd. 1, S. 583f. Vgl. Z. 5: »zu wenig Ding und doch noch Ding genug«, sowie Z. 1 2 - 1 4 : »den Spielenden von oben/ auf einmal eine neue Stelle zeigt,/ sie ordnend wie zu einer Tanzfigur.«
Aber aufs Vereinigen kommt's an; so machts der Maler mit den Farben und Formen, die an den Erscheinungen nur ein Teil, für ihn alles sind und durch deren Combination er wiederum seine ganze Seele (oder was dasselbe ist: das ganze Spiel der Welt) ausdrückt. 1 7 D i e s e k o m p l e x e S i m u l t a n e i t ä t ( n i c h t als statisches Z u g l e i c h u n d a u c h n i c h t in d e r klassizistischen V a r i a n t e als E i n h e i t in d e r M a n n i g f a l t i g k e i t , s o n d e r n vielm e h r als eine i m S e h p r o z e s s i m m e r w i e d e r n e u sich k o n f i g u r i e r e n d e S t r u k t u r ) 1 8 v e r s p r i c h t als s e m i o t i s c h e s M o d e l l j e n e s » Z w i n g e n d e « , d a s a u c h R i l k e d e r M a n g e l l o g i k d e r B e g r i f f s s p r a c h e s o g e r n e a b g e w i n n e n m ö c h t e . D e n n o c h stellt dieses V e r s p r e c h e n z u g l e i c h eine H e r a u s f o r d e r u n g d a r , v o r d e r d i e S p r a c h e z u verz w e i f e l n s c h e i n t . V o r d i e A u f g a b e gestellt, dieses d i c h t e W e c h s e l s p i e l e t w a d e r V a l e u r s eines C e z a n n e ' s c h e n G e m ä l d e s z u b e s c h r e i b e n , l ä u f t sie g e g e n
eine
m e d i a l e W a n d u n d w i r d s c h m e r z h a f t a u f ihre e i g e n e n G r e n z e n z u r ü c k v e r w i e sen. » I c h m u ß t e d e n k e n g e s t e r n a b e n d , o b m e i n V e r s u c h , d i e F r a u i m r o t e n Polstersessel a n z u d e u t e n , D i c h zu i r g e n d e i n e r V o r s t e l l u n g b e s t i m m e n k o n n t e ? « — R i l k e s B r i e f a n s e i n e F r a u C l a r a ü b e r d a s in d e r Pariser G e d ä c h t n i s a u s s t e l l u n g g e s e h e n e B i l d n i s d e r M a d a m e C e z a n n e ist E t a p p e i n n e r h a l b e i n e r s i c h s t ä n d i g korrigierenden u n d nach Neuansätzen Ausschau haltenden Spracharbeit: »Ich b i n n i c h t sicher, a u c h n u r d a s Verhältnis ihrer Valeurs g e t r o f f e n z u h a b e n ; m e h r als j e s c h i e n e n m i r W o r t e a u s g e s c h l o s s e n , u n d d o c h m ü ß t e d i e M ö g l i c h keit, sich ihrer z w i n g e n d zu b e d i e n e n , d a s e i n . « 1 9
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Rilke, Der Ball, in: Der neuen Gedichte anderer Teil, Werke, Bd. 1, S. 583f. Zur Zeitstruktur des Bildes vgl. Gottfried Boehm: Bild und Zeit. In: Hannelore Paflik (Hg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim: V C H 1987, S. 1 - 2 3 ; ders.: Mnemosyne. Zur Kategorie des erinnernden Sehens. In: Gottfried Boehm, Karlheinz Stierle und Gundolf Winter (Hg.): Modernität und Tradition. Festschrift Max Imdahl, München: Fink 1985, S. 3 7 - 5 7 . Brief an Clara Rilke, Paris, 23. Oktober 1907, Werke, Bd. 4, S. 631. Es handelt sich u m das Porträt >Mme. Cezanne< (1877), heute im M u s e u m of Fine Arts in Boston. Rilkes >Briefe über Cezanne< werden in der Forschung zu Recht als literarischer Text und als poetologische Selbstreflexion ernstgenommen. Die wichtigste Monographie dazu ist die von Ralph Köhnen: Sehen als Textkultur. Intermediale Beziehungen zwischen Rilke und Cezanne, vgl. jetzt auch ders.: D a s physiologische Wissen Rilkes und seine Cezanne-Rezeption. In: Pfotenhauer/Riedel/Schneider (Hg.), Poetik der Evidenz, S. 1 4 1 - 1 6 2 ; Konstantin I m m : Rilkes »Briefe über Cezanne«, Frankfurt/M. u.a.: Lang 1986; Susanne Scharnowski: Rilkes Poetik des Blicks zwischen Einfühlung und Abstraktion: D i e Bildbeschreibungen in den Briefen über Cizanne. In: Hans Richard Brittnacher, Stephan Porombka und Fabian Störmer (Hg.): Poetik der Krise. Rilkes Rettung der Dinge in den >WeltinnenraumCezanne-BriefeSouvenirs sur Paul C e z a n n e s die Emile Bernard 1 9 0 7 im >Mercure de France< veröffentlicht hat). »Diese Gläser, diese Teller, die sprechen miteinander«, so formuliert es auch Cezanne in der Überlieferung Gasquets über seine Stilleben, »sie tauschen unentwegt Vertraulichkeiten aus.« 2 6 Eine solche N ä h e zwischen Rilke und Cezanne besteht auch hinsichtlich der Einschätzung der Anteile a m Menschen, die fur diese besondere Sprache empfänglich sind. U m malerisch zu empfinden, so Cezanne, müsse m a n das Bewusstsein verlieren, in einen »Zustand farbiger Entrückung« fallen, und die Farben ins Blut strömen lassen. 2 7 Nicht die rationalen Vermögen des Betrachters sind zuständig, nicht sein Denken u n d seine Sprache, sondern sein Körper. Wie der Hofmannsthal'sche Zurückgekehrte die Farben van G o g h s als »fremde, erhabene, entzückende Gegenwart« körperlich erfährt und zwar »an der Stelle, w o das Blut k o m m t und geht«, 2 8 so formuliert dies auch Rilke in den >Briefen über Cezannedraußen vorbeigehtPhantasma des Blutes in der Malerei« vgl. Georges Didi-Huberman: Die leibhaftige Malerei. Aus dem Französischen von Michael Wetzel, München: Fink 2002, S. 11-36. Zur biologischen Metaphorik bei Rilke vgl. Benjamin Bühler: Lebende Körper: Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 30 Hofmannsthal veröffentlichte den vierten und fünften Brief der >Briefe des Zurückgekehrten« am 5. Februar 1908 in der Zeitschrift >Kunst und Künstler« unter dem Titel >Das Erlebnis des Sehens« mit der Anmerkung »Aus den >Briefen eines Zurückgekehrten««. Vgl. Ritter, Die Briefe des Zurückgekehrten, S. 227, sowie die Interpretation von Ursula Renner: Das Erlebnis des Sehens. Zu Hofmannsthals produktiver Rezeption bildender Kunst. In: Ursula Renner und Bärbel Schmid (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen, Würzburg: Königshausen & Neumann 1991, S. 285-305. 31 Hofmannsthal, Notizen zu den >Briefen des Zurückgekehrten«, SW XXXI, S. 435. So nennt Hofmannsthal auch das Kapitel >Die Statuen« aus den Augenblicken in Griechenland« auf einer Titelliste von 1911/12, SW XXXI, S. 454. 32 Rilke an Clara Rilke, Paris, 21. Oktober 1907, Werke, Bd. 4, S. 628f. über van Goghs >geschwätzige< Briefe, wohingegen Cezanne als der größere Maler der Gefahr der Worte nicht erliege. »Unbeholfen« seien seine wenigen überlieferten Briefe oder von gnomische Kürze. Rilkes Fazit ist topisch: »Alles Gerede ist Mißverständnis. Einsicht ist nur innerhalb der Arbeit«. Hofmannsthals >Briefe des Zurückgekehrten« sind geradezu rhythmisch strukturiert durch die ständige Wiederholung des Unsagbarkeitstopos als Einleitung oder Unterbrechung von beschreibenden Sequenzen. Vgl. SW XXXI, S. 165: »und doch wirst du mit der Erzählung nicht viel anfangen können«; S. 166: »Aber aufzählen diese gelegentlichen Anwandlungen eines FastNichts? Immerhin, ich muß - oder diesen Brief zerreißen und das weitere für immer ungesagt lassen«; ebd.: »Immerhin kann ich ja vielleicht den Brief unabgeschickt lassen«; S. 167: »Ich kann heute nicht in klare Worte bringen, was wirbelnd durch mein ganzes Ich ging«; S. 169: »Wie aber könnte ich etwas so Unfaßliches in Worte bringen, etwas so Plötzliches, so Starkes, so Unzerlegbares!«; ebd.: »Aber was nützt dir das?«; »Wie kann ich es dir nahebringen ...?«; S. 171: »Was ich dir schrieb, wirst du kaum verstehen können«, u.ö. Dazu kommen die stereotypen Epitheta des »Unbeschreiblichen«, z.B. S. 166 u.ö.
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Blendung und Epiphanie: D a s Erlebnis des Sehens Für Rilke wie für Hofmannsthal ist eine Verunsicherung des Sehens, eine Desorientierung des Blicks, die als Form von Blindheit erfahren wird, der dramatische Ausgangspunkt fiir ein Evidenzerlebnis, das dem Betrachter im wörtlichen Sinn plötzlich die Augen für eine ganz neue Welt des Sichtbaren öffnet. Es handelt sich um eine Neuauflage des Mythos vom sehendgewordenen Blindgeborenen. Anders als im achtzehnten Jahrhundert, wo die Berichte von der Heilung Blindgeborener als Urszene der Aufklärung fungierten und zugleich Ängste des stiele de la lumiere auszuagieren hatten, steht nun das plötzliche Sehen unter gegenaufklärerischen Vorzeichen. 33 Eine Evidenz des Verworrenen, nicht des Klaren und Distinkten, ist sein Fluchtpunkt. Die Blendung vor den Bildern van Goghs oder Cezannes ist heuristische Chance und Voraussetzung des Sehens als Pathos des Neuanfangs. Ihr liegt ein Programm des Vergessens kultureller Codes zugrunde. Rilke lässt in seiner Schilderung des Seheindrucks vor den Bildern der Gedächtnisausstellung zum Tode Cezannes die Widerständigkeit des Gesehenen hervortreten. Alles andere als die schlichte >Unschuld des Auges< (Ruskin) ist diese mühsame Arbeit des Blicks, die zunächst wie verloren auf dem Bild herumirrt, ohne an Bekanntes anknüpfen zu können. »Aber man braucht lange, lange Zeit fiir alles«, schreibt Rilke seiner Frau am 10. Oktober aus Paris: Wenn ich mich erinnere, wie befremdet und unsicher man die ersten Sachen sah, als sie mit dem neugehörten N a m e n zusammen vor einem waren. U n d dann lange nichts, und plötzlich hat man die richtigen Augen. 3 4
Der Blick muss durch eine Leere hindurchgegangen sein, blind werden und »lange nichts« fassen, bis ihm »plötzlich« buchstäblich Erleuchtung zuteil wird. Ein mystisches Erlebnis in der Immanenz des Sehens widerfährt ihm, wenn er sich diesem Selbstverlust aussetzt, eine Epiphanie der Sichtbarkeit. Blitzartig sich zeigend und wieder verschwindend entsteht vor dem Blick im Bild Sichtbarkeit, anstatt selbstverständlich vor Augen zu liegen. Was Rilke sprachlich evoziert, ist die apparition des visuellen Kunstwerks, die später Adorno philosophisch begründete und an die Stelle der Anschaulichkeit der Hegel'schen Ästhetik gesetzt hat. Wenn Adorno vom »Augenblick des Erscheinens in den Werken« spricht, von ihrer »Epiphanie«, ihrer »aufblitzenden und vergehenden Schrift«, dem »Momentanen, Plötzlichen« und dem »Gefühl des ÜberfallenWerdens« und wenn er in dieser »Zündung von D i n g und Erscheinung« gar 33
Insofern ist auch Denis Diderots »Lettre sur les aveugles< von 1749 phischen, S.Sch.] Gebrauch fiir die Sehenden« (ä l'usage de cetix qui Vgl. Peter Utz: »Es werde Licht!« Die Blindheit als Schatten der Diderot und Hölderlin. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze gart, Weimar: Metzler 1994, S. 3 7 1 - 3 8 9 .
»zum [philosovoietit) gedacht: Aufklärung bei Mensch, Stutt-
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Rilke an Clara Rilke, Paris, 10. Oktober 1907, Werke, Bd. 4, S. 612.
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eine Überflügelung der Dingwelt »durch ihr eigenes Dinghaftes« sieht, so ist diese Koinzidenz mit Rilke kein Zufall. A d o r n o beruft sich wie Rilke a u f Baudelaire und Valery für eine Ästhetik des Ephemeren, die in der
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Leuchtschrift des Feuerwerks Bedeutung erfährt. 3 5 M a n müsste noch den seinerseits von Baudelaire inspirierten Walter Pater in d e m berühmten Schlusskapitel seiner >RenaissanceViviflcierung< (so Pater mit Novalis) 3 8 des M o m e n t s (»the wholy concrete moment«) 3 9 als rückhaltlose H i n g a b e an den intensiven Augenblick, »simply for those m o ment's sake«. 4 0 N i c h t nur James Joyce hat seinen Epiphanie-Begriff unter an35
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 14. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 123-132. Vgl. z.B. Charles Baudelaire: Les paradis artificiels (I860). CEuvres competes. Texte etabli et annote par Y.-G. Le Dantec. Edition revisee, completee et presentee par Claude Pichois, Paris: liditions Gallimard 1961, S. 379: »Le culte, l'adoration, la pri£re, les reves de bonheur se projettent et s'elancent avec l'energie ambitieuse et leclat d'un feu d'artifice; comme la poudre et les matteres colorantes du feu, ils eblouissent et s evanouissent dans les tenebres.« Dt. von Friedhelm Kemp: Die künstlichen Paradiese. Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden. Hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. Bd. 6. Les paradis artificiels, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 93: »Die Träume von Glück erheben sich und fahren blitzend mit dem ehrgeizigen Tosen eines Feuerwerks empor; wie das Pulver und die Farbenspiele des Feuers blenden sie und verlöschen in die Finsternis.«
Vgl. Max Imdahl: Bildbegriff und Epochenbewusstsein? In: Imdahl: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Reflexion - Theorie - Methode. Hg. und eingeleitet von Gottfried Boehm. Mit einem Beitrag von Hans Robert Jauß, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 518-557, hier S. 527. 37 Pater, Conclusion, in: The Renaissance, S. 233-239. 38 Pater, Conclusion, in: The Renaissance, S. 236: »Philosophiren, says Novalis, ist dephlegmatisiren, vivificiren.« Dasselbe Novalis-Zitat verwendet Hofmannsthal in dem Vortrag >Der Dichter und diese ZeitFuocoBriefen des Zurückgekehrtem gehorcht derselben Blickregie. Das Auge verliert sich in der Fremdheit eines Seheindrucks, der sich keinem Schema subsumieren lässt nicht einmal der ontologischen Kategorie des Bildes. Die Objektivierung dessen, was da gesehen wird, gelingt anfangs nicht, wird aufgezehrt vom Akt des Sehens. So schienen dem Zurückgekehrten die Bilder in den ersten Augenblicken grell und unruhig, ganz roh, ganz sonderbar, ich mußte mich erst zurechtfinden, um überhaupt die ersten als Bild, als Einheit zu sehen dann aber, dann sah ich, dann sah ich sie alle so, jedes einzelne, und alle zusammen, und die Natur in ihnen, und die menschliche Seelenkraft, die hier die Natur geformt hatte, und Baum und Strauch und Acker und Abhang, die da gemalt waren, und noch das andre, das, was hinter dem Gemalten war, das Eigentliche, das unbeschreiblich Schicksalhafte - das alles sah ich so, daß ich das Gefühl meiner selbst an diese Bilder verlor, und mächtig wieder zurückbekam, und wieder verlor!49
Es ist dieselbe Abfolge wie in Rilkes Seherlebnis geschildert, ein Verlust des Selbstgefühls, ein Taumeln des Blicks bis zur Blindheit, ein Zögern (Gedankenstrich als Pausenzeichen!), dann ein plötzliches Sehen, dessen Andersartigkeit und Evidenzerfahrung das Sehen so absolut setzt, dass es keine Spezifizierung dessen erfordert, was gesehen wird (»dann aber, dann sah ich«) und schließlich ein Hervortreten der Dinge im Bild mit der Überzeugungskraft »stummer Wesenheiten«.50 Valery möchte in seinem Essay >Einfiihrung in die Methode des Leonardo da Vinci< diese Loslösung des Blickes von der Suche nach begrifflich vorgegebenen Gegenständen zur Methode der Bildbetrachtung ausbilden - eine Methode, die in Anlehnung an Leonardos Inspirationslehre von der Entstehung der Gestalten aus vagen Flecken darin besteht, »daß man zunächst nichts in ihm wiedererkennt und Schritt für Schritt die Folge von Induktionen vollzieht,
Rilke kannte offenkundig die Anfang des Jahres erschienene Monographie, die auch fur Hofmannsthals >Die Briefe des Zurückgekehrten« die Hauptquelle darstellte. So berichtet er von Gesprächen mit Meier-Graefe vor den Bildern der Pariser CezanneAusstellung. Brief an Clara Rilke vom 7. Oktober 1907: »Ich war wieder im Salon d'Automne heute vormittag. Meier-Graefe war wieder bei den Cezannes anzutreffen ... Graf Kessler war auch da und sagte mir viel schöne Aufrichtigkeiten über das neue Buch der Bilder, das er und Hofmannsthal sich gegenseitig vorgelesen hätten. Das alles ging im Cezanne-Saal vor sich, der einen sofort wieder in Anspruch nimmt mit seinen starken Bildern.« Werke, Bd. 4, S. 606. Rilke und Meier-Graefe beziehen sich auch auf die gleichen Quellen, vor allem auf Emile Bernards Artikel, der 1904 in der Juli-Nummer von >L'occident< erschien, und auf die >Briefe an Emile Bernards die 1907 im >Mercure de France« erschienen. 49 Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W XXXI, S. 169. 50 Deudicher in den Notizen, vgl. S W XXXI, S. 435 eine Notiz zum fünften Brief: »so wie im Herzen des Erlebnisses findet man sich - einsam aber verklärt - im Herzenskern der stummen Dinge.« Die Nähe zur Sprache der »stummen Dinge« im Brief des Lord Chandos ist evident. 48
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wie sie die gleichzeitige Anwesenheit farbiger Flecken auf einem begrenzten Feld erforderlich macht, um dann von Metapher zu Metapher, von Vermutung zu Vermutung bis zum Verständnis des Themas aufzusteigen.« 51 Auch ftir Meier-Graefe besteht die Herausforderung an den Betrachter darin, dass »das Begriffliche auch für den Kenner Cezannes nicht deutlicher wird. Es handelt sich nicht um Spielereien a la Wo-ist-die-Katz'?«52 Für Rilke wie für Hofmannsthal liegt die Faszination solcher Blickentäußerung in der Verfremdung dessen, was sichtbar vor Augen liegt, dem In-dieFerne-Rücken des scheinbar Vertrauten, das zum Gegenstand des Staunens (Hofmannsthals θ α υ μ ά ζ ε ί ν ) wird, 53 vor dessen »Erhabenheit« der Blick des Betrachters analog zu dem des Malers »niedergeworfen« wird. 54 Rilkes Metapher von der Auswechslung der Augen — ein Bild, dessen Radikalität an E.T.A. Hoffmann denken lässt — zielt auf das Experiment einer Stunde Null der Betrachtung. Keine Brücke zu früher Gekanntem, keine erinnernde Einordnung soll die Fremdheit mildern dürfen. Um uns am »Äußersten zu prüfen und zu erproben«, um die Erfahrung des »bis ans Ende-Gegangenseins, bis wo kein Mensch mehr weiterkann«, zu machen, sollen alle kulturellen Konventionen und damit selbst die vertraute Gestalt der Dinge vergessen werden. 55 Rilke spricht in Termini der Transzendenz, einer Dichotomie von Dieseits und Jenseits, um die Unvermittelbarkeit des neuen Sehens mit dem alten möglichst scharf zu akzentuieren. Das »Seiende« habe »in einem Jenseits von Farbe eine neue Existenz, ohne frühere Erinnerungen« angefangen. 56 Die von Rilke so emphatisch beschworenen Dinge müssen mit der Erinnerung an die Konventionen ihrer Darstellung ihre Sinnfälligkeit verlieren, um als sichtbare Wirklichkeiten in überwirklichem Licht wieder zu erstehen. Losgelöst von den »gegenständlichen Begriffen« 57 entfaltet die Sichtbarkeit eine eigene Potenz, bildet eine verflüssigende Sphäre, in der die Gegenstände sich in actu konstituieren, zu handelnden Kraftzentren werden und ihre Bedeutung nicht länger wie eine Beschriftung appliziert tragen.58 51
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Paul Valery: Einfuhrung in die Methode des Leonardo da Vinci (1895). Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden. Hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt. Bd. 6. Zur Ästhetik und Philosophie der Künste, Frankfurt/M.: Insel 1995, S. 47. Meier-Graefe, Impressionisten, S. 186. Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlass (1892), G W RuA III, S. 345. Auch Musils Held Törleß zeichnet sich durch »ein Talent des Staunens« aus. Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 25. Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlass (1892), G W RuA III, S. 441. Rilke an Clara Rilke, Paris, 24. Juni 1907, Werke, Bd. 4, S. 594f. Rilke an Clara Rilke, Paris, 18. Oktober 1907, Werke, Bd. 4, S. 623. Meier-Graefe, Impressionisten, S. 186. Thema und sprachliche Realisierung einer Loslösung der Sichtbarkeit von den Gegenständen untersucht die immer noch anregende Studie von Wolfgang Iskra: Die Darstellung des Sichtbaren in der dichterischen Prosa um 1900, Münster: Aschendorff 1967.
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In Musils Novelle >Die Vollendung der Liebe* macht die Heldin Claudine diese Erfahrung eines Fremdwerdens der Dinge, welche die Herrschaft des Blickes umkehren und gleichsam wild werden. Das eigendich Unerhörte der Novelle liegt nicht in der Banalität der Ehebruchsgeschichte, sondern »in diesen von einer ungeheuren Sichtbarkeit durchschauerten Stunden«. In ihnen war es, »als ob sich mit einemmal die stummen, folgsamen Dinge von ihnen losgemacht hätten und seltsam würden, und sie waren hoch und aufgerichtet in dem halben Licht, wie Abenteurer, wie Fremde, wie Unwirkliche, von ihrem Verhallen ergriffen, voll Stücken eines Unbegreiflichen in sich, dem nichts antwortete, das von allen Gegenständen abgeschüttelt wurde«. 59 Anthropologisch präzise fuhrt Musil vor, welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Aufstand der Dinge, die sich »aufrichten«, in »lautlosem Toben« aggressiv vorrücken, 60 den Betrachter wie im >Törleß< mit »hundert schweigenden, fragenden Augen überfallen«,61 ihn »durchbohren« 62 oder sich verschwindend »zurückziehen«63 — und einem peripherischen Sehen, einer zerstreuten Aufmerksamkeit ohne Zentrierung, dem »halben Licht« eines Schwellenzustands des Bewusstseins zwischen äußeren und inneren Bildern, zwischen Wachen und Traum. Es ist derselbe starre, selbstverlorene Blick, wie ihn Lord Chandos auf die Dinge heftet. Ein Blick ist dies, der distanzlos an den Dingen »hängt«, anstatt ihnen zu gebieten, der »so geistlos, so gedankenlos« über die Erscheinungen hinweggleitet, bis ihm eine Form »ins Auge springt«, sich ihm »entgegenhebt« und »ihm etwas zu sein scheint«, so dass sie plötzlich ebenfalls im Halblicht der Dämmerung von innerem Leben überschwellen.64 Und so wie Törleß von den Dingen wie von hundertfachen Argusaugen überfallen wird, so ist auch im >Brief< des Lord Chandos diese hypertrophe Visualität und der Schwindel, den sie auslöst, in das Bild der schwimmenden Worte gefasst, die zu
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Robert Musil: Die Vollendung der Liebe (1911), Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 165. Musil, D i e Vollendung der Liebe, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 167: »Draußen tobte laudos die Landschaft«. Musil, Törleß, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 91. Musil, Törleß, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 55. Dabei geht das äußere und innere Schauen ineinander über, werden die äußeren Sinneseindrücke visionär verfremdet. Die »aufdämmernden« Dinge verlieren ihre gewohnte Proportion, »wie ein riesiges Zerrglas« legt sich das innere Schauen über sie (Musil, Törleß, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 49), die alltägliche, konturierte Vorstellung Basinis verschwindet und taucht wieder auf wie ein Vexierbild, »als eine kleine, ganz kleine Figur, die zeitweilig vor einem tiefen, sehr tiefen Hintergrunde aufleuchtete [sie!]« (ebd., S. 53). Hofmannsthal, Ein Brief, S W X X X I , S. 53: »daß mein Auge lange an den häßlichen, jungen Hunden hängt«; S. 50: »so geistlos, so gedankenlos fließt [das Dasein] dahin«; »Gegenstände [...], über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet«; S. 52: »diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag«.
starrenden Augen gerinnen. 6 5 D e r amerikanische Wahrnehmungshistoriker J o nathan Crary hat in seiner jüngsten Monographie die Gesetzmäßigkeiten einer durch Fixierung in tranceartige Absorption übergehende Aufmerksamkeit in Valerys E i n f ü h r u n g in die Methode des Leonardo da Vinci< formuliert gefunden. Es ist dieselbe Aufhebung der stabilen Achse zwischen betrachtendem Subjekt und dem Objekt des Sehens, wie sie Musil, Rilke und Hofmannsthal beschreiben. D e m starren Blick widerfährt es, dass die Dinge plötzlich handeln: Der Sessel verzehrt sich an O n und Stelle, der Tisch beschreibt eine so rasche Drehung, daß er durch sie bewegungslos wird; die Vorhänge fließen endlos, fortwährend herab. Wir stehen vor einer unendlichen Verwobenheit: um in all der Bewegung der Körper, dem Kreisen der Umrisse, dem verknoteten Ineinander, den Bahnen, den Gefällen, den Wirbeln, dem Netz aus Geschwindigkeiten wieder zu uns selber zu kommen, müssen wir uns an unser großes Talent geregelten Vergessens wenden. 66 U m mit M a x Imdahl zu sprechen, haben wir laut Valery von all diesen Energien des »sehenden Sehens« und von unserer körperlichen Verflochtenheit in das ständig sich verändernde Beziehungsgefiige abzusehen, u m uns und die Dinge im »wiedererkennenden Sehen«, 6 7 im »abstrakten Begriff« 68 wieder in den Griff zu bekommen. 65
Hofmannsthal, Ein Brief, S W XXXI, S. 49: »Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.« Die Ambivalenz von Schwindel und Erstarrung wird hier als Fülle, als produktives Chaos gedeutet. Demgegenüber erkennt Waltraud Wiethölter in der Metapher der starrenden Augen den Medusenblick als Folge einer narzisstischen Kränkung, eine Mangelerfahrung also (Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts, S. 5 7 - 8 5 ) . Auffällig ist die metaphorische Bewegung zwischen Erstarrung und Verflüssigung, zwischen Trockenem und Liquidem, klar Konturiertem und Begrenztem.
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Valery, Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci, Werke, Bd. 6, S. 27. Vgl. Crary, Aufmerksamkeit, S. 239. Solche Erfahrungen einer unheimlichen Verlebendigung und Verflüssigung der Dinge macht auch Törleß: »Da streifte sein Blick von ungefähr die graue, fensterlose Mauer, die hinter seinem Haupte stand. Sie schien sich über ihn gebeugt zu haben und ihn schweigend anzusehen. Von Zeit zu Zeit kam ein Rieseln herunter, und ein unheimliches Leben erwachte in der Wand.« Musil, Törleß, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 66. Systematisch entwickelt hat Max Imdahl den Gegensatz zwischen sehendem und wiedererkennendem Sehen zuerst in dem Aufsatz >Giotto. Zur Frage der ikonischen SinnstrukturImpressionistenMontagne St. VictoireBriefen des Zurückgekehrtem, SW XXXI, S. 434. Meier-Graefe, Impressionisten, S. 110. Meier-Graefe, Impressionisten, S. 110. Rilke an Clara Rilke, Paris, 8. Oktober 1907, Werke, Bd. 4, S. 608.
wie es ist«, schreibt Imdahl, sich Rilke tautologisch anverwandelnd, »es sei denn, alles wäre anders.« 85 Schon 1903 hat Rilke diese Umkehrung der Hierarchie von Sein und Schein an Rodins »Kunstdingen« durchdacht. »Das Modell scheint, das Kunst-Ding Mi«,86 schreibt er in lakonischer Kürze an Lou. Was in den Sprachformen einer mystischen Erfahrung als eine Art thomistischer quidditas beschrieben wird, 87 der Schauder vor den »reine[n] Dingen« 88 der Kunst, setzt nicht nur die Aufhebung eines mimetischen Verhältnisses zwischen Kunst und Natur voraus, sondern zieht die Differenz zwischen beiden als gegenüberstehenden Entitäten überhaupt ein. Das »Leben« oder die »Wahrheit« der Kunst macht die Natur überhaupt erst sichtbar, Kunst wird in Konkurrenz zur Wissenschaft zu dem Werkzeug der Erkenntnis. Im Produktionsprozess, der »Aktion des Machens«, 89 der »Realisation« 90 von Kunstdingen verleiht sie der Welt ihr Gesicht. 91 Hofmannsthal hat diese Versichtbarung in den Notizen zu den >Briefen des Zurückgekehrtem ebenso prägnant wie dramatisch formuliert: »Hineinschneiden in den Raum«, heißt es dort, »um dem Nichts ein Gesicht zu geben«. 92 Eine Wahrheitsdimension der Natur, die der Hofmannsthal'sche Zurückgekehrte zunächst »in unerträglicher Dumpfheit zu fühlen kaum ertragen konnte«, 93 bis sie sich vor seinen Augen auf den Bildern zur erfahrbaren Sichtbarkeit klärt, zeigt sich nur in diesen Bildern.
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Imdahl, Bildbegriff und Epochenbewußtsein?, S. 529. Rilke an Lou Andreas-Salome, 8. August 1903, BW Lou Andreas-Salome, S. 94. So Umberto Eco über die Epiphanien des »Stephen Heroc Das offene Kunstwerk, S. 335. Rilke an Clara Rilke, Paris, 13. Oktober 1907, Werke, Bd. 4, S. 616. Rilke an Clara Rilke, Paris, 13. Oktober 1907, Werke, Bd. 4, S. 616. Diesen Aspekt des »Denkens« der Kunst betont die Studie von Vladimir Vukicevic: Cezannes Realisation. Die Malerei und die Aufgabe des Denkens, München: Fink 1992, die auch die Forschung bis dato gut zusammenfasst. Die beste Deutung der konstruktiven Leistung der Cezanne'schen Realisation ist meines Erachtens immer noch die von Gottfried Boehm: Paul Cezanne, Montagne Sainte-Victoire. Eine Kunst-Monographie, Frankfurt/M.: Insel 1988, S. 54-66: >Was heißt: realisieren?Briefen des Zurückgekehrtem in guter Gesellschaft, wenn er in van G o g h s Bildern eine s t u m m e »Cultursprache« erkennt, deren »Offenbarung« ihn zugleich anfällt u n d von der Entzifferung ausschließt. 1 2 7 D i e Idee einer »Sprache« des Bildes, die fur die Generation Meier-Graefes eine wirkmächtige Metapher darstellte, wurde von d e m einflussreichen Theoretiker des K u b i s m u s
Daniel-Henry
Kahnweiler 1 9 1 5 als ernsthafte Theorie vorgestellt. Er spricht von der Unlesbarkeit der neuen Ausdrucksweise als von einer Schrift, die noch nicht habitualisiert ist, so dass sie die zugehörigen Erinnerungsbilder nicht aufrufen kann. Neuere Tendenzen angloamerikanischer Kunsthistoriker, wie Arthur C . D a n t o oder N o r m a n Bryson sie vertreten, knüpfen an diese Überlegungen im Kontext des poststrukturalistischen ecriture-Begriffs
oder einer formalistischen und se-
miologischen Bildlektüre an. 1 2 8 Ihr Ehrgeiz gilt somit der von Roland Barthes 1 9 6 9 als noch unbeantwortet deklarierten Frage: »Ist die Malerei eine Sprache?« 1 2 9 Bislang sei man freilich außerstande, so Barthes' skeptische Analyse, 125 126
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Cezanne, Über die Kunst (Gespräche mit Gasquet), S. 41. Baudelaire, L'ceuvre et la vie d'Eugene Delacroix, CEuvres competes, III: L'art romantique, S. 1119f.: »La nature n'est qu'un dictionnaire ...«. Vgl. die Übersetzung in Delacroix, Mein Tagebuch, S. 261: »»Die Natur ist lediglich ein Wörterbuchs wiederholte der häufig. Um die Tragweite des diesem Satz innewohnenden Sinns richtig zu erfassen, muß man sich die gewöhnlichen und mannigfachen Benützungsarten des Wörterbuchs vorstellen. Man sucht darin den Sinn der Worte, die Entstehung der Worte, die Etymologie der Worte; endlich entnimmt man ihm alle Elemente, aus denen sich ein Satz oder eine Erzählung zusammensetzt. Kein Mensch jedoch hat jemals das Wörterbuch als eine Komposition im poetischen Sinne des Wortes betrachtet. Die Maler, welche sich von der Phantasie leiten lassen, suchen in ihrem Wörterbuch die Elemente, die zu ihrer Auffassung passen. Überdies geben sie ihnen, indem sie sie mit einer gewissen Geschicklichkeit zurichten, ein ganz neues Gepräge.« Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, SW XXXI, S. 439. Angesichts dieser »Cultursprache« der Bilder betreibt der Zurückgekehrte Sprachkritik. Vgl. Ν 22, S. 435: »[(vor van Gogh) 3ter Brief. Sie schreiben eine verfluchte Sprache. Früher hab ich nicht darauf geachtet [...] Nichts von Tact].« Kahnweiler ist hier referiert nach Arthur C. Danto: Das Fortleben der Kunst. Aus dem Englischen von Christiane Speisberg, München: Fink 2000, S. 85; Norman Bryson: Das Sehen und die Malerei. Die Logik des Blicks. Aus dem Englischen von Heinz Jatho, München: Fink 2001, vor allem Kap. IV: >Das Bild von innen und von außen«, S. 95-116. Auch Brysons semiotischer Ansatz ist gegen den »Perzeptualismus« einer mimetischen BildaufFassung gerichtet. Anstelle der Verdopplung der Welt ist der Status des Bildes ein Zeichenstatus, der als kulturelle Praxis vor allem durch soziale Kontrollmechanismen geprägt ist. Roland Barthes: Ist die Malerei eine Sprache? (La Quinzaine Litt£raire, 1969). In: Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 157-159.
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»das allgemeine Vokabular und die allgemeine Grammatik der Malerei zu erstellen.« Die Schwierigkeiten, die es bislang verhindert haben, dass »der Semiologie als Wissenschaft von den Zeichen [...] der Übergriff auf die Kunst« gelungen ist, sind genau dieselben, die sich schon Meier-Graefe gestellt hatten, nämlich die Unmöglichkeit, »die Signifikanten und die Signifikate des Bildes auseinanderzudividieren und ihre Substitutions- und Kombinationsregeln zu systematisieren.«130 Das Problem harrt weiterhin der Lösung. Bekanndich ist es der zweideutige Ausspruch Cezannes über »La verite en peinture« in einem Brief an Emile Bernard vom 23. Oktober 1905 - zweideutig in der Dialektik zwischen Konstatieren im Sinne der Sprache und Tun im Sinne der Realisierung dessen in der Malerei, worüber sich nicht sprechen lässt —, der Derrida zu seinem gleichnamigen Buch veranlasst hat.131 Überlegungen zur »Sprachlichkeit von Bildern«, zur »Sprache der Kunst« sind in der gegenwärtigen Debatte um den Iconic turn en vogue, motiviert durch die Suche nach Vermittlungen zwischen dem alten Leitmedium Schrift und den scheinbar davon losgekoppelten Bilderfluten.132 Als Hofmannsthal 1920 resümiert, welche epochalen intellektuellen Leistungen der »Nation« als kulturelles Erbe bleiben werden, billigt er MeierGraefe die zentrale Rolle eines »Machtfactors« zu. Aus Rodaun schreibt er dem Kunsthistoriker, in der Melancholie des Älterwerdens und des Rückblicks sei er ins Reine darüber gekommen, »dass diese ganze Reihe Ihrer Publicationen zu dem Wenigen gehört, wodurch der Nation [...] wirklich etwas gegeben ist.« Dieses Geschenk an die »unglückliche problematische Gemeinschaft der redenden und denkenden Menschen« vergleicht er mit der Bedeutung der Brüder Grimm für die Herausbildung einer Kulturnation der Deutschen: Tatsächlich wirkt Ihre Person als der Punct, um den sich eine Schwenkung des Aufmarsches im Geistig-eruptiven vollzieht, und Sie mögen, wenn man es später im Großen sehen wird, als ein ähnlicher Machtfactor angesehen werden, als wir heute die Brüder Grimm etwa anzusehen gewohnt sind. 133
Hofmannsthal berührt mit dieser >nationalen< Attribuierung eine prekäre Frage, die den Kunsthistoriker zeidebens Anfeindungen und Missverständnissen ausgesetzt hatte. »Man zog vor, mich wegen meiner Bücher über franz. Meister einen Landesverräter zu nennen,« bringt Meier-Graefe in einer autobiographischen Skizze die Schmähungen auf den Punkt, denen er nicht nur durch 130 131
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Barthes, Ist die Malerei eine Sprache?, S. 157. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, Wien: Passagen 1992, vgl. zur Zweideutigkeit von »langage« fiir das Idiom der Malerei S. 1 - 3 . Vgl. etwa Rolf Wedewer: Zur Sprachlichkeit von Bildern. Ein Beitrag zur Analogie von Sprache und Kunst, Köln: Dumont 1984, und den Ausst.Kat.: Eleonora Louis und Toni Stooss (Hg.): Die Sprache der Kunst. Die Beziehung von Bild und Text in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Ostfildern-Ruit: Edition Cantz 1993. Hofmannsthal an Meier-Graefe, Rodaun, 19.2.1920, BW Meier-Graefe, S. 72.
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deutschnationale Vertreter der Z u n f t wie H e n r y T h o d e , sondern auch durch viele Schriftsteller ausgesetzt war. 1 3 4 W ä h r e n d Rilke und Hofmannsthal die »Leidenschaft« für »die französische Malerei von M a n e t bis Maurice Denis und van G o g h « mit Meier-Graefe nicht nur teilten, wie Hofmannsthal 1 9 0 5 M a ximilian H a r d e n gegenüber gesteht, 1 3 5 sondern sie seiner Vermittlung maßgeblich verdankten, wurde dieses leidenschaftliche Eintreten fiir die Franzosen als K a n o n der M o d e r n e d e m Kosmopoliten im wilhelminischen Deutschland als Landesverrat ausgelegt. Jenseits der politischen D i m e n s i o n (Meier-Graefe versuchte 1918 vergeblich eine kulturpolitische Aktion gegen den deutschen »Stumpfsinn« des M i litarismus a u f den Weg zu bringen, sein »Aufruf fiir ein neues Deutschland« versandete im Desinteresse der aufgerufenen Schriftsteller, unter ihnen Gerhart H a u p t m a n n ) 1 3 6 ging es dabei auch u m den Streit in der Auffassung dessen, was das »Künstlerische« an der Malerei sei — ob die »Technik« oder »das geistige Wollen« des Künstlers. Meier-Graefe unterscheidet in seiner >Entwicklungsgeschichte< zwei Überlieferungen in der bildenden Kunst, »die eine verhältnismäßig künstlerisch, die andere verhältnismäßig literarisch.« N u r ersterer habe das Interesse zu gelten, deren Hauptresidenz aber »ist gegenwärtig Paris. Kein Vaterlandsgefuhl kann an dieser Tatsache etwas ändern.«' 3 7 Seine Opposition Meier-Graefe, Autobiographische Skizze, in: Kunst ist nicht fiir Kunstgeschichte da, S. 16f. 135 Hofmannsthal an Maximilian Harden, 1.6.1905; Bundesarchiv Koblenz. Zitiert nach der Einleitung von Ursula Renner, BW Meier-Graefe, S. 17. 136 Vgl. Meier-Graefe an Richard Dehmel, 15.10.1918, in: Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da, S. 131-134, und: Aufruf fiir ein neues Deutschland, ebd., S. 134—137, vgl. S. 135: »Getrieben von einem Patriotismus, der alle Mittel erlaubt schienen ließ, träumten unsre Geschäftsführer (Führer) eine Macht ohne Geist, sogar (wenn nicht) ohne Recht, eine Weltherrschaft, die sich auf die Güte der Waffe, auf wirksame Organisation und andere materielle Mittel stützte [...]. Wo sind die geistigen Führer Deutschlands geblieben?« Zur enttäuschenden Antwort Gerhart Hauptmanns vgl. Meier-Graefe an Richard Dehmel, 13.11.1918, ebd., S. 139. Obwohl Hofmannsthal solche kulturpolitischen Ziele, die von einer geistigen Erneuerung der Nation durch eine Aristokratie des Geistes< träumten, durchaus teilte, gab es in Fragen der Kulturpolitik Spannungen zwischen den beiden, die sich 1908 in der Tschudi-Affäre entluden. Als die freien Studenten eine Versammlung abhalten wollten, um Hugo von Tschudi, den vom Kaiser wegen des Erwerbs französischer Bilder abgesetzten Direktor der Berliner Nationalgalerie zu unterstützen, sollten Meier-Graefe und Karl Scheffler zu den Studenten sprechen. Hofmannsthal schrieb daraufhin den Studenten und warnte sie vor einer Protestversammlung mit »so radikalen Elementen« wie Meier-Graefe, er plane statt dessen eine diplomatische Sonderaktion am Hof (Karl Scheffler: Die fetten und die mageren Jahre, München: List 1946, S. 239). MeierGraefe schrieb Hofmannsthal daraufhin einen scharfen Brief, der mit dem Satz endete: »Ich möchte Ihnen wehethun, lieber Hofmannsthal, nicht um Unbill zu rächen, sondern um durch die wunde Stelle zu Ihrem Inneren, zu dem eigendichen Hofmannsthal zu dringen, der sich selbst entzieht.« Meier-Graefe an Hofmannsthal, 29.3.1908, in: Kunst ist nicht fiir Kunstgeschichte da, S. 166f., hier S.167. 134
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Meier-Graefe, Entwickelungsgeschichte, Bd. 1 (1904), S. 25.
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gegen die »ganze deutsche Kritik«, welche »unter einer höchst zweifelhaften Deutschtümelei« leide, nimmt nicht nur die nationalen Scheuklappen aufs Korn, die deutsche Kleinmeister zu Klassikern erheben, sondern erkennt »das Schädlichste« in der »vage[n] Consistenz«, die »ein alles u nichts sagendes Phrasentum ist«.138 Die Präzision, die Meier-Graefe hier einklagt, gilt der malerischen Technik. Diese Auffassung wurde von etablierten Vertretern des Fachs wie Henry Thode oder auch Carl Justi als unkünsderischer Materialismus verdammt. »So lange wir auf das Technische achten, empfinden wir nicht künstlerisch,« polemisiert Thode gegen Meier-Graefe, und auch Justi sieht in seiner >VelazquezDer junge Menzel· eine weitere programmatische Standortbestimmung der deutschen Kunst nachschickte.140 In Böcklins »Verzicht auf die eigenste Sphäre des Malers«, auf das »Wesen des Malerischen«, das von ihm als »Schmiererei« abgewertet und »der Deutlichkeit, zumal dem Umriß der Figuren geopfert« werde, sieht Meier-Graefe »alle Sünden der Deutschen gegen die Logik der Kunst« vereint.141 »Der Fall Böcklin ist der Fall Deutschland«, bringt der letzte Satz der skandalträchtigen Böcklin-Monographie den Sündenfall der Deutschen und ihre Vertreibung aus dem Paradies der Kunst auf den Punkt.142 An dem Lieblingsmaler der Dichter statuiert er in Anlehnung an Nietzsches Kulturschelte in >Der Fall Wagner< ein Exempel, das dem »gewohnten Weg der deutschen Kunst [...] im Gedanken zu ertrinken« und die Malerei als »Filiale der Poesie« zu missbrauchen, ganz generell gilt.143 Was Thode oder Justi als Idealismus der deutschen Kunst preisen, bezeichnet er drastisch als »Wucherung philosophischer Suggestionen in der deutschen Malerei, die wie Unkraut das Bild bedecken und sehr oft ganz zerstören.«144 Der von den Fin de ««^»-Schriftstellern so geliebte »Centauromorphismus«145 von Böcklins my138
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Meier-Graefe an Richard Dehmel, 26.2.05, in: Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da, S. 113. Henry Thode: Böcklin und Thoma. Acht Vorträge über neudeutsche Malerei, Heidelberg: Winter 1905, S. 106f.; Carl Justi: Diego Velazquez und sein Jahrhunden, Zürich: Phaidon 1933, S. 18 [Erste Auflage 1888], Vgl. Krahmer, Meier-Graefes Weg zur Kunst, S. 197f. Meier-Graefe, Der junge Menzel. Von Hofmannsthal im >Brief an den Buchhändler Hugo Heller< 1906 als Lektüreempfehlung zum »höchst prekäre[n] Problem der deutschen bildenden Kunst« gegeben. Vgl. G W RuA I, S. 374f. Meier-Graefe, Der Fall Böcklin, S. 187f., S. 197. Meier-Graefe, Der Fall Böcklin, S. 270. Meier-Graefe, Der junge Menzel, S. 243. Meier-Graefe, Der junge Menzel, S. 245.
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thologischen Naturszenerien gerät in das Fadenkreuz des Kunstkritikers wegen der »allseitigen Deutlichkeit«, der aufdringlichen Symbolik, die v o m Betrachter nicht verlangt, zu sehen, sondern >mit den Sinnesorganen zu philosophieren^ 1 4 6 Meier-Graefes Kritik fällt deswegen so fundamental (und in dieser Polemik auch ungerecht) aus, 1 4 7 weil hier eine »Verkennung der Kunstgrenzen« vorliegt, 1 4 8 weil »der eigene Anspruch der Bildfläche« missachtet und das Bild als B ü h n e fur dramatische Regieleistungen missbraucht wird. 1 4 9 D i e kulturpädagogische Intention Meier-Graefes in seinem Versuch, a u f den deutschen Kunstgeschmack durch eine U m w e r t u n g der Werte Einfluss zu nehmen — u n d in diesem Kontext steht auch sein Marees-Projekt, das den Deutschen ihren >wahren< Klassiker nahebringen will - , ist ein radikaler Vorstoß zur Durchsetzung einer Reinigung der Mittel, eine letzte Konsequenz aus der Emanzipation des Bildes von der Vorherrschaft der Literatur.
Meier-Graefe, Der Fall Böcklin, S. 250. Polemisch gewendet gegen die BöcklinVerehrung von Franz Servaes, in >Präludien. Ein Essaybuchmetaphorische< Übertragung zwischen Nervenreiz, Vorstellungsbild und Laut geleistet wird. 157 Ob die »Metapher als ein besonders geeigneter Kandidat [erscheint], strukturelle Einsichten in die Funktionsweise von >Bildern< zu eröffnen« (Gottfried Boehm), ist auch heute in der aktuellen Mediendiskussion eine viel diskutierte Frage, die in den Kontext eines erweiterten, anthropologischen Bildbegriffs weist. »Noch Danto benutzt die Metapher als Paradigma des Ästhetischen schlechthin, erkennt in ihr eine Struktur, die Kunstwerken überhaupt innewohnt«, referiert Boehm in seinem Sammelband >Was ist ein Bild?Unzeitgemäßen Betrachtungen gekannt hat. Es geht hier nicht um wechselseitigen Einfluss, sondern um eine gemeinsame Problemstellung. Ähnlich argumentiert auch Horn, Die Grenzen der sokratischen Erkenntnislust. Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, S. 26f. Vgl. auch: Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984; Bohn (Hg.), Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik; neuerdings: Hans Belting und Dietmar Kamper (Hg.): Der zweite Blick: Bildgeschichte und Bildreflexion, München: Fink 2000; Belting, Bild-Anthropologie. Fiedler, Aphorismen, Schriften zur Kunst II, S. 97.
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Begriffe, Ziel ist die Sichtbarmachung des verdrängten anarchischen Potentials der Bilder.160 Erlaubt ist mithin, den Weg vom Begriff zum Bild rückwärts zu gehen und mit Nietzsche gesprochen »in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfugungen zu reden.« Dass das Gefälle von Wort und Erscheinung ambitionierte Literatur generiert, fuhrt Hofmannsthal im >Chandos-Brief< vor, der die Sprachverstörung nicht wie Nietzsche in diskursiver Logik entfaltet, sondern sie literarisch gestaltet.161 Dem Ich-Erzähler, der seinem Briefpartner über die Gründe seines Verstummens Rechenschaft ablegen möchte, kippt die Sprache in ihre metaphorische Anarchie zurück und gewinnt dadurch jene »schillernde Färbung«,162 die den Text zu einem Höhepunkt der Literatur der Jahrhundertwende werden lässt. Die Begriffe zerblättern wie modrige Pilze, materialisieren sich zu körperlichen Dingen, Worte starren als Augen zurück.163 Das Metaphernfeld des Fließens und Gerinnens versucht die Dynamik einer verfließenden Welt zu bannen, auf die kein Begriffsgerüst mehr zugreifen kann.164 Und auch hier erscheint die Sprachkrise als Komplement einer Irritation des Sehens und der visuellen Vorstellung. Die Verstörung des Lord Chandos, die als pathologischer Fall inszeniert wird,165 fuhrt die Kehrseite dessen vor, was als Emphase der begrifflosen Sichtbarkeit von Kunsttheoretikern wie Fiedler zum Zeichen der Moderne erklärt wird. Eine Verbindung von Sprachphilosophie und Anthropologie der Vorstellungsbildung ist symptomatisch für die Überlegungen zur Eigenleistung der Sprache in der Konkurrenz der Medien. Eine besonders signifikante Position vertritt dabei Theodor A. Meyers an Lessings >Laokoon< anknüpfende Abhandlung >Das Stilgesetz der PoesieAsthetischen Theorie< würdigt Adorno dieses Insistieren auf der Unanschaulichkeit der Sprache und der »Logizität« der Poesie als die genuine Leistung Meyers. Eine der seltenen Ausnahmen im »spießbürgerlichen« Umfeld einer nachhegelianischen Anschauungsästhetik sei der »so gut wie vergessene Theodor Meyer, der nachwies, daß den Dichtungen keinerlei sinnliche Anschauung dessen, was sie sagen, korrespondiert und daß die Konkretion der Dichtungen in ihrer Sprachgestalt besteht anstatt in der höchst problematischen optischen Vorstellung, die sie in Gang bringen soll.« »Mit Unsinnlichem infiltriert« entspricht die Poesie, so Adorno, »dem Oxymoron unsinnlicher Anschauung«.168 Indem Meyer die Unanschaulichkeit als das auszeichnende Charakteristikum der Sprache vertritt, beharrt er nicht nur auf der Thematisierung des Mediums gegen eine idealistische Ästhetik, welche die Sprache zum »Vehikel« für sinnlich gemachte Ideen degradiert,169 sondern wendet auch einen in der Paragone-Literatur traditionell formulierten Nachteil der Sprache offensiv ins Positive. Schon Leonardo da Vinci hatte im Malerbuch im Wettstreit zwischen Malerei und Dichtung letzterer deren Unsinnlichkeit vorgeworfen. Von der Voraussetzung ausgehend, dass das Auge il senso piü nobile sei, könne der Wortkünstler nur auf Umwegen als Künsder wirken, da er nur indirekt, über den schwächeren Spiegel der Einbildungskraft Gestalten schaffen könne. Das Verhältnis aber zwischen dem Sinnenbild und der Imagination ist fur Leonardo der Abschwächung der sinnlichen Präsenz vergleichbar, wie sie zwischen dem schattenwerfenden Körper und seinem Schatten stattfindet.170 Ende des neun166
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Vgl. das instruktive Vorwort von Wolfgang Iser in seiner Neuedition: Meyer, D a s Stilgesetz der Poesie, S. 13-20. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, S. 80 zitiert aus Fechners >Psychophysik< (Gustav Theodor Fechner: Elemente der Psychophysik, Leipzig: s.n. I 8 6 0 ) , Bd. 2, S. 469ff.; im selben Abschnitt zitiert er (S. 91) aus Heymann Steinthals Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft«, 2. Aufl. Berlin: Dümmler 1887, S. 272. Beide Male handelt es sich um Belege für die Unanschaulichkeit der von der Sprache erzeugten Vorstellungsbilder. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 150f. Vgl. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, S. 34: »Dann wäre die Sprache nicht das Vehikel, sondern das Darstellungsmittel der Poesie.« Leonardo da Vinci, Traktat von der Malerei, Faszikel 3: Wettstreit zwischen Malerei und Poesie«, hier §§ 17 und 18, S. 12f.
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zehnten Jahrhunderts wurde mit der Verbreitung des Malereitraktats auch dieser Paragone erneut aktuell. Die Leonardo-Essays, Monographien und Ausgaben von Paul Valdry, Gabriel Seailles, Heinrich Ludwig, Marie Herzfeld, Houston Chamberlain und Woldemar von Seidlitz wurden unter anderen von Hofmannsthal genau studiert. 171 Hofmannsthal merkt sich in Chamberlains Leonardo-Essay die Stelle an, die über die Verschiedenheit der Mittel des Dichters und des Malers handelt. 172 Meyer erhebt nun im Anschluss an Lessing diese bemängelte Abstraktheit der Sprache zur eigentlichen Leistungsfähigkeit der Poesie. Seine Leitthese, wonach die Poesie nur möglich sei als Kunst der sprachlichen Vorstellung, ersetzt (hier ähnlich wie Fiedler) die Auffassung der Sprache als Repräsentation von Ideen durch eine wirkungsorientierte Sprachbetrachtung. Nach welchen Gesetzen kann die Sprache in der Vorstellung etwas zur Gestalt erwecken, das sich der Anschaubarkeit und eventuell sogar der Gegenstandsfähigkeit entzieht? Was unterscheidet die von der Sprache ausgelösten psychischen Gebilde von den optischen Wahrnehmungsbildern? Wie lässt sich aus der abstrakten Natur der Sprache auf die von ihr induzierten »überanschaulichen Gebilde« der sprachlichen Vorstellung schließen?173 Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die mangelnde Evidenz der angeblich durch das dichterische Wort übermittelten inneren »Sinnenbilder«. Nicht in »plastischer Bestimmtheit der Linien« und »wunderbarer Leuchtkraft der Farben« treten sie, wie von den Ästhetikern gefordert, vor unser inneres Auge. 174 Vielmehr eignet ihnen - und hier beruft sich Meyer auf wahrnehmungsphysiologische Erkenntnisse Fechners — eine Blässe und Verschwommenheit, die es unmöglich macht, Bilder, Klänge, Gerüche oder Geschmacksempfindungen »innerlich zu reproduzieren«. 175 Die Zumutung, aus den »verwitterte[n] und verwaschene[n] Trümmerstücken, die wir bei der »Enge unseres Bewußtseins und der Schwäche unseres Gedächtnisses« in unserem Bewusstsein vorfinden, »anschauliche farbige Vollbilder« 171
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Valery, Einfuhrung in die Methode des Leonardo da Vinci, Werke, Bd. 6, S. 7 - 6 1 ; Gabriel S6ailles: Leonard de Vinci. L'artiste et le savant. 1452-1519. Essai de biographie psychologique. Nouvelle edition revue et augmentee, Paris: Didier Perrin 1906 ( F D H 1898); Leonardo da Vinci: Buch von der Malerei. Übersetzt von Heinrich Ludwig, Wien: Braumüller 1882; Leonardo da Vinci. Der Denker, Forscher und Poet. Nach den veröffendichten Handschriften. Auswahl, Übersetzung und Einleitung von Marie Herzfeld, 2. vermehrte Aufl. Jena: Eugen Diederichs 1906 ( F D H 3149); Chamberlain, Immanuel Kant, Zweiter Vortrag: >Leonardo - Begriff und Anschauung« ( F D H 1194); Woldemar von Seidlitz: Leonardo da Vinci. Malerbuch. Vollständige Zusammenstellung seines Inhalts, Berlin: Julius Bard 1910 (zum Paragone S. 11-28). Chamberlain, Immanuel Kant, S. 102f. Hofmannsthal notiert sich am Rand das Wort »Drama«. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, Einleitung, S. 35. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, S. 21 und S. 80. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, S. 80f.
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herbeizuzaubern, gleiche der Aufgabe, Wasser in ein bodenloses Fass zu schöpfen. 176 Gegen das Mythologem vom sinnlichen Erscheinen der Idee in der klassisch-idealistischen Ästhetik in ihrer späthegelianischen Ausprägung bei Eduard von Hartmann und Friedrich Theodor Vischer setzt Meyer die Widerständigkeit der Sprache gegen die durch sie transportierten Bilder ins Recht. Nicht wie die Sprache, als »Vehikel« verstanden, Anschauungsbilder »in Rede umsetzt«, bzw. sie von der Phantasie des Autors in die des Lesers übermittelt, ist zu fragen, sondern wie sie als »Darstellungsmittel« allem, auch dem Sinnlichen »ihren eigenen Stempel aufdrückt«. 177 Das »Hindurchgegangensein dieser Formen und Bilder durch die Sprache« drückt unseren Vorstellungen die Sprachgestalt auf. 178 Diese Sprachgestalt aber beruht auf zwei wesentlichen Merkmalen der Sprache, ihrer Fähigkeit zur Abstraktion und ihrer Beziehungstätigkeit. Als »Abbreviatur der Wirklichkeit« zerlegt sie die einzelnen Komponenten der Erscheinung in sprachliche Merkmale und setzt sie zu neuen Verbindungen zusammen. 179 Ihre abstrahierende Kraft dringt uns aus einer unbestimmten Vorstellung, die aus »unübersehbaren Komplexen von Merkmalen« besteht, bestimmte Grundmerkmale auf. 180 Während die sprachlich nicht aufgerufenen Merkmale unter der Schwelle des Bewusstseins in Latenz (als Resonanzraum) verbleiben, werden die bezeichneten Merkmale in ein Beziehungsgeschehen gerufen. Aufgrund dieser Beziehungsmerkmale erteilt uns die Sprache eine Weisung zur Vorstellungsverknüpfung, sie übt einen Beziehungszwang auf uns aus. Niemals verschmilzt dieses Beziehungsgeschehen zum Bild, seine logische und abstrakte Struktur verharrt im permanenten Prozess der »Bezogenheit«, das Denken wird niemals zum Schauen. 181 In diesem Punkt übt Meyer auch Kritik an Lessing, der »vom inneren Schauen in der Poesie nicht lassen will«,182 während die Freiheit des poetischen Bildes doch gerade auf der Unmöglichkeit einer »einheidichen Sinneswahrnehmung« beruht. 183
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Meyer, D a s Stilgesetz der Poesie, S. 70f. Meyer, D a s Stilgesetz der Poesie, Einleitung, S. 30f. und S. 3 4 gegen Vischers >Ästhetiki, deren G r u n d t e n o r Meyer S. 3 0 folgendermaßen referiert: »[...] verwirft Vischer das Verfahren des Laokoon hinsichtlich der Poesie gänzlich [...].« D i e Poesie, die Kunst der innerlich gesetzten Sinnlichkeit, ist nicht abhängig von den Lauten der Sprache, die ja nur ein M e d i u m der » Z u f ü h r u n g « von Phantasiebildern, ein einfaches »Vehikel« sind. » M i t Phantasie in Phantasie arbeitend ist sie allein den Gesetzen der Phantasie Untertan.« Meyer, Meyer, Meyer, Meyer, Meyer, Meyer,
Das Das Das Das Das Das
Stilgesetz Stilgesetz Stilgesetz Stilgesetz Stilgesetz Stilgesetz
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Poesie, Poesie, Poesie, Poesie, Poesie, Poesie,
S. S. S. S. S. S.
33. 72. 40-45. 66f. 227. 238.
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»Der Tod der Anschauung ist die Auferstehung der Sprache«, formuliert Meyer in ebenso polemischer wie theatralischer Zuspitzung sein Plädoyer für die Reinigung der Mittel aus der Perspektive der Sprache und der Poesie.184 Denn die Befreiung der Sprache zu sich selbst kommt nicht nur der Fähigkeit zu abstrakter Begrifflichkeit, zur Formulierung von Negativität oder Potentialität zugute, 185 sondern sie ist vor allem auch die Voraussetzung für das Funktionieren des poetischen Sprachbilds. Wenn die Metapher das logisch Getrennte in einem kühnen Brückenschlag gleichsetzt, dann beruht diese Kombinatorik geradezu auf der »abstrahierende[n], die Totalität des Sinnenbilds aufhebende[n] Kraft der Sprache«. 186 Um das klassische Beispiel aus der aristotelischen Lehre aufzugreifen, so dürfen wir uns Achill natürlich nicht als zotteligen Löwen vorstellen, sonst verfiele das Bild der Lächerlichkeit. 187 Die Metapher zündet nur, weil wir die »durch die Sprache zerstörte Sinnlichkeit nicht wieder herstellen].« 188 Dieses Sprachgesetz gilt nicht nur fiir die Metapher als das poetische Sprachbild im engeren Sinn, sondern auch für die Herstellung von Evidenz durch eine poetische Bildlichkeit im weiteren Sinn (also die Überzeugung von der Lebendigkeit und Präsenz der erweckten Vorstellungen in der Poesie). Auch hier sind die »Bilder« der Poesie unvergleichbar: So malt die Poesie Bilder, die ihr keine andere Kunst nachmalen kann, Bilder, mit denen das äußere und innere Auge nichts anfangen kann, weil sie verworren, unübersehbar, ja schlechthin unsichtbar sind, und sie malt sie so, daß man meint, sie greifen zu können. 189
Poesis als Pictura, die alte Rede von der Malerei der Dichter gewinnt um 1900 einen neuen, riskanteren Sinn. Zu dem historischen Zeitpunkt, als die traditionelle Kategorie der Anschaulichkeit zur Disposition steht, 150 müssen die Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, S. 74. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, S. 73. 186 Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, S. 88. 187 Meyer benutzt ein anderes Beispiel, Das Stilgesetz der Poesie, S. 88f. Zur antiken Tradition der Metapher vgl. die komprimierte und profunde Darstellung bei Wolfgang Riedel: Die Macht der Metapher. Zur Modernität von Jean Pauls Ästhetik. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 34 (1999), S. 5 6 - 9 4 . 188 Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, S. 89. 189 Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, S. 239f. 190 Eine ähnliche Tendenz lässt sich auch in der Denkpsychologie der so genannten »Würzburger Schule« um Carl Bühler ausmachen. Auch sie weist die Ableitung der Denkvorgänge aus der Anschauung zurück und sieht in höheren mentalen Vorgängen ein abstraktes Beziehungsgeschehen. Vgl. Paul Ziehe: Selbstbeobachtung, Ästhetik, Wahrnehmung. Zu den experimentell-psychologischen Untersuchungen der »Würzburger Schule« der Denkpsychologie. In: Breidbach (Hg.), Natur der Ästhetik Ästhetik der Natur, S. 1 1 7 - 1 3 8 ; Helmut Klemm: Würzburg schrieb sich in den Kopf ein. Eine Schule aufbauen, das tat er gern, sehr gern: Wie Karl Bühler gegen Wilhelm Wundt die Gedanken entdeckt hat. In: FAZ, 17. November 2001, Tiefdruckbeilage S. IV. 184
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Bedingungen des Mediums thematisiert werden. Grundsätzlich neu muss dabei auch die Frage nach den Bildern in der Literatur gestellt werden. Im Paragone der Künste unter den Vorzeichen einer medialen Ausdifferenzierung konturiert die Literatur ihre eigenen Mittel.
2. Probleme der Versprachlichung von Bildern zwischen Kunstwissenschaft und Kunstliteratur Alräunchenmagie des Kritikers (Pater, Hofmannsthal, Meier-Graefe) Die in der Kunst- und Sprachphilosophie scharf gezogenen Grenzen zwischen Bildern und W o r t e n haben Konsequenz fiir das Schreiben über Bilder. Die positivistische Kunstwissenschaft der zweiten Jahrhunderthälfte scheint freilich unbehelligt von solchen medialen Nachdenklichkeiten. Als positive Wissenschaft, die seit R u m o h r ihre Etablierung zur universitären Disziplin betreibt, sichert sie ihre Identität durch eine Systemgrenze zur literarischen Kunstbeschreibung der Romantik. Ebenso wie die Nachbarwissenschaft der Philologie gewinnt sie die Autorität der Kennerschaft aus einem Ethos der Objektivität, das die eigenen Darstellungsmittel gerade nicht problematisieren darf. Die Kommentarstruktur muss in der Fiktion einer Selbstpräsenz der M o n u m e n t e vielmehr unsichtbar gemacht werden, die Interpretation hat sich selbst aufzuheben. 1 9 1 Erich Schmidts berühmte Wiener Antrittsvorlesung von 1 8 8 0 über >Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte« formuliert das Ethos der 191
Vgl. Udo Kultermann: Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft, München: Prestel 1990. Zur Abgrenzung der »exakten« Wissenschaft seit Rumohr von der romantischen Kunstliteratur ebd., S. 90ff.; Georg Kauffmann: Die Entstehung der Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. Zur Fiktion einer Selbstaufhebung der Kommentarstruktur im parallelen Projekt einer Literaturgeschichtsschreibung vgl. Jürgen Fohrmann: Der Kommentar als diskursive Einheit der Wissenschaft. In: Jürgen Fohrmann und Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 2 4 4 - 2 5 7 . Zur Ausdifferenzierung zwischen den Fachgelehrten und den »Gebildeten«, der Austreibung der darstellenden Literaturgeschichte aus dem universitären Bereich vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Kaiserreich, Stuttgart: Metzler 1989, S. 171ff.: >Die Literaturgeschichte und der ästhetische HistorismusPan< und knüpfte in Paris und London Kontakte zu Toulouse-Lautrec, Van de Velde, Oscar Wilde und William Morris. 195 In den Widmungen zu 192
Erich Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte [Wien 1880], In: Edgar Marsch (Hg.): Über Literaturgeschichtsschreibung. Die historisierende Methode des 19. Jahrhunderts in Programm und Kritik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986, S. 400—419, hier S. 412 zur darwinistischen Vererbungslehre: »Sie erkennt das Sein aus dem Werden und untersucht wie die neuere Naturwissenschaft Vererbung und Anpassung und wieder Vererbung und so fort in fester Kette«.
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Schmidt, Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte, S. 4 l 8 f . Julius von Schlosser: Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Österreich. Nebst einem Verzeichnis der Mitglieder bearbeitet von Hans Hahnloser [Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 1934]. In: Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung. ErgänzungsBand XIII, Heft 2, S. 141-228, hier S. 165f., 173. Zum Zusammenhang von Sickel und Morelli vgl. S. 173: »auch hier [bei Sickels diplomatischer Methode] handelt es sich ja um die durch exakte fast experimentelle Beobachtung kleiner und kleinster äußerer Merkmale fundierte Scheidung von Echt und Unecht, Original, Kopie und Fälschung«. Leitspruch der Wiener Schule sei es laut Schlosser gewesen, nie mit dem Dilettantismus zu paktieren. Vgl. Kultermann, Geschichte der Kunstgeschichte, S. 105ff.
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Vgl. Ron Manheim: Julius Meier-Graefe (1867-1935). In: Heinrich Dilly (Hg.): Altmeister moderner Kunstgeschichte, Berlin: Reimer 1990, S. 95-116; Peter H. Feist: Meier-Graefe, Julius. In: Metzler-Kunsthistoriker-Lexikon, Stuttgart, Weimar: Metzler 1999, S. 262-265; Krahmer, Meier-Graefes Weg zur Kunst; Moffett, MeierGraefe as art critic; Gaehtgens, Les rapports de l'historie de l'art. Beispiele für MeierGraefes literarische Produktion: Geständnisse meines Vetters. Novellen, Berlin: Ernst
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seinem sechzigsten Geburtstag wird ihm »die Aura des großen Dilettanten« als Ehrentitel verliehen. Wie ein Jean Paulscher Luftschiffer Giannozzo sei er »im Freiballon« über die museal erstarrte Kunstgeschichte geflogen »und sah von oben ganz Neues«.196 Diese Außenperspektive gehört maßgeblich zur Geschichte der Kunstgeschichte. Fiedlers Einfluss auf Fachvertreter wie Alois Riegl und Wölfflin ebenso wie auf die Selbstreflexion der Künstleravantgarde, auf Kandinsky, Klee oder Franz Marc, ist bekannt.197 Dass Meier-Graefe das kunsthistorische Bewusstsein einer ganzen Generation prägte, hat Wilhelm Worringer 1927 lakonisch konstatiert: »Gibt es doch ganze Kapitel Kunstgeschichte, die wir alle durch seine Augen gesehen haben — auch wenn wir glaubten, es wären unsere eigenen.«198 Fiedler fuhrt aus der Perspektive seines emphatischen Bildbegriffs den »Hochmut des beweisbaren Wissens« als Selbsttäuschung vor, denn diese sicheren Resultate beträfen immer nur Nebenzwecke der Kunst, die historischen Nebenumstände etwa, errichteten demnach nur neue Wortpalisaden um einen unzugänglich bleibenden inneren Kern des Kunstwerks. Die innere Geschichte der bildenden Kunst als Kunst wäre gegenüber solcher äußeren Systematik noch zu schreiben, doch frage sich, ob diese Aufgabe von einer Kunstwissenschaft überhaupt zu leisten sei, oder ob nicht vielmehr »das ganze Unternehmen ein innerlich verfehltes ist.«199 Und Meier-Graefe wird nicht müde, die Zunft immer wieder auf den Unterschied zwischen Kunst und Gelehrsamkeit aufmerksam zu machen, wobei er vor Polemik nicht zurückscheut. In der skandalisierenden Böcklin-Monographie legt er sich nicht nur mit dem Geschmackskanon der Fachvertreter an, sondern auch mit ihren Methoden:
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Rowohlt 1923; Der Vater. Roman, Berlin: S. Fischer 1932; sowie die literarisch ambitionierte Schriftstellermonographie: Dostojewski. Der Dichter, Berlin: Ernst Rowohlt 1926, und die in der Verlagsanzeige als dichterische Landschaftsmalerei angepriesene Reisebeschreibung: Nach Norden. Eine Episode, München: Piper & C o 1893. Emil Ludwig: Ohne Nummer, in: Julius Meier-Graefe. Widmungen zu seinem sechzigsten Geburtstage, S. 135f.: »Denn daß er kein Professor würde, ist seine klügste Hygiene gewesen. Er wagte, was Muther, trotz kläglicher Angriffe der Fakultäten, immer vermied: er blieb frei, verachtete Lehrstühle, Pension und Titel: er wagte es, mitten in Deutschland ohne Halsband herumzulaufen.« Vgl. Lambert Wiesing: Die Zustände des Auges. Konrad Fiedler und Heinrich Wölfflin. In: Majetschak (Hg.), Auge und Hand, S. 1 8 9 - 2 0 8 ; Werner Hofmann: Studien zur Kunsttheorie des 20. Jahrhundens. In: Zeitschrift fur Kunstgeschichte 13 (1955), S. 1 3 6 - 1 5 6 . Wilhelm Worringer, in: Julius Meier-Graefe. Widmungen zu seinem sechzigsten Geburtstage, S. 110. Fiedler, Aphorismen, Schriften zur Kunst II, S. 83f., hier S. 84, ferner S. 82 und S. 71. Zum schwierigen Verhältnis Fiedlers zur Kunstgeschichte als Wissenschaft vgl. Stephan Geiger: Probleme und Perspektiven einer Fiedlerschen Konzeption der Kunstgeschichte. In: Majetschak (Hg.), Auge und Hand, S. 8 1 - 9 4 .
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Man muß sich als deutscher Gelehrter gründlich hüten, eine Jahreszahl zu vertauschen, ein von der Fachliteratur anerkanntes Bild eines wenig bekannten Meisters einem nahestehenden anderen zuzuschreiben, oder gar eine gute, alte Kopie für ernst zu nehmen. Aber man kann auch heute noch in Deutschland über die elementarsten Grundsätze der Kunst den unerschrockensten Unsinn veröffendichen, ohne in die geringsten Fährnisse zu geraten.200
Über den Berliner Kunsthistoriker Max J. Friedländer schreibt er lapidar, von »Kunst« habe der »eigentlich keine Ahnung, nur von Echtheit.«201 Immer wieder wird von den kritischen Köpfen diese Spannung, der die wissenschaftliche Kunstbeschreibung ausgesetzt ist, in Dichotomien des Intuitiven und Diskursiven, von Auge und Wort, und von Leben und Mortifizierung beschrieben. In den Würdigungen zu Meier-Graefes sechzigstem Geburtstag sind diese Dichotomien bereits zu Stereotypen geworden, welche die Sonderstellung eines Kunsthistorikers beschreiben wollen, der die Paradoxic seines Faches aufzuheben scheint. Hermann Bahr überschreibt seinen Beitrag mit dem programmatischen Titel >Vom Sehen< und stellt darin einen Zusammenhang her zwischen der neuen komplexeren Seherfahrung und der Anforderung an eine neue »Kunstkritik der verwegenen höchsten Art«.202 Anstatt die Erscheinungen mit Namen zu erledigen, müssen die Worte diese Sichtbarkeit vermitteln, nicht im Sinne rhetorischer enargeia wie in der klassischen Ekphrasis als anschauliche Vorstellung eines Gegebenen, sondern als Stimulanz eines produktiven Vermögens, als Aktivierung eines Sehprozesses gegen die Trägheit vertrauter Schematisierungen. Nicht als Abbildungsverhältnis, sondern als energetischer Prozess zwischen Kunstwerk, Kritiker und Leser ist diese Visualisierung der Sprache vorgestellt. Der Kritiker wird zum Seher, dessen visionäre Kraft über die Barriere der Worte hinaus dem Leser die Augen eines kongenialen nachschaffenden Künstlers leiht. In diesem Sinn ist es zu verstehen, wenn Jakob Wassermann in derselben Festschrift von der Glut und Klarheit seiner Schriften spricht, die den Leser »mit seinen Augen sehen, mit seinen Nerven spüren« lehrten,203 wenn Worringer ihm bescheinigt, er habe einer Generation die »Organe« geschaffen, »um sich selbst in ihren künstlerischen Instinkten zu erkennen«,204 und wenn der Maler Leo König den Kritiker von gleich zu gleich anspricht: »Du schriebst für Maler, Du hattest dieselben Organe wie sie. Du fandest die Worte für ihre Sensationen.«205 Meier-Graefe, Der Fall Böcklin, S. 2 4 1 . Meier-Graefe an Ehefrau Annemarie, 13.1.1932, in: Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da, S. 459. 202 Hermann Bahr: Vom Sehen, in: Julius Meier-Graefe. Widmungen zu seinem sechzigsten Geburtstage, S. 1 2 - 1 4 . 203 Jakob Wassermann, in: Julius Meier-Graefe. Widmungen zu seinem sechzigsten Geburtstage, S. 15. 204 wiiheijjj Worringer, in: Julius Meier-Graefe. Widmungen zu seinem sechzigsten Geburtstage, S. 1 1 1 . 200 201
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Das Vertrauen darauf, dass im Falle dieses Kunstkritikers Worte die Augen ersetzen können, brachten die Zeitgenossen Meier-Graefe im besonderen Maße entgegen. So stellt es Worringer in seiner Rezension des Marees-Katalogs als »interessantes Experiment« vor, dass es Meier-Graefe in seinen wegweisenden Farbschilderungen der in Schwarzweiß-Photographien reproduzierten Bilder gelingt, mit den Mitteln einer »künstlerischen clair-voyance und eine[r] Erfindungskraft und Geschmeidigkeit des stilistischen Ausdrucks, die seinen Bildanalysen eine überaus starke Suggestionskraft gibt«, dasjenige sprachlich zu evozieren, worüber sich sonst nur deiktisch vor den Originalen »unter Zuhilfenahme des Zeigefingers« sprechen ließ. 206 Die Farbigkeit des Bildes verlangt dem Sprachgefühl des Kritikers am meisten ab, weil hier »nur derselbe beschränkte und tote Wortschatz an Farbenbezeichnungen zur Verfugung steht.« Meier-Graefes Farbenbeschreibungen sind, so Worringer, ein Beitrag zur Schulung des vernachlässigten »Organs« des Farbengedächtnisses. 207 Und in der Tat ist die Ersetzung der Reproduktion der Bilder durch ihre sprachliche Evokation in Meier-Graefes Werken Programm, weshalb auch an die Stelle von Muthers reich illustrierten Prachtbänden eine Trennung von Text- und Bildbänden und eine Zurücknahme der Illustration auf nur lose mit dem laufenden Text assoziierte Buchvignetten getreten ist.208 Vor allem aber bezieht sich die Attribuierung des Sehers auf Meier-Graefes visionären Sprachgestus, der ebenso wenig den »ledernen Kunsthistoriker-Schablonen« der deutschen Gelehrten vergleichbar ist wie dem eleganten Konversationston französischer Kenner. 209 Verglichen mit ihnen spricht, so Wilhelm Hausenstein in einem Artikel in der •Neuen Rundschau< 1915, Meier-Graefe als »ein Ringender, ein Beter, ein Stammler, ein Unverständlicher«. 210 Nicht »feine nüchterne Kennerschaft« ist hier am Werk, charakterisiert es Alfred Lichtwark, sondern ein Enthusiast, dem es mit der Kunst um die letzten Dinge zu tun ist.211 Damit scheint die Forderung Fiedlers erfüllt, der Kunstkritiker habe das einzelne Werk, das von seinem schöpferischen Entstehungsprozess abgeschnitten wie ein totes Relikt stumm vor ihm liegt, in intuitivem Nachvollzug der Produktion wieder in einen lebendigen Prozess zu überfuhren: 205
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Leo König, in: Julius Meier-Graefe. Widmungen zu seinem sechzigsten Geburtstage, S. 106. Worringer, Julius Meier-Graefe, Hans von Marees, S. 319f. Worringer, Julius Meier-Graefe, Hans von Marees, S. 321. Vgl. Krahmer, Meier-Graefes Weg zur Kunst, S. 186. Vgl. Meier-Graefe an August L. Mayer, 1 . 1 2 . 1 9 1 1 , in: Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da, S. 67f. Wilhelm Hausenstein, in: Die neue Rundschau 1 9 1 5 , S. 1703. Zitiert nach: MeierGraefe, Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da, S. 540f. Alfred Lichtwark, Brief vom 17.10.1908, in: Reisebriefe. Hg. von Gustav Pauli. Bd. 2, 1923. Zitiert nach: Meier-Graefe, Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da, S. 543.
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Wir sehen uns unmittelbar in die Tätigkeit des schaffenden Künstlers hineingezogen und erfassen das Resultat als ein lebendig werdendes. Wir reproduzieren die künstlerische Tätigkeit, und das Maß von Verständnis, zu dem wir gelangen können, ist abhängig von der produktiven Kraft unseres Geistes, mit der wir dem Kunstwerk begegnen. 212
Präsenz im Eros des Augenblicks gewährt Teilhabe an der im Kunstwerk sedimentierten ursprünglichen Welterfahrung des Künstlers - für einen aufblitzenden Moment, in dem die historische Differenz des Kunstwerks aufgehoben ist. »Vor solcher Bildung des Auges verschwindet auch die Schranke der Zeit und das Verständnis des ältesten Kunstwerkes ist ebenso unmittelbar, wie das des neuesten.« 213 Die Verwandlung der toten Kunstgeschichte zu lebendiger Kunstkritik hebt auch Hugo von Hofmannsthal in seiner Widmung an Meier-Graefe hervor und charakterisiert damit indirekt seine eigene Auffassung von der Aufgabe des Kunstkritikers, wie er sie an anderer Stelle in Auseinandersetzung mit Walter Pater entwickelt hat. Wenn er über Meier-Graefe schreibt, dieser habe eine »Höhe der intuitiven Analyse« erreicht, ein »Verstehen«, das »dem bloßen Kunsthistoriker nie erreichbar ist«, alles sei bei ihm »unmittelbare Funktion des Lebens [...], nichts abgeleitet und zusammengesetzt,« 214 dann entspricht diese Gegenüberstellung von >Leben< und >Geschichte< dem von Nietzsches zweiter unzeitgemäßer Betrachtung beeinflussten Tenor der Kunstkritik, wie ihn etwa der befreundete Eberhard von Bodenhausen vertrat. Zwei Essays des vielversprechend angetretenen Kunsthistorikers, der dann eine Karriere in Führungskreisen der Schwerindustrie machte, sind symptomatisch fur diesen lebensphilosophischen Hintergrund. 215 Im >PanNeuen Rundschau« 1904. Wieder steht Nietzsches Kernsatz >Die Wissenschaft nicht um der Wissenschaft, sondern um des Lebens willen« im Zentrum. Für den Kunsthistoriker bedeutet das, dass er diesen Kontakt zum Leben fiir uns Rezipienten herzustellen hat, »indem wir in ein erlebtes Verhältnis zu den Kunstwerken der Vergangenheit gebracht werden.« Auch hier wird die Evidenz des »lebendige[n] Sehen[s]«, welche »die Augen hell mach[t]«, der Übermittlung von »tote[m] Wissen« gegenübergestellt.218 Die Formel vom »Leben« in der Kunstkritik ist topisch. Wenn Meier-Graefe darüber nachdenkt, was einen guten Kunstschriftsteller ausmache, gebraucht er sie ebenso wie Bodenhausen oder Hofimannsthal. Die Kunstschriftstellerei erfordere »Leute, die die Kunst nicht wie eine in einem Kasten separierte Sache, sondern wie ein Lebensorgan betrachten«, 219 schreibt er Ernst Wiechert und stellt in einem aufschlussreichen, unveröffendichten Manuskript über Kunstkritik das »Erlebnis« in den Mittelpunkt einer Kunstkritik, die nicht den Kennern oder der Zunft, sondern »dem Menschen« dienen will. Ein solches Erlebnis zu vermitteln - auch darin urteilt Meier-Graefe zeittypisch - sei eine »nicht rezeptive, sondern durchaus produktive Tätigkeit.« 220 Einer Dialektik von Leben bzw. Erlebnis und Tod und der zwischen produktiver und reproduktiver Kunstkritik folgt auch Hofmannsthals Essay über den Kunstkritiker Walter Pater. Hofmannsthal, der sich mit Meier-Graefe über stilistische Fragen der Kunstkritik verständigt, dessen Aversion gegen das Fach teilt, statt bloßer »Benamsung« 221 wie der berühmte Kunstschriftsteller »auf Zusammenklang hin, auf Atmosphäre« schreiben möchte und dabei wie MeierGraefe auch fiktive Formen wie den Dialog oder fingierte Briefe einbezieht,222 216
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Eberhard von Bodenhausen: Entwicklungslehre und Ästhetik. In: Pan, Jg. 5, H . 4 (1900), S. 2 3 6 - 2 4 0 , hier S. 236, 237, 239. Bodenhausen, Entwicklungslehre und Ästhetik, S. 240. Eberhard von Bodenhausen: Aufgaben der Kunstgeschichte. In: Die neue Rundschau, 1. Jg. (1904), S. 5 4 2 - 5 5 1 , hier S. 543 und 545. Meier-Graefe an Ernst Wiechert, 25.3.1911, in: Kunst ist nicht fiir Kunstgeschichte da, S. 233. Meier-Graefe an Julius Levin (mit einem vierseitigen Ms. über Kunstkritik), 24.2.1927, in: Kunst ist nicht fiir Kunstgeschichte da, S. 1 5 0 - 1 5 2 , hier S. 151f. Meier-Graefe an Julius Levin, 24.2.1911, in: Kunst ist nicht fiir Kunstgeschichte da, S. 151. Vgl. Meier-Graefe an Hofmannsthal, 23.8.1905, B W Meier-Graefe, S. 23: »Ich finde in der Rede [Hofmannsthals >Shakespeares Könige und große Herren«, G W RuA I,
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sieht diese Kriterien lebendiger Kunstkritik außer bei Meier-Graefe bei Walter Pater verwirklicht. In einer paradoxen Wendung bescheinigt er dessen Studien über die K u n s t und Literatur der Renaissance, dass in ihnen »höchste, ferne Phänomene einer großen versunkenen Welt [...] in einer Weise behandelt [sind], die das Wesen trifft u n d so sicher Leben gibt wie ein Stoß ins Herz den Tod.« 2 2 3 Wenn die Kritik das Wesen trifft, so hat sie den Anspruch a u f Wahrheit, und doch ist das gespendete Leben über das subjektive Erlebnis des Kritikers vermittelt, der damit dieselbe verlebendigende produktive Kraft haben muss wie der Künstler. Dass die vollkommenste F o r m der Kritik »ihrem Wesen nach rein subjektiv ist und nur ihr eigenes Geheimnis und nicht das Geheimnis eines anderen zu enthüllen sucht«, dass die höchste Kritik die K u n s t »nicht von der Seite des Ausdrucks, sondern ausschließlich unter d e m Aspekt des empfangenen Eindrucks« betrachtet, hat a m provokantesten Oscar Wilde formuliert. 2 2 4 D a b e i ist Eros im Spiel und Magie. D e r Kritiker »ist in den Künstler verliebt, wie dieser ins Leben. In seinen H ä n d e n zuckt das Alräunchen dort, w o die Schätze der Erde nicht mehr verborgen schlafen, sondern gehoben worden sind.« S o wie der Künstler die D i n g e durch sich hindurchgehen lässt, u m sie zu verwandeln, verwandelt der Kritiker die Kunstwerke in seiner persönlichen Vision und verhilft ihnen damit zu einem weiteren Leben. D i e reproduzierende Phantasie des Kritikers wird der produzierenden Phantasie des Künstlers ebenbürtig: Irgendein Vers, ein Stückchen Ornament, eine Art, Augenlider und Lippen zu malen, impressioniert uns sehr stark, erzeugt in uns für einen Augenblick jenes aus Sehnsucht und Befriedigung gemischte Glücksgefuhl, das vom ästhetisch Vollkommenen hervorgerufen wird. Jedes solche Vollkommene, das wir auf unserem Wege liegen finden, ist ein verirrtes Bruchstück aus einer harmonischen fremden Welt, wie Meteorolithen, die irgendwie auf die Wege unserer Erde herabgefallen sind. Es handelt sich darum, aus dem verirrten Bruchstück durch eine große Anspannung der Phantasie fiir einen Augenblick eine Vision dieser fremden Welt hervorzurufen, im Leser hervorzurufen: wer das kann und dieser großen Anspannung und Verdichtung der reproduzierenden Phantasie fähig ist, wird ein großer Kritiker sein.225 S. 33-53] nur Anschauung, der ich mich gern verwandt nennen möchte, wenn das dem Handwerker erlaubt ist. So möchte ich wohl auch über Shakespeare schreiben [...], so ganz auf den Zusammenklang hin, auf Atmosphäre«; Meier-Graefe an Hofmannsthal, 31.12.1907, ebd., S. 29: »Ich hoffe, mit der Zeit meine Sachen lesbar zu machen. Das >Fach< ist höllisch im Wege«; Meier-Graefe an Hofmannsthal, 6.10.1916, ebd., S. 40: »Die Texte für solche Sachen denke ich mir natürlich nichts weniger als >kunsthistorisch< in dem bekannten Sinne.« Fiktive Prosaformen verwendet Meier-Graefe z.B. in der >Spanischen Reise< (1910). Dem Reisetagebuch sind fiktive Briefe beigegeben, darunter ein Brief an den zur Abfassungszeit 1908 in Griechenland weilenden »Loris«. In diesem von einer Hassliebe erzählenden Brief des >Handwerkers< an den >Dichter< geht es um die Herrschaft über die Worte. Ebd., S. 31: »Es war mir manchmal, als hätten Sie alle die Worte, die ich im Schweiße meines Angesichts suchte, ftir sich genommen, für sich und Ihresgleichen.« 223 224
Hofmannsthal, Walter Pater, G W R u A I, S. 194. Wilde, Der Kritiker als Künstler, Werke, Bd. 4, S. 130.
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Der magische Eros des Kunstkritikers setzt die Unverfügbarkeit und Fremdheit, den rätselhaften Torso-Charakter seines Gegenstands voraus. Was Fiedler als heuristisches Problem im Nachvollzug eines Kunstwerks formuliert hat dass in den Kunstwerken nur »bruchstückartige, vergängliche Zeichen« eines individuellen Schöpfungsaugenblicks, »Ruinen« eines einstigen Lebens zurückbleiben, die niemand »zu diesem Leben zurückrufen« kann,226 — Hofmannsthal wendet es zur ästhetischen Chance für den nachgeborenen Kritiker. Fragmentiert, zum Ausschnitt verfremdet, das vormals Marginale als Hauptsache anbietend, zur unendlichen Arbeit der Deutung und zum Denken von den Rändern her einladend,227 wird das opak gewordene Werk durch die trügerische Laterna Magica des Kritikers fiir die Gegenwart illuminiert. Dabei setzt der paradoxe Vergleich, wonach der Kritiker »so sicher Leben gibt wie ein Stoß ins Herz den Tod«, nicht nur die Fragmentierung, sondern auch den Tod des Werks, den Abbruch lebendiger Tradition voraus. Auch das Alräunchen ist eine zweideutige Metapher. Als das Galgenmännlein der Volkssage aus dem Sperma Gehenkter entstanden, verdankt es sein magisches Leben dem Tod, lässt einerseits die Milch von Kühen versiegen (der Milchfluss als poetologische Metapher im >Brief< des Lord Chandos!), während es andererseits Geheimnisse und verborgene Schätze ans Licht bringt.228 Es steht somit in der Ambivalenz von Zerstörung und Produktion, von Verbergen und Enthüllen. In jedem Fall wirkt es nur im Totenreich der Geisterbeschwörung und sein Zauber erwirkt eine trügerische Präsenz nur fur einen emphatischen Moment der Epiphanie, dessen Erlöschen den Kunstkritiker wie dessen Leser wieder ins Schweigen der prosaischen Welt endässt. In diese Ambivalenz von Illumination und Fremdheit, von nachschaffendem Produzieren ist fiir Hofmannsthal aber nicht nur der Kritiker, sondern auch der Dichter gestellt.229 In denselben Kontext gehört die berühmte Selbst225
Hofmannsthal, Walter Pater, G W RuA I, S. 195. Zur Bedeutung Paters fur Hofmannsthals Auflassung des Kunstkritikers vgl. Stamm, »Ein Kritiker aus dem Willen der Natur«; Braegger, Das Visuelle und das Plastische, S. 34-60: »Kritikerarbeit als »poetische Arbeit«; Briese-Neumann, Ästhet - Dilettant - Narziss, S. 99-115 und neuerdings vor allem Renner, Die Zauberschrift: der Bilder, S. 227-252. 226 Fiedler, Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst, Schriften zur Kunst I, S. 4lf. 227 Zum Denken von den Rändern her vgl. Derridas Überlegungen zum »Parergon«, ausgehend von Kants Ornamentästhetik in der »Kritik der Urteilskräfte in: Die Wahrheit in der Malerei, S. 31-124. 228 Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. I, Berlin, Leipzig: de Gruyter 1927, S. 320. Vgl. Stamm, Ein Kritiker aus dem Willen der Natur, S. 29. 229 Diesem Spannungsverhältnis im Werk Hofmannthals gelten die Forschungen Jacques Le Riders. Vgl. ders.: Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende, Wien u.a.: Böhlau 1997, sowie die Arbeiten Gotthart Wunbergs und seiner Schüler: Vgl. Gotthart Wunberg: Der frühe Hofmannsthal.
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Charakteristik Hofmannsthals in einem Brief an die Eltern 1903, wonach er alles »eigentlich erst auf einem sehr mühsamen Umweg genießen [könne], durch eine Art von Reproduktion«, durch ein Aufnehmen und Wiederherstellen, »fast wie etwas von meiner Phantasie Erfundenes.«230 Auch die Arbeit des Dichters beschreibt Hofmannsthal als magischen Vorgang in der Dialektik von Tod und Leben. »Die lebendigen Künstler sind wie die wunderbaren toten Leiber der Heiligen«, variiert er den Alräunchenvergleich an anderer Stelle zur Kontaktmagie des Reliquienkults, »deren Berührung vom Starrkrampf erweckte und Blindheit verscheuchte.«231 In diesem Punkt wird die von der Kunstwissenschaft so sorgfältig bewachte Grenze zwischen Kunstkritiker und Künstler verschliffen. Als Geisterbeschwörer arbeiten beide auf dieselbe ganz spezifische Weise am kulturellen Gedächtnis, indem sie die Schatten der Vergangenheit in ihren Texten oder Werken zu einer geisterhaften Präsenz rufen. Einen »Schattenbeschwörer ohne Maß« nennt Hofmannsthal den Dichter in dem Vortrag »Der Dichter und diese ZeitLoris< schreibt er an Gustav Schwarzkopf: »Ein gut Teil unserer poetischen Arbeit ist Auflösung erstarrter Mythen, vermenschlichter Natursymbole in ihre Bestandteile, eigentlich Analyse, also Kritikerarbeit.«233 In seinem Essay über Algernon Charles Swinburne gesteht Hofmannsthal diese produktive Verflüssigung erstarrter Mythen dem Kunstkritiker John Ruskin zu, »dessen Kritik ein Nachleben, ein dithyrambisches und hellsichtiges Auflösen und Wiedererschaffen ist.«234 Durch diese poetische Kritikerarbeit ist er seinerseits zum Anlass frir poetisches und bildkünstlerisches Nachschaffen geworden. Die englischen Präraffaeliten haben von ihm gelernt, die »zierlichen und zerbrechlichen Gefäße« der aus der Renaissance entlehnten Formen mit dem dionysischen Wein gegenwärtigen Lebens zu erfüllen.235 Die Kritiken des jungen Hofmannsthal zu Ausstellungen der Präraf-
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Schizophrenie als dichterische Struktur, Stuttgart: Kohlhammer 1965; Dirk Niefanger: Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne, Tübingen: Niemeyer 1993; Moritz Baßler und Friedrich Dethlefs (Hg.): Historismus und literarische Moderne, Tübingen: Niemeyer 1996. Hoftnannsthal an die Eltern, Rom, 12. Oktober 1902, Briefe II, S. 90. Hugo von Hofmannsthal: Eleonora Duse. Die Legende einer Wiener Woche (1892), G W RuA I, S. 478. Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, G W RuA I, S. 70; ders., Balzac, G W RuA I, S. 394. Hofmannsthal an Gustav Schwarzkopf, 23. Jan. 1891, Briefe I, S. 17. Hugo von Hofmannsthal: Algernon Charles Swinburne (1892), G W RuA I, S. 144. Hofmannsthal, Algernon Charles Swinburne, G W RuA I, S. 145.
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faeliten gelten nicht zuletzt diesem Verhältnis zwischen D i c h t u n g und » D e u tekunst«, d e m oszillierenden Status überkommener Symbole im neuen K o n text, der den Prozess des Zeichendeutens zu einem unabschließbaren macht. 2 3 6 Hofrnannsthals Parallelisierung von Kritik und Poesie k o m m t der Auffassung Oscar Wildes in d e m Essay >Der Kritiker als Künstler« nahe, ohne dessen ästhetizistischen Grundtenor zu teilen. Auch Wilde wertet die Leistung des Kritikers als d e m Dichten gleichgestellte Arbeit mit dem Material des kulturellen Gedächtnisses, 2 3 7 und auch er fasst diese Wiederbelebung als geisterhafte Beschwörung toter Bilder auf. 2 3 8 Als ein solcher Übergang zwischen Kunstkritik u n d Poesie nach d e m Gesetz der m o m e n t a n e n Erhellung lässt sich zum Beispiel Hofmannsthals Reiseerzählung >Augenblicke in Griechenland« lesen, die von den epiphanischen Augenblicken der Verlebendigung eines toten Kunstwerks erzählt. D i e Erfahrung des Klassischen vermittelt sich nur über die Flüchtigkeit eines unvermittelten Aufscheinens und damit über eine Struktur der Absenz, der enttäuschten Erwartung und des Entzugs. Der Reisende erzählt melancholisch von seiner Enttäuschung über die Leblosigkeit der ihn umgebenden steinernen Denkmäler der Antike, als ihm plötzlich in einem scheinbar unbedeutenden kleinen M u s e u m eine blitzartige Erscheinung widerfährt: In diesem Augenblick geschah mir etwas: ein namenloses Erschrecken: es kam nicht von außen, sondern irgendwoher aus unmessbaren Fernen eines inneren Abgrundes: es war wie ein Blitz, den Raum, wie er war, viereckig, mit den getünchten Wänden und den Statuen, die dastanden, erfüllte im Augenblick viel stärkeres Licht, als wirklich da war: die Augen der Statuen waren plötzlich auf mich gerichtet und in ihren Gesichtern vollzog sich ein völlig unsägliches Lächeln.239 D a s unsägliche Lächeln im Widerschein eines unwirklichen Lichts, der Augenblick im doppelten Sinne, als Zeiterfahrung »außerhalb der Zeit« und als Angeblicktwerden, wird zu einem deja vu, das im Unvertrauten das unheimlich 236
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Hugo von Hofmannsthal: Internationale Kunst-Ausstellung 1894, G W R u A I , S. 534-545; Über moderne englische Malerei. Rückblick auf die internationale Ausstellung Wien 1894, G W R u A I , S. 546-552; Englischer Stil, G W R u A I , S. 565-572. Als Lust an der unendlichen Semiose deutet Ursula Renner das Interesse des jungen Hofmannsthal an den Präraffeliten: Dies., Die Zauberschrift der Bilder, Kap. III: >Präraphaelitische >Tiefenphysiognomik< oder Grenzgänge der Kunst«. Vgl. den Brief an den Jugendfreund Edgar Karg von Bebenburg, 17. September 1894, BW Karg Bebenburg, S. 54: »Dichtkunst heißt doch, glaub ich, Deutekunst.« Wilde, Der Kritiker als Künsder, Werke, Bd. 4, S. 128: »Wie die großen Künsder von Homer und Aischylos bis hin zu Shakespeare und Keats ihren Stoff nicht unmittelbar dem Leben entnahmen, sondern ihm in Mythen, Sagen und alten Erzählungen nachspürten, so arbeitet der Kritiker mit Materialien, die andere gewissermaßen für ihn gereinigt haben.« Wilde, Der Kritiker als Künsder, Werke, Bd. 4, S. 157. Hofmannsthal, Augenblicke in Griechenland, G W RuA I, S. 624. Vgl. Pfotenhauer, Erosion des klassischen Italien-Bildes, S. 225f.
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Vertraute aufscheinen lässt. Ein plötzliches Wiedererkennen einer Verwandtschaft, ein »Verwobensein«, »ein gemeinsames Irgendwohinströmen«, das Aufblitzen kultureller Erinnerungsbilder überwindet die Distanz zwischen Betrachter und den erst so blicklosen Statuen aus der archaischen Zeit.240 Das Blitzlicht dieser Illumination zündet freilich nur für den Augenblick eines mystischen nunc. Anders als in Goethes die Antike verlebendigender Bildhermeneutik kann die antike Statue nur noch im Zwielicht der Spätzeit, im scheinhaften Moment vergegenwärtigt werden und gerät in dieser Inszenierung unter der Hand zu einer Allegorie der Vergänglichkeit.241
Palimpseste oder das Lächeln der >GiocondaGiocondaMona Lisa< aus dem Renaissancebuch Walter Paters vor, die zu einem klassischen Text der Decadence-Literatur wurde, der sie das Bild der Femme fatale vermittelt hat:242 W i r alle kennen das Gesicht und die Hände dieser Frau, auf ihrem marmornen Stuhl, von einem phantastischen Felsenkreis umgeben, in einem matten Licht wie auf dem Grund des Meeres. Das Wesen, das so rätselhaft da neben dem Wasser aufgetaucht ist
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Hofmannsthal, Augenblicke in Griechenland, G W RuA I, S. 624. Vgl. Friedmar Apel: Evidenz aus dem Abgrund. Hugo von Hofmannsthals Reisebilder. In: Pfotenhauer/Riedel/Schneider (Hg.), Poetik der Evidenz, S. 6 7 - 7 5 . Die Faszination des Werks war erst ein Produkt der Rezeptionsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Vgl. Belting, Das unsichtbare Meisterwerk, S. 1 6 7 - 1 8 6 : »Eine Hieroglyphe der KunstInsel< 1901) und von Wilhelm Schölermann (in der bei Diederichs verlegten Ausgabe von 1906) durch eine Lakonie überlegen, die ikonographische Eindeutigkeiten bewusst vermeidet (»Anna, die Mutter der Jungfrau« statt »die heilige Anna die Mutter Marias«) und alle angesprochenen Kulturepochen in demselben träumerischen Licht eines unbewussten Dämmerns erscheinen lässt (daher die »vegetative Naivetät von Griechenland« statt »der tierische Trieb von Hellas«).244 Eine Suggestionswirkung geht schon von der (in manchen Passagen an Winckelmanns Statuenbeschreibungen erinnernden) Musikalisierung der Sprache aus, der nach rhythmischen Gesichtspunkten gestalteten Staffelung von asyndetischen und polysyndetischen Reihungen, wobei vor allem die Schlusspassage der »und«-Reihungen einen litaneiartigen Effekt, eine Art sprachlicher Trance erzeugt. Die Beschreibung ist bei aller Sinnlichkeit auffallend unanschaulich, diese Frau hat keine festen Konturen, sondern changiert zwischen palimpsestartigen Übermalungen. Die >Gioconda< erscheint selbst wie eine Verkörperung der Arbeit am kulturellen Gedächtnis, wie eine Allegorie der übereinandergelegten Schichten des kulturellen Textes. Ihre literarische Beschreibung ist eingefugt in einen Textzusammenhang, der die kulturelle Stilisierung von schwer deutbaren Symbolen als einen niemals zu einem Ende kommenden Prozess von Zeichenbildung und Zeichendeutung im Wechselspiel zwischen Bildern und Texten weiterschreibt. Hofmannsthal nennt dies den »Zauber der Allegorie«, und ge-
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Hofmannsthal, Über moderne englische Malerei, G W RuA I, S. 550. Walter Pater: Leonardo da Vinci. Aus dem Englischen des Walter Pater von Franz Blei. In: Die Insel. Bd. 3 (1901), S. 1 4 9 - 1 7 0 , hier S. 1 6 6 - 1 6 8 . Zitat S. 168; Pater, Die Renaissance. Aus dem Englischen übertragen von Wilhelm Schölermann, S. 159.
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winnt damit einer scheinbar obsoleten Gattung, der die Autonomieästhetiker schon um 1800 eine gedankliche Überfremdung der bildenden Kunst vorgeworfen haben, eine neue Aufgabe ab - die Lust an der unendlichen Semiose. 245 So haben die »raffiniert geistreichen« Bilder der englischen Präraffaeliten, angeregt durch die »verführerischste und geistreichste Interpretation« von »großen und fruchtbaren Kritikern« die Mythen schöpferisch neuinterpretiert, die eine vergangene Kulturepoche für die vieldeutigste menschliche Wahrheit, fiir Psyche geschaffen hat. »Mehr Dichter als Maler« beriefen sie sich auf Dante, dessen Dichtung seinerseits »geschilderte Bilder« enthält. 246 »Poesie und Malerei verliebten sich beide in ein und dasselbe Geschöpf«, schreibt Hofmannsthal an anderer Stelle über >Englischen Stil·, »und warfen es zwischen sich hin und her. Jede Kunst gab es der andern mit neuen Raffinement geschmückt zurück. Die Malerei stilisierte, und die Poesie schilderte. Das englische junge Mädchen ging durch das Medium von Dante und Giotto.« 247 Das Bild der >Mona Lisa< ist in diese Textur der Symbolisierung eingewoben. Ihre sphinxartige Schönheit und das zur Deutung aufrufende Rätsel ihres Lächelns (ist es ein Lächeln?), das moderne Kunsthistoriker als »eine Form affektiver Unbestimmtheit, einfen] Übergang zwischen rechter und linker Gesichtshälfte« zu beschreiben versuchen,248 kündet dem Kritiker auf »seltsame« Weise auch von der zur »feinen Essenz« verdichteten kulturellen Vergangenheit. 249 Gegenüber dem archaischen Lächeln der griechischen Statuen noch gesteigert erscheint der beunruhigend-beglückende Blick dieses androgynen Rätselbildes, das in seiner Unbezeichnung 250 zum Evokationsraum aller geschichdichen Zeiten und kulturellen Erfahrungen wird. Zeitlosigkeit in der UnUnterscheidbarkeit zwischen Archaik und Gegenwart suggerierend, ist sie die Mutter aller Frauen, heidnischer und chrisdicher Archetyp gleichermaßen 245
Vgl. die klugen Überlegungen Ursula Renners zu Hofmannsthals »Lebendigen Allegorien (Die Zauberschrift der Bilder, S. 7 4 - 8 6 ) , sowie zu den Präraffaeliten, ebd., S. 1 7 7 - 2 5 2 . Zur traditionellen Funktion der Allegorie und zur Allegoriekritik der Aufklärung vgl. Peter-Andrf Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen: Niemeyer 1995. Symptomatisch für die Allegoriekritik der Goethezeit und den Versuch, sie im Sinne der Werkautonomie umzudefinieren, ist ein Text von Karl Philipp Moritz: Über die Allegorie, erschienen 1789 in der »Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlins Schriften zur Ästhetik, S. 1 1 2 - 1 1 5 .
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Hofmannsthal, Über moderne englische Malerei, G W RuA I, S. 548f. Hofmannsthal, Englischer Stil, G W RuA I, S. 566f. Vgl. Gerhard Wolf: D a s M o n a Lisa-Paradox oder Leonardos »Unnachahmbare Wissenschaft der Malerei«. In: Frank Fehrenbach (Hg.): Leonardo da Vinci. Natur im Übergang, München: Fink 2002, S. 3 9 1 ^ 1 1 , hier S. 4 0 6 . Vgl. Hofmannsthal, Über moderne englische Malerei, G W RuA I, S. 550. S o charakterisiert Winckelmann in seiner »Geschichte der Kunst des Altertums« die »hohe Schönheit« der antiken Statue, die keinen bestimmten Affekt ausdrückt. Vgl. dazu im Winckelmann-Kapitel bei Pater, Die Renaissance, S. 264.
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und doch sind ihre schweren Augenlider die einer modernen Somnambulen — sie ließe sich als eine Schwester der Klytämnestra aus Hofmannsthals >Elektra< an die Seite stellen. 251 Sie ist eines der vom Kritiker als Dichter beschworenen Schattenbilder, eine in gespensterhaftes »fahles Licht« getauchte Epiphanie. In der Tat waren es »die grauen Schattenbilder«, hier medial konkretisiert als die schwarzweißen »Photogravüren« als photographische Reproduktionen von Burne-Jones' Psyche-Zyklus, die im Textzusammenhang des literarischen Kunstessays die Beschreibung des >Giocondaproverbe dramatiquePygmalione Proverb in Versen oder Schöpfungsmysterium? Hofmannsthals Einakter zwischen Sprach-Spiel und Augen-Blick. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 1 (1993), S. 183-234. 15
Vgl. Juliane Vogel: Schattenland des ungelebten Lebens. Zur Kunst des Prologs bei Hugo von Hofmannsthal. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 1 (1993), S. 165-182. Der Titel bezieht sich auf eine 1894 datierte Aufzeichnung Hofmannsthals zu einem geplanten Prolog, G W RuA III, S. 385: »Schattenland des ungelebten Lebens; am Blut des zerfetzten Orpheus trinken sich die Gestalten lebendig.«
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bang auf den Tod des Meisters wartenden Jünger Tizians darstellen, sind von sehnsüchtigem Verlangen nach einem abwesenden »Leben«, nach dem großen »Gegenspieler« Pan erfüllt, um das ihre selbstquälerischen Dialoge und Monologe unentwegt kreisen. Und auch in dieser Konstellation ist die Sehnsucht nach dem Leben visuell, als SfAsucht konkretisiert, ist der »Puls des stummen Lebens«, das Pathos der stummen Dinge an ein visuelles Erlebnis gebunden.16 Die weitaufgerissenen »großen Augen« des sterbenden Malergenies, von denen in den Gesprächen die Rede ist, und deren zeugendem Blick das stumme Leben sich entgegensehnt - sie stehen den Spiegelbildern der im narzisstischen Bann der Ähnlichkeit befangenen Pagen und Jünglinge als die andere Macht gegenüber.17 Diese (lidlosen?) Maleraugen sind (um mit Rilke zu sprechen) ins Offene, nach draußen gewendet. Als wollten sie die bedrohliche Fremdheit dieses dämonisch-weltzeugenden Blicks einhegen, sprechen die Jünger von ihm im wohlgesetzten gereimten jambischen Pentameter: Ein Auge, ein harmonisch Element, In dem die Schönheit erst sich selbst erkennt Das fand Natur in seines Wesens Strahl. »Erweck uns, mach aus uns ein Bacchanal!« Rief alles Lebende, das ihn ersehnte Und seinem Blick sich stumm entgegendehnte. 18
»Das macht: Er lehrte uns die Dinge sehen«,19 formuliert es an anderer Stelle Tizianello als Fazit, und zitiert damit nicht nur die programmatische Leitmaxime der malerischen Avantgarde — »Sehen lernen ist alles« —,20 sondern stellt darüber hinaus mit dem nahenden Tod Tizians die drohende Erblindung der auf die Augen des Meisters angewiesenen Jünger in den Raum. Um dem Wortspiel zu folgen, das in Reim und Assonanz durchgespielt wird: Ihnen bleibt statt des Sehens nur das Sehnen. Leben schaffen im Bild: Das Rätsel des Schöpfungsaugenblicks Das >Erlebnis des SehensBriefen des Zurückgekehrtem 1907 als epiphanischer Augenblick inszeniert wird und mit der Macht des Plötzlichen aus der Uneigendichkeit der konventionellen Zeichenordnungen erlöst, ist somit in diesem von Hofmannsthal 16
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Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 51, V. 7f.: »Und wo am Meere, das sich träumend regt,/ Der leise Puls des stummen Lebens schlägt.« Hofinannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 42, V. 30: »Dann sah er uns mit großen Augen an«; S. 49, V. If.: »[...] alles Lebende, das ihn ersehnte/ Und seinem Blick sich stumm entgegendehnte.« Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 48, V. 35; S. 49, V. 2. Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 49, V. 26. Vgl. Boehm, »Sehen lernen ist Alles«.
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selbst und den ihm folgenden Interpreten der »Präexistenz« zugeschlagenem Frühwerk bereits Thema. 2 1 Das erweist die Kontinuität dieser Problemstellung über den scheinbaren Bruch der Chandos-Krise hinweg. Umkreist wird in der Statik eines Sprachspiels das Rätsel des schöpferischen Augenblicks, in welchem das Malergenie »das Leben schafft«. 2 2 Denn der Schöpfungs-Augenblick ist wörtlich zu nehmen, als zeugender Blick der Augen, 2 3 der das Chaos der Wahrnehmungsreize in einer Vision (so heißt es von Tizian, dass er im Wachen phantasiere) als »der Dinge Bändger« zur sichtbaren Gestalt zwingt. 24 Hofmannsthal ist sich dessen bewusst, dass er mit seinem Einakter über den Schöpfiingsaugenblick von Tizians letztem Bild aktuelle Probleme der Kunsttheorie in ihrer produktionsästhetischen und konstruktivistischen Wendung berührt. Es sind nicht nur taktische Höflichkeiten, wenn der literarische Debütant dem als Ästhetiker und Kunstkritiker bewunderten Alfred Berger gegenüber das frisch publizierte Dramenfragment als eine literarisierte Form von Kunstkritik deklariert. Viel eher »ein Dialog in der Manier des Piaton« sei dieses »kleine Ding«, als »ein Theaterstück« — und damit eine fiktive Spielform von Theoriebildung, die er wenig später in seiner kritischen Rezension zu Alfred Bieses >Philosophie des Metaphorischem als literarische Alternative des Schreibens über kunstphilosophische Fragen einklagen sollte. 25 21
Hofmannsthal, Ad me ipsum, GW RuA III, S. 599f. Richard Alewyn sah das Drama als eine Huldigung Hofmannsthals an das »ästhetische Evangelium, wie es ihm George aus dem Paris Mallarmes mitbrachte«: Über Hugo von Hofmannsthal, S. 66. Diese Deutung hat Peter Szondi revidiert, indem er vielmehr eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ästhetizismus darin erkannte - eine Position, die sich forschungsgeschichtlich durchgesetzt hat, in jüngerer Zeit aber von Gregor Streim insofern differenziert wurde, als er das erstrebte »Leben« nicht der Kunst antagonistisch gegenübergestellt, sondern produktionsästhetisch gewendet als Leben i n der Kunst sieht. Vgl. Szondi, Das lyrische Drama des Fin de Si£cle, S. 216-251; Streim, Das >Leben< in der Kunst, S. 141-162. Diese Modifizierung der Asthetizismuskritik erscheint mir der reflexiven Komplexität des Einakters eher gerecht zu werden als die stereotypen Gegenüberstellungen, wie sie sich auch in neueren Arbeiten bisweilen noch finden. Vgl. etwa Mohammed Anam: Hugo von Hofmannsthal und Maurice Maeterlinck. Zur Darstellung und Rezeption der Maeterlinckschen Todesauffassung und Theaterästhetik bei Hugo von Hofmannsthal, Freiburg i.Br.: Hochschulverlag 1995, S. 63: »Die Möglichkeit zu kreieren und >das Nicht-an-dem-Leben-Partizipieren< kennzeichnet den präexistenten Zustand der Tizianschüler.«
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Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 41, V. 23f: »Der Tizian sterben, der das Leben schafft!/ Wer hätte dann zum Leben Recht und Kraft?« So auch Gerhard Neumanns Begründung der Gattungsentscheidung aus der Urszene des erweckenden Augenblicks: Proverb in Versen. Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 41, V. i L · »Nein, er ist wach und phantasiert/ Und hat die Staffelei begehrt«; S. 47, V. 16f.: »Wer lebt nach ihm, ein Künsder und Lebendger,/ Im Geiste herrlich und der Dinge Bändger«. Hofmannsthal an Alfred Freiherrn von Berger, Wien, 5. Oktober 1892, Briefe I, S. 68f.; Philosophie des Metaphorischen, GW RuA I, S. 192f.: »Man müßte eine anspruchslose und wenig pedantische Form wählen. Etwa den platonischen Dia-
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Und nicht nur, dass über Belange des Künsderischen auf künstlerische Weise zu handeln sei, lässt den platonischen Dialog zwischen Kunstkritik und Literatur oszillieren, sondern auch die Brisanz des Themas. »Da kam in Ihrem Kollegium gestern abend der Exkurs über das >Schauen des LionardoDie Bühne als Traumbild* - , der ihn als Dichter herausfordert. Leonardos, Giorgiones, Tizians »Schauen« begründet eine Ästhetik der Vagheit aus visuellen Impulsen, eine unendliche Semiose, ein poetisches infinito in Konkurrenz zum malerischen. Bis hin zur >SommerreiseEines alten Malers schlaflose Nacht< und der >Bühne als Traumbild< wird Hofmannsthal dieses Thema der Schönheit in der Verhüllung, des Verlog [...]. Ja, die könnten über das Metaphorische philosophieren. Aber es wäre ein ganz unwissenschaftliches Buch, eher ein Gedicht, eine bebende Hymne auf Gottweißwas, als eine ordentliche Abhandlung.« 26 Hofmannsthal an Berger, 5. Okt. 1892, Briefe I, S. 69. Als literarisierte Kunstphilosophie las auch Schnitzler das Drama. Vgl. die Tagebuch-Eintragung vom 21. März 1892: »Loris las mir Nachm. den Tod des Tizian, Fragment vor. Tiefe und schöne Verse über Kunst. Eine Art Herrenmoral in der Kunst«. Zit. nach SW III, S. 374. 27 Vgl. Walther Rehm: Der Renaissancekult und seine Überwindung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 54 (1929), S. 296-328; Lea Ritter-Santini: Maniera Grande. Über italienische Renaissance und deutsche Jahrhundertwende. In: Bauer u.a. (Hg.), Fin de βϊέΰΐε, S. 170-205; Hüttinger, Leonardo- und Giorgione-Kult; Gerd Uekermann: Renaissancismus und Fin de si£cle. Die italienische Renaissance in der deutschen Dramatik der letzten Jahrhundertwende, Berlin u.a.: de Gruyter 1985; Achim Aurnhammer: »Zur Zeit der großen Maler« - Der Renaissancismus im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals. In: August Buck und Cesare Vasoli (Hg.): Die Renaissance im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland, Bologna, Berlin: Duncker und Humboldt 1989, S. 231-260. 28 Hofmannsthal an Elsa Bruckmann-Cantacuzene, 20. April 1894, Briefe I, S. 100: »Bitte schreiben Sie mir auf, welche Bücher über Leonardo Ihnen zur Hand sind; er interessiert nämlich auch mich grenzenlos, und was Sie von den Büchern halten.« 29 Hofmannsthal an Hermann Bahr, Strobl, 6. August 1894, Briefe I, S. 110.
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schwimmens und Verschwindens faszinieren. So ist der Leonardo-Hinweis im zitierten Brief an Berger ein deutlicher Fingerzeig auf die dahinterstehende Ästhetik. Denn auf Leonardo geht der Topos der künsderischen Inspiration aus visuellen Impulsen vager, schwachbestimmter Formen zurück, der in der Wahrnehmungspsychologie des ausgehenden Jahrhunderts eine neue Konjunktur erfährt und sowohl von Hermann Helmholtz als auch von Ernst Mach wahrnehmungsphysiologisch begründet wurde. 30 Es hat somit einen spezifischen Sinn, dass Hofmannsthal von seinem ursprünglichen Plan, ein »Gastmahl der verurteilten Girondisten« in der Art eines platonischen Dialogs zu gestalten,31 abgewichen ist und Tizian zum Kraftzentrum seines kleinen Dramas gemacht hat — den Meister der venezianischen Schule, den Maler des Lichts und der Farbe und »der ganz vollendeten, lichten Oberfläche«, 32 in dem die moderne Kunsttheorie einen Vorläufer der Befreiung der Malerei zu sich selbst und ihren eigenen Mitteln entdeckte,33 den Schöpfer arkadischer Traumlandschaften und zeitloser mythologischer Phantasmagorien. Damit wird eine zweite Ebene von »Wahrheit< und >Leben< ins Sprachspiel des platonischen Dialogs eingeführt, die sinnliche Wahrheit, wie sie der bildende Künsder im visuellen Augenblick erfahrbar macht. Und auch die von der Forschung minutiös rekonstruierte Überblendung der Tizianwelt mit Böcklin'schen Bilderinnerungen ist mehr als ein Bildungszitat. 34 Zu Recht hat man
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In diesem Zusammenhang kommt Hofmannsthal immer wieder auf Leonardo zurück. Eine zweite Phase der Beschäftigung zwischen 1905 und 1907 gehört in das Vorfeld der »Briefe des Zurückgekehrten^ siehe unten das Kapitel »Farbenlehren für den Dichter. Vgl. den Kommentar in SW III, S. 331-336. Das Zitat aus der italienischen Reisebeschreibung von Karl Philipp Moritz ist ein Beleg dafür, dass die Mediendiskussion bereits Ende des achtzehnten Jahrhunderts unter Berufung auf »Tizians Gemälde« geführt worden ist: Karl Philipp Moritz: »Titian«, in: Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. Teil 3, Berlin: Friedrich Maurer 1793, S. 111. Ähnlich ebd., S. 24: U m Tizians Bilder zu betrachten, müsse »das Auge sich erst gewöhnen ganz Auge zu seyn, sich leidend zu verhalten, nicht zu viel zu spähen und zu forschen [...]«. Vgl. Meier-Graefe, Entwicklungsgeschichte, Bd. 1 (1924), S. 35ff.: »Der Kampf um die Malerei«. Zuerst hat Bernhard Böschenstein auf diese Konstellation aufmerksam gemacht: Hofmannsthal, George und die französischen Symbolisten. In: Böschenstein: Leuchttürme. Von Hölderlin zu Celan. Wirkung und Vergleich, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 224-246. Die »imaginäre Galerie« Böcklin'scher Bilder dann minutiös rekonstruiert und interpretatorisch genutzt zu haben, ist das Verdienst von Ursula Renner: Die Zauberschrift der Bilder, Kap. II. 4: Visuelle Intertexte: Arnold Böcklins Mythenwelt< und »Exkurs: Böcklin-Rezeption um 1900«, S. 112-151; Kap. II. 6: »Bildfusionen - Bildfiktionen: Der Tod des Tiziaw, S. 161-176. Renner fordert zu Recht, diese auffällige Intermedialität des Dramenfragments poetologisch ernst zu nehmen, anstatt immer wieder den dekorativen Charakter der Bildzitate zu behaupten.
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von einer »kühnen Zusammenschau böcklinscher Themen und Werke« in Hofmannsthals lyrischem Drama gesprochen, das Tizians Gemälde beschreibt, »als ob sie von Böcklin erfunden und gemalt worden wären.« 35 Denn der einige Jahre später von Julius Meier-Graefe wegen seines »Centauromorphismus« gescholtene symbolistische Maler Arnold Böcklin ist für den frühen Hofmannsthal wie überhaupt für die Literaten der Zeit ein moderner und eigenwilliger Schöpfer visueller Bedeutung, der die ikonographischen Mythen aus ihrer klassizistisch-historischen Erstarrung befreit und zeidose ikonische Formeln für elementare Triebmächte und Naturerfahrungen findet.36 Für ihn gilt, was Hofmannsthal in »Die Bühne als Traumbild< zum ästhetischen Credo des Künstlers erklärt hat: »Sein Auge muß schöpferisch sein, wie das Auge des Träumenden, der nichts erblickt, was ohne Bedeutung wäre. Ein Bild schaffen, auf dem nicht fußbreit ohne Bedeutung ist, das ist alles.« 37 Was Hofmannsthal in seiner Rezension über den von Böcklin beeinflussten Maler Franz Stuck schreibt, der »lernte auf dem Kern der Dinge fußen, auf dem tiefen Sinn ihrer Form, dem unmittelbar erschauten«, gilt erst recht fur den Lehrer: »Indem der Künsder so die Formen ihres banalen Sinnes entkleidet, steht er wieder in seiner eigentlichen Lebensluft, ein Mythenbildner inmitten der chaotischen, namenlosen, furchtbaren, leuchtenden Wirklichkeit.« 38 Böcklins mit mythologischen und märchenhaften Gestalten bevölkerte phantasmagorische Landschaften, Bilder wie »Syrinx flieht vor PanDas Schweigen des WaldesPan im Schilf« oder >Frühlingsabend< sind für Hofmannsthal nicht gedankenbefrachtete Bildungsrequisiten, sondern Bilderfindungen des schöpferischen Auges, das fähig ist, die namenlose furchtbare Wirklichkeit zeichenbildend zu gestalten, das Bedeutungs- und Gestaldose
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Martin Stern: Böcklin - George - Hofmannsthai. In: Karl Pestalozzi und Martin Stern (Hg.): Basler Hofinannsthal-Beiträge, Würzburg: Königshausen & Neumann 1991, S. 8 9 - 9 4 , hier S. 92. Vgl. Renner, Die Zauberschrift der Bilder, S. 1 1 2 - 1 5 1 ; sowie die einzelnen Beiträge des Ausstellungskatalogs zur Böcklin-Ausstellung in Basel und Paris 2001/2002. Vgl. insbesondere die Beiträge von Katharina Schmidt: Non omnis moriar. Eine Einfuhrung zu Arnold Böcklin. In: Lindemann/Schmidt (Hg.), Arnold Böcklin. Ausst.Kat., S. 1 1 - 2 1 , und von Franfoise Lucbert: Ein Träumer bei den Symbolisten, ebd., S. 1 1 2 - 1 1 8 . Hofmannsthal, Die Bühne als Traumbild, G W RuA I, S. 490. Zur Kontextualisierung des Textes im Zusammenhang einer Dramaturgie der Traumästhetik und einer Psychologisierung des Mythos vgl. Peter-Andre Alt: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München: Beck 2002, S. 3 3 1 - 3 6 7 : »Die Schreibkunst der Seele. Literatur als Traum (Hofmannsthal, Thomas Mann, Schnitzler, Kafka)Pan erschreckt einen Hirten< oder »Drache in einer Felsschlucht», 1 8 7 0 , Schack-Galerie M ü n c h e n ) . 4 0 Rückblickend räsoniert H o f m a n n s t h a l in >Ad m e ipsum< über die Faszination solcher i m Vagen verbleibender Z e i c h e n d e u t u n g »um 1 8 9 0 - 1 8 9 1 « : »Geheimnisse: der Zeichendeuter. D i e D o c h - n i c h t - H a l l u zinationen.« 4 1 U n d wiederum aus der Retrospektive deutet er 1 9 2 9 in einer biographischen Erinnerung d e m Germanisten Walther Brecht gegenüber die mythologische Ü b e r h ö h u n g der Natur, die ihn zur Entstehungszeit des >Tod des Tizian< beseelt habe, als eine i m m a n e n t e Verklärung, als ein visionäres Epiphanieerlebnis: Aus der tiefsten Schicht kam damals etwas ganz anderes, dann und wann, ein ganz kleiner visionärer Vorgang: dass ich manchmal morgens vor dem Schulgang (aber nicht wenn ich wollte, sondern eben dann und wann) das Wasser, wenn es aus dem Krug in das Waschbecken sprang, als etwas vollkommen Herrliches sehen konnte, aber nicht außerhalb der Natur, sondern ganz natürlich, aber in einer schwer zu
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Eine ähnliche Interpretation von Böcklins »Augensüchten« liegt Anne Dudens literarisch-essayistischer Adaption zugrunde: W E T DREAMS oder Augensüchte (über Arnold Böcklin), in: Zungengewahrsam, S. 9 1 - 9 7 , vgl. S. 96: »Anhaltend halten Blick und Bild inne im Übersetzen, so daß nicht dahinterzukommen ist.« 40 In den Bildern >Pan erschreckt einen Hirten», Kunstmuseum Basel, 1859 und >Drache in einer Felsschlucht», Schack-Galerie München, 1870, wird das mythische Wesen durch eine vage, als Halluzination kenntlich gemachte Gestalt verdoppelt. Eine Deutung wird so nahegelegt, die das Erscheinen des Fabelwesens als Sinnestäuschung aufgrund extremer atmosphärischer Bedingungen auffasst - die flirrende Mittagshitze als Stunde des Pan oder die Nebel einer dämmrigen Schlucht als screen für Drachenerscheinungen. Böcklin wollte mit der Erscheinung mythischer Wesen in der Landschaft starke emotionale Kräfte visualisieren, den panischen Schrecken und die Ausgesetztheit in extremer Natur. Vgl. Lindemann/Schmidt (Hg.), Arnold Böcklin. Ausst.Kat., S. 168f. und S. 2 l 4 f . Demgegenüber rückt Fontane im >Stechlin< (1897) in der Konversation der altmärkischen Adeligen das Bild der Drachenschlucht in das mild-ironische Licht feiner Gesellschaftssatire. Der Major erzählt von dem Bild eines »berühmten Malermenschen, der glaub ich, Böcking oder Böckling hieß«: »Und nun denken Sie sich, was geschieht da? Grade neben dem Brückenbogen, dicht an der rechten Seite, thut sich mit einem Male der Felsen auf, etwa wie wenn morgens ein richtiger Spießbürger seine Laden aufmacht und nachsehen will, wie's Wetter ist. Der aber, der an dieser Brücke da von ungefähr rauskuckte, hören Sie, Sponholz, das war kein Spießbürger, sondern ein richtger Lindwurm oder so was ähnliches aus der sogenannten Zeit der Saurier, also so weit zurück, daß selbst der älteste Adel, (die Stechline mit eingeschlossen,) nicht dagegen ankann [...]«. Theodor Fontane: Der Stechlin. Grosse Brandenburger Ausgabe. Bd. 17. Hg. von Klaus-Peter Möller, Berlin: Aufbau-Verlag 2001, S. 379f. 41
Hofmannsthal, Ad me ipsum, G W R u A I I I , S. 620.
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beschreibenden Weise erhöht und verherrlicht, sicut nympha. (Ich erinnere mich, ich brachte diese Secunden irgendwie mit dem Dichterischen in mir in Zusammenhang.) - Im Winter 1892 entstand dann der >Tod des Tizian* - so wie das Fragment jetzt da ist, sammt dem Prolog.42
Die Briefstelle ist ein prägnanter Beleg fur den Zusammenhang zwischen dichterischer Inspiration und visionärer Überhöhung der Welt, der für Hofmannsthals Schreibprozess zeitlebens konstitutiv bleiben sollte. Böcklins Belebung der Natur gehört für ihn in diesen visionären Kontext. »Er hat den regungsbsen Wald belebt«, klagen die vom Verschwinden der Schöpferkraft des Meisters bedrohten Jünger, »Da hat er Götter in das Nichts gewebt [...] Er hat den Wolken, die vorüberschweben,/ den wesenlosen, einen Sinn gegeben«.43 Hofmannsthals Interpretation des Mythenbildners Böcklin ist hier eigenwillig, sie weicht ab von der ungebrochenen Verehrung, die dem Maler in Georges Widmungsgedicht in >Der siebente Ring< als einem Herold der abendländischen Kultur entgegengebracht wird.44 Hofmannsthal reflektiert auf die Fragilität dieser Bedeutungsstiftung, auf ihren zweifelhaften phantasmagorischen Charakter, das Problematische des schönen Scheins, der ins »Nichts«, ins »Dunkel« Bedeutung webt (von tröstender Seelennahrung in der »Finsternis«, in »dunklen Stunden« ist im Prolog zu Böcklins Totenfeier die Rede).45 In dem sich als Ekphrasis deklarierenden Einakter >Idylle< (»Der Schauplatz im Böcklinschen Stil«) lässt Hofmannsthal das unvermittelte Einbrechen der phantastischen Böcklin'schen Mythensphäre in die reale Welt - in Gestalt des Kentauren, der die Frau des Dorfschmieds entfuhrt - mit einer Katastrophe enden. Die vom mythischen Traumwesen gelockte Frau überquert nicht die Schwelle zu den >Gefilden der SeligenKentaur in der Dorfschmiede«, Museum Budapest, 1888 (Lindemann/Schmidt (Hg.), Arnold Böcklin. Ausst.Kat., S. 296f.) sowie >Die Gefilde der Seligen«, Staatliche Museen zu Berlin, 1877, heute verschollen (Lindemann/Schmidt
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Es ist von entscheidender Bedeutung für die Frage, wo die Grenze zum >draußen< verläuft, d.h. wo der Raum des ersehnten Lebens zu suchen ist, dass Tizians Lebensrausch sich als Bildschöpfung vollzieht, ihr nicht vorhergeht und von diesem kreativen Akt somit nicht zu trennen ist. Das »unerhörtfe] Verstehen«,47 das Tizian in der Sterbestunde überkommt, erfährt das Leben nicht als nachzuahmendes Vorbild, nicht als etwas der Kunst Vorgängiges oder Jenseitiges, sondern als ihr Ergebnis, das für den anthropomorphen Blickwinkel des Menschen (»Er hat [...] ein Menschliches gemacht, das wir verstehen«) nur in ihrem Medium zu haben ist.48 Wenn es von Tizian heißt, dass er den regungslosen Wald belebt hat, dann ist dieses Leben ein gemaltes und das Erlebnis ein ästhetisches.49 Ein in dieser Wendung anklingendes Selbstzitat aus einer Kunstrezension über die Tänzerin Eleonora Duse weist ebenfalls in diese Richtung. »Die lebendigen Künstler«, so heißt es dort mit demselben paradoxen Bild wie über die Alräunchenmagie des Kritikers im Essay über Walter Pater, »sind wie die wunderbaren toten Leiber der Heiligen, deren Berührung vom Starrkrampf erweckte und Blindheit verscheuchte. Die lebendigen Künstler gehen durch das dämmernde sinnlose Leben, und was sie berühren, leuchtet und lebt.«50 So ist es der Meister, »der das Leben schafft«, der malend - wie es in einer tautologischen Wendung heißt - »dem Leben Leben gab.«51 Der Vergleich des Dramentextes mit den Aufzeichnungen zeigt, dass Hofmannsthal an dieser Pointe gefeilt hat.52 Zumindest steht dies als Verheißung fiir die Jünger (Hg.), Arnold Böcklin. Ausst.Kat., S. 81). Vgl. die Interpretation von Renner, Die Zauberschrift der Bilder, S. 122-128, und Juliane Vogel: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen. In: Hans Joachim Piechotta u.a. (Hg.): Die literarische Moderne in Europa. Bd. 2: Formationen der literarischen Avantgarde, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 285-303, hier S. 289f. 47 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 42, V. 15-17: »Sehr schwere Dinge seien ihm jetzt klar,/ Es komme ihm ein unerhört Verstehen [...]«. 48 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 48, V. 11. 49 Hier stimme ich Gregor Streim zu, der darin Szondis Deutung modifiziert: Das >Leben< in der Kunst, S. 141-162. 50 Hofmannsthal, Eleonora Duse, G W RuA I, S. 478, mit Bezug auf Böcklin: »Und manche Wolken, schwere goldengeballte, haben ihre Seele von Poussin, und manche, rosigrunde, von Rubens, und andere, prometheische, blauschwarze, düstere von Böcklin.« Darauf bezieht sich eine Notiz zum >Tod des TizianTod des Tizian< gibt es ediche Notizen, die dieses Problem umkreisen und dabei auf Hofmannsthals intensive frühe Nietzsche-Lektüre verweisen. »Form ist Verfälschung, Starre [...] und Bann«, notiert er auf einem Blatt unter der Überschrift »Tod des Tizian*, und darunter: »Göttlicher sein als Gott, der als er seinen Ideen in der Schöpfung feste Form gab damit Lüge (Festes Starres Gewordenes = Lüge) begieng.«54 Die meisten Notizen beziehen sich auf >Die fröhliche Wissenschaft* und sind um das Problem des »dionysischen Pessimismus« derer, die »an der Überfülle des Lebens leiden«, zentriert.55 Aufzeichnungen haben sich außerdem zu seiner Übersetzung von »Jenseits von Gut und Böse< erhalten, die er mit 53
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Fiedler, Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, Schriften zur Kunst I, S. 118f. Hofmannsthal, Notizen zu >Der Tod des Tizian*, SW III, S. 351f. Vgl. die Notizen und Exzerpte unter der Überschrift »Stimmungen, (fröhl Wissenschaft)*: SW III, S. 342-345.
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seinem Französischlehrer Gabriel Dubray im Mai 1891 begonnen hat. Es ist davon auszugehen, dass er zum Zeitpunkt der Arbeit an seinem Dramenfragment außer >Die Geburt der Tragödie< außerdem noch die beiden ersten »Unzeitgemäßen Betrachtungen kannte. 56 Dass als prägnanter Augenblick der tableauartigen Dramenszene gerade Tizians Sterbestunde gewählt ist, dass Tizian seinen letzten großen Schaffensrausch an der Schwelle des Todes, im schmerzhaften Übergang zu dionysischer Auflösung der Individuation und mit dem lebensphilosophischen Kampfruf »Es lebt der große Pan« auf den Lippen erleben darf (der die Dekadenzkritik Nietzsches, wonach Pan wie bei Plutarch geschildert tot sei, genau umkehrt), 57 weist ihn als tragischen dionysischen Künstler im Sinne Nietzsches aus. »Im Fieber malt er an dem neuen Bild«, erzählen es die erschrockenen Schüler, die im Proszenium der Bühne und der Kunst verharren müssen, »in atemloser Hast, unheimlich, wild. [...] Mit einer rätselhaften Leidenschaft« und »von einem martervollen Zwang gebannt.« 58 Ein Kampf an einer prekären Schwelle zwischen Auflösung und Gestaltung wird von den außenstehenden Jüngern geschildert. Von körperlichem Schmerz ist die Rede, von Totenblässe und bebender Stimme, vom »schwindenden Vermögen zu gestalten«, dem der Künstler mit »überstarken Formeln«, »gebietender« Gebärde und »starkem Wort« seinen Willen, das fliehende Leben in die Form zu bannen, entgegensetzt.59 Die Marter des im Todeskampf malenden 56
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Vgl. den Kommentar, S W III, S. 3 9 7 - 3 9 9 ; H . Jürgen Meyer-Wendt: Der frühe Hofmannsthal und die Gedankenwelt Nietzsches, Heidelberg: Q u e l l e & Meyer 1973. Nietzsche zitiert in >Die Geburt der Tragödie< (1872), KSA 1, S. 7 5 die Erzählung Plutarchs (>De defectu oraculorum XVIITod des Tizian< S. 4 2 - 5 1 ; und Wilhelm Kühlmann: Der Mythos des ganzen Lebens. Z u m Pan-Kult in der Versdichtung des Fin de Sifecle. In: Achim Aurnhammer und T h o m a s Pittrof (Hg.): »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2 0 0 2 , S. 3 6 3 - 4 0 0 . Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 4 1 , V. 27f., S. 4 2 , V . 2-4. Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 4 2 , V. 2 8 - 3 6 . Gianino: »Er sprach schon früher, was ich nicht verstand,/ Gebietend ausgestreckt die blasse H a n d [...]/ D a n n sah er uns mit großen Augen an/ U n d schrie laut auf: >Es lebt der große Pan.< U n d vieles mehr, mir wars, als ob er strebte,/ D a s schwindende Ver-
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Tizian ist der schmerzhafte Widerspruch des tragischen Künstlers, wie ihn Nietzsche in >Die Geburt der Tragödie« schildert: »Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden«, hat seine »Subjectivität [...] im dionysischen Prozess aufgegeben«, um dann, ringend mit der eigenen Auflösung, ein »Abbild dieses Ur-Einen«, des »Urschmerzes« als traumartiges apollinisches Scheinbild hervorzubringen.60 Wenn der sterbende Tizian ausruft, »sehr schwere Dinge seien ihm jetzt klar/ Es komme ihm ein unerhört Verstehen,/ Daß er bis jetzt ein matter Stümper war«,61 dann ist diese schwere Wahrheit nicht eigentlich das Schopenhauer'sche Grausen, welches das Individuum vor seiner drohenden Rückkehr in den Lebensstrom befällt und das Hofmannsthal ja auch in >Der Tor und der Tod< zum Augenblick der Lebenserhöhung umgedeutet hat.62 Der Tod erscheint dem Maler Tizian vielmehr wie in Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod* als inspirative Macht, der erhöhte Schöpfungsmoment als aufmerksames Innehalten und intime, exklusive Kommunikation zwischen Maler und Tod (1872, Nationalgalerie Berlin). Das Wissen um die schweren Dinge ist vielmehr jenem in der »Fröhlichen Wissenschaft« thematisierten »philosophischen Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts« zuzurechnen, der seinen Mut zur »Verschwendung« und seine Kraft zur Zerstörung aus der »siegreichen Füll*? des Lebens« gewinnt. Der leidende Tizian gehört zu der Kategorie der »an der Ueberfulle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben«, während seine Jünger eher dem Gegentypus zuzurechnen sind und zu den »an der Verarmung des Lebens Leidenden [gehören], die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntniss suchen«.63 In den philosophischen Kon-
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mögen zu gestalten,/ Mit iiberstarken Formeln festzuhalten,/ Sich selber zu beweisen, daß er lebte,/ Mit starkem Wort, indes die Stimme bebte.« Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 43f. Hofmannsthal überspringt hier die Sphäre der Musik, über die vermittelt der Schöpfungsprozess als eine doppelte Spiegelung geschieht, und verbleibt ganz in der Sphäre des Visuellen, darin wieder Fiedler näher als Nietzsche. Vgl. Streim, Das »Leben« in der Kunst, S. 1 5 9 - 1 6 2 . Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 42, V . 1 5 - 1 7 . Vgl. die Aussagen des Todes in den Entwürfen, S W III, S. 439f.: »Des Seins Erhöher einer steh ich hier«, sowie den berühmten Monolog im Dramentext: »Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe!/ Aus des Dionysos, der Venus Sippe,/ Ein großer Gott der Seele steht vor dir.« Dazu: Karl Pestalozzi: Wandlungen des erhöhten Augenblicks bei Hofmannsthal. In: Pestalozzi/Stern (Hg.), Basler Hofmannsthal-Beiträge, S. 1 2 9 - 1 3 8 , hier S. 1 2 9 - 1 3 1 . Den Schopenhauer-Bezug in Hofmannsthals Werk hat am Paradigma des »Chandos-Briefe« umfassend Wolfgang Riedel rekonstruiert: Homo Natura, S. 2 1 - 3 9 . Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (1882), KSA 3, S. 6 l 9 f . Die Ästheten sind somit späte Abkömmlinge des Winckelmann'schen Klassizismus, auf dessen zentrales Bild aus den »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst« die Metapher der glatten Wasserfläche anspielt. Vgl.
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text dieses 370. Aphorismus aus der »Fröhlichen Wissenschafe weist auch die Selbstverwerfung seiner Werke, »die alten, die erbärmlichen, die bleichen«, die dem Vergleich mit dem letzten, im Malprozess befindlichen Bild nicht standhalten.64 »Der Reichste an Lebensfiille«, heißt es bei Nietzsche, »der dionysische Gott und Mensch, kann sich nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und Fragwürdigen gönnen, sondern selbst die fürchterliche That und jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung«. Der Tizian des Pan-Erlebnisses an der Schwelle zum Tod, so ließe sich folgern, könnte »in Folge eines Ueberschusses von zeugenden, befruchtenden Kräften« all seine bisherigen Bilder auslöschen.65 Das plötzliche Wissen um die »schweren Dinge« taucht genau diesen Zusammenhang zwischen Erschaffen und Zerstörung in blendend klares Licht.
Tizians Jünger — Syndrom des Missverstehens Die Jünger haben diese Pointe der Lehre des sterbenden Tizian freilich nicht verstanden. Anstatt die ins Archiv der Kunstgeschichte gereihten Bilder Tizians insofern wieder ins Leben zurückzuholen, als sie sich von ihnen anregen lassen, »auch nur annäherungsweise einen jener Augenblicke gesteigerten Bewußtseins an [sich] selbst erleben zu können, wie sie der Künstler vor der sichtbaren Erscheinung erlebt, wenn er schaffend tätig ist«,66 benutzen sie diese als kulturelle Schablonen zur Vorstrukturierung der Welt. Sie beherrschen ihren Blick auf die Stadt als »große Kunst des Hintergrundes«, sie sehen »malerisch« in Tizian'schen Farbzusammenstellungen und LichtefFekten, in perspektivischer Konvention und mit Hell-Dunkel-Kontrasten und sie können dieses bereits vorgewusste Gesehene mühelos in die Floskeln einer beredten Kennerschaft zurückübersetzen.67 Es entspricht der reflexiven Struktur des Dramas, dass sie dieses Syndrom des Missverstehens und der daraus folgenden Unproduktivität in einem gefächerten Spektrum vorführen dürfen. Paris erliegt in passivem Genießergestus dem Reiz flüchtiger Impressionen. Die Notizen zum Stück situieren seine Welterfahrung im Umkreis des Dilet-
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die Notiz zum »dionysischen Pessimismus« gegen die dekadenten Verarmten, deren »Ideal: Wogen, Gleiten, Dämmern« ist, S W III, S. 344f. und den Kommentar S. 3 9 9 - 4 0 1 . Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 42, V . 1 3 . Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 620. Fiedler, Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, Schriften zur Kunst I, S. 184. Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 45, V. 2 8 - 3 1 : Desiderio: »Siehst du die Stadt, wie jetzt sie drunten ruht?/ Gehüllt in Duft und goldne Abendglut/ Und rosig helles Gelb und helles Grau/ Zu ihren Füssen schwarzer Schatten Blau [...].« S. 46, V.17f.: Battista: »Das ist die große Kunst des Hintergrundes/ Und das Geheimnis zweifelhafter Lichter.«
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tantismus, dessen Konzeption an der von Nietzsche formulierten Dekadenzdiagnose ausgerichtet ist (diese dekadente Verfallenheit an die Schönheit als Reiz teilt er mit seinem Namensvetter aus H o m e r s >IliasAnatolTod des Tizian< zurückverweist. 7 3 Auch in der Swinburne-
Vgl. die Notiz zu »Der Tod des Tizian«, SW III, S. 345: »und kommen wird ein Auseinanderfallen/ da werden alle Theile leuchten wollen/ und eigenmächtig alle Töne hallen/ aufglühend ehe sie erlöschen sollen.« Dazu die Tagebuchnotiz unter dem 20.3.1892: »Decadenz: das Auseinanderfallen des Ganzen; die Theile glühen und leuchten, die Leidenschaften geniessen sich. Die Anomalien setzen sich durch.« Zit. nach SW III, S. 401. Hofmannsthal hatte diese Dekadenzkritik im Anschluss an Nietzsche vorher schon in seiner Rezension von Paul Bourgets >Physiologie de l'amour moderne« entwickelt, die er als eine »Auflösungsgeschichte« liest: Zur Physiologie der modernen Liebe (1891), GW RuA I, S. 94. Vgl. dazu Joelle Stoupy: Hofmannsthals Berührung mit dem Dilettantismusphänomen. Ergänzende Bemerkungen zur Begegnung mit Paul Bourget. In: Hofmannsthal-Forschungen 9 (1987), S. 237-264. Zu Nietzsches Dekadenzkritik vgl. Streim, Das »Leben« in der Kunst, S. 57-75. 69 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 48, V. 20-22. 70 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 46, V. 24. 71 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 48, V. 16-19: »[...] und uns gewiesen, jedes Tages Fließen/ Und Fluten als ein Schauspiel zu genießen,/ Die Schönheit aller Formen zu verstehen/ Und unserm eignen Leben zuzusehen.« 7 2 Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlass (1891), G W RuA III, S. 321. Es folgen die Nietzsche-Zitate aus der »Fröhlichen Wissenschaft«, von denen oben bereits die Rede war: »Abneigung gegen Ansichten, Grundsätze, gegen eigendiche Kunst, überhaupt gegen alle Form; will göttlicher als Gott sein, der ja, indem er seinen Ideen in der Schöpfung feste Form gab, damit eigendich in eine Lüge verfiel, denn jedes Gewordene, Feste ist eine Lüge.« 73 Vgl. Einleitung. Von Loris, Herbst 1892. In: Arthur Schnitzler: Anatol (1893). Dra68
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Rezension aus demselben Jahr beschreibt Hofmannsthal das Syndrom der Auflösung der Gestalt in vibrierende Reflexe des Schönen: Die Luft ihres Lebens ist die Atmosphäre eines künsdich verdunkelten Zimmers, dessen weiche Dämmerung von den verbebenden Schwingungen Chopinscher Musik und den Reflexen patinierter Bronzen, alter Samte und nachgedunkelter Bilder erfüllt ist.74
Auf den entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang verweisen die Notizen zum Drama, die zum Teil mit »Swinburne« überschrieben sind.75 Desiderio, in dessen Name schon die Leere und der Mangel eingeschrieben ist, tritt als der aggressive Ästhet, als Verteidiger der künstlichen Welt gegen »die Häßlichkeit und die Gemeinheit« des Lebens auf. Sein Missverständnis besteht in einer strikten l'art pour /izrt-Ästhetik, die Kunst und Leben als Gegensätze auffasst. Er ist es, der an der Rampe steht, an der durch Arabesken markierten Grenze zwischen den künstlichen Paradiesen und der pestverseuchten Stadt und als direkter Gegenspieler Gianinos dessen Hymne auf das dionysische Leben der Stadt korrigiert. Desiderio sieht die Welt über den Abgrund der Rampe hinweg in Tizian'schem sfiimato, um sie sich als visuelles Bild in der Luftperspektive eines verschwimmenden »ahnungsvollen« Dufts vom Leibe zu halten.76 In seine Figur sind die fur Hofmannsthal lebensgeschichtlich bedrängenden Auseinandersetzungen mit George am greifbarsten eingegangen. Das zeigen vor allem die Vorstufen und Notizen, in denen der Desideriofigur eine zentralere Rolle zugebilligt wird und die über den inhaltlichen Zusammenhang des Dramenfragments hinausweisend deudiche Reflexe auf die zwischen George und Hofmannsthai geäußerten und verschwiegenen gegenseitigen Vorwürfe zeigen.77 Hofmannsthal hat diese biographischen Anklänge in der endgültigen Dramenfassung zurückgenommen, doch noch vier Jahre später findet
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men 1 8 8 9 - 1 8 9 1 . Das dramatische Werk in chronologischer Ordnung. Bd. 1, Frankfort/M.: Fischer 1993, S. 3 3 - 3 5 . Hofmannsthal, Algernon Charles Swinburne, G W RuA I, S. 144. Hofmannsthal, Notiz zu -Der Tod des Tizian«, S W III, S. 354, Ν 2 1 . Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 45, V. 2 8 - 3 7 : Desiderio an der Rampe, zu Gianino: »Siehst du die Stadt, wie jetzt sie drunten ruht?/ Gehüllt in Duft und goldne Abendglut/ Und rosig helles Gelb und helles Grau [...] Allein in diesem Duft, dem ahnungsvollen,/ Da wohnt die Häßlichkeit und die Gemeinheit,/ Und bei den Tieren wohnen dort die Tollen;/ Und was die Ferne weise dir verhüllt,/ Ist ekelhaft und trüb und schal erflilk.« Das zeigen die Varianten S W III, S. 3 5 7 - 3 6 0 unter der Überschrift »Desiderio. Gianino Tizianello« sowie »Desiderios Abschied«. Vgl. S. 357: Desiderio: »Und stets an dir erblickt ich nur Geberde/ Und jedes Anempfindens leichte Zier.« Gianino: »Zuweilen findest du wie ein Vergnügen,/ Daran Abgründe sinnlos aufzureissen/ Die klaffend jeden ferne stehen heissen/ Und einsam dich so du's nicht bist zu lügen/ Hochmüthig trüb durch unsre Schaar zu wandern.« Die Stationen der Begegnung und Entfremdung seit dem Zusammentreffen im Cafe Griensteidl im Dezember 1891 referiert der Kommentar S W III, S. 3 3 1 - 3 3 6 .
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er in einer Rezension über >Gedichte von Stefan George< ein Bild, das die Desiderio-Szene aus dem >Tod des Tizian< und deren Stilisierung nach Böcklin'schen Motiven anklingen lässt. »Wir sind in einem Hain,« beschreibt er die Stimmung beim Lesen der George'schen Gedichte, »den wie eine Insel die kühlen Abgründe ungeheueren Schweigens von den Wegen der Menschen abtrennen.«78 Der dritte Jünger Tizianello, des Meisters (schon das Diminutiv zeigt es an) unreifer Sohn, ist in der Antizipation von Tizians Tod in Melancholie erstarrt. Ohne den Zusammenhang von Tod und Leben begreifen zu können, gibt er sich einer dekadenten Todesobsession hin, hinter der letzten Endes die Strategie der Schmerzvermeidung steht. »Als ob der Schmerz denn etwas andres war«, entgegnet er »traurig lächelnd«, »als dieses ewige Dran-denken-müssen,/ Bis es am Ende farblos wird und leer.«79 Tizianello verweigert sich der Tizian'schen Schmerz- und Lusterfahrung, er entspricht dem Typus des »Stoikers« aus Aphorismus 306 der >Fröhlichen Wissenschaft«. Zu ihm als Figur notiert sich Hofmannsthal: »der Stoiker übt sich Steine und Gewürm, Glassplitter u. Scorpionen zu verschlucken.«80 Battista schließlich frönt einem falsch verstandenen Symbolismus, der in allen Gestalten nach einem eindeutigen Sinn fragt, der kurzschlüssig anthropomorphisierend stets nach »Seele« und »Geist« im Sinnlichen fahndet, der »erkennen« und »verstehen« will und sich damit intellektuelle Distanz zum Lebensrausch verschafft.81 Er ist es auch, der nach dem ikonographischen Thema von Tizians letztem Bild mit den Worten fragt: »Kann man es erkennen?« und damit das Erlebnis des Schöpfungsaugenblicks mit intellektueller Kennerschaft verwechselt.82 Von dem Ringen um »Urbarmachung eines Stückes der Welt«,83 das die Evidenz der Bildsprache und zugleich ihre Gefährdung am Rande des Erliegens ausmacht, haben diese Kunstapostel nichts verstanden. In Hofmannsthals Aufzeichnungen zu den >Briefen des Zurückgekehrtens die im van Gogh-Erlebnis das Thema des lyrischen Dramas noch einmal radikaler 78 79
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Hugo von Hofmannsthal: Gedichte von Stefan George (1896), G W RuA I, S. 2 1 5 . Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 46, V. 3 2 - 3 4 . Er fährt fort: »So laß mich nur in den Gedanken wühlen/ Denn von den Leiden und von den Genüssen/ Hab längst ich abgestreift das bunte Kleid,/ Das um sie webt die Unbefangenheit,/ Und einfach hab ich schon verlernt zu fühlen.« S W III, S. 398. Ursprünglich für die Figur des Bigum (Desiderio) vorgesehen. Zitiert aus Aph. 3 0 6 der fröhlichen Wissenschaft«, KSA 3, S. 544. Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 47, V. 35; S. 48, V. 2: »[...] gedeutet in ein blasses süßes Sehnen«, V. 6: »Sie haben Seele, haben Sinn durch ihn«; V. 11 f.: »Er hat [...] ein Menschliches gemacht, das wir verstehen,/ Und uns gelehn, den Geist der Nacht zu sehen.« Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 50, V. 8. Meier-Graefe, Entwicklungsgeschichte (1924), Bd. 1, S. 225: »Jede neue Kunst ist eine Urbarmachung eines Stückes der Welt, eine neue Ansiedlung im Reiche der Erfahrung.«
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aufgreifen, ist von solch prekärem Status der Bildsprache die Rede: »Das stumme: es ist etwas da. Bäume, Steine, Einschnitte: jetzt und nie wieder!« und »Bleistiftstriche so wie Worte: Hineinschneiden in den Raum, um dem Nichts ein Gesicht zu geben«. 84
Schönheit in der Verhüllung - Mediale Umschriften So wird in der Perspektivierung durch die blassen Gestalten, durch ihre begrenzten Perspektiven, ihre Klagen und Missverständnisse, die wie auf einen verborgenen Magneten auf Tizians Schöpferkraft bezogen sind, der Schöpiungsprozess von Tizians letztem Bild und die darin liegende Verheißung, Leben in das Spiegelkabinett künstlicher Schemen zu bringen, sprachlich umkreist, ohne selbst auf der Bühne eine sinnliche Präsenz zu erlangen. Die Wahrheit Tizians erscheint nicht unverhüllt, sondern allenfalls perspektivisch gebrochen und vervielfältigt.85 Es ist somit nach der poetologischen Funktion der auffälligen Struktur des Aufschubs, der Verhüllung und der Abwesenheit zu fragen. Das letzte Bild Tizians, das — alle Motive dionysischer Fülle vereinend die Verheißung des Lebens einzulösen hätte, erscheint ebensowenig wie der Meister selbst auf der Bühne. Von ihm wird nur erzählt, und auch das nicht im ekphrastischen Gestus der Bildbeschreibung, sondern auf Umwegen in der erinnernden Schilderung der Posen, welche die drei als Modelle fungierenden Mädchen als lebende Bilder für den Meister gestellt haben. 86 Zwischen Bild und Zuschauer findet somit eine mehrfache mediale Transkription statt, vom Bild über das Tableau Vivant zur Erzählung auf der Bühne. 87 Dass Hofmannsthal sich des unterschiedlichen Status' der verschiedenen Ebenen bewusst war, zeigen wiederum Notizen. So notiert er ein Stufenmodell »Entwicklung«, das von »A = Nachrichten«, über »B = Bilder hinein« und »C = 3 Mädchen« bis zu »D = Wein« reicht.88 Das eigendiche Zentrum des Stücks
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Vgl. Ritter, Die Briefe des Zurückgekehrten, S. 242-244. Vgl. Pestalozzi, Sprachskepsis und Sprachmagie, S. 18: »Es liegt im Wesen des >Lebensverhüllt< und verschleiert ganz zur Darstellung gebracht werden kann.« Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 50, V. 10-31: Lavinia: »Wir werden ihnen unsre Haltung nennen./ Ich bin die Göttin Venus, diese war/ So schön, daß ihre Schönheit trunken machte. [...] Das ist das Bild und morgen ist's vollendet.« Vgl. die These von Gabriele Brandstetter, derzufolge im >Tod des Tizian« eine »Bildlöschung« als Überschreibung durch andere Medien inszeniert wird: Dem Bild entsprungen. Zum medialen Aspekt vgl. auch Mirta Gaäl-Baröti: Hofmannsthals »Der Tod des Tizian« als intermedial orientiertes Netzwerk. In: Endre Hars, Wolfgang Müller-Funk und Magdolna Orosz (Hg.): Verflechtungsfiguren. Intertextualität und Intermedialität in der Kultur Österreich-Ungarns, Frankfurt/M. u.a.: Lang 2003, S. 149-159.
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bleibt leer, das letzte Bild erscheint nicht and ist hinter dem immer wieder thematisierten »Vorhang«, der sich niemals hebt, allenfalls zu imaginieren. Der Ursprungsort des Schöpferischen ist nicht unmittelbar erfahrbar, verbleibt — dem semiotischen Symbol folgend, welches das Stück anbietet — hinter dem Vorhang, dem Schleier der Zeichenverhüllung verborgen. 89 Dass diese Struktur der Verhüllung unhintergehbar ist und es daher nur ein weiteres Mal vom tragischen Missverstehen Desiderios zeugt, wenn er stellvertretend fiir die Jünger, hilflos auf einen Ausweg aus der Leere der Gegenwart hoffend, »der Enthüllung« harrt, 90 darauf gibt uns ein Bilddetail einen Fingerzeig. »Ich halte eine Puppe in den Händen«, schildert Lisa das von ihr gestellte Tableau Vivant, Die ganz verhüllt ist und verschleiert ganz, Und sehe sie mit Scheu verlangend an: Denn diese Puppe ist der große Pan." In die Absenz des Bildes ist also eine weitere eingefügt, das Leben der Pansfigur ist als Verhüllung in der Verhüllung gegenwärtig, und Lisa fuhrt in diese Bildszene eine weitere implizit semiotische Metapher ein, wenn sie vom »rätselhafte[n] Weben« des sinnverwirrenden Abendhauchs spricht. 92 Nur indirekt, im (wenn man so will, defizienten) Sprechen darüber, einer sentimentalischen Rede, welche das Verschwinden und den antizipierten Verlust thematisiert, ist das Schöpfungsmysterium des Bildes repräsentierbar. Da das lebensspendende letzte Bild in einem der sichtbaren Bühnenwelt entzogenen, jenseitigen Raum verbleibt und nur die Bilderzählungen die Schwelle dieses Vorhangs überschreiten und in die Bühnenrepräsentation eintreten können, 93 stellt sich die
Hofmannsthal, Notiz zu >Der Tod des Tizian«, SW III, S. 348, Ν 4. Umgesetzt wird dann aber gerade nicht dieses Stufenmodell vom Zeichen zum dionysischen Leben (im Wein, der beim Tod Tizians aus einem umgestürzten Krug fließen soll). Das Motiv des Weins entfällt und es dominieren die »Nachrichten«. 89 Schon in den ersten Personenskizzen wird ein »Vorhang den der Wind bewegt« genannt. SW III, S. 347. Es ist derselbe Lebenswind, der in Gianinos Monolog als lauer »Süd« vorkommt. In den Notizen war noch vorgesehen, dass am Schluss der Vorhang zerreißt, SW III, S. 349: »Schluss 3 Windstösse der Vorhang zerreisst, das Rufen in die Nacht hinaus; der Krug rollt die Stufen hinunter.« Dass der Vorhang in der Endfassung nicht reißt, verweigert genau jene Enthüllung, auf die Desiderio hofft. 90 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 51, V. 15-20: Desiderio: »Er aber hat die Schönheit stets gesehen,/ Und jeder Augenblick war ihm Erfüllung,/ Indessen wir zu schaffen nicht verstehen,/ Und hilflos harren müssen der Enthüllung .../ Und unsre Gegenwart ist trüb und leer.« 51 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 50, V. 17-20. 91 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 50, V. 24f.: »Doch ringsum fiihl ich rätselhaftes Weben,/ Und mich verwirrt der laue Abendwind.« 53 Vgl. Brandstetter, Dem Bild entsprungen, S. 235: »Über die Schwelle des Todesrahmens tritt nur die Erinnerung an dieses intime Todestheater - als nacherzähltes Tableau.« 88
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Frage nach dem medialen Verhältnis von Bild und Sprache und somit nach einer poetologischen und mediologischen Präzisierung der Künstlerthematik. Fasst man die Perspektivierung und Verrätselung des Tizian'schen Bildes durch die Gespräche der Jünger zugleich als ein raffiniertes mediales Spiel auf, dann werden in der theatralen Inszenierung der Bühne Bild- und Sprachmedium einander gegenübergestellt, um sich wechselseitig vor dem Anspruch des Schöpfungsmysteriums zu prüfen und in Frage zu stellen. So könnte es zunächst als Demütigung der Sprache durch die Präsenz des Bildes verstanden werden, wenn als stummes Hintergrundspiel und Kontrast zum Geschwätz der Ästheten im Bühnenvordergrund zwei berühmte Bilder Tizians vorbeigetragen werden. »Pagen tragen zwei Bilder über die Bühne«, lautet die Regieanweisung, »(Die Venus mit den Blumen und das Große Bacchanal).« Die Ehrfurchtsgesten der Jünger, das Verstummen der Rede, das körperliche sich Erheben und Neigen des Kopfes, das Erstarren vor der hieratischen Macht des Bildes, scheinen die Überlegenheit des Bildes gleichsam in kultischen Verehrungsformen einzusetzen.94 Doch wird diese Präsenz des Bildes im Stück wieder durchgestrichen, denn es ist Tizian selbst, der den gezeigten Bildern die Autorität abspricht, lässt er sie doch nur vor Augen bringen, um sich angesichts des momentanen Schaffensprozesses von ihnen als unvollkommenen und toten Schablonen zu befreien. Er sagt, er muß sie sehen [...] Die alten, die erbärmlichen, die bleichen, Mit seinem neuen, das er malt, vergleichen.95
Es ist nicht die sprachskeptische Resignation des Wortes vor der Evidenz des Bildes, die Hofmannsthal im >Tod des Tizian* in Szene setzt. Bild und Wort können vielmehr um die Erweckung des Lebens konkurrieren, wobei in der Inszenierung des Stückes die Abwesenheit des Bildes der Sprache einen SpielRaum im Zwischenreich der Sehnsucht und der antizipierten Möglichkeiten eröffnet. Schon der entstehungsgeschichtliche Kontext des Stücks legt den Verdacht nahe, dass das dominierende Thema des Schöpfungsaugenblicks des Bildes zugleich eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der poetischen Sprache ist, mit ihrem spezifischen Zugang zum lebendigen Schöpfungsmysterium 94
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Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 47: »die Schüler erheben sich und stehen, solange die Bilder vorübergetragen werden, mit gesenktem Kopf, das Barett in der Hand.« Auf den Kontrast zwischen den Sprachspielen der Jünger im Vordergrund und dem stummen Hintergrundspiel der Bilder hat Gerhard Neumann aufmerksam gemacht: Proverb in Versen, S. 2 1 9 . Es handelt sich wohl nicht um jeweils ein konkretes Bild, sondern es werden Venus-Darstellungen und Bacchanalien, also dionysische Motive Tizians evoziert (z.B. >Das Bacchanal/ Die AndrierDer Infant« anspielend, das im Prolog zudem als erzähltes Bild anwesend ist), über die Figur Desiderios bis zu den Spuren von Mallarmes Prosagedicht >L'apr£s-midi d'un faune< (das Hofmannsthal durch eine dem Brief beigelegte Abschrift Georges kennen lernte) in Gianinos Traumerzählung. So ist es konsequent, dass Hofmannsthals Dramenfragment im Oktober 1892 zusammen mit einigen Gedichten Georges aus >Hymnen Pilgerfahrten Algabal< im ersten Band der »Blätter für die Kunst* erscheint. 98 Aufzeichnungen zeugen von den Gesprächen des jungen Loris mit George, der ihm die poetische Welt Mallarmes und der Symbolisten nahe bringt. »Gespräche über die andere Kunst«, notiert er im Tagebuch im Dezember 1891, und: »Stefan George. (Baudelaire Verlaine Mallarme Poe Swinburne) »Unsere Classiker waren nur Plastiker des Stils, noch nicht Maler und Musiker««. 99 Vor dem Hintergrund der symbolistischen Poesiekonzepte, welche die »experimentelle Auflösung, Erweiterung und Ersetzung der Sprachzeichen durch 96 97
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Hofmannsthal an Walther Brecht, 20. Jan. 1929, S W III, S. 331. Mit diesem Wordaut, berichtet Hofmannsthal im Brief an Brecht, sei George im Cafe Griensteidl auf ihn zugekommen: »[...] dass ich unter den wenigen in Europa sei (und hier in Oesterreich der Einzige), mit denen er Verbindung zu suchen habe: es handle sich um die Vereinigung derer, welche ahnten, was das Dichterische sei.« S W III, S. 387. Vgl. dazu zusammenfassend den Kommentar und die Zeugnisse in S W III, S. 3 3 1 - 4 0 9 . S W III, S. 332. Außerdem rückblickend in >Ad me ipsumApr£s-midi d'un fauneA une passanteEinem, der vorübergehtAd me ipsum« und verweist damit auf die Verdopplung der Dichtergestalten, die den Prolog auch als einen allegorischen Raum der Sprachgestalten kennzeichnet. An die »Gabe sich zu vervielfältigen: die Spiegelungen (es emanieren gleiche Wesen aus ihnen« erinnert sich Hofmannsthal in >Ad me ipsumA study of Dionysuss S. 13: »So they passed on to think of Dionysus [...] not merely as the soul of the vine, but of all that life in flowing things of which the vine is the symbol.« Hofmannsthal besaß die englische Ausgabe, London 1 9 0 1 , die sich mit vielen Anstreichungen in seiner Bibliothek erhalten hat (FDH 1792). Als erstes Lesedatum ist vermerkt: »Zum 2. Mal 5 II 1904«. Eine Anstreichung (S. 13) bezieht sich zum Beispiel auf den Satz »what is to us but the secret chemistry of nature being to them the mediation of living spirits«, also auf das Verfahren der Mythologisierung der Natur. Wenig später (S. 2 1 ) merkt er Paters Überlegungen zu Bacchus-Darstellungen Tizians und Tintorettos an. Eine zweite Paterlektüre ist für das Jahr 1 9 1 1 vermerkt, während der Arbeit an den >Augenblicken in Griechenlands
Aufgrund der Wongleichheit zu JlOCV = alles, All, wurde der arkadische Hirtengott schon in der Antike z.B. von den Orphikern zum Allgott erhoben. " 8 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, S W III, S. 4 4 , V. 36f. 119 Szondi, Das lyrische Drama, S. 248f. 117
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drom aus sinnlicher Überfülle sprachlich vorgeführt. Von der »große [n] Lust, als der gequälte Sinn/ Vor Überfulligung [sie!] nicht fassen kann«, ist in einer Notiz im Kontext der zitierten Verse die Rede, von der »Erregbarkeit fur Farben, Wunden, grelle Lichter, starken Duft«, die als »zitternde Schwäche« erfahren wird. 120 Der Dichter Gianino — so möchte ich es pointieren — teilt mit dem Maler Tizian dieselbe Sphäre dionysischer Lebendigkeit. Auch er ist wie dieser ein Schöpfer von Bedeutung, der »solche Dinge in das Dunkel webt«. 121 Die Dynamik der von ihm evozierten Natur lässt sich der atemlosen Produktivität Tizians an die Seite stellen, beide kontrastieren scharf zur bleiernen Starre, die in der Welt der wartenden Jünger herrscht. Gianino ist von dieser dionysischen Schöpferkraft zudem ähnlich angegriffen wie Tizian, Müdigkeit und Schwindel verraten die Gefährdung der Individualität, die mit solch visionärer Entgrenzung einhergeht.122 Von dem lauen Südwind, den er in einer Verschiebung der Bedeutung einmal als Rufen, ein anderes mal als faunische Flötentöne wahrnimmt, heißt es in einer Notiz, dass er mit dem Blütenzauber auch die Pest bringt. 123 Gianinos dezentrierte sensuelle, vor allem visuelle Erlebnisse in der Magie der im Mondlicht verschwimmenden Formen und der von ihnen ausgelöste Schwindel lassen sich den geweiteten Augen Tizians an die Seite stellen. Die Schwelle zwischen Wachen und Traum, der Gianinos entgrenzende Visionen angehören, bildet die Entsprechung zur Schwelle zwischen Leben und Tod, die Tizians Schafifensrausch entbindet. Im >Chandos-Briefals ob< eingeführt. Die Deutung ist sich ihrer nicht sicher, muss aus einer Vielzahl von Möglichkeiten die >ähnliche< auswählen (»Da schien es mir wie das Vorüberschweifen [...]«). 134 Das spiegelnde Wasser, das rieselnde Licht, der wehende Wind setzen diese bewegliche Semiose ins Bild. Sie fuhren vor, wie die sprachliche Phantasie aus dem Unbestimmten phantasmagorische Gestalten macht, indem sie das Scheinende mit Bedeutung versieht. Die sprachliche Phantasie spinnt die visuellen Effekte fort, wie es Nietzsche in seinen Traumaphorismen beschreibt, aus einem »Bilderleben« wird ein Sprachgeschehen, »Ähnlichkeit führt zur kecksten Fortbildung«. 135 »Denn die Welt ist nur Wirklichkeit, ihr Abglanz aber ist unendliche Möglichkeit«, charakterisiert Hofmannsthal das poetische Verfahren 1903 in >Die Bühne als Traumbild^ 136 Was dort als LichtMallarmes Prosagedicht hat Hofmannsthal übernommen, den flötenspielenden Faun, das Motiv des Traums, die abtauchenden Najaden/Schwäne und die Bienen auf den Granaten. Vgl. Stephane Mallarme: L'apr£s-midi d'un faune (1876). Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2000, S. 60-67. 131 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 44, V. 29-32. 132 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 44, V. 1. 133 So auch Streim, Das >Leben< in der Kunst, S. 153f. 134 Hofmannsthal, Der Tod des Tizian. Bruchstück, SW III, S. 44, V. 24. 135 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Sommer 1872 bis Anfang 1873, KSA 7, S. 445. Die Aufzeichnung gehört in den Umkreis der Traumaphorismen aus >Menschliches, AllzumenschlichesTod des Tizian< stellen das poetische Verfahren, das sich einer Sprachmagie, der »Macht in dem vertrauend ausgespr. Wort (Gebet, Zauberformel)« hingibt, das vom Glauben an die »Kraft« der Sprache und vom »Hochmuth der unendlichen Möglichkeiten« durchdrungen ist, unter Dekadenzverdacht.138 Insofern ist Gianino eben doch auch ein Zwillingsbruder des Pagen mit den rosa Seidenstrümpfen. Dass diese Spannungen in Hofmannsthals frühem Einakter ausagiert werden, dass der Sprachbewegung der Zweifel eingeschrieben ist und sie wie das Infinito der Tizian'schen Malerei an kein Ende kommen kann, macht die besondere literarische Qualität des Textes aus. Er fuhrt uns mit den ästhetischen Chancen auch die Aporien eines literarischen Konzepts vor, das mit der Fülle des Bildes konkurriert und immer auch die abgewandte Rückseite der Sprache einholen möchte. Zehn Jahre später setzt Hofmannsthal mit dem >Brief< des Lord Chandos an dieser aporetischen Konstellation neu an, um abzurechnen mit dem »Prunk der Worte«, den »geläufige[n] Bildfern] zusammengefasster Worte« und den »süßesten Allegorien.«139 Hofmannsthal hat das in seinem Rückblick in >Ad me ipsum« als den entscheidenden Bruch in seiner Werkbiographie inszeniert: »Die magische Herrschaft über das Wort das Bild das Zeichen darf nicht aus der Prae-existenz in die Existenz hinübergenommen werden.« Vom »Verschulden«, von »Verfehlung« ist die Rede und vom »Anstand des Schweigens als Resul137 138
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Hofmannsthal, Die Bühne als Traumbild, G W RuA I, S. 4 9 1 . Hofmannsthal, Notizen zu »Der Tod des Tizians S W III, S. 3 4 4 unter dem Stichwort »Gianino«: »Es ist eine Macht in dem vertrauend ausgespr. Wort (Gebet, Zauberformel)«; S. 346: »in tiefster Seele der Glaube an ihre Kraft und der Hochmuth der unendlichen Möglichkeiten«. Hofmannsthal, Ein Brief, S W XXXI, S. 45, 46, 47.
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tat«.140 Askese soll der Sprache angesichts der Unsäglichkeit des stummen Lebens verordnet werden, die Trunkenheit ihrer Bedeutungslust muss sich als »aufgeschwollene Anmaßung«, als selbstverliebte Tautologie in Frage stellen lassen und wird mit der Leere der Uninspiriertheit konfrontiert. Die Sprache als Grenze zum Unsagbaren wird nun als Drama des Verstummens inszeniert.141 Die Problemkonstellation jedoch - das wird zu zeigen sein - ist mit der Wende von der Präexistenz zur Existenz nicht erledigt, es werden nur andere literarische Mittel erprobt. Hofmannsthal schreibt an demselben Punkt weiter.
2. Farbendelirien und Sprachverflüssigung: Eine mediale Reflexionsfigur bei Hofmannsthal ( 1 9 0 2 - 1 9 0 7 ) Farbige Übergänge Das Sprachdrama des Lord Chandos in Hofmannsthals berühmtem fiktiven Brief wird von einer metaphorischen Bewegung zwischen Verflüssigung und Gerinnung, zwischen Austrocknung und ekstatischer Überflutung strukturiert. Auf eine Phase andauernder Trunkenheit, die den ungehemmten Fluss der Sprache wie »schäumende laue Milch« in sich einsaugt, dabei in oraler Zufriedenheit schwelgt und »aufgeschwollen« die »schäumende Nahrung des Geistes [...] durch nie verstopfte Röhren« in sich hineintrinkt,142 folgen die Tantalusqualen des Verdurstens und damit das Versiegen der Sprachmächtigkeit: Chandos ein moderner Tantalus, vor dessen dürstenden Lippen das murmelnde Wasser zurückweicht.143 Doch sieht sich der zu »geistiger Starrnis« ausge140 141
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Hofmannsthal, Ad me ipsum, G W RuA III, S. 6 0 1 . Ich stimme Hans-Ulrich Treichel zu, demzufolge die »Krisengeschichte der literarischen Moderne auch eine Erfolgsgeschichte des Schreibens« ist: »In der Tat zeugt der Chandos-Brief als literarischer Text von vielem, nur nicht vom Zerfall der Worte im Munde des Sprechers und auf dem Papier.« (»Als geriete ich selber in Gärung« Über Hofmannsthals Brief des Lord Chandos, S. 136E; ähnlich Magris, Der Zeichen Rost, S. 73; Jost Börners: Der Chandosbrief - Die nova poetica Hofmannsthals, Stuttgart: Metzler 1991 und Wolfgang Riedel, Homo Natura, S. 5. Hofmannsthal, Ein Brief, S W XXXI, S. 4 6 - 4 8 . Hofmannsthal, Ein Brief, S W XXXI, S. 48: »Wie soll ich es versuchen, Ihnen diese seltsamen geistigen Qualen zu schildern, dies Emporschnellen der Fruchtzweige über meinen ausgereckten Händen, dies Zurückweichen des murmelnden Wassers vor meinen dürstenden Lippen?« Zur Evokation des Tantalusmythos als Bestrafungsphantasie vgl. Wellbery, Narrative Theory and Textual Interpretation, S. 323. Den spezifisch oralen Aspekt der Bestrafung (vom Milchfluss zu den modrigen Pilzen) hat Wellbery auf einem Vortrag der Hofmannsthal-Gesellschaft 2 0 0 2 unter die Perspektive einer Ästhetik des Opfers gestellt: Die Opfer-Vorstellung als Quelle der Faszination.
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dörrte und von der Muttermilch der Sprache abgeschnittene Dichter seinerseits in seltenen erhöhten Augenblicken von einer »jäh steigenden Flut göttlichen Gefühles« überschwemmt. 144 Als Grenzüberschreitung von sintflutartiger Gewalt verflüssigt sie das Starre und spült die von der Begriffslogik gesetzten Differenzen in einer Woge der Verschmelzung hinweg. Ein »ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen« ergreife ihn mit der jähen Gewalt des Plötzlichen, das »Fluidum des Lebens und Todes, des Traumes und Wachens« sei in diesen Momenten in eins geflossen. 145 Anders als der schäumende Milchfluss der ersten Phase ist diese zweite Flutwelle nicht kontrollierbar. Anstatt dem Mund des Dichters die Worte zuströmen zu lassen, 146 bricht sie in jenes architektonisch wohlverfugte »Gefuge lateinischer Perioden« 147 ein, von dem er nur noch sentimentalisch berichten kann, und reißt einem Dammbruch vergleichbar die distinkten Ordnungen der Sprache mit sich fort. Und noch ein Weiteres unterscheidet dieses zweite Überströmen von dem ersten. Ist der Milchstrom oralen Sprachgenusses farblich unbezeichnet und allenfalls weiß zu denken, so kommt bei der zweiten Flutwelle auf der metaphorischen Ebene schillernde Farbigkeit ins Spiel. Prompt gerät die Sprache ins Stocken, wird infiziert von dem materiellen Reiz solch unzuverlässigen Changierens und gerät gleichsam ins Taumeln. Bei der Ermahnung an seine Tochter, immer wahr zu sein, sei es ihm geschehen, so berichtet Lord Chandos, dass »die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflössen«, dass er aus dem Satz und der Belehrungsszene ausbrechen musste. D a verwundert es nicht, dass dieser Kontrollverlust bei ihm die einer Ohnmacht vergleichbaren physiologischen Reaktionen auslöst. 148 Diese an die farblichen Übergänge flüssigen Metalls gemahnende schillernde Färbung des Sprachmaterials taucht in variierter Form später im Text wieder auf, als »um sich fressender Rost« zunächst, 149 und dann — an ganz emphatischer Stelle als rhetorischer Höhepunkt des Textes — als nächtliche Vision des in Erregung versetzten Gehirns. Es sei diese Vision wie
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Hofmannsthal, Ein Brief, S W X X X I , S. 4 5 und S. 50. Hofmannsthal, Ein Brief, S W X X X I , S. 51. Vgl. Meier-Graefes fiktiver Brief an »Loris« in der Spanischen Reise< (1910): »Sie sind einer der letzten Starken, Sie dichten, die Worte strömen Ihnen zu.« B W MeierGraefe, S. 35. Hofmannsthal, Ein Brief, S W X X X I , S. 45. Das Zitat wird explizit als Architekturmetapher für die Festigkeit eines »geistige[n] Grundriss[es] und Aufbau[s]« verwendet. Hofmannsthal, Ein Brief, S W X X X I , S. 49: »[...] den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn [....].« Hofmannsthal, Ein Brief, S W X X X I , S. 49.
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ein Splitter, um den herum alles schwärt, pulst und kocht. Es ist mir dann, als geriete ich selber in Gärung, würfe Blasen auf, wallte und funkelte. Und das Ganze ist eine Art fieberisches Denken, aber Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte. 150
Es geht an dieser Stelle um ein visuelles Trauma, um eine Form von Aphasie und zugleich um die Utopie eines präsemiotischen Ausdrucks, einer Verflüssigung von Sprache, welche die Begriffssprache durch die Evidenz ihrer Leuchtkraft und die Schmiegsamkeit an die Unendlichkeit farbiger Nuancen überträfe. Flüssiges rotglühendes Metall wäre dieses Material des Denkens, sozusagen frisch aus dem Hochofen der Produktivität fließend vorgestellt, vor der Verfestigung zu Gestalten, zugleich visuell einleuchtend und sich energetisch verzehrend. In einem anderen Prosatext des Jahres 1902 kehrt dieses Bild in ähnlichem Kontext wieder. In dem »imaginäre[n] Gespräch« zwischen Balzac und Hammer-Purgstall >Über Charaktere im Roman und im Drama< führt es Balzac als Beispiel fur die Unfähigkeit der Dichter an, sich »mit dem existierenden Worte [...] zu begnügen«, um die »symbolische Gewalt auch unscheinbarer Dinge« auszudrücken, der sie in solchen fieberhaften Momenten unterliegen. Wie König Midas, nur unter gerade umgekehrten Vorzeichen, gerate dem Künstler alles unter seinen Händen zu fließendem Gold. Das schillernde Material seiner Kunst fließt aus der visuellen Schmelzmasse seiner quälenden Delirien.151 Zitiert wird an dieser Stelle die Passage aus Goethes Übersetzung der Lebensbeschreibung des Goldschmieds Benvenuto Cellini, von der im Kontext von Hofmannsthals Obsession der >starren Blicke< im ersten Kapitel bereits die Rede war.152 Sie beschwört eine Konstellation, die man als Urszene dieses Zusammenhangs zwischen traumatischer Schwellenerfahrung, sprachlicher Deprivation, visionärer Entgrenzung und der Erweiterung des künsderischen Materials betrachten kann. Sie stellt einen mythe personnel von Hofmannsthals Schreibprozess dar.153 Im Kerker verdichten sich dem an der Schwelle zwischen Leben und Tod in Agonie liegenden Goldschmied seine qualvollen Delirien »zu einem schönen tröstenden Traum«, Hofmannsthal, Ein Brief, S W XXXI, S. 54. Hofmannsthal, Über Charaktere im Roman und im Drama, S W XXXI, S. 33. 152 Siehe oben Kap. I: >Starre Blicke: Kreativer Schwindel·. Eine erneute Lektüre der Cellini-Biographie dokumentiert eine Aufzeichnung vom 5.7.1906: »Aus ihm heraus quellen Visionen, die aus der Materie seiner Kunst sind«. G W RuA III, S. 468. Das Zitat bezieht sich auf Kap. 13 des zweiten Bands der Goethe'schen Übersetzung: Johann Wolfgang von Goethe: Leben des Benvenuto Cellini (1803). Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 4 0 Bde. Frankfurter Ausgabe. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Bd. 11. Hg. von Hans-Georg Dewitz und Wolfgang Proß, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, S. 252f. 153 Im Sinne der von Charles Mauron definierten >th£mes obsedants< als metaphorisches Gleiten der Sprache. Vgl. Wiethölter, Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts, S. 79. 150 151
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er sieht die Sonne, aber ohne blendende Strahlen, als ein Bad des reinsten Goldes. Ihre Mitte bläht sich auf und strebt in die Höhe: es erzeugt sich durchaus ein Christus am Kreuz aus derselben Materie; dem Kruzifix zur Seite eine schöne heilige Jungfrau, in der gefälligsten Stellung und gleichsam lächelnd. Zu beiden Seiten zwei herrliche Engel, aus dem gleichen Material. Alles das sah er wirklich und dankte beständig Gott mit lauter Stimme. Er lag in der Agonie, aber er war der größte Goldschmied seines Jahrhunderts, und die Vision, in der ihm der Himmel seine Agonie versüßte, war die Vision einer Goldschmiedearbeit. Auf der Schwelle des Todes hingekrümmt, waren seine Träume aus keinem anderen Material als aus dem, in welchem seine Hände ein Kunstwerk zu schaffen vermochten. 154
Aus solchem Material bestünden die »Erlebnisse« des Künstlers, belehrt Balzac den Philister, der ein solches Produktionsmodell »pathologisch« findet. Aus der rotglühenden Schmelzmasse eines inneren Hochofens werde die glänzende und bewegliche Materie ihrer Kunst in immer neu sich bildenden und wieder einschmelzenden Gestalten geschaffen. Solche hitzige Kreativität ist als Selbstopfer konnotiert, der Stoff des Künstlers entquillt einem inneren, ihn selbst verzehrenden »Schmerzensbrand«: Weil das Innere des Menschen ein sich selbst verzehrender Brand ist, ein Schmerzensbrand, ein Glasofen, in welchem die zähflüssige Masse des Lebens ihre Formen erhält, entzückend blumenhafte, wie die Stengelgläser der Insel Murano. Oder heldenhafte, von metallischen Reflexen funkelnde, wie die Töpfereien von Derutta und Rhodus.' 55
Die Metapher der rotglühenden Schmelzmasse und ihrer metallisch-funkelnden Übergänglichkeit begegnet auch bei anderen fiir Hofmannsthal wichtigen Autoren dort, wo es um die semiotische Bewältigung einer aufquellenden Bilderfiille geht. So beklagt Nietzsche in >Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« »das »Hart- und Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse.« 156 In Baudelaires >Paradis artificiels< ist der übernatürliche rotgoldene Lichtglanz einer an erkaltendes flüssiges Metall erinnernden untergehenden Sonne Teil der von Drogen ausgelösten Halluzination. 157 Deren Zweck ist die Auflösung der sprachlich gesetzten Oppositionen. An ihre Stelle treten semiotische Zweideutigkeiten, träumerische Verwechslungen und verschobene Vorstellungen — »Puis arrivent les equivoques, les meprises et les transpositions d'idees.« 158 Das Glück der künstlichen Paradiese ist das einer zerstreuten, von den Glanzeffekten visueller Gebilde absorbierten Aufmerksamkeit, welche die paradoxe Bedeutsamkeit, die stumme Sprache des Formlosen Hofmannsthal, Über Charaktere im Roman und im Drama, S W XXXI, S. 34. Hofmannsthal, Über Charaktere im Roman und im Drama, S W XXXI, S. 36f. 156 Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge, KSA 1, S. 883. 157 Baudelaire, Les paradis artificiels, CEuvres competes, S. 368. »En levant les yeux, je vis un soleil couchant semblable 4 du metal en fusion qui se refroidit.« " 8 Baudelaire, Les paradis artificiels, CEuvres completes, S. 364f. 154 155
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erfährt. Diese Entrückung aber ist farbig, von überwältigenden Lichterscheinungen begleitet, einem übernatürlichen Leuchten und Glänzen, von Lichtkaskaden flüssigen Goldes und rotsprühenden Lawinen von Sonnenuntergängen - »des magnificences de lumiere, des splendeurs glorieuses, des cascades d'or liquide [...] les avalanches de rose dans les couchers de soleil«. 1 5 9 Das gleiche rotgoldene Licht der sinkenden S o n n e überflutet auch Lord C h a n d o s im M o m e n t seiner ersten Vision. Lesespuren in Hofmannsthals Baudelaire-Ausgabe, die sich in seiner Bibliothek im Freien Deutschen Hochstift erhalten hat, zeigen Hofmannsthals spezifisches Interesse an der halluzinativen Steigerung des Farbensehens z u m »magischen Spiegel« eines inneren Sehens. 1 6 0 U n d wenn er in der >Ansprache im H a u s e des Grafen Karl Lanckoronski< davon spricht, wie die »zusammentretenden Farben und Schattierungen« geknüpfter Gobelins im »goldrothen Abendschein« d e m »starren Blick« entgegenquellend sich geisterhaft verlebendigen, wie die »stummen schönen Dinge« in plötzlichem Aufleuchten für »einen Augenblick« ein Eigenleben erhalten und »sich blähen«, 1 6 1 dann mutet dieses grenzüberschreitende Farbensehen wie Baudelaire, Les paradis artificiels, CEuvres completes, S. 363. Vgl. die Übersetzung dieser Stelle von Friedhelm Kemp: Baudelaire, Sämdiche Werke/Briefe, Bd. 6, S. 75: »Das Haschisch ruft bekanntlich immer überwältigende Lichterscheinungen, ein starkes Leuchten und Glänzen, Kaskaden flüssigen Goldes hervor; jedes Licht ist ihm recht, jenes, das sich rieselnder Fülle ergießt, und jenes, das wie Flitter an Spitzen und Unebenheiten hängen bleibt, die Kandelaber eines Salons, die Kerzen des Marienmonats, die rosigen Lawinen in den Sonnenuntergängen.« 160 Folgende Ausgabe befindet sich mit den Anstreichungen Hofmannsthals in seiner Bibliothek im Freien Deutschen Hochstift unter der Signatur F D H 1070: Charles Baudelaire: Petits po£mes en prose. Les paradis artificiels, Nouvelle fidition Paris: Calmann-Levy o.J. Charakteristische Anstreichungen beziehen sich auf das »innere Auge« und dessen Tradition z.B. bei Swedenborg, auf den »magischen Spiegel« eines erweiterten Sehens. Vgl. z.B. S. 150 in Hofmannsthals Ausgabe, S. 348 in der Dantecs/Pichois', aus dem Abschnitt »Le gout de l'infini«: »C'est pourquoi je prefere considerer cette condition anormale de l'esprit comme une Writable grace, comme un miroir magique oil l'homme est invite ä se voir en beau.« Baudelaire bezieht sich dabei auf E.T.A. Hoffmann. 161 Hofmannsthal, Ansprache, gehalten am Abend des 10. Mai 1902 im Hause des Grafen Lanckorodski, in: Die Wege und die Begegnungen, S. 72f.: »Und das Getäfel der Wände nimmt manchmal, während niemand es beachtet, unter dem goldrothen Abendschein, der von draussen hereinfällt, sein ganzes Wesen ein und den geisterhaften Anschein seines Wesens [...]. Und so vermag ein hangendes, ein hingebreitetes Gewebe für einen Augenblick gleichsam seinen Geist auszuhauchen: während es einer unterm Reden, unterm Schweigen starr ansieht, wird sich ihm auf einmal offenbaren, daß da Geknüpftes ist, von Menschenfingern in endlosen Stunden zu Tausenden von Knoten Zusammengeknüpftes, und einen Augenblick wird dies tausendfach Geknüpfte aufleuchten und die erstarrte Lebendigkeit, die Form gewordene Willkür der zusammentretenden Farben und Schattirungen erkennen lassen, wie eine nächtliche Landschaft unter einem grossen Blitz die Verknüpfung der Strassen und das Zusammentreten der Hügel für einen Augenblick erkennen und dann wieder ins Dunkel zusammensinken läßt.« 155
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ein Vorläufer der Meskalinexperimente eines Aldous Huxley an. 162 Der steht wiederum mit diesen Experimenten der Wahrnehmungssteigerung in der Tradition Baudelaires und der Diskussion des späten neunzehnten Jahrhunderts. 163 Unter Berufung auf Bergson will er die »eliminierende« Funktion der Aufmerksamkeit und die konventionellen Bedeutungshierarchien aufbrechen. 164 Farben werden unter dem Einfluss der Droge zur »chemischen Tür in der Mauer«, zur Schwelle in eine höhere Wirklichkeit, die als mystisches Tremendum, als fraglose »Istigkeit« des Seins, als »brennende Helle ungemilderter Wirklichkeit« und »unaufhörliche Gegenwart« erfahren wird. 165 Die Faszination besteht in dem Präsenzerleben und der bedeutungsheischenden Evidenz der Farben, die ihre begriffsbestimmten Gegenstandsgrenzen überfluten und wie autonome Kräfte gegen das Auge vorrücken. Es macht eine bemerkenswerte Kontinuität in dieser spezifisch modernen Diskussion um den Zusammenhang von Farbe und Droge aus, dass auch Huxley wie Baudelaire und Hofmannsthal von der tieferen Bedeutsamkeit dieser Farbigkeit zu berichten versucht, in der das bloße Dasein sich vollkommen auszusprechen scheint. »Alle Farben waren so intensiv«, so Huxleys Drogenbericht, »so zutiefst bedeutungsvoll, dass sie nahe daran zu sein schienen, die Regale zu verlassen, um sich meiner Aufmerksamkeit noch eindringlicher bemerkbar zu machen.«" 56 Und es ist ebenso bemerkenswert, dass diese visionären Farbberichte sich derselben Attribute und Metaphern bedienen, unter denen der auf Jacob Böhme sich berufenden Edelsteinmetaphorik und der Metaphorik des geschmolzenen Metalls offenbar topische Bedeutung zukommt. 167 Auch die >hysterische< Sugge162
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Aldous Huxley: T h e Doors of Perception, London 1954. Ders.: Heaven and Hell, London 1956. Ich zitiere nach der deutschen Ausgabe: Die Pforten der Wahrnehmung. Himmel und Hölle. Erfahrungen mit Drogen. Aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka, 23. Aufl. München, Zürich: Piper 2002. D a s künstlerische Paradigma der reinen, vom Begrifflichen befreiten Farbwahrnehm u n g beispielsweise orientiert er an Seurat, van Gogh und Cezanne (Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung, S. 2 3 - 3 9 ) sowie an Goethes Kultur des Auges (S. 57f.). Sie waren für ihn ganz in der Tradition der Auffassung der Jahrhundertwende (etwa Julius Meier-Graefes) Visionäre der Farbe. Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung, S. 19. In der Reihenfolge der Zitate Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung, S. 61, S. 47, S. 15, S. 44, S. 18. Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung, S. 17. Vgl. auch S. 15: »[...] wie Blumen aus ihrem eigenen inneren Licht heraus leuchteten und so große Bedeutung erlangten, dass sie unter dem Druck erbebten, der ihnen auferlegt war.« Zur Edelsteinmetaphorik vgl. Hofmannsthals Aufzeichnung Ν 25 in dem Konvolut mit der Aufschrift »Farbe« aus dem Umkreis der >Briefe des Zurückgekehrtens S W X X X I , S. 436: »Farbe: Böhme sagt von Karfunkel Rubin u. Smaragd dass sie inmitten der irdischen Trübung versprengte rein gebliebene Trümmer aus dem Reich des Lichts darstellen«. Ähnlich Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung, S. 17: »Rote Bücher gleich Rubinen, smaragdene Bücher, Bücher in weiße Jade gebunden, Bücher von Achat, von Aquamarin, von gelbem Topas, von Lapislazuli«. Z u m Verweis auf
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stivität der »Makartfarbe« wird von dem Wiener Kunstkritiker Ludwig Hevesi beschrieben als »ein unablässiges Kommen und Gehen von Flimmer, ein Flackern von Flamme, ein Knistern und Sieden und Glühen ohne Ende.«168 Farbe als Grenzwert der Sprache Dieses dichte und beinah obsessiv geknüpfte metaphorische Geflecht um den komplexen Zusammenhang zwischen farbiger Erscheinung und sprachlichem Material fuhrt bei näherem Hinsehen auf eine Spur, die sich — so meine These — seit dem >Brief< des Lord Chandos als unabgegoltenes Projekt durch einige Prosatexte Hofmannsthals hindurch verfolgen lässt, bis sie in den >Briefen des Zurückgekehrtem 1907 noch einmal, expliziter und ausschließlicher zugespitzt nun, aufgegriffen wird. Man könnte es das Einbrechen oder — um eine Formulierung Hofmannsthals aufzugreifen — das »Eindringen« der Farbe in die Sprache nennen.169 Die Farbe wird in diesen Texten als das Fremde und ganz Andere der Sprache gesetzt, als ihr Antipode, als Plötzlichkeit, als überwältigende, glücksverheißende und mit Vernichtung drohende Schwellenfigur. Als farbige Woge in unendlicher Nuancierung scheint sie die symbolische Distinktheit der Sprache und ihre narrativen Ordnungen zu unterbrechen. Dennoch provoziert sie gerade darin die Spracharbeit an einer semiotischen Utopie von Zeichenfiille und Verflüssigung. Als Gegenstand literarischer Rede verrätselt und in eine Sphäre des Staunens verfremdet, als »etwas völlig Unbenanntes und auch wohl kaum Benennbares«170 dem unbezeichneten Raum, der abgewandten Seite aller Symbolisierung zugewiesen, ist sie eine mediale Reflexionsfigur, welche die Austarierung sprachlicher Grenzen erprobt. Farbe ist hier nicht als Trägerin geistiger oder psychischer Inhalte wie in Kandinskys Farbmetaphysik oder expressionistischer Farbenpsychologie domestiziert,171 sondern erscheint als das pharmakon, das sie schon in der Antike Jakob Böhme ebd., S. 44. Die Metapher des geschmolzenen Metalls für die Übergänglichkeit des visionären Schauens findet sich auch in Musils >Die Verwirrungen des Zöglings TörleßRamakrishna. His life and sayings< (New Impression London, Bombay: Longmans, Green and Co 1901), FDH 1736 an den Rand des Abschnitts über Ramakrishnas mystisches Farberlebnis beim Anblick der weißen Kraniche vor blauem Himmel auf S. 34 handschriftlich: »An die Spitze eines Aufsatzes über das Eindringen der Farbe in die Phantasie der Deutschen.« Hofmannsthal hat die Episode in >Die Briefe des Zurückgekehrtem übernommen, S W XXXI, S. 172. Vgl. den Kommentar von Ellen Ritter, ebd., S. 452. 170 Hofmannsthal, Ein Brief, S W XXXI, S. 50. 171 Die Loslösung von Linie und Farbe aus der Gegenstandsbindung erfolgte in den
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dem Verdikt der Philosophen ausgesetzt hatte, das heißt als gegenstandsauflösende und absorbierende Droge halluzinativer Entgrenzung und bewusstseinszerstörender Grenzwert der reinen Empfindung. Sie ist eine Figur der Vermischung und Verschlingung, farbige Entrückung und farbiger Abgrund, Schmerzschwelle an der Grenze des Körpers und seiner Verworrenheiten und grenzwertiges Experiment mit der dunklen Rückseite des Bewusstseins. Sie verspricht Umkehrung der Bedeutungshierarchien und aufblitzendes, ephemeres Glück der flüchtigen Erscheinung, Endastung von Bedeutung und überschwellende Bedeutsamkeit von fragloser Evidenz. An der lodernden Farbigkeit von van Goghs Bildern erfährt der zurückgekehrte Reisende in der Briefnovelle von 1907, dass »die Farben eine Sprache sind, in der das Wortlose, das Ewige, das Ungeheure sich hergibt, eine Sprache, erhabener als die Töne, weil sie wie eine Ewigkeitsflamme unmittelbar hervorschlägt aus dem stummen Dasein und uns die Seele erneuert.«172 Hofmannsthals radikale Auffassung von Farbe als riskantem Schwellenphänomen der Präsenz am Übergang zur Trance reiht ihn in eine moderne Tradition, die bis zu Roland Barthes und Gilles Deleuze reicht. Was Barthes den performativen, den ZTragwwcharakter der Farbe nennt, »eine Erscheinung - oder ein Verschwinden, denn die Farbe ist wie ein sich schließendes Augenlid, eine leichte Ohnmacht«, 173 beschreibt Deleuze als »hysterische« Präsenz der Farbe und ihre Fähigkeit zur Absorption. 174 Das an-
Abstraktionstheorien von Henry van de Velde, Wilhelm Worringer und Wassily Kandinsky über die von Theodor Lipps systematisch entwickelte Kategorie des psychischen Ausdruckswerts. Eine an den >primitiven< Ausdrucksformen orientierte Anthropologisierung der künsderischen Mittel ist eine Folge, welche Abstraktion als Anthropologikum zur Kontingenzbewältigung deutet. Es liegt in der Konsequenz dieser anthropologischen Substanzialisierung, dass der mit dem Gegenstand verlorene Inhalt des Kunstwerks durch psychische oder wie bei Kandinsky >höhere geistige< Inhalte ersetzt, die prinzipielle Zweiteilung von Form und Gehalt somit nicht angetastet wird. Vgl. Kandinsky/Marc (Hg.), Der Blaue Reiter, S. 54: »Unfassbare Ideen äußern sich in fassbaren Formen.« Nach Kandinsky soll die Kunst »unfehlbar das verlorene >Wäs< wiederfinde[n], das >WasWas< wird nicht mehr das materielle, gegenständliche >Was< der hintengebliebenen Periode sein, sondern ein künsderischer Inhalt, die Seele der Kunst, ohne welche ihr Körper (das >WieBriefe des Zurückgekehrtem sein Farberlebnis und zeigt in der rhetorischen Stilisierung des Unsagbarkeitstopos die literarische Verfasstheit dieser Unsäglichkeit an. 1 7 7 Erprobt wird ein Sprechen aus d e m »innersten Erlebnis« in »den Herzenskern der s t u m m e n Dinge«, ein Sprechen, das seine sprachlichen Setzungen
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Deleuze, Francis Bacon - Logik der Sensation, S. 37f.; ders.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Übersetzt von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. I64f. Das belegt eine Reihe von aktuellen Veröffendichungen zu einer anthropologischen Kulturgeschichte der Farbe. Vgl. Didi-Huberman, Die leibhaftige Malerei; David Batchelor: Chromophobie. Angst vor det Farbe. Aus dem Englischen von Michael Huter, Wien: W U V Universitätsverlag 2002; Manlio Brusatin: Geschichte der Farben. Mit einem Vorwort von Louis Marin, Berlin: Diaphanes 2003; John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart. Übersetzt von Magda Moses und Bram Ospelten, Leipzig: E A . Seemann 2001. Zu .»Fluidum« und »Wirbel«: Hofmannsthal, Ein Brief, SW XXXI, S. 49 und S. 51. Gerhard Neumann fuhrt plausibel die doppelt (positiv und negativ) konnotierte Konjunktur der Erklärungsfigur des »Wirbels« um 1900 auf die Thermodynamik des Mathematikers Henri Poincare zurück. In dieser Struktur des wirbelnden Sogs verbindet sich »die irreparable, chaotische Auflösung aller konzeptualisierbaren Wahrnehmung« mit der »Chance einer ganz neuen und unerhörten Form von Weltwahrnehmung und Weltdarstellung«: »Tourbillon«, S. 402. Juliane Vogel untersucht in ihrer Studie über >Mehlströme/ Mahlströme. Weißeinbrüche in der Literatur des 19. Jahrhunderts< unter anderem die Funktion des Mahlstroms - maelstream - als Wirbeln des nicht mehr gegenständlichen »Stoffes«, »Verdammnis, Manifestation einer nicht mehr verständlichen Schöpfung«. Zur Thermodynamik bei Robert Musil vgl. Christian Kassung: Entropie-Geschichten. Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« im Diskurs der modernen Physik, München: Fink 2001. Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, SW XXXI, S. 169.
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immer wieder durchstreicht und ihnen allenfalls konjunktivische Geltung zuschreiben will. 178 »Besäße ich eine Sprache, in die innerliche, wortlose Gewißheiten hinüberzufließen vermöchten! Aber so!«179 Immer wieder wird innerhalb der Texte neu angesetzt, von Text zu Text wird an dieser Stelle fortgeschrieben. Darin artikuliert sich die semiotische Utopie einer Zeichenfiille, wird gearbeitet an einer Sprachbewegung, die sich selbst permanent überbieten will. Man kann von einer Verstörung der Sprache durch die Provokation der Farbe sprechen. Diese Verstörung durch die Farbe fuhrt der Reisende im Sprachgestus vor. Er könne nicht aufhören darüber zu schreiben, worüber nicht zu schreiben sei: Und nun, da ich einmal gesprochen habe, treibt es mich, auch mehr davon zu sprechen. Es schwebt mir um diese Dinge etwas mir selber Unerklärliches, etwas wie Liebe - kann es Liebe geben zum Gestaltlosen, zum Wesenlosen? Aber doch, und ja, und doch: damit du nicht gering denkst von dem, was ich nun einmal geschrieben, schreibe ich mehr. 180
Intendiert ist eine Sprachbewegung, die nicht denotativ auf den Gegenstand zugreifen will, sondern die sich ihrer definierenden Herrschaft entäußert, die selbst ins Gleiten, in eine Logik des Verworrenen gerät. 181 Denn diese Schwellenerfahrung kann weder benannt noch beschrieben werden, sie wird als Syndrom der Sprachverstörung literarisch vorgeführt. Den Farben »ihr wortloses, abgrundtiefes Geheimnis zu entreißen«, 182 wird zum Sog einer nicht erreichbaren Einlösung für ein Textbegehren, das die Dynamik von Verlangen und Versagen in einer Metaphorik des Strömens und Sistierens, im Paradox eines »erstarrten Sturms«, 183 wie es der Zurückgekehrte formuliert, in immer neuen Varianten durchspielt. Die Oppositionen der begrifflichen Distinktionen stehen zur Disposition, werden einer Logik der Austauschbarkeit und der »Übergegensätzlichkeit« ausgesetzt,184 in der die Kategorien sich verflüssigen. Ein 178
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Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, Varianten, S W XXXI, S. 428, S. 435. Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W XXXI, S. 172. Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W XXXI, S. 171. Der Kategorie des Verworrenen (der >cognitio clara et confusa< in der Terminologie der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts) kommt in Hofmannsthals Produktionsästhetik eine wichtige Bedeutung zu. Vgl. Der Dichter und diese Zeit, G W RuA I, S. 54: Die Anschauung des Dichters beruhe »auf einem chaotischen Gemenge von verworrenen, komplexen und inkommensurablen Erlebnissen«. Ähnlich S. 72: »Seine dumpfen Stunden selbst, seine Depressionen, seine Verworrenheiten sind unpersönliche Zustände.« Dies macht auch die undarstellbaren Momente im >Chandos-Brief< zu Inspirationsquellen. Auch sie sind von »verworrensten Gedanken« geprägt. Ein Brief, S W XXXI, S. 52. Zur hirnphysiologischen Erklärung dieser Verworrenheiten bei Hofmannsthal und Benn vgl. Anja Schonlau: Das (Groß-)Hirn in der Krise: Zu Hofmannsthals »Chandos-Brief« und Benns früher Prosa »Unter der Großhirnrinde«. In: KulturPoetik 5/1 (2005), S. 5 1 - 6 4 . Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W XXXI, S. 172. Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W XXXI, S. 170.
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»Tasten« nennt Hofmannsthal diese umkreisende Schreibbewegung in einer Notiz, in welchem der Faden der Erzählung sich zum »feinmaschigen Netz« verschlingt, um auch »das völlig unscheinbare« fassen zu können, dasjenige also, was im sprachlichen Niemandsland zwischen den BegriflFsrastern durchs Sprachgitter fällt.185 Die Konsequenz ist ein unendlicher Regress der Sprache, der den herkömmlichen Begriff des Werks auflöst. Ein Großteil von Hofmannsthals CEuvre besteht aus Fragmenten, Entwürfen und Notizen. Ein konfiguratives Aufeinanderverweisen der Texte, die ein Netz von Bezügen spinnen, ist symptomatisch. Ein erst kürzlich publiziertes Notizkonglomerat unter der Überschrift >Diese Rundschau< hat genau diesen zu keinem Ende kommenden, unendlichen Regress der sprachlichen Arbeit zum Thema: Falsch: jedes Kunstwerk als definitiv anzusehen; immer zu sagen: er hat das aufgegeben, er wendet sich jenem zu, er sieht nur das; er meint also das und das; falsch das Definitive [...] richtig: die Kunstwerke als fortlaufende Emanation einer Persönlichkeit ansehen, als »heures« Beleuchtungen, die eine Seele auf die Welt wirft (Wort von Courbet), richtig: jeden Übergang und insbesondre alle unterirdischen Übergänge für möglich zu halten. [...] Jeder einzelne vermag das, was er gemacht hat, wieder aufzulösen. Es wieder unendlich zu machen. Wir sind die, deren Mund nicht stumm ist. 186
In den Aufzeichnungen des Jahres 1926, die unter dem Titel >Ad me ipsum< in Form eines reflektierenden Selbstgesprächs eine Art Bilanz eines Dichterlebens zu ziehen versuchen, denkt Hofmannsthal auch über diese Eigenart seines Schreibens nach. »Aufmerksamkeit auf Spiegel und Spiegelungen«, notiert er da und konkretisiert dies in Beziehung auf sein Werk »zu dem Begriff des Reflexes (der wechselseitigen Spiegelung in meinen Gedichten und Dramen).« Mit dem Stichwort des Reflexes ist angezeigt, dass die Werke nicht als monolithische Denkmäler eines in ihnen gespeicherten Sinns gelesen werden wollen, sondern in eine Konstellation von Texten gestellt sind, in der unterschied-
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Ich gebrauche den Begriff in Anlehnung an Max Imdahl, der ihn für die spezifisch »ikonische Sinnstruktur« verwendet. Imdahl, Giotto, S. 432f. Hofmannsthal, Notizen zu >Diese Rundschau*, in: Die Wege und die Begegnungen, Ν 10, S. 132: »Dies scheinbar indiscrete an alles tasten: dies ist die eigentliche Form: nur so wird das netz so feinmaschig dass auch das völlig unscheinbare gefasst werden kann.« Hofmannsthal, Diese Rundschau, in: Die Wege und die Begegnungen, S. 1 2 8 - 1 3 0 . Die Notizen unter diesem Titel entwerfen das Projekt einer idealen Zeitschrift, geplant als essayistischer Beitrag für die Monatsschrift >Die neue Rundschau*. Stattdessen veröffentlichte Hofmannsthal das >Gespräch über Gedichte* 1904 in dieser Zeitschrift. Auch hier geht es um die Flüchtigkeit des Gedichts als »Hauch« und aufblitzender und wieder verlöschender Moment und um eine Selbstentäußerung des Dichters an von außen herangetragene, zufällige Regungen - eine Poetologie des Flüchtigen somit, die der klassischen Werkästhetik entgegensteht. Vgl. auch Hans Jürgen Schings: Lyrik des Hauchs: Zu Hofmannsthals »Gespräch über Gedichte«. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 11/2003, S. 3 1 1 - 3 3 9 .
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liehe >Beleuchtungen< sich wechselseitig korrigieren und ergänzen. Diesem modernen, im wörtlichen Sinn reflektiertem Literaturbegriff stellt er die eherne Reflexlosigkeit der alten epischen Welt gegenüber. Die Nibelungen sind deshalb »so furchtbar, weil es eine Dichtung ohne Reflex ist, und die Helden wie eherne Wesen nur durch und für sich existieren.«187
Farbenlehren für den Dichter: Hofinannsthal und Goethes >Farbenlehre< Für dieses Ideal einer gleitenden, nicht definitiven Sprache bedarf es Vorbilder, semiotischer Alternativen gleichsam zur diskursiven Logik. Und wieder fuhrt die Spur zu den Farben. »Goethe Vorrede zur Farbenlehre« lautet eine weitere, unmittelbar benachbarte Notiz in dem oben zitierten Konglomerat von 1904. 1 8 8 Es lohnt sich, dieser Spur zu folgen. Drei Phasen intensiver Auseinandersetzung mit Goethes >Farbenlehre< lassen sich in Hofmannsthals Werk ausmachen. Sie fallen in die Jahre 1896, 1902/03 und 1906/07. 189 Und immer geht es dabei um mediale Reflexionen, um Fragen der Übersetzung zwischen den Medien, um Sprachkritik und um die Suche nach Erweiterung der sprachlichen Möglichkeiten. 1896 liest er die >Farbenlehre< zum erstenmal und notiert unter der Überschrift >Macht der Worte im allgemeinen^ »es ist töricht zu denken, dass ein Dichter je seinen Beruf, Worte zu machen, verlassen könnte. (So auch die >Farbenlehre< zu verstehen)«.190 In einer Rezension über ein Buch des befreundeten Kunsttheoretikers Alfred Berger fuhrt er diesen hier nur kryptisch angedeuteten Zusammenhang näher aus: Es ist töricht zu denken, dass ein Dichter je aus seinem Beruf, Worte zu machen, herausgehen könnte. Eher könnte ein Stein aus eigener Kraft seinen Schwerpunkt verändern. Man hat sich darin gefallen, in Goethes wissenschaftlichen Bestrebungen ein solches Hinausgehen zu sehen. Wie aber zieht die Vorrede zur »Farbenlehre« den Leser mit geheimnisvoller Kraft in den tiefsten Kreis dichterischer Anschauung! Wie wird da den Leiden und Taten des Lichts mit der einen Absicht nachgegangen, die Hofmannsthal, Ad me ipsum, G W RuA III, S. 613f. Hofmannsthal, Diese Rundschau, in: Die Wege und die Begegnungen, S. 130. 189 Einige knappe Informationen dazu in: Joachim Seng unter Mitwirkung von Renate Moering und Christoph Pereis (Hg.): »Leuchtendes Zauberschloß aus unvergänglichem Material«. Hofmannsthal und Goethe. Ausst.Kat. Freies Deutsches Hochstift, Frankfurter Goethe-Museum 12. November 2001 bis 13. Januar 2002, Frankfurt/M.: Edition Isele 2001, S. 13f. und S. 150f. Instruktiv der Kommentar von Konrad Heumann in seiner Edition der Notizen zu den Goethe-Vorträgen im Hause Lanckorohski im Jahr 1902: Hofmannsthal, Die Wege und die Begegnungen, S. 1 8 - 1 2 7 , zur Farbenlehre passim. Die erneute Lektüre der Farbenlehre in den Jahren 1 9 0 5 / 0 6 im Umkreis der >Rodauner Anfänge« und der Entstehung der >Briefe des Zurückgekehrten« ist im Kommentar der kritischen Ausgabe dokumentiert: SW XXXI, S. 3 9 2 - 3 9 9 und S. 4 1 6 - 4 4 0 . 187
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Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlass (1896), G W RuA III, S. 4 1 4 .
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geheimnisvolle Sprache aufzuschließen, in der die Natur zu bekannten, zu unbekannten, zu verkannten Sinnen redet; ein stummes Mehr und Weniger, ein Tuen, ein Leiden, ein Vordringendes und Zurückhaltendes, in dem das Dasein sich bewegt, mit einer Sprache zu beschenken, wie Shakespeare seinen Tätigen und Leidenden, seinem Lear, seiner Cordelia die flammenden und die milden Worte zuteilte.191
Hier ist nicht nur der Versuch einer Versöhnung der Wissenschaftssprache und der Sprache des Dichters angesprochen, also der beiden konkurrierenden Darstellungsformen Kunst und Wissenschaft. Vielmehr wird anhand der Darstellung von Farben in Sprache die grundsätzlichere Frage nach einer Transponierbarkeit unterschiedlicher Zeichensysteme aufgeworfen. Es geht also darum, ob die simultane stumme Sprache der Farben mit der sukzessiven Wortsprache zu vermitteln sei, ob sich »etwas so Plötzliches, so Starkes, so Unzerlegbares«192 in die diskreten Einheiten sprachlicher Distinktionen zergliedern lasse. Die Farbe ist in der sprachtheoretischen und wahrnehmungsphysiologischen Diskussion der Zeit ein Schwellenphänomen, an einem Hiat zwischen Präsenz der Empfindung und sprachlicher Symbolisierung angesiedelt. Sie stellt eine Provokation dar fiir den Anspruch der Sprache, Wirklichkeit zu repräsentieren. »Eine Farbenempfindung«, so der wichtigste Theoretiker der Visualität, Konrad Fiedler, hat als solche mit ihrer sprachlichen Bezeichnung nicht die geringste Verwandtschaft. Benenne ich eine Empfindung, so habe ich zweierlei in meinem Bewußtsein: die Bezeichnung als das feste, geformte Gebilde, welche sich dem Stoff des Denkens und Wissens einordnet, und die tatsächliche Empfindung selbst, welche an und fur sich durch die Tatsache der Bezeichnung gar nicht berührt wird.193
Ein Riss verlaufe somit durch den Menschen. Während er mit sprachlichen Formeln jongliere und sich seiner geistigen Herrschaft über die Dinge sicher wähne, bleibe »das tierische Bewußtsein an das wechselnde Spiel flüchtiger, unklarer Empfindungen und Vorstellungen hingegeben«.194 Unerlöst bleibt, so die sprachkritische Mahnung Fiedlers, das farbige Leben der Visualität, die Verworrenheiten des Körpers, der sich in der Farbempfindung als nicht unterschieden vom Objekt der Empfindung erfährt und das Erlebte nicht als Gegenstand der Repräsentation vor sich stellen kann. In den >Briefen des Zurückgekehrtem wird diese objektlose Evidenz der reinen Farbempfindung, welche mit den Gegenständen auch das selbstgewisse sprechende Subjekt auflöst, als Demütigung der Sprache inszeniert.
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Hofmannsthal, Über ein Buch von Alfred Berger: »Studien und Kritiken«, G W R u A I , S. 232. Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, SW XXXI, S. 169. Fiedler, Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, Schriften zur Kunst I, S. 121. Fiedler, Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, Schriften zur Kunst I, S. 122.
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Wie kann ich es Dir nur zur Hälfte nahebringen, wie mir diese Sprache in die Seele redete, die mir die gigantische Rechtfertigung der seltsamsten unauflösbarsten Zustände meines Innern hinwarf, mich mit eins begreifen machte, was ich in unerträglicher Dumpfheit zu fühlen kaum ertragen konnte, und was ich doch, wie sehr fühlte ich das, aus mir nicht mehr herausreißen konnte. 1 9 5
Die Bedeutsamkeit und Evidenz der Farbe, so das Paradox, liegt in der Subversion der Bedeutung. Auch Nietzsches Sprachskepsis setzt an diesem Sphärensprung an, der nötig sei, um zwischen Nervenreiz, Bild und Sprachzeichen zu übersetzen: »Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.« 196 Sprache als Mitteilung, so Nietzsche in den nachgelassenen Fragmenten der achtziger Jahre, müsse »etwas fest, vereinfacht, präcisirbar« darstellen, müsse sich darin auf das Wiedererkennbare beschränken, auf eine zur Dingheit zurechtgemachte, logisierte Welt. »Eine Art Defensiv-Maaßregel« gegen drohende Überwältigung sei dies, die formlose »Welt des Sensationen-Chaos« aber ist »unformulirbar«. 197 Nietzsche beruft sich dabei auf die Zeichentheorie der physiologischen Wahrnehmungstheorie, auf Helmholtz und Johannes Müller, implizit letzdich auf deren wissenschaftliche Anfänge bei Goethe und Schopenhauer. 198 Wittgenstein wird in seinen B e merkungen über die Farben< daraus folgern, dass an der Farbe die Sprache ihre äußerste Grenze findet und Farbe somit ftir uns nur als Teil des arbiträren sprachlichen Systems, seiner lexikalischen und grammatischen Struktur exis199
tiert.
Hofmannsthal zieht diese Konsequenz nicht mit dieser Radikalität. Er sucht wie Rilke nach Vermittlungen, nach Äquivalenten zwischen den Medien. 200 Bereits 1895 notiert er mediale Überlegungen zur Möglichkeit von Übersetzungen, zu Analogien zwischen den Zeichensystemen. Er findet sie in einer Semiotik, welche auf einer lateralen Beziehungsebene als simultane Logik der Bezüge funktioniere: Die Welt der Worte eine Scheinwelt, in sich geschlossen, wie die der Farben, und der Welt der Phänomene koordiniert. Daher keine »Unzulänglichkeit« des Ausdrucks denkbar, es handelt sich um ein Transponieren. - Poesie (Malerei): mit Worten (Farben) ausdrücken, was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert. 195 196 197 198
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Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W X X X I , S. 170. Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge, KSA 1, S. 879. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Herbst 1887, K S A 12, S. 395f. Vgl. Pfotenhauer, Hofmannsthal, die hypnagogen Bilder, die Visionen. Zur Bedeutung der Goethe'schen Farbenlehre in der Wahrnehmungsphysiologie vgl. Wilhelm Ostwald: Goethe, Schopenhauer und die Farbenlehre, 2. Aufl. Leipzig: Unesma 1931. Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Farben. Werkausgabe. Bd. 8. H g . von G . E . M . Anscombe, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 7 - 1 1 2 . Farbe ist fur Wittgenstein somit »ein Sprachspiel« (so der programmatische Anfang seiner Überlegungen S. 13). Vgl. Köhnen, Das physiologische Wissen Rilkes und seine Cezanne-Rezeption.
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Das Leben transponieren. Daher der photographierte Dialog so falsch wie in ein Bild eingesetzte Edelsteine.201
Transponieren funktioniert somit auf einer abstrakten Strukturebene ohne mimetische Referenz und setzt ein Bewusstsein von der Unverwechselbarkeit jedes Mediums voraus. Sprache ist nicht ikonisch im Sinne des traditionellen Anschaulichkeitspostulats. Eine malende Sprache wäre ein Hybrid wie die ins gemalte Bild eingesetzten Edelsteine. Hofmannsthal haben diese medialen Aspekte weiter beschäftigt. Die Frage, ob das Geheimnis der Farbensprache nicht zu entschlüsseln und poetologisch zu übertragen sei, lässt ihn nicht los. Die Notizen im Umkreis der >Briefe des Zurückgekehrtem von 1907 zeugen von der Konstanz dieses Interesses. »Davon, dass die Richtigkeit der valeurs alles ist, und dies ein Welt-ganzes — genau wie das in Worten festzulegende«, wird dort notiert und über »das grenzenlos relative der Farbe: jede Farbe existiert nur durch ihre Nachbarschaft.«202 Bis zu den beiden Briefen aus diesem unvollendeten Novellenprojekt, die Hofmannsthal zunächst unter dem Titel >Das Erlebnis des Sehens< und später unter der Überschrift >Die Farben< aus dem Erzählkontext herauslöste, wird ihn diese bei Goethe wiedergefundene stumme Sprache der Farben im Wechselspiel untereinander und ihre Ausstrahlung auf die dichterische Sprache beschäftigen. 1906 greift er das Projekt einer Erneuerung der Sprache durch die Auseinandersetzung mit Farbe und Farbtheorie noch einmal auf. Die mit >Rodauner Anfänge< überschriebenen Notizen über Gespräche mit Rudolf Alexander Schröder gehören entstehungsgeschichtlich bereits in den Komplex von Überlegungen zum Verhältnis von Farbe und Sprache, die sich dann in den >Briefen des Zurückgekehrtem literarisch niederschlagen.203 Ein gezieltes Lektüreprogramm soll sprachkritische Reflexionen mit sprachschöpferischen Impulsen verbinden. Hofmannsthal liest zwischen 1905 und 1907 neben Goethes >Farbenlehre< die von Marie Herzfeld herausgegebenen Schriften des Leonardo da Vinci und zwei Monographien über ihn,204 außerdem zwei kunsthistorische 201
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Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlass (1895), G W R u A I I I , S. 400. In diesen Kontext gehört auch der Brief an Edgar Karg von Bebenburg vom 18. Juni 1895, B W Karg Bebenburg, S. 81. Hofmannsthal, Notizen zu >Die Briefe des Zurückgekehrten«, S W XXXI, S. 436f. Hofmannsthal, Rodauner Anfänge, S W XXXI, S. 1 2 6 - 1 3 4 . Vgl. den Kommentar von Ellen Ritter, ebd., S. 3 9 2 - 3 9 9 zu den von Hofmannsthal gelesenen Quellen. Leonardo da Vinci. Der Denker, Forscher und Poet (FDH 3149). Hofmannsthal gibt dieses Buch 1 9 0 6 in einer Buchempfehlung für den Buchhändler Hugo Heller an: Brief an den Buchhändler Hugo Heller, G W RuA I, S. 372f. Hofmannsthals Exemplar befindet sich noch in seiner Bibliothek. Es enthält keine Anstreichungen, Hofmannsthal zitiert aber wörtlich daraus (S. 103) in den Notizen zu den >Rodauner Anfängen^ S W XXXI, S. 126f. und zum »Andreas«, S W XXX, S. 99. Dazu liest er die fur die französische Rezeption wichtige Monographie von Seailles, Leonard de Vinci, sowie das umfangreiche Leonardo-Kapitel in: Chamberlain, Immanuel Kant. Beide
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Werke über Rembrandt (Fromentins >Die alten Meister« in der Übersetzung von Bodenhausen und Carl Neumanns >RembrandtBriefen des Zurückgekehrtem wird dieser kathartische Weltzweifel vor van Goghs Bildern zu einem lebensbedrohlichen Agon stilisiert. 225 Er macht van G o g h schon in der fiiir Hofmannsthal so wichtigen Darstellung Julius Meier-Graefes zu einem »Dramatiker« der Farbe und zum Heros der Moderne, der sein Blut auf die Leinwand zu verspritzen scheint, wo es eine alchimistische Lebendigkeit als Farbe gewinnt. Es »rieseln Ströme von Orange, mit Rot getönt, und bilden auf dem Boden tief blutrote Lachen«, so MeierGraefe in seiner >ImpressionistenLes Alyscamps< (1888, Privatbesitz), »Es ist wie ein riesiger K a m p f von Farben, die eine fast gegenständliche Bedeutung annehmen, so tief überzeugt ihre Verwendung.« 2 2 6 Wie sehr diese Sprachform eines Dramas der Gestaltsuche stilbildend
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Hofmannsthal, Die Bühne als Traumbild, G W RuA I, S. 492f. Fiedler, Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, Schriften zur Kunst I, S. 140: »An die Stelle des Seins tritt so ein beständiges Werden, in jedem Augenblicke stehen wir dem Nichts gegenüber, und in jedem Augenblick erzeugt sich das, was wir als seiend, als wirklich bezeichnen dürfen [...]. Es ist uns jeder feste Halt genommen.«
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Die Forschungsliteratur zu den >Briefen des Zurückgekehrten« hat sie in den Zusammenhang von Sprach- und Kulturkrise und Gestaltproblematik gerückt. So insbesondere die kenntnisreiche Interpretation von Ursula Renner, iGestalterfahrung in den Britfen des Zurückgekehrtem, in: Die Zauberschrift der Bilder, S. 387—457. Den Aspekt der Kulturkritik und der Sprachkrise betonen Susanne Scharnowski: Funktionen der Krise. Kulturkritik, Psychopathologie und ästhetische Produktion in H u g o von Hofrnannsthals Briefen des Zurückgekehrten. In: Susanne Scharnowski und Stephan Porombka (Hg.): Phänomene der Derealisierung, Wien: Passagen 1999, S. 4 7 - 6 3 , und Nienhaus, Die »scharfe Spitze der Unendlichkeit«. Als Plädoyer für die reine Farbe liest ihn Jacques Le Rider: Vom M u s e u m der Bilder zur reinen Farbe. In: Le Rider, H u g o von Hofmannsthal, S. 1 9 9 - 2 2 8 ; ders.: Farben und Wörter. Geschichte der Farbe von Lessing bis Wittgenstein, Wien u.a.: Böhlau 2000, S. 2 0 0 - 2 0 7 .
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Meier-Graefe, Impressionisten, S. 138. Van G o g h als moderner »Dramatiker« und als Held und »Märtyrer« ebd., S. 122 und S. 144. Hofmannsthals Exemplar im Freien Deutschen Hochstift ( F D H 1696) mit der W i d m u n g des Verfassers und dem Lesedatum zum van Gogh-Kapitel »Lido, 6. Juni 1907« weist zahlreiche Anstreichungen auf. Sie zeigen, dass das spezifische Interesse Hofmannsthals genau jenem »Märtyrertum« van G o g h s und dem agonalen Charakter seiner Malerei galt. Zur Blutme-
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wurde, zeigt der Ausstellungsbericht des Wiener Kunstkritikers Ludwig Hevesi über die van Gogh-Ausstellung in der Galerie Miethke. Mit Verben, die vibrierende Bewegung im Stillstand ausdrücken, wird van Gogh als Tragiker der Gestalt etabliert, dessen »Malwut wie in Notwehr« den »Ansturm des Chaos abzuwehren« suchte in »Formen, die ein ewiges Suchen sind und sich niemals finden.«227 Ein Kampf wird geschildert um die Selbstbehauptung des Auges gegenüber der aggressiven Wucht der Farben, die in Hofmannsthals Text als eigentliche Schöpfer und Zerstörer der erscheinenden Welt agieren dürfen. Sie gebären die Gestalten und schlingen sie mit absorbierender Gewalt wieder in sich hinein. Für den Betrachter herrscht permanenter Schöpfungsmorgen auf diesen Bildern, das eruptive Entstehen der Dinge scheint sich erst im Moment der Betrachtung vor seinen Augen zu vollziehen. Man fühlt sich bei der Interpretation, die der Zurückgekehrte der kreativen Funktion der Farbe angedeihen lässt, an Turners Schöpfungsbild mit dem Titel >Licht und Farbe. Am Morgen nach der Sintflut — Moses schreibt das Buch Genesis< erinnert (1843, Tate Gallery London).228 Die Sphäre der Gegenständlichkeit steht im farbigen Anfang und Ende der Dinge zur Disposition. Cezanne hat diese Erfahrung der Farbe »das Zögern der Dinge« genannt.229 Mit demselben respektvollen Zögern hat van Gogh sich der Farbe genähert, in deren Leuchten das >Wesen< der Gegenstände aufgeht und verschwindet. Diese absorbierende Gewalt der Farbe, die sich aller Gegenstände bemächtigt, ihre gedanklichen Gehalte nivelliert und das Divergente in einen einheitlichen Farbraum zwingt, hat das moderne Kino des Kolorismus in Auseinandersetzung mit van Gogh als eigendich kinematographische, traumanaloge Potenz entdeckt.230 Wenn der Zurückgekehrte in Hofmannsthals Briefnovelle im ontologisierenden Lapidarstil von den Farben van Goghs spricht (»Da ist ein
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taphorik der Farbe als Mythos der Moderne vgl. Didi-Huberman, Die leibhaftige Malerei. Ludwig Hevesi: Vincent van Gogh in der Galerie Miethke. Ausstellungsbesprechung vom 17. Januar 1906, in: Altkunst - Neukunst. Wien 1 8 9 4 - 1 9 0 8 , Wien: Verlagsbuchhandlung Carl Konegen 1909, S. 527f. Vgl. die Bewegungsverben S. 527: »zittern«, »schütteln«, »flattern«, »züngeln«, »beben«. Das von Goethes Farbenlehre inspirierte Spätwerk Turners ist durch die Auflösung einer festen Lichtquelle und den Kollaps der Betrachterdistanz gekennzeichnet, von einer Lichtstreuung durch Abfolgen von farbigen Spiegelungen auf unterschiedlichen Oberflächen. Das Schöpfungsthema aus dem Buch Genesis kann nicht gegenständlich dargestellt, sondern muss auf der Ebene der materiellen Faktur des Bildes vorgeführt werden. Die Schöpfung des Bildgegenstandes in der Wechselwirkung zwischen Produktions- und Wahrnehmungsprozess ist das eigendiche Thema. Vgl. dazu Crary, Techniken des Betrachters, S. 1 4 2 - 1 4 5 . Cezanne, Über die Kunst (Gespräche mit Gasquet), S. 27: »In einem Grün wird mein Gehirn mit den fließenden Säften eines Baumes kreisen. Vor uns ist ein großes Wesen von Licht und Liebe, das ungewisse Weltall, das Zögern der Dinge.« Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, S. 164f.
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unglaubliches, stärkstes Blau, das k o m m t immer wieder, ein G r ü n wie von geschmolzenen Smaragden, ein G e l b bis zum Orange«), 2 3 1 dann mutet das wie eine Vorwegnahme von Godards Devise an: » D a s ist kein Blut, das ist Rot«. 2 3 2 D i e Farbe R o t hat wie das G e l b van G o g h s alle Symbol- und Affektgehalte absorbiert, sie vertritt keinen Affekt im Sinne einer identifizierbaren Farbensymbolik, sondern ist selbst der Affekt und die Bedeutung und damit eine Art Hyperzeichen. Von dieser Art ist auch das nicht zufällig an van G o g h gemahnende »unbeschreiblichste Gelb« (ein gegen die grammatikalische Sprachordn u n g verstoßender Superlativ!), das den
H ö h e p u n k t von
Hofmannsthals
Traumtext aus demselben Jahr 1 9 0 7 bildet: das G e l b des Lendenschurzes im T r a u m von Agur in >Die Wege und die Begegnungen«. 2 3 3 I m Spiel u m die Suche nach der Bedeutung von Schriftzeichen und Traumbildern setzt es den Schlusspunkt, der sich alle rhetorischen Bedeutungen einverleibt und sich gerade deswegen d e m Gedächtnis unauslöschlich einbrennt. 2 3 4 Von diesem namenlosen Gelb kann nur in Figuren der durchgestrichenen Bedeutung, der 231 232 233
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Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, SW XXXI, S. 169. Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, S. 164. Hofmannsthai, Die Wege und die Begegnungen, S. 159f. Die komplizierte Spur aus Schriftzitaten rekonstruiert Simon, »Agur, fils d'Jake«. Hugo von Hofmannsthals jüdische Legende. In den Kontext der Schrift-Bild-Thematik stellt Gerhard Neumann den Text: »Die Wege und die Begegnungen«. Hofmannsthals Poetik des Visionären. Jacques Le Rider liest die Traumszene als Sexualisierung der Farbe: »Der Schock der Farben bei Hofmannsthal wird wie das Schauspiel eines Geschlechtsakts empfunden.« Farben und Wörter, S. 200. Die metonymische Beziehung zum Zeugungsglied des Patriarchen liegt auf der Hand und wird auch in anderen psychoanalytisch argumentierenden Interpretationen hervorgehoben. So Politzer, Auf der Suche nach Agur, S. 327f. Gelb ist in Goethes Farbenlehre eine besonders ambivalente Farbe, die in die äußersten Pole von Lust und Schmerz ausschlagen kann. Vgl. Farbenlehre, »Sinnlich-sittliche Wirkung der FarbeDas Glück am Weg< und als schmutziges, kotiges Gelbgrau in den > Briefen des Zurückgekehrtem (im »gelbgrauen Haufen von Mist« vor dem Auge des Todkranken, SW XXXI, S. 167). »Ich will den Ton dieses Gelb wiedererkennen, wo und wann immer es mir wieder vor die Augen käme«: Hofmannsthal, Die Wege und die Begegnungen, S. 159.
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komparativischen Übertrefifung von gesetzten Referenten gesprochen werden. »Es war herrlicher als das Gelb auf alten persischen Kacheln, strahlender als das Gelb der gelben Tulpe.«235 Auch in den >Briefen des Zurückgekehrtem setzt eine Dynamik der Negationen Markierungen in das namenlose Feld der »unbeschreiblichste[n]« Farbe, um sie wieder aufzuheben und dadurch ein assoziatives Gleiten von Bedeutungen zu schaffen. Wie im >Chandos-Brief< ist auch hier das Sagen des Unsäglichen rhetorisch durchgebildet. Beinahe alle Stilmittel der figurae sententiae aus dem Arsenal der klassischen Rhetorik lassen sich ausmachen: Die rhetorische Frage (interrogatio: »Wie aber könnte ich etwas so Unfaßliches in Worte bringen [...]?«), 236 ein fingiertes Frage-Antwortspiel {subiectio: »So soll ich dir von den Farben reden?«),237 Zweifel {dubitatio·. »aber was nützt dir das!«; »aber was sind eigentlich Farben? Hätte ich nicht ebensogut sagen mögen [...]?«; »Ich furchte, ich habe mich dir nicht erklärt, wie ich möchte.«), 238 Emphase (»Da ist ein unglaubliches, stärkstes Blau«), 239 affektive Ausrufe (exclamatio: »Ohne allen höheren Inhalt!«; fast jeder Satz endet mit Ausrufezeichen), 240 die erklärte Auslassung (praeteritio), die Selbstkorrektur (correctio: »Wenn ich's fassen könnte, nicht fassen - denn es faßt mich«; »aber nicht die Wollust und Harmonie [...] nein, nur die Wucht ihres Daseins«; »daß ich fühlte, nein, daß ich wußte«), 241 die Vorwegnahme möglicher Einwände (confessio: »Was ich dir schrieb, wirst du kaum verstehen können«). 242 In diesem Sprachspiel von hypothetischen Setzungen und Löschungen, von affektivem Redeabbruch, grüblerischem Selbstgespräch und rhetorischem Frage- und Zweifelgestus, in dem die Sprache in einen Widerstreit mit ihrer eigenen definierenden Autorität eintritt, wird die Auflösung und Wiedergewinnung der Gestalt als Drama der letzten Dinge performativ vorgeführt. Zu Recht hat man auf die Nähe dieses Textes zu phänomenologischen Sichtweisen hingewiesen. 243 Diese Affinität bedarf gar nicht mehr der Bestätigung durch den Brief Husserls an Hofmannsthal vom 12. Januar 1907, in dem er dem Dichter eine »phänomenologische Geisteshaltung« bescheinigt und das Hofmannsthal, Die Wege und die Begegnungen, S. 159f. Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, SW XXXI, S. 169, Z. 15f. 237 Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, S W XXXI, S. 169, Z. 26f. 238 Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, SW XXXI, S. 169, Z. 26; S. 171, Z. 24; S. 174, Z. 5f. 239 Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, SW XXXI, S. 169, Z. 27f. 240 Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, SW XXXI, S. 172, Z. 23. 241 Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, SW XXXI, S. 171, Z. 30f.; S. 169, Z. 33-36; S. 170, Z. 3. 242 Hofmannsthal, Die Briefe des Zurückgekehrten, SW XXXI, S. 171, Z. 18. 243 Vgl. die komprimierten Hinweise von Ursula Renner in den Anmerkungen ihres Kapitels über >Gestalterfahrungen in den Briefen des ZurückgekehrtenBrief< des Lord Chandos (vgl. eine Titelliste von 1908, die den >Brief< zu den »philosophischen Novellen« zählt), so gehören auch die als »Novelle in Briefen« konzipierten »Briefe des Zurückgekehrtem zum Novellenprojekt Hofmannsthals. 254 Die Ästhetik visionärer Augenblicke scheint eine natürliche Affinität zum novellistischen Erzählen aufzuweisen. Die Ambivalenz dieser visionären Augenblicke aber zeigt sich in einer Metaphorik der Erhöhung und des Absturzes. In einer paradoxen Koinzidenz des Getrennten ist die Erhöhung zugleich ein Fall in die Farbe, ein Sturz in den farbigen Abgrund, den Schlund aus Farbe, der sich im strömenden Element jenseits der Gegenstände unabsehbar auftut. Es ist diese metaphorische, nicht inhaldiche Assoziationslogik, die den Zurückgekehrten seine visuelle Erfahrung vor van Goghs Bildern in Beziehung zu einem anderen Erlebnis mit dem flüssigen Abgrund der Farbe setzen lässt. Vom Sturm auf den Wellen umhergeworfen, habe er auf einer Barke vor Buenos Aires mit starrem Auge auf die Farbenwechsel der blickverschlingenden Meereswellen schauen müssen und sei durch die Gewalt dieser Farbenvermischung sich selbst verlorengegangen in einer Ekstase, die alle Oppositionen und damit jede Distanz aufgehoben habe: Diese Farbe, die ein Grau war und ein fahles Braun und eine Finsternis und ein Schaum, in der ein Abgrund war und ein Dahinstürzen, ein Tod und ein Leben, ein Grausen und eine Wollust f...]. 255 253
Müller, Ramakrishna ( F D H 1736), S. 34: »Before he reached his teens, he was walking in the fields one day. T h e sky was very clear and blue, and he saw a flight of white cranes moving along its. T h e contrast of colours was so very beautyful and dazzling to his imagination, and produced such thoughts in him, that he fell down in a trance«. Auf diese Stelle bezieht sich Hofmannsthals Bleistiftnotiz. Wenig später notiert er a m Rand »Kali = die Traumwelt des Dichters«.
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Zur Konzeption als Novelle in Briefen vgl. den Brief an den Vater vom 17. Juli 1907, Briefe II, S. 283. Zur Einschätzung des >Chandos-Briefs< als philosophischer Novelle vgl. die Titellisten Hofmannsthals, S W X X X I , S. 2 3 8 . In verschiedenen Titellisten werden >Ein Brief« und >Die Farben« zusammengestellt, ebd., S. 241. Dass sich Hofmannsthal in der Gattungsbezeichnung unsicher war, zeigen die wechselnden Titelvorschläge fur die Bandbezeichnung (»Prosaschriften«, »Litterarische Unterhaltungen und Aufsätze«, »Erfundene Gespräche und Briefe«, ebd., S. 2 4 2 - 2 4 4 ) .
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Hofmannsthal, D i e Briefe des Zurückgekehrten, S W X X X I , S. 173.
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Die Metapher des farbigen Abgrunds vereint das Unvereinbare in sich, sie ist eine Figur der Entdifferenzierung.256 Sie ist vor allem eine semiotische Metapher, die das Unausdeutbare des präsemiotischen Ausdrucks zu fassen versucht. Den Farben »ihr wordoses, abgrundtiefes Geheimnis zu entreißen« ist der triebenergetische Untergrund fiir ein Textbegehren, das in Sprachformen untergründiger Gewalt, in Figuren der Überbietung und komparativischen Aufgipfelung auf ein nicht einlösbares Ziel ausgreift. In dieselbe Ambivalenz zwischen Gnade und Selbstverlust, zwischen Entrückung und Selbstvernichtung hat auch Cezanne in den Gesprächen mit dem Dichter Joachim Gasquet die Metapher des farbigen Abgrunds gerückt: Schließen Sie die Augen, warten Sie, denken Sie an nichts. Öffnen Sie die Augen. Nicht wahr? - Man sieht nichts als ein großes farbiges Wogen, was? Ein Irisieren, Farben, den Reichtum der Farbe. Das ist es, was uns ein Bild zuerst geben soll, eine harmonische Wärme, einen Abgrund, in den der Blick hineintaucht, eine dumpfe Gärung. Einen Zustand färbiger Entrückung. Nicht wahr, alle die Farben strömen einem in das Blut? [...] Das Bewußtsein verlieren. Mit dem Maler hinabsteigen zu den dunklen verflochtenen Wurzeln der Dinge, mit den Farben wieder emporsteigen, sich mit ihnen dem Licht erschließen. Sehen können. 257
Farben, Brüder der Schmerzen — An den Grenzen des Körpers Es ist auffällig, dass die Metaphorik der >Briefe des Zurückgekehrtem gewalttätiger ist als die des >Chandos-BriefsChandos-Brief< ist auch der Zusammenhang zwischen der namenlosen Sprache der stummen Dinge und dem Körper. Was im >Brief< nur über die Figur eines analogischen Vergleichs in Beziehung zu den »inneren Bewegungen meiner Eingeweide oder [den] Stauungen meines Blutes« gesetzt wird, 262 wird nun ursächlich im Körper angesiedelt. Im letzten, als Frage formulierten Satz der >Briefe des Zurückgekehrtem werden die Farben »Brüder der Schmerzen« genannt. 263 Ihre »fremde, erhabene, entzückende Gegenwart« sei, so heißt es kurz vorher, »bei mir, in mir, an der Stelle, wo das Blut kommt und geht«. 264 Damit anthropologisiert Hofmannsthal eine mystische Farbauffassung, wie er sie in Kassners Essay über William Blake in >Die Mystik, die Künstler und das Leben< lesen konnte. In einer Analogie zu den Worten, die an einem Schatten- und einem Lichtreich partizipieren, werden dort auch die Farben in ein unauflösbares Paradox von Freude und Schmerz gestellt: »Und wie mit den Worten, so ist es in einem noch deutlicheren Sinne mit den Farben«, heißt es dort in einer kryptischen Wendung: Sie sind darum auf dem Bilde die Freude, weil das Leben sie uns an den Ekel und die Enttäuschung gebunden hat. Je schmerzlicher man sich an ihnen im Leben vergriffen hat, umso heller scheinen sie in der Kunst. Ihre Freude lebt von unserem Schmerz. 2 6 5
Hofmannsthal bindet diese Dialektik von Schmerz und Epiphanie physiologisch konkret an den Körper. Das ist eine Zuspitzung dessen, was in >Die Bühne als Traumbild< im Tableau des Gefangenen vorgeführt worden war, dessen brennender Blick die Kerkerwand durch das Starren am Rande der Bewussdosigkeit zu einem entfesselten Farbenspiel dematerialisiert. »Brüder der Schmerzen« sind die Farben hier in einem existenziell-leiblichen, anthropologischen Sinn. Der opake Körper, dessen dunkles Inneres in der Wahrnehmungsphysiologie des 19. Jahrhunderts die Transparenz der geometrischen Optik ersetzt hat, wird als schmerzhaft geblendeter und delirierender zum visionären Medium für das strahlende Erscheinen der Farbe: 266 262
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Hofmannsthal, Ein Brief, S W X X X I , S. 52: »Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen; ich könnte dann ebensowenig in vernünftigen Worten darstellen, worin diese mich und die ganze Welt durchwebende Harmonie bestanden und wie sie sich mir fühlbar gemacht habe, als ich ein Genaueres über die inneren Bewegungen meiner Eingeweide oder die Stauungen meines Blutes anzugeben vermöchte.« Hofmannsthal, D i e Briefe des Zurückgekehrten, S W X X X I , S. 174. Hofmannsthal, D i e Briefe des Zurückgekehrten, S W X X X I , S. 173. Kassner, Die Mystik, die Künstler und das Leben, Jena 1900, S. 54; = Werke, Bd. 1, S. 66. Diesen Hinweis verdanke ich Heinrich Bosse. Es ist möglich, dass diese Stelle eine direkte Quelle für Hofmannsthals prägnante Formulierung von den Farben als »Brüder der Schmerzen« darstellt. In seinem Exemplar ( F D H 1558) hat Hofmannsthal sich den Satz angestrichen, der den zitierten Passus einleitet: »Unsere Worte leben ebensosehr von unseren Desillusionen wie von unseren Illusionen.« D a s ist die einzige Anstreichung im Blake-Essay.
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Wenn er [der Bühnenbildner, S.Sch.] seine Lichter auf seine einfachen gemalten Wände wirft, muß er die Kräfte der Seele in sich versammeln, mit denen der Gefangene, mit denen der Kranke hinüberstarrt durchs Fenster: da ist die Mauer des Gefängnishofes, da ist die getünchte Wand der Hospitalskapelle; und auf ihr ein Hauch, eine fliegende Röte, ein schwellendes Gelb, ein Gelb, als bräche es durch die Wände von Topas, dann ein Purpur, ein Violett, ein verhauchendes Violett, ein Dunkeln. Und er, der hinüberstarrt, geschmiedet in Ketten oder gebäumt auf seinem Sterbekissen, er hat an dem Farbewechseln jener getünchten Wand mehr Herrlichkeit als zehntausend Gesunde, die von Waldesklippen die Sonne sinken sehen und Bucht und Tal aufglühen sehen in Purpur, Gelb und versinken in Nacht. Denn die Welt ist nur Wirklichkeit, ihr Abglanz aber ist unendliche Möglichkeit, und dies ist die Beute, auf welche die Seele sich stürzt aus ihren tiefsten Höhlen hervor. 267 D a s strahlende G l ü c k der reinen Farbe ist hier als Schmerzgrenze des Körpers gesetzt. D e r halluzinierende u n d geblendete Körper selbst ist das sich auftuende Fenster in der M a u e r , deren D i c h t e im phantasmagorischen Übertreten der sich verlebendigenden Farben wie W ä n d e von Topas durchbrochen wird. W i e Cezanne, dessen Augen - so erinnert es Gasquet — blutunterlaufen a m Objekt klebten, 2 6 8 u n d wie van G o g h , der sich in der Darstellung Meier-Graefes fur seine Visionen körperlich verzehrte, sind auch die Visionäre in Hofmannsthals Texten Schmerzensmänner der Farbe. »Ach wir Hirnverbrannten«,
konnte
Hofmannsthal in van Goghs Briefausgabe von 1 9 0 6 über dessen Sonnenblum e n nachlesen, in denen »die grellen u n d gebrochenen T ö n e des C h r o m a u f einen H i n t e r g r u n d von verschiedenem Blau zerplatzen«: was wir so durch die Augen für Genüsse haben, nicht wahr? Aber die Natur rächt sich dafür am Tier in uns, und unser Körper ist jämmerlich und oft: eine schreckliche Last. 269
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Zum Zusammenhang zwischen der organischen Opakheit des physiologischen Wahrnehmungskörpers und der Schmerzschwelle der Blendung vgl. Jonathan Crarys Ausfuhrungen über Turners Blendungsbilder und die physiologischen Experimente mit dem Nachbild der blendenden Sonnenscheibe. Crary, Techniken des Betrachters, S. 1 4 4 - 1 4 6 . Einen anderen physiologischen Zusammenhang zwischen Körper und Farben über den Wahrnehmungsapparat hinaus lehrt die um 1900 wichtige Dynamogenie, für die Charles Henry wichtigster Vertreter ist. Dabei spielt der den ganzen Organismus erschütternde Farbkontrast eine besondere Rolle. Vgl. Charles Henry: Le contraste, le rhythme, la mesure. In: Revue philosophique 28 (1889), S. 3 5 6 - 3 8 1 ; ders.: Cercle chromatique. Präsentant tous les complements et toutes les harmonies de couleurs, Paris: Charles Verdin 1888.
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Hofmannsthal, Die Bühne als Traumbild, G W RuA I, S. 4 9 2 . »Cezanne: Auch die Augen, nicht wahr? Meine Frau sagt mir, sie treten mir aus dem Kopf heraus, ganz blutunterlaufen ... Ich kann sie nicht losreißen ... Sie kleben so stark am Punkt, den ich anschaue, daß ich meine, sie beginnen zu bluten«: Gespräche mit Cezanne, S. 154 und S. 258. Vgl. Didi-Huberman, Die leibhaftige Malerei, S. 12f. Van Gogh, Briefe, S. 90. Hofmannsthal liest diese Briefe, um sie für die >Briefe des Zurückgekehrtem zu verwenden. Vgl. S W X X X I , S. 4 3 6 .
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Die Hirnverbranntheit des sich der Blendung der glühenden Sonnenscheibe aussetzenden Künsders stellt Julius Meier-Graefe als Opfertod dar. Der Körper wird wie eine glühende Flamme verzehrt, um die farbige Vision freizusetzen. »Besser machen«, so die Obsession, »immer tiefer eindringen in das Mysterium, das die Augen blendet.« 270 Die feurige Sonnenscheibe als »Dämon seines Dramas« holt im Blendungsbild die Verschmelzung zwischen dem Versehrten Körper und dem Objekt ins Bild. »Unter dem sengenden Himmel« wurden nicht nur seine Bilder zu Flammen. 271 »Die Sonne hatte ihm schließlich alle Haare vom Schädel gebrannt, so dass sie zuletzt von dem Gehirn nur noch durch eine dünne Knochenschale getrennt war.« 272 Erst an der äußersten Bewusstseinsschwelle wird eine mediale Grenze überschritten, wo der Körper sich mit der Farbe gegen die Mangellogik der symbolischen Ordnungen verbündet. Aus diesem Grund soll Cezanne — so berichtet es Gasquet — die Farben »böse« genannt haben. Über Tintorettos Farbenmüdigkeit am Ende seines Lebens lässt Gasquet den Maler in identifikatorischem Gestus erklären: Und am Ende seines Lebens gestand er, dessen Palette mit dem Regenbogen wetteiferte, daß er nur noch das Schwarz und Weiß liebe [...] Weil die Farben böse sind, weil sie quälen, verstehen Sie. - Ich kenne diesen Schmerz. 273
Hofmannsthals Obsession für den lidlosen, entzündeten, starren Blick weiß um diesen prekären Zusammenhang. 27il »Denn es hatte von jeher etwas Gefährliches, von der Farbe zu handeln«, schreibt Goethe in der >FarbenlehreDas Auge der Muräne. Die Augenblicke des Lord Chandos und die Inspiration des DichtersNeuen Gedichten< und den >Briefen über Cezanne< Rilkes geschriebene Dinge Die Grundfigur, die sich an Hofmannsthals literarischen Evokationen von Farbe ausmachen ließe, wäre demnach auf der Inhaltsebene als agonales Verhältnis zwischen Farbe und Gegenstand zu beschreiben, dem in der sprachlichen Darstellung selbst ein Spannungsverhältnis zwischen der auf Aussagen und Prädikate angewiesenen Textur und dem ihrer Logik scheinbar entzogenen, uneinholbaren Telos einer präsemiotischen farbigen Fülle entspricht. Ein Sprachmodus, der sich zugleich einer Logik der Negation und rhetorischer Hyperbolik bedient, der seine eigene definierende Autorität einklammert und ins Hypothetische zurücknimmt, ist charakteristisch for die Dynamik dieser Texte. Die Sprache ist kein Vehikel zur Vermittlung der beschworenen farbigen Ekstase, sie wird vielmehr selbst entrückt, begibt sich ihrer Herrschaft und lässt sich zu lustvoller Zeichenredundanz verwirren. Die Farbe, die als tendenziell anarchische Kraft über die Grenzen des Gegenstands (und damit der begrifflichen Konzepte) hinausflutet, ist demnach nicht als in reiner Schau zu visualisierendes, phänomenologisches Eidos das Ziel der Sprachbewegung. Es geht nicht darum, dass die Sprache ihren Zeichenstatus hinter sich lässt und durchsichtig wird for die Anschauung von Farbe. Entscheidend ist vielmehr die Sprachbewegung selbst und die semiotischen Möglichkeiten, die sie bietet. Die Farbe fongiert in dieser Logik der Entgrenzung als rhetorisches Unruhepotential, das ein textuelles Spiel von wieder aufzulösenden Polaritäten, von paradoxen Kohärenzbildungen und Inversionen in Gang setzt. Wie die Farbe sich auf der Inhaltsebene von der Vorherrschaft des Gegenstands befreit und selbst zum Aktanten in einem Beziehungsgeschehen wird, so werden auf der Ebene der Signifikation Konzepte und Referenzen bearbeitet, aufgelöst und in eine neue, spezifisch sprachliche Ordnung überführt. Es ist jedoch auch keine referenzlose l'art pour /ari-Ästhetik, die daraus resultiert — kein rein rhetorisches, amimetisches Sprachspiel im Sinne etwa der strukturalistischen Lesart Paul de Mans. Wie die poietisch wirkende Farbe dekonstruiert die Sprache ihren (referentiellen) Gegenstand und rekonstruiert ihn zugleich, indem sie ihn verfremdet, aus vertrauten Konzeptualisierungen löst und in neue, kühne oder scheinbar unmögliche Konstellationen rückt.276
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Zu Rilkes obsessiver Spracharbeit vgl. jetzt Rüdiger Görner: Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache, Wien: Zsolnay 2004, S. 107ff. >Ecce Lingua< und S. 265ff. >Spiegeln oder Entwerfen: Rilkes SprachutopieBriefen des Zurückgekehrtem als novellistischen unerhörten Augenblick, als Ambivalenz von farbigem Abgrund und mystischer Erhöhung, von Gegenstandsverheißung und Vernichtung inszeniert, bestimmt zur selben Zeit in ganz ähnlicher Weise und noch pointierter auch Rainer Maria Rilkes Ästhetik der emphatisch beschworenen »Dinge«. Die Schlüsselrolle, die das Problem der Farbe (das heißt ihrer Repräsentation durch sprachliche >AquivalenteBriefe des Zurückgekehrtem, während der Arbeit am zweiten Teil der >Neuen Gedichte< und des >Malte Laurids BriggeBlaue Hortensie* das Verfahren der phänomenologischen Reduktion angewandt habe, heute nach dem linguistic turn obsolet erscheint. Sie zieht eine Parallele zu Husserls Göttinger Dingvorlesung von 1907: Die Idee der Phänomenologie (der 289
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Gegen diese substanzialistischen Auffassungen der Rilke'schen >Dinge< hat vom strukturalistischen Standpunkt aus Paul de Man in einer forschungsgeschichtlich folgenreichen Interpretation zu Rilkes »Tropen« Einspruch erhoben.294 Das emphatische »Hier« Rilkes, so de Mans These, bezieht sich auf den Text selbst, nicht auf irgendwelche beschworenen Entitäten jenseits des Textes. Der aber steht nicht im Dienst eines seine eigene Innerlichkeit aussprechenden lyrischen Subjekts, sondern gehorcht einer selbstbezüglichen Sprachbewegung. Die Rhetorizität des Textes — seine Lexis — subvertiert den Logos, Strukturen des figurativen Sprechens (an prominentester Stelle die Metapher) setzen ein Sprachspiel in Gang, das sich in Figuren der Umkehrung von Hierarchien, der paradoxen chiastischen Verkreuzung (gespiegelte Abbilder sind wirklicher als die Urbilder, die Innerlichkeit eignet den Dingen statt den Menschen etc.) und der invertierten Negativität (die Sonnenuhr zeigt nachts die Zeit an; das fehlende Auge des Torsos ist durch den Körper abwesend anwesend etc.) einer intentionalen Aussagelogik entzieht. Die »Dinge« der >Neuen Gedichte* weisen somit nicht die scharf umrissenen Grenzen von auf einer referentiellen Ebene zu isolierenden Entitäten auf, sondern sind sprachförmig, insofern sie dem rhetorischen Beziehungsgeschehen ihre textuelle Existenz verdanken. Die im traditionellen lyrischen Sprechen angelegte Subjekt-Objekt-Trennung, derzufolge ein lyrisches Ich sich einer Welt gegenüber ausspricht und die als Grundstruktur einer signifikativen Ästhetik jedem Bedeuten zugrundeliegt, wird durch die chiastische Überkreuzung der Attribute von Worten und Dingen unterlaufen. Die »Dinge« Rilkes sind insofern sprachförmig, als sie eine genuine Möglichkeit der Sprachlichkeit realisieren, indem sie ihre vertrauten Zuschreibungen umkehren. komplette Vorlesungstext stand ihr noch nicht zur Verfugung: Vgl. Edmund Husserl: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Hamburg: Meiner 1991). Hamburger bezieht die Loslösung der Farbe Blau aus der Gegenstandsbindung auf Husserls am Beispiel der »Rotspezies« exemplifizierte »ideierende Abstraktion« (Die Idee der Phänomenologie, S. 56f.). Wolfgang G. Müller (Rilke, Husserl und die Dinglyrik der Moderne. In: Lamping/Engel (Hg.), Rilke und die Welditeratur, S. 214-235), hat vorgeschlagen, diese Parallele zur Phänomenologie unter einem anderen Gesichtspunkt noch einmal zu diskutieren. Nicht das Verfahren der phänomenologischen Reduktion mache das Gemeinsame aus, sondern das Problem der Abschattungen, der perspektivisch gebrochenen und stückweisen Wahrnehmung bei Rilke. Er plädiert also dafür, den Aspekt der Wahrnehmungs- und Erkenntnisskepsis in Hamburgers Ansatz stärker zu betonen. Zweifellos ist das Thema der Wahrnehmungskrise in Rilkes mittlerem Werk zentral, dennoch berücksichtigt auch dieser Ansatz nicht das Problem der sprachlichen Darstellung, sondern bleibt inhaldich orientiert. Fragen der Wahrnehmung sind aber in Rilkes Ästhetik, die mit Sprache Dinge machen will, untrennbar vom semiotischen Prozess. Niemals ist daher eine phänomenologische Unmittelbarkeit der Anschauung von der Semiose zu isolieren. Im Unterschied zu Husserls Abwehr der Semiotik ist es Rilke in erster Linie um das Zeichenspiel zu tun. 254 Paul de Man: Tropen (Rilke). In: de Man: Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 52-90.
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Die zentrale Figur der Wendung in Rilkes Gedichten wäre demnach kein Umschlag zur Parusie eines Seins, sondern eine tendenziell referenzlose rhetorische Figur, die eine Negativität in eine Positivität wendet, Immanenz in Transzendenz umkehrt, weil es die rhetorische Figur des Chiasmus erfordert. Den auffälligen Formen des Negativen in den >Neuen GedichtenArchaischen Torso Apollos< eine neue, rhetorisch geschaffene Totalität entsteht.295 Paul de Mans Beitrag zur Diskussion der Rilke'schen Dingästhetik war deshalb so wichtig, weil er gegen die Projektionsbedürfnisse, die sich in der Nachkriegsgermanistik an sie knüpften, die Aufmerksamkeit zurücklenkte auf die von den Seinshoffnungen der Rilkeverehrer ausgeblendeten medialen Vertracktheiten. In der Rilkeforschung hat sich somit — bemerkenswerterweise am gleichen Paradigma der »Dinge« - derselbe linguistic turn vollzogen wie in der neueren Stifterforschung, die Stifters vermeindiche Ehrfurcht vor den Dingen als zeichenobsessive »Worthörigfkeit] wider Willen« analysiert hat.296 Zu Recht beharrte Paul de Man auf der sprachlichen Struktur als einer sich der Transzendierung widerständig zeigenden eigenen Realität und damit auf einer Dimension, die Rilkes Medienästhetik selbst immer im Blick hatte. Sein Verdienst war es, diese sprachlichen Friktionen, die Beda Allemann als eine Ästhetik der Figuration fur das enigmatischere Spätwerk (vor allem der >Sonette an OrpheusGazelle< vor,298 also jenes im Juli 1907 in Paris 295
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Eine Analyse der Wendungen und Inversionen bietet auch Peter Por: Die orphische Figur: zur Poetik von Rilkes »Neuen Gedichten«, Heidelberg: Winter 1997; zur Negativität vgl. auch Wiebke Amthor: »Der Name [...] kann nicht ausgesprochen werden.« Rilkes Poetik der Leerstelle. In: Brittnacher/Porombka/Störmer (Hg.), Poetik der Krise, S. 4 1 - 6 2 . Begemann, Die Welt der Zeichen; Eva Geulen: Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters, München: Fink 1992. Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke, Pfullingen: Neske 1 9 6 1 ; ders.: Rilke und Mallarme: Entwicklung einer Grundfrage der symbolistischen Poetik. In: Hamburger (Hg.), Rilke in neuer Sicht, S. 6 3 - 8 2 . David Wellbery: Zur Poetik der Figuration beim mittleren Rilke: »Die GazelleBriefen über Cezanne< als einzigem namentlich genannten »instinktive Ansätze zu ähnlicher Sachlichkeit« bescheinigte, wie er sie in Cezannes realisation erkannt hatte.299 Wellbery demonstrierte an einer Analyse der metaphorischen Struktur, die im Falle dieses besondere komplizierten Gedichts in einer Ubereinanderlagerung der metaphorischen Ebenen von Gazelle und Dichtung keine hierarchische Unterscheidung mehr zwischen eigentlichem und uneigentlichem Term erlaubt, die gleitende Bedeutungszuweisung aus einem textinternen System von Äquivalenzen heraus. Ein unbekannter eigentlicher Term< X (die Sprachlichkeit?) ist metaphorisch transformiert worden in die Gazelle und in die Dichtung, so dass sich der Text bereits vor einer erkennbaren figuralen Übertragung auf zwei Ebenen gleichzeitig entfaltet. Interessant an Wellberys Analyse — und darin geht er in entscheidender Weise über de Mans These der Selbstbezüglichkeit hinaus —, ist die Tatsache, dass er den deiktischen Anspruch des Sehens in Rilkes Dingästhetik ernstnimmt und ihn in ein Spannungsverhältnis zur rhetorischen Ausfaltung setzt. Indem die Gazelle/die Dichtung direkt angeredet und somit als anwesendes Gegenüber vorausgesetzt wird, sie andererseits als eine von einem Dritten gelesene Wirklichkeit zugleich abwesend ist, ist sie ein paradoxer Gegenstand, der sich dem dichterischen Anspruch auf Erscheinung entzieht. Die Gazelle, deren Existenz den Vergleichen der Liebeslieder entspringt, ist die leibgewordene Flucht des imaginativen Bildes in die Zeichenlabyrinthe der Sprache. Das Dinggedicht ist poetologisch raffiniert, insofern es den scheinbar phänomenologischen eigenen Anspruch, die vom Titel geweckte Dingerwartung, dekonstruiert. Vorgeführt und zugleich unterlaufen wird das Begehren des Lesers, die sprachliche Gazelle, die sich in die ausschweifenden, dekonturierenden und veruneigentlichenden Vergleichsstrukturen der Sprache verflüchtigt, sichtbar vergegenwärtigen und damit als Bild sistieren zu wollen. Nicht zu bildhafter Präsenz fuhrt die Wendung des Gedichts. Stattdessen fuhrt sie in einer Verdichtungs- und Verschiebungsstruktur von mythologischen (Daphne und Apoll, Diana und Aktaion), biblischen (Hohelied Salomons) und psychoerotischen (Jagdmotiv) Intertexten die Flüchtigkeit des sprachlichen Gegenstands vor, dessen >Eigentlichkeit< in eine potentiell unendliche Serie von Verwandlungen transformiert wird. Die strukturalistischen Interpretationen de Mans und Wellberys machen sich einen im lyrischen Kontext auffälligen sprachlichen Befund der >Neuen Gedichte< zunutze, der schon in der zeitgenössischen Perspektive als ungewöhnlich empfunden worden war. Nachdem ein Gedichttitel einen Gegenstand »anmeldet« — so formuliert es Rilke in einem Brief an seinen Verleger, in 299
Rilke an Clara Rilke, Paris, 13. Oktober 1907, Werke, Bd. 4, S. 6 1 7 . Die Gazelle. Gazella Dorcas, in: Neue Gedichte, Werke, Bd. 1, S. 469f.
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dem er eine bewusste graphische Aufteilung zwischen Gedichttitel und Gedicht verlangt - , fängt es »mit sich selber an«,300 das heißt es bindet das Angemeldete sofort in beziehungsreiche Sprachabläufe ein. Anders als im lose assoziierenden Gestus des Frühwerks sind es syntaktisch durchkonstruierte Sprachformen, meist komplexe Satzgefüge mit Nebensätzen erster und zweiter Ordnung, mit Infinitivfugungen und Partizipialkonstruktionen, die durch adversative oder konzessive Konjunktionen und Modaladverbien (»vielleicht«, »zwar«, »freilich«, »beinah«, »aber«, »doch«), durch vermutende rhetorische Fragen, durch Sätze im Irrealis und Potentialis und durch korrigierte Negationen (»die ein Blau nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln«)301 einen stark reflektierenden Charakter haben (ohne dass eine Subjektposition als reflektierende Instanz zu isolieren wäre — das verhindern schon die ständigen Perspektivenwechsel). Das wohl berühmteste Gedicht, >Archaischer Torso ApollosArchaischer Torso Apollosc »und bräche nicht aus allen seinen Rändern/ aus wie ein Stern«; 303 >Die Flamingosc »wenn er von seiner Freundin sagt: sie war// noch sanft von Schlaf« 304 ). Die Gedichte arbeiten ihrer eigenen Vollkommenheit, dem rhythmischen und laudichen Wohllaut entgegen, zersprengen sie gleichsam von innen her. Zum andern zeigt sich als zweites auffälliges Charakteristikum eine gerade durch die syntaktisch und logisch präzisen Aussagestrukturen hervorgetriebene Unbestimmtheitsfunktion der Sprache. An exponierten Stellen (oft am Gedichtanfang) treten vermutende rhetorische Fragen (>Rosa Hortensieo »Wer nahm das Rosa an?«), 305 (bisweilen negierte oder korrigierte) Negationen bis hin zum emphatisch gesetzten Nein (>Der Einsamec »Nein: ein Turm soll sein«), 306 konjunktivische oder modale Relativierungen (»Oder vielleicht auch geben sie es preis«), 307 hypothetische Setzungen im Irrealis (>Der Gefangene IIAbschiedRömische Sarkophagec »ein langsam Aufgelöstes« 310 ) und paradoxe Zwillingsformeln (>Der Hunde »nicht ausgestoßen und nicht eingereiht«) 3 " an Stelle einer definierenden Aussage. 312 Diese sprachlichen Mittel haben einen derealisierenden und relativierenden Effekt, der der Emphase der Dinge auf kontrapunktische Weise entgegengesetzt ist. Man kann sagen, die sprachliche Existenz der Dinge zeigt uns diese an und entrückt sie in derselben Bewegung. Rilke hat in einer bemerkenswerten Briefpassage der >Briefe über Cezanne< eine Schilderung der Pariser Staddandschaft mit einer prägnanten Formulierung eingeleitet, die auf die Handhabung der Perspektive in den Bildern Cezannes abzielt, bei der durch die spezifische Unbestimmtsheitsfunktion der Farbe Blau (als Negativform der Schattenbah303
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Rilke, Archaischer Torso Apollos, in: Der Neuen Gedichte anderer Teil, Werke, Bd. 1, S. 513. Rilke, Die Flamingos, in: Der Neuen Gedichte anderer Teil, Werke, Bd. 1, S. 575. Rilke, Rosa Hortensie, in: Der neuen Gedichte anderer Teil, Werke, Bd. 1, S. 579. Rilke, Der Einsame, in: Der neuen Gedichte anderer Teil, Werke, Bd. 1, S. 580. Rilke, Rosa Hortensie, in: Der neuen Gedichte anderer Teil, Werke, Bd. 1, S. 579. Rilke, Der Gefangene II, in: Neue Gedichte, Werke, Bd. 1, S. 468. Rilke, Abschied, in: Neue Gedichte, Werke, Bd. 1, S. 479. Rilke, Römische Sarkophage, in: Neue Gedichte, Werke, Bd. 1, S. 472. Rilke, Der Hund, in: Der Neuen Gedichte anderer Teil, Werke, Bd. 1, S. 585Eine hilfreiche Zusammenstellung der sprachlichen Besonderheiten der Neuen Gedichte bietet die Arbeit von Wolfgang Müller: Rainer Maria Rilkes »Neue Gedichte«. Vielfältigkeit eines Gedichttypus, Meisenheim am Glau: Anton Hain 1971.
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nen, aus denen heraus die Bildgegenstände modelliert werden, als vieldeutige Grenzzone, als Luftperspektive und als Lokalfarbe) 313 die Bildvordergründe entrückt werden und die Hintergründe nach vorne in eine planimetrische Bildfläche umkippen. Rilke geht aus von einer ambivalenten Beleuchtungssituation, in der die Dinge zugleich »licht, leicht, kaum angedeutet in der hellen Luft und doch deutlich« erscheinen und interpretiert diese Zwiespältigkeit - als hätte er ein Cezanne'sches Bild vor sich - als die Konsequenz einer Darstellung, deren Transparenz zugleich zeigt und entzieht: »Das Nächste hat schon die Töne der Ferne«, schreibt er an Clara, »ist weggenommen und nur gezeigt, nicht wie sonst hingestellt«. 314 Was hier an Cezannes oszillierender Raumgestaltung gelernt wird, welche die Vorstellung eines begehbaren Raums aufruft und zugleich verunmöglicht, 315 lässt sich auf Rilkes eigenes literarisches Verfahren in den >Neuen Gedichten< übertragen und ist insofern von poetologischer Relevanz. Was in vielen Gedichtanfängen im deiktischen Gestus eines Imperativischen »Sieh« (>Der Blindec »Sieh, er geht und unterbricht die Stadt«; >Gesang der Frauen an den Dichten: »Sieh, wie sich alles auftut«), 316 in einem gebieterisch hinweisenden »Das ist« oder »Da drin« (>Die Fensterrosec »Da drin: das träge Treten ihrer Tatzen«; >MorgueDie Erwachsenec »Das alles stand auf ihr«) 317 vor das innere Auge des Lesers gestellt zu werden scheint, wird durch die sprachliche Bewegung dem Schauen wieder entzogen, eben nur »gezeigt« und nicht »hingestellt«, da in abstrakte sprachliche Zusammenhänge weggenommen. Es ist insofern nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene relevant, dass in den >Neuen Gedichten< zum einen abstrahierende Bewegungsabläufe eine zentrale Rolle spielen (z.B. >Die Kathedralen >Der BallRömische FontäneDie An313
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Die ambivalente Funktion der Farbe Blau fur Cezannes Bildaufbau (Konstruktion aus der Negativität heraus) hat Kurt Badt herausgestellt (Die Kunst Cezannes, München: Prestel 1956; Das Spätwerk Cezannes, Konstanz: Universitätsverlag 1971). Vgl. die prägnante Zusammenfassung bei Köhnen, Sehen als Textkultur, S. 92f. Rilke an Clara Rilke, Paris, 12. Oktober 1907, Werke, Bd. 4, S. 613. So vor allem die Interpretation Jonathan Crarys, die er anhand des späten Werks >Kiefern und Felsenszenischen< Raums des Felsstreifens mit der flimmernden Fläche von Himmel und Bäumen, wobei er zwei unvereinbare Arten der Raumbehandlung ineinander verankert.« Bezüge zwischen Cezannes Behandlung der Perspektive und Rilkes Raumkonzept untersuchen Gerok-Reiter, Perspektivität bei Rilke und Cezanne. Zur Raumerfahrung des späten Rilke; und Arndal, »Ohne alle Kenntnis von Perspektive«? Zur Raumperzeption in Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Rilke, Der Blinde. Paris, in: Der Neuen Gedichte anderer Teil, Werke, Bd. 1, S. 541; Gesang der Frauen an den Dichter, in: Neue Gedichte, Werke, Bd. 1, S. 461. Rilke, Die Fensterrose, in: Neue Gedichte, Werke, Bd. 1, S. 465; Morgue, ebd., S. 467; Die Erwachsene, ebd., S. 477.
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fahrt«, >Die Treppe der Orangeries >Begegnung in der Kastanien-AlleeNeuen Gedichten< nicht wie zu erwarten die Metapher, sondern der Wie-Vergleich und damit ein rhetorisches Mittel, das um 1907 keineswegs mehr selbstverständlich, sondern als ungeliebter und als schwerfällig geltender Anachronismus eher verpönt war. »Je raye le mot comme du dictionnaire«, hatte Mallarme als Grundsatz der Symbolisten apodiktisch formuliert.325 Rilke forcierte die Übertragungsstruktur des Wie-Vergleichs aus genau dem Grund, aus dem die Symbolisten ihn ablehnten. Denn im Unterschied zur Metapher überblendet der mit »Wie« eingeleitete Vergleich nicht die beiden Ebenen der Sach- und Bildsphäre, erlaubt also keine imaginative Verschmelzung und lässt somit die Bildhaftigkeit nicht sinnfällig werden.326 Er stellt vielmehr die spezifisch sprachliche Übertragungsbewegung exponiert aus, rückt die Projektion von a nach b ins Bewusstsein und hält die beiden Sphären getrennt. Wenn Sprache somit durch die exponierte Wie-Struktur niemals zu Anschauung werden kann, so verstärkt Rilke diese eigentümliche Sperrigkeit des Wie-Vergleichs noch, indem er fur Bild- und Sachbereich möglichst solche divergenten Felder wählt (oft aus verschiedenen Sinnesbereichen), die sich in der visuellen Phantasie nicht agglutinieren können. Nur selten wird dem Sphärensprung des Vergleichs, der die Gegenstandsvorstellung durch den unvermittelten Übergang in divergente Bildbereiche zersetzt, durch die gegenstandsstabilisierende Metonymie entgegengewirkt, welche die semantische Energie nur in ein und demselben räumlichen Bereich verschiebt.327 In der Termino-
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ner Maria Rilke. Zu den Briefen. In: Schnack: Über Rainer Maria Rilke. Aufsätze, Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1996, S. 7 9 - 1 0 5 ; Egon Schwarz: Noch einmal Hugo von Hoftnannsthal und Rainer Maria Rilke. Für Paul Michael Lützeler. In: Sigrid Bauschinger und Susan L. Cocalis (Hg.): Rilke-Rezeptionen. Rilke Reconsidered, Tübingen, Basel: Francke 1995, S. 1 5 - 2 5 . Hugo von Hofmannsthal an Katharina Kippenberg, Bad Aussee 3 0 . 1 0 . 1 9 2 7 , B W Rilke, S. 144. Er erwähnt als seine Lieblingsgedichte >Blaue Hortensie«, >Das Einhorn«, >Die Gazelle«, >Das Karussell«, >Der Panther«, >Die Flamingos« (letztere »durch Berühmtheit fast etwas beschwert«), wobei leise Kritik an der »fast allzu virtuosen« Handwerklichkeit durchklingt. Als »allervollendetstes dieser Bilder« nennt er den Archaischen Torso«, als persönliches Lieblingsgedicht >Leda«. E. Dujardin, Mallarme par un des siens, Paris 1936, S. 50. Zit. nach Müller, Rilkes »Neue Gedichte«, S. 97. Vgl. Manfred Frank: Die Aufhebung der Anschauung im Spiel der Metapher. In: Rüdiger Bubner, Konrad Cramer und Reiner Wiehl (Hg.): Anschauung als ästhetische Kategorie. Neue Hefte fiir Philosophie. Heft 1 8 / 1 9 , Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, S. 5 8 - 7 8 ; Riedel, Die Macht der Metapher. Die These von Michael Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, wonach Rilke oft die
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logie der strukturalen Metapherntheorie gesprochen, wird also der »intersystemischen Übertragung« vor der »intrasystemischen« der Vorzug gegeben. 3 2 8 Dabei verselbstständigt sich die Vergleichsstruktur gegenüber d e m eigentlichem Sprechen, die Sphäre der Vergleichsbilder ist oft syntaktisch vorgestellt, bisweilen ohne den Vergleichsstatus sofort preiszugeben (in >Die Fensterrose< tritt das vergleichende »Wie« erst in der dritten Verszeile auf und gibt sich erst a m Gedicht-Ende rückwirkend als Vergleichspartikel zu erkennen), 3 2 9 n i m m t meist sogar den breiteren R a u m ein oder greift auf die syntaktische Struktur des ganzen Gedichts aus. Rilkes sprachschöpferische Kraft entfaltet sich in den >Neuen Gedichten< vor allem an den kühnen Vergleichen, die niemals illustrieren, sondern harte Fügungen, Inversionen vertrauter Hierarchien und K o n trasteffekte suchen. S o wird die Fensterrose einer gotischen Kathedrale zugleich mit der unto mystica des Gläubigen in G o t t und mit einem den Betrachter verschlingenden Katzenauge in eine Vergleichsbeziehung gesetzt, das Götdiche teilt mit d e m Tierischen dieselbe Sphäre der gewaltsamen Ichauflösung. Eine Hierarchieumkehrung liegt schon darin, dass der Bereich des Menschlichen oft in die Vergleichssphäre abwandert, u m d e m Bereich unbelebter Gegenständlichkeit z u m Vergleich zu dienen. Zwischen D i n g e n und Menschen gibt es in den Bezügen der Sprache keine hierarchischen Unterschiede des Gehalts.
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metaphorische Vergleichsebene aus der räumlichen Umgebung nimmt, um die Aura eines Ortes zu evozieren, scheint mir nicht plausibel (»Die metonymische Metapher, S. 124—130). Schon der Begriff der »metonymischen Metapher« ist problematisch, unhaltbar sind die daraus gezogenen Konsequenzen. Vgl. S. 126: »das Dinggedicht muss, um seinem referentiellen Anspruch zu genügen, den Kontakt zum vorgegebenen Gegenstand wahren«, oder S. 130: »Die sprachliche Analyse droht dabei die Einheit des Gegenstands aufzulösen. In vielen der Neuen Gedichte verhindert dies die metonymische Metapher.« Rilke wahrt schon deswegen »keinen räumlichen Zusammenhang des Dinges«, weil das »Ding« kein referentieller Gegenstand, sondern eine sprachliche Figuration ist. David E. Wellbery: Übertragen: Metapher und Metonymie. In: Heinrich Bosse und Ursula Renner (Hg.): Literaturwissenschaft. Einfuhrung in ein Sprachspiel, Freiburg i.Br.: Rombach 1999, S. 139-155, hier S. 153. Rilke, Die Fensterrose, in: Neue Gedichte, Werke, Bd. 1, S. 465: Das Gedicht beginnt mit einer Szene, die an den >Panther< erinnert und insofern nicht an einen bloßen Vergleichsstatus denken lässt. Das »wie« der dritten Verszeile kommt eher unauffällig daher und lässt sich zunächst als temporale Subjunktion oder als relativierende Modalpartikel lesen. Erst mit dem »So« der drittletzten Verszeile wird die Vergleichsstruktur erkennbar, so dass sich wie in vielen Gedichten eine zyklische Riickwendung zum Gedichtanfang ergibt: »Da drin: das träge Treten ihrer Tatzen/ macht eine Stille, die dich fast verwirrt; und wie dann plötzlich eine von den Katzen/ den Blick an ihr, der hin und wieder irrt [...] So griffen einstmals aus dem Dunkelsein der Kathedralen große Fensterrosen/ ein Herz und rissen es in Gott hinein.« Ein close reading des Kathedralen-Zyklus bietet Ernest Μ. Wolf: Stone into poetry: the cathedral cycle in Rainer Maria Rilke's Neue Gedichte, Bonn: Bouvier 1978.
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Es ist bezeichnend, dass es gerade Robert Musil war, der diese enthierarchisierende und dadurch formalisierte Gleichnisstruktur der >Neuen Gedichte< präzise benannt und zur Ursache einer unauflösbaren »Spannung« erklärt hat, die beinahe »den Charakter des Schmerzes« annehme. »Nie ist es das selbst [der im Titel angekündigte Gegenstand, S. Sch.], was den Inhalt des Gedichts ausmacht; sondern immer ist es ein Etwas wie das unbegreifliche Dasein dieser Vorstellungen und Dinge, ihr unbegreifliches Nebeneinander und unsichtbares Verflochtensein«, beschreibt er es in seiner Berliner >Rede zur Rilke-Feier< 1927 und spricht dabei auch über sein eigenes Verfahren der gleichnishaften Übertragung: »Bei Rilke werden nicht die Steine oder Bäume zu Menschen — wie sie es immer und überall getan haben, wo Gedichte gemacht wurden - , sondern auch die Menschen werden zu Dingen oder zu namenlosen Wesen«. So werde jedes der Dinge »zum Gleichnis des anderen«, »Die Eigen-schaften werden zu Aller-schaften! Sie haben sich von den Dingen und Umständen losgelöst, sie schweben im Feuer und im Wind des Feuers.«330 Besser lässt sich die entmaterialisierende, die Einzelheiten gleichsam serialisierende Sprachbewegung der Rilke'sehen Vergleiche kaum beschreiben. Musil hat auch scharfsinnig registriert, dass in Rilkes Abundanz der Vergleichsbeziehungen eine Tendenz zur Aufhebung der Unterscheidung zwischen eigentlichem und uneigendichem Term liegt. »Statt zu sagen, der Novemberabend sei wie ein Tuch oder das Tuch sei wie ein Novemberabend, könnte man nicht beides in einem sagen? Was ich frage, Rilke hat es immerwährend getan.«331 Ein sprachliches Unruhepotential werde so mobilisiert, das die bequeme Einteilung in eine vorgeblich feste Welt der Dinge und eine bewegliche Gefuhlssphäre aufhebt. Das eine sei nicht mehr »eine Wand fur die andere«, vielmehr kann das Gedicht Rilkes »die im ganzen Dasein versteckte Unruhe, Unstetheit und Stückhaftigkeit nicht vergessen [...]; deshalb sind alle Dinge und Vorgänge in seinen Gedichten untereinander verwandt und tauschen den Platz wie die Sterne, die sich bewegen, ohne daß man es sieht.«332 Mit dem letzten Vergleich spielt Musil auf den Zentralbegriff der Figur an, der als Sternbild vorgestellten Konfiguration des Spätwerks.333 Er ist somit der erste, der diese abstrahierende, »frei und schwebend« sich vollziehende »Bewegtheit des Sinnes«334 auch fur Rilkes mittleres Werk als strukturbildend erkennt. So wie 330
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Robert Musil: Rede zur Rilke-Feier in Berlin am 16. Januar 1927, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 1237. Musil, Rede zur Rilke-Feier, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 1238. Musil, Rede zur Rilke-Feier, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 1240. Vgl. Rilke, Sieh den Himmel. Heißt kein Sternbilder >Reiter