Das Maß und die Nützlichkeit: Zum Verhältnis von Theater und Erziehung im 18. Jahrhundert 9783839447826

The study examines the entanglement of the two great educational projects of the Enlightenment: the pedagogization of th

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German Pages 394 Year 2019

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Inhalt
Danksagung
I. Einleitung
1. Die Pädagogisierung des Theaters und die Theatralisierung der Pädagogik
2. Das Maß und die Nützlichkeit
II. Die Pädagogisierung des Theaters
1. Eine der »ersten Anstalten des Staats«
2. Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachten
3. Das Theater der Mitte
4. Die Pädagogisierung des Poeten
5. Die Pädagogisierung des Publikums
6. Die Pädagogisierung des Schauspielers
III. Die Theatralisierung der Pädagogik
1. »die Jugend zum bürgerlichen Leben vorbereiten« – Der Philanthropismus
2. Pädagogische Anschlüsse an die moralische Anstalt
3. Die Histrionisierung des Erziehers
4. Die Theatralität der Methode
5. Die Dramatisierung der Form
IV. Der pädagogische Roman als das bessere Theater
V. Literatur
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Das Maß und die Nützlichkeit: Zum Verhältnis von Theater und Erziehung im 18. Jahrhundert
 9783839447826

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Alexander Weinstock Das Maß und die Nützlichkeit

Theater  | Band 124

Alexander Weinstock (Dr. phil.), geb. 1985, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts, ästhetische Erziehungs- und Bildungsmodelle sowie die Geschichte und Theorie des Theaters.

Alexander Weinstock

Das Maß und die Nützlichkeit Zum Verhältnis von Theater und Erziehung im 18. Jahrhundert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Katharina Huber, Köln 2018, © Katharina Huber Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4782-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4782-6 https://doi.org/10.14361/9783839447826 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung.............................................................................................7 I   Einleitung ........................................................................................... 9 1    Die Pädagogisierung des Theaters und die Theatralisierung der Pädagogik ................................................................................................ 9 2   Das Maß und die Nützlichkeit .............................................................................. 17 II   Die Pädagogisierung des Theaters.............................................................31 1    Eine der »ersten Anstalten des Staats« ................................................................ 31 2   Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachten .......................................... 38 2.1   Das Herz durch die Augen unterrichten........................................................ 39 2.2   Wirkungsästhetiken ............................................................................... 53 2.2.1   Bewunderung und Nacheiferung.............................................54 2.2.2   Mitleidsdramaturgie ............................................................ 61 3   Das Theater der Mitte ........................................................................................ 70 3.1   Die doppelte Abgrenzung .......................................................................... 71 3.2   Schultheater und Theaterreform.................................................................82 4   Die Pädagogisierung des Poeten ......................................................................... 93 4.1   Gelehrter und Menschenkenner I .................................................................96 4.2   Die Erziehung des Erziehers ..................................................................... 116 4.3   Der Kunstrichter – Maßstab für Poeten und Publikum .................................... 127 5   Die Pädagogisierung des Publikums ....................................................................140 5.1   Bestandsaufnahme................................................................................. 143 5.2   Die Organisation von Aufmerksamkeit......................................................... 147 5.3   »der ruhige, unbefangene und vernünftige Zuschauer«.................................. 152 5.4   Der Mittelort ..........................................................................................155 6   Die Pädagogisierung des Schauspielers ............................................................... 164 6.1   Institutionalisierungsprozesse: Akademien, Philanthropine, Lehrer und Lernende ............................................................................166 6.2   Auf dem Weg zur Schauspielkunst.............................................................. 174

6.3   Gelehrter und Menschenkenner II ............................................................... 176 6.4   Charaktererziehung ................................................................................182 III   Die Theatralisierung der Pädagogik.......................................................... 191 1    »die Jugend zum bürgerlichen Leben vorbereiten« – Der Philanthropismus .................................................................................... 191 1.1   Pädagogische Defizite .............................................................................. 191 1.2   Pädagogik des Maßes und der Nützlichkeit ...................................................201 1.3   Der Weg »in die Tiefe der Seele, in das Herz des Menschen« ........................... 208 2   Pädagogische Anschlüsse an die moralische Anstalt ............................................... 215 2.1   Eine Bitte unter Kollegen .......................................................................... 216 2.2   Der Zögling als Zuschauer ........................................................................ 221 2.3   Der Zögling auf der Bühne ....................................................................... 228 2.3.1   Theaterspiel in Unterricht und Freizeit .................................. 229 2.3.2   Poetik des Kinderschauspiels ............................................. 232 3   Die Histrionisierung des Erziehers...................................................................... 248 3.1   Praktiker und Menschenkenner: Der Erzieher zwischen Beruf und Berufung ....... 249 3.2   Väterlicher Freund und vorbildlicher (Selbst-)Darsteller: Das Erzieher-Zögling-Verhältnis............................................................. 258 3.2.1   Familienbande.................................................................. 258 3.2.2   Der Erzieher als Vorbild und (Selbst-)Darsteller ....................... 264 4   Die Theatralität der Methode ............................................................................ 283 4.1   Register und Situationen der Beobachtung .................................................. 284 4.2   Disziplin – Macht – Theatralität ................................................................ 294 5   Die Dramatisierung der Form ............................................................................ 306 5.1   Drama und Dialog ................................................................................... 306 5.2   Erziehungsszenen................................................................................... 310 5.3   Zwischen Erziehertheater und Roman: Robinson der Jüngere ......................... 322 IV   Der pädagogische Roman als das bessere Theater .................................................................... 333 V   Literatur ........................................................................................ 363 1    Quellen ......................................................................................................... 363 2   Darstellungen ................................................................................................ 374

Danksagung

Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2018/19 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Prof. Dr. Anja Lemke und Prof. Dr. Martin Jörg Schäfer haben diese Arbeit betreut, begleitet und begutachtet. Für ihre große Unterstützung, viele wichtige Anregungen, konstruktive Kritik und einen wertvollen Austausch möchte ich ihnen an dieser Stelle sehr herzlich danken. Anja Lemke möchte ich zudem ebenso herzlich für ihr Vertrauen und ihre Förderung in den vergangenen Jahren danken, die mir viel Wichtiges und Prägendes ermöglicht und ganz wesentliche Voraussetzungen für die Idee zu diesem Buch und ihre Umsetzung geschaffen haben. Ein besonderer Dank gebührt meiner Familie und meinen Freunden, die den Entstehungsprozess dieser Arbeit mit viel Zuspruch, Ermutigung und Geduld verfolgt, die Korrektur gelesen, diskutiert, angespornt, aber im richtigen Moment immer auch den Blick auf andere Dinge gelenkt und damit den Horizont offen gehalten haben. Mein Vater hat mich bei diesem Projekt von Anfang an mit großem Interesse und ungebrochener Zuversicht unterstützt. Er hat die Drucklegung leider nicht mehr erleben können. Ihm ist dieses Buch gewidmet. A.W.

I   Einleitung

1   Die Pädagogisierung des Theaters und die Theatralisierung der Pädagogik Ein junger Mann sitzt abends mit seinen Freunden zusammen. Sie kommen, wie so oft, aus dem Theater, gehen, wie so oft, anschließend etwas trinken und sind, wie so oft, mit der gerade besuchten Vorstellung unzufrieden. Schuld daran sind für gewöhnlich keineswegs die Schauspieler und vor allem Schauspielerinnen: »Demoiselle Schulze […] zog uns in die Bühne so oft sie spielte«, wird sich der junge Mann später erinnern, und diese Anziehung ist, anders als man es vielleicht unterstellen könnte, nicht so sehr ihrer Attraktivität geschuldet, sondern ihren darstellerischen Qualitäten, ihren »tragischen Tugenden«.1 Die Unzufriedenheit rührt vielmehr von den Stücken, die gegeben werden. Schon die Vorstellung von Johann Elias Schlegels Hermann bei der Eröffnung des Theaters lief aus Sicht des jungen Mannes »sehr trocken ab[…]«2 . Für erneuten Unmut sorgt nun Medon, oder die Rache des Weisen, ein Stück aus der Feder von Christian August Clodius, der bereits zur Eröffnung einen Prolog beigesteuert hatte. Ähnlich wie zuvor in Reaktion auf Schlegels Hermann und überhaupt »gegen alles was mir nicht gefiel oder mißfiel«, setzt sich der junge Mann nach Besuch der Vorstellung »sogleich in eine praktische Opposition«3 , denn Clodius Stück fällt, der allgemein eher wohlwollenden Aufnahme durch das Publikum zum Trotz, beim jungen Mann und seinen Freunden vornehmlich wegen der dort ausgestellten »Weisheit, Großmut und Tugend« durch, gerade diese ostentative Vorbildlichkeit finden sie »unendlich lächerlich«4 . Die ›praktische Opposition‹ des jungen Mannes äußert sich in einem noch abends im Weinhaus verfassten, satirischen Prolog. In diesem nicht erhalten gebliebenen 1 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Dieter Borchmeyer et al. I. Abteilung: Sämtliche Werke, Band 14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Herausgegeben von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a.M. 1986, Paralipomena, S. 964. 2 Ebd. 3 Ebd., Paralipomena, S. 963. 4 Ebd., S. 331.

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Das Maß und die Nützlichkeit

Text, so wie ihn sein Verfasser Jahrzehnte später in der Erzählung seines Lebens dem Inhalt nach wiedergibt, betritt »Arlekin« die Bühne und stellt zwei große Säcke auf, in denen, so informiert er das Publikum, »moralisch-ästhetischer Sand befindlich sei, den ihnen [den Zuschauern – AW] die Schauspieler sehr häufig in die Augen werfen würden.«5 Einer der Säcke sei »mit Wohltaten gefüllt, die nichts kosteten, und der andere mit prächtig ausgedrückten Gesinnungen, die nichts hinter sich hätten.«6 Vor diesem Sand warnt Arlekin das Publikum, ermahnt es, »die Augen zuzumachen« und ruft ihm in Erinnerung »wie er immer ihr Freund gewesen und es gut mit ihnen gemeint«7 . Es ist das Jahr 1768, der junge Mann heißt Johann Wolfgang Goethe, er studiert an der Leipziger Universität und frequentiert mit seinen Freunden regelmäßig das zwei Jahre zuvor erbaute Theaterhaus der Stadt. Die skizzierte Szene entstammt seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit und erzählt neben der feucht‐fröhlichen Abendgestaltung theaterinteressierter Studenten vor allem von einer großen Veränderung, die mit dem Gegenstand ihres Interesses vorgeht: In Goethes satirischem Prolog treffen zwei Theaterformen aufeinander, von denen die eine, sich erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts herausbildende, mit dem Anspruch auftritt, die andere, ältere, von der Bühne zu vertreiben. Arlekin, als einer der maßgeblichen Repräsentanten dieses älteren, weniger auf Erbauung als vielmehr auf Unterhaltung zielenden Theaters, warnt vor einem mit ›moralisch-ästhetischem Sand‹ um sich werfenden, mit anderen Worten edukative Absichten verfolgenden und sich dazu selbst als Erziehungsmittel einsetzenden Theater, für das in der autobiographischen Szene Clodius Medon mit seinem offensichtlich überdeutlich ausgestellten Tugenden exemplarisch einsteht. Er warnt damit vor einem Theater, das ihm nicht länger einen Platz auf der Bühne zugestehen wird, das diese Bühne vielmehr, um sie funktionalisieren zu können, völlig neu bestücken und bespielen will und sich mit diesem Vorhaben zum Zeitpunkt des Prologs bereits seit einigen Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum durchzusetzen versucht. Die Ursprünge dieses neuen Theaters liegen ebenfalls in Leipzig. Hier hatte sich seit Ende der 1720er Jahre Johann Christoph Gottsched daran gemacht, die Schaubühne von Gestalten wie eben dem Arlekin zu reinigen und stattdessen auf eine regelmäßige, das heißt auf einem festen dramatischen Text basierende, der Nachahmung der Natur verpflichtete und dem Grundsatz der Wahrscheinlichkeit folgende Form festzuschreiben, die vor allem eines leisten soll: ihr Publikum sittlich zu erziehen. Dieser Anspruch steht am Beginn einer umfassenden, sich im Verlauf des Jahrhunderts vollziehenden Reform des Theaters, die ein Jahrmarktvergnügen von zweifelhafter Reputati5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 332.

I Einleitung

on in eine pädagogische Institution von beispielloser Wirkmächtigkeit und erstem gesellschaftlichen Rang zu verwandeln bestrebt ist.8 Die folgende Untersuchung wird sich in einem ersten Teil mit dieser Verwandlung auseinandersetzen, mit dem Prozess der aufklärerischen Theaterreform, die aus dem Theater, wie es Friedrich Schillers einschlägige Formulierung auf den Punkt bringt, eine ›moralische Anstalt‹ macht. Innerhalb dieses Prozesses, so gilt es zu zeigen, muss angesichts seines schlechten Rufes zu Beginn der Reform zunächst begründet werden, warum ausgerechnet das Theater geeignet sein soll, erzieherisch zu wirken. Außerdem muss geklärt werden, inwiefern es dies tut, welche Erziehungseffekte also hervorgerufen werden können. Schließlich muss festgelegt werden, welche Erziehungsinstanzen auf welche Weise dafür Sorge tragen, dass es diese Wirkungen auch tatsächlich hervorruft und seine Erziehungspflicht erfüllt: Autoren haben Stücke zu verfassen, die pädagogisch tauglich sind, das Publikum hat vor der Bühne eine Rezeptionshaltung einzunehmen, in der sich diese Tauglichkeit entfalten kann, was allerdings auch vom Agieren der Schauspieler auf und jenseits der Bühne abhängt. Das Theater ist also nicht einfach schon damit reformiert, dass man es zu einer Erziehungsinstitution erklärt, es muss vielmehr im Rahmen einer umfassenden Umstrukturierung dazu gemacht werden. Eine sehr reichhaltige Forschung zu dieser Umstrukturierung hat sich bisher mit dem Anliegen der Reform, einigen ihrer Protagonisten, ihren pädagogischen Ansprüchen, ihren Popularisierungs- und Diskussionsorganen sowie bestimmten Konsequenzen vor allem für ihre vermeintlich primären Adressaten vor der Bühne beschäftigt.9 An einige der Befunde anschließend, will die vorliegende Studie allerdings den Fokus dergestalt auf die Theaterreform verlagern, dass in den Blick gerät, was ihrem Vollzug zugrunde liegt, ihre Elemente in einer spezifischen Weise korreliert, mitunter überhaupt erst hervorbringt, so die Voraussetzungen für ein Theater als moralischer Anstalt schafft und sich zugleich in dieser Anstalt reproduziert. In 8 Vgl. II.1. 9 Vgl. neben zahlreichen, einzelne Aspekte fokussierenden Aufsätzen und Überblicksdarstellungen unter anderem die folgenden Monografien: Hilde Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert, Wien/München 1980; Roland Krebs: L’Idée de »Théâtre National« dans L’Allemagne des Lumières. Théorie et Réalisations, Wiesbaden 1985; Ruedi Graf: Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht, Tübingen 1992; Roland Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand, Berlin 1993; Rainer Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1995; Peter Heßelmann: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750-1800), Frankfurt a.M. 2002; Christopher J. Wild: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg i.Br. 2003; Franz-Josef Deiters: Die Entweltlichung der Bühne. Zur Mediologie des Theaters der klassischen Episteme, Berlin 2015.

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Das Maß und die Nützlichkeit

der aufklärerischen Theaterreform, im Zusammenspiel ihrer Begründungen, wirkungsästhetischen Überlegungen, formalen Abgrenzungen, Akteure und Funktionsstellen entfaltet sich, so die These, eine pädagogische Dynamik, die nicht nur die Reform als Prozess in Gang setzt und hält, sondern auch alle daran Beteiligten – Dichter, Kritiker, Schauspieler, Zuschauer – zu Erziehungsinstanzen macht, die ebenso in diesem Theater erziehen wie von ihm erzogen werden. Sie wirkt dabei gleichermaßen strukturierend, weil sie die Akteure des reformierten Theaters einander erziehend in Relation setzt, und strukturschaffend, weil sie sie als Erziehungsinstanzen allererst hervorbringt. Diese Dynamik wird im Folgenden als Pädagogisierung bezeichnet und der von ihr getragene Prozess, die aufklärerische Reform, im Hinblick auf eine Pädagogisierung des Theaters untersucht. Der Anspruch dieser Reform, das Theater auf eine pädagogische Funktion zu verpflichten, ebenso wie seine Ausbuchstabierung und die damit verbundene Zusammenstellung von Anforderungen und Erwartungen an Dramen und Dramatiker, Zuschauer und Schauspieler, werden in umfassenderen Werken wie Gottscheds Critischer Dichtkunst oder Lessings Hamburgischer Dramaturgie, aber auch und vor allem in zahllosen Abhandlungen, Artikeln, Kritiken und Rezensionen, von den moralischen Wochenschriften bis hin zu speziellen Theaterzeitschriften in der zweiten Jahrhunderthälfte formuliert und diskutiert. Im Theater selbst hält man es hingegen eher mit dem Arlekin aus Goethes Prolog.10 Zwar werden, wie im Falle von Clodius Medon in Leipzig, auch Stücke gegeben, die dem Theaterverständnis der Reform entsprechen. Sie machen aber bestenfalls einen Teil des Repertoires aus und stehen dort neben Harlekinaden, Balletten, Pantomimen und Singspielen, die im Zweifelsfall schlicht mehr Zuschauer anziehen.11 Der Absolutheitsanspruch der Reform setzt sich also weniger im Theater selbst als vielmehr in einer Rede über das Theater durch, die nicht beschreibt, wie das Theater wirklich ist, sondern erschreibt, wie es sein soll und dabei zugleich reguliert, was in dieser Hinsicht von wem auf welche Weise sagbar ist. Die aufklärerische Theaterreform vollzieht sich mit anderen Worten vornehmlich im Diskurs, vor allem aber als Diskurs. Dessen Analyse widmet sich die erste Hälfte der vorliegenden Arbeit hinsichtlich der hier konstatierten Pädagogisierung des Theaters. Dabei wird es zum einen um die Elemente dieses Diskurses gehen, seinen Gegenstand, seine Äußerungsmodalitäten, Begriffe und Themen; zum anderen um die Voraussetzungen, an diesem Diskurs zu partizipieren, seine Zugangsbeschränkungen und Ausschließungsverfahren. Analysiert wird die Theaterreform der Aufklärung also als »diskursive[] Formation«12 und 10 Besonders pointiert in dieser Hinsicht Erika Fischer-Lichte: Zur Einleitung, in: dies. und Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 11-20. 11 Vgl. Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, Tübingen 1982, S. 120-135. 12 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen, 16. Auflage Frankfurt a.M. 2013, S. 58. In der Analyse der aufklärerischen Theaterreform wird allerdings der Fokus stär-

I Einleitung

hinsichtlich ihrer diskursiven Ordnung, als der Art und Weise, wie »die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird«13 . Nimmt diese Analyse der aufklärerischen Theaterreform als diskursivem Phänomen ihren Ausgang von der Frage, welche Konsequenzen die Verpflichtung auf eine erzieherische Funktion für das Theater hat, dreht der zweite Teil dieser Arbeit die Fragestellung gewissermaßen um. Er untersucht die Rolle, die dieses pädagogisierte Theater für die Pädagogik spielt, das heißt für eine professionalisierte, sich akademisch und institutionell konsolidierende Theorie und Praxis der Erziehung, wie sie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Kontur gewinnt. Zunächst jedoch noch einmal zurück zum Studenten Goethe. Der Besuch der Vorstellung des Medon ist nämlich keinesfalls die erste Begegnung zwischen ihm und Clodius. Letzterer ist nicht nur Dramatiker, sondern auch Professor für Philosophie an der Leipziger Universität und unterrichtet dort zudem ein von Christian Fürchtegott Gellert übernommenes »Praktikum von der Poesie«14 , also eine Stilübung, an der auch Goethe teilnimmt. Allerdings nur mit geringem Erfolg. Ein von ihm zur Hochzeit seines Onkels verfasstes Gedicht etwa, vom dem er sich »[er]hoffte, seinem Lehrer doch auch einigen Beifall abzunötigen«15 wird von Clodius streng getadelt. Er bemängelt vor allem eine Unangemessenheit von Inhalt und Ausdruck im Bezug auf den Anlass und versichert, sich eigentlich noch zurückgehalten zu haben. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine seiner konstruktiveren Kritiken. Für gewöhnlich »kritisierte er nur das Einzelne, korrigierte gleichfalls mit roter Dinte, und man befand sich in Gesellschaft von lauter Fehlern, ohne eine Aussicht zu haben, worin das Rechte zu suchen sei?«16 Das eigentliche Problem dieses Unterrichts liegt jedoch nicht allein darin, dass es offensichtlich gar nicht so leicht ist, dort etwas zu lernen, sondern dass er die Bereitschaft dazu und damit in letzter Konsequenz seine eigenen Voraussetzungen zersetzt, weil er über das bloße Betonen und Markieren von Mängeln die Interessen, Motivationen und Tätigkeits-

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ker auf den Elementen dieser »diskursiven Formation« selbst liegen, ihren Anordnungen, »Korrelationen, Positionen und Abläufe[n], Transformationen«, und weniger auf den »Formationsregeln« als den »Existenzbedingungen« (ebd.), denen sie unterliegen. Vgl. dazu ausführlicher ebd., S. 31-112. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, 10. Auflage, Frankfurt a.M. 2007, S. 11. Anders als in der Archäologie des Wissens, in der Anliegen und Vorgehen der Analyse diskursiver Formationen erläutert werden, bringt Foucaults Antrittsvorlesung am Collège de France vor allem eine bestimmte Perspektive auf den Diskurs in Anschlag: Als »Gegenstand des Begehrens« und stärker machttheoretisch gedacht – »er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht« (ebd.) – stellt Foucault ihn in Beziehung zu den Prozeduren seiner Kontrolle. Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 281. Ebd., S. 329 Ebd., S. 328.

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Das Maß und die Nützlichkeit

impulse auf Seiten des Schülers still stellt, anstelle sie zu lenken. Der Unterricht also ist defizitär, weil pädagogisch dysfunktional. In den Worten Goethes: »Wenn ältere Personen recht pädagogisch verfahren wollten, so sollten sie einem jungen Manne etwas, was ihm Freude macht, es sei von welcher Art es wolle, weder verbieten noch verleiden, wenn sie nicht zu gleicher Zeit ihm etwas Anderes dafür einzusetzen hätten, oder unterzuschieben wüßten.«17 Auch an dieser Szene sind nicht so sehr die Enttäuschung eines Studenten über mangelnde Anerkennung seiner Leistungen oder die Strenge des Unterrichts das Entscheidende, sondern ebenfalls eine wesentliche Veränderung, auf die sie verweist: Perspektiviert die Aufklärung den Menschen grundsätzlich als ebenso erziehungsbedürftig wie erziehungsfähig18 – ohne eine solche Überzeugung wäre die ganze Reform des Theaters hinfällig –, setzt vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte eine kritische Reflexion bestehender Erziehungs- und Unterrichtsverhältnisse ein, die ihre privaten, häuslichen und öffentlichen, schulischen und sogar universitären Ausprägungen umfasst und zu verbessern sucht. Im Anschluss an die sich im Verlauf der Aufklärung einstellende Gewissheit, dass, ist schnell eine rege und umfangreiche Diskussion in Gange,19 wie ›pädagogisch recht zu verfahren‹ sei, und zwar bereits von Kindheit an. Eine entscheidende Rolle in dieser Diskussion, in der Veränderung bestimmter, als defizitär qualifizierter, weil der eigenen, pädagogischen Absicht zuwiderlaufender Unterrichtspraktiken, der gleichzeitigen Entwicklung neuer, als objektiv behaupteter Erziehungsgrundsätze und einer institutionellen Umsetzung kommt der Reformpädagogik des Philanthropismus zu. Mit einem der zentralen Protagonisten des Philanthropismus, Johann Bernhard Basedow, verbringt Goethe wenige Jahre später, 1774, einige Zeit in Frankfurt am Main und Ems. Basedow, ein Theologe, der lange Jahre an der dänischen Ritterakademie in Soroe und dem Altonaer Gymnasium unterrichtet hat, fällt dabei vor allem in zweierlei Hinsicht auf: durch ein unangemessenes und provozierendes Verhalten, »ohne das mindeste Gefühl wo er sich befinde« sowie durch den großen Elan, mit dem er »durch Gründe sowohl als durch eine leidenschaftliche Beredsamkeit« seine von ihm gleichermaßen bei jeder Gelegenheit vor den Kopf gestoßene Umgebung von der Wichtigkeit und Notwendigkeit einer »bessere[n] Erziehung der Jugend«20 überzeugt. Das tut er in einer ganz konkreten Absicht, denn 17 Ebd., S. 281. 18 Vgl. etwa Ulrich Herrmann: Aufklärung und Erziehung. Studien zur Funktion der Erziehung im Konstitutionsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland, Weinheim 1993. 19 Vgl. Niklas Luhmann, Karl Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt a.M. 1988, S. 116 sowie Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Herausgegeben von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M. 2002, S. 177f. 20 Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 674.

I Einleitung

Basedow sucht zu dieser Zeit finanzielle Unterstützer für, wie es Goethe nennt, »sein philanthropisches Unternehmen«21 . Nachdem er seit Ende der 1760er Jahre auf programmatischer Ebene eine Verbesserung bestehender Schul- und Unterrichtsverhältnisse gefordert und Anleitungen zur praktischen Umsetzung seiner pädagogischen Ansichten verfasst hat, die im vierbändigen, 1774 veröffentlichten Elementarwerk gipfeln, eröffnet er im gleichen Jahr, unter maßgeblicher Förderung des Fürsten Leopold III. von Anhalt in Dessau das Philanthropin. Es ist das erste nach der Programmatik des Philanthropismus eingerichtete Erziehungsinstitut, das zugleich als Keimzelle einer umfassenden Reform des Erziehungs- und Schulwesens und als pädagogischer Experimentalraum für die dazu notwendigen, praktischen An- und theoretischen Grundsätze konzipiert ist.22 Hier leben Zöglinge und Erzieher in einem familiären Rahmen zusammen, in dem nicht auf Zwang, Drill und Züchtigung, sondern auf Vertrauen, Gewöhnung und Einsicht gesetzt wird. Inhaltlich geht es weniger um die Vermittlung gelehrten, sondern eines nützlichen, lebenspraktischen Wissens, das, ebenso wie eine im Zentrum der pädagogischen Bemühungen stehende, sittliche Erziehung, auf die Hervorbringung von brauchbaren Mitgliedern einer bürgerlich gesinnten Gesellschaft zielt. In den knapp zwanzig Jahren seines Bestehens leben, erziehen und unterrichten am Philanthropin neben Basedow unter anderem Joachim Heinrich Campe, Ernst Christian Trapp und Christian Gotthilf Salzmann und damit wesentliche Akteure der »Verfachlichung«23 und weiteren Institutionalisierung24 einer professionellen, theoretisch und methodisch fundierten Pädagogik: Campe tritt nach seiner Zeit am Philanthropin nicht nur als erfolgreicher Jugendschriftsteller in Erscheinung, sondern auch mit der von ihm herausgegebenen, 16bändigen Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens (1785-1792), die, von einer Gesellschaft praktischer Erzieher mit wissenschaftlichem Anspruch unternommen, eine Bestandsaufnahme und Systematisierung pädagogischen Wissens zu leisten bean21 Ebd., S. 670. 22 Vgl. zu Basedow Klaus Bleeck: J. B. Basedows pädagogische Konzepte, in: Manfred Beetz, Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 237-252; zum Dessauer Philanthropin, seiner Geschichte, Konzeption und Einrichtung Jörn Garber (Hg.): »Die Stammutter aller guten Schulen«. Das Dessauer Philanthropinum und der deutsche Philanthropismus 1774-1793, Tübingen 2008; Dietrich Benner/Herwart Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus, Weinheim und Basel 2001, S. 87-136. 23 Heinz-Elmar Tenorth: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, Weinheim und München 5 2010, S. 106. 24 Vgl. Susanne Düwell: »Gebietet ihm nie Etwas […]. Er wisse nur, daß er schwach und daß ihr stark seyd«. Institutionalisierung der Pädagogik und Rousseaurezeption im Philanthropismus, in: Metin Genç, Christof Hamann (Hg.): Institutionen der Pädagogik. Studien zur Kultur- und Mediengeschichte ihrer ästhetischen Formierungen, Würzburg 2016, S. 87-109.

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Das Maß und die Nützlichkeit

sprucht.25 Trapp, der sich mit seinem Versuch einer Pädagogik (1780) ebenfalls einer theoretischen Fundierung des Erziehung widmet,26 wird 1779 an die Universität Halle berufen, als erster Inhaber des neu geschaffenen Lehrstuhls für Pädagogik und Philosophie und Direktor eines an diesen Lehrstuhl angeschlossenen Erziehungsinstituts, das sich ausschließlich der Lehrerausbildung widmet. Salzmann, der wie Campe auch als Verfasser von Kinder- und Jugendliteratur sowie pädagogischen Anleitungen und Ratgebern in Erscheinung tritt, gründet 1784 in Schnepfenthal das neben dem Dessauer Philanthropin bekannteste und langlebigste philanthropistische Erziehungsinstitut.27 Der Philanthropismus, der am Beginn umfassender Theoretisierungsbestrebungen der Erziehung, ihrer Professionalisierung, einer methodisch flankierten pädagogischen Praxis bei gleichzeitiger Etablierung der Pädagogik als wissenschaftlicher Disziplin und damit der Ausdifferenzierung eines Erziehungssystems28 steht, soll im Folgenden hinsichtlich eines für alle diese Punkte wesentlichen Einflusses untersucht werden. Die These ist, dass die aufklärerische Reformpädagogik in ihrer Theoriebildung, Praxis, Methodik, deren Präsentation und Diskussion von einem Theater geprägt wird, wie es dessen Reform im Laufe des Jahrhunderts hervorbringt. Für die »Professionalisierung, Verwissenschaftlichung und Verfachlichung der Pädagogik«29 liefert dieses selbst zu einer Erziehungsinstitution ausdifferenzierte, literaturbasierte und regelmäßige Theater ein Darstellungs-, Sichtbarkeits- Konfigurations- und Textmodell. Dies zeigt sich hinsichtlich der Tätigkeit des Erziehers, seiner Interaktion mit dem Zögling,30 25 Vgl. Christa Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes »Allgemeine Revision« im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft, Weinheim 1992. Was Kersting mit Bezug auf das Revisionswerk konstatiert, gilt zweifellos für die rege Publikationstätigkeit der Philanthropisten insgesamt: Sie zielt auf eine »Organisation des pädagogischen Diskurses« (ebd., S. 71). 26 Niklas Luhmann zufolge ist Trapps Versuch »der beste Ausgangspunkt«, um »die Theorie der Philanthropie« zu »entdecken« (Niklas Luhman: Theoriesubstitution in der Erziehungs‐wissenschaft: Von der Philanthropie zum Neuhumanismus, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 105-194, hier: S. 128). Die Notwendigkeit und Problematik einer theoretischen Fundierung reflektieren die Philanthropisten etwa zur gleichen Zeit allerdings auch und ausgiebig in den Pädagogischen Unterhandlungen, dem von 1777-1784 erscheinenden Publikationsorgan des Dessauer Philanthropins. Diese noch wenig erforschte Zeitschrift ist einer der wesentlichen Referenzpunkte der vorliegenden Untersuchung. 27 Vgl. Benner, Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, S. 137-187. 28 Vgl. Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 111-141. 29 Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert, S. 71. 30 Herwig Blankertz betont, dass sich diese Kategorien – Erzieher und Zögling – in einer über schulischen Unterricht hinausgehenden Pädagogik etablieren und als Instanzen pädagogischer Interaktion an die Stelle von Lehrern und Schülern rücken, vgl. Die utilitaristische Berufsbildungstheorie der Aufklärungspädagogik, in: Ulrich Herrmann (Hg.): »Das pädagogische Jahrhundert«. Volksaufklärung und Erziehung zur Armut im 18. Jahrhundert in Deutschland, Weinheim

I Einleitung

der wo möglich ineinander übergehenden Unterrichts- und Freizeitgestaltung an den Reformschulen, der philanthropistischen Methodik sowie den Abhandlungen und Aufsätzen, in denen diese Aspekte verhandelt werden. Mit den verschiedenen Bezugnahmen auf das Theater, die sich hier ausmachen lassen, befasst sich der zweite Teil der vorliegenden Arbeit. Im Anschluss an die Pädagogisierung des Theaters untersucht sie mit anderen Worten die Theatralisierung der Pädagogik und damit die Verschränkung der beiden großen Erziehungsprojekte des 18. Jahrhunderts.

2   Das Maß und die Nützlichkeit Was das Theater als moralische Anstalt und die Pädagogik des Philanthropismus neben ihrer strukturellen Verwandtschaft als groß angelegte Reformprojekte bestehender Theater- und Erziehungsverhältnisse verbindet, sind die für die vorliegende Arbeit titelgebenden Kategorien: das Maß und die Nützlichkeit. Sie sind die wesentlichen Referenzen beider Reformen hinsichtlich ihrer Legitimation, ihrer und Basel 1981, S. 247-270, hier: S. 247f. Vgl. hinsichtlich der Relationierung von Erzieher und Lehrer in der Reformpädagogik III.3.1. Tatsächlich wird im Rahmen der Theaterreform noch vornehmlich von Lehrern, Schule und Unterricht gesprochen, in der Forschung – auch in der vorliegenden Arbeit – hingegen im Bezug auf die gleichen Sachverhalte, Arrangements und Aufgaben mitunter auch von Erziehung und Erziehern. Das ist insofern nicht unstimmig, als das erstens Unterricht als Übertragung von »Erziehungsleistungen« (Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 102) in einem schulischen Rahmen begriffen werden kann (vgl. ebd.); zweitens das, was die Theaterreform beabsichtigt, Erziehung ist, im Sinne einer »Änderung von Personen durch eine darauf spezialisierte Kommunikation.« (Niklas Luhmann: Das Kind als Medium der Erziehung, in: ders.: Schriften zur Pädagogik. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M. 2004, S. 159-186, hier: S. 159.) Drittens werden die Begriffe auch zeitgenössisch an einschlägigen Stellen differenzlos gebraucht. Etwa in Rousseaus Emile, einem der wichtigsten Impulsgeber für die Reformpädagogik (vgl. III.1): »Jeder von uns wird also durch drei Arten von Lehrmeistern gebildet: Der Schüler, in dem sich ihre verschiedenen Lehren widerstreiten, ist schlecht erzogen […]. Derjenige, bei dem es keine inneren Widersprüche gibt, wo alles auf ein Ziel ausgerichtet ist, ist der einzige, der sein Ziel erreicht und konsequent lebt. Er allein ist richtig erzogen.« (Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung. Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martin Rang. Unter Mitarbeit des Herausgebers aus dem Französischen übertragen von Eleonore Sckommodau, Stuttgart 2009, S. 109) Ein anderes Beispiel geben Wilhem Meisters Lehrjahre: »[N]icht vor Irrtum zu bewahren, ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den irrenden leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschlurfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer.« (Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel et al. I. Abteilung: Sämtliche Werke, Band 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Herausgegeben von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp, Frankfurt a.M. 1992, S. 355-992, hier: S. 873)

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Ziele sowie der dazu eingesetzten Mittel. Als rote Fäden ziehen sie sich in beiden Teilen dieser Arbeit durch eine Analyse, die diesbezüglich gleichermaßen die jeweiligen Spezifika, wie die Gemeinsamkeiten und Überschneidungen der Theaterreform und der Reformpädagogik erfassen möchte. Umgekehrt bestätigt diese Analyse so nicht nur dass, sondern zeigt vor allem auf, inwiefern das Maß und die Nützlichkeit »Schlüsselbegriffe[]«31 der Aufklärung sind. Sie prägen das im Zeichen von Aufklärung stehende Denken, Handlungs- und Verhaltensnormen ebenso wie die ästhetischen Debatten der Zeit, etablieren und organisieren einen Bezug zwischen beiden Bereichen, setzen also Kunst und Gesellschaft in eine Relation, die idealtypisch im reformierten Theater und der daran anschließenden Reformpädagogik ausbuchstabiert wird: Kunst, in diesem Falle Literatur und Theater, legitimiert sich über den Ausweis ihrer Nützlichkeit, das heißt hier erzieherischer Effekte, die auf ein sittliches und angemessenes, weil maßvolles und gemäßigtes Betragen und Interagieren in einem darüber definierten und stabilisierten sozialen Raum zielen. Die Zentralstellung der Nützlichkeit lässt sich besonders pointiert anhand ihrer ab Ende des Jahrhunderts verstärkt einsetzenden Kritik ablesen. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in den 1820er Jahren bemängelt Hegel retrospektiv ein in der Aufklärung vorherrschendes »Prinzip der Nützlichkeit«, auf das die Dinge festgeschrieben und anhand dessen ihre Zusammenhänge und Bezüge perspektiviert werden, im Rahmen einer selbst bereits minderwertigen philosophischen Behandlung im Gefolge des Wolffianismus: »Die Nützlichkeit als das Wesen der seienden Dinge ist, daß sie bestimmt werden als nicht an sich, sondern für Anderes seiend, – ein notwendiges Moment, aber nicht das einzige. Die philosophischen Untersuchungen hierüber waren zu einer Mattigkeit der Popularität heruntergesunken, die nicht tiefer stehen konnte.«32 Ein solches Prinzip kommt nicht allein in philosophischen Untersuchungen zum Ausdruck, sondern prägt zunehmend das gesamte zeitgenössische Verständnis der Wissenschaften, die ihre Nützlichkeit gegenüber einer als nutzlos abgewerteten Gelehrsamkeit behaupten.33 Vor allem aber, das diagnostiziert Schiller in der um31 Werner Schneiders: Nutzen, in: ders. (Hg.) Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995, S. 291-292, hier: S. 291. Was Schneiders für den synonym mit Nützlichkeit gebrauchten Begriff Nutzen feststellt, gilt ebenso für das Maß. 32 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, hier: Band 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Frankfurt a.M. 1986, S. 308 und 310. 33 Vgl. David Kaldewey: Wahrheit und Nützlichkeit. Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Relevanz, Bielefeld 2013, S. 282-294. Kaldewey zeigt hier auf, wie der »Praxisdiskurs der Aufklärung und mit ihm der emphatische Utilitarismus des 18. Jahrhunderts« (ebd., S. 294) maßgeblich zur Ablösung einer »Semantik der Gelehrsamkeit durch die Semantik der Wissenschaft« (ebd., S. 283f.) beitragen, die sich zunächst »in einer Idee

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fassenden Kulturkritik, die er Ende des 18. Jahrhunderts in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen entfaltet und die überhaupt erst das Projekt einer solchen Erziehung motiviert, hat es ganz konkrete gesellschaftliche Auswirkungen. An den sozialen, zwischenmenschlichen, kulturellen und politischen Deformationen, die er in den ersten neun Briefen konstatiert, und die alle gemeinsam haben, dass sie aus Vereinseitigungen und Asymmetrien in der »sinnlich‐vernünftigen Natur«34 des Menschen resultieren, gibt Schiller der Aufklärung eine dezidierte Mitschuld: »Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbniß durch Maximen befestigt.«35 Sie führt nämlich zu einer »Verselbstständigung der Vernunft gegenüber der Sinnlichkeit«, was »in einer nur mehr instrumentellen Vernunft [resultiert]«36 , die Gesellschaft nach dem Primat der Nützlichkeit ordnet und ihr damit das wesentliche, mit totalitärem Anspruch auftretende Kriterium des Verhaltens und Agierens vorgibt: »Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen.«37 Wichtiger als Hegels Philosophie- und Schillers Kulturkritik ist für diese Arbeit allerdings die ihr jeweils zugrundeliegende Beobachtung: »Nützlichkeitsdenken [als] ein praktisch‐funktionales Denken«38 prägt die Aufklärung. Es gilt ihr jedoch keinesfalls als Index einer Fehlentwicklung, sondern, im Gegenteil, als Grundlage einer Verbesserung: Eine »Erkänntniß [wird] nützlich genennet,« schreibt etwa Wolff, »wenn sie die Bequemlichkeit des menschlichen Lebens befördert«39 , Die vor allem anfangs an Wolffs Philosophie anschließende Theaterreform wiederum legitimiert sich über die behauptete Nützlichkeit einer erzieherisch wirksamen Schaubühne, und die Reformpädagogik erklärt sie darüber hinausgehend noch zu ihrem Erziehungsziel: Von Gottsched bis Schiller – der, um im Bilde zu bleiben, an anderer, ebenfalls einschlägiger Stelle selbst nicht zu knapp dem in den Briefen

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der nützlichen Universität« (ebd., S. 284) niederschlägt, die wiederum um 1800 rapide von einem durch Neuhumanismus und Idealismus gespeisten Universitätsverständnis verdrängt wird. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 8: Theoretische Schriften. Herausgegeben von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt a.M. 1992, S. 556-676, hier: 11. Brief, S. 595. Ebd., 5. Brief, S. 568f. Juliane Rebentisch: Demokratie und Theater, in: Felix Ensslin (Hg.): Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute, Berlin, 2006, S. 71-81, hier: S. 72. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 2. Brief, S. 559. Schneiders: Nutzen, S. 291. Christian Wolff: Gesammelte Werke, I. Abteilung. Deutsche Schriften Band 1: Vernünfftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. Herausgegeben und bearbeitet von Hans Werner Arndt, Hildesheim/New York 1983, § 18, S. 218.

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verworfenen Idol ›huldigt‹ – beruhen die Überlegungen auf der Überzeugung einer »Nutzbarkeit der Trauerspiele« und der »Schauspiele überhaupt«40 ; die Philanthropisten wiederum kommen grundsätzlich darüber ein, dass die »Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei«41 . Jenseits von Philosophie, Kunst und Wissenschaft ist Nützlichkeit außerdem auf einer ganz alltäglichen Ebene präsent, als Kriterium gelingender Interaktion: »[W]enn wir uns nach der Leute Gewohnheit richten, so machen wir uns ihnen gefällig, und befördern durch ihre Gunst unsern Nutzen«42 , heißt es in Zedlers Universal-Lexicon im Artikel Wohlanständigkeit. Die Wohlanständigkeit wiederum führt zum zweiten der genannten Schlüsselbegriffe, dem Maß: Sie bezeichnet ein vollständig ins Sozialverhalten transponiertes aptum oder decorum, das als Kategorie traditionell eine rhetorische, ethische und poetologische Dimension zusammenführt.43 Von hier aus lassen sich die in allen drei Bereichen wichtige Rolle des Maßes und ihr Niederschlag im 18. Jahrhundert nachverfolgen, dessen jeweilige Varianten dort das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft im Gefüge von Rhetorik, Ethik und Poetik mitbestimmen. In der Rhetorik reguliert das decorum das Zusammenspiel aller Elemente der Redesituation und sorgt dafür, dass sie angemessen aufeinander abgestimmt sind: »Der Redner muss aber den Gesichtspunkt der Angemessenheit nicht nur bezüglich des sprachlichen Ausdrucks beachten. Denn nicht jede Lebensstellung, nicht jedes Ehrenamt, nicht jede Autorität, nicht jedes Lebensalter, aber auch nicht jeder Ort, jeder Zeitpunkt, jedes Publikum ist mit derselben Art von Worten oder von Gedanken zu behandeln, und in jedem Abschnitt der Rede wie des Lebens ist zu beachten, was sich ziemt; das hängt zum einen von der Sache ab, um die es geht, zum andern von der Person sowohl derjenigen, die reden, als auch derer, die zuhören.«44

40 Johann Christoph Gottsched: Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen, in: ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von P. M. Mitchell. Neunter Band, Zweiter Teil: Gesammelte Reden, bearbeitet von Rosemary Scholl, Berlin, New York 1976, 492-500, hier: S. 493. 41 Peter Villaume: Ob und inwiefern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei?, in: Allgemeine Revision des gesammten Schul= und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Dritter Theil. Herausgegeben von Joachim Heinrich Campe, Hamburg 1785, S. 435-616. 42 Art. Wohlanständigkeit, in: Johann Heinrich Zedlers grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Band 58, Wo-Woq, Leipzig und Halle 1748, S. 82-92, hier: S. 84. 43 Vgl. für eine Übersicht Bernhard Asmuth: Angemessenheit, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 1: A-Bib, Tübingen 1992, S. 579-604. 44 Marcus Tullius Cicero: Orator. Der Redner. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Harald Merklin, Stuttgart, 2004, 21, 71.

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Was angemessen ist, bestimmen also größtenteils gesellschaftliche Konventionen. Quintilian, der Ciceros eher knapp gehaltene Anmerkungen zum decorum beziehungsweise, wie es bei ihm vornehmlich heißt, aptum weiter ausbuchstabiert, betont, »daß erst derjenige passend redet [dicere apte], der nicht nur im Auge behält, was nützlicher sei, sondern auch, was sich gezieme [quid deceat].«45 Wenn er in diesem Zusammenhang feststellt: »was sich ziemt, nützt gewöhnlich«46 , zeigt sich, dass hier durchaus kein Gegensatz markiert, sondern ein Zusammenhang von sozialen Codes und Normen mit erfolgreicher Kommunikation adressiert wird, den das 18. Jahrhundert in der Wohlanständigkeit aktualisiert, die dabei jedoch noch expliziter als »Mittel«47 bestimmt wird, Leute in besagtem Sinne gewogen und die Interaktion nutzbringend zu machen. Die »Norm des Wohlstandes« legen hier »die Mode und die Gewohnheit derjenigen Menschen [fest], die in einerley Stande mit uns leben.«48 Sie umfasst das »äusserliche, womit sich jemand den Augen anderer darstellen muß«, zeigt sich »in der Rede, in der Bewegung des Leibes, in den Geberden, in der Kleidung, und andern äusserlichen Umständen mehr.«49 Besonderes Augenmerk liegt dabei, der rhetorischen Tradition entsprechend, auf der Rede, deren Gegenstände von Zeitpunkt, Ort und Gegenüber bestimmt werden, was insofern zugleich von der Norm abweicht, als »daß man bey Erwehlung der Materien, davon man reden will, sich lieber nach denjenigen, mit denen man redet, als nach sich und seines gleichens richtet.«50 In der sich vom rhetorischen decorum herleitenden Wohlanständigkeit treffen sich also das Maß im Sinne eines angemessenen Verhaltens und die Nützlichkeit als dessen Folge. Ihr Zusammenspiel bestimmt die alltägliche soziale Interaktion. In der Rhetorik ist für den Redeerfolg jedoch nicht nur entscheidend, wer wann wo vor wem was sagt, sondern auch wie dies gesagt wird, wie Quintilian mit Bezug auf den Einsatz des ornatus betont: Der Redeschmuck wird, »falls er den Gegenständen und Personen der Rede nicht angemessen ist, die Rede nicht nur nicht besser zur Geltung bringen, sondern sie sogar entwerten und die Kraft der Gedanken, die sie enthält, gegen sie selbst richten.«51 Aristoteles, auf dessen Ausführungen sich wiederum die römische Rhetorik bezieht, hält den Einsatz von Redeschmuck dann für angemessen, wenn er einem »Mittelweg« folgt: »Die Ausführungen werden den 45 Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis Oratoriae. Libri XII/Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, herausgegeben und übersetzt von Helmut Rahn. Zweiter Teil, Buch VII-XII, Darmstadt 1975, hier: XI 1, 8. 46 Ebd. 47 Zedler: Wohlanständigkeit, S. 84. 48 Ebd., S. 85. 49 Ebd., S. 84. 50 Ebd. Basedows Verhalten, wie es Goethe beschreibt, ist in dieser und manch anderer Hinsicht eine Verletzung der Wohlanständigkeit. 51 Quint. Inst. XI 1, 2.

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sprachlichen Ausdruck gefällig machen, wenn er auf einer rechten Mischung beruht: aus Herkömmlichem und Fremdem«.52 Diesen Maßstab legt er jedoch nicht nur der Gestaltung der Rede, sondern auch der des Verhaltens zugrunde. Was in der Rhetorik den angemessenen Gebrauch des Redeschmucks bestimmt, definiert in der Nikomachischen Ethik die Struktur der Tugend: eine Mitte, die zwischen zwei Extremen liegt. Dies »betrifft die Leidenschaften und Handlungen, bei welchen das Übermaß ein Fehler ist und der Mangel tadelnswert, die Mitte aber das Richtige trifft und gelobt wird. Und diese beiden Dinge kennzeichnen die Tugend. So ist die Tugend also ein Mittelmaß, sofern sie auf die Mitte zielt.«53 Verwandt mit der rhetorischen Angemessenheit ist dieses Mittelmaß jedoch nicht nur hinsichtlich seiner Struktur, sondern auch hinsichtlich seiner Relativität. Zum einen, weil die Mitte nicht für alle Menschen die gleiche ist: »Die Mitte im Bezug auf uns ist das, was weder Übermaß noch Mangel aufweist; dieses ist nicht eines und nicht für alle Menschen dasselbe.« (NE, 1106a) Zum anderen, weil für diese je individuelle Mitte auch äußere Faktoren relevant sind und sie von Situation zu Situation variieren kann:54 »So kann man mehr oder weniger Angst empfinden oder Mut, Begierde, Zorn, Mitleid und überhaupt Freude und Schmerz, und beides auf eine unrichtige Art; dagegen es zu tun, wann man soll und wobei man es soll und wem gegenüber und wozu und wie, das ist die Mitte und das Beste, und dies kennzeichnet die Tugend.« (NE, 1106b) Im 18. Jahrhundert findet sich die aristotelische mesótes-Lehre in einer Reihe von zeittypischen und -charakteristischen Diskursen wieder. Sie prägt die frühe Anthropologie der 1740er und 50er Jahre, hinsichtlich ihres Umgangs mit den menschlichen Affekten und ihrer Perspektivierung des Menschen insgesamt.55 In der Emp52 Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stuttgart 2010, 1414a. 53 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Olof Gigon, München 8 2010, 1106b. Im Folgenden unter der Sigle NE im Text zitiert. 54 »The Classical golden mean«, schreibt Paul Fleming, »differs, however, not only from person to person but also from situation zu situation. One does not have a fixed, lifelong average; rather, the mean constitutes a moving target thats shifts in each new context« (Paul Fleming: Exemplarity and Mediocrity. The Art of the Average from Bourgeois Tragedy to Realism, Stanford 2009, S. 19). Vgl. zur aristotelischen mesótes-Lehre ausführlicher ebd., S. 19-21. 55 Vgl. Carsten Zelle: Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß: Die Stellung von Unzer, Krüger und E. A. Nicolai in der anthropologischen Wende um 1750 (mit einem Exkurs über ein Lehrgedichtfragment Moses Mendelsohns), in: Jörn Steigerwald und Daniela Watzke (Hg.): Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeital-

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findsamkeit entfaltet sie sich in einer literarischen »Rhetorik der Mitte«, die deren »durchaus aufklärerischen Ausgleichsbestrebungen« verpflichtet ist und in der sich »Ethik und Ästhetik, Tugendbotschaft und Unterhaltung«56 treffen, mithin also das horazische Diktum des prodesse et delectare realisiert werden soll. Beide Aspekte, Affekttemperierung und unterhaltsam kaschierte Erziehung, kommen in der wohl einschlägigsten Aktualisierung der mesótes-Lehre zusammen: Lessings Katharsisdeutung in der Hamburgischen Dramaturgie.57 In der Poetik, namentlich bei Horaz, wird hingegen das Mittelmaß ausdrücklich abgelehnt. Es disqualifiziert den Dichter und seine Arbeit: »Mittelmäßigkeit haben den Dichtern nicht die Menschen und nicht die Götter noch die Ausstellungspfeiler [gemeint sind die Buchhändler – AW] erlaubt.«58 Hier gibt es keinerlei Graduierung. Ist Dichtung nicht von herausragender, ist sie von gar keiner Qualität: »[F]alls sie auch nur wenig hinter dem Höchsten zurückbleibt, sinkt sie zur Tiefe.«59 Ist das Maß im Sinne eines Mittelmaßes in der Poetik unzulässig, spielt es im Sinne der Angemessenheit jedoch eine umso gewichtigere Rolle. Was nämlich Dichtung mittelmäßig zu machen droht, sind nicht zuletzt Verletzungen des aptum. Horaz beginnt seine Ausführungen mit einer Reihe von Verfehlungen, die ein Dichter in dieser Hinsicht begehen kann. Sei es, »daß nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören«, dass »an gewichtige Anfänge und große Versprechen hier und da ein Lappen von Purpur, daß weithin er leuchte, angeflickt«, für ein Element »nicht der richtige Platz« gewählt wird, oder man »ein einzelnes Thema verschwenderisch auszugestalten begehrt«60 – Angemessenheit ist dem Dichter auf Ebene des Inhalts, der Ordnung und der sprachlichen Form geboten. Um entsprechende Fehler zu vermeiden, rät Horaz, dem je individuellen dichterischen Vermögen angemessene Themen zu wählen, also Fähigkeit und Stoff aufeinander abzustimmen: »Nehmt, die ihr schreibt, einen Stoff, für den eure Kräfte genügen, und wägt lange ab, was eure Schultern verweigern, was sie zu tragen vermögen.

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ter (1680-1830), Würzburg 2003, S. 203-224, insbes. S. 214-216. »[D]as Konzept der Mittellage«, so Zelle, »prägt […] nicht nur die Ordnungsvorstellung der Sinnes- und Affektmodellierung, es gliedert vielmehr die Gesamtstruktur der Anthropologie um 1750, insofern der Mensch als ein Mischwesen aufgefasst wird, das zwischen den Extremen von (körperlosem) Engel und (seelenlosem) Tier in der Mitte steht.« (Ebd., S. 216) Antje Arnold: Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin/Boston 2012, S. 48 und 52. Vgl. zur Aktualisierung des mesótes-Lehre im Sinne einer Rhetorik der Mitte ebd., S. 45-53. Vgl. dazu ausführlicher II.2.2.2. Horaz: Ars poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Eckart Schäfer, Stuttgart 2002, S. 27f. [V. 372-373]. Vgl. zur mediocritas bei Horaz ausführlicher Fleming: Exemplarity & Mediocrity, S. 21-28. Ebd., S. 29 [V. 378]. Ebd., S. 5 und 7 [V. 8, 14-16, 19, 29].

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Wer seinem Können gemäß sich das Thema gewählt hat, dem wird es nicht an sprachlicher Kraft und lichtvoller Anordnung fehlen.«61 Dass das aptum auch eine poetologische Kategorie ist, wird ebenfalls von rhetorischer Seite unterstrichen: »Aus Unkenntnis in diesem Punkt macht man nicht nur im Leben, sondern sehr häufig auch in Dichtungen und in der Rede Fehler.«62 Aus Sicht der Rhetoriker, denen es im Kern um das wirkungsorientierte Auftreten von Menschen vor Menschen geht, liegt der Fokus des dichterischen aptum auf der Stimmigkeit der Figuren, die sich wiederum vornehmlich in ihrer Sprache und Sprechweise unter Beweis stellt: Ein Dichter begeht einen Fehler, »falls er die Rede eines Ehrenmannes einem Schurken in den Mund legt oder einem Dummen die eines Weisen«63 . Darauf haben in besonderem Maße diejenigen Dichter zu achten, deren Menschendarstellung hauptsächlich über das Sprechen und die gesprochene Sprache verläuft:64 »Größer noch ist die Aufmerksamkeit, die die Tragödien- und Komödiendichter den Personendarstellungen widmen; denn sie stellen ja viele und zwar ganz unterschiedliche dar.«65 Auch an diese poetologische Variante des Maßes und die hier zusammenlaufenden Aspekte wird im 18. Jahrhundert angeknüpft. Horaz ist hier neben Aristoteles der wichtigste Gewährsmann in Fragen der Poetik. Gottsched übersetzt die ars poetica und setzt sie an den Anfang seiner Critischen Dichtkunst. Von Horaz wird der Anspruch des prodesse et delectare abgeleitet, eine Verknüpfung, die auch in die Argumentation der Theaterreformer hineinspielt, die allerdings das delectare des Theaters als Mittel zum Zweck des prodesse funktionalisieren.66 Zudem taucht vieles von dem, was hinsichtlich der Angemessenheit in der Dichtung festgehalten wird, in der Forderung nach Wahrscheinlichkeit und der damit korrespondierenden Disqualifikation von als unwahrscheinlich gebrandmarkten Darstellungen auf.67 Dies betrifft den Zusammenhang der dargestellten Dinge, das Verhältnis von Ursachen und Wirkungen, vor allem aber auch hier die Stimmigkeit von Figuren, deren Sprache und Agieren ebenso zusammen wie zu ihrer jeweiligen Situation passen und dabei zunehmend psychologische Impulse und Dynamiken angemessen zum Ausdruck bringen müssen.68 Das Maß, wie bereits diese knappe Übersicht verdeutlicht, ist ein zentrales Element der Rhetorik, der Ethik und der Poetik. Es prägt mit anderen Worten die

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Ebd., S. 7 [V. 38-41]. Cic. Or., 21, 70. Ebd., 22, 74. Vgl. III.5. Quint. inst. XI 1, 38. Vgl. II.2.1. Vgl. II.4.1. Vgl. II.4.

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drei Bereiche, aus denen sich unter Rückgriff auf die antike Tradition das Literaturverständnis der Aufklärung speist, dessen funktionale Perspektive wiederum dem zeitgenössischen Nützlichkeitsdenken entspricht. Dieses Denken schlägt sich ebenso in einem angemessenheitsorientierten Sozialverhalten und – was zu zeigen sein wird – dem diesem Verhalten zugrunde liegenden Normen- und Wertegefüge nieder, in dessen Zentrum seinerseits mittleres Maß und Mäßigkeit stehen.69 Diesem und den bereits skizzierten Aspekten des Maßes und der Nützlichkeit sowie ihres Zusammenspiels in den groß angelegten Reformen des Theaters und des Erziehungswesens wird in den folgenden Kapiteln vertiefend nachgegangen. Beide Reformen vollziehen sich zudem im Koordinatensystem einer Reihe weiterer, das Jahrhundert prägender Fragestellungen und Entwicklungen. Sie spielen in die Ausdifferenzierungen der moralischen Anstalt als theatraler Erziehungsinstitution und der institutionalisierten Pädagogik des Philanthropismus ebenso hinein, wie umgekehrt Theater und Pädagogik an ihrer Verhandlung beteiligt sind und zu ihrer Konturierung beitragen. Theaterreform und Reformpädagogik fallen mitten in die Zeit, die Rüdiger Campe als »Epoche der Evidenz« bezeichnet hat.70 Zwischen Mitte des 17. und Ende des 18. Jahrhunderts, so argumentiert Campe, wird Evidenz zunehmend in Frage gestellt: erkenntnistheoretisch, hinsichtlich ihrer »Rolle […] für das Wissen und seine institutionellen Formen« sowie rhetorisch-ästhetisch, hinsichtlich »ihrer Präsenzform«, also der Art und Weise, »wie Evidenz sich zeigt«71 . Als eine solche Präsenzform wird das Theater von philosophischer Seite, namentlich von Christian Wolff, aus- und stark gemacht. Damit ist die Grundlage seiner Pädagogisierung gelegt, denn in Folge seiner evidentiellen eignet dem Theater eine erzieherische Qualität. Dessen pädagogische Funktionalisierung rührt also von der Tatsache her, dass es dort etwas zu sehen gibt und dass dieses etwas, weil es unmittelbar vor Augen gestellt, in besonders nachhaltiger Weise vom Anschauenden aufgenommen wird. Evidenz wird so zur Voraussetzung von Erziehung. An diese Kopplung schließt die Reformpädagogik an, die ihren Unterricht anschaulich, in möglichst unmittelbarem Kontakt mit den zu vermittelnden Gegenständen einzurichten versucht und abstrakte Erziehungsinhalte – sittliches Verhalten, Normen und Werte – exemplifiziert, das heißt vor allem von einem dauerhaft präsenten Erzieher nachahmungsfreundlich vorleben lässt.72 Das hängt eng mit einer zweiten, wesentlichen Kopplung zusammen, die sich im Erziehungsdenken der Aufklärung nachzeichnen lässt: Denn dieser evidenzpro69 Vgl. III.1. 70 Vgl. Rüdiger Campe: Epoche der Evidenz. Knoten in einem terminologischen Netzwerk zwischen Descartes und Kant, in: Sibylle Peters, Martin Jörg Schäfer (Hg.): »Intellektuelle Anschauung«. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 25-43. 71 Ebd., S. 28. 72 Vgl. III.3.

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duzierende Erzieher wird umgekehrt seine Zöglinge minutiös beobachten. Diese Beobachtung ermöglicht eine Vermessung ihres je individuellen Erziehungsstandes, auf den die Erziehung dann adäquat reagieren kann. Das Zusammentragen solcher einzelner Zöglingsbeobachtungen dient zugleich der Generierung eines doppelten pädagogischen Wissens: zum einen hinsichtlich objektiver Erziehungsgrundsätze, deren tatsächliche Tauglichkeit in einer wechselseitigen Konturierung von Erziehungstheorie und -praxis stets neu validiert werden muss; zum anderen hinsichtlich der Kindheit als eigener und eigenwertiger Lebensphase.73 In diesem zweiten Sinne wird der Zögling als Kind Gegenstand eines beobachtungsbasierten, empirisch zu erhebenden, anthropologischen Spezialwissens. Für die Erhebung dieses Wissens, so soll hier aufgezeigt werden, kommt den Bezügen auf das Theater, etwa in der Adaption bestimmter Sichtbarkeitsarrangements und Konfigurationen, eine entscheidende Rolle zu.74 In dieser Absicht auf das Theater zurückzugreifen, ist dabei keinesfalls überraschend, gilt es doch innerhalb des epistemischen Verbundes der sich ausdifferenzierenden Humanwissenschaften, zu denen auch die Pädagogik zählt, als einer der privilegierten Darstellungs- und Verhandlungsorte anthropologischer Dynamiken und Zusammenhänge: Kant sieht »Schauspiele und Romane« als »Hülfsmittel zur Anthropologie«75 ; die »sorgfältige[n] Beobachter des menschlichen Herzens«, derer die »Experimentalseelenlehre« bedarf, können »Charaktere und Gesinnungen« anhand von »vorzüglich guten Roman und dramatischen Stücken«76 beobachten und kennen lernen; und auch der Erzieher als pädagogischer Beobachter kann das von ihm geforderte psychologische Wissen aus

73 Vgl. III.4. 74 Die vorliegende Arbeit schließt damit grundsätzlich an die von Nicolas Pethes eingeschlagene Perspektive an, der in in seiner Untersuchung des Zusammenhangs von anthropologischem Wissen, Erziehung und experimenteller Beobachtung nicht die Inhalte dieses Wissens in den Blick nimmt, sondern die »Technologien, mittels derer es gewonnen wird.« (Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 23.) Vgl. in dieser Hinsicht zum Philanthropismus ebd., S. 219-243; vgl. zur Entstehung und Entwicklung der Anthropologie im 18. Jahrhundert etwa Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York, S. 19-122. 75 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Band VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1966, S. 393-690, hier: S. 401. 76 Karl Philipp Moritz: Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre, in: ders.: Werke, herausgegeben von Horst Günther. Dritter Band: Erfahrung, Sprache, Denken, Frankfurt a.M. 1981, S. 85-99, hier: S. 90.

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»Lebensbeschreibungen, Romanen, Lustspielen und Trauerspielen«77 erwerben.78 Von Seiten des Theaters wird eine solche Einschätzung bestätigt. Die Evidenz, die es zu produzieren im Stande ist, ist auch eine anthropologische. Es vermag, die Innenseite des Menschen sicht- und beobachtbar zu machen. Schiller betont in diesem Sinne in der Vorrede zu den Räubern, »keine idealische Affektationen, keine Kompendienmenschen […] geliefert [zu] haben«, sondern »eine Kopie der wirklichen Welt« – und das in einer konkreten Absicht, lobt er doch »die Vorteile der dramatischen Methode, die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen«79 . Gegenstand der Beobachtung ist also, im Theater wie in der Pädagogik, der Mensch, und zwar hinsichtlich seiner psychologischen Regungen, Antriebe und Motivationen, deren Äußerungsformen, seiner Handlungen und der möglichen Zusammenhänge, die dazwischen bestehen. Dieses Wissen wird in beiden Fällen zugleich wieder in die Erziehungsprojekte eingespeist, die so immer auch ihre eigenen Voraussetzungen mitproduzieren. Es ist sowohl für die Theater- als auch für die professionellen Erzieher unerlässlich: Menschenerziehung, das wird hier wie dort betont, beruht auf Menschenkenntnis. Die aber erwirbt man anhand von Beobachtungen, wie sie in besonderer Weise das evidenzproduzierende Theater ermöglicht und auf die der theatralisierte philanthropistische Unterricht hin angelegt ist. Die Epoche der Evidenz koinzidiert also mit dem »Zeitalter der Menschenforschung«80 . Beide treffen sich in einem pädagogisch funktionalisierten Theater, dem man zuspricht, anthropologische Gewissheiten bereitstellen zu können, und dieser Kontakt setzt sich in einer mit Mitteln des Theaters auf die Gewinnung von anthropologischem Spezialwissen zielenden Pädagogik fort. Schließlich fallen Theaterreform und Reformpädagogik in den Zeitraum, für den Michel Foucault die Erfindung jenes Ensembles von Techniken ausgemacht, das er als Disziplin benannt und hinsichtlich seiner Mechanismen und Wirkweisen analysiert hat.81 Diese Techniken verschränken auf Grundlage einer idealiter ebenso umfassenden wie permanenten Beobachtung die Ausübung einer relationierenden Macht mit der Erhebung von Wissen. Sie »fabrizieren komplexe Räume 77 [Johann Karl Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, in: Pädagogische Unterhandlungen, 2. Jahrgang 1778, 1. Quartal, S. 21-43, hier: S. 26. 78 Vgl. zu dem hier neben dem Drama hervorgehobenen Roman als anthropologischem Beobachtungsinstrument und vor allem hinsichtlich der ein solches Verständnis überhaupt erst ermöglichenden Bezüge auf das Theater, wie es dessen Reform hervorbringt, Kapitel IV. 79 Friedrich Schiller: Die Räuber. Ein Schauspiel. Vorrede, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 2: Dramen I. Herausgegeben von Gerhard Kluge, Frankfurt a.M. 1988, S. 15-19, hier: S. 15. 80 Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, S. 17. 81 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1994, S. 173-292.

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aus Architektur, Funktionen und Hierarchien«, in denen sie »ein System von Normalitätsgraden« etablieren, das zugleich insofern »individualisierend [wirkt]«, als dass es »Abstände misst, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt.«82 Foucaults Analyse der Disziplin, nicht zuletzt weil er in schulischen Institutionen einen ihrer privilegierten Entfaltungsorte ausmacht und ihre Verfahren grundsätzlich als modellhaft für die »Wissenschaften vom Menschen«83 sieht, liefert eine Reihe von Impulsen für die Untersuchung der Theaterreform und der Reformpädagogik, ohne dafür jedoch als fester Rahmen zu fungieren. Denn gleichwohl sich vor dieser Folie wichtige Charakteristika und Dynamiken beider Reformen genauer erfassen lassen, liegt deren Fokus, weil sie im Kern jeweils auf sittliche Erziehung zielen, nicht primär auf einer »Abrichtung«84 von Körpern, wie sie Foucault insbesondere in den Blick nimmt. Er liegt vielmehr, darüber hinaus gehend, auf einer Modellierung von Dispositionen, das heißt einer weitestmöglich auf Zwang verzichtenden Herrichtung der Innenseite des Menschen, an deren Entdeckung beide Reformen zugleich mitwirken. Im Koordinatensystem der skizzierten Traditionen, Konzepte und Kontexte, auf die im Verlauf dieser Arbeit wiederholt und vertiefend Bezug genommen wird, widmen sich die folgenden Kapitel nun der Pädagogisierung des Theaters und der Theatralisierung der Pädagogik. Der Transformation des Theaters in eine Erziehungsinstitution wird dabei nach einer kurzen Einführung (II.1) in drei größeren Schritten nachgegangen: Es geht zunächst um die der Reform zugrundeliegende und sie legitimierende Begründung sowie die edukativen Wirkungen, die dem Theater attestiert werden (II.2); anschließend um die von den Reformern forcierte Abgrenzung dieser moralischen Anstalt und eine damit einher gehende Abwertung von anderen Theaterformen der Zeit (II.3). Schließlich werden die für das Funktionieren dieser Erziehungsinstitution verantwortlichen und im Ausdifferenzierungsprozess der moralischen Anstalt mitunter überhaupt erst in dieser Funktion hervorgebrachten Akteure ausführlicher untersucht: die im Zuge ihrer Pädagogisierung gleichermaßen als Erziehungsinstanzen wie erziehungsbedürftig perspektivierten Dichter (II.4), Zuschauer (II.5) und Schauspieler (II.6). Die der Reformpädagogik gewidmeten Kapitel beschäftigen sich im Anschluss mit den jeweiligen Ebenen ihrer Bezugnahme auf das Theater. Nach einer Vorstellung wesentlicher Aspekte der philanthropistischen Programmatik (III.1) geht es zunächst um die Rolle, die die professionelle Pädagogik für das reformierte Theater spielen kann und umgekehrt, um die mögliche Rolle dieses Theaters in Unterricht und Freizeit der Zöglinge (III.2). Es geht sodann um das Anforderungsprofil und Berufsverständnis des professionellen Erziehers als der maßgeblichen, 82 Ebd., S. 190 und S. 237. 83 Ebd., S. 290. 84 Ebd., S. 220.

I Einleitung

von der Reformpädagogik hervorgebrachten pädagogischen Instanz, um das zwischen ihm und den Zöglingen idealiter herrschende Verhältnis sowie die Bezüge auf schauspielerische Techniken, die ihm eine vorbildliche, nachahmenswerte Selbstdarstellung innerhalb dieses Verhältnisses ermöglichen (III.3). Anschließend liegt der Fokus auf der pädagogischen Methodik, in deren Zentrum die Etablierung umfassender Beobachtungsarrangements steht, für die das Theater das Modell liefert (III.4). Schließlich wird untersucht, wie in den Publikationen der Pädagogen dramatische Formelemente eingesetzt werden, um philanthropistische Erziehung, die Diskussion und Umsetzung ihrer Programmatik im Vollzug zu veranschaulichen und zu plausibilisieren (III.5). Abschließend werden zunächst die Ergebnisse der Arbeit resümiert, vor allem aber Anschlüsse für weitere Untersuchungen skizziert. Dabei wird der Fokus auf den Roman gelegt, darauf, wie er sich einerseits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf theoretischer Ebene mit Bezug auf das Theater ebenfalls als pädagogisch nützlich behauptet und darüber als Gattung nobilitiert, und inwiefern andererseits im Roman selbst dieser theoretische Anspruch, das Theater, aber auch die Pädagogik verhandelt werden.

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II   Die Pädagogisierung des Theaters

1   Eine der »ersten Anstalten des Staats« Ein junger Mann geht ins Theater. Es ist das Jahr 1724 und zur Messezeit gastieren in Leipzig, wo er selbst erst seit kurzem lebt, die privilegierten Dresdenischen Hofkomödianten. Der junge Mann, der schon bald wichtiges Mitglied der Deutschen Gesellschaft, Herausgeber zweier moralischer Wochenschriften, erst außerordentlicher Professor für Poetik und schließlich ordentlicher Professor der Logik und Metaphysik an der Leipziger Universität werden wird, erfüllt sich mit seinem Theaterbesuch eine »ungemeine Lust«1 , wie er sich Anfang der 1730er Jahre erinnert. Recht früh mit Tragödiendichtungen in Kontakt gekommen, bleibt sein Verhältnis zum Drama zunächst gespalten, obwohl, oder, seiner impliziten eigenen Einschätzung folgend, gerade weil er nicht nur einen Hang zu ›guten‹, lehrreichen Büchern hat, sondern sich offensichtlich vor allem durch ein gewisses Gespür für literarische/künstlerische Formen, ihr Verhältnis zum Inhalt und die natürlich anmutende, notwendige Ausgewogenheit dieses Verhältnisses auszeichnet.2 »[B]egierig gemacht,« dramatische Dichtungen »näher kennenzulernen« wird der junge Mann erst durch die Lektüre von Nicolas Boileaus Art poétique von 1674, dessen »hin und her eingestreute[r] Ruhm oder Tadel theatralischer Stücke«3 seine eigene Lesebegeisterung für dramatische Texte befeuert. Diese intensive Lektüre führt wiederum zu der erwähnten ›ungemeine[n] Lust‹, die Stücke endlich auch auf dem Theater zu sehen, was, als sich die Gelegenheit endlich bietet, ein Verhalten zur Folge hat, das zum Ende des Jahrhunderts von vielleicht gar nicht so unähnlichen, anderen jungen Männern weiter ins Extrem getrieben und, mit weitreichenderen Konsequenzen ausgelebt, als Theatromanie bezeichnet wird, wie sie dann vor allem die 1 Johann Christoph Gottsched: Der sterbende Cato. Des Herrn Verfassers Vorrede, zur ersten Ausgabe 1732, in: ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von Joachim Birke. Zweiter Band: Sämtliche Dramen, Berlin 1970, S. 3-18, hier: S. 5. Im Folgenden zitiert als Vorrede. 2 Ein Gespür, das sich entschieden und wohl auch zeitlebens an den in der Vorrede erwähnten Trauerspielen Daniel Casper von Lohensteins stößt, vgl. S. 4. 3 Gottsched: Vorrede, S. 5.

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sich gerade nobilitierende Gattung des Romans beobachtet und literarisch ausformuliert.4 Der junge Mann, um den es hier geht, ist Johann Christoph Gottsched, der in seiner Vorrede zum Sterbenden Cato von 1732 nicht nur Gründe und Ambitionen seiner eigenen literarischen, genauer, dramatischen Textproduktion darlegt und rechtfertigt, sondern auch von dem biographisch einschneidenden Theaterbesuch berichtet. Tatsächlich, so betont er, »versäumte ich fast kein einziges Stück«5 der nur für die Dauer der Messezeit gastierenden Schauspieltruppe. Dies ist insofern bemerkenswert und deutet ein gewisses Suchtpotential, zumindest eine außergewöhnlich starke Anziehungskraft der Schaubühne an, als dass Gottsched eigentlich recht schnell die Freude am dargebotenen Konglomerat theatraler Formen verliert und stattdessen eine »große Verwirrung […], darinn diese Schaubühne steckete«6 , zu bemerken meint. In seinen Vernünftigen Tadlerinnen, in denen diese ersten Theatererfahrungen bereits in der semifiktionalen Rede der fingierten Leserin Eburina geschildert werden7 , verteilt sich dieser Eindruck auf einige dem Spektakel, nicht aber dem Theater an sich abgeneigte »Kenner unter Zuhörern«8 , aus denen in gewisser Weise wiederum der spätere ›Held‹ des biographischen Narrativs der Vor4 Vgl. zu Ursachen, Anliegen und Folgen der übermäßigen Theaterbegeisterung, wie sie etwa Wilhelm Meisters Lehrjahre oder Anton Reiser darstellen u.a. Rolf Selbmann: Theater im Roman. Studien zum Strukturwandel des deutschen Bildungsromans, München 1981, S. 43-61; Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz Anton Reiser, Frankfurt a.M. 1987, S. 344-362; Alexander Košenina: Theatromanie aus ärztlicher Sicht: Anton Reiser versus Wilhelm Meister, in: Ariane Martin und Nikolas Rossbach (Hg.): Begegnungen: Bühne und Berufe in der Kulturgeschichte des Theaters, Tübingen 2005, S. 53-66; Christopher J. Wild: Theorizing Theater Antitheatrically: Karl Philipp Moritz’s Theatromania, in: Modern Language Notes 120/3 (2005), S. 507-538; Patrick Primavesi: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800, Frankfurt/New York 2008, S. 35-130. 5 Gottsched: Vorrede, S. 5. 6 Ebd. 7 Vgl. Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 139. 8 Johann Christoph Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen 1725-1726. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort, einer Themenübersicht und einem Inhaltsverzeichnis versehen von Helga Brandes, Hildesheim/Zürich/New York 1993, XLIV. Stück. Mittwochs den 31. October 1725, S. 348. In Gottscheds frühen Moralischen Wochenschriften, Die Vernünftigen Tadlerinnen und Der Biedermann, finden sich bereits wesentliche Elemente seiner »theaterpoetischen Anschauungen […], die bis zu seinem Tod 1766 bemerkenswert konstant blieben« und die mit den Ausführungen in der Schauspielrede, der Critischen Dichtkunst und der Cato-Vorrede den Kern seiner »Theaterpoetik« ausmachen. (Peter Heßelmann: Die Geburt des gereinigten Theaters aus dem Geist des Aischylos, in: Eric Achermann (Hg.): Johann Christoph Gottsched (1700-1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft, Berlin 2014, S. 203-219, hier: S. 204). Rudolf Münz bewertet die beiden Wochenschriften als »konzeptionelle[…] Vorarbeiten zur Begründung der Nützlichkeit des Theaters« (Theater im Leipzig der Aufklärung, in: Wolfgang Martens (Hg.): Zentren der Aufklärung III: Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit, Heidelberg 1990, S. 169-178, hier: S. 176). Vgl. zu Gottsched als Zeitschriftenherausgeber insgesamt die Studie von Gabriele Ball: Moralische Küsse.

II Die Pädagogisierung des Theaters

rede hervorgeht. Denn diese Kenner, der kleine Kreis vernünftiger Zuschauer, der offenbar (instinktiv) erkennt, dass etwas und vielleicht sogar auch was defizitär ist, »wünscheten, daß sie sich durch einen geschickten Mann, diese ungereimte Dinge durchsehen, und was vernünftigers an die Stelle setzen lassen möchten.«9 Beide Teile des Wunsches, Einsicht und Ersetzung, nimmt der Gottsched der Vorrede in Angriff. Er versucht, da die vorgestellte Maßlosigkeit, Künstlichkeit und Niveaulosigkeit seiner Intuition vollkommen zuwiderläuft und in ihrer empfundenen Falschheit einen so tiefen Eindruck auf ihn macht, seine Ahnung von der Unrichtigkeit der Dargebotenen mit Hilfe gelehrten Wissens zu objektivieren.10 Das Reservoir eines solchen Wissens bieten ihm die Poetiken von Aristoteles bis Riccoboni, die er sich mit großem Fleiß einverleibt, um »die Regeln der Schaubühne«11 zu entdecken und sich anzueignen. Sein ambitioniertes Ziel ist nichts weniger als eine »besser[e] Einrichtung [der] Schaubühne« ohne die »regellose[…] Vorstellung der seltsamsten Verwirrungen«12 , wie er sie in Haupt- und Staatsaktionen, Harlekinaden und derben Späßen die Bühne kontaminieren, aber problematischerweise zugleich das Publikum ansprechen sieht. Als Fix- und Orientierungspunkt dient ihm dabei das Theater der französischen Klassik, deren Stücke er mit einigen Gleichgesinnten, unter denen sich ›glücklicherweise‹ auch der Theaterprinzipal Johann Neuber und seine Frau Karoline befinden, ins Deutsche zu übertragen und aufzuführen beginnt.13 60 Jahre nach Gottscheds Theaterbesuch, genauer am 26. Juni 1784, hält ein anderer junger Mann – er ist wie seinerzeit Gottsched 24 Jahre alt – vor der kurpfälzischen deutschen Gesellschaft in Mannheim eine Vorlesung. Es handelt sich um Friedrich Schiller und der Titel seiner Vorlesung lautet: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? Für seine Beantwortung dieser Frage, die unter emphatischer Hervorhebung einer Vielzahl von sittlichen, sozialen, politischen, individual- und kollektivpsychologischen Vorzügen in nahezu jeder erdenklichen Weise zu Gunsten des Theaters ausfällt, sind mit dem Theaterbesuch von 1724 die Weichen gestellt worden.14 Dass es jedoch ausgerechnet das Theater ist, das sich als Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler, Göttingen 2000 und zu den Vernünftigen Tadlerinnen im Speziellen S. 49-75. 9 Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen, XLIV. Stück. Mittwochs den 31. October 1725, S. 348. 10 Vgl. zu dieser (Selbst-)Erziehungstechnik des angehenden dramatischen Dichters II.4.2. 11 Gottsched: Vorrede, S. 6. 12 Ebd., S. 5f. 13 Vgl. zu diesem Verhältnis Ruedi Graf: Der Professor und die Komödiantin. Zum Spannungsverhältnis von Gottscheds Theaterreform und Schaubühne. In: Bärbel Rudin, Marion Schulz (Hg.): Vernunft und Sinnlichkeit. Beiträge zur Theaterepoche der Neuberin, Reichenbach im Vogtland 1999, S. 125-144. 14 Vgl. Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 8: Theoretische Schriften. Herausgegeben von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt a.M.

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eine moralische Anstalt, die »ihren Rang neben den ersten Anstalten des Staats«15 behaupten kann, innerhalb kurzer Zeit diskursiv konsolidiert, mag angesichts des mehr als zweifelhaften Rufs, der Bühne und Schauspielern noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein vorauseilt, und den vorherrschenden theatralen Formen durchaus zu überraschen. Zwar gehörten mitunter gut besoldete, vornehmlich italienische und französische Ensembles fest zur höfischen Repräsentationskultur, ihre Darbietungen richten sich allerdings dementsprechend an ein aristokratisches Publikum.16 Die Tradition des protestantischen wie jesuitischen Schultheaters wiederum verknüpfte Bühnenspiel und – im weitesten Sinne – Pädagogik weniger als soziale Optimierung im Zeichen vernünftiger Sittlichkeit. Die Integration von Theateraufführungen durch Schüler in den Schulbetrieb diente vielmehr der »Einübung praktischer Verhaltensregeln und sprachlicher Verkehrsformen«, zur Vorbereitung eines »wirkungssicheren öffentlichen Auftretens«17 . Objekt der Bestrebungen, eine ›gute, stehende Schaubühne‹ als ›moralische Anstalt‹ zu etablieren, wurde vielmehr zunächst das Berufstheater der Wander1992, S. 185-200. Die später in den Kleineren prosaischen Schriften (1802) in einer gekürzten Fassung veröffentlichte Rede umfasst mit ihrem geänderten Titel Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet »rückwirkend die Dramentheorie einer gesamten Epoche« (Carsten Zelle: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? in: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Herausgegeben von Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit von Grit Dommes, Stuttgart/Weimar 2005, S. 343-358, hier: S. 356); vgl. zu dieser Einschätzung auch Fischer-Lichte: Zur Einleitung, S. 11; ferner Georg-Michael Schulz: Tugend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen, Tübingen 1988, S. 300f. 15 Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, S. 186. 16 Vgl. zum Hoftheater ausführlich Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 21-355; außerdem Matthias Rothe: Lesen und Zuschauen im 18. Jahrhundert. Die Erzeugung und Aufhebung von Abwesenheit, Würzburg 2005, S. 117-124; zum Kontrast von Hof- und Wandertruppentheater Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, S. 1-11. 17 Peter-André Alt: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung, Tübingen/Basel 1994, S. 44. Vgl. zur Tradition des Schultheaters als »prägender Faktor der rhetorischen Ausbildung« Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, S. 40-43, hier: S. 40; Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, S. 302-321 und S. 344-352. Auf die Nähe beider Theaterkonzepte, des hier als Impulsgeber perspektivierten Schultheaters und der aufklärerischen Theaterreform, macht Roland Krebs aufmerksam, vgl. Modernität und Traditionalität in Gottscheds Theaterreform, in: Wilfried Barner (Hg.): Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, München 1989, S. 125-145, hier: S. 141; ebenso Roland Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 35. Ruedi Graf hingegen betont, dass die moralische Anstalt zwar »Anstösse« vom Schultheaterbetrieb erhält, ohne aber »inhaltlich und formal« von diesem bestimmt worden zu sein (Das Theater im Literaturstaat, S. 9). Vgl. zum Schultheater und einer umgekehrten Einflußnahme, das heißt der Integration theaterreformatorischer Ideen in den Schultheaterbetrieb II.4.2.

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truppen, dessen fahrende Schauspielgesellschaften, »[v]on der Geistlichkeit verfemt, von den Fürstenhöfen verbannt und von den städtischen Obrigkeiten oft nur widerwillig geduldet«18 , zu Markt- und Messezeiten in »billigen Bretterbude[n]«19 temporär ihr Repertoire zum Besten gaben: sogenannte Haupt- und Staatsaktionen, in denen um ›komische Figuren‹ wie Hanswurst und Pickelhäring zentrierte, durch Stegreifspiel geprägte Vermengungen von heldenhaften, großen und wundersamen Abenteuern mit Trivialisierungen und Verballhornungen für Unterhaltung sorgten und dabei oft und gerne Vulgäres und Zotiges auf die Bühne brachten.20 Ökonomisch wie sozial präkarisiert, zogen die Theatertruppen ansonsten auf der Suche nach einem nächsten Spielort durch die Lande. Ein kontinuierlicher Standortwechsel war neben den begrenzten Messezeiten nicht zuletzt deshalb notwendig, weil mit Abspielen des Repertoires nach einiger Zeit das Publikumsinteresse nachließ.21 Gottscheds Vorhaben einer »Verbesserung unsrer Schaubühne«22 markiert nun den Ausgangspunkt einer umfassenden gesellschaftlichen Nobilitierung dieses professionellen, öffentlichen Theaters. Denn die angestrebte Verbesserung erschöpft sich nicht allein in der Zusammenstellung eines erweiterten, für qualitativ hochwertiger befundenen Repertoires,23 sondern folgt dem Impuls, »die übel diskreditierte Schaubühne, die ein Odium des Unmoralischen umgab, offenbar Sinneslust aktivierte und auf moralische Belehrung verzichtete, zu reformieren«24 , und zwar grundlegend. Die Befürworter des Theaters werden ihm in den nächsten Jahren und Jahrzehnten einen festen, institutionellen Platz zwischen 18 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 12. Vgl. zu dieser Problematik sowie der Struktur und dem Aufbau der Wandertruppen ebd., S. 10-16. 19 Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, S. 1. 20 Vgl. etwa Münz: Theater im Leipzig der Aufklärung, S. 172. Erika Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel 1993, S. 88 betont allerdings, dass das Repertoire durchaus auch »eine repräsentative Auswahl aus der europäischen dramatischen Literatur« beinhaltete und sich nicht allein derben Späßen, Obszönitäten und Extempore erschöpfte – eine Wahrnehmung, die etwa noch Kurt Wölfel in Zusammenhang mit dem Truppentheater geradezu erbost von einer »widerwärtige[n] Praxis« sprechen lässt (Moralische Anstalt. Zur Dramaturgie von Gottsched bis Lessing, in: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland, hg. u. eingeleitet von Reinhold Grimm, Frankfurt a.M. 1971, Bd.1, S. 45-122 hier: S. 48). 21 Vgl. Maurer-Schmoock: Deutsches Theater, S. 11; zum Publikum insgesamt außerdem u.a. Werner Rieck: Das Truppentheater und sein Publikum in literarischer Sicht, in: Forschungen und Fortschritte, 38. Jg. (1964), H. 7, S. 218-220; Münz: Theater im Leipzig der Aufklärung, S. 170 und Graf: Theater im Literaturstaat, S. 14. Vgl. zur Struktur und Dynamik des theatralen Marktes der Frühaufklärung Daniel Fulda: Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing, Tübingen 2005, S. 178-188. 22 Gottsched: Vorrede, S. 8. 23 Vgl. Krebs: Modernität und Traditionalität in Gottscheds Theaterreform, S. 132f. 24 Heßelmann: Die Geburt des gereinigten Theaters, S. 204.

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den weltlichen und kirchlichen Autoritäten, eben als eine der ›ersten Anstalten des Staats‹, buchstäblich zuschreiben und legitimieren dieses Vorhaben, indem sie ihm eine erzieherische Funktion attestieren. Diese wandelt sich zwar, wie sich die wirkungsästhetischen Ansätze und künstlerischen Vorstellungen der Reformer wandeln, an der Grundidee ändert sich allerdings nichts: egal ob zur Affirmation der eigenen Position in einer als vernünftig gedachten und damit nicht hinterfragbaren Weltordnung25 , zur Einübung affektiv fundierter Sozialkompetenzen und eines entsprechenden Handlungsfundamentes, zur Vermittlung von Umgangsformen mit den Widrigkeiten des Lebens oder den in ihren Motivationen lesbar zu machenden Mitmenschen – die Schaubühne wird als moralische Anstalt betrachtet. Allen Gegensätzen, Widersprüchen und Abgrenzungen der unterschiedlichen Wirkungsästhetiken und Programmatiken der Aufklärung zum Trotz besteht ein breiter Konsens, das Theater als privilegierte erzieherische Institution mit besonderer Eignung zur gesellschaftlichen Optimierung anzuerkennen. Dieser Konsens ist einer der wesentlichen Faktoren, die es überhaupt erst ermöglichen, von der Theaterreform zu sprechen und die einen gemeinsamen diskursiven Rahmen schaffen, der besagte Diversitäten und proklamierte Antagonismen ausund beinhalten kann, dabei aber immer als Rahmen bestehen bleibt: Das »sittlich‐moralische Funktionskonzept«26 zieht sich also als dominanter Strang durch die verschiedenen Stimmen und Stimmführer einer affirmativen Rede über das Theater im 18. Jahrhundert.27 Über diesen gemeinsamen Nenner bleiben die Überlegungen, Pläne und Projektentwürfe, die in Vorträgen, in gelehrten Abhandlungen, in Moralischen Wochenschriften28 und einem ab Mitte des Jahrhunderts rasant anwachsenden theaterjournalistischen Zeitschriftenbetrieb29 vor- und zur Diskussion gestellt werden, allen Modifikationen zum Trotz derjenigen Matrix verhaftet, die Gottsched auf Grundlage der Philosophie Christian Wolffs ab Mitte der 1720er Jahre normativ

25 Die eben auch eine politische Ordnung mit entsprechenden Hierarchien beinhaltet. 26 Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen, S. 19; vgl. zu dieser diskursiven Dominanz ausführlicher das Kapitel »Schule der Sitten – Moralische Anstalt. Die Popularisierung der bürgerlichen Moralphilosophie«, ebd., S. 27-56; außerdem Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 14f. 27 Horst Steinmetz etwa betont, dass diese Auffassung des Theaters »wie ein roter Faden das Jahrhundert [durchzieht]« (Das deutsche Drama von Gottsched bis Lessing. Ein historischer Überblick, Stuttgart 1987, S. 11). Vgl. auch Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 84. 28 Vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, S. 469-492. 29 Vgl. Heßelmann: Gereinigtes Theater.

II Die Pädagogisierung des Theaters

setzt. Dieses »Normgerüst als Strukturvorgabe«30 findet nicht nur bei durchaus dezidierten Umakzentuierungen »produktive[] Fortsetzer«31 wie Mylius, Schlegel und gewisser Weise noch Schiller; es prägt als im- und explizite Referenz die Konsolidierung und Ordnung eines Diskurses, der ein »Voraussetzungsgefüge«32 bildet, auf dem noch die erklärtesten Kritiker und Gegner operieren, so sehr sich etwa Lessing auch wünschen mag »daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte.«33 Diese Vermengung wird zum Ausgangspunkt eines Ausdifferenzierungsprozesses, der in einer sich zunehmend verzweigenden Bewegung alle Elemente des Theaters umfasst, ihre Ordnung reorganisiert, neue Relationen und Hierarchien zwischen ihnen etabliert, sie dabei teilweise transformiert, teilweise konturiert, teilweise überhaupt erst hervorbringt, Kompetenzen verteilt und diesen Funktionsstellen zuweist sowie aus einer solchen Gemengelage das Theater auf eine bestimmte Form diskursiv festzulegen sucht. In diesem »Dispositiv des neuen Theaters entstehen die Figuren des literarischen Autors, des literarischen Kritikers, ein neuer Typus des Schauspielers, der Regisseur und die Theaterkritik und schließlich ein erwartungsvolles Publikum, das seine erfüllten Hoffnungen mit Applaus und seine enttäuschten mit Pfiffen quittiert.«34 30 Thomas Althaus: Kritische Dichtkunst – Optionen der Gottschedischen Dramentheorie, in: Eric Achermann (Hg.): Johann Christoph Gottsched (1700-1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft, Berlin 2014, S. 221-240, hier: S. 222. 31 Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes, Berlin 1972, S. 139. 32 Althaus: Kritische Dichtkunst, S. 221. Heßelmann etwa betont die Präsenz und »Langlebigkeit der Auffassungen Wolffs und Gottscheds« (Gereinigtes Theater, S. 102) in den Theaterperiodika bis die 1790er Jahre. Wolfgang Martens beschreibt den Einzug dieser Auffassungen in kameralistische und policeywissenschaftliche Überlegungen ab Mitte des Jahrhunderts, vgl. Obrigkeitliche Sicht: Das Bühnenwesen in den Lehrbüchern der Policey und Cameralistik des 18. Jahrhunderts, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 6 (1981), S. 19-51, insbes. S. 27f. 33 Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 17. Literaturbrief, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 4: Werke 1758-1759. Herausgegeben von Gunter E. Grimm, Frankfurt a.M. 1997, S. 453-777, hier: S. 499. Die Bedeutung der von Gottsched gesetzten Rahmenbedingungen der Reform auch für Lessing ist in der Forschung verschiedentlich betont und herausgearbeitet worden, vgl. u.a. Rieck: Johann Christoph Gottsched, S. 139, 160; Joachim Birke: Der junge Lessing als Kritiker Gottscheds, in: Euphorion 62 (1968), 392-404, hier: 401; Krebs: Modernität und Traditionalität, S. 125; Althaus: Kritische Dichtkunst, S. 222; Wild: Theater der Keuschheit, S. 263; Thomas Martinec: Lessing’s dramatic theory, in: Ritchie Robertson (Hg.): Lessing and the German Enlightenment, Oxford 2013, S. 119-137, hier: S. 119. 34 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 15. Franz-Josef Deiters spricht in diesem Zusammenhang von einem »Umstrukturierungsprozess […], der die Institution des Theaters im Laufe des 18. Jahrhunderts grundlegend verändert hat« (Vom Werden des Theaters zum Schauplatz des Autors. Johann Christoph Gottscheds Theaterreform in mediologischer Sicht, in: Ana R. Calero Valera

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Das Maß und die Nützlichkeit

Diese Ausdifferenzierung, so die These, vollzieht sich als eine umfassende Pädagogisierung, die die genannten Elemente in erzieherische Funktionsstellen verwandelt und in einer spezifischen Form relationiert: Philosophen, Kunstrichter und Poeten (idealiter in Personalunion) erziehen einander, generieren Unterrichtsmaterial in Form von Stücken, erziehen die Prinzipale, Schauspieler und das Publikum, dessen Teil sie in gewisser Weise immer auch sind. Prinzipale erziehen ihre, sich mitunter auch untereinander erziehenden Schauspieler und mahnen das Publikum, das seinerseits die Leistungen und den Lebenswandel der Schauspieler bewertet, die wiederum durch ihre Darstellung überhaupt erst den Transport wie auch immer gearteter ›Lehren‹ ermöglichen und dabei Normen und Werte eines auch von ihnen erwarteten Lebenswandels vermitteln – hier wird, mit anderen Worten, jeder erzogen, um dann selbst erzieherisch wirken zu können. Die folgende Untersuchung dieser Pädagogisierung des Theaters im Rahmen der aufklärerischen Theaterreform gliedert sich in drei Schritte. Zunächst geht es erstens darum, die Begründung der Transformation der Schaubühne in eine moralische Anstalt nachzuzeichnen, das heißt um die Klärung, warum dies überhaupt für ein so lohnenswertes Unterfangen gehalten wird und welche Erziehungsleistungen und Wirkweisen dabei diskutiert werden. Mit dieser Begründung geht zweitens zugleich eine Abgrenzung einher. Als moralische Anstalt kommt nur eine bestimmte, maßvolle Form des Theaters in Betracht und deren Etablierung verläuft neben der Betonung der eigenen Nützlichkeit über eine Distinktion von bereits bestehenden Bühnen- und Spielformen, die bei attestierter Maßlosigkeit diskreditiert und ansonsten auf die maßvolle, nützliche Form der regelmäßigen Schaubühne verpflichtet werden sollen. Schließlich stehen dann drittens die einzelnen, im Rahmen der Theaterreform als Funktionsstellen herausgebildeten, diskursiv konturierten sowie auf bestimmte Anforderungen und Aufgaben verpflichteten Akteure im Fokus – mit anderen Worten also diejenigen Instanzen, die für das Funktionieren des Theaters als moralischer Anstalt verantwortlich sind und es als solche in Form halten.

2   Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachten Bevor die von dessen Erklärung zur moralischen Anstalt in Gang gesetzte Ausdifferenzierung des Theaters als Pädagogisierung anhand seiner Akteure und Funktionsstellen untersucht wird, gilt es zunächst zu klären, warum das Theater überhaupt in Frage kommt, als moralische Anstalt betrachtet zu werden. Es wird also zunächst, stärker rekapitulierend, um die Begründung dieser Perspektive und die und Brigitte E. Jirku (Hg.): Literatur als Performance. Literaturwissenschaftliche Studien zum Thema Performance, Würzburg 2013, S. 41-56, hier: S. 42).

II Die Pädagogisierung des Theaters

dem Theater in Folge dessen attestierten Erziehungseffekte gehen: Warum kann das Theater erziehen und wie? Vor dem Hintergrund, dass für dessen Nobilitierung insgesamt das Maß und die Nützlichkeit von wesentlicher Bedeutung sind, liegt der Fokus dabei zunächst auf folgenden, grundlegenden Operationen der theateraffirmativen Argumentation und ihrer diskursordnenden Bedeutung: der Legitimation der Nützlichkeit des Theaters durch seine pädagogische Funktionalisierung und der Kopplung von Erziehung an Evidenz. Worin die erzieherische Leistung im Falle des Theaters besteht, rückt anschließend in den Blick, mit Hauptaugenmerk auf die wirkmächtigeren, für den Diskurs prägenderen Ausführungen zu der in dieser Hinsicht am meisten Aufmerksamkeit erfahrenden Tragödie. Dabei zeigt sich eine grundsätzliche Verschiebung innerhalb der wirkungsästhetischen Überlegungen: von einer Erziehung, die, auf unterschiedliche soziale Standorte zugeschnitten, über Affekterregung in einer maßvollen literarischen Form verläuft, zu einer Erziehung der Affekte selbst, die sich als anthropologische Formung im Zeichen des Maßes vollzieht. Es wird sich in den folgenden Kapiteln außerdem zeigen, dass, diesen Überlegungen zugrundeliegend, das Theater in seiner konstitutiven Beobachtungssituation ein anthropologisches Wissen produziert und verhandelt, das sich, wo wirkungsästhetisch umgestellt wird, entsprechend verfeinert, was wiederum die in den jeweiligen Kapiteln zu untersuchenden Aufgabenbereiche und Anforderungsprofile der theatralen Erziehungsinstanzen als Menschenkenner und -darsteller mitbestimmt, die der Diskurs der moralischen Anstalt als pädagogisierte Funktionsstellen hervorbringt.

2.1   Das Herz durch die Augen unterrichten Die Überlegungen, das Theater als moralische Anstalt in Dienst zu nehmen, entstehen keineswegs in einem diskursfreien Raum. Im Gegenteil, insbesondere im 17. Jahrhundert häufen sich die traditionsgespeisten Debatten um Wert und Unwert des Theaters, das insbesondere von kirchlicher Seite massiv angegriffen und buchstäblich verteufelt wird. In Frankreich tobt die Querelle sur la moralité du théâtre35 , der anglikanische Bischof Jeremy Collier riskiert einen Short View of the Immorality and Profaneness of the English Stage, demgegenüber im gleichen Jahr (1698) John Dennis The Usefulness of the Stage zu erweisen sucht und im deutschen Sprachraum verdammen das Theater etwa Johann Jakob Breitinger in den Bedencken von Comoedien oder Spilen (1624) und der Namenspatron des späteren Romanhelden Anton Reiser mit Theatromania, Oder Die Wercke Der Finsterniß: In denen öffentlichen Schau-Spielen von den alten Kirchen-Vätern verdammet (1681), während sich etwa die Schauspielerin 35 Vgl. Doris Kolesch: Theater als Sündenschule. Für und Wider das Theater im 17. und 18. Jahrhundert, in: Stefanie Diekmann/Christopher Wild/Gabriele Brandstetter (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München 2012, S. 19-30.

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Das Maß und die Nützlichkeit

und Prinzipalin Catharina Elisabeth Veltheim zu Beginn des 18. Jahrhunderts gegen die Attacken des pietistischen Magdeburger Diakons Johann Joseph Winckler zur Wehr setzt.36 Die pietistischen Anfeindungen richten sich gegen alle sogenannten Adiaphora, oder Mitteldinge; Phänomene, über deren moralische Qualität, so der Tenor der Orthodoxie, allein der Gebrauch entscheidet – eine Indifferenz, die der Pietismus hingegen rundherum negiert. Dementsprechend wird neben unter anderem Musik, Tanz und Spiel auch das Theater als »Zeitvergeudung und Begierde bewertet und daher als Sünde scharf ablehnt.«37 Auf die orthodoxe Lesart der moralisch in36 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung Werner Rieck: Schaubühne contra Kanzel. Die Verteidigung des Theaters durch die Veltheimin, in: Forschungen und Fortschritte. 39. Jg., Berlin 1965, H. 2, S. 50-53. Vgl. grundlegend zur Geschichte der Theaterfeindschaft Jonas Barish: The Antitheatrical Prejudice. Berkely/Los Angeles/London 1981. Dass mit dem Versuch, das Theater als Sittenschule zu etablieren, die Theaterfeinde auch im 18. Jahrhundert nicht verstummen, zeigt etwa der sog. zweite Hamburger Theaterstreit Ende der 60er Jahre um Johann Melchior Goeze, Johann Ludwig Schlosser und Johann Heinrich Vincent Nölting und vor allem Jean-Jacques Rousseaus Lettre sur les spectacles (1758), der neben dem ungebrochen wirkmächtigen Verdikt Platons zu einem der wichtigsten Reibungspunkte der Theaterfreunde wird, vgl. Carsten Zelle: ›Querelle du Théâtre‹: Literarische Legitimationsdiskurse (Gottsched – Schiller – Sulzer), in: German life and letters 62,1 (2009), S. 21-38. Dass die Poetik seit Platons Schelte im X. Buch der Politeia ein »Legitimationsdiskurs begleitet« (ebd., S. 22) betont Zelle dabei im impliziten Anschluss an Hans Blumenberg, der die »Tradition unserer Dichtungstheorie seit der Antike […] unter dem Gesamttitel einer Auseinandersetzung mit dem antiken Satz, daß die Dichter lügen« (Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, 4. Auflage Berlin 2001, S. 47-73, hier: S. 47) perspektiviert. Der Anstoß der Schelte, die Generalisierung des Vorwurfs ist, so Blumenberg weiter, aufs Engste mit der dramatischen Kunst verbunden, deren Darstellung erst die »Differenz von Wirklichkeit und Kunst auf[reißt].« (Ebd.) Dass dieses Verhältnis von Verurteilung und Rechtfertigung allerdings grundsätzlich »als ein symbiotisches und produktives zu begreifen [ist], in dem gegensätzliche Positionen unauflöslich miteinander verknüpft sind und sich wechselseitig bedingen« und dementsprechend »antitheatrale Impulse und Interventionen nicht als repressive, sondern als produktive Kräfte erscheinen«, betonen Stefanie Diekmann/Christopher Wild/Gabriele Brandstetter: Theaterfeindlichkeit. Anmerkungen zu einem unterschätzten Phänomen, in: dies. (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München 2012, S. 7-15: hier S. 8. Die Übernahme und Einverleibung antitheatraler Impulse durch die aufklärerische Theaterreform hat Christopher Wild ausführlich herausgearbeitet, vgl. Theater der Keuschheit. Vgl. zur Reziprozität des Verhältnisses am Beispiel Goezes Roland Krebs: Der Theologe vor der Bühne. Pastor Goezes Theologische Untersuchung der heutigen deutschen Schaubühne als Streitschrift gegen das Theater und Projekt einer Idealbühne, in: Ariane Martin, Nikola Rossbach (Hg.): Begegnungen: Bühne und Berufe in der Kulturgeschichte des Theaters, Tübingen 2005, S. 43-52. 37 Zelle: Querelle du Théâtre, S. 29. Vgl. zur Genese und Konturierung der Differenzen und Streitigkeiten innerhalb des Protestantismus (vornehmlich zwischen Orthodoxie und Pietismus) sowie katholischen Positionen zur »Behandlung des Kontroversthemas« der Adiaphora und »den Maßstäben und Normen, die sich dabei herausgebildet hatten« in der Frühen Neuzeit und bis hin zum Halleschen Pietismus etwa im Umfeld Franckes Reimung B. Sdzuj: Adiaphorie und

II Die Pädagogisierung des Theaters

differenten Mitteldinge stützt sich hingegen die Argumentation der Theaterfreunde,38 die zunächst nicht auf Konfrontation, sondern auf Berichtigung, Differenzierung und Überzeugung setzt: Gottsched etwa bestreitet keinesfalls, »daß alles so dem Christenthume, das ist den Begriffen so wir von GOtt und göttlichen Dingen haben, und den guten Sitten dazu uns die Moral des N.T. Anleitung giebt, zuwiederläuft, in dem gemeinen Wesen nicht zu dulden sey.«39 Er verwahrt sich aber ebenso entschieden dagegen, die Darbietungen der Bühne »[g]erade als ob sie durchgehends gleich sträflich wären, und ihrem Wesen nach unmöglich anders als schlimm seyn könnten«40 zu disqualifizieren. Weil das Theater zunächst als neutrales Medium begriffen wird, können all die populären »zweydeutigen Zoten«, die »alle Regeln der Sittsamkeit und Erbarkeit [verletzen]«41 zu akzidentiellen Verirrungen und als solche für korrigierbar erklärt werden. Verantwortlich zu machen sind vielmehr all die »boßhafften Gemüther, die ihr Heiligthum mit schmutzigen Händen besudeln, und sie wieder ihren Willen zu einer Schmeichlerin, und Dienerin der Üppigkeit machen.«42 Dementsprechend setzen die Theaterfreunde gerade zu Beginn der Reform noch darauf, den Leuten, »die sich mit einer besondern Frömmigkeit schützen und gleichsam Gewissens halber, alle Schauspiele verdammen«, zu beweisen, »daß die Lust, die man in Schauspielen genießt, nicht sündlich sey und also mit dem Christenthume gar wohl bestehen könne.«43 Dies tun sie unter Betonung eines möglichen guten Gebrauchs der theatralen Apparatur und des großen Nutzens, der daraus entspringt. Denn das dem Theater eine »einzigartige Wirkungsmacht«44 zukommt, darin sind sich jenseits der maximal divergierenden Bewertungen des Phänomens, Theaterfreunde wie -feinde einig.45 Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens, Tübingen 2005, S. 235-289, hier: S. 261; außerdem das Kapitel »Ästhetik und Pietismus am Beispiel der Adiaphora« in Caroline TorraMattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002, S. 153-158. 38 Vgl. Münz: Theater im Leipzig der Aufklärung, S. 171. 39 Johann Christoph Gottsched: Der Biedermann. Faksimiledruck der Originalausgabe Leipzig 1727-1729 mit einem Nachwort und Erläuterungen herausgegeben von Wolfgang Martens, Stuttgart 1975, 85. Blatt 1728 den 20. December, S. 137. Vgl. zum Biedermann ausführlicher Ball: Moralische Küsse, S. 75-99. Bei allen faksimilierten oder editionsphilologisch nicht aufbereiteten Quellen werden im Folgenden aus Gründen der Übersicht die zahlreichen orthografischen und grammatischen Eigenheiten nicht eigens mit [!] oder [sic!] hervorgehoben. Umgekehrt werden alle textimmanenten Hervorhebungen in der Zitation übernommen, ohne darauf jeweils im Einzelnen hinzuweisen. 40 Ebd. 41 Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen, XLIV. Stück. Mittwochs, den 31. October 1725, S. 348. 42 Gottsched: Der Biedermann, 81. Blatt 1728 den 22. November, S. 123. 43 Gottsched: Die Schauspiele, S. 493. 44 Ruppert: Labor der Seele, S. 27. 45 Vgl. Susanne Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin. Hamburger Theater im späten 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994, S. 46. Dass die Theatergegner

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Warum dem so ist, wird am Ausgangspunkt der theateraffirmativen Argumentation ebenso deutlich wie der erwünschte, nützliche Einsatz dieser Wirkungsmacht. Es ist Christian Wolff, der in seiner Deutschen Politik von 1721,46 den Vernünfftigen Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen, die grundlegende, den Ausdifferenzierungsprozess der moralischen Anstalt in Gang setzende Verbindung etabliert:47 Die Möglichkeit eines positiven Gebrauchs des indifferenten Mitteldinges Theater wird verknüpft mit der Idee einer erzieherischen Funktionalisierung. Wolff koppelt seine Affirmation an eine edukative Potenz des Theaters und spricht dieser Indienstnahme so großen Nutzen zu, dass sie ihm geeignet scheint, der Schaubühne eine feste Funktionsstelle in der »Errichtung des gemeinen Wesens«, so der Titel des entsprechenden Paragraphen in der Deutschen Politik, zuzuweisen und sie damit als Bestandteil der sozialen Ordnung zu legitimieren. Was das Theater auszeichnet, so argumentiert Wolff, ist die Bereitstellung »lebhaffte[r] Exempel«, die »einen größern Eindruck in das Gemüthe des Menschen machen« als etwa die »geschriebenen Historien«: Denn »was man selber mit eigenen Augen siehet und mit Ohren höret, beweget einen mehr und bleibet besser, als was man bloß erzehlen höret.«48 Exempel führen so »zu einer anschauenden der Schaubühne dabei mit ihren Angriffen möglicherweise mehr zutrauen als deren Verteidiger, gibt Thomas Koebner zu bedenken, vgl. Zum Streit für und wider die Schaubühne im 18. Jahrhundert, in: Bernhard Fabian (Hg.): Festschrift für Rainer Gruenter, Heidelberg 1978, S. 26-57, hier: S. 28. In ihren Warnungen vor den Inhalten und an die Rezipienten erweisen die Gegner sich in jedem Falle als »viel hellhöriger und sensibler für die medialen Effekte des Theaters als seine Freunde und Verteidiger«, so Diekmann/Wild/Brandstetter: Theaterfeindlichkeit. Anmerkungen zu einem unterschätzten Phänomen, S. 9. Vgl. im Anschluss an diese These ausführlicher: Kolesch: Theater als Sündenschule. 46 Wolff lehrt zu diesem Zeitpunkt bekanntlich ausgerechnet in der Pietistenhochburg Halle. Vgl. zu seiner Auffasssung der Mitteldinge, seiner Forderung nach Bereitstellung von Gelegenheiten zur sinnlichen Belustigung durch das Gemeinwesen – moralisch gedeckt durch einhergehende Zensur- und Kontrollforderungen – und einer detailreichen Vorstellung des Konflikts mit den Pietisten Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös‐soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, S. 388-441; konkreter zu den soziale Glückseligkeit befördernden Gegenständen sinnlicher Lust, zu denen Theater und Oper gerechnet werden ebd., S. 394-397. 47 Haider-Pregler betont, dass Wolffs Ausführungen allerdings noch »kein in sich geschlossenes Reformkonzept für die deutsche Schaubühne dar[stellen], obwohl sie in nuce so manchen Anstoß dafür liefern« (Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 43). Vgl. zur gesellschaftlichen Legitimation des Theaters ausführlicher ebd., S. 37-45. 48 Christian Wolff: Gesammelte Werke, I. Abteilung. Deutsche Schriften, Band 5: Vernünfftige Gedancken von dem geselschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Hans Werner Arndt, Hildesheim/New York 1975, § 328, S. 275f. Im Folgenden zitiert als Deutsche Politik. Vgl. für eine Übersicht zur Rolle des Exempels in der antiken Rhetorik und der daran anschließenden christlichen Predigt-Lehre Josef Klein: Exemplum, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhe-

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Erkäntniß«, die »bey vielen einen grösseren Eindruck machet, als die Vernunfft«49 . Aus diesen Gründen, der Qualität und der Quantität ihres Eindrucks, sind Exempel für Wolff ein prädestiniertes Mittel zur sittlichen Erziehung:50 Man kann sie »zu nutze machen, dergestalt daß man aus den löblichen lernet, was man thun, und aus den unglücklichen, was man vermeiden soll.«51 In diesem Sinne gibt Wolff für das Theater eine dezidierte Gebrauchsanweisung vor: »[S]o sind Comödien und Tragödien sehr dienlich zur Besserung des Menschen, wenn die Tugenden und Laster nach ihrer wahren Beschaffenheit vorgestellet werden, absonderlich aber darauf gesehen wird, daß man zeiget, wie die freudigen Begebenheiten aus der Tugend, hingegen die Trauer-Fälle aus den Lastern kommen[.]«52 Die theatralen Exempel der Schauspiele sind deswegen »so nützlich«, weil sie, anders als »die wahren Exempel[], die in der Welt paßiren und darauf man acht hat«53 , nach dem Prinzip einer transparenten Kausalität zeigen können, wie Glück, Unglück und bestimmte Verhaltensweisen aufs Engste miteinander verflochten

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torik, Band 3, Darmstadt 1996, Sp. 60-70. Vgl. zur Rolle des Exempels in der Predigt, im Kontext der Debatten zwischen Kirche und Theater Heidi Ritter: Von der Kanzel auf die Bühne. Taugte das bürgerliche Trauerspiel des 18. Jahrhunderts für eine säkularisierte Predigt?, in: Lothar Bornscheuer, Herbert Kaiser, Jens Kulenkampff (Hg.): Glaube · Kritik · Phantasie. Europäische Aufklärung in Religion und Politik, Wissenschaft und Literatur. Interdisziplinäres Symposium an der Universität-GH-Duisburg vom 16.-19. April 1991, Frankfurt a.M. u.a. 1993, S. 201-211. Dass Exempel als »Musterbeispiele menschlicher Vorzüge und Schwächen« über die rhetorische Tradition zu Erbauungszwecken auch in die Poetik eingehen, zeigt Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern und München 4 1963, S. 69f. und S. 367-369, hier: S. 69. Christian Wolff: Gesammelte Werke, I. Abteilung. Deutsche Schriften, Band 4: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Hans Werner Arndt, Hildesheim/New York 1976, § 167, S. 100. Im Folgenden zitiert als Deutsch Ethik. Vgl. zum sich durch Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit auszeichnenden Exempel, seinem edukativen Einsatz und dem Verhältnis von anschaulicher und Vernunfterkenntnis bei Wolff Graf: Das Theater im Literaturstaat, S. 33-36 sowie ders.: Utopie und Theater. Physiognomik, Pathognomik, Mimik und die Reform von Schauspielkunst und Drama im 18. Jahrhundert, in: Wolfram Groddeck und Ulrich Stadler (Hg.): Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift für Karl Pestalozzi zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 1994, S. 16-33, hier: S. 17-20. Wolff verweist in der Deutschen Politik in seiner Argumentation zugunsten des Theaters auf die entsprechenden Paragraphen seiner Deutschen Ethik, in denen es um die verschiedenen affektiven, psychologischen und moralischen Bereiche geht, in denen die Exempel zur »Beförderung aller Tugend und Besiegung aller Laster beitragen.« (Deutsche Politik, § 328, S. 275.) Wolff: Deutsche Ethik, § 333, S. 219. Wolff: Deutsche Politik, § 328, S. 275. Ebd., § 328, S. 276f.

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sind. Da etwa bei wachsender zeitlicher Distanz der Konnex von Ursache und Wirkung »im Menschlichen Leben« leicht aus dem Blick gerät, »so erkennet man öfters nicht, daß dieser oder jener Zufall aus diesen oder jenen Handlungen erfolget, oder auch aus unserem Vergnügen das gegenwärtige Mißvergnügen erwachsen sey.«54 Dieses Zusammenspiel jedoch, nicht nur die ›freudigen Begebenheiten‹ und die ›Trauer-Fälle‹, sondern auch die ihnen zugrunde gelegten Tugenden und Laster, vermögen Komödien und Tragödien sicht- und damit erfahrbar zu machen. In ihnen »folget alles, was zusammen gehöret, in einer kurzen Reihe auf einander« und dementsprechend »lässet sich daraus der Erfolg der Handlungen viel besser und leichter begreifen, als wenn man im menschlichen Leben darauf acht hat.«55 Gottsched schließt an diese Überlegung schon kurze Zeit später in seinen Vernünftigen Tadlerinnen an: »Endlich sollte man billig in einem jeden Schau-Spiele entweder ein Laster, oder eine Tugend vorstellig machen: aber dergestalt, daß man bey jenem, allezeit das darauf folgende Verderben und Unglück, als eine Strafe desselben: bey dieser hingegen, die darauf folgende Glücks-Fälle und Wohlfahrt, als ihre Belohnung bemercken könnte. Geschieht dieses nicht, so wird ein Schauspiel entweder unnützlich, oder gar schädlich: So wie es im Gegentheile keinen geringen Nutzen haben würde, wenn es allezeit so eingerichtet wäre.«56 Im Anschluss an die von Wolff gegebene Weichenstellung57 färbt Gottsched die den moralischen Ursachen (Laster – Tugend) folgenden Wirkungen jedoch stärker disziplinatorisch ein (Strafe – Belohnung). Zugleich verschärft er die Vorgaben für die Schaubühne insofern, als dass er nicht nur den schädlichen Gebrauch ablehnt, sondern mit der Aussicht auf seine damit verbundene Nützlichkeit aus dem neutralen 54 55 56 57

Ebd., § 328, S. 277. Ebd. Gottsched: Die Vernünftigen Tadlerinnen, XVII. Stück. Mittwochs, den 25. April 1725, S. 133f. Der Einfluss Christian Wolffs auf Gottsched ist in der Forschung ausführlich untersucht und diskutiert worden. Vgl. grundsätzlich u.a. Joachim Birke: Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poetik an der Philosophie Wolffs, in: ZfdPh 85, H4 (1966), 560-575; Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes, Berlin 1972, S. 150-154; Angelika Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern, Tübingen 1981, S. S. 49-61; Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 37-45; besonders ausführlich: Graf: Theater im Literaturstaat, insbesondere Kapitel 2 »Der ›philosophische Diskurs‹ als literarische Ordnungsmacht. Zur Moralisierung der Literatur«, S. 18-118; ferner Horst Steinmetz: Das deutsche Drama von Gottsched bis Lessing. Ein historischer Überblick, Stuttgart 1987, S. 12f., 32 Alt: Tragödie der Aufklärung, S. 67f. Vgl. zu einer differenzierteren Verortung Gottscheds im Gefüge der Leibniz-Wolffschen Philosophie Gideon Stiening: »[D]arinn ich noch nicht seiner Meynung habe beipflichten können.« Gottsched und Wolff, in: Eric Achermann (Hg.): Johann Christoph Gottsched (1700-1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft, Berlin 2014, S. 39-60.

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Mittelding ein Mittel zum Zweck macht. Im Verlauf der Argumentation wird aus dem möglichen Gebrauch schon bald der einzig adäquate: Betont wird, dass »nicht die Ergetzung allein, sondern auch der Nutzen und die Anleitung zur philosophischen Tugend der Endzweck der Schauspiele sey, welcher sich auch dadurch sehr wohl erreichen liesse.«58 Dieser Gedanke wird von Christlob Mylius dergestalt substantialisiert, dass jeder unnütze Gebrauch der Schaubühne als wesenhaft falsch diskursiv ausgeschlossen wird: »Man ist vielmehr überzeugt, daß die Schauspiele, an und für sich selbst, Quellen der Tugenden und Störerinnen der Laster sind, und im gemeinen Wesen großen Nutzen schaffen können.«59 Mit dieser Gewissheit versucht Mylius nicht nur zu beweisen, ›daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei‹60 , sie ermöglicht und rechtfertigt auch eine sehr viel offensivere Positionierung gegen die Theaterfeinde, indem sie den Status des Theaters in zwei Zeitrichtungen hin gegen Angriffe absichert und über jeden Zweifel erhebt. Einerseits über die Kopplung an den Prozess der Verstandesaufklärung, andererseits über seine Herschreibung aus der gelehrten, vernünftigen Tradition: »Aber wie seufzet nicht noch immer bey uns die betrogene und die betrügende Einfalt um die Wette über die Verdammlichkeit der Schaubühnen! Ja, nur die Einfalt seufzet darüber. […] Fürwahr, wäre keine Hoffnung übrig, daß der Einfalt endlich die Augen aufgehen, und die Schaubühnen von jedermann werden verehret 58 [Anonym]: Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen: Ob sie eine Schule guter Sitten sind, oder seyn können? übersetzt. Nebst einer Abhandlung von der Schaubühne, heraus gegeben von Joh. Friedrich Mayen, A.M. Leipzig 1734. goß 8. 8 Bogen [Rezension], in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band III: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1734-1735, 9. Stück, S. 3-27, hier: S. 5. Vgl. zum Projekt der Beyträge ausführlicher Ball: Moralische Küsse, S. 100-121. 59 Christlob Mylius: Eine Abhandlung, worinnen erwiesen wird: Daß die Wahrscheinlichkeit der Vorstellung, bey den Schauspielen eben so nöthig ist, als die innere Wahrscheinlichkeit derselben, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VIII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742-1744, 30. Stück, S. 297-322, hier: S. 297f. 60 Vgl. Christlob Mylius: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, in: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, 1. St. 1750, S. 1-13. Mylius Text kommt nicht nur insofern eine besondere Bedeutung zu, als dass er nach der Vorrede die gemeinsam mit Lessing herausgegebenen Beyträge eröffnet, die als »erstes deutschsprachiges Theaterperiodikum […] gelten« (Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 11). Er darf außerdem, so Haider-Pregler, »für den deutschsprachigen Raum als erster Ansatz einer Theaterästhetik betrachtet werden.« (Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 153)

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werden: so müsste entweder gar keine fernere Aufklärung des Verstandes auf Erden möglich seyn, oder ich müsste, mit einigen der erleuchtetesten Männer der itzigen und der vorigen Zeiten, die Schaubühne für etwas ganz anders ansehen, als was sie ist.«61 Auch ohne dass sich der Diskurs grundsätzlich so weit radikalisiert, hat sich die von der Möglichkeit zur Verpflichtung festgelegte Nützlichkeit der Schaubühne schon bald so weit eingebürgert, dass sie in den verschiedenen »Erörterungen über Schauspiel und Theater nur noch routinemäßig festzustellen« und als »hinlänglich bewiesene Tatsache«62 weitestgehend nicht mehr in Frage zu stellen ist. Mit dieser inhaltlichen Festlegung und auf dem Fundament der »Prinzipien einer Philosophie, die alles und besonders alle menschlichen Werke unter dem Gesichtspunkt ihrer praktischen Funktion analysiert und bewertet«63 verschiebt sich allerdings die anfänglich dreigliedrige Struktur (negativ – neutral – positiv) zu einem binären Bewertungsschema. Schädlichkeit und Nutzlosigkeit rücken als verschiedene Spielarten auf der Gegenseite der anvisierten Nützlichkeit zusammen, auf die das Theater als in der Reform funktional festgeschrieben wird. Die Reform schließt jedoch nicht nur an die proklamierte Nützlichkeit des Theaters an, das heißt an die Möglichkeit, erzieherisch wirksam zu sein. Sie nimmt auch, und gleichermaßen schärfer akzentuiert, Bezug auf die Bedingung dieser Möglichkeit: Für die pädagogische Funktionalisierung des Theaters ist die spezifische Evidenzproduktion der Bühne die notwendige Voraussetzung. Erziehung wird also an Evidenz geknüpft. Diese Kopplung macht den Kern von Wolffs Exempelkonzept aus. Exempel sind insofern ein geeignetes Mittel, »wenn man den Menschen bessern will«, als dass man in ihnen »die Gewissheit augenblicklich [siehet], wenn man sie recht erweget«, also unmittelbar »handgreiflich wird«, was »gute[] und böse[] Handlungen«64 sind und wohin sie führen. Wenn Wolff im Falle des Theaters nun von ›lebhafften Exempeln‹ spricht, ist damit auf eine das Theater auszeichnende Amplifizierung dieses Zusammenhangs verwiesen: die Verstärkung der evidentiellen und edukativen Qualität dramenförmiger Exempel durch ihre Aufführung. Dies wird schon im unmittelbaren Anschluss an Wolff zu einem ebenso grundlegenden wie distinktiven Charakteristikum der Schaubühne erklärt. Zum einen, weil im Theater 61 Mylius: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, S. 13. 62 Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 151. Vgl. in diesem Sinne auch Koebner: Zum Streit für und wider die Schaubühne, S. 38. Dies gilt umgekehrt auch für einen schädlichen Gebrauch der Schaubühne, dessen Ausschluss aus dem Diskurs der Theaterfreunde ähnlich formelhaft und ebenso routinemäßig wiederholt wird. 63 Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 2. 64 Wolff: Deutsche Ethik, § 167, S. 100f. und § 373, S. 246f.

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konstitutiv etwas unvermittelt vor Augen gestellt,65 in ihm also gewissermaßen institutionalisiert, was in der Rhetorik verfahrensmäßig hergestellt wird. Zum anderen, weil es dieses Verfahren selbst hinsichtlich der es auszeichnenden Merkmale der Lebendigkeit66 und Anschaulichkeit,67 aber auch einer ihm eingeschriebenen performativen Komponente68 überbietet. An die Stelle der rhetorischen »Kopplung von Wort und Bild«69 rückt hier das textbasierte, im wahrsten Sinne des Wortes ›lebhaffte Exempel‹. Mit Bezug auf die Tragödien und ihr Personal heißt es in diesem Sinne bei Gottsched: »Man liest, man höret sie nicht nur, in einer matten Erzählung des Poeten; sondern man sieht sie gleichsam mit lebendigen Farben vor Augen. Man sieht sie aber auch, nicht in todten Bildern auf dem Papiere; sondern in lebendigen Vorstellungen auf der Schaubühne. Alle ihre Helden leben. Ihre Personen denken, reden und handeln wahrhaftig. Es ist, so zu reden, kein Bild, keine Abschilderung, keine Nachahmung mehr: es ist die Wahrheit, es ist die Natur selbst, was man sieht und höret.«70 Gleichwohl ist dieser Eindruck nicht allein der theatralen Vorstellung geschuldet, sondern beruht auch auf der Qualität des dort Vorgestellten. Dass die »Vorstellungen einen sehr tiefen Eindruck in seinem [des Zuschauers – AW] Gemüthe« hinterlassen, erkennen die Vernünftigen Tadlerinnen schon durch das »blosse Durchsehen einiger Schauspiele«71 . Zwar mag die Lektüre hinreichend sein, das Wirkungs65 Vor-Augen-Stellen ist, so Rüdiger Campe, in der Rhetorik einerseits »ein technisches Mittel, das dem inneren Sinn etwas als gegeben erst erscheinen lässt« und andererseits »das Verfahren, durch das sich etwas ohne Vermittlung als das, was es ist, zeigen kann.« (Rüdiger Campe: Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung, in: Helmut Lethen, Ludwig Jäger, Albrecht Koschorke (Hg.): Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader, Frankfurt/New York 2015, S. 106-136, hier: S. 107) 66 Aristoteles versteht unter »Augenscheinlichkeit […], (beim Zuhörer) eine Vorstellung hervorzurufen, die etwas Tätiges bezeichnet« (Aristoteles: Rhetorik, 1411b). Tätigkeit aber entsteht in diesem Kontext »eben dadurch, daß etwas belebt wird«, also dann, wenn etwas »bewegt und lebend dar[gestellt wird], Tätigkeit […] ist Bewegung.« (Ebd., 1412a) Vgl. zu dieser älteren Spielart der evidentia, der energeia, Campe: Vor Augen Stellen, S. 116-125. 67 Quintilian spricht von der evidentia, »die nicht mehr in erster Linie zu reden, sondern vielmehr das Geschehen anschaulich vorzuführen scheint«. (Quint. Inst. XI 2, 32) 68 Die »Veranschaulichung oder, wie andere sagen, Vergegenwärtigung [ist mehr] als die Durchsichtigkeit, weil nämlich die letztere nur den Durchblick gestattet, während die erstere sich gewissermaßen selbst zur Schau stellt.« (Quint. Inst. VIII 3, 61) 69 Rüdger Campe: Evidenz als Verfahren. Skizze eines kulturwissenschaftlichen Konzepts, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 8 (2004), S. 105-133, hier: S. 120. 70 Gottsched: Die Schauspiele, S. 496. Vgl. auch Heßelmann: Die Geburt des gereinigten Theaters, S. 210. 71 Gottsched: Die Vernünftigen Tadlerinnen, XVII. Stück. Mittwochs, den 25. April 1725 S. 132. Ähnlich argumentiert bereits Aristoteles: »Denn die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Auf-

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potential zu erkennen und dieses auch schon bei einigen wenigen zu entfalten, es aktualisiert sich aber vollends und flächendeckend erst auf der Bühne: Die »dramatische Poesie […] reizet, wenn man sie liest, allein sie reizet ungleich mehr, wenn man sie hört und sieht. Derjenige, der durch die bloße Lesung, zum Exempel eines Trauerspiels, bis zu süßen Tränen gebracht wird, muß schon selbst ein Mensch von Empfindungen sein. Er muß schon mehr zu denken, und mehr als der gemeine Haufe zu fühlen gewohnt sein. Und solche Leute sind selten.«72 Das Theater setzt also verstärkend eine Evidenz in Szene, die in der dramatischen Aufführungsgrundlage bereits per se angelegt ist: Moses Mendelssohn definiert in der ersten Beilage zum Briefwechsel über das Trauerspiel die Nachahmung des Trauerspiels unter anderem als lebendig, und versteht darunter, dass dessen Handlung »dramatisch eingerichtet und vorgestellt zu werden geschickt sein soll.«73 Dieses Kriterium fungiert innerhalb der literarischen Formen zugleich als Marker für Gattungsgrenzen, wie Mendelssohn fortfährt. Lebendigkeit ist Kennzeichen des Dramas: »Streichen Sie in der oben angeführten Definition [des Trauerspiels – AW] das Wörtlein lebendig aus; so haben sie die Absicht des Heldengedichts.«74 Diese »vollkommene[…] Evidenz«75 des Theaters gilt es nun, in Dienst zu nehmen: in Wolffs

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führung und Schauspieler zustande.« (Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, 1450b) Gotthold Ephraim Lessing und Christlob Mylius: Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Vorrede, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schrinding und Jörg Schönert herausgegeben von Herbert G. Göpfert, hier: Dritter Band. Frühe kritische Schriften, München 1972, S. 355-363, hier: S. 360. Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schrinding und Jörg Schönert herausgegeben von Herbert G. Göpfert, hier: Vierter Band. Dramaturgische Schriften, München 1973, S. 153-227, hier: [Erste Beilage], § 7, S. 221. Ebd., § 11, S. 222. Vgl. zur dramatischen Form und Fragen der Evidenz die Kapitel III.5 und IV. Campe: Evidenz als Verfahren, S. 112. Tatsächlich ist diese Evidenz in Gottscheds Argumentation wesentlich ›vollkommener‹ als bei Campes eigentlichem Bezugspunkt Johann Heinrich Lambert, der dem Theater als einem »Herstellungsverfahren von Evidenz« (ebd., S. 110) attestiert, dass es »die Sache selbst vor Augen zu stellen schein[t].« (Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Warhen und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein. Nach der bei Johann Wendler in Leipzig 1764 erschienenen ersten Auflage unter Mitarbeit von Peter Heyl herausgegeben, bearbeitet und mit einem Anhang versehen von Günter Schenk. Zweiter Band, Berlin 1990, § 269, S. 825.) Insofern vergegenwärtigt das Theater hier nicht ›Wahrheit‹ oder ›Natur‹, wie es Gottsched behauptet, sondern deren besonders anschauliche Repräsentation. Der Schein aber zeigt, so Campe, »durch die Repräsentation hindurch die Evidenz der ›Sache selbst‹.« (Evidenz als Verfahren. S. 111) Das Theater und auch die Schauspielkunst (vgl. Lambert: Neues Organon, § 270) sind nun, wie Campe weiter ausführt, »Anwendungsfälle« einer umfassenden »Evidenztheorie«, die Lambert unter dem Ti-

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und den unmittelbar an ihn anschließenden Überlegungen, um die auch und gerade hinsichtlich individueller (Un-)Moralität wirksame, kausale Organisation einer vernünftig eingerichteten Welt vorzustellen, in der tugendhaftes Verhalten glücklich, lasterhaftes hingegen unglücklich macht, und um über diese Vorstellung eine entsprechende Ausrichtung des eigenen Handelns beim Zuschauer zu motivieren. Im Verlauf der Reform verlagert sich allerdings dieser anvisierte Effekt, in Lessings einflussreicher Mitleidsästhetik geht es nicht mehr primär um eine Haltungsnachahmung, sondern um eine affektorientierte Dispositionsmodellierung, die auf einem Erkennen von Ähnlichkeit basiert.76 In jedem Falle aber verdanken sich diese pädagogisch konzipierten Wirkungen einer Anschaulichkeit, wie sie nur die Bühne und – in abgeschwächter Form – das dort zur Aufführung gebrachte Drama zu generieren im Stande sind.77 Erst mit Blick auf den gesamten Ausdifferenzierungsund das heißt den Pädagogisierungsprozess der moralischen Anstalt zeigt sich jedoch, dass das Theater nur dann in diesem Sinne, also als moralische Anstalt funktionieren kann, wenn für die und auf der Bühne entsprechend pädagogisierte Akteure, also ihrerseits erzogene Erzieher tätig sind: die dramatischen Dichter, die Stücke liefern und die Schauspieler, die sie auf die Bühne bringen.78 Die Reformer heben nun nicht nur die potentielle Qualität des theatralen Unterrichts hervor, sondern gewissermaßen auch die Klassengröße: »Der allgemeine Charakter des guten Schauspieles besteht darin, daß sehenswürdige Sachen einer Menge Menschen zugleich vorgestellt werden, damit diese nicht nur einen sehr vergnügten, sondern auch zugleich in anderen Absichten nützlichen Zeitvertel Von der Zeichnung des Scheins im Neuen Organon entwirft: Rührt sie im Falle des Theaters vom »perspektivische[n] Bau« der Guckkastenbühne her, liegt »[d]ie Evidenz des Bühnenspiels […] in ihrem möglichst vollkommenen Zusammenfall mit dem, was in jeder Äußerung und Gestik bereits Darstellung eines Inneren im Äußeren ist.« (Evidenz als Verfahren, S. 110f. und 112f.; vgl. auch Campe: Epoche der Evidenz, S. 38-41.) Vgl. zur Guckkastenbühne in diesem Zusammenhang Martin Jörg Schäfer: Passivität und Augenschein. Zur medialen Apparatur der Guckkastenbühne um 1800, in: Sibylle Peters, Martin Jörg Schäfer (Hg.): »Intellektuelle Anschauung«. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 165-182. 76 Im Philanthropismus werden hingegen beide ›Erziehungsansätze‹ – Nachahmung und Modellierung – zusammengeführt, vgl. III.1. 77 Peter Heßelmann hat mit Bezug auf Gottsched von einer »auf die Erzeugung von Evidenz ausgerichtete[n] Wirkungsästhetik« (Die Geburt des gereinigten Theaters, S. 210) gesprochen. Genau genommen ist diese Wirkungsästhetik, und das ist für die Reform insgesamt verallgemeinerbar, in erster Linie evidenzbasiert. Denn Evidenz erzeugen die Apparatur der Bühne und die sprachliche Form des darauf aufzuführenden Dramas (vgl. III.5), die dann im Zuge der verschiedenen wirkungsästhetischen Überlegungen innerhalb der Reform pädagogisch funktionalisiert werden. 78 Vgl. II.4 und II.6. Im Falle der im Verlauf des Jahrhunderts entstehenden, professionalisierten Pädagogik betrifft dies die in diesem Kontext Kontur gewinnende Instanz des Erziehers, der dazu wiederum mit Mitteln des Theaters befähigt wird, vgl. III.3.

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treib dabey genießen.«79 Dementsprechend muss allerdings auch das, »was auf der Schaubühne vorgestellt wird, […] der Menge verständlich und faßlich seyn; muß nicht blos wenige Menschen von besonderm Stand und Lebensart, sondern das ganze Publicum intereßiren.«80 Für eine solche größtmögliche Verständlichkeit sorgen die dargebotenen, exempelhaftigen Stücke. Denn, so betont Gottsched, im Anschluss an Wolff: »Alle Sittenlehrer sind eins, daß Exempel in moralischen Dingen, eine besondere Kraft haben, die Gemüther der Menschen von gewissen Wahrheiten zu überführen. Die meisten Gemüther sind viel zu sinnlich gewöhnt, als daß sie einen Beweis, der aus bloßen Vernunftschlüssen besteht, sollten etwas gelten lassen; wenn ihre Leidenschaften demselben zuwider sind. Allein Exempel machen einen stärkern Eindruck ins Herz.«81 Das tun sie erst recht, wenn sie aufs Theater gebracht werden. Denn in der theatralen Evidenz ist nicht nur die sinnliche Vergegenwärtigungs- sondern auch die grundsätzliche Überzeugungskraft des Verfahrens potenziert.82 Die ›stärkeren Eindrücke‹ des Exempels können so noch weiter amplifiziert und, weil hier anders als etwa in einer argumentativ‐explikativen Abhandlung eine von allen Zuschauern geteilte Sinnlichkeit adressiert wird, einem konkurrenzlos großen Rezipientenkreis ›ins Herz‹ eingelassen werden. Was prinzipiell auch die Malerei kann, die 79 Johann Georg Sulzer: Art. Schauspiel, in: ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. Reprografischer Nachdruck der 2. vermehrten Auflage Leipzig 1794, Bd. IV, Hildesheim 1967, S. 253-262, hier: S. 257. Ruppert spricht in diesem Sinne treffend von einer »präsentisch‐kollektive[n] Rezeptionsform« (Labor der Seele, S. 44). 80 Sulzer: Art. Schauspiel, S. 257. 81 Gottsched: Die Schauspiele, S. 495. Wolff und vor allem Gottsched schließen, wie Volkhard Wels mit Bezug auf letzteren feststellt, mit ihrer funktionalen Bestimmung des Dramas an die Tradition der Frühen Neuzeit und insbesondere des 17. Jahrhunderts an. Diese Tradition fasst das Drama vor dem Hintergrund ihrer Aristotelesauslegungen als evidential ausgestaltetes exemplum im Sinne einer logischen Form, die im konkreten Einzelfall einen argumentativen Gehalt so aufbereitet, dass er handlungsanregend wirkt. Der Gehalt, um den es dabei geht, ist das genannte Schema von Tugend und Laster, das Drama somit ein moralphilosophisches Instrument, vgl. Volkhard Wels: Die logische Form des Dramas im 17. Jahrhundert, in: Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazadrzig (Hg.): Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin/New York 2006, S. 131-153. 82 Schließlich ist die evidentia selbst ein Mittel der Überzeugung: »Denn es beeindruckt sehr, wenn man bei einer Sache verweilt, sie einleuchtend darstellt und Ereignisse beinahe vor Augen führt, als ob sie wirklich geschehen würde; diese Figuren bewirken sehr viel, wenn man einen Sachverhalt darlegt, um das das Dargelegte ins rechte Licht zu rücken und um es zu steigern, damit den Zuhörern das, was wir besonders hervorheben, so bedeutend erscheint, soweit wie es die Rede leisten kann.« (Marcus Tullius Cicero: De oratore/Über den Redner. Lateinisch‐deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007, III, 53, 202)

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ihre Gegenstände »aufs deutlichste vor die Augen« stellt, vermag ebenso die Bühne: Sie »unterrichtet also das Herz auch durch die Augen«83 – nur besser. Denn ihr eignet nicht nur eine Breiten-, sondern auch eine Tiefen- und Dauerwirkung: Was die »Gemälde« der Schaubühne vorstellen, »bleibt dem Gemüthe unauslöschlich eingegraben.«84 Allerdings ohne Gefahr zu laufen, dauerhaft verschüttet zu werden. Einmal verinnerlicht, werden die theatral vermittelten Eindrücke vielmehr zu edukativen Widergängern: »[B]ei der leisesten Berührung steht das ganze abschröckende Kunstgemälde im Herzen des Menschen wie aus dem Grabe auf.«85 Seine Qualifikation zu einer Erziehungsinstitution ersten Ranges verdankt das Theater also einer nur ihm eigenen, evidenzbasierten Wirkmächtigkeit, deren pädagogische Funktionalisierung dann seine Nobilitierung begründet. Dies wird zu Beginn der Reform ebenso betont wie im letzten wichtigen, alle wesentlichen bisherigen Argumente und Erziehungseffekte emphatisch bündelnden Diskursbeitrag – Schillers das Theater zu ›einer der ersten Anstalten des Staates‹ erhebenden Schaubühnenrede: »So gewiss sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als todter Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiss wirkt die Schaubühne tiefer und daurender als Moral und Gesetze.«86 Bis sich diese dauerhaften Wirkungen jedoch entfalten, dauert es. Theatrale Erziehung vollzieht sich als ein Prozess, dessen Ergebnisse sich zwar ›gewiss‹, aber, gleichwohl sie auf der Unmittelbarkeit der Theatervorstellung beruhen, erst mittelbar einstellen: »Die Besserung des menschlichen Herzens ist fürwahr kein Werk, welches in einer Stunde geschehen kann. Es gehören tausend Vorbereitungen, tausend Umstände, viel Erkenntniß, Ueberzeugung, Erfahrungen, Beyspiele und Aufmunterungen dazu, ehe ein Lasterhafter seine Art fahren läßt. Genug, daß man einen Saamen

83 Gottsched: Die Schauspiele, S. 496. Den Vergleich mit der Malerei bemüht bereits ausführlich Aristoteles in der Poetik, um mittels Darstellungsanalogien und -differenzen, die Darstellungsgegenstände und -mittel der dramatischen Dichtkunst zu konturieren. Auch bei Lambert ist die Malerei (vgl. Neues Organon, § 266, S. 824) sowie die »die Bildhauer- Modellier- und Possierkunst« (ebd., § 267, S. 824f.) der »modellgebende Fall« (Campe: Evidenz als Verfahren. S. 111) seiner Evidenztheorie. 84 Johann Georg Sulzer: Philosophische Betrachtungen über die Nutzlichkeit der dramatischen Dichtkunst, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften. 2 Teile in 1 Band. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1773-81. Hildesheim/New York 1974, S. 146-165, hier: S. 157. Der Text ist 1760 erstmalig in den Jahrbüchern der Berlinischen Akademie der Wissenschaften erschienen. 85 Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, S. 191. Was Schiller hier am Beispiel lasterhafter Figuren wie Medea, Lady Macbeth und dem selbstredend mit in die illustre Ahnenreihe gesetzten Franz Moor durchspielt, kann ebenso für die erbaulichen ›Gemälde‹ angenommen werden. 86 Ebd., S. 191.

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nach dem andern ins Herz wirft, der zu seiner Zeit aufgeht, und Früchte bringet.87 Es bleibt so manches in den Gemüthern aufmerksamer Zuschauer kleben, dessen sie sich bei Gelegenheit wiederum erinnern.«88 Eine geschickte, auf analogem Zusammenspiel von Temporalität und Wirkungsgewissheit beruhende, institutionelle Parallelisierung dient dabei gleichermaßen der Akzentuierung wie Absicherung dieses Prozesses. Wie auch die Predigt erzieht das Theater mit der Zeit – nur besser: »Ich höre noch einen Einwurf machen, wenn man sich auf die Erfahrung berufet: welche es gleichwohl nicht zeiget, daß diese Schauspiele viele Leute tugendhaft gemacht hätten. Allein, der Einwurf ist vergeblich, weil er zu viel beweisen würde, wenn er wahr wäre. Denn auch die Predigten würden nicht erbaulich sein, wenn man so augenscheinliche Wirkungen derselben bei allen Zuhörern fordern wollte? […] Man gebe mir ein Verzeichniß von allen diesen Bekehrten, die aus so vielen Millionen Predigten frömmer geworden: so will ich mich allezeit anheischig machen, aus den Trauerspielen, die doch, auch da, wo sie fleißig gespielet werden, nicht den zehntausendsten Teil von jenen ausmachen, eben so viele aufzuweisen.«89 Anders als eine Predigt kaschiert die Schaubühne jedoch ihre erzieherische Absicht. Sie wirkt vor allem deswegen als eine moralische Anstalt, weil sie sich ihren Adressaten, einem erziehungsbedürftig gedachten Publikum, nicht so präsentiert. Im Gegenteil, die theatrale ist eine sich und ihr Anliegen in Unterhaltsamkeit verbergende Erziehung, die sich vollzieht, ohne dabei die jeweiligen Absichten und Erwartungen der Zuschauer einzuschränken, die, wie die Reformer zugestehen, mehrheitlich auf Zerstreuung und Zeitvertreib gerichtet sind. Vielmehr bietet das 87 Im Erstdruck der Rede in Gottscheds Ausführlicher Redekunst (1736) heißt es hier, expliziter die theatrale Erziehungsleistung betonend: »Genug, dass ein Trauerspiel etwas, ja sehr viel dazu beiträgt. Genug, dass es einen Samen nach dem andern ins Herz wirft, der zu seiner Zeit aufgeht und Früchte bringet.« (Zitiert nach: Johann Christoph Gottsched: Schriften zur Literatur. Herausgegeben von Horst Steinmetz, Stuttgart 2009, S. 9f. Die Druckvorlage entstammt der zweiten Auflage der Redekunst von 1739.) 88 Gottsched: Die Schauspiele, S. 499. Unter freilich gänzlich distinkten Prämissen wird Schiller den Gedanken in einer Reihe von Briefen später wieder aufgreifen. Dass sich nicht nur gegen moralische Indienstnahme des Theaters, sondern überhaupt gegen eine der Aufklärung eigene zweckrationale Perspektive auf Kunst verwahrende, ihr aber gleichwohl eine alle bisherigen Überlegungen noch übersteigende Wirkmächtigkeit zuschreibende Projekt der Ästhetischen Erziehung versteht sich explizit als »eine Aufgabe für mehr als ein Jahrhundert«. (Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 7. Brief, S. 579.) Vgl. zu diesem Aspekt u.a. Peter-André Alt: »Arbeit für mehr als ein Jahrhundert«. Schillers Verständnis von Ästhetik und Politik in der Periode der Französischen Revolution (1790-1800), in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 102-133. 89 Gottsched: Die Schauspiele, S. 498f.

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Theater die Möglichkeit, den Müßiggang erzieherisch zu unterwandern und dessen Auswirkungen zu verhindern: »Überläßt man dieses [die Gestaltung des Zeitvertreibs – AW] dem Zufalle, so werden allerhand schädliche Folgen daher entstehen.«90 Es vermag als erlaubte, gleichwohl edukativ kolonisierte Lust, die nicht arbeitsam zugebrachten Stunden inhaltlich gegen Ausschweifungen aller Art abzusichern und damit zu einer rundherum nützlich zugebrachten Zeit beizutragen. Über das gesuchte Vergnügen lässt sich »auf eine unvermerkte Weise« ein erzieherischer Gehalt transportieren, der sich auch noch in denjenigen ablagert, »welche mit Fleiß ihren Beruf in der Unwissenheit und im Müßiggange suchen, und nichts anders thun wollen, als sich die Zeit vertreiben.«91 Unter der Hand verwandelt sich selbst der Theaterbesuch zu Unterhaltungszwecken in eine Unterrichtsstunde, die die Zuschauer belehrt, »auch wenn sich diese bloß zu belustigen denken«92 und dabei, so die Vorstellung, als solche gar nicht zu bemerken ist: »Sie wissens nicht, daß sie was lernen: Aber gleichwohl geschiehts.«93 Das Nützliche liegt im Angenehmen getarnt, die Zuschauer »streben nach einem Zuckerwerke, und finden die nahrhafteste Speise darunter verborgen«94 und weil sie nichts von ihrer Belehrung merken, gestaltet diese sich als umso effektiver. Allerdings kommt es im Verlaufe der Reform zu einer gewissen Varianz im Menüplan dieser ›nahrhaften Speisen‹, zu unterschiedlichen Bewertungen und Bestimmungen dessen, was ›nahrhaft‹ ist.

2.2   Wirkungsästhetiken Innerhalb der Reform stehen sich vor allem zwei wirkungsästhetische Komplexe gegenüber: Im Gefolge der Überlegungen von Wolff und dann vor allem Gottsched soll der Theaterbesuch über die Vorbildlichkeit des dramatischen Helden Verhaltensmodelle bereitstellen, die in ihrer Tugendhaftigkeit und angemessenen Reaktion auf in ihrem Zustandekommen gleichermaßen vorgeführte Unglücksfälle zur Nachahmung anregen. Die von Lessing als eine Aktualisierung aristotelischer Überlegungen entwickelte Mitleidsästhetik setzt hingegen auf eine Optimierung 90 Sulzer: Art. Schauspiel, S. 254. 91 Johann Elias Schlegel: Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters, in: ders.: Werke. Herausgegeben von Johann Heinrich Schlegel (1764-1773). Band III, Frankfurt a.M. 1971, S. 259-298, hier: S. 274. Im Folgenden unter der Sigle DT mit Seitenangabe im Text zitiert. 92 Gottsched: Die Schauspiele, S. 500. 93 [Johann Christoph Gottsched]: Des berühmten Johann le Clerk Gedanken über die Poeten und Poesie an sich selbst. Mit Anmerkungen erläutert, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VI: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1739-1740, 24. Stück, S. 531-600, hier: S. 600. Es handelt sich um eine kommentierte Übersetzung Gottscheds. 94 Gottsched: Die Schauspiele, S. 500.

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der Fähigkeit zu sittlichem, sozialkompatiblem Handeln, die über eine Formung der moralisch konzipierten Affekte Furcht und Mitleid verläuft. Für beide Konzeptionen spielt das Maß eine entscheidende Rolle: Es prägt erstens als poetologische Kategorie eine dramatische Form, die vorbildliche Figuren zeigt. Zweitens stellt das Maß als Mitte das Formideal der theatral zu regulierenden Affekte dar und rückt so als ethische Kategorie ins Zentrum der moralischen Anstalt. Aus einer Erziehung, die mittels einer Affekterregung verläuft, also der einen Nachahmungsimpuls hervorrufenden Bewunderung, wird im Verlaufe der Reform dann eine Erziehung dieser als ihrerseits bereits moralisch aufgefassten Affekte selbst, deren Temperierung im Sinne eines Mittelmaßes dem Interaktions- und Verhaltensideal desjenigen Teils der Gesellschaft entspricht, der nicht nur maßgeblich das Publikum ausmachen soll, sondern mit Lessings Überlegungen auch Gegenstand einer theatralen Darstellung wird, die nicht nur die genannten Ideale verhandelt, sondern die zugehörige Affektdisposition allererst hervorbringt.95 Die moralische Anstalt ist eine Erziehungsinstitution des bürgerlichen Menschen96 und in dieser Hinsicht das Komplement der sich gegen Ende des Jahrhunderts herausbildenden, professionellen Pädagogik, die sich der Hervorbringung des künftigen Bürgers verpflichtet.97

2.2.1   Bewunderung und Nacheiferung In der Überzeugung, »daß keine andere Art von Poesie so geschickt ist, uns Beyspiele und Muster von Tugenden zu geben«98 schließen sich die Überlegungen der Reformer an die von Wolff aufgestellte Kausalrelation von Tugend | Glück respektive Laster | Unglück an, reichern diese allerdings hinsichtlich der Ursachen jedoch um eine stärkere affektive Komponente und entsprechende Bewertungskonditionierung an: »Ich sehe ein, was ich lieben oder hassen, was ich suchen oder fliehen soll«99 – der Weg durch die Augen ins Herz mündet in einer evidenzgestifteten Einsicht. Als dezidierte »Aufmunterung zur Tugend« und »Züchtigung der Laster«100 visieren diese Zuordnungen einen Übertrag an, der sich aus dem 95 Vgl. Ruppert: Labor der Seele, S. 57-100. 96 Vgl. Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule; Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 238-245. 97 Vgl. III.1. 98 Sulzer: Philosophische Betrachtungen, S. 152. 99 [Christian Gottlieb Ludwig]: Versuch eines Beweises, daß ein Singspiel oder eine Oper nicht gut seyn könne, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band II: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1733-1734, 8. Stück, S. 648-661, hier: S. 652. 100 Gottsched: Die Schauspiele, S. 494.

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Theater hinaus ins alltägliche Leben erstreckt, was die Verpflichtung der theatralen Darstellung auf bestimmte korrespondierende Strukturen beinhaltet, die nicht mit der zu modellierenden Perspektive konfligieren dürfen. Über eine Aus- und Zur-Schau-Stellung von Lastern, die sie als defizitär wahrzunehmen ermöglicht, über die Preisgabe ihrer Struktur und Folgen auf der Schaubühne, könnten »die Zuschauer, die damit vielleicht behafftet sind […] bewogen [werden,] sich dererselbigen zu entledigen.«101 Umgekehrt reizen die tugendhaften Helden in ihrem vorbildlichen Verhalten dazu, den »edlen Vorsatz« zu fassen, »sie nachzuahmen« und erwecken »einen heimlichen Ehrgeiz, nicht schlechter als sie, befunden zu werden.«102 Dieser zweifache pädagogische Reiz, Entledigung und Nacheiferung, beruht auf einer Darstellung im Zeichen des Übermäßigen, die durch diesen Reiz als Mittel sanktioniert wird: Um die entsprechenden Verhaltensimpulse zu setzen, befasst sich »die Poesie […] mit lauter außerordentlichen Leuten, die es entweder im Guten oder Bösen aufs Höchste gebracht haben. Jene stellt sie als lobwürdige Muster zur Nachfolge; diese aber als schändliche Ungeheuer, zum Abscheue vor. Eine mittelmäßige Tugend, rühret die Gemüter nicht sehr. Ein jeder hält sich selbst für fähig dazu, und also machen dergleichen wahre oder erdichtete Exempel wenig Eindruck; wenn gleich sonst alle poetische Künste in Beschreibung oder Vorstellung derselben angewandt wären. Mit den Lastern gehts eben so.«103 Dass eine solche Darstellung sich in einer wirklichen Maßlosigkeit verliert, verhindert eine maßvolle, strenge Form, die poetologischen Regeln gehorcht und deren Darstellungsgrenzen das Mimesispostulat absteckt: Bei aller Übermäßigkeit in der Tugend- und Lasterdarstellung muss »die Natur und Vernunft […], wie allenthalben, also auch hier, nicht aus den Augen gesetzt werden.« (CDI, S. 245) Die dargestellten ›außerordentlichen Leute‹ haben einen legitimen dramatischen Ort allein in »einer regelmäßigen und wohleingerichteten Tragödie«104 für die Gottsched im Fahrwasser des französischen Klassizismus105 die Einhaltung der drei Einheiten ebenso fordert, wie mit der Ständeklausel eine stete Angemessenheit von Konflikt 101 Gottsched: Die Vernünftigen Tadlerinnen, XVII. Stück. Mittwochs, den 25. April 1725, S. 132. 102 Gottsched: Die Schauspiele, S. 497. Heide Hollmer spricht in diesem Zusammenhang von der »Auslösung des autodidaktischen Nacheiferungsimpulses« (Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiel in Gottscheds ›Deutscher Schaubühne‹, Tübingen 1994. S. 81). 103 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst: Erster allgemeiner Theil, in: ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von Joachim Birke und Brigitte Birke. Sechster Band, Erster Teil, Berlin/New York 1973, S. 224. Im Folgenden unter der Sigle CDI mit Seitenangabe im Text zitiert. 104 Gottsched: Die Schauspiele, S. 494. Vgl. zu diesen Anforderungen ausführlicher II.4. 105 Vgl. zu Bedeutung und Einfluss der französischen Klassik und deren Wandel von einem – durchaus differenziert betrachteten – Vorbild (Gottsched) zu einer – mitunter ebenso differenziert betrachteten Abgrenzungsfolie (Lessing) u.a. Martin Bollacher: Französische und

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und dramatischem Personal sowie einen angemessenen Umgang von diesem mit jenem: Dargestellt werden also die »Unglücksfälle, die den Großen dieser Welt begegnen, und von ihnen entweder heldenmüthig und standhaft ertragen oder großmüthig überwunden werden.«106 Auf Grundlage dieser maßvollen Form sichert die Darstellung des Übermäßigen nun die nötige affektive Teilnahme der Zuschauer, setzt sie überhaupt erst in Gang und hat damit besonders leichtes Spiel bei der von den sinnlichen Exempeln adressierten Instanz: »Das menschliche Herz ist darzu gemacht, daß es soll in Affecten seyn. Es will gerne stets rege gemacht werden, und nichts ist ihm mehr zuwider, als eine gänzliche Stille und Unempfindlichkeit.«107 Erst der erregte Affekt macht das Herz aufnahmebereit, »reizet uns zur aufmerksamen Betrachtung [der] Vorstellungen«108 . Im Kontext der Vermittlung des moralphilosophisch sanktionierten Kosten-Nutzen-Kalküls, dass lasterhaftes Verhalten bestraft, tugendhaftes hingegen belohnt wird, soll vor allem ein Affekt mobilisiert werden: eine »zur Bewunderung getriebene Hochachtung«109 . Sie wird durch das vorbildliche Verhalten des Helden erregt, das sich in seinem Umgang mit standesgemäß »außerordentlichen Unglücksfälle[n]«110 unter Beweis stellt. Wird innerhalb der Darstellung auf Überdurchschnittliches und Extremes gesetzt, gibt zusätzlich zur regelmäßigen Form die edukative Aufgabe der Schaubühne das Maß dieser Affekterregung vor. Es ist ebenso legitim wie notwendig »die Gemüthsbewegungen der Zuschauer auf eine der Tugend gemäße Weise zu erregen«111 , und das heißt mit anderen Worten: auf eine ausschließlich maßvolle Weise. Neben dem affektiv befeuerten Nacheiferungswunsch, der diese sittliche Distanz zu verringern trachtet, folgt aus diesem Bewusstsein »mittels einer kleinen Reflexion«112 , zu der die sinnliche Konkretion des Sittlichen befähigt, eine sozialstabilisierende Einsicht für das eigene Verhalten im wenig heroischen, aber im deutsche Denkungsart: Zur Rezeption der französischen Literatur bei Lessing, in: Ulrike Zeuch (Hg.): Lessings Grenzen, Wiesbaden 2005, S. 47-64. 106 Gottsched: Die Schauspiele, S. 494. 107 [Gottsched]: Des berühmten Johann le Clerk Gedanken, S. 539f. 108 Ebd., S. 539. 109 Sulzer: Philosophische Betrachtungen, S. 152. 110 [Gottsched]: Des berühmten Johann le Clerk Gedanken, S. 586. 111 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst: Anderer besonderer Theil, in: ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von Joachim Birke und Brigitte Birke. Sechster Band, Zweiter Teil, Berlin/New York 1973, S. 318. Im Folgenden unter der Sigle CDII mit Seitenangabe im Text zitiert. In der zitierten Stelle werden Schrecken und Mitleiden als Affekte genannt. Georg-Michael Schulz hat allerdings gezeigt, dass Gottsched unter stärkerem Bezug eher auf die Tradition der Rhetorik als die aristotelische Katharsis einerseits mit »(je nach Zusammenhang) variierenden Affektkombinationen operier[t]« (Tugend, Gewalt und Tod, S. 72) und andererseits stärker die miteinander verknüpften Affekte Schrecken und Bewunderung im Wirkungszentrum der erbaulichen Tragödie liegen: »Die Unglücksfälle lösen Schrecken aus, die Standhaftigkeit ruft Bewunderung hervor« (ebd., S. 74.). 112 Schulz: Tugend, Gewalt und Tod, S. 75.

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bescheideneren Rahmen möglicherweise durchaus auch widrigkeitsschweren Alltag: »Kann nicht ein Edler und Bürger eben das im Kleinen ausüben, was Fürsten und Helden im Großen gethan? Und bekömmt nicht der Schluß, selbst durch die Ungleichheit der Personen, eine größere Kraft: dieser oder jener Prinz hat sich in einem weit schrecklichern Unfalle gelassen und standhaft erwiesen: daher muß ich mich auch in geringern Zufällen nicht ungebärdig stellen. Dieser Held hat sich in weit traurigern Umständen, mit der Unschuld und Tugend getröstet; daher will ich derselben in mittelmäßigen Bekümmernissen auch nicht abtrünnig werden[.]«113 Die Tragödien können ihre Wirkung insofern ständeübergreifend entfalten, als dass die von ihnen illustrierten Mechanismen von Verhaltensidealen getragen werden, die je nach Standeszugehörigkeit und damit verbundenen Lebensumständen graduell adaptierbar sind und, ohne den moralphilosophisch etablierten Rahmen der Ausgangsgleichung Laster – Unglück/Strafe respektive Tugend – Glück/Belohnung zu verlassen, ein sozial verortbares Verhaltensideal bereitstellen, das über den sich daran heftenden Affekt der Bewunderung allen Elementen einer impermeabel gedachten Ordnung des Sozialen Orientierungswerte liefert, die sie ermutigen sollen, sich an und mit ihrem Platz im gesellschaftlichen Gefüge zu arrangieren. Über die Konfrontation mit gewichtigeren Unglücksfällen wird mittels der skizzierten Wirkungsstruktur nicht nur das Bewusstsein für die Möglichkeit jederzeit eintretender Widrigkeiten geschaffen, die wiederholten Begegnungen mit fremdem Unglück verwandeln die Schaubühne über eine pädagogische Transponierung der poetologischen Gepflogenheiten des barocken Trauerspiels und der Märtyrertragödie114 in einen Erfahrungsgenerator mit lebenswirklichkeitsveränderndem Potential: »Gewinn genug, wenn unausbleibliche Verhängnisse uns nicht ganz ohne Fassung finden, wenn unser Mut, unsre Klugheit sich einst schon in ähnlichen übten, und unser Herz zu dem Schlag sich gehärtet hat. Die Schaubühne führt uns eine mannichfaltige Szene menschlicher Leiden vor. Sie zieht uns künstlich in fremde Bedrängnisse, und belohnt uns das augenblickliche Leiden mit wollüstigen Tränen, und einem herrlichen Zuwachs an Mut und Erfahrung.«115 Zu einer gesellschaftlichen Stabilisierung trägt die Schaubühne außerdem darüber bei, dass sie an dieser Versöhnung der sozialen Vertikalen von beiden Seiten her, 113 Gottsched: Die Schauspiele, S. 498. 114 Vgl. Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragodiae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels, in: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland, hg. u. eingeleitet von Reinhold Grimm, Frankfurt a.M. 1971, Bd. 1, S. 1-44. 115 Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, S. 195

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dem sozialen ›oben‹ und dem ›unten‹ mitwirkt. Sie vermag einerseits, »die Meinungen der Nation über Regierung und Regenten zurecht[zuweisen]. Die gesetzgebende Macht spräche hier durch fremde Symbolen zu dem Untertan, verantwortete sich gegen seine Klagen, noch ehe sie laut werden, und bestäche seine Zweifelsucht, ohne es zu scheinen.«116 Andererseits aber bezieht ihre edukative Reichweite auch die »Großen und Gewaltigen dieser Erden« in die Verantwortung und weist, »was eure Pflicht ist. Die Musen allein erkühnen sichs, euch auf euren Thronen zu lehren, wenn sich euer ganzes Hofgesinde in Schmäuchler verwandelt hat. Die Wahrheit, welche in ihrer natürlichen Gestalt, durch eure Leibwachten und Trabanten nicht durchdringen kann, sieht sich genöthiget, von der göttlichen Melpomene ihr tragisches Kleid zu erborgen. Da tritt sie dann, in Gestalt alter Helden, auf die Schaubühne. Da prediget sie euch mit Nachdruck, von der wahren Größe der Prinzen; von der Nichtigkeit aller weltlichen Hoheit; von der Abscheulichkeit der Tyranney! Da lehrt sie euch, ihr Götter dieser Erden, daß ihr auch Menschen seyd[.]«117 Die »soziale Exklusivität« des Trauerspiels ist dementsprechend »nicht als Freibrief« zu verstehen, sondern wird »verknüpft […] mit der Erwartung auf eine entsprechende moralische Verbindlichkeit«118 . Diesen Erwartungsdruck kann die Schaubühne insofern erzeugen, als dass ihre Darstellungen es unmöglich machen, sich ohne Legitimitätsverlust der sittlichen Verantwortung von Herrschaft zu entziehen, denn »[h]ier nur hören die Großen der Welt, was sie nie oder selten hören – Wahrheit; was sie nie oder selten sehen, sehen sie hier – den Menschen.«119 Die Schaubühne wirkt ständeübergreifend pädagogisch, vereint Bürger und Könige im Zeichen universeller Erziehbarkeit und (potentieller) Erziehungsbedürftigkeit, weiß dabei allerdings sehr wohl unterschiedliche und an unterschiedliche Adressaten gerichtete120 Unterrichtsinhalte zu vermitteln. 116 Ebd., S. 198. Schulz spricht von einer »Untertanen-Optik« (Tugend, Gewalt und Tod, S. 164); Martens, sicherlich etwas überspitzt von einem »gezielt von den Obrigkeiten eingesetzte[n] Propagandainstrument« (Wolfgang Martens: Die deutsche Schaubühne im 18. Jahrhundert – moralische Anstalt mit politischer Relevanz?, in: Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann (Hg.): Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung, Hamburg 1987, S. 90-107, hier: S. 99). Wie Martens allerdings ebenso pointiert wie überzeugend darlegt, sind die in der Forschung lange präsenten, starken Betonungen des emanzipatorisch‐politischen Stellenwerts und Potentials der moralischen Anstalt, etwa »als Kampfplatz der sich formierenden bürgerlichen Klasse […] keine Begriffe, keine Selbstdeutungsformeln des 18. Jahrhunderts, sondern Vorstellungen aus dem Kategorienfundus unserer Zeit.« (Ebd., S. 91) 117 Gottsched: Die Schauspiele, S. 497. 118 Schulz: Tugend, Gewalt und Tod, S. 85. 119 Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, S. 196. 120 Zelle: Querelle du Théâtre, S. 30 spricht von einer »adressatenspezifische[n] Differenzierung der Tragödienwirkung«. Vgl. außerdem Günter Saße: Die aufgeklärte Familie. Untersuchun-

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Eine besondere Ausgestaltung erfährt diese Dramaturgie der Bewunderung121 in den Überlegungen Moses Mendelsohns, wie er sie im Briefwechsel über das Trauerspiel entfaltet.122 Auch bei Mendelssohn löst ein vorbildliches Betragen Bewunderung und einefn starken, affektiv getragenen Handlungsimpuls aus.123 Allerdings ist diese Wirkung für Mendelssohn mit Vorsicht zu genießen. Affektive Ergriffenheit ist zwar für die Aufführung ausdrücklich vorgesehen und erwünscht, aber in ihrer Legitimität auf deren Dauer beschränkt; und auch damit verbundene Vorsätze dürfen nicht ohne Weiteres »anhaltend sein, und sogar in Taten ausbrechen.«124 Dieser Vorbehalt, und das setzt Mendelssohn von den übrigen gewichtigen Stimmen im affirmativen Theaterdiskurs ab, beruht auf einer Trennung von Kunsterlebnis und ›Wirklichkeit‹, die Mendelssohn unterschiedlichen Herrschaftsbereichen und Bewertungslogiken unterstellt. In seinen Briefen Über die Empfindungen hatte er nachdrücklich betont: »Der Zweck des Trauerspiels ist Leidenschaften zu erregen«, weswegen von der »wahren Sittlichkeit« eine »theatralische[]« zu unterscheiden ist, der gemäß alles auf der Schaubühne legitim ist, »was in der heftigsten Leidenschaft seinen Grund hat.«125 Dies führt zu einer Auftrennung der primären Kopplung von Theater und Moraldidaxe: Was auf der Bühne sittlich und zweckgerichtet ist, also sich in heftiger Leidenschaft gründet und ebensolche erregt, kann mit der ›wahren Sittlichkeit‹ übereinstimmen, muss es aber nicht: Die suspendierte

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gen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung, Tübingen 1988, hier: S. 40f. Vgl. Albert Meier, Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch‐klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1993. Meier legt in seiner Studie ausführlich dar, dass der Affekt der Bewunderung keineswegs aus der Dramenproduktion des 18. Jahrhunderts verschwindet, sondern in sich in der ›politisch‐klassizistischen Tragödie‹ (so die Gattungszuschreibung bei Meier) präsent bleibt. Dies betonen auch Jutta Golawski-Braungart: Furcht oder Schrecken; Lessing, Corneille und Aristoteles, in: Euphorion 93 (1999), S. 401-431, hier: S. 401 und Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 102. Vgl. zum Briefwechsel die grundlegende Analyse und Kontextualisierung von Jochen SchulteSasse: Der Stellenwert des Briefwechsels in der Geschichte der deutschen Ästhetik, in: Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel. Herausgegeben und kommentiert von Jochen Schulte-Sasse, München 1972, S. 168-237. Den Briefwechsel als ein Ensemble dreier »gänzlich verschiedene[r] Diskurstypen über Funktion und Wirkung von Literatur« untersucht Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung, Stuttgart/Weimar 1995, S. 151-193, Zitat von S. 152. Vgl. den Brief von Mendelssohn an Lessing vom 23. November 1756, in: Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 167-170. Ebd., [Von Moses Mendelssohn. Berlin, erste Hälfte Dezembers 1756], S. 181. Moses Mendelssohn: Über die Empfindungen, in: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Band 1: Schriften zur Philosophie und Ästhetik I. Bearbeitet von Fritz Bamberger. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1929 mit einem Bildnis und einem Faksimile, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, S. 41-123, hier: 13. Brief, S. 94f.

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Verpflichtung zur moralischen Vorbildlichkeit erweitert das Spektrum der Darstellungsmöglichkeiten und so »kann uns die Bewunderung auch solche Handlungen als nachahmungswürdig anpreisen, die wir mit der Vernunft für untugendhaft erkennen«126 . Allerdings muss gewährleistet sein, dass sich ›theatralische‹ und ›wahre‹ Sittlichkeit nicht wechselseitig in ihrer Entfaltung stören, beide Sphären einander nicht tangieren und darüber in ihren jeweiligen Logiken und Maßstäben kollabieren. Die Vorstellung muss den Zuschauer »ästhetisch illudieren«127 , damit sich die affektiven Reaktionen entfalten können. Dann »verdunkeln [wir] gern die deutlichen Vernunftschlüsse, die sich unsrer Illusion widersetzen«128 . Dieser Rückzug der oberen Seelenkräfte ist Garant für die Wirkungsentfaltung innerhalb der Sphäre des Theaters, aber er ist ausdrücklich nur temporär, »weil nach geendigter Illusion die Vernunft wieder das Steuer ergreift.«129 Die Verdunkelung klart also mit Ende der Vorstellung wieder auf und verhindert so eine unmittelbare Übersetzung der theatral gestifteten Handlungsimpulse in die Wirklichkeit. An der grundsätzlichen Wirkmächtigkeit der Schaubühne besteht also auch für Mendelssohn kein Zweifel. Er schließt die Möglichkeit einer Übertragung theatraler Wirkungen über die Vorstellung hinaus keineswegs aus. Weil er die Schaubühne aber nicht primär pädagogisch, sondern ästhetisch perspektiviert, also etwa auch moralisch defizitäre Figuren als bewunderungswürdig denken kann, ist der sittliche Wert dieser Wirkungen weder gewährleistet, noch, und das markiert die Besonderheit von Mendelssohns Position, überhaupt erst gefordert.

126 Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, [Von Moses Mendelssohn. Berlin, erste Hälfte Dezembers 1756], S. 182. Schiller sieht sich anlässlich der Gebrüder Moor und geleitet von dem Anspruch, »ganze Menschen hinzustellen«, mit dem Dilemma konfrontiert, »[d]iese unmoralische Charaktere« auch in ihren »Vollkommenheiten« darstellen zu müssen, und empfiehlt angesichts der Wirkungsintensität der Schaubühne, aus Sorge, dass ein Rezipient sich »von einer schönen Seite bestechen lasse, auch den häßlichen Grund zu schätzen«, Lektüre statt Anschauung: »Aber eben darum will ich es selbst mißraten haben, dieses mein Schauspiel auf der Bühne zu wagen.« (Schiller: Die Räuber, Vorrede, S. 17f.) Zu riskant scheint es ihm, das von moralisch ambigen Charakteren getragene Stück in die theatrale Verlebendigungsapparatur einzuspeisen. Vgl. zum Einfluss Mendelssohns auf Schiller, Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, Müchen 1980, S. 36, 46-48. 127 Moses Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen, in: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Band 2: Schriften zur Philosophie und Ästhetik II. Bearbeitet von Fritz Bamberger und Leo Strauss. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1931, S. 147-155, hier: § 12, S. 154. 128 Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, [Von Moses Mendelssohn. Berlin, erste Hälfte Dezembers 1756], S. 181. 129 Ebd.

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2.2.2   Mitleidsdramaturgie In Auseinandersetzung mit Mendelssohns Überlegungen zur Bewunderung nimmt im Briefwechsel über das Trauerspiel das zweite einflussreiche theatrale Erziehungsprogramm, Lessings Mitleidsdramaturgie, seinen Ausgangspunkt.130 Gleichwohl sich die im Briefwechsel ausgetragene Debatte um das Verhältnis von Affekterregung und Moralität hauptsächlich zwischen Mendelssohn und Lessing abspielt, liefert den Anstoß dazu der dritte Gesprächspartner, Friedrich Nicolai. An seiner Position zeigt sich zugleich exemplarisch, dass selbst dort, wo eine primäre Identifizierung des Theaters mit einer Erziehungsinstitution abgelehnt wird, auf Grundlage eines Theaterverständnisses argumentiert wird, das sich genau durch diese Identifizierung auszeichnet.131 Ähnlich wie Mendelssohn hatte Friedrich Nicolai in seiner Abhandlung vom Trauerspiele entschieden die möglichst intensive Affekterregung ins Zentrum der Tragödienbestimmung gesetzt: Vor dem Hintergrund der Überlegungen Jean-Baptiste Dubos hatte er den Leidenschaften die Qualität zuerkannt, den Beschäftigung liebenden menschlichen Geist besonders intensiv »in Bewegung zu setzen«132 und damit ein entsprechend großes Vergnügen hervorzurufen. Mit seiner Zweckbestimmung des Trauerspiels richtet sich Nicolai nun zugleich gegen Vorstellungen der Katharsis, ebenso wie gegen das Primat eines erzieherischen Auftrags der Schaubühne, wie er Lessing gegenüber zusammenfasst: »Hauptsächlich habe ich den Satz zu widerlegen gesucht, den man dem Aristoteles so oft nachgesprochen hat, es sei der Zweck des Trauerspiels die Leidenschaften zu reinigen oder die Sitten zu bilden. […] Ich setze also den Zweck des Trauerspiels in die Erregung der Leidenschaften, und sage: das beste Trauerspiel ist das, welches die Leidenschaften am heftigsten erregt, nicht das, welches geschickt ist, die Leidenschaften zu reinigen.«133 130 Im Briefwechsel zeichnet sich somit, wie Albert Meier zurecht festgestellt hat, der »zentrale[] Paradigmenwechsel in der Geschichte des ernsten Theaters im 18. Jahrhundert« ab (Dramaturgie der Bewunderung, S. 180f). Dass und inwiefern Mendelssohn zwar die Gegenposition einnimmt, aber auch wichtige Impulse zu Lessings Mitleidsdramaturgie liefert zeigt Thomas Martinec: »einen Satz, den Ihnen Herr Moses vorläufig demonstrieren mag«. Mendelssohns Doppelrolle im Briefwechsel über das Trauerspiel, in: Heinz Ludwig Arnold und Cord-Friedrich Berghahn (Hg.): Moses Mendelssohn. Sonderband Text + Kritik, München 2011, S. 49-63. 131 Ein anderes Beispiel ist Johann Elias Schlegel, vgl. II.5.2. 132 Friedrich Nicolai: Abhandlung vom Trauerspiele, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Herausgegeben von P.M. Mitchell, Hans-Gert Roloff und Erhard Weidl, hier: Band 3: Literaturkritische Schriften I. Bearbeitet von P.M. Mitchell, Berlin [u.a.], S. 169-194, hier: S. 170. Den Bezugspunkt bilden Dubos Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture von 1719. 133 Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, [Von Friedrich Nicolai], Berlin, d. 31. August 1756, S. 156.

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Gleichwohl Nicolai eine sittliche Wirkung des Trauerspiels nicht grundsätzlich ausschließt, identifiziert er sie nicht mit dem pädagogischen Übertrag des um Tugend und Laster zentrierten Kosten-Nutzen-Kalküls: »Man glaube ja nicht, daß, weil der Zuschauer den lasterhaften Personen eines Stückes abgeneigt und den tugendhaften Personen geneigt ist, er deßwegen die Tugenden liebe und die Laster hasse«134 und, so lässt sich der Gedanke fortführen, lernt, sein Verhalten entsprechend zu modifizieren. Damit ist jedoch keineswegs jeglicher pädagogische Bezug ausgeschlossen, denn Nicolai knüpft bei aller Fokussierung auf die Affekterregung an bestehende Darstellungsnormen an, die er mit Mendelssohns Überlegungen zur theatralischen Sittlichkeit amalgamiert und darüber eine erzieherische Selbstverpflichtung des Theaters im Kern seines Trauerspielmodells festschreibt. Nicolai hält fest, »daß das Theater seine eigne Sittlichkeit habe«, diese aber nicht mit »den Gesetzen der allgemeinen Sittenlehre« offen konfligieren dürfe.135 Ein solches Trauerspiel würde nicht nur seinen Zweck verfehlen, weil es eher moralische Empörung als ›ästhetische Illudierung‹ und Affektgenuss auslöste, es würde geradewegs »schädlich seyn, indem es unanständige Grundsätze zu rechtfertigen schiene«136 . Um diesem Dilemma zu entgehen, um es von vornherein auszuschließen, sollte den Dichter »der eigentliche Zweck des Trauerspiels, die Erregung der Leidenschaften darauf leiten, den Tugendhaften in gewissem Masse als liebenswürdig, und den Lasterhaften als verabscheuenswürdig vorzustellen, ohne welches wir entweder keinen Antheil an den Handlungen der spielenden Personen nehmen würden, oder durch den unerträglichen Widerspruch des Guten und des Bösen, in dem genommenen Antheile, und in der Rührung die wir zu empfinden hofften, alle Augenblicke würden gestöret werden.«137 Insofern, als dass sie innerhalb eines moralisch integren Darstellungsrahmens stattfindet, bleibt die lustvolle Affekterregung als Zweck umzäunt von den Axiomen der moralischen Anstalt. Und nur innerhalb dieses Rahmens kann Nicolai »die Besserung der Sitten nicht als notwendiges Ziel, sondern nur als eine untergeordnete Möglichkeit der Tragödie«138 bestimmen, über die jedoch gleichwohl 134 Nicolai: Abhandlung vom Trauerspiele, S. 172. 135 Ebd., S. 174. Genau diese Konflikterlaubnis markiert hingegen Mendelssohns Ausnahme‐position in der Debatte. 136 Ebd. 137 Ebd. 138 Caroline Torra-Mattenklott: Die Seele als Zuschauerin. Zur Psychologie des ›movere‹, in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 91-108, hier: S. 104. Vgl. auch Schulte-Sasse: Stellenwert des Briefwechsels, S. 199; vgl. außerdem zur hier skizzierten Grundlage der (vermeintlichen) Trennung Kunst – Moralität Monika Fick: Lessing-

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die ganze Konzeption anschlussfähig gehalten wird für eine Bestückung der theatralen Wirkungsmaschinerie mit bestimmten, diskursdominanten Inhalten: »Wenn also das Trauerspiel mit den Gesetzen der Sittenlehre nicht streitet, wenn es vielmehr öftere Gelegenheit hat, die Folgen dieser Gesetze uns in lebendigen Beyspielen vorzustellen, so kann es dienen, die Lehren der Tugend in uns lebhafter zu machen, so kann endlich unser Herz, wenn es zu wiederholtenmalen durch Beyspiele der Tugend vergnüget, und über lasterhafte Charaktere unwillig geworden ist, endlich eine Neigung bekommen, die Gebote der Sittenlehre leichter anzunehmen[.]«139 Wie Nicolai lehnt nun auch Lessing ein Primat der Bewunderung ab. Er steht aber zugleich in noch schärferem Kontrast zu dessen Zweckbestimmung des Trauerspiels, die er in der Entfaltung seiner eigenen Position insofern »mediatisiert«140 , als dass er aus Nicolais Endzweck zunächst ein Mittel macht und beide Partikel so eng miteinander verzahnt, dass sie schließlich in eins fallen. Lessings Überlegungen kreisen dabei im Rahmen des Briefwechsels vornehmlich um »die Frage, wie die Gattung des Trauerspiels einzurichten sei, um die Funktionsanforderung an das Theater, ein der Wahrheit verpflichtetes gesellschaftliches Steuerungsmedium zu sein, zu erfüllen.«141 Es geht ihm um eine soziale Nützlichkeit des Theaters, die in direktem Zusammenhang mit dem ästhetischen Genuss steht, den es verschafft – eine Verknüpfung, die, so Lessing, für die dramatische Kunst insgesamt konstitutiv ist: »Beider Nutzen, des Trauerspiels sowohl als des Lustspiels, ist von dem Vergnügen unzertrennlich; denn die ganze Hälfte des Mitleids und des Lachens ist Vergnügen, und es ist großer Vorteil für den dramatischen Dichter, daß er weder nützlich, noch angenehm, eines ohne das andere sein kann.«142 In dieser Konzeption ist der Zweck bereits im Mittel erhalten. Das Mitleid, als, wie es im Briefwechsel noch heißt, die »einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht«143 , ist als Affekt nicht länger Instrument zur Empfänglichkeit vernünftiger moralischer Wahrheiten, ihm eignet eine eigene, wesentlich Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage, Stuttgart/Weimar 2004, S. 140f. 139 Nicolai: Abhandlung vom Trauerspiele, S. 174. 140 Schings: Der mitleidigste Mensch, S. 22. 141 Deiters: Die Entweltlichung der Bühne, S. 74. 142 Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, [An Friedrich Nicolai], im Nov. 1756, S. 163. Vgl. zu Lessings Komödientheorie Agnes Kornbacher-Meyer: Komödientheorie und Komödienschaffen Gotthold Ephraim Lessings, Berlin 2003, S. 26-124. 143 Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, [An Friedrich Nicolai], im Nov. 1756, S. 161.

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profundere »moralische Potenz«144 , die pathokinetisch ausgebildet und trainiert wird. Im Briefwechsel plädiert Lessing dementsprechend für eine »sichere Erregung und Dauer«145 , eine Maximalausbeutung, die zugleich eine Erweiterung des Mitleids als derjenigen affektiven Ressource ist, die Kunstgenuss mit Sozialverhalten verbindet. Anders als die Bewunderung, die, wie Lessing gegen Mendelssohn argumentiert, höchstens punktuell und in zur theatralen Darstellung strukturell analogen Situationen den Versuch einer Verhaltenskopie anzuregen vermag,146 dreht sich seine Trauerspielkonzeption um die Ausbildung einer situationsunabhängigen, sittlichen und sozialkompatiblen Disposition. Die Voraussetzung dazu ist ein vom Bühnengeschehen ausgelöster, unabhängig von der Sittlichkeit des Dargestellten wesenhaft moralischer Affekt,147 der die Rezeption prägt und in dem letztlich die ganze Rezeption aufgeht, weil er als Affekt Vergnügen bereitet, in seinem Kern moralisch und in seiner Wirkung pädagogisch ist. Vor diesem konzeptuellen Hintergrund entfaltet sich Lessings berühmte Identifizierung samt ihrer Folgen: »Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder – es tut jenes, um dieses tun zu können.«148 Diese Verknüpfung von theatralem Affekt und sozialem Effekt ist zunächst derart auf Steigerung ausgerichtet, dass eigentlich keine Wirkungsobergrenze mitgedacht wird, im Gegenteil: »Das Trauerspiel soll das Mitleiden nur überhaupt üben«,149 dabei aber »so viel Mitleid erwecken, als es nur immer kann«150 , um die anvisierte lern- und trainierbare »Gefühlsdisposition«151 proportional zu ihrer Intensivierung zu stabilisieren. Wichtig und im Hinblick auf die Diskussion um die 144 Meier: Dramaturgie der Bewunderung, S. 200. Vgl. auch Wölfel: Moralische Anstalt, S. 116f. 145 Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, [An Friedrich Nicolai, im Nov. 1756], S. 163. 146 Im Brief vom 18.12.1756 schreibt Lessing an Mendelssohn: »[D]ie Bewunderung einer schönen Handlung kann nur zur Nacheiferung eben derselben Handlung, unter eben denselben Umständen, und nicht zu allen schönen Handlungen antreiben; sie bessert, wenn sie ja bessert, nur durch besondere Fälle, und also auch nur in besonderen Fällen.« (Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 189) 147 Ebenfalls im Brief vom 18.12.1756 schreibt Lessing: »Gesetzt auch, daß mich der Dichter gegen einen unwürdigen Gegenstand mitleidig macht, nämlich vermittelst falscher Vollkommenheiten, durch die er meine Einsicht verführt, um mein Herz zu gewinnen. Daran ist nichts gelegen, wenn nur mein Mitleiden rege wird, und sich gleichsam gewöhnt, immer leichter und leichter rege zu werden. Ich lasse mich zum Mitleiden im Trauerspiele bewegen, um eine Fertigkeit im Mitleiden zu bekommen« (ebd., S. 189f.). 148 Ebd., [An Friedrich Nicolai], im Nov. 1756, S. 163. 149 Ebd., [An Moses Mendelssohn], Leipzig, den 18. Dez. 1756, S. 189. 150 Ebd., [An Friedrich Nicolai], im Nov. 1756, S. 164. 151 Schulte-Sasse: Stellenwert des Briefwechsels, S. 202.

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pädagogische Funktion der Schaubühne gewichtig ist die damit verbundene Wirkungsverschiebung weg von konkreten, zur Nacheiferung anregenden Verhaltensvorbildern hin zur prozessualen Modellierung einer grundlegenden Verhaltensbefähigung und -bereitschaft, die im mitleidstrainierten Zuschauer auf Dauer gestellt wird.152 An die Stelle einer theatral vermittelten Anempfehlung dieses oder jenes Verhaltens tritt damit eine Formung von dessen affektiver Grundlage, die nicht nach gesellschaftlichem Stand spezifiziert, sondern anthropologisch fundiert und generalisiert ist. Deswegen kann Lessing auch eine entsprechend flächendeckende Wirkung des Mitleids behaupten: »Das Mitleiden hingegen bessert unmittelbar; bessert, ohne daß wir selbst etwas dazu beitragen dürfen; bessert den Mann von Verstande sowohl als den Dummkopf.«153 Es bessert mit anderen Worten jeden. In Rahmen der Hamburgischen Dramaturgie führt Lessing diese affekttheoretischen Überlegungen weiter aus und macht nicht nur deutlich, was die Affekte überhaupt auslöst, sondern schreibt auch ihre Erregung und Formung und damit eine anthropologische Inneneinrichtung als die exklusive Erziehungsleistung des Theaters fest. Dabei ist von Affekten im Plural zu sprechen, weil Lessing nun dem zuvor noch ›einzigen Mitleiden‹ in seiner Aristoteles-Exegese154 mit der Furcht den 152 Bei Meier: Dramaturgie der Bewunderung, S. 206 heißt es in diesem Sinne treffend: »Die Einübung in das Mitleid tritt an die Stelle des Begreifens von Exempeln, d.h. eine unmittelbare sinnliche Wirkung der Tragödie erübrigt die rational vermittelte Umsetzung einer lehrhaften Bühnenhandlung in privates Verhalten.« 153 Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, [An Moses Mendelssohn], Leipzig, den 28. Nov. 1756, S. 175. Vgl. zu dieser anthropologischen Ausrichtung GolawskiBraungart: Furcht oder Schrecken, S. 413. 154 Dass »Lessings Auseinandersetzung mit Aristoteles […] auf der eigenen Dramenkonzeption [fußt], nicht umgekehrt«, betont Fick: Lessing-Handbuch, S. 291. Gleichwohl ist sein Bezug auf Aristoteles in der althphilologischen wie neugermanistischen Forschung bekanntlich intensiv und mitunter kontrovers diskutiert worden: Vgl. u.a. die grundsätzliche und nachhaltige Problematisierung bei Max Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, Frankfurt a.M. 1940; Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid, in: Hermes 83 (1955), S. 128-171 hat mit seinem Aufsatz und der darin enthaltetenen deutlichen Kritik an Lessings Übersetzung und Interpretation von eleos und phobos nicht nur die Debatte nachhaltig mitgeprägt, sondern auch eine Verschiebung von Diskussionsanteilen hin zu seiner eigenen kritischen Auseinandersetzung mit Lessings Aristotelesauseinandersetzung angeregt; vgl. an seine Position anschließend u.a. Hellmut Flashar: Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik, in: Hermes 84 (1956), S. 12-48; Alberto Martino: Geschichte der dramatischen Theorien in Deutschland im 18. Jahrhundert. Bd. 1: Die Dramaturgie der Aufklärung (1730-1780). Aus dem Italienischen von Wolfgang Proß, Tübingen 1972; Thomas Martinec: Lessing’s dramatic theory; dagegen u.a. Max Pohlenz: Furcht und Mitleid? Ein Nachwort, in: Hermes 84 (1956), S. 49-74; Arnd Kerkhecker: Furcht und Mitleid, in: Rheinisches Museum für Philologie NF 134 (1991), S. 288-310; Roman Dilcher: Furcht und Mitleid! Zu Lessings Ehrenrettung, in: Antike und Abendland XLII (1996), S. 85-102; mit Ungereimtheiten und Inkonsistenzen, die im Argumentationsverlauf der entsprechenden Stücke aus der Hamburgischen Dramaturgie vor allem »im Kontext einer Quellenberufung« offenbar werden,

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zweiten aus der Poetik bekannten, theatral erregten Affekt zur Seite stellt. Beide Affekte werden nun in einer Aktualisierung des aristotelischen Tragödiensatzes unter Bezugnahme155 auf dessen Rhetorik und die Nikomachische Ethik korreliert und darüber funktionalisiert: Lessing entwickelt die Katharsis als umfassendes, weil Selbst- und Fremdverhältnisse justierendes »Erziehungsmittel«156 und bestimmt damit die pädagogische Leistung und Wirkungsmacht des Theaters in einer wohltemperierten Regelung des sozialen Verkehrs im Zeichen des Maßes.157 Dafür sorgt sowohl eine spezifische Bestimmung der beiden tragischen Affekte, als auch das Leistungsprofil der Katharsis. Die Furcht, die Lessing anders als den Schrecken zunächst ausdrücklich nicht »als eine bloße Modification des Mitleids«158 verstanden wissen will, wird als eigenständige tragische Leidenschaft dennoch aufs Engste mit diesem verzahnt: Wenn Lessing die Furcht als »das auf uns selbst bezogene Mitleid« (HD, 75. Stück, S. 557) bestimmt, ruht diese Relationierung einerseits auf den aristotelischen Ausführungen,159 wird aber andererseits in Lessings Konzeption der tragischen Affekte und der Katharsis um-, weiter- und als notwendige Wirkung der dramatischen Darstellung festgeschrieben: Die selbstbezügliche Furcht vermag sich allein an einem Gegenstand mit Mitleidspotential zu entzünden. Dieses Potential beruht auf einer

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beschäftigt sich Thomas Martinec: Lessing und Aristoteles? Versuch einer Grenzbestimmung in Lessings Interpretation des aristotelischen Tragödiensatzes, in: Ulrike Zeuch (Hg.): Lessings Grenzen, S. 81-100, hier: S. 87; vgl. ferner die Studie von Eun-Ae Kim: Lessings Tragödientheorie im Licht der neueren Aristotelesforschung, Würzburg 2002, insb. S. 37-48 und 58-76. Diese Bezugnahme hatte Lessing bereits im Brief an Nicolai vom 2. April 1757 gefordert und in ihrer Notwendigkeit betont: »Lesen Sie, bitte ich, das zweite und achte Hauptstück des zweiten Buchs der aristotelischen Rhetorik: denn das muß ich Ihnen beiläufig sagen, ich kann mir nicht einbilden, daß einer, der dieses zweite Buch und die ganze aristotelische Sittenlehre an den Nicomachus nicht gelesen hat, die Dichtkunst dieses Weltweisen verstehen könne.« (Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 209.) An gleicher Stelle plädiert er im Rahmen einer recht fundamentalen Kritik an der hier noch gänzlich anders gedeuteten (vermeintlichen) Katharsis bereits für eine Übersetzung des phobos mit Furcht statt Schrecken. Kommerell: Lessing und Aristoteles, S. 103. Ein solches pädagogisches Verständnis der Katharsis markiert, so Kommerell, eine wesentliche Differenz zwischen den beiden Namensgebern seiner Studie, da seiner Deutung nach für Aristoteles »der Bildungsvorgang (hier synonym mit Erziehung zu verstehen – AW) […] seinem Wesen nach nicht kathartisch, sondern ethisch [ist].« (Ebd.) Vgl. zur Rolle, Verhandlung und Modellierung von mittlerem Maß in Lessings Trauerspielüberlegungen insgesamt Fleming: Exemplarity & Mediocrity, S. 42-75. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 6: Werke 1767-1769. Herausgegeben von Klaus Bohnen, Frankfurt a.M. 1985, S. 181-713, hier: 74. Stück, S. 554. Im Folgenden unter der Sigle HD mit Angabe von Stück und Seitenzahl im Text zitiert. »[K]urz gesagt, furchterregend ist alles, was Mitleid erweckt, wenn es anderen zustößt oder droht.« (Aristoteles: Rhetorik, 1382b)

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entdeckten Ähnlichkeit, darauf, »dass wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können« (HD, 75. Stück, S. 556),160 was wiederum nur möglich ist, wenn eine Verwechselungsgefahr161 besteht, eine »Gleichheit«, die daher rührt, dass die Figur so denkt und agiert, »als wir in [ihren] Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, dass wir hätten denken und handeln müssen« (HD, 75. Stück, S. 558f.). Die Voraussetzungen dafür werden auf poetologischer Ebene geschaffen. Erst mit der Auflösung der Ständeklausel werden an Stelle affekterregender, sozialer Distanz- affektive Nahverhältnisse zwischen Zuschauer und Figur möglich. Denn nur, wenn beide »von gleichem Schrot und Korne« (HD, 75. Stück, S. 559) sind, knüpft sich ein affektives Band zwischen Fürchtendem und Bemitleidetem, wobei die Furcht diese empathische Potentialität dergestalt aktualisiert, dass sie das Mitleid »gleichsam zur Reife bring[t]« (HD, 75. Stück, S. 559). Das fremdbezügliche Mitleid nimmt seinen Ausgang also in der selbstbezüglichen Furcht, ein Konnex, den Lessing von Aristoteles adaptiert: Man hat, so heißt es in der Rhetorik, allein »wegen derjenigen Dinge, die man für sich selbst fürchtet, dann, wenn sie andere treffen, Mitleid […].«162 Dieses Zusammenspiel der tragischen Leidenschaften163 entfaltet sich lediglich für die Dauer der theatralen Vorstellung, allerdings, so Lessing, auch nur hier: Denn »unser Mitleid [wird] durch die Erzehlung wenig oder gar nicht, sondern fast einzig und allein durch die gegenwärtige Anschauung erreget«, und als hinreichend »gegenwärtig« gelten Lessing nur die Darstellungen »der dramatischen Form« (HD, 77. Stück, S. 568).164 Allein das Theater vermag die evidentiellen Voraussetzungen des Mitleids als Quelle einer empathiegeprägten Wahrnehmung des Gegenübers zu erfüllen. In dieser Ausgestaltung der von der Reform angesetzten Kopplung von Erziehung und Evidenz zeigt sich nicht nur eine Verlagerung der auf dieser vom Theater erzeugten Evidenz beruhenden Erziehungseffekte: An die Stelle eines Nachahmungswunsches, der von der Vorbildlichkeit des dramatischen Personals ausgeht, rückt eine empathiegeprägte Wahrnehmung des Gegenübers, die auf einer entdeckten Ähnlichkeit beruht und eine affektive Nähe produziert. Es 160 Martinec: Lessing und Aristoteles, S. 85 bezeichnet die Furch in diesem Sinne als »die unmittelbare Reaktion des Zuschauers auf das in der Tragödie zur Darstellung gebrachte Schicksal«. 161 In einer Dramaturgie der Bewunderung, in der die Figuren »ihre überdurchschnittliche Kraft als bestaunenswertes ethisches Ideal präsentieren« (Meier: Dramaturgie der Bewunderung, S. 8), ist eine solche Verwechslungsgefahr ausgeschlossen. 162 Aristoteles: Rhetorik, 1386a. 163 Vgl. zu dieser Affektverknüpfung mit Bezug auf Lessing auch Schings: Der mitleidigste Mensch, S. 42; Schulz: Tugend, Gewalt und Tod, S. 276; Martinec: Lessing und Aristoteles, S. 85; GolawskiBraungart: Furcht oder Schrecken, S. 416 und 420. 164 Wenn Lessing von dramatischer Form spricht, ist damit nicht nur ein der Aufführung zugrundeliegender, literarischer Text gemeint, sondern auch diese Aufführung selbst, vgl. HD, 80. Stück, S. 580.

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zeigt sich auch, dass Lessings Mitleids- als genuine Theaterästhetik konzipiert ist und auch nur als solche funktionieren kann: »Die dramatische Form ist die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht erregen lässt; wenigstens können in keiner andern Form diese Leidenschaften auf einen so hohen Grad erreget werden« (HD, 80. Stück, S. 580). Nach Ende der Vorstellung erfolgt dementsprechend eine Rückkehr zum affektiven Ausgangspunkt: Sobald nämlich »die Tragödie aus ist, höret unser Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurück, als die wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Übel für uns selbst schöpfen lassen. Diese nehmen wir mit« (HD, 77. Stück, S. 566), und zwar als Voraussetzung einer dauerhaft möglichen Entfaltung empathischer Regungen. Die Furcht ist also der eigentliche, lebensweltliche Konsequenzen zeitigende Übertrag, den das Theater produziert: eine auf der Austarierung von Egoismus und Empathie und nicht mehr dem Mitleid allein beruhende »Fähigkeit zur ›Selbstverwechslung‹«165 , die aus dem Theater heraus in die soziale Wirklichkeit getragen wird, um als »›allgemeinmenschliche‹ Verhaltensform«166 an deren Einrichtung mitzuwirken. Ihre Form erhält diese theatral temperierte Disposition in Lessings Auslegung der Katharsis, die er als ein ebenfalls nur dem Theater mögliches Regulationsverfahren von Selbst- und Fremdverhältnissen bestimmt. Sie ist zugleich Index und Ausdruck der wirkungsästhetischen Umstellung innerhalb der Theaterreform, die an die Stelle einer Verhaltensvorgabe eine Verhaltensbefähigung setzt, zu der die Affekterregung kein Mittel zum Zweck ist, sondern die mit einem herzurichtenden Maß der Affekte selbst zusammenfällt. Über die Katharsis entfaltet sich also die pädagogische Wirkmächtigkeit eines Theaters, das sein Erziehungsprogramm in der Adressierung einer darüber gleichsam überhaupt erst hergerichteten Disposition gänzlich auf die affektpsychologische Tiefenstruktur des Zuschauers ausrichtet und darin aufgehen lässt: Nicht dieses oder jenes Handeln wird hier gelernt, sondern eine Verfassung167 zu moralisch einwandfreiem Agieren, dessen Integrität die moralische Substanz der tragischen Affekte gewährt, mit deren Erregung und Formung die erzieherische Exklusivität und Effizienz des Theaters begründet wird. Die im Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai konturierte, über den wesenhaft moralischen Affekt des Mitleids erlernte, gesellschaftlich nützliche Verfassung des in seiner Mitleidsfertigkeit theatral ausgebildeten Zuschauers differenziert sich über die beiden Affekte Furcht und Mitleid nun dergestalt, dass sie den 165 Schings: Der mitleidigste Mensch, S. 38. 166 Ruppert: Labor der Seele, S. 48. 167 »Im Bereich der Tugenden geschieht etwas nicht schon dann auf gerechte oder besonnene Weise, wenn die Tat sich irgendwie verhält, sondern erst wenn auch der Handelnde in einer entsprechenden Verfassung handelt« (NE, 1105a).

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zu ›tugendhaftem Verhalten aufgelegten‹ mit einem von seinesgleichen bewohnten sozialen Gelände vermittelt – weniger, weil die Affekterregung »das Subjekt und den Anderen notwendig aufeinander [bezieht]«168 , sondern weil sie auf eine wohltemperierte, ›gereinigte‹ Form dieser Vermittlung und Beziehung zusteuert. Deren Modell entnimmt Lessing der Nikomachischen Ethik, genauer der mesótes-Lehre aus dem 2. Buch. An die aristotelische Bestimmung der Tugend als »eine Art Mitte zwischen Übermaß und Mangel« (NE, 1106a) schließt die Katharsisdeutung der Hamburgischen Dramaturgie an: Sie zielt auf eine »Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten« (HD, 78. Stück, 574) und das heißt, mit Aristoteles, auf die Etablierung eines »Mittelmaß[es]« (NE, 1106b). In dieser Katharsis als Maßproduktion169 bleiben die Affekte als Medien von Egoismus und Altruismus nicht nur erhalten, sondern werden dezidiert aufeinander bezogen, um das jeweilige »Extremum«, das sich »diesseits und jenseits« der Fertigkeit befindet, zu mäßigen: »[S]o muss die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muss nicht allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, sondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muss nicht allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines Unglücks befürchtet, sondern auch desjenigen, den ein jedes Unglück, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste, in Angst setzet. Gleichfalls muss das tragische Mitleid, in Ansehung der Furcht, dem was zu viel, und dem was zu wenig, steuern: so wie hinwiederum die tragische Furcht, in Ansehung des Mitleids.« (HD, 78. Stück, S. 574) Indem die tragischen Affekte sich selbst und einander wechselseitig regulieren, werden Egoismus und Altruismus also auf eine »Mitte« verpflichtet, die »weder Übermaß noch Mangel aufweist« (NE 1106a) – das Theater erzieht zu dieser tugendhaften, sozialkompatiblen Mitte, die Katharsis ist sein pädagogisches Instru-

168 Golawski-Braungart: Furcht oder Schrecken, S. 425. 169 Schulz: Tugend, Gewalt und Tod, S. 13 spricht von der »Herstellung einer bekömmlichen emotionalen Mittellage«. Vgl. auch Zelle: Querelle du théâtre, S. 35. Mit der Deutung der Katharsis als mesótes-Technik geht eine Verschiebung des Mitleidsprimats einher, wie Lessing es noch im Briefwechsel betont hatte: »Gegenüber der früheren Position – je mehr Mitleid, desto besser, selbst wenn das Mitleid von einem ›unwürdigen Gegenstand‹ hervorgerufen werden sollte –, gegenüber dieser Position kalkuliert Lessing jetzt also auch Überreaktionen mit ein, die zwar mitleidvoll, aber unangemessen sind: der mitleidigste Mensch, um das berühmte Diktum aufzunehmen, kann nun nicht mehr ohne weiteres als der beste Mensch gelten.« (Schulz: Tugend, Gewalt und Tod, S. 273)

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ment: ein, wie Max Kommerell geschrieben hat, »Erziehungsverfahren[]«, das den »Übergang des Affekts zu einer sittlichen Willensrichtung«170 gestaltet. Im wirkungsästhetischen Zentrum von Lessings Erziehungstheater vereinen sich so eine ins theatertheoretische gewendete, rhetorisch‐poetologische Komponente des Maßes mit einer ethischen und einer sozialen. Die Katharsis beruht auf einer angemessenen Darstellung, einer Ähnlichkeit, die der Zuschauer zwischen sich und der dramatischen Figur entdeckt. Sie reguliert die darüber ausgelösten Affekte auf ein rechtes Maß, tariert Selbst- und Fremdverhältnisse aus und bringt so einen dergestalt sittlich‐wohltemperierten Menschen hervor, dass seine dispositionelle mit der sozialen Form einer sich ausdifferenzierenden bürgerlichen Gesellschaft korrespondiert, deren Werte und habituelle Normen, frei von extremen Gefühlslagen, Verhaltens- und Handlungsweisen, um Maß, Mäßigkeit und Mäßigung zentriert sind.171

3   Das Theater der Mitte Die aufklärerische Theaterreform bedeutet nicht nur eine Verpflichtung der Schaubühne auf gesellschaftliche Nützlichkeit und die Zuschreibung einer Reihe von edukativen Wirkungen im Rahmen unterschiedlicher wirkungsästhetischer Ansätze, sondern stellt auch den Versuch dar, inmitten der »Heterogenität der Theaterverhältnisse«172 eine neue Form zu etablieren, die ebenso wie die durch sie erst ermöglichten Wirkungen im Zeichen des Maßes steht und, das unterscheidet sie von anderen theatralen Spielarten, mit einem universellen Anspruch auftritt. Träger dieser neuen Form ist das öffentliche Berufstheater der Wanderbühnen.173 Doch nicht nur die hier vorherrschende theatrale Praxis soll vehement verdrängt werden, gerade zu Beginn der Reform richtet sich der ›Reinigungsfuror‹ auch gegen die vor allem im Milieu der Hoftheater ansässigen Spielweisen. Die sogenannten Haupt- und Staatsaktionen sowie die Oper werden als konkurrierende Formen ausgemacht und als defizitäre Kontrastformen des regelmäßigen Theaters bestimmt, wodurch diesem wiederum zusätzlich Kontur und formale Schärfe verliehen wird. Der diskursive Ausschluss erfolgt dabei jeweils über Attestierung und Nachweis einer gleichermaßen wesenhaften Maß- und Nutzlosigkeit, wobei letztere mit einer aus den theaterfeindlichen Positionen bekannten Schädlichkeit gleichgesetzt wird. 170 Kommerell: Lessing und Aristoteles, S. 106. 171 Vgl. dazu ausführlicher III.1. 172 Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 416. Vgl. auch Graf: Theater im Literaturstaat, S. 9f. 173 Vgl. für eine kurze Übersicht zu den Schauspieltruppen dieses Theaters, ihrem englischen Ursprung, ihrer Struktur und Publikumsorientierung Richard Newald: Die deutsche Literatur. Vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit 1570-1750, fünfte, verbesserte Auflage, München 1965, S. 81-84.

II Die Pädagogisierung des Theaters

Die Bestrebungen der Befürworter einer gereinigten Schaubühne erstrecken sich aber auch auf eine weitere, traditionsreiche Bühnenform: das Schultheater. Über dieses Verhältnis herrscht in der Forschung wenig Konsens, die unterschiedlichen, oftmals nur en passant gemachten Bewertungen laufen tendenziell ohne wirklichen Bezug nebeneinander her.174 Steht der Zusammenhang von älterem Schultheater und Theaterreform zwar auch in dieser Arbeit nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, erlaubt die hier eingeschlagene Perspektive einer Pädagogisierung der Schaubühne dennoch, die grundsätzlichen Anschlüsse und Differenzen beiden Formen aufzuzeigen. Im Gegensatz zum Schultheater ist das Theater der Reform keine Spielart einer Institution, die deren Mechanismen, Anforderungen und Relationen unterliegt, sondern geht mit einem eigenen Institutionalisierungsprozeß einher, der zwar an bereits bestehende Verknüpfungen, im Kern der von Bühnenspiel und Pädagogik, anschließt, sie aber in und mit den Strukturen einer professionell betriebenen Form von Theater rekonfiguriert.

3.1   Die doppelte Abgrenzung Die versuchte Verdrängung vorherrschender bei gleichzeitiger Implementierung einer neuen theatralen Form auf den Jahrmärkten wie an den Fürstenhöfen ist gerade zu Beginn der Reform virulent. Dabei lassen sich sowohl strategische als auch ideologische Gründe ausmachen, die sich mitunter in der doppelten Abgrenzung überschneiden.175 Erstere zeigen sich etwa dort, wo die Argumentation kirchlich geprägter Theaterfeindschaft übernommen und beipflichtend in Richtung von Haupt- und Staatsaktionen und Opern kanalisiert wird. Konkurrierende theatrale werden hierüber als Kontrastformen etabliert, disqualifiziert und in einer radikalen, diametralen Gegensätzlichkeit zum reformierten Theater positioniert, das sich darüber seinerseits aus dem Adressatenkreis theaterfeindlicher Reden zu streichen trachtet.176 Beiden Formen fehlt, darüber besteht insbesondere im Gottschedumfeld kein Zweifel, nicht erst der moralisch‐didaktische Impuls, sondern schon 174 Eine starke Kontinuität der Programmatik betont etwa Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 35; Krebs vermutet, von der Reform aus gesehen, zumindest jenseits der unstrittigen schulischen Gemeinsamkeit einen stärkeren Bezug bei Gottsched (vgl. Modernität und Traditionalität, S. 141), der wiederum aus der Perspektive des Schultheaters an dessen Tradition anschließt, wenn er das Theaterspiel in der Schule thematisiert, vgl. Konradin Zeller: Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises, Tübingen 1980, S. 26. Graf hingegen macht sich für eine scharfe Differenzierung stark, vgl. Theater im Literaturstaat, S. 9. 175 Vgl. zu dieser doppelten Abgrenzung etwa Deiters: Die Entweltlichung der Bühne, S. 24 oder Krebs: Traditionalität und Modernität, S. 142f. 176 Vgl. Wild: Theater der Keuschheit, S. 228.

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die Möglichkeit dazu. Ihr defizitäres Wesen macht sie selbst pädagogisch irreparabel und damit die Wirkung, die ihnen kraft der medialen Qualität der Bühne nicht abgesprochen werden kann, überaus schädlich: »Verstand und Sitten verderben« die »curieusen, extragalanten Haupt-Staats= und Heldenactionen«177 , und auch die Oper ist nichts mehr »als eine Beförderung der Wollust, und Verderberin guter Sitten.« (CDII, S. 368) Diese Unmöglichkeit einer pädagogischen Nützlichkeit, wie sie hier im Gegensatz zum reformierten Theater attestiert und gleichbedeutend mit einer notwendigen Schädlichkeit gesetzt wird, liegt in den jeweiligen Formen selbst begründet, im maßlosen Wesen der Oper wie der Haupt- und Staatsaktionen. Ihre die Schaubühne kontaminierende Unordnung entsteht im Zusammenspiel von Wirkungsabsicht, mangelnden Funktionsstellen, Figurationen, Darstellung und Darstellern. Die Haupt- und Staatsaktionen etwa sind, wie Gottsched klagt, »nicht in der Absicht verfertiget, daß der Zuschauer erbauet werde.«178 Ihnen kommt es stattdessen, wie die Forschung, inzwischen auch ohne den Wertungs‐zusammenhang der Beobachtung weiter zu übernehmen,179 festgestellt hat, »vor allem auf Bühnenwirksamkeit an[], weniger auf den Text oder eine geschlossene Handlung.«180 Im Vordergrund steht keine erzieherische Absicht, sondern der Unterhaltungsfaktor, schließlich müssen sich die Vorstellungen für die von der Publikumsgunst abhängigen Wandertruppen ökonomisch rentieren.181 Nicht nur das Amüsement, bzw. eine spezifische Form von Amüsement, auch die Amüsierten werden aus der Sicht der Reformer kritisch beäugt. Das dauerhafte Vergnügen am ›falschen‹ Schauspiel gerät zu einer verräterischen Reaktion, die ständeübergreifend disqualifiziert, wenn es »etwa noch bey der hundertsten Vorstellung dem großen Haufen und allen vornehmen und geringen Dummköpfen das 177 Mylius: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, S. 2. 178 Gottsched: Die Schauspiele, S. 495. 179 Vgl. zu einer ›hanswurstischen Historiographie‹ Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert, Paderborn 2003, S. 16-26, zur Gottschedschen Ablehnung eines mit ›Lustiger Figur‹ operierenden Theaters und ihrer Übernahme seit dem frühen 18. bis in die Literaturgeschichten des 20. Jahrhunderts insb. S. 17-20. 180 Eva-Maria Ernst: Zwischen Lustigmacher und Spielmacher. Die komische Zentralfigur auf dem Wiener Volkstheater im 18. Jahrhundert, Münster u.a. 2003, S. 23; vgl. auch Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 29. 181 Vgl. Helmut G. Asper: Hanswurst. Studien zum Lustigmacher auf der Berufsschauspielerbühne in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Emsdetten 1980, S. 174. Für staatliche Subventionen, die ökonomische Faktoren aus Repertoire und Spielplan verbannen, spricht sich recht früh bereits Mylius aus, vgl. Eine Abhandlung, worinnen erwiesen wird: Daß die Wahrscheinlichkeit der Vorstellung, bey den Schauspielen eben so nöthig ist, als die innere Wahrscheinlichkeit derselben, S. 299. Und auch das Konsortium der Hamburger Entreprise soll derartige Einflussnahmen eines zahlungskräftigen, aber geschmacklich (noch) nicht hergerichteten Publikums verhindern.

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Herz erfreu[t].«182 Der große Haufen gewährt seinen Zuspruch nämlich etwas, das keinen Zuspruch verdient: Schlegel etwa will »das Händeklatschen des Pöbels […] bessern und edlern Sitten vorgesparet wissen […], als diejenigen sind, welche es am öftesten erregen.«183 Was hier fehlt, bzw. was als Fehlen mit Beginn der Reform beklagt wird, sind jene ›geschickten Männer‹, die die Darbietungen kritisch beurteilen, korrigieren und in einem Formungsprozess optimieren;184 Funktionsstellen also, wie sie die Theaterreform selbst hervorbringt und wie sie sich in nuce im biographischen Narrativ von Gottscheds Cato-Vorrede finden. Nicht nur ermangelt es den »Marktschreyerbühnen«185 an einer Kunstrichterfunktion, die als Beurteilungsautorität verlässlich theatrale Spreu vom Weizen trennt und mit deren Urteilen idealiter das Auditorium entweder von sich aus übereinstimmt, oder zumindest einsichtig Folge leistet.186 Auch fehlt es den Haupt- und Staatsaktionen an einer Autorinstanz, wie sie für das Theater der Reform essentiell ist.187 Das bedeutet nicht, dass es keinen Text gibt, keine Stücke, die zur Aufführung gebracht werden.188 Für das Funktionieren der Darbietung ist im Rahmen der Haupt- und Staatsaktionen jedoch weder »eine nützliche moralische Wahrheit« (CDI, S. 204), noch eine moralisch codierte Affektivität, noch sonst irgendein von seinem Verfasser zu verantwortendes, primär im literarischen Text eingelagertes oder darüber modelliertes Rezeptions- respektive Verhaltensziel von Relevanz. Im Vordergrund steht vielmehr das Bühnenspiel 182 [Johann Christoph Gottsched]: Anmerkungen über das 592. Stück des Zuschauers, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VIII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742-1744, 29. Stück, S. 143-172, hier: S. 147f. 183 Johann Elias Schlegel: Abhandlung von der Unähnlichkeit in der Nachahmung, in: ders.: Werke. Herausgegeben von Johann Heinrich Schlegel (1764-1773). Band III, Frankfurt a.M. 1971, S. 163-176, hier: S. 167. Vgl. zu einer mit der Reform einhergehenden Pädagogisierung des Publikums ausführlicher II.5. 184 Vgl. etwa Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen, XLIV. Stück. Mittwochs, den 31. October 1725, S. 348. 185 [Gottsched]: Anmerkungen über das 592. Stück des Zuschauers, S. 153. 186 Vgl. dazu ausführlicher II.4.3 und II.5. 187 Dass es einen Autor als Funktionsstelle dergestalt im vorreformierten Wanderbühnentheater nicht gibt betonen etwa Willi Flemming: Einführung, in: ders. (Hg.): Das Schauspiel der Wanderbühne, Stuttgart 1931, S. 5-69, hier: S. 18 und Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 13. Vgl. hingegen zu Anforderungen und Funktion des dramatischen Dichters II.4. 188 Einschlägig ist etwa die von Gottsched (vgl. CDII, S. 348) als defizitäre Vorlage deutscher Komödianten gebrandmarkte Ollapatrida, eine Joseph Anton Stranitzky zugeschriebene Textsammlung von 1711. Vgl. zu Stranitzky und seiner Hanswurstfigur Ernst: Zwischen Lustigmacher und Spielmacher, S. 31-83; Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 32-36.

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selbst und die histrionische Oberfläche der Darstellung, ohne dass sich die Textur der gleichwohl vorhandenen Vorlagen in einem abgedichteten, restlos fixierten und begrenzten Bühnengeschehen niederschlägt, bzw. letzteres sich als bloße Übersetzung der ersteren erweist. Die zum Aufgabenbereich des dramatischen Dichters gehörende, seine Textvorlage ebenso wie ihre Bühnenverlebendigung formende, regelhaft‐mäßigende Ordnung fehlt dem Theater der Haupt- und Staatsaktionen.189 Ihre konstitutive Nichtbeachtung wird zum Index für dessen Unwahrscheinlichkeit und damit mimetische Referenzlosigkeit. Die Vorstellungen dieses Theaters sind dezidiert »keine Nachahmungen der Natur, da sie sich von der Wahrscheinlichkeit fast überall entfernen.«190 Im Gegenteil: Als »unkontrollierte Semiose ohne jegliche Referenz«191 laufen sie der als harmonischer Vernunft- und Ordnungszusammenhang gedachten, als solcher gleichermaßen vernünftig erkennund auf dem Theater regelhaft‐maßvoll – eben regelmäßig – darstellbaren Natur zuwider. Statt von Mimesis, Wahrscheinlichkeit, Illusionismus und ihrer Verknüpfung mit den Wertkategorien von Maß und Nützlichkeit definiert, ist das unregelmäßige Theater aus der Sicht der Reform »voller Unsinn, Bombast, Schmutz und Pöbelwitz.«192 Dies zeigt sich etwa in ihrer Verletzung der Einheiten von Raum, Zeit und Handlung. In der Critischen Dichtkunst erinnert sich Gottsched einer Haupt- und Staatsaktion im Rahmen einer Schultheateraufführung,193 in der zugleich die Reformation und Vergils Aeneis dargestellt wird. Es werden damit aber nicht allein »zwey so verschiedene Dinge zugleich gespielet«, was »nun ein sehr handgreiflicher Fehler [ist]«, auch Dauer und Spielorte sind von maßloser »Ungereimtheit«, erstrecken sich die Handlungen doch »von dem Urteile des Paris über die drei Göttinnen […] bis auf die Glaubensverbesserung durch Luthern« und über »alle drey Theile der damals bekannten Welt […]; ohne daß wir uns von der Stelle rühren dorften.« (CDII, S. 320-322) 189 Vgl. zur Rolle von Mimesis, Wahrscheinlichkeit und Regelkenntnis für die Pädagogisierung der dramatischen Dichter II.4. 190 Gottsched: Die Schauspiele, S. 495. 191 Deiters: Vom Werden des Theaters zum Schauplatz des Autors, S. 43; Deiters greift den gleichen Gedanken im Kontext seiner erweiterten Studie Die Entweltlichung der Bühne wieder auf, vgl. S. 24; vgl. zu diesem poetologischen Kernargument auch Wild: Theater der Keuschheit, S. 223. 192 Lessing: 17. Literaturbrief, S. 499. Lessings kurze Retrospektive der »Verderbnis« der Schaubühne im vorreformierten Theater, die im unmittelbaren textlichen Zusammenhang mit der berühmt‐berüchtigten Gottschedschelte steht, wird bezeichnenderweise von den zwei zentralen Kritikpunkten der reformtypischen Ablehnung angeführt: »Man kannte keine Regeln; man bekümmerte sich um keine Muster.« (Ebd.) 193 Einen Einfluss des vorreformierten Wandertruppentheaters auf andere Formen und, in diesem Falle, Orte betont Flemming: Einführung, S. 69.

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Es zeigt sich aber noch deutlicher im scheinbar unberechenbaren Agieren der semiliterarisierten Lustigen Figur,194 wie sie als Harlekin, Pickelhering oder Hanswurst das Wandertruppentheater vor und jenseits der Reform bevölkert. Dramaturgisch besteht ihre Funktion darin, die mitunter tragische Haupthandlung mit komischen Einwürfen zu flankieren, zu verknüpfen oder zu unterwandern und beide dramatischen Pole in einer Mischform aufgehen zu lassen, deren Ausdruck vornehmlich ihr eigenes Agieren ist.195 Für den »Formtypus«196 der Haupt- und Staatsaktionen ist sie gewissermaßen der Formgarant. Die Lustige Person verkörpert die Schnittstelle von dramatischem Text und Stegreifspiel und ist mit ihren Aktionen »eigentlicher Träger der Improvisation, also des rein komödiantischen Elementes.«197 Garantieren soll sie darüber außerdem das Vergnügen des Publikums und jenes Verhalten hervorrufen, das sich aus der Perspektive der Reformer als pöbelhaft disqualifiziert. Damit aber gerät sie im- und explizit ins Fadenkreuz genau dieser Perspektive: Harlekin und Konsorten sind hier nicht nur Inbegriff einer »Unform des Theaters«198 , zu der die Haupt- und Staatsaktionen als »Misgeburten der Schaubühne«199 degradiert werden, ihnen selbst ist jene formverletztende Maßlosigkeit eingeschrieben, die das vernichtende Urteil aus regelpoetischer Sicht begründet. Dies zeigt sich in der über die Lustige Figur laufenden Vermischung der dramatischen Pole, in ihrem permanenten Einreißen von Grenzen zwischen Tragödie und Komödie.200 Es zeigt sich außerdem in ihrer wesenhaften, für das Wanderbühnentheater insgesamt charakteristischen Effektorientierung. Sie soll jede 194 Vgl. zu Charakteristik und Profil der Lustigen Figur ausführlich Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 86-127; vgl. zum dieses Profil dramaturgisch auszeichnenden Mischverhältnis von festgelegter Stückhandlung und situationsspezifischen Improvisationen Asper: Hanswurst, S. 123, 140. 195 Vgl. zu diesem Mischcharakter etwa Münz: Theater im Leipzig der Aufklärung, S. 172; Ernst: Zwischen Lustigmacher und Spielmacher, S. 23; zur Funktion der Lustigen Figur in dieser bzw. für die diese Mischform Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 143. Gottsched betont im Zusammenhang mit der bereits erwähnten Schulkomödie: »Und diese beyde so verschiedenen Handlungen hiengen nicht anders zusammen, als durch eine lustige Person, […] die zwischen solchen Vorstellungen auftrat« (CDII, S. 319). 196 Flemming: Einführung, S. 22. 197 Asper: Hanswurst, S. 123. Vgl. zum Dissens über das Extemporieren im Rahmen der Reform, den Pro- und Gegenargumenten Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 167-170. Zu Improvisation und Extempore als Spieltechniken Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, S. 168-173. 198 Wolfgang Promies: Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie. Sechs Kapitel über das Irrationale in der Literatur des Rationalismus. München 1966, S. 35. 199 Gottsched: Die Schauspiele, S. 494. 200 Ute Daniel betont die Wichtigkeit einer solchen Grenzziehung für die Theaterreform, vgl. Hoftheater, S. 156. Für die weichenstellende ›Gottschedphase‹ ist hier sicherlich zuzustimmen.

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Gelegenheit zur Unterhaltung des Publikums nutzen,201 oder, in der Sprache der Reformer: »den Pöbel zum Gelächter reizen.« (CDII, S. 357) Dies tut sie »durch bunte Wämser, wunderliche Posituren« (CDII, S. 357) ebenso wie durch »lauter pöbelhafte Fratzen«202 und »zweydeutige[] Zoten«, die »alle Regeln der Sittsamkeit und Erbarkeit [verletzen]«203 ; außerdem durch ein »Geschrey«, das »die Vernunft und den guten Geschmack übertäubet und die Dummheit entzücket«204 – also gleichermaßen durch Mangel und Übermaß: Fehlende Sittlichkeit und ein Zuviel des Körpers fügen sich in der Lustigen Figur zu einer umfassenden Maßlosigkeit des Sinnlichen zusammen, die nicht Teil eines immergleichen, schriftlich fixierten Textes ist, sondern sich in der Aufführungssituation, deren »Spielcharakter«205 dabei stets betonend, jedes Mal neu vor den Blicken der Zuschauer entfaltet, getragen von den mimisch‐gestischen Fertigkeiten und der Spontaneität der Schauspieler.206 Maßlosigkeit prägt nicht nur die Körpersprache der Lustigen Figur, deren »Stellungen und Gebärden Wahrscheinlichkeit und Anstand verletzen«207 , sondern auch ihren ›Charakter‹, der kein realistischer ist,208 kein Bündel psychologischer, sich kohärent artikulierender Merkmale, sondern ein Konglomerat des Exzessiven: »In nichts entsprach die Lustige Figur nämlich dem, was sich anschickte, zum habituellen Standard des disziplinierten Geschöpfs westlichen Zuschnitts zu werden; vielmehr verkörperte sie gerade das Gegenteil, war: lüstern, unersättlich, maßlos, eingebildet, eigensinnig, zanksüchtig, jähzornig, rachegierig, faul, neidisch, hämisch, schadenfroh, verschwenderisch, undankbar, schmarotzerisch, schmeichlerisch, zudringlich, vorwitzig, neugierig, dumm, schwach, leichtgläubig, lasterhaft und toll. Medium all dieser Attribute war der Körper – ein Körper, den in der neuen Habitusnorm der Charakter ersetzte und der, zumindest im Bereich der Kunst, auf barocke Körperkanones zurück wies.«209 Eben weil die Lustige Figur so maßlos ist und Knotenpunkt wie Figuration einer der Form inhärenten Unwahrscheinlichkeit, hat sie »kein Muster in der Natur« (CDII, S. 358). Sie verkörpert das Andere eines sich im Verlauf des Jahrhunderts 201 Vgl. Asper: Hanswurst, S. 140. Die grunsätzliche Effektorientierung des Wanderbühnen‐theaters betont etwa Newald: Die deutsche Literatur, S. 83. 202 Gottsched: Vorrede, S. 5. 203 Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen, XLIV. Stück. Mittwochs, den 31. October 1725, S. 348. 204 Mylius: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, S. 1f. 205 Ernst: Zwischen Lustigmacher und Spielmacher, S. 27. 206 Vgl. Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 29, 35. 207 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 138. Was, so Graf weiter, für die pädagogisierte Schauspielkunst der Reform bedeutet, dass sie sich »der Wahrscheinlichkeit des moralischen Ordnungszusammenhangs und, immer stärker, der Wahrscheinlichkeit des Charakters anbequemen [muß].« (Ebd.) 208 Vgl. Asper: Hanswurst, S. 140. 209 Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 175. Hervorhebungen AW.

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konsolidierenden und ausdifferenzierenden Wertegefüges, das, zentriert um die Kategorien Maß und Nützlichkeit, die bürgerliche Form des Sozialen fundiert und als solche konstituiert. Dass diese Kategorien auch maßgeblich für die aufklärerische Theaterreform sind und Eingang in ihr Mimesispostulat finden, verknüpft poetologische mit gesellschaftlichen Normen, nicht zuletzt, in dem es letztere poetologisch naturalisiert. In die Kritik der Reform geraten schließlich auch die Akteure dieses ›widernatürlichen‹ Theaters selbst. Sie haben es sich angemaßt, das wirkmächtige, pädagogisch mindestens prädestinierte Medium mit Beschlag zu belegen und es mit ihren nutzlosen bis schädlichen Exzessen zu verunreinigen. Als sich die Gottschedianer daran machen, das Theater in eine moralische Anstalt zu transformieren, finden sie die Schaubühne in den Händen »liederlicher, und bey ihrer tiefen Unwissenheit verwegener Leute«210 vor, die »mit den unförmlichsten und unanständigsten Vorstellungen herumziehen.« (DT, S. 261) In einem transparenten Äquivalenzverhältnis werden hier Darstellung und Darsteller korreliert, beider Defizite repräsentieren, bestätigen und stabilisieren einander: Der künstlerischen wie funktionalen Minderwertigkeit entsprechen Charakter und Lebenswandel der Theatermacher, einem Haufen »ärgerlicher Landstreicher«211 , die gleichermaßen außerhalb jeder künstlerischen wie sozialen Ordnung stehen – und das, in den Augen der Reform, zu Recht. Doch nicht alle diese Leute sind in ihrer Unwissenheit auch tatsächlich liederlich, ganz im Gegenteil. Bekanntlich findet Gottsched in Caroline Neuber, die ab 1727 mit ihrem Mann die Königlich Sächsischen Hofkomödianten leitet, eine geeignete Partnerin, die »Lust und Vermögen hatte, das bisherige Chaos abzuschaffen, und die deutsche Komödie auf den Fuß der französischen zu setzen.«212 Die Absicht, das ›Chaos abzuschaffen‹, findet ihren berühmtesten Ausdruck dort, wo sie sich gegen dessen Inbegriff wendet und den Harlekin als wesentliches »Moment der Unordnung« in einem, so zumindest der Anspruch, nunmehr »auf Ordnung beruhenden theatralischen Spiel«213 symbolisch von der Bühne vertreibt. Auch wenn es sich dabei vielleicht selbst um »die größte Harlekinade« handeln mag, »die jemals gespielt worden«214 , und die Lustige Figur, gleichwohl in verschiedenen In210 [Anonym]: Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen [Rezension], S. 3. 211 Mylius: Eine Abhandlung, worinnen erwiesen wird: Daß die Wahrscheinlichkeit der Vorstellung, bey den Schauspielen eben so nöthig ist, als die innere Wahrscheinlichkeit derselben, S. 298. 212 Gottsched: Vorrede, S. 8. Vgl. dazu etwa Krebs: Modernität und Traditionalität, S. 135-137. 213 Steinmetz: Das deutsche Drama, S. 40. 214 Lessing: 17. Literaturbrief, S. 499f. Vgl. zur Vertreibung etwa Krebs: Modernität und Traditionalität, S. 135-137; Deiters: Vom Werden des Theaters, S. 44.

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tensitätsgraden, realiter wichtiger Bestandteil des Theaters bleibt,215 so ist die Harlekinvertreibung von 1737 auf diskursiver Ebene, bei minimaler Umakzentuierung, Ausdruck jener Formungsbestrebungen, die das Pädagogisierungsgefüge der Reform kennzeichnen.216 Bei ihnen handelt es sich jedoch weniger um eine Ver- als vielmehr um eine Austreibung: der poetischen wie darstellerischen Maßlosigkeit, der Unordnung in Auditorium und Lebenswandel. Ausgetrieben werden jeweils als pädagogisch ausgemachte Defizite, die als solche gleichsam zu beheben sind und, einmal behoben, selbst Teil eines sich endlos verzweigenden, pädagogisierenden Gefüges werden sollen.217 Das grundsätzlich gleiche Arsenal an Argumenten, die Mischung aus strategischen und poetologisch‐sozionormativen Argumenten wird auch gegen die nicht nur, aber vor allem im Hoftheater eine Zentralstellung einnehmende Oper in Anschlag gebracht:218 Sie korrumpiert die Elemente des theatralen (Zeichen)Systems219 und verpflichtet sie auf einen »Endzweck«, der aus Sicht der Reform verwerflicher kaum sein könnte: »Eine unverschämte Poesie, entzückende Music, blendende Pracht der Schaubühne, freche Kleidung und unzüchtige Stellung der spielenden Personen vereinigen alle ihre Kräffte mit einander, um einem schwachen Zuhörer die schädlichste Gemüthsneigung, ich meyne die Wollust

215 Und, das macht einen wichtigen Teil von Lessings Argument zur »Ehrenrettung der HarlekinFiguren« (Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 17) aus, auch immer schon gewesen ist: Harlekine als Formelement und Gattungskonstituens hatten, so Lessing, im griechischen wie im römischen Theater ihren Ort, vgl. HD, 18. Stück, S. 270f. Derartig eingefasst sind und bleiben sie zu tolerieren – weniger jedoch scheinbar in ihrem unreformierten Ausmaß: Dies legt nicht nur die Wortwahl nahe, wenn Lessing die Figur des Cosme am Ende seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit Antonio de Coellos Essex als »spanische[n] Hanswurst« etikettiert, sondern auch dessen (Funktions-)Beschreibung und -bewertung: »diese ungeheure Verbindung der pöbelhaftesten Possen mit dem feierlichsten Ernste; diese Vermischung des Komischen und Tragischen, durch die das spanische Theater so berüchtiget ist? Ich bin weit entfernt, diese zu verteidigen.« (HD, 68. Stück, S. 526) 216 Vgl. dazu auch Graf: Theater im Literaturstaat, S. 13-15 und 279. 217 Dieser Struktur gehen, bezogen auf die Herausbildung und Formung der jeweiligen Funktionsstellen, die Kapitel II.4-6 nach. 218 Vgl. etwa Krebs: Modernität und Traditionalität, S. 142f.; Deiters: Die Entweltlichung der Bühne, S. 24 und ders.: Vom Werden des Theaters, S. 43; zur Rolle der Oper am Hoftheater des 18. Jahrhunderts Daniel: Hoftheater, insb. S, 35-47; vgl. zur Rolle der Oper im Repertoire der Wandertruppen etwa Markus Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2002, S. 162f. 219 Vgl. Erika-Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 1: Das System der theatralischen Zeichen, 3. Auflage Tübingen 1994.

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rege zu machen.«220 Als eine »poetische Misgeburt«221 , vereint auch die auf der Schaubühne populäre Oper eine Darstellungs-, Form- und Funktionsproblematik: Ohne »Ordnung und einen zulänglichen Grund in allen Stücken« (CDII, S. 367), wimmelt es vor »bezaubernden Veränderungen, […] fliegenden Gottheiten, […] unglaublichen Wunderthaten ihrer verliebten Helden, und dergleichen Sachen mehr«222 . Hier ist alles ordnungslos »unnatürlich«: In »alten Ritterbüchern und Romanen«, in »einer Zauberey« oder »einer andern Welt« scheint das »Vorbild dieser Nachahmungen« (CDII, S. 366f.) zu liegen, aber dezidiert nicht in jenem vernünftig‐maßvollen Zusammenhang der Natur, auf den eine poetologisch mitnaturalisierte soziale Ordnung und eine dieser sozialen Ordnung äquivalente Poetik repräsentierend bzw. mimetisch verpflichtet werden. Entgrenzt und jenseits aller Wahrscheinlichkeit wuchern nicht allein die Inhalte der Oper, auch ihrer Form nach, als ein weiteres Genre der Mischung, ist ihr dieses Defizit eingeschrieben. »[H]übsch durcheinander gemengt« sind nicht bloß die »Personen, Zeiten und Sitten der Völker […], daß man nicht weiß, wenn oder wo man ist«223 , konstitutiv für die Oper ist gerade die Engführung zweier verschiedener Künste: Gottsched verdammt sie als »ungereimte[n] Mischmasch von Poesie und Music, wo der Dichter und Componist einander Gewalt thun, und sich überaus viel Mühe geben, ein sehr elendes Werck zu Stande zu bringen.«224 Problematisch ist diese Verbindung, weil sie auf Kosten der Wahrscheinlichkeit geht: weil hier Gespräch, Gesang und Musik nahtlos ineinander über gehen,225 weil hier »[k]ein 220 Gottsched: Der Biedermann, 85. Blatt 1727. Den 20. December, S. 138. Im kontrastierenden Vergleich fährt Gottsched hier und im 95. Blatt vom 28. Februar 1729 fort, der wesenhaft defizitären Oper die gereinigte Schaubühne vorzuhalten und konturiert darüber ausführlich die abzuschaffende wie, und um die geht es vornehmlich, die durchzusetzende, neue Gebrauchsform des Mediums – hinsichtlich der Affekt- und Gattungsordnung, der Nützlichkeit, Regelmäßigkeit und der formalen wie inhaltlichen Wahrscheinlichkeit, vgl. ebd., S. 177-180. 221 [Johann Christoph Gottsched]: M. Johann Dünnehaupts, Illustr. Quedl. Conrect. Gedrückter und erquickter Jacob, in einem öffentlichen Schauspiel, am 11ten und 12ten Octobr. 1703. Vorgestellet, durch einige im gedachten Gymnasio Studirende. Quedlinburg, in 8. 184. Seiten [Rezension], in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band I: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1732-1733, 1. Stück, S. 137-150, hier: S. 138. 222 [Ludwig]: Versuch eines Beweises, daß ein Singspiel oder eine Oper nicht gut seyn könne, S. 656. 223 [Gottsched]: M. Johann Dünnehaupts, Illustr. Quedl. Conrect. Gedrückter und erquickter Jacob [Rezension], S. 138f. Vgl. daran anschließend zur Nichtbeachtung der drei Einheiten ebd., S. 144. 224 Gottsched: Der Biedermann, 95. Blatt 1729. Den 28. Februarii, S. 177. 225 Vgl. [Ludwig]: Versuch eines Beweises, daß ein Singspiel oder eine Oper nicht gut seyn könne, S. 659.

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Mensch redet […] wie es die Natur, sein Stand, sein Affect mit sich bringt; sondern wie der Componist es gern haben möchte«226 und darüber hinaus noch die beteiligten Dichter, den Gattungskonventionen entsprechend, minderwertige Arbeit abliefern. Sie geraten auch eher ins Visier der Reformer als ihre komponierenden Kollegen: »Die Musik an sich selbst ist zwar eine edle Gabe des Himmels: ich gebe es auch zu, daß die Componisten viel Kunst in ihren Opern anzubringen pflegen; wiewohl sie auch oft übel angebracht wird. Aber was die Poeten daran thun, und überhaupt die ganze Verbindung so verschiedener Sachen taugt gar nichts.« (CDII, S. 368) Noch problematischer ist dieser musikalisch‐poetische ›Mischmasch‹ aus funktionaler Sicht. Als konstitutives Merkmal der Oper besiegelt er ihr Schicksal als irreparabel nutzlos bzw. schädlich, denn selbst wenn inhaltliche wie formale Mängel behoben werden könnten,227 ihre funktionale Unbrauchbarkeit ist unhintergehbar mit dieser Vermischung verzahnt: »Wollte man auch die Opern eben so ordentlich und regelmäßig vorstellen, als die Trauer- und Lustspiele; wollte man alle Veränderungen und Maschinen des Schauplatzes verwerfen: O so würde doch die einzige Musik, als welche der wesentliche Theil derselben ist, den lehrenden Endzweck verhindern.«228 Dass die Oper nun ein Hort der wildesten, antimimetischen Unwahrscheinlichkeit und gleichermaßen wesenhaft individuell wie sozial schädlich ist,229 soll allerdings nicht allein im Abgleich mit den hier ignorierten oder transgredierten Regeln und im Kontrast zum Projekt der moralischen Anstalt mittels gelehrten Abhandlungen und Aufsätzen nachgewiesen und disqualifiziert werden. Auch diese Abgrenzungsbemühung erhält zusätzlich zu den poetologischen Aspekten ein 226 Gottsched: Der Biedermann, 95. Blatt 1729. Den 28. Februarii, S. 180. 227 Was Gottsched offensichtlich bereits ausschließt und damit für die Oper das Substantielle des Defizitären betont: »Wer sieht aber nicht, daß die Oper alle Fehler der oben beschriebenen Schauspiele zu ihren größten Schönheiten angenommen hat; und daß sie ganz und gar wegfallen, oder doch ihre vornehme Anmuth verlieren würde, wenn man sie davon befreyen wollte?« (CDII, S. 366) 228 [Ludwig]: Versuch eines Beweises, daß ein Singspiel oder eine Oper nicht gut seyn könne, S. 654; vgl. auch ebd. S. 656. 229 So wie die Schauspiele und besonders die Tragödien […] aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen seien, benennt Gottsched im gleichen Jahr, 1729, im 95. Stück des Biedermanns den passenderen Adressaten für einen solchen platonischen Bann. Komplementär zur Institutionalisierung des regelmäßigen Theaters steht das Plädoyer für die Vertreibung der Oper: »Sie [die Opern – AW] thun der Republic soviel Schaden, als jene [die regelmäßigen Schauspiele – AW] ihr Nutzen bringen, wenn sei nur unter der Aufsicht verständiger Leute gespielet werden. Sie sollten also von rechtswegen gar nicht gedultet werden.« (Gottsched: Der Biedermann, 95. Blatt 1729. Den 28. Februarii, S. 179)

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biographisches Narrativ zur Seite gestellt. Christian Gottlieb Ludwigs Versuch eines Beweises, daß ein Singspiel oder eine Oper nicht gut seyn könne zielt, wie auch das entsprechende Kapitel in Gottscheds Critischer Dichtkunst und die Stücke im Biedermann darauf, über den Kontrast zum regelmäßigen Schauspiel, zu belegen, »daß die Oper nichts natürliches, nichts verständiges und nichts nützliches sey.«230 Ludwig setzt aber zugleich darauf, dieses Urteil nicht allein poetologisch, sondern auch über die eigene biographische Erfahrung zu bestätigen und es darüber gleichermaßen zum Ergebnis eines individuellen Entwicklungsprozesses zu machen, der Anfang und Ende der Abhandlung ausmacht und dessen Dynamik eine der Aufklärung ist: Er mündet, von einem ungedeckten Vorurteil ausgehend, in die richtige, vernunftgeleitete Einsicht in das defizitäre, weil maß- und nutzlose Wesen unordentlicher Bühnendarbietung. »[A]us Unwissenheit« und ohne je »die öffentliche Vorstellung einer Oper« gesehen zu haben, hält er sie zunächst – als Opfer eines kollektiven Geschmacksdefizits und, wie das erzählende Ich Ludwig nunmehr weiß, fälschlicherweise – für »Sachen von ausnehmender Schönheit« und zieht sie sogar »den Trauer= und Lustspielen vor.«231 Der erste tatsächliche Opernbesuch vermag allerdings noch nicht, diesen täuschenden Eindruck zu korrigieren. Allerdings bemerkt das erlebende Ich Ludwig hier eine Diskrepanz zwischen der Publikumsreaktion und ihrer offenbar mangelnden Fundierung, die ihn nachhaltig stutzig macht: »Viele Zuschauer bezeigten […] ein sonderbares Vergnügen«, obwohl sie »weder die Kunst des Componisten, noch des Verfassers recht einsehen und beurtheilen konnten. […] Ich ward hierüber ganz unruhig.«232 Noch ohne es poetologisch objektivieren zu können, registriert Ludwig außerdem, »daß mir vieles wiedernatürlich vorgekommen war«, verbleibt allerdings, gleichwohl durch sein ›richtiges‹ Gespür misstrauisch gemacht, vorerst noch bei seinem »Vorurtheil […], welches ich aus so vieler andern Lobsprüchen gefasset hatte«233 , die allerdings der eigene Eindruck des ›Widernatürlichen‹, gepaart mit der offenbaren Unkenntnis im Publikum, bereits als Ausdruck eines ›schlechten‹ Geschmacks entlarvt. Über das Zusammenspiel von eigenen Erfahrungen und gelehrtem Wissen macht sich Ludwig nun daran, »mein Urtheil von den Singspielen feste zu setzen, damit ich mich nicht mehr mit Vorurtheilen martern dürfte.«234 Dazu dient ihm »auf meinen Reisen« der Besuch »mehrere[r] Singspiele« ebenso wie der Austausch mit »unterschiedenen Musikverständigen« sowie die Konsultation der bekannten kunstrichterlichen Ahnherren »Aris230 [Ludwig]: Versuch eines Beweises, daß ein Singspiel oder eine Oper nicht gut seyn könne, S. 661. 231 Ebd., S. 648. 232 Ebd., S. 648f. 233 Ebd., S. 649. 234 Ebd.

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toteles, Horaz und so vieler neuern Critikverständigen«235 . Am Ende dieses Lernund Einsichtsprozesses stehen zwei Ergebnisse: Die Verbindung von Dichtung und Musik ist erstens nicht grundsätzlich zu verwerfen, doch darf das Ergebnis »nicht allzu lang seyn«, sondern muss den Ansprüchen »einer gemäßigten Schönheit«236 genügen, wie es etwa Kantaten oder einzelne Arien vermögen. Und so grundsätzlich positiv er solchen gesungenen Gedichten gegenübersteht, desto nachhaltiger verdammt er zweitens die Oper, die sich in »sinnlichen Vergnügungen« erschöpft und die »den Endzweck theatralischer Gedichte« immer und notwendig verfehlen muss: »das Lehren und die Reinigung der Leidenschaften.«237 Zu diesem finalen Urteil aber kommt Ludwig, und das betont er am Ende seiner Abhandlung, durch das Zusammenspiel von biographischer Erfahrung und poetologischem Wissen, in deren Verschränkung erstere den Nachweis von letzterem erbringt, so wie letzteres erstere objektiviert. Als gelehrte Abhandlung dient der Text selbst nun der Begründung notwendiger theatraler Exklusionen. Er reiht sich inhaltlich nahtlos in die Programmatik der Gottschedianer ein, konturiert und stabilisiert den Diskurs. Seine biographisch‐narrativen Anteile weisen ihn jedoch zugleich als Exempel, als potentielle Unterrichtsgeschichte und seinen ›Helden‹ Ludwig als Vorbild für andere, mit ihren Vorurteilen hadernde Bühneninteressierte aus: »Und da ich meine Meynung von Opern durch fleißige Betrachtung und Untersuchung derselben geändert habe: So kan es vielleicht andern künftig eben so gehen.«238

3.2   Schultheater und Theaterreform In der Heterogenität der theatralen Verhältnisse finden sich in den 1720er Jahren, als Gottsched mit seinen reformatorischen Bestrebungen die diskursive Bühne betritt, auch noch Nachklänge239 einer Theaterpraxis, die nicht nur seit der Renaissance prosperiert, sondern auch vergleichbare Absichten gehegt hatte: Das Schultheater, dessen Blütezeit sich über das 16. und 17. Jahrhundert erstreckte, etablierte, unabhängig von seiner konfessionellen Bindung, einen wirkmächtigen Konnex zwischen Bühne und Erziehung – gleichwohl unter anderen Voraussetzungen und in anderen Zusammenhängen als dies die Theaterreform im 18. Jahrhundert unter-

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Ebd., S. 649, 652. Ebd., S. 650. Ebd., S. 660. Ebd., S. 661. Den marginalen Status des (protestantischen) Schultheaters um 1700 betont etwa Martin Stern: »Über die Schauspiele«. Eine vergessene Abhandlung zum Schultheater des Basler Theologen Samuel Werenfels (1657-1740) und ihre Spuren bei Gottsched, Lessing, Gellert, Hamann und Nicolai, in: Text&Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 17/1 (1989), S. 104-126, hier: S. 125.

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nimmt.240 Drei wesentliche Unterschiede lassen sich hier ausmachen: Das Schultheater ist erstens Teil des Rhetorik-Unterrichts und damit instiutionell eingebettet, es richtet sich dementsprechend zweitens in seinen edukativen Wirkungen vornehmlich an seine Darsteller und ist drittens in seinen Vorstellungen nicht notwendig an eine außerinstitutionelle Öffentlichkeit gebunden. Im Anschluss an den Theaterbetrieb der humanistischen Gelehrtenschulen und deren Rezeption antiker Dramen, hauptsächlich von Terenz und Plautus, sowie die ausdrückliche Befürwortung durch Luther und Melanchthon, wird die Schulcomödie als Amalgam der »ästhetische[n] Ordnung des antiken Dramas« und der »moralische[n] Ordnung eines evangelisch begründeten Christentums«241 integraler Bestandteil zunächst des protestantischen Schulbetriebs.242 Als »ein gegenreformatorisches Projekt«243 ist sie, theologisch entsprechend umcodiert, schon bald ebenso unverzichtbares Element der jesuitisch geführten Gymnasien. Schulmänner beider Konfessionen schätzen ein in ihrer jeweiligen institutionellen Ordnung fest verortetes Theaterspiel als »spezifisches Mittel der Belehrung und gleichsam Verlängerung des regulären Unterrichts«244 . Aus den gleichen Gründen und mit ähnlichen Absichten attestieren sie der Schulcomödie jedoch nicht nur einen »didaktischen Nutzen«245 , sondern bereits sehr dezidiert eine große pädagogische Potenz. Hier kann nicht nur im »lebenden Beispiel geübt«246 , sondern auch an 240 Vgl. für eine erste Übersicht über das protestantische und jesuitisches Schultheater in der Frühen Neuzeit, wichtige Autoren, humanistische Einflüsse und historische Kontexte Rolf Tarot: Schuldrama und Jesuitentheater, in: Walter Hinck (Hg.): Handbuch des deutschen Dramas, Düsseldorf 1980, S. 35-47. 241 Silvia Serena Tschopp: Protestantisches Schultheater und reichstädtische Politik. Die Dramen des Sixt Birck, in: Gernot Michael Müller (Hg.): Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg, Berlin/New York 2010, S. 187-215, hier: S. 192. 242 Vgl. ebd., S. 189-193; Bernhard Jahn: Schultheater jenseits von St. Anna. Versuch einer Annäherung an die Theaterspielpraxis der deutschen Schulen in Augsburg am Beispiel von Sebastian Wilds Dramensammlung, in: Gernot Michael Müller (Hg.): Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg, Berlin/New York 2010, S. 217-233, hier: S. 220f.; Frank Pohle: Glaube und Beredsamkeit. Katholisches Schultheater in Jülich-Berg, Ravenstein und Aachen (1601-1817), Münster 2010, S. 694-716; Barner: Barockrhetorik, S. 304-306; Paul: Reichsstadt und Schauspiel, S. 185 (hier auch weitere Literaturhinweise); Krebs: Der Theologe vor der Bühne, S. 44. 243 Rothe: Lesen und Zuschauen im 18. Jahrhundert, S. 132. Gerade für das Jesuitentheater muss in diesem Zusammenhang der Aspekt der theatralen Glaubenspropagierung betont werden, vgl. u.a. ebd., S. 132f.; Barner: Barockrhetorik, S. 347; Konrad Gajek: Nachwort, in: ders. (Hg.): Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert. Einladungsschriften zu den Schulactus und Szenare zu den Aufführungen förmlicher Comödien an den protestantischen Gymnasien, Tübingen 1994, S. 10*; Pohle: Glaube und Beredsamkeit, S. 25f. 244 Paul: Reichsstadt und Schauspiel, S. 221. 245 Tschopp: Protestantisches Schultheater, S. 194. 246 Barner: Barockrhetorik, S. 306.

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dieser Exemplarität veranschaulicht und darüber verinnerlicht werden, was beide Schulformen in ihrer biographischen Formungsabsicht nachhaltig vermitteln wollen: Grundsätzlich soll die Schulcomödie der Ausformung zu einer konfessionsspezifisch geprägten, »moralisch‐gesellschaftlichen Lebenstüchtigkeit«247 dienen. Sie erzieht zur pietas, trägt entschieden zur »Festigung des Glaubens«248 und damit einher gehender Kentnnisse der heiligen Schrift bei, eignet sich zur umfangreichen Wissensvermittlung im Zeichen der eruditio sowie der Weichenstellung für eine städtische oder staatliche Beamtenlaufbahn – die Inhalte der Schulcomödie sind dementsprechend doppelt funktional, ebenso erbaulich wie nützlich.249 Im Zentrum des Leistungskataloges und von hier aus lange Zeit eng verknüpft mit ihrer utilitaristischen steht allerdings, und das markiert eine wesentliche Differenz zum professionellen Theater der Reform, die rhetorische Funktion der Schulcomödie, zu deren topischen Lernzielen seit je her neben der latinitas die Optimierung der memoria sowie der performativen, für ein öffentliches Auftreten wesentlichen Anteile der Oratorie, actio und pronuntiatio, zählen.250 Ihre Fundierung im eloquentia-Betrieb der humanistischen Gelehrtenschulen und der daran nahtlos anschließenden protestantischen wie jesuitischen Gymnasien hat Winfried Barner nachdrücklich aufgezeigt und dabei dargelegt, wie insbesondere im 17. Jahrhundert Rhetorik, Pädagogik und Theater im Schulbetrieb in einem »unlösbaren, geradezu lebensnotwendigen Zusammenhang[]«251 stehen. Die Schulcomödie bildet hier »die Spitze einer gleitenden Skala von rhetorischen Übungs- und Präsentationsformen«252 , den sogenannten actus, die je nach Umfang und Aufwand vor einem mehr oder minder öffentlichen Publikum dargeboten werden, und es ist, so Barner, gerade ihr Inszenierungsaufwand, der aus der oft im weitesten Sinne dialogisch aufgebauten Deklamation eine ›Comödie‹ macht: »Die Entscheidung, ob ›Theater‹ oder nicht, ist primär eine Frage der Ausstattung.«253 247 Stork: Das Theater der Jesuiten in Münster, S. 7. 248 Ebd., S. 8. 249 Dass sich der »Kanon pädagogischer Zwecke« in beiden Konfessionen ähnelt, die Jesuiten an die humanistische bzw. protestantische Praxis anschließen, betont Barner: Barockrhetorik, S. 345. Vgl. zum attestierten Leistungskatalog des Schultheaters ebd., S. 304-307; Paul: Reichsstadt und Schauspiel, S. 217-226; Gajek: Nachwort, S. 19*; Tschopp: Protestantisches Schultheater, S. 194-196 (Fokus auf protestantische Gymnasien); Pohle: Glaube und Beresamkeit, S. 19-26 (Fokus auf jesuitische Gymnasien). Vgl. zur theologisch begründeten unterschiedlichen Themenbandbreite Stork: Das Theater der Jesuiten, S. 9. 250 Vgl. Zeller: Pädagogik und Drama, S. 28-34; Barner: Barockrhetorik, 307. 251 Barner: Barockrhetorik, S. 344, vgl. dazu ausführlicher ebd., S. 302-321 und 344-352; im Anschluss an Barner etwa Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 40-44; Paul: Reichsstadt und Schauspiel, S. 217-220. 252 Barner: Barockrhetorik, S. 302. 253 Ebd. Vgl. zu diesem Inszenierungsaufwand Paul: Reichsstadt und Schauspiel, S. 220-225.

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Ebenso wie eine solche Aufführung, gehört das Verfassen und/oder Vermitteln einer geeigneten Textgrundlage zum Aufgabenbereich der Rhetoriklehrer. Das Theater ist Teil und Spielart ihres Unterrichts, von deren Wirkmächtigkeit zugleich eine Vielzahl von Schülern profitieren kann.254 Von einer Funktionsstelle, wie sie das reformierte Theater des 18. hervorbringt, kann für das Schultheater hier allerdings nicht gesprochen werden. Zwar obliegt die Schulcomödie der Verantwortung von Lehrer-Autoren, die damit zugleich ihre eigenen Fertigkeiten unter Beweis stellen, ihre Verortung, ihr Profil und ihre Verantwortlichkeiten sind jedoch weniger das Ergibnis diskursiver, als vielmehr institutioneller Setzungen, so dass sie bis auf einige Fälle auch nicht weiter aus dem Gefüge der Institution heraustreten, und selbst wenn, auch dann noch untrennbar mit ihr verbunden bleiben, wie etwa die protestantischen Schulmänner Sixtus Birck in Augsburg, Johannes Sturm in Straßburg und Christian Weise in Zittau oder die Jesuiten Nikolaus von Avancini und Jakob Bidermann.255 Von hier aus lässt sich nun die spezifische Struktur der Schulcomödie genauer fassen, die bei aller inhaltlichen Verwandtschaft die kontextuellen und programmatischen Differenzen der Theaterreform sowie ihre veränderten Bedingungen und Akzentsetzungen zu verdeutlichen hilft. Die Schulcomödie ist als ein Unterrichtsmittel Teil des gymnasialen Curriculums, sie ist Funktionselement einer institutionellen Ordnung, deren Anforderungen sie zu genügen hat und auf deren Zweckerfüllung sie zugeschnitten ist. Sie zeichnet sich zugleich, als Theater, aber auch durch eine wie weit auch immer gefasste öffentliche Dimension aus. Konradin Zeller hat in diesem Zusammenhang »von der eigentümlichen Produktions-Rezeptions-Struktur« gesprochen, »der das Schuldrama durch die spezifischen Bedingungen der Schultheatersituation unterworfen ist.«256 Beide Aspekte, die Produktion wie die Rezeption, lassen sich hier nicht nur nicht voneinander trennen, sie »sind ineinander verzahnt«257 , oder, wie man die Analyse Zellers zuspitzen müsste, sie treffen sich im maßgeblichen Adressaten der pädagogisch‐theatralen Bestrebungen und bringen ihn als eine Schnittstelle hervor, 254 Wenn Paul in diesem Zusammenhang von mitunter »regelrechten Massenveranstaltungen« (Reichsstadt und Schauspiel, S. 223) spricht, ist damit zunächst die hohe Anzahl mitwirkender Schüler gemeint. Vgl. auch Barner: Barockrhetorik, S. 308f. Das erforderte möglicherweise, bei der Arbeit mit nicht eigens produzierten literarischen Vorlagen, eine Anpassung an die Klassengröße, in Form von Szenenergänzungen und vor allem Personalerweiterungen, wie Pohle am Beispiel einer Ravensteiner Zaïre-Aufführung zeigt, vgl. Glaube und Beredsamkeit, S. 682f. 255 Vgl. zum Profil der (jesuitischen) Rhetoriklehrer Barner: Barockrhetorik, S. 348; zu deren Zurücktreten hinter der Institution des Ordens Storck: Das Theater der Jesuiten, S. 10; ferner Gajek: Nachwort, S. 23*. 256 Zeller: Pädagogik und Drama, S. 21. 257 Ebd., S. 22.

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die als Ausdruck dieser Verzahnung unterrichtet wird, ihren Unterricht vorführt und darüber zugleich erteilt. Im Zentrum der Schulcomödie stehen die schauspielenden Schüler. Sie profitieren von dem effektiven eloquentia-Training, ihnen gelten zunächst die moralischen Lehren und das zu vermittelnde Wissen, dementsprechend liegt »die hervorstechende Eigenschaft des Schulspiels darin […], daß die Akteure selbst die eigentlichen Rezipienten sind«258 . Der Autor des zur Aufführung zu bringenden Textes ist ihr Lehrer, seine literarische Spielvorlage ihr exempelförmiger Unterrichtsgegenstand, den sie sich in erster Linie als Schüler aneignen. Die Aufführung ist dann Ergebnis, Ausdruck und Beleg dieser Aneignung. Sie macht aus den zunächst eigentlichen Rezipienten aber zugleich auch Produzenten für einen zweiten Rezipientenkreis, die Zuschauer, deren Kern in der Regel eine erweiterte Schulöffentlichkeit bildet: »Der literarisch‐theaterästhetischen Rezeptionskette von Autor – Schauspieler – Publikum ist gewissermaßen die schulisch‐pädagogische Rezeptionskette von Lehrer – Schüler – Eltern/bzw. Schulherren unterlegt.«259 Mit diesen beiden ›Ketten‹ verbinden sich auch zwei Funktionsbereiche, deren Zusammenspiel »erst den besonderen Charakter der Schulcomödie aus[macht].«260 Steht das Theaterspiel einerseits mit dem institutionellen Ziel der Schülererziehung in Zusammenhang, zielt es andererseits auf den Zusammenhang der Institution selbst: Die Aufführungen vor einer Schulöffentlichkeit im weitesten Sinne, zu der neben Mitschülern, Lehrern und Eltern auch Schulträger und weitere Vertreter der (städtischen) Obrigkeit zählen, geben der Schule »die Möglichkeit zur Selbstdarstellung nach außen hin«, sie werben für die Qualität der Institution, indem sie deren Qualitäten auf die Bühne bringen: »Das Vorweisen der Lernfortschritte ist nicht weniger wichtig als der Lerneffekt selbst.«261 Das schließt, insbesondere im Falle der missionarischen Ambitionen der Jesuiten,262 pädagogische Effekte der Aufführung keineswegs aus,263 ändert aber nichts am zunächst primären Fokus auf die beteiligten Schüler. 258 Ebd. Vgl. auch Tarot: Schuldrama und Jesuitentheater, S. 36; Stern: »Über die Schauspiele«, S. 110f. 259 Zeller: Pädagogik und Drama, S. 22. 260 Ebd., S. 78. 261 Ebd., S. 25. 262 Pohle nennt in diesem Zusammenhang für das Jesuitentheater etwa den »Einsatz von mehrsprachigen Periochen, einer die Handlung möglichst verdeutlichenden szenischen Realisierung und von volkssprachlichen Zwischenspielen, Tänzen und Gesangseinlagen«, die den missionarischen Absichten des Ordens dergestalt zuspielen, dass sie als »verständnisfördernde bzw. die Handlung auflockernde Elemente auch im Dienste einer amplificatio der Aussage gesehen werden« (Glaube und Beredsamkeit, S. 499) können. Das Einkalkulieren eines pädagogischen Effekts für das Publikum betont auch Paul: Reichsstadt und Schauspiel, S. 221. 263 Vgl. etwa Barner: Barockrhetorik, S. 352; Tarot: Schuldrama und Jesuitentheater, S. 44f.; Rothe: Lesen und Zuschauen, S. 132f.

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Im reformierten Theater des 18. Jahrhunderts verschiebt sich diese ProduktionsRezeptions-Situation und ihre Zweckstruktur: Eine schulisch‐pädagogische Komponente, die Ausdruck der institutionellen Verortung des Schultheaters ist, wird hier, nicht zuletzt weil eine solche Verortung für das literarisierte Berufstheater fehlt, wesentlicher Legitimationsgarant und Transformationsmotor für ein Theater, das als moralische Anstalt selbst institutionell auszudifferenziert und konsolidiert werden soll und dabei eigene Mechanismen, Funktionsstellen und Relationen hervorbringt. Dabei schließt das reformierte Theater durchaus an bestimmte Programmatiken an, im Kern eben die von Bühnenspiel und Pädagogik, rekonfiguriert sie aber in und mit den Strukturen einer professionell betriebenen Form von Theater. Die Adressaten dieser angestrebten ästhetisch‐pädagogischen Institution befinden sich schließlich weniger auf, sondern stärker vor der Bühne. Zwar betont auch die Theaterreform die Notwendigkeit einer pädagogisierung der Darsteller – die Schauspielererziehung ist notwendiges Element der Konstitutierung der moralischen Anstalt,264 anders als im Schultheater aber nicht deren Ziel –, ihr Hauptfokus liegt jedoch auf dem im Schultheater pädagogisch eher nachgeordneten, »zweite[n] Rezeptionskreis«265 und damit auf einem als erziehungsbedürftig perspektivierten Publikum, das, dem gesamtgesellschaftlichen Anliegen der Reform entsprechend, immer und notwendig möglichst breit gefasst ist. Dass sich das Schultheater zu Beginn der Reform bereits in einem Niedergang befindet, hat vielschichtige Gründe, die hier nur in Ansätzen skizziert werden können. Wichtiger erscheint neben dem Impuls, den die Theaterreform vom Schultheater übernimmt und der Betonung der strukturellen Differenzen, inwiefern erstere mit ihrem die theatralen Verhältnisse in Gänze umfassenden Anspruch auch letzteres (kritisch) beobachtet und umzuformen trachtet, wie es sich insbesondere für das Gottschedumfeld nachzeichnen lässt. Die Schulcomödie, an deren Besuch sich Gottsched in der Critischen Dichtkunst erinnert, ist offensichtlich nur noch bedingt unterrichtsförmig. Zwar behandelt sie noch – unter anderem – mit der Reformation ein im weitesten Sinne theologisches Thema, ansonsten entspricht sie jedoch strukturell dem Theater der Hauptund Staatsaktionen.266 Nicht nur zeigt sich hier eine, regional sicherlich unterschiedlich stark ausgeprägte,267 Beeinflussung der verschiedenen theatralen For264 Vgl. dazu ausführlicher II.6. 265 Zeller: Pädaogik und Drama, S. 22. 266 Vgl. den ersten Teil dieses Kapitels und die Ausführungen im zehnten Kapitel der Critischen Dichtkunst. 267 Gleichwohl auch Pohle, darin mit dem Foschungskonsens übereinstimmend, einen Bedeutungsverlust des Schultheaters neben der Wanderbühne konstatiert, relativiert er zumindest für seinen Untersuchungszeitraum Tarots Einschätzung, dass die Wanderbühnenkonkurrenz das Schultheater massiv zurückgedrängt habe, vgl. Glaube und Beredsamkeit, S. 690.

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men, die zwischen Konkurrenz und Impulsgebung einerseits die konfessionellen Differenzen innerhalb des Schultheaters umfasst, und andererseits dessen Verhältnis zum immer stärker aufkommenden Berufstheater der Wandertruppen, das ein zunehmend größeres öffentliches Interesse und andere Erwartungshaltungen zu generieren im Stande war. Die vielfache formale Anpassung des Schul- ans Truppentheater, die in den Arbeiten Christian Weises ihren Höhepunkt fand, überstieg jedoch mitunter die zur Verfügung stehenden Schulmittel und/oder ging auf Kosten der eigentlichen, pädagogischen Funktion, deren Vernachlässigung zugunsten einer Reaktion auf veränderte Sehgewohnheiten und Erwartungen eines wachsenden, zahlenden Publikums den Legitimationsgrund des Schultheaters ebenso abbaute wie eine anwachsende pietistische Kritik auf protestantischer Seite und grundsätzliche Veränderungen in den Lehrplänen und pädagogischen Profilen der Schulen. Hinzu kam oftmals ein mit dieser Gemengelage zusammenhängender Rückzug in die Institution, das heißt eine Zurücknahme öffentlicher Darbietungen und deren Transformation zu rein schulinternen Ereignissen. Mitunter kam der Betrieb auch ganz zum Erliegen, etwa in Preußen, wo das Schultheater auf Erlaß von Friedrich Wilhelm I. 1718 verboten wurde.268 Zwischen ökonomischen Faktoren, einer Formenkonkurrenz, der damit durchaus verbundenen, zunehmenden Aufweichung der Legitimationsgrundlage und institutionellen Veränderungen ist die über zwei Jahrhunderte prosperierende Form des Schultheaters beim Auftreten der Theaterreform also weitgehend marginalisiert. Die Relation, die letztere zu ersterem unterhält, zeigt sich zunächst in einem ähnlichen Ansatz, der Verknüpfung von Theater und Unterricht, unter Berücksichtigung der genannten Differenzen; sie zeigt sich in ihrem erweiternden, dem eigenen Anliegen anverwandelnden Charakter beispielhaft etwa in der Rezeption von Samuel Werenfels Rede Über die Schauspiele, die im Sinne der Reform 268 Vgl. zu dieser »Öffnungstendenz« (Zeller: Pädaogik und Drama, S. 92) des Schultheaters, dem Einfluss des Truppentheaters und Weises Rolle Newald: Die deutsche Literatur, S. 274-276 und S. 394-399; Zeller: Pädaogik und Drama, S. 91f.; den Einfluss der Wanderbühnen auf die lokale Theaterkultur, insbesondere das Schultheater betont Paul für die Stadt Nürnberg, vgl. Reichsstadt und Schauspiel, S. 165, 199. Einen »ursächlichen Zusammenhang« zwischen dem gleichwohl konstatierten Rückzug des Schultheaters um 1700 und dem Spielbetrieb der Wanderbühne kann Pohle für sein Untersuchungsgebiet nicht feststellen, und spricht letzterem nur einen geringen Einfluss auf die schulinterne Verlagerung des Aufführungswesens zu, dessen sich im Jesuitentheater historisch etwas später vollziehenden »Bedeutungsverlust« er stärker durch instituonelle Veränderungen begründet sieht, vgl. Glaube und Beredsamkeit S. 689-693, Zitate von S. 693 und bezüglich des protestantischen Theaters ebd. S. 700, 710f. und 716; vgl. allgemein zum Niedergang des (protestantischen) Schultheaters und den verschiedenen Faktoren die genannten Stellen bei Zeller; außerdem die pointierte Zusammenfassung bei Barner: Barockrhetorik, S. 317f.; die pietistische Theaterfeindlichkeit erwähnen in diesem Zusammenhang außerdem etwa Fulda: Schau-Spiele des Geldes, S. 179 und Jahn: Schultheater jenseits von St. Anna, S. 220f.

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eingelesen und ausgelegt wird, obwohl ihre Gegenstand eigentlich das Schultheater ist.269 Sie zeigt sich außerdem darüber hinaus, und hierin als charakteristisch für den Anspruch der Reform, im kritischen Blick, mit dem sie das Schultheater bedenkt, etwa im Falle Gottscheds, und, damit zusammenhängend, in der bisher von der Forschung nicht in den Blick gerückten Einflussnahme der Programmatik einer gereinigten Schau- auf die Schulbühne, wie sie sich ebenfalls im Umfeld der Beyträge verfolgen lässt. Ausdrücklich begrüßt wird hier die Übernahme eines reformatorischen Reinigungsimpulses, der nicht zuletzt die das Schultheater mit Haupt- und Staatsaktionen kontaminierenden Stücke Christian Weises als theatralen Unterrichtsstoff entfernen soll. Nicht nur wird tadelnd vom »alten Schlendrian[…] der weisischen Comödien« gesprochen, die mitunter sogar »noch schlechter sind«270 als die vom kunstrichterlichen Ahnherrn Horaz getadelten Stücke des Plautus. Dementsprechend wird ausdrücklich begrüßt, »daß sich wackere Schulmänner finden, die diesen Wust einsehen, und ihn wie der Herr Rector R. allmählich abzuschaffen bemühet sind«271 , die also, mit anderen Worten, die Schulcomödie auf den regelmäßigen, maßvollen Boden der Reform stellen wollen. Die grundsätzliche Befürwortung der Schulcomödie beruht auf den ihr traditionell attestierten Vorzügen,272 269 Vgl. Stern: »Über die Schauspiele«, S. 112. Zu dieser Akzentverschiebung kommt es bereits in der ersten, wohl Mylius zuzuschreibenden und von Gottsched mit Bemerkungen flankierten Übersetzung, die im 1744 im 32. Stück der Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit gedruckt wird, vgl. ebd., S. 111f.; vgl. ferner Krebs: Modernität und Traditionalität, S. 140. 270 [Johann Christoph Gottsched]: Zufällige Gedanken über Herrn Adam Daniel Richters, Rect. zu Annaberg Regeln und Anmerkungen über die lustige Schaubühne, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1741, 28. Stück, S. 572-604, hier: S. 574f. Die Zufälligen Gedanken leiten Richters ab S. 577 beginnende Abhandlung ein und flankieren sie mit fortlaufenden Anmerkungen. Sie werden von der Forschung Gottsched zugeschrieben. Im Folgenden wird daher, je nach Textteil, zwischen den Zufälligen Gedanken und Richters Regeln und Anmerkungen über die lustige Schaubühne unterschieden. 271 Ebd., S. 575. 272 Die der rhetorischen Tradition und Fundierung des Schultheaters entsprechenden positiven Effekte des memoria-Trainings oder eines sicheren öffentlichen Auftretens bei gleichzeitigem, durch einen »gewissen Wohlstande« temperierten sprachlichen wie körperlichen (Affekt)Ausdruck betonen Gottscheds Vorüberlegungen zu Richters Abhandlung (Zufällige Gedanken S. 572-574, hier: S. 573), ebenso wie der Camenzer Rector Gottfried Heinitz, der in seinen ebenfalls in den Beyträgen abgedruckten Einladungsschriften die »Schaubühne [als] eine Schule der Beredsamkeit« lobt. (Auszug, aus Herrn M. Gottfried Heinitzens, Rectors. zu Camenz Einladungsschrift, zu zweyen Schauspielen, die 1740 aufgeführet worden, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von ei-

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setzt aber gleichsam variierend ihre poetologischen und formalen Ansprüche als neues Fundament verbindlich fest. Das Schultheater hat die von der Reform vorgegebene (Regel-)Mäßigung vorbehaltslos zu übernehmen. Und entsprechend den ›geschickten Männern‹, die die institutionelle Ausdifferenzierung der Schaubühne zur moralischen Anstalt angehen und überwachen sollen, sowie einem »weisen Gesetzgeber[…]«273 , dessen Unterstützung die Entfaltung ihrer vollen sozialen bis soziopolitischen Wirkmächtigkeit begünstigt, soll diese regelmäßige Schulcomödie den Händen »weiser Schulherren«274 anvertraut werden. Als solch einem ›weisen Schulherrn‹ lässt der Diskursherr Gottsched dann »auch dem Herrn Rector Richter sein billiges Lob wiederfahren«, schließlich hat »dieser geschickte Schulmann sich in die genauere Untersuchung der Regeln der Schaubühne einlassen wollen«275 und hierin gleich zweimal höchst vorbildlich gehandelt: Nicht nur, weil »er die Regeln der Schaubühne zu untersuchen bemüht ist«276 , sondern auch, weil er die Ergebnisse dieser Untersuchungen zur critischen Überprüfung frei- und sich damit selbst in ein Unterrichtsverhältnis begibt. Denn Richter will, und die Einsendung seines Beitrags besiegelt das Vorhaben, seine »hierbey gemachten Gedanken und Anmerkungen denenjenigen zur Prüfung öffentlich zu übergeben, welche etwan Willens sind, unsern Landesleuten einen vollständigen Unterricht von der Comödie in die Hände zu liefern.«277 Die Beyträge sind nun der Ort, an dem dies geschieht, an dem nicht nur die ›Gedanken und Anmerkungen‹ öffentlich gemacht, sondern auch mit ihrer ›Prüfung‹ textuell verknüpft und zusammengeschrieben werden. Die Zeitschrift fungiert hier als ein medialer Klassenraum, in dem Gottsched als Herausgeber-Lehrer die löbliche Bemühung der Abhandlung ebenso vorstellt, wie sie mit seinen aus kunstrichterlich‐gelehrter Autorität gespeisten Annotationen korrigiert, wo es nötig ist, das heißt dort, wo die regelgeleiteten Überlegungen Richters ergänzungsoder gar mäßigungsbedürftig sind: Dies zeigt sich beispielhaft bei seiner Bestimmung der Comödie als »Nachahmung einer moralischen Handlung, die durch ihr natürliches Wesen die Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen soll.«278 Diese Definition aber ist »dem berühmten Herrn Professor Gottsched«279 , dessen

273 274 275 276 277 278 279

nigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VIII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742-1744, 30. Stück, S. 354-365, hier: S. 354; vgl. zum Katalog der Vorzüge insbesondere S. 354-357) Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, S. 189. [Gottsched]: Zufällige Gedanken, S. 573. Ebd., S. 574f. Ebd., S. 576. Richter: Regeln und Anmerkungen, S. 578. Ebd., S. 581. Ebd., S. 577.

II Die Pädagogisierung des Theaters

Critische Dichtkunst Richter ausdrücklich als Vorlage seiner Überlegungen benennt, zu allgemein, wie er in einer seiner sehr ausführlichen Anmerkungen bemängelt und entsprechend korrigiert: »Tugendhafte Handlungen können also freylich die Zuschauer sowohl belustigen, als erbauen. Aber dieses Belustigen und dieses Erbauen ist nicht der besondre Zweck der Comödie, sondern der allgemeine der ganzen Dichtkunst.«280 Regelstudium, Korrektur und Unterrichtsabsicht formen hier einen textuellen Verbund, dessen zugrundeliegendes Verhältnis das eines Unterrichts für Unterrichtende ist. Die Unterrichtsstunde hat nämlich zum Ziel, dem hier selbst in eine Schülerposition gerückten Rector Richter und all seinen potentiellen Klassenkameraden zu vermitteln, wie das fehlerfreie poetologische Fundament schultheatralen Unterrichts auszusehen hat, damit dieser als »eine der Schuljugend so nützliche, als angenehme Sache«281 seinen Zweck erfüllt. Mit der (Selbst-)Verpflichtung auf eine der frisch entstandenen Diskursordnung entsprechende, regelmäßige theatrale Form verwandelt sich das Schul- zumindest auf dieser Ebene dem gereinigten Theater der Reform an. Dies gilt für die von den Schulmännern gleichermaßen gerühmten formalen und poetologischen wie für die pädagogischen Komponenten. Inwiefern nun der Einfall der Reform in die Schulbühne nicht nur an deren rhetorische Ausbildung argumentativ anschließbar ist, sondern ihr umgekehrt auch die eigenen, erzieherischen Ziele einschreibt und damit zugleich von einer konfessionsbezogen‐religiösen auf deren säkulare Variante einer aufklärerischen Moralität umstellt, zeigt sich einerseits in Richters dezidierten Bezügen auf die Critische Dichtkunst. Es zeigt sich stärker noch und exemplarisch in den ebenfalls in den Beyträgen abgedruckten Einladungsschriften des Camenzer Rectors Gottfried Heinitz. Das von ihm dem schulischen eloquentia-Betrieb zugrundegelegte Theatermodell entspricht in Form und Wirkungsabsicht gänzlich der Programmatik der Reform. Die Stücke sollen den Regeln folgen, »nach welchen vernünftige Kunstrichter sie eingerichtet haben wollen«282 , das heißt wahrscheinlich sein, Maßlosigkeiten auf allen Ebenen vermeiden und Tugend wie Laster angemessen darstellen. Dann erst kann sich auch eine erzieherische Wirkung entfalten, dann können die Schauspiele »gar wohl eine Schule guter Sitten werden, sie können zugleich belustigen und erbauen: wenn man nur das Anstößige und Unflätige von denselben absondert. Sie halten die weisesten und nützlichsten Sittenlehren in sich, sie lehren uns die Tugend und das Laster in ihrer natürlichen Gestalt kennen, und unterstützen ohre Regeln mit lebendigen Beyspielen.«283 280 281 282 283

Ebd., S. 580, Anmerkung b). [Gottsched]: Zufällige Gedanken, S. 572. Heinitz: Einladungsschrift, zu zweyen Schauspielen, S. 360 Ebd., S. 364.

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Die Verpflichtung des Schultheaters auf das reformierte Theater führt so zu einer institutionellen Verschachtelung, zu einer Schulimplementierung innerhalb der Schule. Und weil Heinitz, wenn er von Sein und Sollen des Theaters allgemein spricht, entsprechend auch das Schultheater als eine seiner Ausprägungen meint, lässt sich schließen, dass die aufklärerisch‐sittliche Mission des reformierten Theaters in ihrem säkularen Totalitätsanspruch die religiöse Mission, die über die jeweiligen Schulträger prinzipiell eingespeist werden konnte, von der Schulbühne diskursiv verdrängt: »[M]an kann mit der Schaubühne schon zufrieden seyn, wenn sie uns nur zu vernünftigen Menschen und wohlgesitteten Bürgern machet; die Ausbreitung des Christenthums aber den geistlichen Lehrstühlen überläßt.«284 Dass die Schaubühne aber im Kontext des Schultheaters auch ihre pädagogische Wirkung entfalten kann, ist, da besteht auch für Heinitz kein Zweifel, das Verdienst »des berühmten Herrn Prof. Gottscheds […], welcher große und gelehrte Kunstrichter nicht unterlassen hat, dieselbe brauchbar und angenehm zu machen.«285 Das regelmäßige wird so zur Voraussetzung des Schultheaters: Heinitz ist, so heißt es im Anschluss an sein Gottschedlob weiter, »daher entschlossen […], die mir anvertraute Jugend auf die Schaubühne zu führen«286 . Und er übernimmt nicht nur dessen formale und funktionale Setzungen, sondern verlässt sich auch bei den Unterrichtsmaterialen auf die Arbeit des Leipziger Professors. Heinitz will nämlich die zur Aufführung zu bringenden Stücke der Deutschen Schaubühne entnehmen und nicht mehr in dem Maße, wie seine Kollegen einst, selber zur Feder greifen. Er begründet dies aber nicht mit einem Mangel an Fähigkeit, die er, so könnte man sagen, mit dem in seiner ersten Einladungsschrift kurz vorgestellten Lustspiel Zufriedenheit in den Schäferhütten insofern unter Beweis gestellt hat, als dass es immerhin nach Gottscheds Cato als zweites Stück auf der neu erbauten Camenzer Schulbühne zur Aufführung kommt.287 Stattdessen führt er ein offensichtlich verändertes Berufsprofil an, ohne dabei jedoch ins Detail zu gehen: »Dem ungeachtet aber habe ich mich noch nicht entschließen können, wieder etwas von meiner eignen Arbeit aufzuführen. Das Amt des Schulmannes ist von einem allzu weitläufigen Umfange, und verstattet wenig ruhige Nebenstunden. Meine Absicht wird eben so gut durch fremde, als durch eigne Stücke erreichet. 284 Ebd., S. 362. 285 Ebd., S. 364. 286 Ebd. Dieser Vorsatz stieß jedoch in Kamenz auf wenig Gegenliebe und Heinitz sah sich 1743, nach sechs Jahren im Amt, gezwungen, die Stadt zu verlassen. Dies nahm wiederum Christlob Mylius, der wie Lessing Heinitz Schüler gewesen war, zum Anlass, die Stadt und ihre Obrigkeit in einem Gedicht als unaufgeklärt und kleingeistig zu verspotten, was ihm immerhin eine Gefängnis- und Geldstrafe bescherte, vgl. Dieter Hildebrandt: Christlob Mylius. Ein Genie des Ärgernisses. Reihe Preußische Köpfe. Berlin 1981, S. 14f. 287 Vgl. ebd., S. 358f. In der zweiten Einladungsschrift heißt das Stück dann Euphrosyne, oder Liebe in den Schäferhütten, vgl. S. 365.

II Die Pädagogisierung des Theaters

Es sind überdieß hierinn Beyspiele von großen Schulmännern genug vorhanden, hinter welche ich mich verstecken kann.«288 Gehörte die Textproduktion im Schultheaterbetrieb vergangener Jahrhunderte in der Regel zum Aufgabenbereich der dann auch die Aufführung anleitenden (Rhetorik-)Lehrer, setzt wenigstens der sich dem Theater der Reform verpflichtende Camenzer Rector Heinitz auf andernorts verfertigte oder zumindest kompilierte Stücke und relokalisiert diese Aufgabe im Gefüge der Reform, zwischen Dichter und Kunstrichter. Dementsprechend sind mit den ›Schulmännern‹ nicht allein die das Theater als Unterrichtsmittel einsetzenden Lehrer (der vergangenen Jahrhunderte) bezeichnet, sondern unter der Hand auch die nun den Diskurs dominierenden Theaterreformer und die Erziehungsinstanzen, die sie als solche hervorbringen.

4   Die Pädagogisierung des Poeten Im Anschluss an die argumentative Begründung des Theaters als einer moralischen Anstalt – seine evidentielle Wirkmächtigkeit sowie die edukativen Effekte, die es zu zeitigen im Stande ist – und einer mit dieser pädagogischen Selbstverpflichtung einher gehenden Abgrenzung von anderen theatralen Formen und Traditionen, stehen in den folgenden Kapiteln die einzelnen Akteure samt ihrer Relationen im Fokus, die das Theater überhaupt erst zur moralischen Anstalt machen und als solche behaupten. Dabei lassen sich zwei grundsätzliche Befunde aufzeigen, zum einen für diesen Ausdifferenzierungsprozess und zum anderen für das Erziehungsdenken des 18. Jahrhunderts. Die Entstehung der moralischen Anstalt ist erstens von einer Dynamik der Pädagogisierung geprägt. Das heißt, dass jeder am Theatergeschehen beteiligte Akteur – Dichter, Kunstrichter, Zuschauer und Schauspieler – nicht nur erzieherisch wirken, sondern selbst auch zur Erziehung erzogen werden soll. Erst aufgrund dieser Pädagogisierung kann das Theater überhaupt als eine Erziehungsinstitution funktionieren: weil sie deren Erziehungsinstanzen ebenso wie die Erziehungsbedürftigen, und alle Akteure zugleich in beiderlei Hinsicht hervorbringt; weil sie Erziehungsvoraussetzungen und -qualifikationen bestimmt, Erziehungsgrade überprüft und weil dies nicht durch theaterexterne Instanzen, sondern durch die pädagogisierten Akteure selbst geschieht– sie sind Funktionsstellen des Theaters als einer moralischen Anstalt und deren Erziehungsobjekte: pausenlos erzogene Erzieher. Als Erziehungsinstitution ist das Theater also von einem in Folge seines päd-

288 Ebd., S. 365.

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agogischen Anliegens spezifisch zugeschnittenen »Beziehungsnetz[es]«289 durchzogen, wie es Michel Foucault als charakteristisch für die Verschränkung von Macht und Wissen in den Disziplinen untersucht hat. Gleichwohl greift diese Perspektive für das Theater nur teilweise: Denn als moralische Anstalt ist hier gerade nicht, anders als in den von Foucault analyiserten Institutionen – Kasernen, Spitälern, Schulen –, primär der Körper »Gegenstand und Zielscheibe«290 der Operationen. Das Theater tritt mit dem Anspruch sittlicher Erziehung auf, es unterrichtet in all seinen Spielarten ›das Herz durch die Augen‹ und setzt dazu auf die Vermittlung von Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata sowie die Modellierung einer dem zugrunde liegenden Disposition. Damit ist jedoch umgekehrt keineswegs ausgeschlossen, dass in der moralischen Anstalt durchaus Techniken und Mechanismen der Disziplin am Werk sind. Gerade hinsichtlich der Pädagogisierung der theatralen Akteure erweisen sich Foucaults Perspektiven und Terminologien als analytisch anschlussfähig und das umso mehr, je unmittelbarer diese Akteure an der Aufführungssituation beteiligt sind.291 Diese Präsenz disziplinärer Techniken und Mechanismen wird insbesondere hinsichtlich und in Folge eines weiteren, konstitutiven Zusammenhanges von Erziehung deutlich, der sich im Verlaufe der Reform etabliert: Stellt Evidenz als Verfahren die anvisierten Wirkungen von Erziehung sicher, wird Beobachtung zu ihrer Voraussetzung.292 Im Falle des Theaters, weil hier zum einen die Erziehung des Menschen über Menschendarstellung verläuft, die nicht nur auf Menschenbeobachtung seitens der Theatererzieher beruhen muss, sondern ihrerseits auch Teil der theatralen Wirkungsstruktur wird. Das Publikum lernt ein ihm zunehmend ähnlich sich gebärdendes, wahrnehmendes und bewertendes Gegenüber zunächst auf der Bühne und darüber auch jenseits des Theaters, in seiner alltäglichen Interaktion auf Handlungsursachen, Motivationen und Absichten hin zu beobachten. Zum anderen, weil auch die Erziehungsinstanzen einander in den Blick nehmen, überprüfen und bei Bedarf korrigieren. Das betrifft die dramatischen Dichter ebenso wie die Schauspieler, aber auch das idealiter an seiner Erziehung mitwirkende Publikum. Das Theater ist als moralische Anstalt also nicht nur eine Erziehungs-, sondern als Erziehungs- auch eine Beobachtungsinstitution, die »ein lückenloses System kalkulierter Blicke«293 etabliert, in dem die konstitutive Situation des Theaters pädagogisch aufgeladen, ausgeweitet und funktionalisiert wird: Es beruht auf 289 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 228. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von »pausenlos überwachte[n] Überwacher[n].« (Ebd.) 290 Ebd., S. 174. 291 Vgl. II.5 und II.6. 292 Vgl. zu diesem Zusammenhang in der Reform- als erstmals professioneller Pädagogik, und der Rolle des Theaters für deren beobachungsbasierte Methodik III.4. 293 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 229.

II Die Pädagogisierung des Theaters

einander erziehenden und zum Zwecke der Erziehung beobachtenden Erziehungsinstanzen. Was alle Akteure der moralischen Anstalt miteinander verbindet und relationiert, ist mit anderen Worten eine mit dem Prozess der Pädagogisierung einher gehende Spielart von jenem »endlos verallgemeinerungsfähigen Mechanismus«294 , den Foucault als Panoptismus analysiert hat. Die Erziehungsinstanzen, um die es im Folgenden zunächst gehen wird, gewinnen ihre pädagogische Bedeutung vor dem Hintergrund einer mit der Theaterreform einher gehenden, nutzlose Elemente wie Harlekinaden oder Stehgreifimprovisationen formal ausschließenden »Literarisierung des Theaters, d.h. einer Verpflichtung des theatralen Spiels auf einen ihm vorausliegenden literarischen Text.«295 Neben ihren Auswirkungen auf das Verhältnis von Bühnen- und Zuschauerraum sowie die Schauspielpraxis, rückt diese Verpflichtung vor allem eine Instanz ins Rampenlicht, die auf der Bühne zwar selbst nicht agierend in Erscheinung tritt, die aber jegliches, vor allem sprachliches und affektives, Agieren dort bestimmt: den Autor.296 Er ist nicht nur hinsichtlich seiner Aufgaben und seiner Tätigkeit für den hier im Fokus stehenden Komplex von Interesse, sondern auch in seiner charakterlichen Beschaffenheit, die ihrerseits von erzieherischen Prozessen hergerichtet werden muss, um selbst erzieherisch wirken zu können. Entsprechend seiner Zentralstellung kommt dem dramatischen Dichter die Verantwortung für die moralische Legitimität des theatralen Geschehens zu, ihm obliegt es, die ›richtigen‹ Inhalte für die Wirkungs- und Evidenzmaschinerie der Schaubühne bereit zu stellen, also das angemessene Unterrichtsmaterial zu liefern und zu verantworten297 – eine Aufgabe, die nicht in beliebige, sondern ausschließlich »unter gute Hände« (DT, S. 272) gelegt, das heißt, nur moralisch integeren, umfangreich ausgebildeten Personen anvertraut werden darf. 294 Ebd., S. 277. Vgl. zum Panoptismus ausführlich ebd., S. 251-292 und zur konstitutiven Bedeutung der Beobachtung für die diese Disziplinargesellschaft durchziehenden, institutionell amplifizierten Machttechniken ebd., S. 220-250. 295 Deiters: Vom Werden des Theaters zum Schauplatz des Autors, S. 44. Vgl zu dieser Literarisierung ausführlich Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 155-170. 296 Vgl. Deiters: Die Entweltlichung der Bühne, S. 42-51. Seine Zentralstellung innerhalb des Verhältnisses von dramatischer Kunst und Erziehung »erschreibt« Gottsched dem Theaterdichter und damit sich selbst »mittels seiner Erzählung vom Werden des europäischen Theaters zu einem Ort der medial vermittelten Belehrung«, einer Selbstlegitimierungsstrategie also, mit der er die »Evolution im Horizont jener medialen Situation des modernen literarischen Theaters beschreibt, an dessen praktischer Ausformung und theoretischer Konzeptualisierung er allererst arbeitet.« (Deiters: Vom Werden des Theaters, 62 und 54) Die Parallelführung von Gründungsmythos und theatraler Gegenwart thematisiert auch Heßelmann: Die Geburt des gereinigten Theaters, S. 214f. 297 Vgl. Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 51; Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 87; Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 199.

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In der Untersuchung der Pädagogisierung des Poeten geht es vor diesem Hintergrund zunächst um die Anforderungen, die sein dramatischer Text erfüllen muss, um die in Kapitel II.2.2 aufgezeigten edukativen Wirkungen hervorzurufen sowie die Anforderungen an den Poeten selbst, die »Eigenschaften« (CDI, S. 143), die für seine Erziehungsarbeit nötig sind und die Art und Weise, wie sie ihrerseits erzieherisch in Form gebracht werden sollen. Was vom Poeten, damit er mit seinen Stücken erzieherisch wirken kann, erwartet wird, sind neben charakterlichen Anlagen breite philosophisch‐poetologische Kenntnisse im Umfeld zunächst eines gelehrten Wissens, das sich im Verlaufe der Reform jedoch zunehmend zu einem anthropologischen Wissen verlagert, das die psychologische Innenseite des Menschen auf die Bühne und darüber gleichermaßen zur Darstellung bringt wie an ihrer Diskursivierung beteiligt ist. Anschließend steht eine Instanz im Fokus, die in den vergangenen Kapiteln bereits vielfach zu Wort gekommen ist, als es darum ging, das Theater als moralische Anstalt zu behaupten und abzugrenzen: der Kunstrichter als wesentliche Ordnungs- und Kontrollinstanz des theaterreformatorischen Diskurses, die gleichermaßen die Regeln, die dem Gegenstand dieses Diskurses zugrunde gelegt werden und die Regeln des Diskurses selbst festlegt, ihre Einhaltung überwacht, bei Übereinstimmung in dessen Ordnung eintreten lässt und andernfalls aus dieser Ordnung ausschließt.298 Im Ausdifferenzierungsprozess der moralischen Anstalt, das gilt es zu zeigen, kommt dem Kunstrichter, dessen Profil und Tätigkeit zunehmend spezifiziert werden, eine zweifache edukative Funktion zu: Indem er, der idealiter selbst auch dramatisch tätig ist, die Arbeit der Poeten begutachtet, bewertet und bei Bedarf korrigiert, stellt er die Qualität ihrer erzieherischen Tätigkeit sicher und den Prozess ihrer Pädagogisierung auf Dauer. Zugleich spricht der Kunstrichter seine Urteile aus einer privilegiert gedachten Rezipientenposition heraus und damit stellvertretend für ein Publikum, dem er aufgrund der Validität seiner Urteile die richtige Rezeption und Rezeptionshaltung vorbildlich vorstellt.

4.1   Gelehrter und Menschenkenner I Tatsächlich ist das Anforderungsprofil an den Poeten enorm, schließlich kommt für das Funktionieren und Wirken der moralischen Anstalt zunächst »das meiste auf diejenigen an[], so Comödien schreiben«299 . Es reicht von charakterlichen Anlagen über breite philosophisch‐poetologische Kenntnisse und gelehrtes Wissen bis hin zu anthropologischen Lektürekompetenzen und dient der Qualitätssicherung seiner pädagogischen Aufgabe, die allerdings keineswegs neu erscheint. Sie wird, ebenso wie der eingeforderte Leistungs- und Fähigkeitsumfang, vielmehr unter 298 Vgl. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 25f. 299 Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen, XVII. Stück. Mittwochs, den 25. April 1725, S. 133.

II Die Pädagogisierung des Theaters

Berufung auf die Tradition wiederentdeckt und über den Anschluss gerechtfertigt, schließlich wurden bereits »die ältesten Poeten vor Gottesgelehrte, Staatskündige, Rechtsverständige und Weltweise zugleich gehalten« und fungierten derart breit aufgestellt als »Lehrer des menschlichen Geschlechts« (CDI, S. 139). Eine Personalunion verschiedener Wissens- und sozialer wie künstlerischer Kompetenzbereiche bildet nach wie vor das Ideal des pädagogisch tätigen Dichters – in ihm sollen Philosoph, Autor und Kunstrichter in eins fallen. Realiter jedoch schreiben sich die Funktionsbestimmungen dieser diskursgestaltenden Instanzen in unterschiedlichen Mischungs- und Dominanzverhältnissen in die jeweiligen Anforderungsprofile ein und produzieren ein Geflecht von wechselseitigen Anteiligkeiten und Überlagerungen; ein Geflecht von Hierarchien, Aufgabenfeldern und -zuschreibungen, Zielgruppen und Wirkungsmitteln, das die Instanzen im pädagogischen Steuerungszentrum der moralischen Anstalt nicht nur in ihrer jeweiligen Erziehungsfunktion konturiert, sondern auch reguliert, wie sie jeweils erzieherisch aufeinander einwirken können und sollen. Zu Beginn der aufklärerischen Theaterreform wird der Poet in einem Umfeld des Wissens und der Gelehrsamkeit verortet und zeichnet sich dadurch aus, dass er das pädagogisch perspektivierte Kerngeschäft der Gelehrten mit Hilfe der Schaubühne zu amplifizieren weiß und das Theater darüber zu einer der ersten Anstalten der Aufklärung macht. Er erfüllt damit in besonders effizienter Weise deren ureigenste ›Standespflicht‹, »rechte Begriffe von Dingen beyzubringen, die Vorurtheile auszurotten, und den Geschmack nebst den Sitten zu verbessern«.300 Allein, so Gottsched, der Vernachlässigung ausgerechnet des Theaters durch die Gelehrten ist dessen desolater Zustand zuzuschreiben, und mit gewisser Erleichterung meint er beobachten zu können, dass sie nach und nach (s)einem301 Beispiel folgen, und »durch Untersuchung der Kunst, und Verfertigung regelmäßiger und sinnreicher Stücke diesen Irrthum [gemeint ist die schlechte Reputation des Theaters – AW] zu wiederlegen suchten.«302 Indem er sich der Schaubühne zuwendet, sich ihrer an- und damit »pädagogische Pflichten«303 übernimmt, indem er ihre Apparatur 300 [Anonym]: Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen [Rezension], S. 4. 301 Vgl. zu diesem Verhältnis von Forderung und Selbstverständnis insbesondere in Zusammenhang mit Gottscheds Zeitschriftenprojekten Rüdiger Otto: Gottsched und die zeitgenössische Publizistik, in: Eric Achermann (Hg.): Johann Christoph Gottsched (1700-1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft, Berlin 2014, S. 293-338, hier: S. 298f. 302 [Anonym]: Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen [Rezension], S. 5. 303 Gunter E. Grimm: Vom Schulfuchs zum Menschheitslehrer. Zum Wandel des Gelehrtentums zwischen Barock und Aufklärung, in: Hans Ulrich Bödeker und Ulrich Herrmann (Hg.): Über den Prozess der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 14-38, hier: S. 37. Vgl. hier auch Grimms Skizzierung der wissenschafts- und sozialgeschichtlichen Prozesse, die zu einem Wandel des Gelehrtenbegriffs und -verständnisses vom 17. zum 18. Jahrhun-

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moralisch bestückt, wird der Gelehrte zum Dichter und der Dichter zu einem »Erzieher in Potenz«, der »für die Erwachsenen das [ist], was die Eltern für die Kinder sind.«304 Und unter seiner Ägide verwandelt sich zugleich das Theater in »eine Schule des Volkes« – die »wohleingerichtete Schaubühne«305 wird zum wirkmächtigen Medium einer »Ausweitung der Erziehung über die Grenzen der Familie hinaus auf das allgemeine Verhältnis zwischen Autor und Publikum«.306 Der Heterogenität dieses Publikums wird der pädagogische Dichter insofern gerecht, als dass seine Tätigkeit verschiedene Rezeptionsregister je nach Erziehungsbedürftigkeit und Aufnahmekapazitäten adressieren kann: Die große Mehrheit sieht er zweifellos »als Kinder an, denen man den Arzneybecher mit Honig bestreichen muß«307 , aber auch die zahlenmäßig unterlegenen Kenner kommen auf ihre Kosten, haben sie doch im Theater stets Gelegenheit, ihre Kenntnisse mit dem Können des Dichters abzugleichen. Denn weil die poetisch‐pädagogische Tätigkeit des Dichters »lehret und belustiget« und er die horazischen Prämissen in unterschiedlichen Dimensionen zu bedienen vermag, »schicket [sie] sich vor Gelehrte und Ungelehrte: darunter jene die besondre Geschicklichkeit des Poeten, als eines künstlichen Nachahmers der Natur, bewundern; diese hergegen einen beliebten und lehrreichen Zeitvertreib in seinen Gedichten finden.« (CDI, S. 221) Da ähnlich topisch wie die Nützlichkeit der Schaubühne auch ihre beständige, notwendige und mögliche Optimierbarkeit betont wird,308 verwundert es nicht, dass die Verbesserungsmöglichkeit mit der Qualität der Autoren steht und fällt. Weil gerade hinsichtlich der dramatischen Literatur zunächst nur »so gar wenig deutsche Muster«309 zu finden sind, an denen (angehende) Dichter sich orientieren könnten, müssen die Anforderungen und Ansprüche in Zeitschriften, Journalen

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dert und im Anschluss an Wolff und Thomasius hin zu dessen Neuverortung als »Volkserzieher und Lehrer« (ebd.) führen. Vgl. zur pädagogischen Wende des Gelehrten außerdem Ball: Moralische Küsse, S. 38f.; zu dessen Verortung im 17. Jahrhundert neben den Ausführungen Grimms auch Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 10-15 und S. 24; zum Agieren dieses Gelehrten in Zeit- und moralischen Wochenschriften Otto: Gottsched und die zeitgenössische Publizistik, S. 299. Saße: Die aufgeklärte Familie, S. 33. [Anonym]: Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen [Rezension], S. 6. Saße: Die aufgeklärte Familie, S. 33. [Gottsched]: Des berühmten Johann le Clerk Gedanken, S. 599. Noch Schillers Schaubühnenrede entwirft in erster Linie ein ideales Modell des Theaters und seiner noch zu realisierenden Möglichkeiten. Vgl. Eigenmann: Ästhetische Raserei, S. 86. [Anonym]: Franz Hedelin, Abtes von Aubignac, gründlicher Unterricht von Ausübung der theatralischen Dichtkunst, aus dem Französischen übersetzt durch Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr. Hamburg, bey Conrad König, 1737. in 8 [Rezension], in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bän-

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und Abhandlungen im Sinne einer allgemeinen Verständigung über das diskursiv ›Wahre‹ und Sagbare, aber auch als Ansporn zur Nacheiferung, von mitunter journalistisch arbeitenden Kunstrichtern kommuniziert werden, schließlich können und sollen die Gelehrten im Publikum als potentielle Dichter Teil des theatralen Optimierungs- und Reinigungsprozesses werden. Diese Anforderungen und Ansprüche müssen zugleich jedoch möglichst hoch gehalten werden, denn angesichts der zugeschriebenen Verantwortung des Poeten dürfen die diskursiven Grenzen nicht zu permeabel, ihre Exklusionsmechanismen nicht zu nachlässig sein: »Doch so sehr wir uns ein Gewissen machen werden, jemanden abzuschrecken, so sehr wollen wir uns auch hüten, die theatralische Arbeit als eine Kleinigkeit, als eine Arbeit, der jeder gewachsen sei, vorzustellen.«310 Ein guter erzieherischer Wille allein reicht ebenso wenig aus wie ein bloßer Fokus auf den Unterhaltungswert. Es gilt, aufmerksam und unnachgiebig gegenüber den »Stümper[n]« zu sein, die nicht »geschickt und geneigt sind, eine gute Sittenlehre mit ihrem Scherze zu verbinden«311 . Von diskursivem Interesse ist allein diejenige »regelmäßige Schaubühne, wo ein edles Herz gerühret, ein geläuterter Verstand unterhalten [wird]«, und damit die Bühne, in der sich allein die Zwecke, die »sich die besten theatralischen Dichter vorsetzen«, realisieren – es ist das Theater der pädagogischen Dichter, »auf , welche[s] wir«, so Mylius Vorsatz, »mit allen Vernünftigen, unsre Aufmerksamkeit wenden werden.«312 Diese Aufmerksamkeit richtet sich nicht zuletzt auf den Textund Lehrstofflieferanten dieses Theaters selbst. Nicht nur soll sein Profil konturiert und diskutiert werden, die Rede über ist zugleich eine Rede an den Theaterdichter und zwar eine mit, wie könnte es anders sein, pädagogischem Impetus:313 »Hierzu [um Anspruch und Schwierigkeit der ›theatralischen Arbeit‹ zu verdeutlichen – AW] werden genaue Charaktere, die wir in ihrem Umfange von dem komischen und dem tragischen Dichter machen wollen, dienlich sein. Wir wollen untersuchen, wie weit sich beider Witz und beider Gelehrsamkeit erstrecken müsse, und Vorschläge tun, wie jeder seine Kräfte prüfen könne.«314 War diese Rede beim gemeinsamen Zeitschriftenprojekt von Lessing und Mylius stärker eingebunden in das metadidaktische Vorhaben, über die Vorstellung und Dokumentation einer großen Bandbreite der dramatischen und theatertheoretischen Produktion unterrichtend und anleitend auf diejenigen zu wirken, »die zu

den, Hildesheim/New York 1970, hier: Band V: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1737-1738, 27. Stück, S. 141-146, hier: S. 141. 310 Lessing/Mylius: Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, Vorrede, S. 357. 311 [Gottsched]: Des berühmten Johann le Clerk Gedanken, S. 600. 312 Mylius: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, S. 2. 313 Vgl. zu dieser Dichtererziehung durch den Kunstrichter II.4.3. 314 Lessing/Mylius: Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, Vorrede, S. 357.

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ihrer Arbeit, oder zur Verbesserung ihres Geschmacks, noch Vorschriften nötig haben; teils auf die, die nur durch Muster aufgemuntert zu werden brauchen«315 , verschärft Lessings Nachfolgeprojekt, die Theatralische Bibliothek (1755-1758), eine gezielte Steuerung des Diskurses anhand von strengeren Selektions- und Qualitätskriterien: »Ich setzte mir also vor, nicht alles aufzusuchen, was man von der dramatischen Dichtkunst geschrieben habe, sondern das beste und brauchbarste; nicht alle und jede dramatische Dichter bekannt zu machen, sondern die vorzüglichsten, mit welchen entweder eine jede Nation als mit ihren größten pranget, oder welche wenigstens Genie genug hatten, hier und da glückliche Veränderungen zu machen.«316 Hinsichtlich des Anforderungsprofils verschieben sich im Verlaufe der Reform die Gewichtungen der unterschiedlichen Kompetenz- und Wissensregister samt ihrer Relationierung. Die Kenntnisse des Dichters sollen sich, so wird zunächst gefordert, einem Ideal »von allgemeiner Gelehrsamkeit« annähern, das als »Ziel […], darnach man streben kann« (CDI, S. 155) gesetzt und in seiner latenten Unerreichbarkeit als Ansporn und Ermahnung beständig präsent gehalten wird. Weil nämlich »keine Wissenschaft von seinem Bezirke ganz ausgeschlossen« ist, muss der Dichter, wenn er dem Universalismus der Forderung nicht gerecht werden kann, sich »bemühen, von allen, zum wenigsten einen kurzen Begriff zu fassen« (CDI, S. 155).317 Im Zentrum seines Bezirkes stehen allerdings gewiss die Kenntnisse der poetischen und poetologischen Tradition. Ihre Regeln und Vorgaben geben der Wahrnehmung und Bewertung von Kunst – hier der dramatischen Literatur – als Maßstab Form, Konsistenz und Legitimation und legen zugleich das Maß der dramatischen Formgebung hinsichtlich Aufbau, Personal, der Konflikte, Spielräume, Konfigurationen und Dynamiken fest. Im Wissen liegt einerseits der Verweis auf eine seit je her erzieherische, nützliche Aufgabe der Kunst bzw. des Künstlers (›Lehrer des menschlichen Geschlechts‹). Die tradierten Regeln weisen andererseits in der Diskursordnung der Reform als unumgängliche Voraussetzungen dem pädagogisch‐dramatischen Gelingen den Weg. Letzteres ruht fest auf ersteren, unabhängig von ihren im Verlauf der Reform differierenden Herleitungen, Prägungen und Ausdeutungen. Ihr Einsatz wird ebenso notwendig wie sinnfällig angesichts der »Absicht« des Dichters, 315 Ebd. 316 Gotthold Ephraim Lessing: Vorrede zur theatralischen Bibliothek, in: ders.: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirnding und Jörg Schönert herausgegeben von Herbert G. Göpfert, München 1973, hier: Vierter Band: Dramaturgische Schriften, S. 9-12, hier: S. 10f. 317 Vgl. zum Nachhall dieser Forderung im Theaterdiskurs Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 90.

II Die Pädagogisierung des Theaters

»uns zu unterrichten, was wir zu tun oder zu lassen haben; [der] Absicht uns mit den eigentlichen Merkmalen des Guten und Bösen, des Anständigen und Lächerlichen bekannt zu machen; [der] Absicht uns jenes in allen seinen Verbindungen und Folgen als schön und als glücklich selbst im Unglücke, dieses hingegen als hässlich und unglücklich selbst im Glücke, zu zeigen; [der] Absicht, bei Vorwürfen, wo keine unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung für uns Statt hat, wenigstens unsere Begehrungs- und Verabscheuungskräfte mit solchen Gegenständen zu beschäftigen, die es zu sein verdienen, und diese Gegenstände jederzeit in ihre wahres Licht zu stellen, damit uns kein falscher Tag verführt, was wir begehren sollten zu verabscheuen, und was wir verabscheuen sollten zu begehren.« (HD, 34. Stück, S. 351) Kenntnis und Einsatz dieser Regeln sind die Bedingung der Erfüllung dieser Absicht, in der sich eine doppelte Transparenz kreuzt: Transparent gemacht ist nicht nur das Verweisungsverhältnis von sittlicher Gesinnung bzw. Verhalten und sozialem Ertrag, transparent ist auch das von dramatischer Qualität und poetologischer Regelkonformität. Erstere kann sich allein letzterer verdanken, denn die Regeln »werden aus der Erkenntnis des wahren Wesens der Poesie abgeleitet« und deswegen gewährleisten sie, »wenn sie bei der Herstellung poetischer Werke befolgt werden, daß diese vernünftig und eben darum dem Wesen der Poesie adäquat sind.«318 Die Kenntnis der Regeln führt ihre Kenner dementsprechend nicht auf historisch kontingente, durch Popularität legitimierte künstlerische Vorlieben: »Die Regeln nämlich, die auch in freyen Künsten eingeführet worden, kommen nicht auf den bloßen Eigensinn der Menschen an: sondern haben ihren Grund in der unveränderlichen Natur der Dinge selbst; in der Übereinstimmung des Mannigfaltigen; in der Ordnung und Harmonie.« (CDI, S. 174) Sie bleiben als »Aussprüche der gesunden Vernunft«319 und Bestandteile einer vernünftigen Einrichtung der Welt »unverbrüchlich und feste stehen« (CDI, S. 174).320 In regelkonformen Kunstwerken, wie sie die Produkte des Theaterdichters sind bzw. sein sollen, findet sich diese Ordnung immer auch mit zur Anschauung gebracht und bestätigt. Und klassische Autoritäten wie Aristoteles, Cicero oder Horaz werden allein deswegen als Gewährsmänner ins Feld geführt, weil sie sich als maßgebliche Faktoren einer großen Vernunftbewegung erwiesen haben, die die-

318 Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 35. 319 [Gottsched]: Anmerkungen über das 592. Stück des Zuschauers, S. 155. 320 Vgl. zu diesem Verhältnis von rationaler (Schul-)Philosophie und Regelpoetik Althaus: Gottscheds Dramentheorie, S. 224-227.

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se naturwüchsigen Regeln »durch langwierige Erfahrung und vieles Nachsinnen untersuchet, entdecket und bestätigt« (CDI, S. 174) hat.321 Über ihren Verweisungszusammenhang werden die Vernunftregeln der Kunst zur Grundvoraussetzung für dasjenige »Prinzip […], das für Gottsched das Wesen der Dichtung ausmacht«322 : die Nachahmung der Natur. Diese Nachahmung wird bei Gottsched weniger im Sinne eines obligatorischen Realismus,323 als viel mehr als strukturell und modellhaft gedacht: Sie rückt zum einen die Beschaffenheit der natürlichen Ordnung in den Fokus und ist zum anderen Ausdruck und Bestätigung ihrer Vernünftigkeit,324 die sie ihrem vernünftigen Urheber verdankt: »Gott hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geschaffen« (CDI, S. 183). Für eine gelungene Nachahmung dieser wesenhaft maßvollen Ordnung muss sich die Kunst durch dasjenige Kriterium auszeichnen, das auch in der nachzuahmenden Natur als roter Faden die Dinge verknüpft, die Wahrscheinlichkeit.325 Sie ist wesentlicher Bestandteil des Bedingungskomplexes eines funktional gedachten, pädagogisch wirksamen Theaters, ergeben sich aus ihr doch Anforderungen an die Tektonik des Dramas, die Aufführungssituation und das Personal. Als Index für den Grad des mimetischen Gelingens wird die Wahrscheinlichkeit von Gottsched als Korrespondenzprinzip bestimmt, im Sinne einer »Uebereinstimmung der Fabel mit der Natur« (CDI, S. 255) genauer, mit deren Bauprinzip.326 Sie bedingt und reguliert hinsichtlich der Handlung und der Charaktere 321 Die vor allem anfänglich starke Berufung auf die französische doctrine classique entspringt nicht zuletzt deren zugeschriebener Nähe zu den sich nun über ihre nachweisliche Vernünftigkeit legitimierenden antiken Vorbildern, vgl. Heßelmann: Die Geburt des gereinigten Theaters, S. 212. Vgl. auch Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 26. 322 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 108. Vgl. außerdem grundsätzlich zu Gottscheds literaturtheoretischem Ansatz: Hans-Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 – 1740, Bad Homburg v.d.H. [u.a.] 1970, S. 92-161; Hans Freier: Kritische Poetik. Legitimation und Kritik der Poesie in Gottscheds Dichtkunst, Stuttgart 1973. Vgl. zu einer Kritik an Herrmann und Freier sowohl hinsichtlich der Nichtbeachtung des im Zentrum von Angelika Wetterers Studie stehenden Widerspruchs zwischen dem »Wirkungsbezug« in der Tradition eines rhetorisch geprägten Poesieverständnisses und dem rezipientenunabhängigen »Wahrheitsanspruch« einer ›critischen‹ Poetik sowie des grundsätzlichen Umgangs mit beiden Polen Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 37-47 und zum Nachahmungspostulat bei Gottsched ausführlich ebd., S. 85-160; zur Kritik an Herrmanns Studie außerdem Achermann: Gottscheds Modaltheorie von Fiktion, S. 148f. 323 Dies betonen etwa Graf: Theater im Literaturstaat, S. 109; Steinmetz: Das deutsche Drama, S. 38f. und Hollmer: Anmut und Nutzen, S. 67f. 324 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 110f. 325 Vgl. Steinmetz: Das deutsche Drama, S. 38f.; Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 89; vgl. außerdem zu diesem Aspekt und zum Verhältnis eines rhetorischen und ontologischen Wahrscheinlichkeitsbegriff in der Critischen Dichtkunst Achermann: Gottscheds Modaltheorie, S. 151-153. 326 Die von ihm in diesem Zusammenhang vorgegebene Festlegung auf »die Aehnlichkeit des Erdichteten, mit dem, was wirklich zu geschehen pflegt« (CDI, S. 255) wird dabei entkräftet

II Die Pädagogisierung des Theaters

die Verknüpfung der Elemente des dramatischen Textes. In dieser spezifischen, absichtsvollen Verknüpfung ruht zunächst die pädagogische Substanz des Theaters: Gottsched definiert die Fabel als eine »unter gewissen Umständen mögliche[], aber nicht wirklich vorgefallene[] Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt.« (CDI, S. 204) Die Aufgabe des Poeten besteht nun primär darin, diese abstrakten »Wahrheiten, welche die Moral der Fabel ausmachen« dramaturgisch einzukleiden, breitenwirksam transportierbar, also »sinnlich [zu] machen«327 und darüber das Unterrichtsmaterial der moralischen Anstalt zu generieren.328 Von dieser pädagogischen Funktion schreibt sich auch Gottscheds Methode zur Verfertigung und Einrichtung »einer poetisch‐moralischen Fabel« her:

durch bestimmte Befugnisse, mit denen Gottsched den Poeten ausstattet. Die gegebene Verknüpfung der Dinge innerhalb der vernünftigen Ordnung erweist sich als eine aktualisierte Möglichkeit, denn: »Es wären andre Verbindungen endlicher Wesen eben sowohl geschickt gewesen, erschaffen zu werden, wenn Gott es gefallen hätte. Dem Dichter nun, stehen alle mögliche Welten zu Diensten. Er schränket seinen Witz also nicht in den Lauf der wirklich vorhandenen Natur ein. Seine Einbildungskraft, führet ihn auch in das Reich der übrigen Möglichkeiten, die der itzigen Einrichtung nach, für unnatürlich gehalten werden.« (CDI, S. 206) Durch Setzung von Prämissen können auch solche unnatürlichen Einrichtungen wahrscheinlich gemacht werden, etwa wie folgt: »Es sey einmal eine Zeit gewesen, da alle Pflanzen und Thiere hätten reden können. Setzt man dieses zum voraus; so läßt sich hernach alles übrige hören.« (CDI, S. 207) Diese »innere Stimmigkeit [und] Widerspruchsfreiheit« (Hollmer: Anmut und Nutzen, S. 71) bezeichnet Gottsched als hypothetische Wahrscheinlichkeit, die er von der unbedingten Wahrscheinlichkeit unterscheidet und damit begrifflich zwischen Dingen, die in der gegebenen Einrichtung der Welt möglich sind, und solchen, die es unter anderen Vorzeichen wären, differenziert, vgl. insgesamt das Kapitel »Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie« aus der Critischen Dichtkunst. Vgl. zu diesen »mögliche[n] und in sich konstistente[n] Naturen«, die eine je eigene »alternative Ordnung der Dinge […] entwerfen und […] präsentieren«, und wie darüber im »Reich der Kunst«, hier der hypothetischen/bedingten Wahrscheinlichkeit, »die Bindung an die reale Realität […] gelockert wird« Torsten Hahn: Kontingenz/Ordnung – Frühaufklärung, in: Niels Werber (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen, Berlin/New York 2011, S. 233-246, hier: S. 245, 233 und 243.) Ganz anders bewertet diesen Zusammenhang etwa Peter-André Alt, dessen Einschätzung zufolge, neben der Beachtung des Satzes vom zureichenden Grund, »die poetische Einbildungskraft nur produzieren darf, was […] der empirischen Wirklichkeit entspricht« (Alt: Tragödie der Aufklärung, S. 80). 327 Sulzer: Philosophische Betrachtungen, S. 157. Krebs spricht von der Fabel als einer zweckdienlichen »Hülle des didaktischen Kerns« (Modernität und Traditionalität in Gottscheds Theaterreform, S. 139). Vgl. in diesem Sinne auch Hollmer: Anmut und Nutzen, S. 67f.; Wild: Theater der Keuschheit, S. 144; außerdem Joachim Birkes These, dass für den schulphilosophisch versierten Gottsched in der Fabel die wesentliche »Eigenschaft der Poesie« liegt: Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poetik an der Philosophie Wolffs, S. 567-569, hier: S. 568. 328 Vgl. zu dieser »zweigeteilten Poesie« von Lehrsatz und Einkleidung zwischen zeitgenössischer Moralphilosophie und rhetorischer Tradition Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 71-77, Zitat von S. 72.

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»Zu allererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen, vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worinn eine Handlung vorkömmt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt.« (CDI, S. 215) Als »[a]llegorisch« muss die Fabel insofern stets transparent sein, weil durch ihre sprachlich und histrionisch repräsentierte Oberfläche hindurch das vermeintlich Andere, was »darinn verborgen liegt« (CDI, S. 215), der ›eigentliche‹ Gehalt, zur Geltung kommen muss, und zwar über das von dieser Oberfläche adressierte sinnlich‐affektive Rezeptionsregister.329 Insofern wird der Gottscheds Theater eingelagerte, edukative Kern doppelt evidentialisiert: Er wird durch die dramatische Fabel veranschaulicht, die ihrerseits auf dem Theater verlebendigt wird.330 Den moralischen Satz selbst bekommen die Theaterdichter allerdings in vorgefertigter Form aus einem anderen Kompetenzbereich geliefert: Sie übernehmen und popularisieren die vernünftigen Erkenntnisse der Philosophen.331 Idealiter jedoch ist die dramatische Dichtkunst ein weiteres, gewissermaßen öffentlichkeitswirksames Betätigungsfeld der Weltweisen, die über ihr Hauptgeschäft die Speerspitze des Gelehrtentums bilden, denn die Philosophie »ist der Grund und Inbegriff aller übrigen Theile der wahren Gelehrsamkeit.«332 Erst unter ihrer schriftstellerischen Ägide könnte sich letztlich das sozialoptimierende Potential des DramatischPoetischen als legitimes Mittel zu einem vernünftigen Zweck voll entfalten: »Ueberhaupt aber ist es wahr, daß die Comödie und Dichtkunst überhaupt viel nützlicher im gemeinen Wesen seyn würde, wenn sie allezeit von wahren Weltweisen ausgeübt würde.«333 Gleich hinter diesem Ideal der Ausübung steht zumindest die Phantasie der Überwachung: »Wenn nur ein Weltweiser zur Aufsicht über die Schaubühne gesetzt würde; so daß kein Stück aufgeführet werden dörfte, welches nicht in dieser guten Absicht zu erbauen verfertiget wäre; so würde man bald mehr gute Wirkungen davon sehen.«334 Der Wunsch einer solchen institutionalisierten 329 Hollmer spricht hier von einem »Zusammenspiel von Affekten und Ratio« (Anmut und Nutzen, S. 79). 330 »In der Fabel«, so Christopher Wild, »wird das Wort zum Bild, in der theatralischen Fabel gar zum Körper.« (Wild: Theater der Keuschheit, S. 247.) Dass er in diesem Zusammenhang von einem »Medienwechsel[]« (ebd.) spricht, unterstreicht die These der zweifachen Evidentialisierung, lässt sich doch angesichts des Verfahrens des Vor-Augen-Stellens »von einer Radikalform von Medienwechsel sprechen.« (Campe: Vor Augen Stellen, S. 107) 331 Vgl. Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 144. Vgl. auch Heßelmann: Die Geburt des gereinigten Theaters, S. 211f. 332 Gottsched: Der Biedermann, 81. Blatt 1728 den 22. November, S. 122. 333 [Gottsched]: Des berühmten Johann le Clerk Gedanken, S. 600. 334 Ebd.

II Die Pädagogisierung des Theaters

Überwachung wird dergestalt nicht erhört,335 ihm korrespondiert aber zum einen durchaus die nachträgliche, im Bedarfsfall korrigierende oder auch disqualifizierende Beurteilung durch den Kunstrichter, die über ihre Veröffentlichung in Zeitschriften und Journalen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Zum anderen schreibt sie sich bereits als obligatorische Forderung und formdeterminierender Bestandteil in den literarischen Produktionsprozess ein: Ins Zentrum der moralischen Anstalt werden schließlich nicht beliebige, bloß unterhaltende dramatische Texte gestellt, sondern allein solche, die »nach den Regeln der Weltweisheit«336 eingerichtet sind und darüber eine pädagogisch zweckdienliche Gestalt erhalten. Dafür sorgt nun die Wahrscheinlichkeit als Index für den Grad der strukturell gedachten Naturnachahmung sowie die damit zusammenhängende Fabeldefinition samt Verfertigungsrezept und ihrem philosophisch gestifteten Kern des moralischen Satzes, der sich dem Kompetenzbereich des Dichters entzieht, auf den er aber, seiner erzieherischen Bestimmung gemäß, notwendig zuzugreifen hat: »Die Dichter sind in erster Linie Pädagogen, denen die Philosophen das Erziehungsziel vorgegeben; und erst in zweiter Linie sind sie auch phantasievolle Fabulierer, die in die poetische Form wirkungsvoller Übermittlung bringen, was die Vernunfteinsicht als Wahrheit erkannt hat.«337 335 Zumindest nicht bezüglich der Stücke. Die Figur des Kunstrichters richtet ihren kritischen Blick zwar auf deren moralische wie poetologische Qualitäten, ihr Urteil ist jedoch ohne eine solche zensorische Kraft. Gleichwohl sind ihr Selbstverständnis und ihre Tätigkeit von derartigen Vorstellungen mitgetragen und -gestaltet, vgl. II.4.3. Für die Wahrscheinlichkeit der Vorstellung gibt es hingegen prinzipiell eine überwachende Instanz, die sich aus der Mitte der Schaubühne herauskristallisiert und nicht als Dichter oder Philosoph von außen an sie herantritt. »Die Wahrscheinlickeit der Vorstellung aber, geht den Dichter gar nichts an, und kann nur von den Schauspielern, und zwar größten Theils von dem Aufseher derselben beobachtet werden.« (Mylius: Eine Abhandlung, worinnen erwiesen wird: Daß die Wahrscheinlichkeit der Vorstellung, bey den Schauspielen eben so nöthig ist, als die innere Wahrscheinlichkeit derselben, S. 301) Auch dieses Register der Wahrscheinlichkeit dient der erzieherischen Absicht des Theaters und so dreht sich Mylius Diskussion der »Unwahrscheinlichkeit der Aufführung« weniger um ein künstlerisches, als vielmehr um ein pädagogisches Problem: Schließlich sabotiert sie die »Erreichung des Endzwecks« der Schauspiele, wodurch »der Nutzen derselben schwerlich erhalten wird« (ebd., S. 313) und dieser liegt bekanntlich allein in der »Erbauung der Zuschauer« (ebd., S. 303). Vgl. zum Aufgabenprofil des Aufsehers auch ders.: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, S. 9f.; vgl. zum Aufseher als Vorläuferfigur des Regisseurs Graf: Theater im Literaturstaat, S. 153f. und Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 326f.; zur Forderung nach einem Theateraufseher in Zusammenhang mit einer policeywissenschaftlichen und kameralistischen Perspektive aufs Theater vgl. Martens: Obrigkeitliche Sicht, S. 32. 336 Gottsched: Der Biedermann, 81. Blatt 1728 den 22. November, S. 123. 337 Saße: Die aufgeklärte Familie, S. 34; vgl. in diesem Sinne auch Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 144; Wilhelm Amann: »Die stille Arbeit des Geschmacks«. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung, Würzburg 1999, S. 261.

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In Zusammenhang mit dieser Übermittlungsfunktion muss der auf möglichst umfassende Wirkung bedachte Dichter mit der Einrichtung der Schaubühne vertraut sein. Was in seinen Aufgabenbereich fällt, ist die Beachtung der Darstellungsgrenzen des Theaters, die Einfluss auf die Grenzen der Wahrscheinlichkeit haben: »Wenn uns Belagerungen der Städte, ganze Schlachten, die Herabsteigungen der Götter, und dergleichen Dinge vorgestellet werden; so ist es nicht wahrscheinlich genug: Auch ein weitläuftiges Operntheatrum ist nicht fähig, uns einen lebhaften Begriff beyzubringen.«338 Verletzungen dieser Grenzen, die den Vorgaben des dramatischen Textes geschuldet sind, werden unmittelbar mit dessen Verfasser verknüpft und fallen als Versäumnisse und Mängel auf ihn, nicht die theatrale Apparatur zurück: »Oefters müssen wir zwar dem Dichter die Schuld geben, wenn er seine Vorstellungen nicht so einrichtet, daß sie dem Schauplatz gemäß sind.«339 Stärker aber noch als auf der medialen Angemessenheit liegt der diskursive Fokus auf der inneren Wahrscheinlichkeit des Textes. In Zusammenhang mit den Forderungen an die Beschaffenheit der Fabel und ihren strukturellen Anforderungen wird der Dichter noch auf einer elementareren Ebene das Objekt einer kritischen Beobachtung, denn die Einrichtung der Fabel dient als Prüfstein für und verweist auf den Status ihres Verfassers: »[W]er die Fähigkeit nicht besitzt, gute Fabeln zu erfinden, der verdient den Namen eines Poeten nicht; wenn er gleich die schönsten Verse von der Welt machte.« (CDI, S. 202) Diese Erfindungsfähigkeit des Autors speist sich aus drei Quellen: Seinem erzieherischen Auftrag, seinem in Regelkenntnis und Anwendung beruhendem gelehrten sowie seinem sozialen wie anthropologischen Wissen. Letzteres reichert nicht nur das Unterrichtsspektrum potentiell an, es liefert mögliches Darstellungsmaterial, dessen Formung die tradierten Vernunftregeln der Poesie gewährleisten: »Es ist kein Stand, keine Lebensart, keine in dem öffentlichen oder Privatleben wichtige Situation, welche uns die dramatische Poesie nicht so abzuschildern wüsste, daß uns nichts davon unbekannt bleiben kann.«340 Dies gilt nicht 338 [Christian Gottlieb Ludwig]: Abhandlung von denen auf der Schaubühne sterbenden Personen; in sofern man sie nemlich vor den Augen der Zuschauer solle sterben oder ihren Tod erzählen lassen, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band IV: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1735-1737, 15. Stück, S. 390-406, hier: S. 391. 339 Ebd. Umgekehrt aber sind technische, architektonische oder darstellerische Mängel nicht dem Stück oder seinem Verfasser anzulasten: »Doch wir können auch den Dichter gar wohl entschuldigen, wenn gewisse lebhafte Vorstellungen wieder die Wahrscheinlichkeit sündigen, weil der Schauplatz schlecht und klein ist. Wir müssen vielmehr fragen, ob dieses, was uns itzo unwahrscheinlich vorkömmt, nicht wahrscheinlicher gewesen wäre, wenn das Theatrum seine völlige Grösse und Schönheit erlanget hätte?« (Ebd.) 340 Sulzer: Philosophische Betrachtungen, S. 150f.

II Die Pädagogisierung des Theaters

nur für gesellschaftliche Strukturen und Ordnungen, der Dichter muss sich immer auch als Menschenkenner profilieren, »eine gründliche Erkenntniß« ist hier für ihn nicht nur »nöthig«, sondern »ganz unentbehrlich«: Weil er »hauptsächlich die Handlungen der Menschen nach[ahmt]«, muss er, um dem Wahrscheinlichkeitsgebot Folge leisten zu können, »Natur und Beschaffenheit des Willens, der sinnlichen Begierde, und des sinnlichen Abscheues in allen ihren mannigfaltigen Gestalten gründlich einsehen lernen.« (CDI, S. 156) Mit zunehmendem Interesse an dieser anthropologischen ›Mannigfaltigkeit‹ wird dem gelehrten Studium und der Verarbeitung tradierten poetologischen Wissens das nicht minder ausgeprägte Streben eines durchdringenden Blicks zur Seite gestellt, dessen Gegenstände mit Hilfe eines moralisch gedeckten Wahrnehmungs- und Bewertungsmaßstabs gefunden und in eine theatral übersetzbare Ordnung gebracht werden können: »Der Dichter bringt den besten Theil seines Lebens damit zu, die verschiedenen Charaktere der Menschen zu erforschen, die Leidenschaften gründlich kennen zu lernen, die Tugenden und Laster in ihrem wahren Lichte zu beobachten, das mit den verschiedenen Ständen und Lebensarten der Menschen verknüpfte Gute und Böse abzuwiegen, und die zur richtigen Beurtheilung jeder wichtigen Situation dienlichsten Gesichtspunkte zu bemerken: und dann breitet er seine kostbaren Kenntnisse in der dramatischen Poesie vor uns aus[.]«341 Der literarische sowie der von diesem ausgehende pädagogische Ertrag verdankt sich dem Zusammenspiel beider Register, wie es etwa in Sulzers Profil des »philosophische[n] Dichter[s]« gefordert wird: Er teilt »uns in kurzer Zeit und auf die kräftigste Art dasjenige mit[], was er selbst durch langes Nachdenken und sehr viele Beobachtungen gelernt hat.«342 Mit diesem letzten Aspekt ist ein weiterer, im Erziehungsdenken des 18. Jahrhunderts Kontur gewinnender und konstitutiv werdender Zusammenhang angezeigt, mit dem auch das bereits besprochene Kriterium der Evidenz in spezifischer Weise zu tun hat. Erziehung beruft und stützt sich auf Beobachtung: Im Falle der schreibenden wie schauspielenden343 Theatererzieher auf eine Beobachtung von Menschen zum Zwecke ihrer überzeugenden, wahrscheinlichen Darstellung auf dem Theater, um darüber ein Publikum zu erziehen, das sich in dieser Darstellung – aber auch in seiner Zuschauerposition344 – zunehmend als sich selbst beobachtend erfährt und zu beobachten lernt. Dieser Konnex prägt, unter anderen Vorzeichen, jedoch mit Bezugnahme auf Modelle und Techniken des Theaters, auch die entstehende Pädagogik, in Theorie und Praxis. Die professionellen Erzieher 341 342 343 344

Ebd., S. 152. Ebd. Vgl. II.6. Vgl. II.5.

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beobachten ihre Zöglinge, wie sie sich in inszenierten Situationen betragen und idealiter selbst zur Aufführung bringen, um darauf hin ihre erzieherische Tätigkeit individuell anzupassen und mit Mitteln des Theaters wirkmächtiger zu machen.345 Die vom dramatischen Dichter geforderte, beobachtungsbasierte und umfassende Bekanntmachung mit seinem Darstellungs- und Erziehungsgegenstand schlägt sich allerdings nicht in einem Ausufern dieser Darstellung nieder. Sie ist nicht das Ergebnis einer quantitativen Ausbreitung, sondern einer qualitativen Verdichtung, einer spezifischen Selektionsleistung des Autors, die die bereits erwähnte transparente Kausalität der theatralen Darstellung gewährleistet und der sie ihre Tiefenwirkung, den »Eindruck«, der »uns zeitlebens tief eingeprägt [bleibt]«, verdankt: »Der Dichter sammelt die Züge, welche diese verschiedenen Verhältnisse kennbar machen, er rücket die Facta näher zusammen, und entdeckt uns selbst das, was uns die Erfahrung verbirgt.«346 Die Fabel, in der sich zunächst dieser ordnende Zugriff niederschlägt, rückt die ›Facta‹ allerdings nicht als Konglomerat von Bruchstücken aneinander, sondern in einer kausalen Ordnung und »von den Nebenumständen ab[gesondert]« (DT, S. 272). Sie vermag darüber, die »Dinge in größerer Deutlichkeit« (DT, S. 272) zu zeigen, und erbringt in der Darstellung zusammenhängender Ursachen und Wirkungen den Ausweis ihrer Wahrscheinlichkeit: »Denn eine Begebenheit ist alsdann wahrscheinlich, wenn sie ihre zureichende Ursache hat. Durch jeden Sprung hingegen, den ich begehe, wenn ich etwas ohne Ursache geschehen lasse, verursache ich eine Unwahrscheinlichkeit.« (DT, S. 282) Die Forderung nach einer einheitlichen, kohärenten Handlung, über die der Dichter »in das Innere der Dinge dringt, und alles, was nicht wesentlich dabey ist, davon absondert, um eine desto richtigere und rührendere Idee davon zu haben«347 , steht im Dienste einer von Mitteln der Form unterstützten Aufmerksamkeitsorganisation. Neben der wahrscheinlichen, in sich stimmigen Handlung werden in gleicher Absicht auch die beiden anderen klassischen ›Einheiten‹ von Zeit und Ort eingefordert. Sie zielen auf eine Synchronisation von Bühnen- und Zuschauerraum,348 um darüber einen Wahrnehmungsmodus zu bedingen, der als »Erfahrung imaginärer Augenzeugenschaft« die Theatralität des Dargebotenen vergessen machen soll und dementsprechend »den Grad der medialen Selbstaufhebung«349 bezeichnet, wie sich etwa den Überlegungen Schlegels, der einem 345 346 347 348

Vgl. III.3 und III.4. Sulzer: Philosophische Betrachtungen, S. 151. Ebd., S. 150. Vgl. zu diesem Punkt auch: Graf: Theater im Literaturstaat, S. 118; zur theaterjournalistischen Langlebigkeit der drei Einheiten und anderer klassizistischer Forderungen bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 114, 128. 349 Wild: Theater der Keuschheit, S. 248; vgl. zur Synchronisation der Räume außerdem ebd., S. 258f; vgl. zu Aufmerksamkeitsorganisation und Absorption des Publikums ausführlicher II.5.

II Die Pädagogisierung des Theaters

selbstzweckhaften Regeldogmatismus kritisch gegenübersteht, entnehmen lässt: Mit jeder Transgression der Einheiten »erinnert [der Zuschauer] sich, daß er auf dem Schauplatze ist; da er hingegen, wenn die Einheit des Ortes und der Zeit beobachtet ist, seine ganze Aufmerksamkeit auf die Handlung, auf die Charaktere und auf die Leidenschaften verwenden, und immer in derselben Entzückung bis ans Ende bleiben kann.« (DT, S. 294) Das poetologische Argument, mit dem die von der Ordnung des Zuschauerraums her gedachte Verpflichtung auf die Einheiten der Zeit und des Ortes begründet wird,350 ist einmal mehr das der Wahrscheinlichkeit und damit letztlich die noch dahinter stehende Wirkungsabsicht: Denn es ist zum einen nicht wahrscheinlich, dass »man es auf der Schaubühne etlichemal Abend werden sieht; und doch selbst, ohne zu essen, oder zu trinken, oder zu schlafen, immer auf einer Stelle sitzen bleibt« (CDII, S. 320), weswegen die dargestellte Zeit deckungsgleich mit der Zeit der Darstellung sein muss, die aufgeführten Stück also »nicht mehr Zeit nöthig [haben dürfen], wirklich zu geschehen, als sie zur Vorstellung brauchen; das ist etwa drey oder vier Stunden.« (CDII, S. 320) Und weil die Zuschauer ›immer auf einer Stelle sitzen bleiben‹, ist auch die räumliche Bewegung auf der Bühne limitiert, es müssen »die spielenden Personen alle auf einem Platze bleiben, den jene [die Zuschauer – AW] übersehen können, ohne ihren Ort zu ändern.« (CDII, S. 321) Es gilt, mit anderen Worten, die Aufführungssituation in ein Erziehungsarrangement zu verwandeln, das seine mediale wie pädagogische Rahmung zum Verschwinden bringt.351 Auch die Konzeption der in diesem verschwindenden Rahmen zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit rückenden Charaktere und ihrer Handlungen wird aus Teilen der genannten Wissensregister gespeist: Die »Kunst gute Charactere zu machen« lernt der Dichter »aus der Sittenlehre und der Erfahrung.« (CDI, S. 200) Aus letzterer gewinnt er die »herrschenden Neigungen« (CDI, S. 200) verschiedener Personengruppen als Beobachtungsdestillat und darüber für seine Darstellung »gewissermaßen Durchschnittswerte der Wirklichkeit, in die nicht zuletzt auch gesellschaftliche Konventionsregeln dessen, was sein sollte, eingehen«352 . Diese werden neben einer Einsicht in »die Natur der Affecten« über die Kenntnisse der Sittenlehre geliefert, die mit den »Pflichten aller Menschen in allen Ständen« (CDI, S. 200) vertraut macht und dafür sorgt, dass der theatralen Nachahmung »eine in Hinblick auf das Wirkungsziel der Poesie unumgänglich notwendige moralische 350 Vgl. zu diesem Bezug von »Textstruktur und Rezeptionsbedingungen« Althaus: Gottscheds Dramentheorie, S. 225f., hier: S. 226. 351 Dass Erziehung, um erfolgreich zu sein, ihre Absichten und Techniken mitunter verbergen muss, zeigt sich auch in der professionellen Pädagogik, im Agieren des Erziehers und seiner beobachtungsbasierten Methodik, vgl. III.3 und III.4. 352 Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 96.

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Qualität zukommt.«353 Darüber wiederum und deswegen hat der Dichter »in seinem Werke Gelegenheit […], der Sittenlehre Dienste zu tun.« (DT, S. 272) Er leistet also mit seinen Stücken einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung und Ausprägung eines das Verhalten rahmenden und regulierenden Normen- und Wertegefüges, das seinerseits als Quelle und Vorgabenreservoir die Qualität dieser Stücke bestimmt und hier umso effektiver wirken kann, je stärker es sich über die Charaktere transportiert. Wird nun dieses Wissen unter Beachtung der »Wahrscheinlichkeit in allen Stücken« (CDI, S. 201) in der Konzeption der dramatischen Figuren eingesetzt, führt es, so Gottsched, notwendig zum Erfolg, das Ergebnis wird »unfehlbar glücklich fortkommen müssen« (CDI, S. 201). Das Wahrscheinlichkeitspostulat bestimmt also nicht nur die Struktur der Fabel und schaltet den Zuschauer- mit dem Bühnenraum zusammen, es erstreckt sich auch über die Anlage der auf der Bühne agierenden Figuren354 und wird zunehmend mit ihr in einem Bedingungsverhältnis verknüpft: »Ein Stück ohne Charaktere ist ein Stück ohne alle Wahrscheinlichkeit, weil die Ursache, warum ein Mensch so oder so handelt, eben in seinem Charakter liegt. Wo demnach dieser nicht festgesetzet ist, geschehen die Handlungen ohne Ursache und sind also nicht wahrscheinlich.« (DT, S. 284) Diese Voraussetzung ›gelungener‹ Bühnenfiguren wird umso bedeutsamer, je mehr sich im Laufe des Jahrhunderts der Fokus des Interesses auf ihre psychologischen Dispositionen – und das Spiel ihrer Darsteller – richtet. Aus einem ›verräterischen‹ ersten Auftritt355 wird eine über die Dauer des Stückes sich entfaltende Darstellung zunehmend komplexer und verzweigter Innerlichkeit. Bis dahin aber ist die Anforderung an die Bühnenfiguren, als eher psychologiefreie Merkmalsbündel, unter Ausschluss von »Brüche[n], Unstimmigkeiten, Widersprüchlichkeiten [und] Unschärfen« und »auf einen entscheidenden Wesenszug verdichtet«356 , moralisch vorbildlich oder abschreckend zu wirken, was wiederum auf die selegierende Vorarbeit des Dichters zurückzuführen ist: »Die Natur zeigt uns den Heuchler, den Eifersüchtigen, den Spieler, den Menschenfeind nicht in demselben Lichte, wie das Theater. Denn auf diesem ist ihr Charakter ganz einfach, ohne Vermischung anderer Tugenden und Laster. In der 353 Ebd., S. 97. 354 Ein Poet, so Gottsched, muss »alles, was von dem auftretenden Helden, oder was es sonst ist, wirklich und der Natur gemäß hätte geschehen können, so genau nachahmen, daß man nichts Unwahrscheinliches dabey wahrnehmen könne.« (CDI, S. 199) 355 Etwa in der Critischen Dichtkunst: »Es muß also der Poet seinen Hauptpersonen eine solche Gemüthsbeschaffenheit geben, daraus man ihre künftige Handlungen wahrscheinlich vermuthen und, wenn sie geschehen, leicht begreifen kann. Sogleich in dem ersten Auftritt, den sie hat, muß sie ihr Naturell, ihre Neigungen, ihre Tugenden und Laster verraten; dadurch sie sich von andern Menschen unterscheidet.« (CDII, S. 324) 356 Hollmer: Anmut und Nutzen, S. 90.

II Die Pädagogisierung des Theaters

Natur ist er allemal mit vielen andern Dingen vermengt; und ihn unter den fremden Umständen herauszusuchen, kostet hier allemal erst dasjenige Nachdenken, welches in einem Schauspiele der Verfasser schon für uns übernommen hat.« (DT, S. 272) In dem Maße allerdings, in dem sich eine dramatische Konzeption diskursiv zu profilieren beginnt, die »auf eine einzige, bestimmte, aus seiner Fabel fließende Lehre, keinen Anspruch« (HD, 35. Stück, S. 356) mehr macht, werden die Bühnencharaktere zunehmend in den Wirkungsfokus gerückt.357 Die Anforderungen an ihre vom Dichter angelegte und auf seine Fähigkeiten verweisende Konzeption358 bleiben allerdings bestehen; Kohärenz und Wahrscheinlichkeit sind Index ihrer Qualität, an die weiterhin der Anspruch auf eine gewisse Exemplarität herangetragen wird: »Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch getan hat [wie es die Geschichtsschreibung dokumentiert – AW], sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umständen tun werde.« (HD, 19. Stück, S. 276) Die Charaktere sind insofern notwendig mit der Handlung verbunden, als dass sich ihre Anlage allein in ihrem Agieren, also im Sichtbarkeits- und Beobachtungsraum der Bühne, unter den ›gewissen gegebenen Umständen‹ entfalten kann: »Wir wollen es auf der Bühne sehen, wer die Menschen sind, und können es nur aus ihren Taten sehen.« (HD, 9. Stück, S. 227) Auch lehrt dieser Fokus prinzipiell feinere Nuancen der Menschenobservation, weil jede Handlung charakterisierend ist und »[a]uch in den kleinsten […] sich der Charakter schildern [kann]« (HD, 9. Stück, S. 227). Diese auf Menschenbeobachtung beruhende, zunehmend psychologisierende Menschendarstellung führt so zu weiterer Menschenbeobachtung. Was im Verlauf des Jahrhunderts fester Bestandteil erzieherischer Methodik wird, erweist sich im Falle des Theaters nicht nur als Voraussetzung, sondern auch als Effekt seiner Erziehungsleistung. Beobachtung verbindet hier Produktions- und Rezeptionsseite, prägt die wirkungsästhetischen Programmatiken, reproduziert sich als Wahrnehmungsmodus, ist jedoch zugleich an der Produktion ihres Gegenstandes beteiligt, 357 Vgl. zum epistemologischen und diskursiven Umfeld dieser Umorientierung, zur Rolle des Theaters hinsichtlich der Konturierung, Veranschaulichung und Vertiefung eines sich im histrionischen Körper auf der Bühne kreuzenden psychologischen, medizinischen und anthropologischen Wissens und dessen Einfluss auf eine ›neue‹, »psychologisch fundierte körperliche Ausdruckssprache« in der Schauspielkunst Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, Zitat von S. 25; vgl. zum Verhältnis von Anthropologie, Schauspielerkörper und Schauspielkunst Andreas Käuser: Körperzeichentheorie und Körperausdruck‐theorie, in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 39-51; außerdem zu dieser dramaturgischen Bedeutung des Charakters Ruppert: Labor der Seelen, S. 59-65. 358 Vgl. etwa Mylius: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, S. 9.

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verknüpft dabei Disziplin und Diskursivierung, und zeichnet sich so durch eine pädagogische wie epistemische Dimension aus. In den wirkungsästhetischen Konzeptionen entspringt der Beobachtung eines vorbildlichen Helden auf Seiten des Zuschauers ein Nachahmungswunsch; die Beobachtung eines ihm ähnlichen Menschen hingegen führt zur Einrichtung einer sozialkompatiblen Gefühlsdisposition. Unabhängig davon führt die präsentische Vorstellung von Handlungen zu einer Bekanntmachung mit Handlungsfolgen und -ursachen und schließlich zu einer Durchleuchtung des Handelnden selbst. Die theatrale Evidenzapparatur macht, und das geht mit der genannten wirkungsästhetischen Umstellung einher, Zusammenhänge sichtbar, die sich von einem dem Betragen des Helden Rechnung tragenden Tugend-Laster-Schema zu psychologischen Strukturen verlagern, jedoch in beiden Varianten als kausal organisiert gedacht werden. Die von Wolff hervorgehobene Möglichkeit, Ursachen und Wirkungen im Sinne einer transparenten Kausalität komprimiert auf dem Theater entdecken und ihre Zusammenhänge nachverfolgen zu können, wird also von ihrem moralphilosophischen Ausgangspunkt in anthropologischer, gleichermaßen pädagogischer wie epistemischer Hinsicht erweitert. Auch hier unterrichtet das Theater »weit besser als die Erfahrung […], weil uns diese in den meisten Fällen nichts als das Äußerliche der Personen zeigt.«359 Auf der Schaubühne entfaltet sich hingegen das Spiel der Antriebe und Beweggründe, die Dynamik und Verschachtelung des jenem ›Äußerlichen‹ zugrunde liegenden ›Innerlichen‹ in seiner ganzen Komplexität, wie sie im alltäglichen Leben entweder gar nicht, oder erst einmal nur mühsam und langwierig gewahr werden kann: »Das Theater kann diesen Weg verkürzen: man sieht da den Menschen, so wie man ihn nur sehr selten in der Gesellschaft sieht, unverhüllt, ohne Schminke, ohne Verstellung, ohne die geringste Zurückhaltung. Ein jeder denket da ganz laut und der Zuschauer ist bey den wichtigsten Geschäfften, bey den geheimsten Ergießungen der Seele, der Vertraute der handelnden Person.«360 Indem die theatrale Anschauung derartige Innenansichten verschafft, vermag sie »den Menschen mit dem Menschen bekannt [zu machen]«: Was sich auf der Bühne enthüllt, sind also nicht nur die Mechanismen einer vernünftigen Weltordnung, sondern auch die Mechaniken der menschlichen Innerlichkeit, das »geheime Räderwerk«361 , das jeder Handlung zugrunde liegt. Das Theater ist so in dieser Bekanntmachung maßgeblich an einer Diskursivierung des Menschen beteiligt:362 Es 359 Sulzer: Philosophische Betrachtungen, S. 150. 360 Ebd., S. 152. 361 Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, S. 196. 362 Am Beispiel des Sexes hat Michel Foucault Instanzen, Techniken und Prozeduren einer solchen Diskursivierung als Übersetzung eines Gegenstandes in ein Aussagensystem vorgeführt,

II Die Pädagogisierung des Theaters

ist aufgrund seiner evidentiellen Qualität der privilegierte Darstellungsort anthropologischer Zusammenhänge,363 wie sie im Verlauf des 18. Jahrhunderts von einer ganzen Reihe wissenschaftlicher oder sich verwissenschaftlichender Disziplinen in den Blick genommen werden, die darüber ihren Gegenstand, den Menschen, zugleich mit hervorbringen.364 Im Falle eines Publikums, das mit seinem Theaterbesuch nicht Wissenschaft betreiben, sondern erzogen werden soll, führt die auf einer Beobachtungsleistung des dramatischen Dichters beruhende Vor-Stellung dieses ›geheimen Räderwerks‹ zudem dazu, dass die Zuschauer befähigt werden, einander in den Blick zu nehmen. Sollen die edukativen Wirkungen des Theaters schließlich für eine wohltemperierte soziale Interaktion sorgen, ermöglicht die diesen Wirkungen zugrundeliegende Darstellung zugleich die Etablierung eines für diese Interaktion konstitutiv werdenden Wahrnehmungsmodus. Vom Theater ausgehend lernen die Zuschauer für ihren Alltag, »Handlungen zu ihrer Quelle«365 zu verfolgen. Nicht nur bedingt eine solcherart erkannte Handlungsursache einen ganz anderen alltäglichen Umgang, sie kann über ihre Zurschaustellung pädagogisch wirken, denn ein »Geheimnis, den Menschen vor Verschlimmerung zu bewahren« ist, »sein Herz gegen Schwäche zu schützen«366 und zwar, indem man ihn mit Schwächen und Torheiten konfrontiert und sie samt der »Künste, womit [sich] dieselben verstecken« (DT, S. 279) in ihrer Dynamik vor seinen Augen entfaltet. Und selbst wenn die Wirkmächtigkeit der Schaubühne auf ein solches Minimum zu reduzieren wäre, auf eine rein präventive Funktion ohne optimierenden Verhaltenseinfluss, bliebe noch »unendlich viel […] noch von ihrem Einfluss zurück«, der soziale Nutzen wäre immens: »Wenn sie die Summe der Laster weder tilgt noch vermindert, hat sie uns nicht mit denselben bekannt gemacht? Mit diesen Lasterhaften, diesen Toren müssen wir leben. Wir müssen ihnen ausweichen oder begegnen; wir müssen sie untergraben, oder ihnen unterliegen. Jetzt aber überraschen sie uns nicht mehr. Wir sind

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das diesen Gegenstand darüber eigentlich erst hervorbringt: »[V]ielmehr interessiert uns, daß man davon spricht, wer davon spricht, interessieren uns die Orte und Gesichtspunkte, von denen aus man spricht, die Institutionen, die zum Sprechen anreizen und das Gesagte speichern und verbreiten« (Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1983, S. 19), vgl. ausführlicher ebd. S. 41-53. Vgl. zur Theaterreform als Diskursivierungsprozess auch Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen, S. 57-100. Es versucht allerdings schon bald der Roman, diese privilegierte Stellung für sich zu beanspruchen, vgl. Kapitel IV. Eine Spielart dieser humanwissenschaftlichen Wissensproduktion samt zugehöriger Institutionen und Machttechniken steht mit der Pädagogik im zweiten Teil dieser Arbeit im Fokus. Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, S. 193. Ebd.

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auf ihre Anschläge vorbereitet. Die Schaubühne hat uns das Geheimnis verraten, sie ausfündig und unschädlich zu machen[,]«367 was keinen geringen Beitrag zur sozialen Stabilität darstellt, schließlich wird »[d]as Glück der Gesellschaft […] eben so sehr durch Torheit als durch Verbrechen und Laster gestört.«368 Das Theater ist in dieser Hinsicht nicht nur an einer Stabilisierung, sondern auch an einer Einrichtung des Sozialen beteiligt, die Foucault als »Disziplinargesellschaft« bezeichnet hat und deren grundlegende, in institutionellen Umgebungen gedeihende, aber nicht notwendig daran gebundene Techniken und Mechanismen darauf zielen, »nutzbringende Individuen [zu] fabrizieren.«369 Für die sich konsolidierende bürgerliche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ist nun ›nutzbringend‹, wer sich als arbeitsam, fleißig, verzichtsbereit und, was diese Attribute in sich vereint, sittlich zeigt.370 Nützlich ist also der maßvolle Mensch, den das Theater als sozial passförmig, weil eben sittlich hervorbringt. Mit dieser Hervorbringung einher geht in Folge der das Theater bedingenden wie von ihm bedingten Menschenbeobachtung, weil durch sie angeleitet in letzter Konsequenz jeder jedem unentwegt in den Blick geraten kann, die Entfaltung eines »panoptische[n] Schema[s]«, das nicht nur die Relationen der Akteure innerhalb der moralischen Anstalt umfasst, sondern auch über den Bühnenrand hinaus und jenseits des Theaters »im Gesellschaftskörper zu einer verallgemeinerten Funktion [wird].«371 Das Theater als pädagogische Beobachtungsinstitution erweist sich dann, wo es Menschen darstellt, um Menschen zu erziehen, als Trainingsgelände panoptischer Wahrnehmungsbedingungen: »ohne Unterlaß zu sehen und zugleich zu erkennen.«372 Als »Schule der praktischen Weisheit«373 und komplementär dazu als Schule der Beobachtung vermittelt das Theater über »die Ergründung des inneren Menschen«374 nicht nur ein anthropologisches, sondern auch ein alltagspragmatisches Wissen, das soziale Interaktion les-, entsprechendes Handeln plan- und berechenbar macht und darüber zugleich den gesellschaftlichen Raum prägt, in dem sich dieses Wissen aktualisiert.

367 Ebd., S. 194. 368 Ebd. 369 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 269 und 271. 370 Vgl. dazu ausführlicher III.1. 371 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 267. 372 Ebd., S. 257. Dass mit einer solchen beobachtungsbasierten gesellschaftlichen Einrichtung argumentativ operiert wird, zeigt sich deutlicher noch im Diskurs der professionellen Pädagogen, vgl. III.1. 373 Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, S. 194. 374 Lothar Pikulik: Schiller und das Theater. Über die Entwicklung der Schaubühne zur theatralen Lebensform, Hildesheim/Zürich/New York 2007, S. 41.

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Dafür, und das führt zurück zum dramatischen Dichter, muss die dem Bühnenagieren zugrundeliegende Anlage des Charakters entsprechend ausdifferenziert sein, was zum einen eine Veränderung im dichterischen Anforderungsprofil bedingt, von der sich die bereits erwähnte Möglichkeit der theatralen Innenschau herschreibt: »Der Dichter muß zum Metaphysiker, zum Psychologen werden, dem die Triebfedern der Seele so vertraut sind wie dem Maschinisten die seinen. Der ›neuere Schriftsteller‹ darf sich nicht mehr mit der Außenseite des Menschen begnügen, sondern er muß das Verhalten seiner Figuren aus inneren Gründen zu motivieren und zu begründen verstehen. Dies gilt für den dramatischen Dichter in besonderer Weise.«375 Denn er muss sich in dieser Zur-Schau-Stellung von Innerlichkeit sowohl verhaltens- als auch affektpsychologisch beweisen. Der Poet stattet seine Figuren mit einem stimmigen Affektspektrum aus, das er im Rahmen der Konzeption nicht nur selbst durchdringt, sondern für das er einen adäquaten sprachlichen Ausdruck findet:376 Es ist »eine besondere Fähigkeit« der Dichter, »daß sie sich in einen fremden Affect setzen und das schreiben können, was sie nicht empfinden.«377 Zum anderen verschiebt sich der Geltungsschwerpunkt von Wahrscheinlichkeit und Kohärenz buchstäblich innerhalb des dramatischen Personals, »[d]as Interesse wendet sich ab von ihren Standesfunktionen, ihren Werken, Taten und vorgefaßten Ideen und richtet sich auf ihre Motive, Handlungsantriebe, Gefühle, kurz auf ihr Seelenleben.«378 Dramaturgisch erkundet und bühnentauglich aufbereitet wird eine Innerlichkeit, die nach wie vor ohne Brüche und Sprünge in ihrer Komplexität jederzeit als Begründung des Agierens erkannt werden kann und überzeugen können muss: »Die Bewegungsgründe zu jedem Entschlusse, zu jeder Änderung der geringsten Gedanken und Meinungen, müssen, nach Maßgebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegeneinander abgewogen sein, und jene müssen nie mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervor bringen können.« (HD, 2. Stück, S. 192) Auch Lessings »Schule der moralischen Welt« unterliegt den bekannten Bauprinzipien, sie lehrt, weil hier »alles, was zu dem Charakter der Personen gehöret, aus den natürlichen Ursachen entspringen muß« (HD, 2. Stück, S. 191f.), kausale, kohärente Organisationsformen auf Ebene der Innerlichkeit. Dem das Bauprinzip der 375 Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 24. 376 Vgl. zur Bühnenarbeit des Schauspielers, diesen Vorgaben lediglich seinen Körper zu leihen oder sie in seiner Darstellung erst zu vollenden II.6. 377 Mylius: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, S. 12. 378 Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 127.

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vernünftigen Welt und ihrer sozialen Einrichtung immer auch mit zur Darstellung bringenden, in sich stimmigen Verlauf der Fabel korrespondiert eine »psychologische Wahrscheinlichkeit der Charaktere«,379 die schließlich auch ersteren bedingt. Um einem derart elaborierten Anforderungsprofil, der aus- und zugeschriebenen Verantwortung gerecht werden und den pädagogischen Auftrag erfüllen zu können, ist eine angemessene Ausbildung des Dichters, eine umfassende und gründliche Erziehung der Erzieher nötig. Über die Aufrechterhaltung und dauerhafte Sicherung der einmal ermöglichten dramatischen Qualität wie über ihre theatrale Umsetzung wacht die Instanz des Kunstrichters, der zwischen Produzent und Rezipient verortet, für und gegen beide das Wort ergreifend, in ihrem Namen sprechend und letztlich anteilig an beiden, die Prinzipien »der Verknappung des Diskurses«380 in Anschlag bringt. Einen Plan zur Dichtererziehung, der zumindest keinen expliziten Widerspruch erhält,381 findet sich in Gottscheds Critischer Dichtkunst. Er stellt zugleich ein Verbindungsglied zwischen Poet und Kunstrichter dar, müssen doch beide, wie sich zeigen wird, zur Erfüllung ihrer jeweiligen pädagogischen Funktion, über das gleiche Wissen verfügen, auch dort, wo sie nicht personell in eins fallen.

4.2   Die Erziehung des Erziehers Auch wenn die Unterweisungen angehender Poeten in ihren Wissensbeständen, deren frontaler Vermittlung und den damit einher gehenden, ausgestellten Relationen und Hierarchien den Erziehungsarrangements der Reformpädagogik eher konträr gegenüber stehen, lassen sich eine funktionale und eine strukturelle Gemeinsamkeit oder wenigstens Ähnlichkeit ausmachen: Gottscheds Überlegungen bringen den dramatischen Dichter als eine Erzieherfigur und damit in funktionaler Verwandtschaft zur maßgeblichen Instanz der philanthropistischen Erziehungsordnungen hervor, unabhängig davon, dass die Anforderungen, Methoden und Vorgehensweisen des Erziehers im Kontext einer professionellen Pädagogik andere sind.382 Die Ausführungen aus der Critischen Dichtkunst und die reformpädagogische Programmatik haben darüber hinaus strukturell – nicht inhaltlich – gemeinsam, dass sie Erziehung und Erzieher‐erziehung als eine anwendungsorientierte Vermögensmodellierung, als Etablierung von Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata verstehen, und dass sie diesen Prozess über Nachahmungsverhältnisse stimulieren und regulieren. Angehende Poeten lernen ihr Metier über Auseinandersetzung mit und Nachahmung von ausgewählten Exempeln, was sie einst befähigen soll, mit ihren ei379 380 381 382

Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 103. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 20. Vgl. Rieck: Johann Christoph Gottsched, S. 160. Vgl. III.3.

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genen theatralen Nachahmungen selbst Exempel zu produzieren und vorzugeben. Insofern kreuzen sich hier Poetik und Pädagogik, ein Verhältnis, das der mimesis von je her eingeschrieben ist. Als »naturgegebene Ursachen« der Dichtkunst bestimmt Aristoteles in der Poetik das anthropologisierte Fundament der Nachahmung, die »den Menschen angeboren [ist]«, und damit verbunden die »Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.«383 Zwischen diesen beiden Aspekten vermittelt eine didaktische Dimension, ein »Lernen«384 , das sich freudig vollzieht in der Relationierung von Darstellung und Dargestelltem, in der Entdeckung von Übereinstimmung und Verknüpfung von ›Gesagtem‹ und ›Gemeintem‹ – ein Prozess, in dem bereits der Erwerb der »ersten Kenntnisse durch Nachahmung« gewährleistet wird und der »von Kindheit an«385 im Zeichen des »angeborenen Imitationstriebes«386 steht. Gottsched nun hat für seine Dichtererziehung vor allem solche im Blick, die potentiell von diesem Vermögen besonders effektiv Gebrauch machen können. Um dies einst tun zu können, müssen die durch ihre theatralen Nachahmungen Erziehenden in spe sich allerdings zuallererst durch »ein gutes und zum Nachahmen geschicktes Naturell« (CDI, S. 151) auszeichnen, das sich in einem sich wechselseitig voraussetzenden und verstärkenden Konglomerat von Witz, Scharfsinnigkeit und Einbildungskraft zeigt: es dienen die Fähigkeit, Ähnlichkeiten wahrzunehmen (Witz) und eine große Aufmerksamkeitsgabe mit entsprechender Wahrnehmungsintensität (Scharfsinnigkeit) als Voraussetzungen für das richtige Funktionieren des reproduktiven »Vermögen[s], die Ähnlichkeit des Gegenwärtigen mit dem Abwesenden festzustellen [Einbildungskraft – AW].«387 Diese Anlagen nun müssen durch möglichst frühzeitige Unterweisungen in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht und in diesem gefestigt werden. Ebenfalls durch eine bestimmte »Art der Auferziehung« herzurichten ist eine, nicht nur angehenden Poeten eignende, sondern anthropologische »Fähigkeit«: der zunächst indifferente Geschmack, der »dem Menschen eben so wohl was natürliches, als seine übrigen Gemüts-Kräfte« ist und mit dem »jeder Poet von rechtswegen […] versehen seyn sollte« (CDI, S. 176f.), und zwar in einer ganz bestimmten Weise: Das von Natur aus indifferente Vermögen muss in die richtigen Bahnen gelenkt werden, der Poet braucht nicht einfach Geschmack, sondern guten Geschmack,388 383 384 385 386 387

Aristoteles: Poetik, 1448b. Ebd. Ebd. Erich Kleinschmidt: Autorschaft. Konzepte einer Theorie, Tübingen und Basel 1998, S. 21. Graf: Theater im Literaturstaat, S. 95; vgl. CDI, S. 152. Vgl. außerdem Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998, insbesondere S. 47-54. 388 Dies gilt neben dem Poeten auch für die mindestens komplementäre, idealiter mit ihm in eins fallende Figur des Kunstrichters, den beiden »Führern des guten Geschmacks« (Graf: Theater im

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d.h. »eine Geschicklichkeit, von der Schönheit eines Gedichtes, Gedankens oder Ausdruckes recht zu urtheilen, die man größtentheils nur klar empfunden und nach den Regeln selbst nicht geprüfet hat.« (CDI, S. 176) Diese ›Geschicklichkeit‹ stellt das intuitive Fundament für die einmal in ›richtige‹ Anwendung zu bringenden Gemütskräfte des dichterischen Naturells dar. Wie noch auszuführen sein wird, zielt die fortgeschrittene Unterweisung des angehenden Poeten darauf, dieses Fundament über eine Transformation von Intuition in gelehrtes Wissen zu festigen.389 Zunächst einmal geht es aber darum, die Anlagen und die Fähigkeit frühzeitig zu fördern und ihr Gedeihen gewissermaßen vom ersten Keimen an anzuleiten: Witz und Scharfsinnigkeit können etwa durch Zeichenübungen schon gefördert werden, noch bevor »die Jugend ihren Verstand schon einigermaßen brauchen kann« (CDI, S. 153), um die hier erworbenen Fertigkeiten dann später analog aufs Schreiben zu übertragen. Es handelt sich um ein ebenso erfolgversprechendes wie in Zusammenhang mit dem ›guten Geschmack‹ fragiles Unterfangen, denn »dieser Keim ist so schwach und liegt so tief in der Seele verborgen, daß er sehr leicht erstickt werden kann«390 , je nachdem, um im Bilde zu bleiben, in was für eine Erde er gesetzt wird. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang mit der frühen Erziehungsphase beachtenswert: Zum einen das Ausgeliefertsein an soziale Determinanten in allen Erziehungs- und Sozialisierungsprozessen: »Man erziehe es [das Kind – AW] unter den Bauern, es wird bäurisch denken und reden; unter den Bürgern, und es wird bürgerlich urtheilen; unter Soldaten, es wird kriegerische Dinge im Kopf haben; unter Gelehrten, es wird nach Art studierter Leute vernünfteln und grübeln; bei Hofe, es wird sich von lauter Lustbarkeiten und Regierungssachen Chimären erdenken.« (CDI, S. 178)391 Diese Prozesse sind insofern ein potentieller Gefahrenherd als dass sie von der Prägekraft erster Eindrücke abhängig gedacht werden.392 Es bedarf also zum anLiteraturstaat, S. 293). Vgl. zur Kategorie des Geschmacks in den Debatten des 18. Jahrhunderts ausführlich Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks. 389 In kontrollierterer, weil angeleiteter Form, aber von der Entwicklung her grundsätzlich so, wie Gottsched in der Cato-Vorrede seinen eigenen theatralen Werdegang inszeniert. 390 Sulzer: Philosophische Betrachtungen, S. 154. 391 Vgl. auch Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen, XXXV. Stück. Mittwochs, den 29. August 1725, S. 279f. Sulzer: Philosophische Betrachtungen, S. 155; dazu ferner Graf: Theater im Literaturstaat, S. 294. 392 Der Gedanke hält sich konstant im Erziehungsdenken des Jahrhunderts. Bei den Philanthropisten heißt es vor dem Hintergrund der für die professionelle Pädagogik konstitutiven, anthropologischen Differenz von Kind und Erwachsenem: Das Herz der Kinder »ist ein Wachs, das sich willig in jede Form schmiegt, in die du es druckst. Das Herz der Erwachsenen gleicht […] einem Marmor, der mit großer Behutsamkeit bearbeitet sein will und in den man, nach langer mühseliger Arbeit, oft auf eine Ader stößt, die alle fernere Arbeit zwecklos macht.«

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deren dem Wirken einer vorgeschalteten, die Ausbildung anleitenden und überwachenden Instanz, deren Arbeit entscheidend ist für die erwünschte Ausprägung des dichterischen Naturells. Da, wie eingangs erwähnt, wir »[a]lles, was wir lernen und fassen, […] durch die Nachahmung [fassen und lernen]« (CDI, S. 150), ist ein »vernünftiger Lehrmeister« (CDI, S. 179) dafür verantwortlich, die Qualität der Bezugspunkte zu gewährleisten und im Zweifelsfall selbst als geeigneter Bezugspunkt exemplarisch voran zu gehen:393 »Wie mans ihnen [den Kindern – AW] vormachet, so machen sie es nach. Man lobe in ihrer zarten Jugend etwas; sie werdens bald hoch schätzen lernen: Man verachte etwas; sie werdens bald verwerfen lernen. Ihre ersten Urteile richten sich nach den Urteilen derer, mit denen sie immer umgehen.« (CDI, S. 178) Diese ersten Urteile lassen sich nur unter größeren Anstrengungen revidieren und weil »unsre Gesinnungen, unser Geschmack, und das Urtheil, welches wir von moralischen Dingen fällen, sehr von den Beyspielen, die wir vor uns sehen, abhängen«394 , gehört das Arrangieren von Erstkontakten zu den wichtigsten Aufgaben der (Dichter-)Erziehung: Die ersten Eindrücke werden »mit der Zeit der Maaßstab aller ihrer übrigen Wirkungen. Was ihren [der Kinder – AW] ersten Eindrücken gemäß ist, das nennen sie hernach recht und gut, schön und angenehm.« (CDI, S. 179) Diese Aufgabe erweist sich dabei als eine doppelte, denn es gilt nicht nur, schädliche äußere Einflüsse, etwa »[d]ie einfältigsten Weibs-Personen« (CDI, S. 179) fernzuhalten, sondern zugleich, die natürlichen Anlagen zu kultivieren. Sie müssen durch eine Lehrinstanz »von ihrer anklebenden Unrichtigkeit gesäubert werden« (CDI, S. 152). Dies ist insofern unbedingt vonnöten, als dass angehende Dichter es mit einem nicht ungefährlichen Gegenstand zu tun haben: der Poesie, der eine potentielle Maßlosigkeit zu eigen ist, die sich leicht auf einen »feurigen poetischen Geiste« übertragen kann und ihn »aus den Schranken der Vernunft« (CDI, S. 158) zu reißen im Stande ist. Beschränkt, also gemäßigt werden müssen die dichterischen Naturelle nicht, und das ist das Entscheidende, weil sie Gefahr liefen, zu verkümmern, sondern sich in unreglementierter Weise zu äußern, weil sie, unkultivierter Natur gleich, wie »ein ungebautes Feld, das nur wilde Pflanzen hervortreibet; ein selbst wachsender Baum, der nur ungestalte Aeste und Rei(Christian Gotthilf Salzmann: Krebsbüchlein. Ameisenbüchlein, Leipzig 1984, S. 148.) Auch der Landgeistliche in Wilhelm Meisters Lehrjahre argumentiert in diesem Sinne, betont allerdings, wie auch die Critische Dichtkunst, den Einfluss sozialisatorischer Prägekräfte und ihrer Folgen: »Wer früh in schlechter unbedeutender Gesellschaft gelebt hat, wird sich, wenn er auch später eine bessere haben kann, immer nach jener zurücksehnen deren Eindruck ihm, zugleich mit der Erinnerung jugendlicher, nur selten zu wiederholender Freuden, geblieben ist.« (Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 476) 393 Vgl. zur anvisierten Nachahmung einer vorbildlichen, ihre Vorbildlichkeit dort dann mit theatralen Mitteln in Szene setzenden Erziehungsinstanz im Philanthropismus III.3. 394 Sulzer: Philosophische Betrachtungen, S. 155.

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ser hervorsprosset« (CDI, S. 153), poetischen Wildwuchs hervorbringen könnten. Die »Misgeburten der Schaubühne, die unter dem prächtigen Titel, der Hauptund Staatsactionen, mit untermischten Lustbarkeiten des Harlekins, pflegen aufgeführet zu werden«395 sind, wie auch die prunkvollen Opern, einem solchen ungepflegten Naturell geschuldet. Sie sind ausgerufen von einer ungezügelten, »unordentlichen Einbildungskraft« (CDII, S. 358),396 so wie sich umgekehrt etwa die »regelmäßigen und wohleingerichteten Tragödie[n]«397 einem rational gemäßigten ›poetischen Geiste‹ verdanken. Der Formung der Anlagen eines Poeten entspricht die (Un-)Form seiner Poesie. Und diese wird über Kenntnis und Anwendung der poetischen Regeln aufs rechte Maß gebracht respektive im rechten Maß gehalten, denn: »Welch ein weitläufiges Feld würde man nicht allen Arten der Ausschweifung eröffnen, wenn man den sogenannten erhabnen Geistern, das heißt den witzigen Köpfen, die insgemein die flüchtigste und feurigste Einbildungskraft besitzen, und selten einem andern, als sich selbst den Ausdruck überlassen, ob sie erhabene Geister sind, oder nicht? wenn man, sagen wir, denen den Zügel so weit wollte schießen lassen, daß man ihnen erlaubte, über alle Regeln der Kunst weg zu seyn, und wohl gar die Einfälle einer übereilten Phantasie und alle Einbrüche in die Natur und in die Wahrscheinlichkeit für etwas schöners anzusehen, als deren Beobachtung?«398 Das macht deutlich, inwiefern Form- und Formungsideal hier eng mit Fragen des Maßes verbunden sind: hinsichtlich des ›poetischen Naturells‹, seiner Produkte und nicht zuletzt deren erwünschter Wirkung. Der Poet soll etwas hervorbringen können, er soll dies mit Hilfe seiner Einbildungskraft tun. Deren latente Maßlosigkeit jedoch muss rational gemäßigt werden, um sich dann in entsprechenden literarischen Formen, etwa dem »regelmäßigen und wohlproportionierten Körper der hohen Tragödie«399 , den pädagogischen Zwecken angemessen niederzuschlagen. Dieser Niederschlag verweist dann umgekehrt zugleich auf den Mäßigungsund Formungsgrad des ›poetischen Geistes‹, dem er sich verdankt. 395 396 397 398 399

Gottsched: Die Schauspiele, S. 494f. Vgl. Promies: Der Bürger und der Narr, S. 21-25. Gottsched: Die Schauspiele, S. 494. [Gottsched]: Anmerkungen über das 592. Stück des Zuschauers, S. 158. Wild: Theater der Keuschheit, S. 223. Vgl. auch Krebs: Modernität und Traditionalität, S. 129. Das hohe Risiko, das die Arbeit am prekären, weil potentiell maßlosen Vermögen der Einbildungskraft und einem so gefahrvollen, weil diese Maßlosigkeit latent befeuernden Gegenstand wie der Poesie bedeutet, lässt nicht nur Aufwand, Intensität und Wichtigkeit der Dichterunterweisung erahnen, es verweist ex negativo auch auf den enormen Gewinn, den das entsprechend zugerichtete poetische Naturell, für die hinter der Funktionalisierung stehenden Zwecke bedeutet.

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Verhindert wird das unkontrollierte Wuchern durch poetologische Landschaftsgärtner, deren Heckenscheren Fleiß, Gelehrsamkeit und Traditionsverbundenheit heißen. Allerdings findet diese Zurichtung im übertragenden Sinne nicht unter freiem Himmel statt, sondern im Studierzimmer, einem vor ›falschen‹ Prägungen geschützten Ort, dessen Überwachung die Gefahr ›falscher‹ Äußerungen zu verhindern im Stande ist. Im Zentrum der Poetenunterweisung steht dabei zunächst ein Wissenserwerb durch die angeleitete Auseinandersetzung mit ausgewählten Exempeln, vermittels derer die Kenntnisse der tradierten, als vernünftig ausgewiesenen poetologischen Regeln und Normen erlangt werden. Im Fall von Gottscheds Ausführungen also lernt der Poet, und darin liegt der Kern der Unterweisungen, über Exempel, selbst Exempel herzustellen und mit Hilfe von diesen Exempeln zu lehren.400 Dazu aber ist der bereits genannte gute Geschmack die Voraussetzung. Er ist das Ergebnis von Disziplin, Fleiß und vernünftiger Einsicht, wird also zunächst vornehmlich als »Produktionskategorie«401 gedacht. Seinen guten Geschmack muss also erst einmal vor allem der erzieherisch tätige Poet unter Beweis stellen. Das schließt die von Gottsched stark gemachte Instanz des Kunstrichters als Geschmacksträger keineswegs aus, schließlich ist er gemäß des regelpoetisch‐normativen Literaturverständnisses der (Früh-)Aufklärung, dank seines gelehrten Wissens um die Regeln der Kunst, »potentiell auch ein besserer Autor; er könnte das kritisierte Werk verbessern, so wie er [Gottsched – AW] es selbst mit seinem Cato praktiziert hat.«402 Anders gesagt: Idealiter fließen die Kompetenzen von regelgeleiteter Produktion und kritischer Produkt- wie Produzentenüberwachung in einer Instanz zusammen.403 Wo sie dies nicht tun, wird der Kunstrichter zu derjenigen Instanz, die im Anschluss an die von Gottsched geforderte, angeleitete Lektüre poetischer wie poetologischer Muster, die Pädagogisierung des Dichters fortsetzt und auf Dauer stellt: Nicht, indem der Kunstrichter dem Dichter zeigt, 400 Was dabei den ersten, gelehrten Exempeln im Laufe der Reform mit zunehmendem Gewicht und Einfluss auf den Wirkungsfokus der theatralen Darstellung zur Seite tritt, sind die erwähnten sozialen und anthropologischen Wissensregister, deren Studientechnik die Beobachtung ist. 401 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 292. Auf Rezipientenseite hingegen ist Ausdruck eines guten Geschmacks die intuitive Zustimmung und affektive Öffnung hin zu den theatralen Werken des pädagogischen Autors (vgl. Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 134). Der Geschmack ist aber, wie in Zusammenhang mit der Erziehung des Publikums deutlich wird, vor allem eine pädagogische Kategorie und ein pädagogischer Index, der auf den Grad seiner eigenen Herrichtung verweist, ohne auf einen Geschmacksträger fixiert werden zu könnens, vgl. II.5. 402 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 292. 403 Insofern geht es Gottsched, wie Margit Vogt zurecht betont, um die »kritische Erziehung des Autors und Kritikers« (Von Kunstworten und -werten. Die Entstehung der deutschen Kunstkritik in Periodika der Aufklärung, Berlin/New York 2010, S. 28.)

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was er wie zu lesen und welches Wissen er sich anzueignen habe, sondern indem er liest, was dieser produziert und die Anwendung dieses Wissens in durchaus korrigierender Absicht bewertet.404 Im Anschluss an Franz-Josef Deiters mediologische Analyse von Gottscheds historischer Herleitung der Tragödie im Dienste der »Selbstlegitimation des modernen Autors«405 bzw. dessen moralisch-ästhetischer Autorität lässt sich hinsichtlich dieses in eins Fallens von Autor und Kunstrichter in Gottscheds Gedächtnisrede auf Martin Opitz eine komplementäre Strategie ausmachen: Über dessen Inszenierung als »Vater« der deutschen Poesie, der »nicht nur ein Dichter, sondern auch ein Redner; nicht nur ein Redner, sondern auch ein Wortforscher; nicht nur ein Wortforscher, sondern auch ein Kunstrichter gewesen« und dabei »so scharfsinnig als weise so angenehm als tugendhaft, so fruchtbar als edel gewesen ist«406 wird in Opitz diejenige Position moralischer, pädagogischer und ästhetischer Autorität idealtypisch figuriert, die Gottsched in seinen Ausführungen zur Ausbildung des Poeten in der Critischen Dichtkunst als Fix- und Zielpunkt zu erschreiben versucht. Dementsprechend eignet sich Opitz nicht nur als optimaler Erstkontakt mit Literatur, da er der Jugend »einen schönen Abriß der Tugend […] in ihr wächsernes Herz drücken« würde, er ist auch ausgezeichneter Unterrichtsgegenstand für die jungen, zukünftigen Dichter, die »einen Schatz von Gelehrsamkeit und gutem Geschmacke […] daraus einsammeln«407 würden. Angehende Poeten lernen ihr Handwerk nun anhand von Büchern im Rahmen einer angeleiteten Lektüre. Der gute Geschmack wird an Beispielen guten Geschmacks geschult und bestätigt, die den Werken mustergültiger Autoren entnommen sind:408 »Man kann aber junge Knaben beyzeiten aufwecken, […] wenn man ihnen bald allerley gute sinnreiche Schriften zu lesen giebt; wenn man sie auf die trefflichsten Stellen derselben aufmerksam machet; ihnen die Schönheit derselben recht vor Augen stellet, und durch ein vernünftiges Lob ihrer Verfasser, sie anspornet, nach gleicher Ehre zu streben.« (CDI, S. 153) 404 Vgl. ausführlicher II.4.3. 405 Deiters: Vom Werden des Theaters, S. 54. 406 Johann Christoph Gottsched: Lob- und Gedächtnißrede auf den Vater der deutschen Dichtkunst, Martin Opitzen von Boberfeld, Nachdem selbiger vor hundert Jahren in Danzig Todes verblichen, zur Erneuerung seines Andenkens im 1739sten Jahre den 20 August auf der philosophischen Catheder zu Leipzig gehalten, in: ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von P. M. Mitchell. Neunter Band, Erster Teil: Gesammelte Reden, bearbeiten von Rosemary Scholl, Berlin/New York 1976, S. 156-192, hier: S. 187f. und 190. 407 Ebd., S. 191. 408 Gottsched nennt in einer ganzen, nach Nationen geordneten Reihe vorbildlicher Dichter unter anderem Virgil, Horaz, Petrarca, Tasso, Corneille, Racine und Opitz, vgl. CDI, S. 182.

II Die Pädagogisierung des Theaters

Zeichnet sich ein angehender Poet bereits durch einen guten Geschmack aus, dann wird er auf die von seinem ›vernünftigen Lehrer‹ ausgesuchten Stellen richtig reagieren – ist die Formung dieser Fähigkeit noch nicht so weit vorangeschritten, dann lernt er anhand der Beispiele die erwünschten Reaktionen. Er wird dann »richtig von der klar empfundenen Schönheit eines Dinges urteilen: das ist, er muß nichts für schön halten, was nicht wahrhaftig schön ist; und nichts für häßlich erklären, was nicht häßlich ist« (CDI, S. 175). Der gute Geschmack als »Kompetenz des Autors«409 wird also (aus-)geformt und befestigt über eine angeleitete Auseinandersetzung mit vorbildlichen »Muster[n]« (CDI, S. 182). Diese Lektüre der ›sinnreichen Schriften‹ dient dabei der Ausprägung eines kritischen Urteilsvermögens, das gutes und schlechtes Schreiben zu erkennen und zu unterscheiden lernt: Mit Hilfe der Exempel »wird man der Jugend unvermerkt eine Geschicklichkeit, wohl zu urteilen beybringen […]. Nichts wird ihr hernach gefallen können, was nicht eine wirkliche Schönheit hat« (CDI, S. 182).410 Eingelassen in die Unterweisungen ist dabei die Aussicht, selbst einmal als solches Muster zu gelten und Exempel zu werden, denn der geschmacksprägende Frontalunterricht erschöpft sich nicht in einer bloßen Wahrnehmungs- und Bewertungsnormierung, wie der enthaltene Ansporn zu erkennen gibt: Da sich die »nützlichen und erbaulichen Schriften«411 , entsprechend der formalen und moralischen Analogie von Produkt und Poet, den Qualitäten von letzterem verdanken, fällt ihre Wirkung als sein Verdienst auf ihn zurück. Und dieses besteht in nichts geringerem als einer gesamtgesellschaftlichen Optimierung, so dass also »derjenige seinem Vaterlande keinen geringen Dienst erweiset, der demselben durch nützliche und sinnreiche Schriften, und zwar in seiner Muttersprache, Ehre macht.«412 Der Dienst, den ein Dichter seinem Vaterland erweist, ist ein pädagogischer: Sein Andenken und seine Werke sollen deshalb geehrt werden, weil es ihm Anliegen und Aufgabe ist, »den Geschmack seines Vaterlandes, seines Hofes, seiner Stadt zu läutern« (CDI, S. 187). Damit der dramatische Dichter diesen Erziehungsanspruch und -auftrag erfüllen und als Vermittler des sittlich abgesteckten und poetologisch fundierten guten Geschmacks derart breitenwirksam agieren kann, muss sein eigener Unterricht von der grundsätzlichen Ausbildung und Formung aus weiter in die Tiefe gehen. »Dem Schüler […] fehlt es nur am Unterrichte« (CDI, S. 186), um ein bei guten Anlagen intuitiv richtiges, aber nur subjektives Urteil objektivieren zu können und damit in den Ausdruck eines anwendungsorientierten, allgemein gültigen Wissens 409 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 292. 410 Damit wird dem ›guten‹ Autor immer auch zugleich eine Kompetenz als Kunstrichter eingeschrieben. 411 Gottsched: Gedächtnisrede auf Martin Opitz, S. 172. 412 Ebd., S. 168.

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zu transformieren.413 Dies ist insofern möglich, als dass die vom ›vernünftigen Lehrer‹ vorgeführten Bewertungen auf »den Regeln […], die von der Vernunft, in einer Art von Sachen, allbereit fest gesetzet worden« (CDI, S. 176) sind, beruhen und den Kenner befähigen, »unumstößlich zu erweisen«, ob es sich um »wahre« oder nur um »eingebildete Schönheiten« (CDI, S. 185f.) handelt. Der Schüler hat seinem Lehrer dementsprechend nicht aus blindem Gehorsam zu folgen, der Unterricht selbst verschafft in seiner Anlage ersterem Einsicht in den zureichenden Grund der Autorität von letzterem: weil diese sich erstens über Kenntnis der und Einsicht in die objektiv gültigen, unumstößlichen Regeln der Kunst legitimiert; zweitens in der jederzeit möglichen Anwendbarkeit und Kommunizierbarkeit dieser Regeln anhand der vorgeführten Exempel eindrucksvoll demonstriert werden kann; diese Demonstrationen und damit vielleicht einher gehende Berichtigungen des Schülers drittens dessen Ausbildung dienen. Sie sollen ihm die Regeln beibringen, aus denen sich die Autorität der Urteile des Lehrers speist, also den Wissensabstand zwischen den beiden sukzessive verringern, bis schließlich der Schüler selbst auch als Lehrer agieren kann. Fehler und Ungenügen des Dichters präsentieren sich vor dem Hintergrund derartiger Setzungen vor allem als Abweichungen von poetologischen Normen, Richt- und Mittelwerten; als Verletzung eines wie auch immer bestimmten und poetisch verorteten Maßes von Mimesis und Wahrscheinlichkeit. Schiller sieht die Ursache dieser in Unmäßigkeiten sich niederschlagenden »Fehler des Dichters […] [in] zwei vorzüglichen Moden im Drama«414 liegen. Ihnen folgend, wird er entweder durch eine entkernte Künstlichkeit alles Lebendig-Natürliche außer Acht lassen, oder umgekehrt, durch einen Mangel an künstlicher Formung, das Natürliche ins Maßlos-Kreatürliche kippen lassen. Und während man nach französischer Manier bloß »glatten zierlichen Puppen, von denen die Kunst alle kühne Natur hinwegschliff« (TT, S. 170) applaudiert, wird nach englischer und (im Gefolge auch) deutscher Schreibart aus der Kühnheit Grobheit. Sind die Dramen nach 413 An dieser Schnittstelle von intuitiv Richtigem und objektiv Gültigem gabelt sich, so Wetterer, Gottscheds Geschmacksbegriff: »Es geht ihm zum einen zwar auch darum, den nicht philosophischen, den nicht demonstrativen Charakter des Geschmacksurteiles festzuhalten und mit dem Geschmack ein Vermögen zu benennen, das poetische Werke auf der Ebene zu beurteilen vermag, auf der sie rezipiert werden, auf einer Ebene also, die als sinnliche gerade der sukzessiven logischen Schlussfolgerung nicht notwendig bedarf. Es geht ihm aber zum anderen auch darum, das Geschmacksurteil derart zu fassen, daß es trotz seiner sinnlichen Komponente allein solche Urteile über poetische Werke fällt, die mit den Ergebnissen einer vernünftigen Untersuchung und Beurteilung übereinstimmen.« (Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 129f.) 414 Friedrich Schiller: Über das gegenwärtige teutsche Theater, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 8: Theoretische Schriften. Herausgegeben von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt a.M. 1992, S. 167-175, hier: S. 170. Im Folgenden unter der Sigle TT mit Seitenangabe im Text zitiert.

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ersterer Mode Produkte einer leergeformten dichterischen Fähigkeit, die Mechanik und Kalkül, aber keine »Naturmenschen« (TT, S. 170) kennt oder kennen will, bricht sich in zweiterer das poetische Naturell ungebrochen Bahn: Hier »deckt man der Natur, wenn ich so reden darf, ihre Scham auf, vergrößert ihre Finnen und Leberflecken unter dem Hohlspiegel eines unbändigen Witzes, die mutwillige Fantasie glühender Poeten lügt sie zum Ungeheuer und drommelt von ihr die schändlichsten Anekdoten aus.« (TT, S. 170) Beide ›Moden‹ werden in Schillers Perspektive zu Extremen und als »die zwei äußersten Enden« zu Verfehlungen, »zwischen welchen Wahrheit und Natur inne liegen.« (TT, S. 170) Er plädiert daher für eine Mimesis der harmonisierenden Mitte, die die Ansprüche beider sich in der Verabsolutierung disqualifizierender Pole wahrt und über Vermittlung und Ausgleich zu ihrem Recht kommen lässt:415 »Zu einer guten Kopie der Natur gehört beides, eine edelmütige Kühnheit, ihr Mark auszusaugen, und ihre Schwungkraft zu erreichen, aber zugleich auch eine schüchterne Blödigkeit, um die grassen Züge, die sie sich in großen Wandstücken erlaubt, bei Miniaturgemälden zu mildern.« (TT, S. 171)416 Im Einzelfall jedoch erweist sich die Bewertung der dichterischen Arbeit nicht immer als so eindeutig. Lob und Tadel liegen hier nicht nur überaus eng beieinander, ihre Übergänge gestalten sich mitunter geradezu fließend, weil sie dem Grad oder einer unterschiedlichen Bewertung des Grades eines bestimmten dichterischen Vermögens geschuldet sind. In Zusammenhang mit seiner Rezension einer Ausgabe der Theaterstücke von Marivaux betont Lessing die »glänzende Aufnahme«, die seine Texte »alle […] genossen« haben: unstrittig bewundernswert sind Marivaux Fähigkeiten der Menschenbeobachtung und -darstellung. Schnittstelle der Kritiken ist allerdings seine »blühende Schreibart«417 , also der textliche Niederschlag des dichterischen Naturells. Die Bewertungen scheiden sich dort, wo seine

415 Vgl. zur hier beklagten Maßlosigkeit, der verfehlten, aber (später dann auch anthropologisch) erwünschten Mitte Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin, S. 89. 416 Lothar Pikuliks Feststellung, dass Schiller in Über das gegenwärtige teutsche Theater dem gescholtenen Publikum »den nach seinem Begriff idealen Zuschauer« (Schiller und das Theater, S. 36) gegenüberstellt, lässt sich dahingehend ergänzen, dass er hier den defizitär arbeitenden Dichtern ein Modell von poetisch wie funktional gelingender theatraler Autorschaft entgegenhält. 417 Gotthold Ephraim Lessing: Le Theatre de Monsieur de Marivaux de l’Academie Françoise; nouvelle Edition. en IV Tomes, à Amsterdam et Leipzig; chez Arkstée et Merkus 1754. In 12mo. Jeder Theil von 18 Bogen [Rezension, Berlinische Privilegierte Zeitung, 62. Stück, 23.Mai 1754], in: ders.: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schrinding und Jörg Schönert herausgegeben von Herbert G. Göpfert, hier: Dritter Band: Frühe kritische Schriften, München 1972, S. 204-206, hier: S. 205.

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Darstellungen als übermäßig wahrgenommen werden, wo sich Poesie und dichterische Einbindungskraft wechselseitig zu stark befeuern: Seine Schreibart, darüber scheint Einigkeit zu herrschen, ist »voll kühner Metaphern und unerwarteter Wendungen«, vermag also Interesse und Aufmerksamkeit zu generieren und aufrecht zu erhalten: »Allein man tadelt auch an eben derselben die allzu große Kühnheit, und die zu übertriebene Begierde, überall seinen Witz schimmern zu lassen.«418 Im Tadel des Übermaßes manifestiert sich zudem ein Bewertungsrahmen, der ästhetische und ethische Qualitäten der (dramatischen) Literatur in einen strengen Zusammenhang stellt und als voneinander abhängig denkt: Mit der Kritik an der überblühenden Schreibart »verbindet man noch einen andern Tadel, welcher bei strengen Freunden der Tugend weit wichtiger ist. Er soll das Laster, und besonders die Wollust, oft mit so lebhaften und so feinen Farben schildern, daß sie auf den Leser einen ganz andern Eindruck machen, als sich ein tugendhafter Schriftsteller zu machen, vorsetzen darf[.]«419 Wer sich hier im Namen der Tugend schützend vor den Rezipienten und abmahnend gegen die Verstöße des Theaterdichters stellt, ist die »Kontrollinstanz« des Kunstrichters, die etwa in Erläuterungen, Rezensionen oder Aufführungsberichten von den Moralischen Wochenschriften bis hin zur dezidierten Theaterjournalistik den allgemeinen »Geschmacksbildungsprozeß«420 mittels ihres – dem Anspruch nach stets gerechten und gerechtfertigten – Lobes und Tadels mitgestaltet. Ihrer kritischen Überprüfung und Bewertung sehen sich die Autoren respektive ihre Stücke ebenso unnachgiebig ausgesetzt wie die Schauspieler und Zuschauer. Wird bei ersteren Qualität hinsichtlich erzieherischer Wirksamkeit und Regelhaftigkeit respektive -mäßigkeit angemahnt, haben die Zweitgenannten diese Gehalte nicht nur angemessen zur (Bühnen-)Darstellung zu bringen, sondern müssen immer auch damit rechnen, dass ihr (möglicherweise unterstellter) Lebenswandel Grund zum Tadel gibt. Einer Verhaltensbeobachtung unterliegt schließlich auch das Publikum, dessen sorgfältig registriertes Betragen im Falle einer unangemessenen Rezeptionshaltung und programmatisch inakzeptablen Belehrungsresistenz immer wieder Grund zur Klage gibt.

418 Ebd. 419 Ebd. 420 Ball: Moralische Küsse, S. 46.

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4.3   Der Kunstrichter – Maßstab für Poeten und Publikum Der Kunstrichter ist neben Weltweisem und Poeten nicht nur die dritte Instanz einer idealiter in Personalunion gedachten »Geschmacksträgergruppe«421 . Ihm kommt innerhalb der Theaterreform eine Schlüsselposition zu, die sich als solche erst vollends zeigt, wenn diese Reform als Ausdifferenzierungsprozess und dieser Prozess als einer der Pädagogisierung in den Blick genommen wird. Er ist maßgeblich für die Ordnung des theaterreformatorischen Diskurses verantwortlich, steckt dessen Grenzen ab, tradiert und überwacht die Einhaltung der Regeln, die festlegen, welche Aussagen »im Wahren«422 dieses Diskurses liegen. Das geht mit seiner Aufgabe einher, alle übrigen erzieherisch tätigen Akteure hinsichtlich ihrer Erziehungsleistung zu beobachten und zu bewerten und dabei selbst erzieherisch auf sie einzuwirken: über Kritik und Korrektur im Falle der Poeten und Schauspieler, als Verhaltens- und Rezeptionsvorbild im Falle des Publikums. Im Laufe der Reform verschiebt sich nicht nur der primäre mediale Ort des Kunstrichters oder Criticus,423 sondern auch sein Selbstverständnis, und damit einher gehend verändern sich Umfang und Ausgangpunkt seiner Äußerungen. Zunächst zwischen einem philosophischen Spezialtypus und einem Dichter als poetisch tätigem Gelehrten verortet, wird er von Gottsched in nahezu einem Atemzug bestimmt als »Gelehrte[r], der von freien Künsten philosophieren kann«, wofür eben nicht jeder Philosoph »Zeit und Gelegenheit« findet; und zugleich erweisen sich »dergleichen Critici« als »philosophische Poeten oder poesieverständige Philosophen« (CDI, S. 145),424 nehmen also Wissen und Tätigkeiten ihrer beiden wesentlichen Mitstreiter auf. Aus dieser doppelten Anteiligkeit speist sich dem Anspruch nach die diskursive Autorität der Urteile. Der Kunstrichter vereint damit idealiter eine tadelnde Theorie mit einer tadellosen Praxis: »Horatius und Boileau, waren zu ihren Zeiten die Peitschen der Poeten; Aber sie schrieben auch selber so schön, daß man ihnen keine Fehler vorrücken konnte. 421 Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks, S. 263. Vgl. zu Geschmackserziehung und der Rolle des Kunstrichters mit Fokus auf Gottsched ebd., S. 259-265; vgl. zu Selbstverständnis und Tätigkeit des Kunstrichters im Kontext der Theaterreform Roland Krebs: Die frühe Theaterkritik zwischen Bestandsaufnahme der Bühnenpraxis und Normierungsprogramm, in: Erika FischerLichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 463-482; Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 65-100. 422 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 25. 423 Vgl. zu Differenzierung und Abgrenzungsanspruch des mit der Bezeichnung Kunstrichter synonym verwendeten Criticus von der frühneuzeitlichen ars‐critica-Tradition an Werner Strube: Kurze Geschichte des Begriffs »Kunstrichter«, in: Archiv für Begriffsgeschichte XIX (1975), S. 50-82, hier: S. 50; vgl. zu Gottscheds Kunstrichterverständnis ebd., S. 51-53. 424 Ein Musterbeispiel hierfür ist Aristoteles, vgl. CDI, S. 146.

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Daher erhielten ihre Urtheile einen allgemeinen Beyfall. Ein jeder glaubte dem, was sie sagten, weil ihre eigene Schrifften genugsam zeigten, daß sie die Kunst verstünden, und also nicht aus Neid oder unzeitigem Kützel die andern getadelt hatten.«425 Der Kunstrichter figuriert also von Anfang an einer Schnittstelle, an der zunächst die beiden Enden von poetologisch‐moralischer Reflexion und poetisch‐moralischer Produktion zusammenlaufen, und schon bald eine privilegierte Rezipientenposition mit letzterer in Kontakt gebracht wird. Seine »Doppelfunktion der Didaxe und Wertung«426 respektive der Bestandsaufnahme und Normierung,427 sein Adressatenkreis, der mit Dichtern, Zuschauern und Schauspielern die anderen wesentlichen Akteure des Literaturtheaters umfasst und seine zunächst auf Regelwissen, später stärker auch auf einer medialen Schlüsselstellung beruhende, von einem erzieherischen Anspruch legitimierte Autorität, machen den Kunstrichter zur einflussreichsten, breitenwirksamsten und in gewisser Weise präsentesten pädagogischen Instanz der Theaterreform und ihrer diskursiven Ordnung. Unterschiedlichen Ansätzen428 zum Trotz ist sein Bezugspunkt und Maßstab, von Gottscheds Critischer Dichtkunst über die Moralischen Wochenschriften, bis zu der sich konsolidierenden Theaterjournalistik und deren nicht zuletzt von Lessings Hamburger Dramaturgie429 inspirierten Hochkonjunktur im letzten Drittel des Jahr425 426 427 428

Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen, XIV. Stück. Freytags, den 12. April 1726, S. 107f. Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 92. Vgl. Krebs: Die frühe Theaterkritik, insbesondere S. 468f. Heßelmann stellt einer von Gottsched kommenden »deduktiv‐normativen« eine eher »induktiv‐individualisierenden Kritik« (Gereinigtes Theater, S. 68) lessingscher Prägung entgegen. Vgl. ebenso Michael Merschmeier: Aufklärung – Theaterkritik – Öffentlichkeit. Mit einem zeitgenössischen Exkurs. Maschinen Diss. FU Berlin 1985, S. 37 und 42. 429 Vgl. zum Einfluss und der Wirkmächtigkeit Lessings in dieser Hinsicht etwa Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 12 und 420f.; Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 176 und Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 217; Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin, S. 161. Der Exkurs »Fragen des Maßes – Lessing als Paradigma für den Übergang von der rhetorischen zur ästhetischen Bestimmung der Literaturkritik« in Astrid Urban: Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik, Heidelberg 2004, S. 57-70 betont und untersucht die »schon zu Lebzeiten unbestrittene Autorität« Lessings »[i]n der literarischen Kritik« (ebd., S. 57) und seine Bedeutung neben Kant für »das ästhetisch‐kritische Programm der Frühromantik« (ebd., S. 58). Heßelmann macht allerdings zugleich darauf aufmerksam, dass mit der ›Verehrung‹ Lessings nicht zwangsläufig eine tiefere Durchdringung seiner Ausführungen verbunden war: »Lessing galt zwar als Autorität in Fragen der Dramaturgie, doch scheinen nur wenige Journalisten tiefer in seine diffizile Theorie eingedrungen zu sein. Er fungierte als Affirmationsfigur, der man Exzeptionalität innerhalb der Theaterkritik zugestand.« (Gereinigtes Theater, S. 421) Vgl. zu dieser zeitgenössischen Überforderung auch Klaus Berghahn: Der kritisierte Kritiker. Zur Lesererwartung, historischen Bedingung und Form von Lessings Hamburgischer Dramaturgie, in: Lessing-Yearbook X/1979, Beiheft Humanität und Dialog, S. 155-164, hier: S. 157.

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hunderts, ein literaturbasiertes, regelmäßiges und pädagogisch wirksames Theater, aufgrund von und zu dessen Stabilisierung der Kunstrichter seine Urteile430 spricht. Aus dem philosophischen leitet sich zunächst der Umfang des critischen Geschäfts ab: Gottscheds Großprojekt in dieser Hinsicht, die Critische Dichtkunst, ist von dem Selbstverständnis geprägt, dass ein »Criticus ein Philosoph seyn, und etwas mehr verstehen müsse, als ein Buchstäbler« und es dementsprechend »auch mit den Regeln ganzer Künste und Kunstwerke zu thun hat« (CDI, S. 16f.), von denen er »ein gründliches Erkenntniß« (CDI, S. 145) erlangen will, bzw. im Falle der fertigen Dichtkunst bereits erlangt hat und nun kommuniziert. Damit verbindet sich von Anfang an eine Verknüpfung von Poetologischem und Pädagogischem, schließlich soll die Critische Dichtkunst nicht nur die Produktion von Literatur, sondern auch deren Beurteilung anleiten und richtet sich dementsprechend an Produzenten wie Rezipienten gleichermaßen:431 etwa in der Klärung von Fragen wie »Woher es komme, daß dieses schön und jenes häßlich sei, dieses wohl und jenes übel gefalle?«, dem Anspruch, einen »richtigern Begriff von einem wahren Dichter bei uns [zu] erwecken«, oder der Bestimmung des »rechten Character[s] von einem Poeten« (CDI, S. 145). Sein (philosophisches) Wissen um das »rechte Wesen der Poesie« (CDI, S. 11) befähigt den Kunstrichter neben dessen Vermittlung vor allem dazu, und darin wird ein wesentlicher Aspekt seiner Tätigkeit bestehen, die poetischen Umsetzungen dieses Wissens zu bewerten, also »zu loben oder zu 430 Walter Benjamin hat in seiner Dissertationsschrift zum Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik auf die Ablösung der Kunstrichter durch die Kunstkritik hingewiesen, dabei in der Differenzierung die metasprachliche Grundhaltung ersterer und zugleich die einschlägigen, mit diesem Amt assoziierten Namen benannt: »Erst mit den Romantikern setzt sich der Ausdruck Kunstkritiker gegenüber dem älteren Kunstrichter endgültig durch. Man vermied die Vorstellung eines zu Gericht-Sitzens über Kunstwerke, eines an geschriebene oder ungeschriebene Gesetze fixierten Urteilsspruches, man dachte dabei an Gottsched, wenn nicht etwa noch an Lessing und Winckelmann.« (Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: ders: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, hier: Band I.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1974, S. 7-122, hier: S. 52.) Vgl. zum Verschwinden des Kunstrichters auch Strube: Kurze Geschichte des Begriffs »Kunstrichter«, S. 80-82. 431 Vgl. Weimar: Gottscheds vier Literaturgeschichten, S. 135.Weimar weißt allerdings zugleich darauf hin, dass sich die Critische Dichtkunst spätestens mit ihrer vierten Auflage von 1751 wesentlich stärker auf die Produktion konzentriert. Er sieht darin eine »unausdrückliche Reaktion« (ebd.) auf die in Breitingers Critischer Dichtkunst (1742) ausgeprägte Rezipientenorientierung. Für die vorliegende Arbeit ist an diesem Punkt von Interesse, dass sich damit, so Weimar weiter, eine »anfänglich mit gutem Recht vorausgesetzte Personalunion von Schreiber und Leser oder ›Kunstrichter‹«, zumindest im Falle Gottscheds, ebenso »unausdrücklich« (ebd.) auflöst.

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tadeln« (CDI, S. 145).432 Ihm gebührt damit das erste und letzte Wort bezüglich der Textproduktion im Literaturtheater: Seinerseits gedeckt von der Autorität der critischen Ahnherren von Aristoteles, über Horaz bis zu Boileau, trägt er ein Regelwerk zusammen, das als Anleitung und Maßstab für die Tätigkeiten der dramatischen Dichter fungiert.433 Als critischer Überwacher mit erzieherischem Anspruch unterzieht er außerdem deren Arbeiten über den Abgleich mit den von ihm tradierten und postulierten Normen einer strengen Überprüfung und behauptet gegenüber den Dichtern seinerseits eine Autorität als einzig relevante Urteilsinstanz und »Richtschnur« (CDI, S. 11) ihrer Produktion. Sofern die Funktionsstellen nicht in Personalunion zusammenfallen, stehen die Literaten also »[u]nter Aufsicht des Philosophen […] und des Kunstrichters, des gelehrten Aufklärers«434 . Dieser ist dementsprechend in seinem Studierzimmer jedoch nicht allein über die Werke der Tradition gebeugt, sondern blickt auch auf die tagesaktuelle dramatische Literatur, um sie »nach den Regeln der wahren Dichtkunst etwas näher [zu] beleuchten«435 . Der Kunstrichter richtet sich in seinem Lob wie in seinem Tadel, der unmittelbaren Transparenz von Dichter und Dichtung folgend, an erstere, wenn er über letztere spricht. Seine Urteile kennen dabei unterschiedliche pädagogische Register, die in ihrem Härtegrad auf den Grad der Regelabweichung und je nach Umfang mit zunehmendem Züchtigungsanspruch reagieren. Dem Selbst‐verständnis gemäß soll es sich dabei stets um ein »unpartheyisches Urtheil«436 handeln, das idealiter in seiner Begründung messbar, darüber nachweislich angemessen und gleichermaßen Ausdruck wie Begründung der hierarchisch organisierten Relation ist, die urteilende Kunstrichter und beurteilte Dichter miteinander verbindet.437 Dementsprechend haben die Dichter die Critici als ihre ersten und zunächst wesentlichen Adressaten anzuerkennen. Entscheidend muss sein, ob diese »bil432 Über dieses Wissen, so Wetterer, legitimiert sich dessen »unhinterfragbare Autorität im Bereich der schönen Künste« (Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 148). 433 So etwa D’Aubignac in seiner Art du théâtre: »Der Abt von Aubignac trägt die besten Regeln, welche die Weltweisen gegeben, und die Alten so sorgfältig beobachtet haben, nicht allein in ihrer Ordnung vor; sondern erweist auch ihre Nothwendigkeit, aus der Natur der Schaubühne und aus der Vernunft. Doch läßt er hierbey den Neuern auch ihr Recht wiederfahren.« ([Anonym]: Franz Hedelin, Abtes von Aubignac, gründlicher Unterricht von Ausübung der theatralischen Dichtkunst [Rezension], S. 142) 434 Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks, S. 261. Vgl. auch Berghahn: Der kritisierte Kritiker, S. 161. 435 [Gottsched]: M. Johann Dünnehaupts, Illustr. Quedl. Conrect. Gedrückter und erquickter Jacob [Rezension], S. 139. 436 Gottsched: Der Biedermann, 85. Blatt 1728 den 20. December, S. 140. Vgl. zu diesem Anspruch auch Krebs: Die frühe Theaterkritik, S. 465. 437 Die »Rolle des Pädagogen/Kritikers« (Ball: Moralische Küsse, S. 46) erschöpft sich daher nicht allein in der Geschmackserziehung des Publikums – ein Fokus, den die Forschung grundsätzlich zweifellos zurecht, aber auf Kosten der Untersuchung jener primären erzieherischen Bezugnahme auf die dramatischen Dichter setzt.

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ligen«438 , was jene verfertigen, ob also die Dichter in ihren Stücken den Regeln genüge tun, »nach welchen vernünftige Kunstrichter sie eingerichtet haben wollen.«439 Im Kern dieses Verhältnisses liegt eine umfassende pädagogische Dimension. Georg Friedrich Meier hält in seinem anonym veröffentlichten Versuch einer philosophischen Abhandlung von dem Mittelmäßigen in der Dichtkunst fest: »An Unterricht, an dem vernünftigsten Unterrichte, kann es zu unsern Zeiten wahrhaftig keinem angehenden Dichter fehlen, wenn er die Augen aufthun, und die rechten Quellen dieser Erkänntniß suchen will.«440 Damit bezieht er sich jedoch nicht auf die angeleitete Lektüre, die Regulierung poetischer und poetologischer Erstkontakte sowie das Fernhalten als schädlich verstandener Einflüsse, wie es Gottscheds »Gottscheds Kritische[] Pädagogik«441 vorsieht, sondern auf die pädagogische Tätigkeit der zahlreichen Kunstrichter.442 Dieser erzieherische Anspruch verwandelt auch negative Beurteilungen in nützliche, dankenswerte Direktiven. In Zusammenhang mit D’Aubignac und seinem Umgang mit den ›Klassenbesten‹ à la Corneille heißt es etwa in der Rezension der Beyträge: »Wo sie [die Dichter – AW] aber wieder die Natur verstoßen, da hat ihnen seine geschickte Feder ihre Fehler so artig zu verweisen gewusst, daß sie sich glücklich schätzen müssen, von diesem großen Manne geurtheilet worden zu seyn.«443 Ein solches affirmatives Verhältnis zu den kunstrichterlichen Anleitungen und Unterweisungen betont auch Lessing am Ende seiner in dieser Hinsicht 438 Christlob Mylius: Critische Untersuchung, ob, und in wie fern die Gleichnisse in den Trauerspielen statt finden?, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VIII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742-1744, 31. Stück, S. 394-420, hier: S. 397. Als erste Autorität, die über die Vernünftigkeit bzw. Legitimität des Einsatzes von Gleichnissen in Trauerspieldialogen entscheidet, führt Mylius unumwunden die Kunstrichter als Richtmaß ins Feld: »Welcher verständige Kunstrichter wird aber die Gleichnisse da billigen, wo die Leidenschaften herrschen?« (Ebd.) 439 Heinitz: Einladungsschrift, zu zweyen Schauspielen, S. 360. 440 [Georg Friedrich Meier]: Versuch einer philosophischen Abhandlung von dem Mittelmäßigen in der Dichtkunst, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1741, 26. Stück, S. 242-286, hier: S. 245f. Vgl. zu Meiers Abhandlung Arnold: Rhetorik der Empfindsamkeit, S. 49-51. 441 Vogt: Von Kunstworten und -werten, S. 28. 442 Vgl. [Meier]: Versuch einer philosophischen Abhandlung von dem Mittelmäßigen in der Dichtkunst, S. 245. 443 [Anonym]: Franz Hedelin, Abtes von Aubignac, gründlicher Unterricht von Ausübung der theatralischen Dichtkunst [Rezension], S. 142.

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selbst überaus einflussreichen Hamburgischen Dramaturgie. Gegen grundsätzliche Kritik an der Kritik444 bringt Lessing seine eigene Rolle als Autor in Stellung und darin in eine maßgeblich und glücklich pädagogisierte Position: »Was in den neuerern [dramatischen Versuchen – AW] erträgliches ist, davon bin ich mir sehr bewußt, daß ich es einzig und allein der Critik zu verdanken habe. Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich empor arbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt: ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir herauf pressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen, und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken. Ich bin daher immer beschämt und verdrüßlich geworden, wenn ich zum Nachteil der Critik etwas las oder hörte.« (HD, 101.-104. Stück, S. 680) Weniger sanft getadelt und unterrichtet werden zunächst hingegen diejenigen, die sich schwerer Regelverstöße schuldig machen: Ihnen droht die »Zuchtruthe«, mit der ein »gründliche[r] Kunstrichter[]« jedes unförmige, maßlose Stück eines »unseligen theatralischen Dichters«, jede schädliche Bestückung der theatralen Apparatur, kurz, jede »regellose Geburt zu schanden«445 macht. Jede mangelhafte, d.h. jenseits der kunstrichterlich überwachten Grenzen der regelmäßig eingerichteten Schaubühne verortete literarische Produktion wird mit anderen Worten als defizitär verurteilt, und der Dichter – zumindest in erster Linie – nicht zur Verbesserung angespornt, sondern ob seiner Verfehlung abgestraft. Es ist die Strenge, Fundiertheit und Präzision des Urteils, die pädagogische Härte zugunsten des Erziehungsmittels Theater, mit der die Kunstrichter ein entsprechendes Niveau erreichen und aufrechterhalten446 sollen: Es liegt an ihnen, ist wesentliche Komponente ihrer Funktion, »den nachlässigen Scribenten die Schlafsucht und Sicherheit im Schreiben abzugewöhnen. Sie sind wie ein Wetz=Stein, welcher zwar selbst nichts schmiedet, aber doch den Stahl schärffet.«447 Für sanften Tadel wie exkludierende Verurteilung gilt dabei, dass der ›gründliche‹ oder ›vernünftige‹ Kunstrichter, wenn er sein Geschäft richtig betreibt und »untersuchet […], ob ein Stück nach 444 Vgl. zu den zeitgenössischen Vorbehalten gegen Kritik und Kritiker und demgegenüber zu Lessings positivem Kritikverständnis Vogt: Von Kunstworten und -werten, S. 28-32. 445 [Gottsched]: Anmerkungen über das 592. Stück des Zuschauers, S. 143. Diese Dichter, folgt man der Argumentaton, sind zugleich diejenigen, die neben ihrer poetischen auch ihre Dankespflicht gegen die ›Critici‹ versäumen und sogar deren Urteilskompetenz anzweifeln, wie in den Anmerkungen recht bald deutlich gemacht wird. 446 Dies gilt, neben dem bei Wetterer betonten Kunstrichter-Rezipienten-Verhältnis (vgl. Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 150) auch für die kunstrichterliche Be- und Verurteilung der Dichter. 447 Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen, XIV. Stück. Freytags, den 12. April 1726, S. 105.

II Die Pädagogisierung des Theaters

allen Regeln richtig ist«448 , nicht falsch oder ungerecht urteilen kann. Die objektive Gültigkeit des vernünftigen Regelwerks der Poesie, das er vermittelt und als Bewertungsfolie in Anschlag bringt, legitimiert seine Urteile und sichert sie ab: »[W]ir bleiben allemal dabey, […] daß dasjenige, welches ein guter Kunstrichter einwendet, allemal richtig sein müsse«449 . In einer über diese Korrespondenzprüfung des »poetische[n] Kunstrichter[s]«450 hinausgehenden Vermessung des Gegenstandes perspektiviert Meier eine Steigerung des Kunstrichtertums. Sie manifestiert sich in einer insofern minutiösen Beobachtung, als dass sie eine quantitative und eine qualitative Dimension der im dramatischen Text realisierten Regeln erfassen kann und je nach Realisierungsgrad ein Maß des literarischen Gelingens anzuzeigen im Stande ist. Über diese Fertigkeit verfügt, so Meier, ein »mathematischer Kunstrichter in der Dichtkunst«, der »Grade der poetischen Schönheit« bestimmt, indem er »bey Beurtheilung eines poetischen Werks nach Regeln, auf die Uebereinstimmung desselben mit mehreren und stärkeren, oder weniger und schwächeren Regeln der Dichtkunst, sieht«451 . Ihr Ideal und ihre höchste Vervollkommnung figuriert Meier in einem wahren, philosophisch fundierten wie geschmackssicheren Vermessungskünstler: »Wer die Fertigkeit hätte die Grade der poetischen Schönheiten deutlich zu bestimmen, könnte ein poetischer Meßkünstler heißen. […] Das Schlechte, Mittelmäßige und Treffliche in einer Reihe poetischer Schönheiten deutlich zu bestimmen, wäre das Amt poetischer Meßkünstler«452 . 448 [Gottsched]: Anmerkungen über das 592. Stück des Zuschauers, S. 146. 449 Ebd. 450 [Meier]: Versuch einer philosophischen Abhandlung von dem Mittelmäßigen in der Dichtkunst, S. 268. 451 Ebd. Die ob ihrer Gründlichkeit strenge Arbeit des mathematischen Kunstrichters exemplifiziert Meier an dessen Methode zur Dramenbeurteilung: »Man versteht die Regeln der Schaubühne, und erblickt eine Schrift, die ihrem Verfasser ein Trauerspiel geschienen. Die erste Frage wird seyn: Beobachtet das Werk die Regeln des Trauerspiels? Man sieht es durch und findet, Handlungen, Auftritte, redende Personen, und die noch dazu in lauter guten Versen. Hier sind also Regeln beobachtet. Wird der Kunstrichter zufrieden seyn? Ich will nicht hoffen, daß er die Frage vergessen wird: Sind auch die stärksten Regeln der Tragödie beobachtet? Sind sie alle beobachtet? Hieraus schmeißt er Acten und Scenen, und Sylbenmaße und Reime, auf eine Zeitlang zurücke, und sucht das Wesen des Trauerspiels. So, heißt es, muß die Fabel seyn, so der Character der Helden, so die Sittenlehre, so die Schreibart sc. Und hier sey der Himmel dem neuen Sophokles gnädig, wenn Aristoteles und Aubignac ihm mehr und stärkre Regeln des Theaters vorgeschrieben, als er halten konnte.« (Ebd., S. 256f.) 452 Ebd, S. 268. Ein wenig unklar bleibt das Verhältnis zwischen den beiden Steigerungsfiguren des Kunstrichters. Aus der Argumentation der Abhandlung heraus lassen sich zwei unterschiedliche Lesarten bezüglich ihrer Differenz verfolgen. In einer ersten, ließe sich zugespitzt behaupten, liegt diese lediglich in einer terminologischen Aufwertung. Mathematischer Kunstrichter und poetischer Meßkünstler tun bei unterschiedlicher Benennung das Gleiche, wie die Beschreibung vermuten lässt, die an der oben zitierten Stelle von der Tätigkeit des

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Die regelmäßige Beurteilung der dramatischen Literatur, die zugleich über Anleitung und Erziehung der Dichter die Produktion ihres Gegenstandes in quantitativer wie qualitativer Hinsicht zu stimulieren und zu steuern versucht, prosperiert allerdings in einer anderen medialen Umgebung als den großen, geschlossenen Regelwerken wie der Critischen Dichtkunst. Die Möglichkeiten, die dramatischen Bestände gerade in ihrem Anwachsen mit Urteilssprüchen normierend zu begleiten, potentiell Einfluss zu nehmen auf die Rezeption der Unterrichtsinhalte der moralischen Anstalt, dabei im Vollzug die eigene Kunst der Beobachtung und Beurteilung kontinuierlich vorzuführen und in dieser Vorführung wiederum Produktions- wie Rezeptionsunterricht breitenwirksam zu erteilen, diese Möglichkeiten bieten sich stärker in periodischen Medien, von den Moralischen Wochenschriften bis hin zu expliziten Theaterjournalen.453 hier erstmals und noch als mögliche Spielart des Kunstrichters im Text eingeführten mathematischen Kunstrichters gegeben wird: »Wer die Fertigkeit hat, Grade der Vollkommenheiten, nach den Regeln einer Kunst, deutlich zu beurtheilen, könnte eine mathematischer Kunstrichter heißen.« (Ebd., S. 257) In einer zweiten Lesart überschneiden sich die Tätigkeiten beider zwar in diesem Punkt, das Spezifikum des Messkünstlers liegt jedoch in einer von ihm gestifteten, skalierenden Ordnung und Systematik im literarischen Feld: Neben der Zuordnung von ›Schlechtem, Mittelmäßigem und Trefflichem‹ ist seine Messkunst allein in der Lage, »[d]ie Grenzen der Prose und Poesie deutlich zu bestimmen« (ebd., S. 268). Ersteres hatte tendenziell bereits Gottsched vom Kunstrichter gefordert, allerdings mehr auf die Direktheit als auf die das Urteil präzisierende wie transparentmachende Qualität der Graduierung abgehoben und zugleich den, so lässt sich retrospektiv sagen, angeschwärzten pädagogischen Nutzen betont: »So bald sich aber strenge Beurtheiler unter den Gelehrten hervorthun, die ein jedes Kind bey seinem rechten Nahmen nennen; das Gute, gut; das Gründliche, gründlich; das Schlechte schlecht; das Matte, matt; das Unsinnige unsinnig, und das Abgeschmackte abgeschmackt nennen: So bald kommt viele Bücherschreiber Furcht und Zittern an.« (Die vernüntigen Tadlerinnen, XIV. Stück. Freytags, den 12. April 1726, S. 105f.) 453 Vgl. allgemein Paul Raabe: Die Zeitschrift als Medium der Aufklärung, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 (1974), S. 99-136. Raabe skizziert wesentliche Aspekte und Ansprüche der Zeitschrift als Medium der Aufklärung anhand einer Replik des im Verlauf der vorliegenden Arbeit noch im Fokus stehenden Joachim Heinrich Campe auf Christian Garves »Einwurf wider die Nützlichkeit periodischer Schriften« aus dem Braunschweigischen Journal von 1788, vgl. ebd. S. 105-108; vgl. zu den Moralischen Wochenschriften Martens: Die Botschaft der Tugend; zu den Theaterjournalen, ihren Ansprüchen und Inhalten die Übersichten bei Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 2-21 und Hans-Joachim Jakob: Theaterperiodika und Kulturzeitschriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts als Quellen für die historische Theaterpublikumsforschung, in: Hermann Korte, ders. und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 51-70, insbes. S. 57-70; zur (pädagogischen) Rolle der Theaterjournalisten und ihrer Zeitschriften Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin, S. 160-176.

II Die Pädagogisierung des Theaters

An deren Anfang454 steht mit den Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters noch der Anspruch, Regelwerk, retrospektive und aktuelle Beobachtung des dramatischen Feldes im Medium der Zeitschrift zu verbinden. Methode und Anspruch der Kritik entsprechen dabei grundsätzlich dem Kunstrichtertypus, wie er in den Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit Kontur bekommt. Lessing und Mylius, der selbst an der Zeitschrift aus dem Gottschedumfeld mitgewirkt hatte, überführen nun allerdings auch die Grundlagen des Kunstrichterurteils in die Periodizität des Mediums. Sie setzen kein vorgelagertes, in sich geschlossenes Regelwerk mehr (als allgemein bekannt) voraus, sondern wollen dieses, dem pädagogischen Anspruch ihrer »Fachzeitschrift«455 gemäß und deren serieller Form entsprechend, in einzelnen Abhandlungen nach und nach zusammentragen und bekannt machen: »Wir wollen teils auf die sehen, die zu ihrer Arbeit, oder zur Verbesserung ihres Geschmacks, noch Vorschriften nötig haben; teils auf die, die nur durch Muster aufgemuntert zu werden brauchen. Der Erstern wegen wollen wir alles aufsuchen, was sowohl alte als neue, sowohl einheimische als ausländische Kunstrichter von der Einrichtung der Schauspiele geschrieben haben. […] Die drei Einheiten sind auch Schülern bekannt. Allein Abhandlungen über die Wahrscheinlichkeit, über das Komische, über das Erhabene, über die Charaktere, über die Sittensprüche, und über andre beträchtliche Teile sowohl der Tragödie als Komödie werden vielen, wo nicht was ganz Neues, doch was Angenehmes sein.«456 Damit einher geht der Anspruch, einen kontinuierlichen Bezug zwischen Theaterrespektive Dramentheorie und -praxis herzustellen und über die Kunstrichterfunktion beständig zu aktualisieren: »Was wir alsdann von den Regeln sammeln, wollen wir in der Beurteilung der neusten theatralischen Stücke anzuwenden suchen.«457 Dieses Regelwerk wird aber zugleich nicht länger als ein bereits Vollständiges gedacht, Lessing und Mylius sehen die Grenzen der ›Sammlung‹ nicht notwendig als deckungsgleich mit dem Umfang ihres Anspruches, »so viel in unsern Kräften steht, zur Aufnahme des Theaters beizutragen.«458 Dazu gehört auch die 454 Vgl. etwa Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 47 und Jakob: Theaterperiodika und Kulturzeitschriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, S. 57. 455 Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 12. 456 Lessing/Mylius: Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, Vorrede, S. 357. 457 Ebd. Eine solche »Priorität der Regeln vor dem Geschmack« macht Lessing noch in der Hamburgischen Dramaturgie explizit »für die Tätigkeit des professionellen Kritikers« (Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 67) geltend: »Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfodert.« (HD, 19. Stück, S. 275) Vgl. auch Merschmeier: Aufklärung – Theaterkritik – Öffentlichkeit, S. 61f. 458 Lessing/Mylius: Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, Vorrede, S. 356f.

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Bereitschaft, das Regelwerk im Bedarfsfall selbst zu vervollständigen, es nicht allein zu kompilieren, sondern mit daran zu arbeiten, ohne jedoch ein diskursiv gesichertes Terrain zu verlassen: »Wo wir von diesem oder jenem keine Abhandlung, in was für einer Sprache es sei, finden, wollen wir unsre eignen Gedanken mitteilen. Wir wollen uns bestreben, daß sie allezeit von der Vernunft und von den Beispielen alter und neuer Meister unterstützt sein mögen.«459 Ähnlich beabsichtigen die beiden jungen Journalisten auch, Fokus und Ton der Kritik zu modifizieren. Ausgehend vom Anspruch der Unparteilichkeit und ohne diesen kunstrichterlichen Konsens zu verlassen, setzen sie sich zugleich von der bisherigen Urteilspraxis ab. Durch einen konstruktiveren Ansatz soll die Empfänglichkeit für Kritik gesteigert und ihrem pädagogischen Ansinnen eine günstigere Aufnahme ermöglicht werden: »Diese Beurteilung soll allezeit ohne Bitterkeit, ohne Vorurteile angestellt werden. Wir wollen, wider die Gewohnheit der Kunstrichter, mehr das Schöne als das Schlechte aufsuchen. Wir wollen mehr loben, als tadeln. Wir glauben also, daß niemand unsre Kritik scheuen werde.«460 Spätestens mit und ab den Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters beginnt sich zudem eine Forderung zu erfüllen, die Gottsched bereits in den 1720er Jahren erhoben hatte und der er in seinen eigenen Moralischen Wochenschriften nachzukommen bestrebt war: die Verknüpfung von Kunstrichtern und Journalisten und damit die Überführung der erzieherischen Tätigkeit der ersteren ins breitenwirksame, ebenfalls pädagogisch motivierte Medienterrain der letzteren:461 »Wie nützl. wäre es also, wenn alle Hn. Journalisten zugleich gründliche und aufrichtige Critici wären. Wie viel elendes Zeug würde niemahls zum Vorschein kommen; wenn die Scribenten von ihnen furchtsam gemacht würden. Und was vor Fleiß würden rechtschaffene Leute nicht anwenden, alle Regeln der Kunst in ihren Büchern sorgfältig zu beobachten, wenn sie gewiß wüsten, daß man ihren Verdiensten den billigen Ruhm öffentlich würde wiederfahren lassen. Selbst die Halbgelehrten, die sonst im Bücher lesen denen Kindern gleich sind, die weder wissen, was recht, noch lincks ist, würden endlich durch das Lesen solcher Auszüge von Büchern, welches ohnedem ihr meistes Studiren ist, einen bessern Geschmack bekommen, und mit der Zeit unterscheiden lernen, was wohl, oder übel geschrieben sey?«462

459 Ebd., S. 357. 460 Ebd. 461 Vgl. komprimiert etwa Wolfgang Martens: Die Geburt des Journalisten in der Aufklärung, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 (1974), S. 84-98, inbes. S. 89-91. 462 Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen, XIV. Stück. Freytags, den 12. April 1726, S. 107.

II Die Pädagogisierung des Theaters

Mit dieser Vereinigung werden nicht nur die Zeitschriften zum Medium einer dergestalt vollends »institutionalisierte[n] Kritik«463 , der Journalist wird potentiell die professionelle Personalunion der pädagogischen Funktionstrias von Philosoph, Dichter und Kunstrichter464 und erweitert zugleich das Einsatzgebiet des letzteren: Es wird in zunehmendem Maße, und auf dem quantitativen Höhepunkt der Theaterjournalistik, anstelle des Studierzimmers, der theatrale Schauplatz, wo der Kunstrichter als Theaterkritiker neben der literarischen auch die histrionische und die Rezipientenqualität des Theaterabends seiner kritischen Begutachtung unterzieht.465 Er beobachtet und spricht dann aus einem lokalisierbaren Kompetenzzentrum des Auditoriums heraus, auf dessen Verhalten und Reaktionen er je nach Bezug seiner Kritik gar keine oder alle Aufmerksamkeit legt. Der Kunstrichter »bekümmert […] sich wenig darum, ob es [das Stück – AW] hundertmal vorgestellet worden, oder einmal? ob man dabey tausendmal in die Hände geklatschet, oder gezischet hat? Ein regelloses Stück wird er allemal verwerfen […]. Ein gutes Stück aber wird er hoch schätzen, gesetzt daß es auch nur einen einzigen Abend vorgestellet, und den Morgen darauf in ein Schneeschauer zerschnitten würde.«466 Für die Beurteilung der dramatischen Arbeit dürfen Publikumsreaktionen also keinerlei Gewicht haben. Sie sollen sich vielmehr umgekehrt am vernünftigen Urteil des Kunstrichters orientieren. Er ist als journalistisch tätiger Theaterkritiker nicht 463 Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 71. Eine solche Institutionalisierung der Kritik sieht Wild hingegen erst mit Lessings Anstellung am Hamburger Nationaltheater einsetzen, vgl. Theater der Keuschheit, S. 277. 464 Es kann, so Martens, angesichts des breiten, pädagogisch zentrierten Programms des aufklärerischen Journalismus, »nicht wunder nehmen, daß der Journalist, der sich solcher Aufgaben angenommen hat, sehr oft zugleich, sozusagen in Personalunion, ein Dichter oder ein philosophischer Schriftsteller gewesen ist.« (Die Geburt des Journalisten in der Aufklärung, S. 97) 465 Bereits Lessing und Mylius nehmen sich vor, ihr Regelwerk auch auf die Aufführung auszuweiten und neben der Arbeit des Schauspielers auch Bühnenbild und Kostüm zu fokussieren, vgl. Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, Vorrede, S. 360f. Dass in den Theaterjournalen diese Fokusverschiebung bald weg von einem theatertheoretischen und -histo‐rischen Fokus und hin zu »aktuelle[n] Aufführungs- und Situationsbeschreibungen« führte, betont Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 103 im Anschluss an HaiderPregler. Diese sieht aber darüber hinaus mit der steigenden Quantität der Journale noch einen qualitativen Verlust einhergehen: »Mit der wachsenden Beliebtheit der Theaterjournalistik sinkt die durchschnittliche Qualität der immer zahlreicher erscheinenden Produkte.« (Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 180) Auch Maurer-Schmoock spricht von »schließlich überhand nehmenden Gazetten, Almanachen, Theaterjournalen und -journaillen.« (Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, S. 123) Ausführlich und differenziert behandelt hingegen Heßelmann: Gereinigtes Theater die Fokussierungen, Redundanzen, Stärken und Schwächen der Theaterperiodika. 466 [Gottsched]: Anmerkungen über das 592. Stück des Zuschauers, S. 146.

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mehr nur philosophisch‐dramatischer Messrichter über die Arbeit der Dichter, sondern behauptet für sich eine privilegierte Rezipientenposition, von der aus er seine unparteiischen, objektiven Urteile stellvertretend für dieses Publikum, aber auch vorbildlich zu ihm zu sprechen in Anspruch nimmt. In Joseph Addisons Spectator,467 den Luise Adelgunde Victorie Gottsched ab Ende der 1730er Jahre ins Deutsche übersetzt, findet sich ein narrativ eingeleitetes Plädoyer für die Institutionalisierung einer solchen inhaltlich kompetenten, im wahrsten Sinne des Wortes tonangebenden, darüber ihre Kompetenz behauptenden und zugleich für die pädagogischen Absichten der Reform anschlussfähigen468 Instanz der Kritik. Thema des 235. Stücks ist zunächst die Figur des Kistenmachers, aus dessen Portrait die Fertigkeiten und das Anforderungsprofil des Kunstrichters als Teil des Publikums gewonnen werden. Es handelt sich beim Kistenmacher um einen ebenso geheimnisvollen wie geschmackssicheren Unbekannten, der als regelmäßiger Theaterbesucher stets »von der obersten Galerie« aus minutiös die Darbietungen beobachtet, also »auf alles, was auf der Bühne vorgeht, sehr aufmerksam [ist].«469 Zwar bringt er sein Gefallen lediglich dadurch zum Ausdruck, dass er einen mitgeführten Stab »mit einer unglaublichen Stärke auf das nächste Stück Bauholz [schmeißt], das neben ihm steht«470 , allerdings ist die ihm zugesprochene »Geschmackshoheit« nicht allein Folge seiner offenkundigen »Geräuschhoheit«471 . Denn seine mit einem wahren Knall verkündeten Urteile vereinigen eine Vehemenz, der der Rest des Auditoriums Folge leisten soll und auch leistet, mit Qualität: Sein Schlag wird nämlich »allemal so gehörig angebracht […], 467 Vgl. zur Bedeutung des Spectator als Moralischer Wochenschrift Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 23-28 und, unter Rückbezug auf Martens Studie, zur produktiven wie rezeptiven Rolle des ›Zuschauers‹ in den Moralischen Wochenschriften, wie sie in Addisons Projekt ihre »Urform« findet Johannes Friedrich Lehmann: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg i.Br. 2000, S. 35-40, hier: S. 37. 468 Vgl. Hermann Korte: »Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten«. Die Akteure vor der Bühne in Texten aus Theaterzeitschriften und Kulturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: ders., Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 9-49, hier: S. 33. 469 [Joseph Addison]: Das 235. Stück [1711], in: Der Zuschauer – aus dem Engländischen übersetzt. Drittel Theil. Zweyte verbesserte Auflage, Leipzig 1751, S. 330-333, zitiert nach: Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hrsg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 115-118, hier: S. 115f. 470 Ebd., S. 116 471 Korte: Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten, S. 33. Der von Korte für den ursprünglichen Erscheinungszusammenhang ausgemachte satirische Charakter des Stücks darf gerade auf Grund der gleichermaßen von ihm betonten Passgenauigkeit für die deutsche Theaterreform in seinem Übersetzungskontext als ›lost in translation‹ gelesen werden.

II Die Pädagogisierung des Theaters

daß auch der verständigste Kunstrichter niemals etwas dawider sagen könnte.«472 Erst in dieser Kombination ist er dem »Comödienhause […] nützlich«473 , und aus seinem Profil, das Durchsetzungskraft und Geschmackssicherheit in einer publikumspädagogischen Wirkungsabsicht vereint, lässt sich über die Gewinnung eines idealen Kunstrichters zugleich der »Nutzen«474 des Textes gewährleisten: Urteilswie Durchsetzungskraft, Wissen und Fleiß machen den Anforderungskatalog einer als fester Bestandteil der theatralen Apparatur institutionalisierten wie professionalisierten Kritik aus, die im Auditorium präsent und pädagogisch wirksam ist: Man solle, so schlägt der Text vor, »irgend einen handfesten Kunstrichter zu seinem [des Kistenmachers – AW] Amte erwählen, und ihm ein billiges Gehalt auf Lebenszeit setzen […].Damit aber diese Stelle allezeit nach Verdiensten vergeben würde, so wollte ich, daß niemand dazu käme, der nicht die stärksten Proben einer gesunden Urtheilskraft, und eines starken Armes gegeben hätte; und der nicht nach Gelegenheit, so wohl einen Ochsen erschlagen, als eine Auslegungschrift über Horazens Dichtkunst schreiben könnte. Kurz, ich wünschte, daß Herkules und Apollo gehörig in ihm vereinigt wären, und er zu diesem wichtigen Amte so tüchtig seyn möchte, daß unsere Nachkommen den Kistenmacher nicht vermüssen dürften.«475 Es sind allerdings nicht die Fäuste eines heroischen Kämpfers, sondern die pädagogischen Register zwischen (verbalen) ›Zuchtruthen‹, scharfem Tadel und ermutigendem Lob, die der Kunstrichter-Journalist als Erzieher der Dichter und des Publikums schwingt, und dies auch nicht – zumindest nicht dergestalt überliefert – im Zuschauerraum während der Aufführung. Er wahrt jedoch einen gleichermaßen starken Adressatenbezug. In Artikeln und Abhandlungen richten sich seine Beobachtungen und Urteile an ein Publikum als Leser von Zeitschriften, die insofern als »besonders wichtiges Organ der Publikumserziehung«476 gelten können, als dass sie Erzieherrede, Erziehungsaufgaben, -ziele und -bedürftige hierarchisch relationiert in einem Medium vereinen. Die kunstrichterlichen Urteile treten also nicht mit einem minderen Durchsetzungsanspruch auf, sie besetzen vielmehr die maßgeblichen Kommunikationskanäle einer sich zunehmend medial organisierenden Öffentlichkeit, und bestimmen, auf den Prämissen der pädagogisch wirksamen Schaubühne ruhend, die Gegenstände, Maßstäbe, Grenzen, Formen und Inhalte des darüber Sagbaren: Die Deutungshoheit des Kunstrichter-Journalisten ist von der Diskurshoheit der moralischen Anstalt ebenso getragen, wie sie stabilisierend und amplifizierend zu ihr beiträgt. 472 473 474 475 476

[Addison]: Das 235. Stück, S. 116. Ebd. Ebd., S. 117. Ebd. Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 175.

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Gleichwohl, auch das lässt sich an die Erzählung des Kistenmachers anschließen, fordert der Kunstrichter eine mustergültige Rezeption nicht nur ein, sondern inszeniert sich als deren Verkörperung. Er ist als einer der ›Führer des guten Geschmacks‹ lebendes Exempel für die richtige Beurteilung der theatralen Darbietungen und gibt vor, wann das Publikum wie auf was reagieren soll. Insofern kommt ihm zweifellos jene »eigentümlich dialektische Aufgabe« zu, von der Habermas spricht: Der Kunstrichter »versteht sich als Mandatar des Publikums und als dessen Pädagoge zugleich«477 , und hat in dieser letztgenannten Rolle alle Hände voll zu tun. Seine Funktion zielt auf die Herausbildung einer der neuen Theaterform korrespondierenden Form der Rezeption, die sich durch eine angemessene Wahrnehmung und Bewertung des Bühnengeschehens, aber auch durch ein spezifisches, maßvolles Verhalten während des Theaterbesuchs auszeichnen muss. Die pädagogische Komponente im Aufgabenprofil der journalistischen Kunstrichter wird diesbezüglich insofern zu einer doppelten, als dass sie sich eben »[n]icht nur mit dem Geschmack, sondern auch mit dem Benehmen des Publikums im Zuschauerraum befaßt[]«478 . In beiderlei Hinsicht wird das Publikum auf ein Ideal verpflichtet, das seine Erzieher überhaupt erst als Kontrastpunkt für einen mangelhaften Status quo und Fixpunkt für den anzuleitenden pädagogischen Prozess in ihren Artikeln und Abhandlungen modellieren.479 Dabei werden im Verlaufe der Reform ebenfalls verschiedene Register bedient. Zielt die Erziehung vor allem zu Beginn der Reform und im Umfeld der Moralischen Wochenschriften, wie Ruedi Graf in dezidierter Verschärfung des Habermas’schen Diktums betont, darauf, »das Publikum nicht zum Räsonieren, sondern zur Räson«480 zu bringen, setzt sie, bei gleichzeitiger Akzentuierung eines frontalen Unterrichtsarrangements, zunehmend auf Strategien, die das Zuschauerverhalten über Selbst- und bei Bedarf wechselseitige Fremdbeobachtung regulieren. Diese Pädagogisierung des Publikums gilt es im folgenden Kapitel ausführlicher zu untersuchen.

5   Die Pädagogisierung des Publikums Angesichts der Tatsache, dass sich die aufklärerische Theaterreform wesentlich über die erzieherische Potenz der Schaubühne legitimiert, ist ein besonderes Au477 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied und Berlin 8 1976, S. 57. 478 Krebs: Die frühe Theaterkritik, S. 474. Ebenso Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin, S. 176. 479 Vgl. zu dieser Ausrichtung an einem Publikumsideal Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin, S. 166. 480 Graf: Das Theater im Literaturstaat, S. 294.

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genmerk auf ihr Publikum wenig überraschend.481 Die Zuschauer sind zwar bei weitem nicht die einzige Instanz, aber der Fluchtpunkt jener großen, sich verzweigenden und ihre Elemente in unterrichtende und beobachtende Bezüge zueinander setzenden Pädagogisierung, die das Literaturtheater und seine Akteure maßgeblich hervorbringt und formt. Sie rücken dabei nicht allein hinsichtlich ihrer Geschmackssicherheit in den Blick, sondern werden in ihrem gesamten Betragen beurteilt, gelobt oder getadelt und in unterschiedliche ›Klassen‹ eingeteilt, in denen eine räumliche Verteilungs- sowie eine pädagogische Steigerungs- und Optimierungslogik Unterrichtsstand und Erziehungsgrad systematisieren und transparent machen, je nachdem, wer sich während der Aufführung wo aufhält und wie auf was reagiert. Für beide pädagogischen Teilprojekte, die Austarierung und Normierung von Geschmack und Verhalten,482 sind jedoch nicht allein die journalistischen Kunstrichter verantwortlich, die beides, angemessene Reaktionen und eine ideale Rezeptionshaltung als deren Ermöglichungsgrund vorleben und -schreiben. Den als defizitär und korrekturbedürftig wahrgenommenen,483 weil dem intendierten pädagogischen Bühnenprogramm dezidiert zuwiderlaufenden Zuständen im Auditorium sollen schließlich vor allem erzogene Zuschauer selbst erzieherisch begegnen. Dass ein breiter Erfolg dieses Unternehmens tatsächlich auf sich warten lässt und aus der Perspektive eines reformierten Theaters gleichwohl nichts von seiner grundsätzlichen Notwendigkeit eingebüßt hat, wird etwa noch in der einschlägigen Formel aus Schillers großer Theaterklage zu Beginn der 1780er Jahre deutlich: »Bevor das Publikum für seine Bühne gebildet ist, dörfte wohl schwerlich die Bühne ihr Publikum bilden.« (TT, S. 170) Aber auch wenn sich das Ziel einer umfassenden Umstrukturierung der Theaterrezeption und des Auditoriums im 18. Jahrhundert 481 Vgl. etwa Georg-Michael Schulz: Der Krieg gegen das Publikum. Die Rolle des Publikums in den Konzepten der Theatermacher des 18. Jahrhunderts, in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 483-502, insbes. S. 485-487; außerdem Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 14f.; ausführlich Heßelmann: Gereinigtes Theater, Kap. XI. »Die Erziehung des Publikums«, S. 391-413. Dass mit dem Literaturtheater der Reform die Rezeptionssituation ›modernen Zuschauens‹ ihren programmatischen Anfang nimmt, also die klare Trennung von Bühnenraum und Auditorium durch die vierte Wand sowie die idealiter konzentrierte Beobachtung des Bühnengeschehens durch das Publikum, argumentiert Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 17-24. 482 Grafs Definition der Geschmackserziehung als »Durchsetzung einer Geschmacksnorm bei einem Laienpublikum« (Das Theater im Literaturstaat, S. 294) ist dementsprechend um die Durchsetzung einer Verhaltensnorm zu ergänzen. 483 Vgl. ausführlich Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 391-413; außerdem Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 176, Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin, S. 166-168 und Krebs: Die frühe Theaterkritik, S. 474.

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noch nicht maßgeblich realisiert, nimmt das anvisierte Zuschauerarrangement eines motorisch stillgestellten, aufgereiht sitzenden und bloß noch gesetzt in einem verdunkelten Raum sich äußernden Publikums im Zuge der Reform programmatisch Kontur an.484 Dieser Prozess ist in der Forschung wiederholt als Disziplinierung gelesen worden.485 Dem gegenüber soll hier im Folgenden stärker im Sinne eines foucaultschen Verständnisses von Disziplin argumentiert werden, mit Blick also auf die Entfaltung bestimmter, subjektivierender und Wissen generierender Techniken und Mechanismen, die im Zuge der Pädagogisierung des Publikums greifen. Das neue Zuschauerarrangement wirkt gleichermaßen normalisierend wie individualisierend: Es ist auf Verhaltens- und Rezeptionsnormen hin ausgerichtet, die es ermöglichen, das Publikum anhand seines tatsächlichen Verhaltens nicht nur »klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend« in den Blick zu nehmen, sondern auch die dabei zutage tretenden »Unterschiede nutzbringend aufeinander ab[zustimmen].«486 Die Blicke, die dies registrieren, stammen dabei, ebenso wie die Korrekturbestrebungen, idealiter aus dem Publikum selbst, in dem sich jeder jedem hinsichtlich seiner Erzogenheit präsentiert. Vor diesem Hintergrund nun gilt es zu untersuchen, dass und inwiefern bestimmte Zustände im Publikum disqualifiziert werden, was für ein Rezeptionsideal dem entgegengesetzt wird, wie unterschiedliche Erziehungsstände hier in 484 Vgl. etwa Jakob: Theaterperiodika und Kulturzeitschriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, S. 53. Dieser Prozess prägt maßgeblich, was die historische Theaterpublikumsforschung als »normative Ebene des Publikumsbegriffs«, also als »den Diskurs über den Zuschauer und das Publikum im zeitgenössischen Schrifttum« (ebd., S. 56) bezeichnet und untersucht. Auch Helmut J. Schneider betont, dass »der Theatersaal […] als diskursiver Ort verstanden werden [kann] […], weil es natürlich nicht um die tatsächlichen Theaterverhältnisse, sondern um deren programmatische Konstruktion geht, die dann freilich ihrerseits auf die reale Theatersituation zurückwirkte[…].« (Helmut J. Schneider: Familiendramaturgie und Nationaltheateridee: Zur Publikumskonzeption in der deutschen und französischen Dramaturgie des 18. Jahrhunderts, in: Barbara Schmidt-Haverkamp, Uwe Steiner, Brunhilde Wehinger (Hg.): Europäischer Kulurtransfer im 18. Jahrhundert. Literaturen in Europa – Europäische Literatur?, Berlin 2003, S. 59-77, hier: S. 63) In der Forschung ist in Zusammenhang mit dem neuen Publikumsarrangement wiederholt eine korrespondierenden Rezeptionshaltung von Theaterzuschauer und Leser betont worden, vgl. u.a. Graf: Das Theater im Literaturstaat, S. 290; Schneider: Familiendramaturgie und Nationaltheateridee: S. 65. Gerade weil dieser Erziehungsprozess sich jedoch »über Jahrzehnte hinzog« (Deiters: Die Entweltlichung der Bühne, S. 40), kann zumindest für den empirischen, anders als für einen programmatisch entworfenen Zuschauer im 18. Jahrhundert und noch um 1800 nicht von einer solchen Korrespondenz gesprochen werden, wie Korte sehr nachdrücklich festhält, vgl. Korte: Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten, S. 12. 485 Vgl. u.a. Krebs: Modernität und Traditionalität in Gottscheds Theaterreform; Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule; Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin; Heßelmann: Gereinigtes Theater und Wild: Theater der Keuschheit. 486 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 237.

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einer Bewegung erfasst und verbessert werden können und wo sich warum diejenigen Zuschauer finden lassen, die als erzogene Erzieher an der Pädagogisierung des Publikums mitwirken.

5.1   Bestandsaufnahme Ein Geschmacks- und Verhaltenswächter von herkulisch‐appolinischer Autorität wie der erwähnte Kistenmacher fehlt ganz offensichtlich an jenem Theaterabend, den ein fingierter Leserbrief im XVII. Stück den Vernünftigen Tadlerinnen schildert. Verhaltensdefizite schlagen sich hier auf verschiedenen Ebenen nieder, sie betreffen sowohl die Relationen der Zuschauer untereinander, als auch die technischen und räumlichen des Theaters. Sie wiegen dabei noch umso schwerer, als dass sie nicht unwesentlich von den hinsichtlich Erziehung und öffentlichem Betragen offensichtlich hinter den Erwartungen zurückbleibenden, theaterfreudigen Studenten im Publikum an den Tag gelegt werden.487 Aber nicht nur. Zunächst macht sich offenbar ein korpulenter Herr einen Spaß daraus, der ohnehin schon viel zu weit von der Bühne weg und nur dank ihres umsichtigen Begleiters überhaupt platzierten Verfasserin des Leserbriefes kontinuierlich die Sicht zu versperren.488 Doch damit nicht genug, Störungen prägen den ganzen Theaterbesuch: »Ich schweige von der ungezogenen Aufführung derjenigen, die den armen Licht-Putzer mit unendlichen ganz niederträchtigen und abgeschmackten Schmäh-Worten bewillkommnen, so bald er sich sehen lässet: oder zwischen denen Handlungen des Schau-Spieles mit denen Füssen ein Donner-Wetter nach dem andern erregen: oder auch selbst ungescheut auf den Schau-Platz treten und die Zahl derer Comödianten wider ihren Willen vermehren. Dieses werdet ihr ohnedem als solche Fehler vorzustellen wissen, die sich am allerwenigsten vor diejenigen schicken, welche auf Academien nicht nur in Künsten und Wissenschaften sondern auch in guten Sitten zunehmen sollen.«489 Berichte über solche und andere Arten von Aufmerksamkeits- und Rezeptionsstörungen finden sich auch und noch in der umfangreichen Theaterjournalistik der zweiten Jahrhunderthälfte: Das »Geräusch eines unnöthigen Hin- und Herlaufens, unzeitiges Geplauder, während der Schauspieler spricht, und hunderterley ähnliche Irrungen« zählt etwa ein Artikel in der Wochenschrift Theatralischer Zeitvertreib auf und rührt damit, so die Selbsteinschätzung, lediglich an die Spitze eines 487 Vgl zur Zuschauergruppe der Studenten für diesen Zusammenhang Arno Paul: Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums. Eine strukturell‐funktionale Untersuchung über den sog. Theaterskandal anhand der Sozialverhältnisse der Goethezeit, München 1969, S. 199-280. 488 Vgl. Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen, XVII. Stück. Mittwochs, den 25. April 1725, S. 130f. 489 Ebd., S. 131.

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Eisberges: »Wenn sich doch einer hinsetzen möchte und ein Büchelchen schrieb, betitelt: Unarten der Zuschauer! An Materie sollt’s ihn nicht fehlen«490 . Einen Vorgeschmack auf ein solches ›Büchelchen‹ gibt der Text selbst. Er tut dies jedoch nicht als gelehrte Abhandlung oder theoretische Erziehungsschrift, sondern durch kurze Szenen, die »dialogisch«491 konzipiert sind und sich, gleichwohl prosaisch angeordnet, weitestmöglich an eine dramatische Form annähern, die unterschiedlichen Sprecher also deutlich markieren, ohne sie jedoch als Figuren zu benennen.492 Auf diese Weise können die problematisierten Erziehungsdefizite weiter Teile des Publikums nicht bloß behauptet, sondern anhand von exemplarischen Situationen in einer formal suggerierten Unmittelbarkeit vorgeführt und veranschaulicht werden.493 Diese Präsentation der verbesserungswürdigen Zustände des Zuschauerraums richtet sich an eine Leserschaft, die prinzipiell Teil dieses Auditoriums ist und darüber zu einer optimierungsorientierten Reflexion des eigenen Verhaltens gelangen soll.494 Einen potentiell besonders effizienten Anstoß zu diesem Prozess gibt der Text aufgrund seiner Kombination einer die Problematik als Problematik begründenden Argumentation und ihrer evidentiellen Darstellung. Zu letzterer befähigt den Verfasser eine für das Drama wie schließlich auch für den Roman konstitutive, dort jedoch jeweils um Innensichten verschiedenen Ausmaßes erweiterte Autorkompetenz:495 »Durch Länge der Zeit und meine Aufmerksamkeit habe ich das Betragen dieser Schmetterlinge genau kennen lernen, und zwar so genau, daß es mir leicht fällt, eine gute Anzahl von ihnen dialogisch zu charackterisieren.«496 Der Verfasser selbst bezeichnet die dargestellten Situationen als »Farcen und Harlekinaden«, die »so häufig während des Trauer- und Lustspiels gespielt 490 [Anonym]: [Über den Schauspieler und sein Publikum], in: Theatralischer Zeitvertreib. Eine Wochenschrift. Erster Theil, Regensburg 1779 und 80, S. 81-85, zitiert nach: Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 119-122, hier: S. 120f. 491 Ebd., S. 120. 492 Ein Beispiel: »›Sie drängen mich da entsetzlich mit ihrem aufwärts gebogenen Arme. Lassen Sie doch das Spielen an der Halskrause und legen Sie ihn vor sich nieder, so können wirs beyde bequem haben.‹ – Um Vergebung! ich habe mir heute früh diesen Ring gekauft, und will ihn jenem Frauenzimmer da oben mit guter Manier sehen lassen. – ›Aber das gute Mädchen sitzt so aufmerksam.‹ – Aber ich kann ihn doch nicht umsonst gekauft und angesteckt haben! – ›Darum kamen Sie also hieher?‹ – Warum sonst? Würd ich just hier unter der Gallerie, so nahe bey ihr Platz genommen haben? – ›So bedaure ich, daß ich gerade neben Sie zu sitzen kommen musste!‹« (Ebd.) 493 Vgl. zu einer solchen Dramatisierung der Form, ihren Evidenzeffekten und ihre Rolle in den Texten der Reformpädagogik III.5. 494 Vgl. Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen, S. 69. 495 Vgl. zu dieser erweiterten Leistung des Romans, seinem Verhältnis zum Drama und einer ihnen gemeinsamen pädagogischen Motivation Kapitel IV. 496 [Anonym]: [Über den Schauspieler und sein Publikum], S. 120.

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[werden]«, als parasitäre Aufführungen während der Aufführung, die jede Wirkungsabsicht von vornherein zum Scheitern verurteilen müssen, weil sie jegliche Aufmerksamkeit für das Bühnengeschehen zersetzen und darüber auch »aufmerksamere Zuschauer«497 beständig daran erinnern, im Theater zu sein. Nicht nur zielt die Reform darauf, diese Erinnerung über das Bannen von Theatralität zu tilgen,498 mit der Disqualifikation als Harlekinade sind zugleich die zu ergreifenden Konsequenzen aufgegeben: Nutzlosigkeit, Maßlosigkeit und Unordnung müssen aus dem Theater verbannt werden, nicht nur auf, sondern auch vor der Bühne. Der Vertreibung des Harlekins durch das Bündnis Gottsched/Neuber soll also eine Austreibung der Harlekinaden im Auditorium folgen, die sich über ein pädagogisches Zusammenspiel von Disziplinierung und Dispositionsmodellierung vollzieht. Wer aber diesen Erziehungsprozess leiten kann und soll, scheint zunächst noch unklar, so die Tadlerinnen: »Auf wen es ankomme dieselbigen [die Zuschauer – AW] zu verbessern, ist uns gleichfalls unbekandt«499 . Klar ist nur, dass etwas geschehen muss und so beginnen die Protagonistinnen von Gottscheds Wochenschrift, sich dieser offensichtlich vakanten Funktionsstelle anzunähern, indem sie ihr Kerngeschäft entsprechend ausbreiten und vernünftig tadeln: »[A]lso bleibt nichts mehr übrig, als denen Zuschauern eine Gefälligkeit, gegen einander, und in Sonderheit gegen das Frauenzimer anzupreisen. Wir hätten es uns nicht eingebildet, daß die dasige studirende Jugend, die ihrer Artigkeit halber allezeit gerühmet worden, zu solchen Klagen über sich Anlaß geben sollte.«500 Vollends angenommen hat sich dieser pädagogischen Notwendigkeit schon bald die Theaterkritik der journalistischen Kunstrichter. Nicht nur zählt »[f]ür viele Theaterjournalisten […] die Beobachtung des Zuschauerverhaltens zu den festen Bestandteilen ihrer Aufführungskritik«501 , es wird mitunter auch Gegenstand eigener Abhandlungen: Von den »Pflichten der Zuschauer« etwa handelt ein Artikel aus Die Logen. Die erste dieser Pflichten ist nichts weniger als eine bestimmte Rezeptionshaltung, und die Zuschauer »zu lehren, wie sie in Comödien sehen sollen«502 , der Anspruch des Verfassers. Die Motivation des Theaterbesuches ist 497 Ebd., S. 120f. 498 Vgl. zu dieser wesentlichen Antitheatralität der Reform ausführlich Wild: Theater der Keuschheit. 499 Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen, XVII. Stück. Mittwochs, den 25. April 1725, S. 132. 500 Ebd. 501 Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 392. Vgl. auch Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 185-189; Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 30f. 502 [Anonym]: Ueber die Pflichten der Zuschauer, in: Die Logen, hg. von Jost Anton von Hagen, Berlin, Leipzig 1772, S. 89-104, zitiert nach: Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theaterund Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 143-153, hier: S. 143.

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dabei nebensächlich, die wesenhafte Nützlichkeit der Schaubühne legitimiert auch den Besuch zur bloßen Unterhaltung, gerade weil sie ihn unter der Hand in eine nützlich zugebrachte, lehrreiche Zeit verwandelt.503 Zu den maßgeblichen »Pflichten« aber gehört es bei jeder Motivation, dass die Zuschauer »sich in die ganze Disposition des Geistes setzen,« die mit dem Grund des Besuches korrespondiert, dass also etwa für den »guten Zeitvertreib« eine Disposition vonnöten ist, »in der wir Vergnügen schmecken können.«504 Über die geforderte Korrespondenz von Motivation und Disposition lässt sich das herzurichtende Zuschauerprofil formal genauer bestimmen: Dessen implizite Grundlage ist eine Fähigkeit zur Selbstbeobachtung. Sie muss in Anschlag gebracht werden, um die eigene ›Disposition des Geistes‹ mit der für den Rezeptionsakt nötigen ab- und sie ihr dann im Bedarfsfall anzugleichen. Die zu errichtende Disposition selbst manifestiert sich in einem sich wechselseitig bedingenden und regulierenden Gefüge von Aufmerksamkeit und Verhaltensangemessenheit. Auf diese beiden Bezugspunkte konzentriert sich dementsprechend auch die Erziehungsarbeit am Publikum. Sie zielt auf eine Umverlegung der Aktivitäten505 im Auditorium vom Lärmen und Laufen zum Schauen und Lauschen. Die Entwicklung ersterer, der Aufmerksamkeit, wird dabei mitunter in Korrelation mit dem theatralen Repertoire gedacht, letzteres, das Verhalten, bestimmen vornehmlich Fragen des Maßes und der Mäßigung.

503 »Denn kann ein Zeitvertreib unschuldiger und unterhaltender, für die Gesellschaft nützlicher, und auch wohl lehrreicher seyn, als die Comödie?« ([Anonym]: Ueber die Pflichten der Zuschauer, S. 144) 504 Ebd. 505 Eine Einschätzung dieses Vorgangs als Durchsetzung einer reinen »Passivität« und »Entmündigung des Theaterpublikums« (Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 10 und 17) übersieht tatsächlich diese Umverlegung: Der motorischen Stillstellung soll eine Dynamik »auf der mentalen Ebene« (Deiters: Die Entweltlichung der Bühne, S. 38) entsprechen, die körperliche Passivität Voraussetzung für eine »Verstehensaktivität« (Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 18) werden. Es ist ein letztlich politisches und gemeinschaftskonstituierendes Potential dieser als konstitutiv betrachteten Aktivität des Zuschauens, die Jacques Rancière emphatisch vom emanzipierten Zuschauer sprechen lässt, vgl. Der emanzipierte Zuschauer, in: ders: Der emanzipierte Zuschauer. Aus dem Französischen von Richard Steurer, Wien 2009, S. 11-34. Verglichen »mit dem Parterre des Shakespeare-Theaters, mit der ›furia mosqueteril‹, die mit Klappern, Schellen und Pfeifen vor der Bühne Lope de Vegas Beifall und Mißfallen demonstrierte, mit den Stehrängen der französischen Komödie«, also mit den lange Zeit selbstverständlichen, bewegungsreichen und lautstarken Zuständen und Vorgängen im Auditorium handelt es dabei gleichwohl um ein »Nur-Zuschauen« (Hans Blumenberg: Glanz und Elend des Zuschauers. Das Problem der Freiheit im Theater, in: ders.: Schriften zur Literatur. 1945-1958. Herausgegeben von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Berlin 2017, S. 172-174, hier: S. 172f. und 174.).

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5.2   Die Organisation von Aufmerksamkeit In seinen Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters, geschrieben 1747, postum veröffentlicht 1764, entwirft Johann Elias Schlegel ein Unterrichtsmodell, das die Wirkungen und Mechanismen der moralischen Anstalt sehr viel dezidierter von ihrem Publikum her denkt. Er knüpft darin Zuschauererziehung als Entwicklungsprozess an eine größtmögliche Bandbreite theatraler Darstellungsniveaus, und macht den jeweiligen ›Leistungsstand‹ über ein transparent gedachtes Verhältnis von gezeigter Reaktion und Geschmacks- bzw. Gesinnungslevel beständig lesbar. Die Überlegungen kommen ohne eine erzieherisch wirksame Kunstrichterfigur aus und setzen allein auf eine von entsprechenden Inhalten gewährleistete »kultivierende Wirkung des Theaters«:506 Moralischer Niederschlag wie Rezeptionsoptimierung verdanken sich dem Zusammenspiel von theatraler Apparatur und dramatischer Qualität, weil schon »die Gewohnheit, Komödien zu sehen« gewährleistet, dass »der Geschmack nach und nach feiner und edler wird.« (DT, S. 266) Schlegels Text skizziert dabei das Projekt dieses Verbesserungsprozesses. Dass in seiner Konzeption »das Theater […] seinem Wesen nach bloß zum Ergetzen gemacht ist« (DT, S. 271),507 die unterrichtende Komponente also nicht im Fokus seiner Überlegungen steht, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie sich gleichwohl auf dem Fundament der Reform bewegen. Dies zeigt sich einerseits in der selbstverständlichen Exklusion bestimmter theatraler Formen: Dezidiert ausgeschlossen sind die »unförmlichsten und unanständigsten Vorstellungen« mit denen »nichtswürdige[] Landstreicher« (DT, S. 261) umherziehen. Noch deutlicher wird es andererseits in einer bestimmten Verknüpfung von Vergnügen und Moral. Nicht nur werden beide Komponenten als zusammengehörig gedacht,508 letztere ist Bedingung der Möglichkeit von ersterem und ein Stück wird allein dann für ›Ergetzen‹ sorgen können, wenn »nichts wider die guten Sitten darinn enthalten ist. Was aber wider die guten Sitten streitet, kann für einen vernünftigen Menschen kein Ergetzen seyn.« (DT, S. 270)509 Zwei Aspekte sind an dieser Argumentation relevant: Auch sie führt erstens zu einer diskursiven Schließung, indem sie alle theatralen Formen, die nicht innerhalb eines spezifischen, eben des moralisch integren Darstellungsrahmens agieren, aus Begriff und Wesen des Theaters extrahiert. Den Bedingungen und Regeln dieses Diskurses entsprechend – dass das Theater »zum Lehren sehr geschickt 506 Schulz: Tugend, Gewalt und Tod, S. 161. 507 Vgl. zu Struktur und Ursachen dieses Ergetzens bzw. Vergnügens ebd., S. 162f. 508 Vgl. Henk de Wild: Tradition und Neubeginn. Lessings Orientierung an der europäischen Tradition, Amsterdam 1986, S. 148. 509 Diesem Zusammenhang trägt Schlegel gegen Ende der Abhandlung insofern Rechnung, als dass er den »Endzwecke des Schauspiels« nun etwas umfassender bestimmt: »zu gefallen, zu lehren und den Verstand aufzuheitern« (DT, 292).

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[ist]« (DT, S. 271), steht auch für Schlegel außer Zweifel510 – plädiert sie zweitens allerdings für ein anderes Verständnis des theatralen Unterrichts. In deutlicher Abgrenzung zu Gottsched und einer mit seinen Anforderungen identifizierten, kunstrichterlichen Pedanterie, kann für den ehemaligen Mitarbeiter des Leipziger Reformators das pädagogische Potential des Theaters gerade nicht darin bestehen, »eine einzige, bekannte, seichte und oft sehr unbestimmte Sittenlehre zu sagen, die man aus der Komödie eines Seiltänzers ebenfalls herleiten kann.« (DT, S. 271) Stattdessen setzt Schlegel auf ein Verhältnis, das Augenhöhe und eine bestimmte Gleichheit behauptet, dabei aber seine erzieherische Absicht und die damit verbundene Hierarchisierung keinesfalls aufgibt, sondern kaschiert: »Wenn es das [Theater – AW] lehrt, so tut es solches nicht wie ein Pedant, welcher es allemal vorauskündiget, daß er etwas Kluges sagen will; sondern wie ein Mensch, der durch seinen Umgang unterrichtet und sich hütet, jemals zu erkennen zu geben, daß dieses seine Absicht sei.« (DT, S. 271f.)511 Nicht nur soll dieser theatrale Unterricht über die Suggestion zeitlich unbestimmter Nahverhältnisse (Umgang) funktionieren, er muss prinzipiell auch in der Lage sein, mit allen Arten von Menschen umzugehen. Dementsprechend denkt Schlegel seine wirkungsästhetischen Überlegungen von einem heterogenen Publikum her, das den ungesitteten, grobschlächtigen »Pöbel« ebenso beinhaltet wie ein Zuschauerideal, dessen Verwirklichung der ökonomisch wie dispositionell für das Theater besonders relevante »Mittelstand« (DT, S. 269) am nächsten kommt. Wichtig ist, dass »man für alle Arten der Zuschauer arbeitet« (DT, S. 280), die zwar prinzipiell gleiche Bedürfnisse, aber unterschiedlich elaborierte Sehgewohnheiten haben, was eine entsprechende Bandbreite der Unterrichtsinhalte voraussetzt. Dafür zeichnet sich der auch bei Schlegel mit umfassender Menschenkenntnis im Dienste der Sittenlehre agierende »dramatische Poet« (DT, S. 272) verantwortlich, der sich zusätzlich mit den unterschiedlichen Geschmacksstufen und Seh‐gewohnheiten vertraut machen muss.512 Damit die Schaubühne ihr ›sittliches Ergetzen‹ entfalten kann, hat er dafür zu sorgen, dass alle Zuschauer »zur Aufmerksamkeit gebracht« (DT, S. 266f.) werden. Um dies als Wirkungsvoraussetzung zu gewährleisten, steht ihm, im abgesteckten theatralen Rahmen, das ganze Arsenal dramatischer Formen zur Verfügung. Schlegel ordnet den differenten Zuschauerinteressen jedoch nicht einfach getrennt voneinander entsprechende Stücke zu, sondern verknüpft Rezeptionsweisen und Darstellungslevel in einer Entwicklungsdynamik, die die Prozessualität theatralen Unterrichts ebenso akzentuiert wie sie ihr Rechnung 510 Vgl. zum Unterrichtsspektrum von sozialen (Selbst-)Beobachtungs- und Lektürekompetenzen, über Geschmack- und Verhaltensoptimierung hin zur Schulung des Verstandes DT, 274f. 511 Mit dieser Forderung korrespondiert die zentrale Stellung der Charaktere in Schlegels Konzeption, vgl. DT, 282-291. Damit das Theater wie ein Mensch lehren kann, stehen die Menschen auf der Bühne aufmerksamkeitsorganisierend und rezeptionsleitend im Vordergrund. 512 Vgl. Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 160.

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trägt. Er entwirft ein Stufenmodell der Rezeption, das über zunehmende Komplexitätssteigerung die Einübung von Aufmerksamkeit und Interesse gewährleisten sowie Geschmack und Verhalten formen soll, ohne dass dieser Prozess sich als solcher zu erkennen gibt. Mit diesem Modell manövriert Schlegel, vom Zuschauer her argumentierend,513 das Theater stärker in eine Position der Bringschuld, denn mangelnde Aufmerksamkeit im Publikum lässt sich so weniger auf Defizite in der Rezeption, die ja erst erlernt werden soll, als vielmehr auf Defizite des theatralen Angebotes zurückführen, das auf die verschiedenen Bedürfnisse eingehen, sie unter der Hand in die pädagogische Dynamik des Modells einspeisen und darüber zugleich ordnen und organisieren können muss. Am Beginn dieser Entwicklung steht eine quantitative Erweiterung des Publikums und eine ausdrückliche Öffnung für diejenigen, die noch keine theatralen Seherfahrungen haben, womit gleichsam ein wenig elaborierter Geschmack verknüpft wird. Die Adressierung solcher Publikumsschichten ist aber wesentlich als Anfang ihres Abbaus gedacht, als Setzung einer primären, zu durchlaufenden Stufe theatralen Unterrichts: »Der Anfang des dänischen Theaters ist damit gemacht, daß man die Handlungen des niedrigsten Standes darauf vorstellet. Und in der That sind es diese, wobey man den Anfang auf einem neuerrichteten Theater machen soll; weil in demselben Stande die Thorheiten sich offner und ohne Schminke zeigen und also begreiflicher sind. Zuschauer, die noch nicht gewohnt sind, das Theater mit einer rechten Begierde und Aufmerksamkeit zu betrachten, können daher durch Vorstellungen, die sie am leichtesten fassen, zur Besuchung des Theaters angelockt, und nach und nach vorbereitet werden, auch die Abschilderungen eines höheren Standes zu verstehen und Geschmack daran zu finden.« (DT, S. 278f.) Erst eine Vorstellungsvielfalt kann den dynamischen Bezug der drei für Schlegels Theater relevanten Größen – Vergnügen, Unterricht und ihre auf eine Publikums‐heterogenität hin orientierte Verschränkung – gewährleisten. Sein »Rath ist also, mit Beybehaltung der Komödien aus dem niedrigen Stande, die man schon hat, in denen Stücken die man neu auf das Theater bringt, immer höher zu steigen; aus dem niedrigern Stande in den Mittelstand, aus dem Mittelstande an den Hof, und endlich bis zu den Tragödien zu kommen. Auf diese Weise wird man sich versprechen dürfen, allen Ständen durchgängig zu gefallen[.]« (DT, S. 280) So wird nicht nur verhindert, dass die Zuschauer der Vorstellungen »durch die Wiederholung überdrüßig werden« und dass »wichtige Wahrnehmungen der Sittenlehre unberührt« bleiben, es wird gleichsam sichergestellt, dass auch »die edeln 513 Vgl. ebd., S. 161; Wölfel: Moralische Anstalt, S. 59f.

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Empfindungen des Herzens« angesprochen, und stimuliert werden, ohne im Publikum je den Eindruck entstehen zu lassen, dass die Vorstellungen es »gar nichts angingen« (DT, S. 279). Darüber entfaltet sich ein Unterricht mit horizontalen wie vertikalen Wirkungslinien. Nicht nur lernt jeder Zuschauerstand Charakteristika und Struktur von ihm zugeschriebenen, sozialen Defiziten kennen und zu durchschauen – offene Torheiten für die einfachen, von Verstellungskünsten verschleierte für die ›vornehmen‹ Leute –, die einzelnen Stände lernen für sich auch an den Fehlern der anderen. Das gilt in beide Richtungen und auch diese theatrale Fremd- führt »aus der Vergleichung« (DT, S. 280) zu einer erweiterten Selbstbeobachtung, etwa wie folgt: »Wenn man hingegen auch die Thorheiten in den Komödien von einer höhern Gattung erkennt, so findet der gemeine Mann desto weniger Entschuldigung für sich, da er sieht, daß dieselben Fehler, die er an sich hat, auch an Höhern lächerlich sind.« (DT, S. 279) Und umgekehrt können Stücke, in denen der »Pöbel nach seiner Art belehret und ergetzt [wird], andern, die nicht Pöbel seyn wollen, […] zeigen, wie schlecht pöbelhafte Sitten stehen.« (DT, S. 270) Die gelungene dramatische Arbeit trifft dementsprechend »das rechte Maaß« (DT, S. 270) in Unterricht und Aufmerksamkeitsorganisation, das bei aller inhaltlichen Spezifik, solche in sich differenten, sozialübergreifenden Adressierungen gewährleisten kann. Über die Zurschaustellung »eines pluralistischen Angebotes«514 , das auf verschiedene Sehgewohnheiten und Geschmacksregister hin berechnet ist, können und sollen im Zuge von Schlegels Entwicklungslogik nicht nur jeweiliger Erziehungsstand und Lernfortschritte des Auditoriums sichtbar gemacht werden, sein Stufenmodell ermöglicht eine umfassende Organisation des Publikums, und zwar nach Klassen in einem doppelten Wortsinne. Es zeigt dabei exemplarisch, wie eine bestimmte, der Theaterreform als Diskursformation eignende Rede über diese Klassen, sie als solche mithin überhaupt erst herstellt. Schlegel spielt diese Lesbarkeit von nunmehr transparenten Reaktionen und die sich anschließende Verortbarkeit implizit und über den Text verteilt am Beispiel der Rezeption verschiedener Komödientypen durch. Eine hohe Frequenz unmäßiger, »ausschweifend lustiger Einfälle und wahre Lustigmacher=Schwänke« (DT, S. 268) kann zwar über das Publikum verteilt für Lacher sorgen. Gleichwohl ist auch so eine vermeintlich kollektive Reaktion in der Lage, im Auditorium die Spreu vom Weizen zu trennen. Ein dauerhaftes, ungebrochenes Amüsement über derlei »ungereimte und grobe Dinge« (DT, S. 268) weist diejenigen aus, die bei unterstelltem transgressiven Potential am unteren Rand der pädagogisch dynamisierten Theaterrezeption situiert werden: Generiert wird ein noch hochgradig erziehungsbedürftiger Typus von »[g]roben und ungeschliffenen Menschen«: Sie erfreut noch »das Unflätige«, das 514 Haider-Preger: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 160.

II Die Pädagogisierung des Theaters

den Sitten Widerstreitende, ihnen »kann auch der Koth zum Gelächter dienen.« (DT, S. 270) Dort wo dies nicht (mehr) der Fall ist, ist jene pädagogische Dynamik des Theaters in Gang gesetzt, an deren gegenüberliegendem Pol die »[w]ohlerzogenen und feinen Leute« verortet werden, die mit »Ekel« (DT, S. 270) auf Unsittliches reagieren und die auch da, wo ihnen eine Überdosis Ungereimtheit ein Lachen entlocken kann, in ihren Reaktionen transparent werden hinsichtlich ihres Erziehungsgrades:515 Eine recht unmittelbar einsetzende Scham kompensiert dessen Unterschreitung (vgl. DT, S. 268). Wenn selbst die eigentlich ›wohlerzogenen‹ Zuschauer nicht verhindern können, »laut zu lachen« (DT, S. 268), greifen im Anschluss also diejenigen Verhaltenskorrekturprogramme, deren zunehmender Implementierungsgrad ebenfalls auf das Fortschreiten der Erziehung verweist. Ein solcher Fortschritt, der sich proportional zum Abbau alles Über- und Unbotmäßigen in Verhalten und Geschmack vollzieht, zeigt sich etwa in den Reaktionen auf einen »Scherz […], der Wahrheit und Feinigkeit in sich hält«: Er wird nämlich bei denjenigen »das meiste Vergnügen erweck[en]«, die von den dargestellten »Ausschweifungen« aufgrund ihres Erziehungsgrades nicht betroffen sind – bei den »gesetzten Leuten«, die sich »nicht […] zu dergleichen Thorheiten geneigt finden.« (DT, S. 268.) Die maßvolle Darstellung führt bei pädagogisch Gemäßigten zu angemessenen Reaktionen. Zwei Konsequenzen, die von Schlegel wieder allgemeiner in den Diskurs zurückführen, lassen sich an seiner Konzeption ablesen. Die Pädagogisierung des Publikums ist hier erstens gleichermaßen Voraussetzung wie Ergebnis disziplinärer Techniken und Effekte: Schlegels Überlegungen zielen in besonders pointierter Weise auf eine Ordnung des Auditoriums, die, weil sie Sicht- und Lesbarkeiten in einem pädagogischen Steigerungsmodell verschränkt, einen »analytischen Raum [organisiert]«516 , der zugleich normalisierend und individualisierend wirkt:517 Die sozialen Unterschiede im Publikum lösen sich darin unter der Hand im Zeichen einer allgemeinen Erziehbarkeit auf,518 die mit ihren Graduierungen neue Verteilungen und Verortungen schafft und unterschiedlich weit fortgeschrittene Klas515 Wohlerzogenheit markiert eben noch keinen Schluss-, nur einen erreichbaren Zielpunkt in einem letztlich unabschließbaren Erziehungsprozess. Dass Erziehung als tatsächlich lebens‐koextensiv gedacht wird, zeigt sich deutlicher noch in den Äußerungen der Philanthropisten, vgl. III.1. 516 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 184. 517 Vgl. ebd., S. 237. 518 Dies gilt nicht nur für Schlegel, lässt sich aber aus seiner Argumentation exemplarisch herausarbeiten. Die Zuschreibung ›Pöbel‹ etwa benennt in den publikumspädagogischen Bestrebungen der Reform letztlich weniger eine bestimmte Schicht, sondern vielmehr einen mangelhaften Erziehungsstatus, in der Regel einen (noch) defizitären Geschmack und ein unangemessenes weil unmäßiges Verhalten, ohne festen sozialen Ort, vgl. etwa Wulf Rüskamp: Dramaturgie ohne Publikum. Lessings Dramentheorie und die zeitgenössische Rezeption von »Minna von Barnhelm« und »Emilia Galotti«. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Theaters und sei-

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sen von Erziehungsbedürftigen generiert. Über ein transparent gedachtes Verhältnis von Betragen bzw. Reaktionen und Gesinnung werden Zuschauertypen festgeschrieben, und diese Festschreibungen zugleich als zu durchlaufende Stationen markiert. Das Auditorium verwandelt sich so in ein Ensemble »von ›lebenden Tableaus‹, die aus den unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen geordnete Vielheiten machen.«519 Durch die darin angelegte, über das theatrale Repertoire stimulierbare Steigerungslogik verschränkt und ergänzt sich in dieser permeablen Ordnung eine individualisierende »Lokalisierung« mit der Möglichkeit, Zuschauertypen in einem pädagogisch dynamisierten »Netz von Relationen [zu verteilen] und zirkulieren [zu lassen].«520 In einem solchen idealen Auditorium treffen sich daher »Machttechnik und […] Wissensverfahren«521 , der Zuschauer wird anhand seines Erziehungsgrades subjektiviert und darüber zugleich als Gegenstand eines pädagogischen Wissens objektiviert.522 Die bereits in Ansätzen thematisierten Selbstbeobachtungs- und -sanktionierungsstrukturen führen zweitens nicht nur zum Formideal des erzogenen Zuschauers, sondern über den Zusammenhang von Selbst- und Fremdbeobachtung auch zur horizontalen Dimension der Pädagogisierung des Publikums, in der Verhaltensvergleiche Erziehungsversuche motivieren.

5.3   »der ruhige, unbefangene und vernünftige Zuschauer« Ein Zuschauerverhalten, wie es Schlegels ›gesetzte Leute‹ auszeichnet, ist »der guten Ordnung, die im Schauspielhauß herrschen muß«523 unerlässlich. Es zeigt sich aber nicht allein in der ›richtigen‹ Reaktion auf die Darbietungen, sondern auch in einem rechten Maß der Äußerung, das besonders bei Missfallensbekundungen in Gefahr ist. Diese sind grundsätzlich genauso legitim wie affirmatives Verhalten, allerdings nur dann – und das gilt für beide Register –, wenn sie einen pädagogischen Effekt haben, den wiederum allein eine gemäßigte Form produzieren kann. »[D]iese Wildheit auf unsern Schauplätzen«524 hingegen stört das Beziehungsge-

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nes Publikums, Köln/Wien 1984, S. 116f.; Krebs: Die frühe Theaterkritik, S. 471f.; ferner Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen, S. 42f. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 190. Ebd., S. 187. Ebd., S. 190. Vgl. zu dieser Subjektivierungs-Objektivierungs-Struktur und ihren Bezug zu Fragen der Macht Michel Foucault: Subjekt und Macht, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV: 1980-1988. Hg. von Daniel Defert/François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M. 2005, S. 269-293. Heinrich A. O. Reichard: Versuch über das Parterre, in: Theaterkalender auf das Jahr 1775, S. 47-63, hier: S. 54 [Anonym]: Ueber die Pflichten der Zuschauer, S. 144.

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füge der Pädagogisierung empfindlich und führt im schlimmsten Fall zu dessen Kollaps. Unerwünscht ist neben der motorischen auch eine auditive Unruhe: »Das Pochen, das Pfeifen, das laute Rufen«525 haben im Theater ebenso wenig zu suchen wie die »Beleidigungen«, die man den Schauspielern mitunter »in den Bart wirft.«526 Ein solches »ungesittetes Betragen«527 manifestiert ein vielschichtiges pädagogisches Problem, das fast alle Akteure des theatralen Unterrichts tangiert. Als Erziehungsdefizit zeigt es erstens an, wie nötig die Arbeit der journalistischen Kunstrichter und der Theaterpublizistik ist. Weil es Unruhe produziert, wird es zweitens jene »Aufmerksamkeit stören«528 , die Grundlage einer Wirkungsentfaltung der Schaubühne ist und damit auch die Rezeption der »wohlerzogenen edeldenkenden«529 Zuschauer aus den ›höheren‹ Klassen des Publikums sabotieren. Es reicht in seiner Schädlichkeit aber noch über das Auditorium hinaus. Lärm und Beleidigungen haben drittens einen Einfluss auf die Qualität der Darbietungen. Sie gehen über einen berechtigten Tadel hinaus und tragen statt zum Abbau maßgeblich zur Festigung ihres Anlasses, einer nicht zufriedenstellenden Darstellung, bei: »Ein junger Acteur muß nothwendig durch einen solchen unanständigen Tumult furchtsam und niedergeschlagen werden. Gewiß spielt er nunmehr seine Rolle in diesem Stücke schlecht, da er sei sonst doch mittelmäßig würde gespielt haben: und das zweytemahl wird die Furcht, ein gleiches Schicksal zu haben, als zuvor, seine Lebhaftigkeit gar sehr verringern.«530 Die erwünschte und anvisierte Zuschauerreaktion zeichnet sich hingegen durch einen konstruktiven Bezug zum Bühnengeschehen aus. Sie bringt nie allein Genuss oder Verdruss zum Ausdruck, sondern versteht sich in einer kunstrichterlichen, appellativen Struktur als Lob oder Tadel, die stets auf einen Verbesserungseffekt zielen müssen. Beide Register werden auf eine Form verpflichtet, die sich nicht 525 Ebd. Vgl. Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 392f. 526 [Anonym]: Kann den Schauspielern oder besser dem Direkteur einer Schauspielergesellschaft etwas zur Last gelegt werden, wenn ein Stück, das einem Theil der Zuschauer nicht gefällt, mehr als einmal aufgeführt wird?, in: Theater-Kalender, auf das Jahr 1783, Gotha 1783, S. 102-111, zitiert nach: Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 154-159, hier: S. 156. 527 [Anonym]: Ueber die Pflichten der Zuschauer, S. 144. 528 Ebd., S. 145. 529 [Anonym]: Kann den Schauspielern oder besser dem Direkteur einer Schauspielergesellschaft etwas zur Last gelegt werden, S. 156. 530 [Anonym]: Ueber die Pflichten der Zuschauer, S. 145. Vgl. auch Reichard: Versuch über das Parterre, S. 56.

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nur durch ein je eigenes Maß auszeichnet, das ihre Äußerungszeitpunkte und Intensitätsgrade normiert, sondern immer auch auf den ihnen zugrunde liegenden pädagogischen Impuls verweist. Das »Recht […], sein Mißfallen äußern zu dürfen« ist an die Voraussetzung gebunden, dass der Zuschauer sich »dieses Rechts zur gehörigen Zeit, an rechtem Orte, auf eine anständige Art [bedient], die zu erkennen giebt, daß ihn Liebe zur Kunst, zur Ordnung und Sittsamkeit, nicht aber beleidigender Muthwille dazu leite, und es wird heilsame Würkung thun.«531 Diese Wirkung betrifft vor allem »die dummdreisten, die unverschämten, die vom Baurenstolze aufgespreizten Komödianten« und wird sie »zu ihrer Pflicht zurückweisen.«532 Der richtige Tadel wird also, so die Argumentation, richtig dosiert und eingesetzt, die Richtigen erreichen und bei ihnen notwendig die richtige Wirkung entfalten. Er ist eine maßvolle Form, die mäßigend wirkt. Dies gilt grundsätzlich auch für Beifallsbekundungen. Sie sind streng, aber gerecht, deutlich vernehmbar, aber kein Krach, bleiben dabei stets respektvoll und angemessen: »Wir«, so heißt es im Taschenbuch von der Prager Schaubühne auf das Jahr 1778, »sind mit unserem Beyfalle kritischer, ohne ihn aus Kabale oder Eigensinn zu versagen, wenn man ihn schuldig ist, und ohne ihn mit lärmendem Geräusche auszudrücken!«533 Auch dieser Idealstruktur eignet in ihrem beurteilenden Gestus eine pädagogische Komponente, die spätestens hinter der Absicht, »durch […] Beyfall aufzumuntern« aufscheint: »Nichts kann also für die guten Schauspieler aufmunternder seyn, als der öffentliche Beyfall, und nichts für die Anfänger in der Kunst heilsamer, als das Urtheil billiger Richter.«534 Das rechte Maß beider Register zeichnet nun den idealen Zuschauer aus, wie er im Verlauf der Theaterreform programmatisch hervorgebracht wird. Er zeigt nicht nur seinen Geschmack und sein Benehmen in inhaltlich wie formal ›richtigen‹ Reaktionen auf das Bühnengeschehen, dem er mit ungebrochener Aufmerksamkeit folgt, als Erzogener ist er zugleich selbst potentieller Erzieher geworden. Dies gilt für das Verhältnis zur Bühne ebenso wie innerhalb des Auditoriums. Auf Störenfriede, deren Betragen als Erziehungsdefizit pädagogisch zu beheben ist, wird »der ruhige, unbefangene und vernünftige Zuschauer«535 entsprechend ein531 [Anonym]: Kann den Schauspielern oder besser dem Direkteur einer Schauspielergesellschaft etwas zur Last gelegt werden, S. 156. 532 Ebd. 533 [Anonym]: Ein Blick auf unser Theater und Parterre, in: Taschenbuch von der Prager Schaubühne auf das Jahr 1778, Prag 1778, S. 68-75, zitiert nach: Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 149-153, hier: S. 152. 534 Reichard: Versuch über das Parterre, S. 47, 52. 535 [Anonym]: Kann den Schauspielern oder besser dem Direkteur einer Schauspielergesellschaft etwas zur Last gelegt werden, S. 157.

II Die Pädagogisierung des Theaters

zuwirken trachten. Er wird den Theaterbesuch um eine zusätzliche kleine Unterrichtseinheit anreichern, die auf Einsicht und Verständnis setzt, in Folge einer hinreichenden, um nicht zu sagen, ausführlichen Erklärung: »Freund, ich habe auch meinen Gulden bezahlt, aber nicht um dein Getöse anhören zu wollen, sondern dem Schauspiel ungestört beywohnen zu können. Gefällt dir das Stück nicht, so gehe hinaus: ärgert dich dein erlegter Gulden, so fordere ihn wieder. Der Direkteur wird dir dein Geld gern zurückgeben, um nur einen solchen Lermer los zu werden, und ist so gar aus Achtung für den ruhigen und größten Theil der Zuschauer solches zu thun verbunden. Hast du aber gestern das Stück schon gesehen, und bist heute doch wieder gekommen, nur bloß um Unruhe anzufangen und den stillen Zuschauer in seiner Aufmerksamkeit zu stören, so habe ich das Recht dir die Thüre zu weisen. Du magst seyn, wer du willst; Niemand und nichts giebt dir Befugniß eine ganze Versammlung durch dein unanständiges Betragen beleidigen zu wollen.«536 Beide pädagogischen Achsen kreuzen sich schließlich an einem bestimmten Ort im Auditorium, dem Parterre. Die präsentische Komponente des tonangebenden Kistenmachers aus dem Spectator findet sich hier, relokalisiert und in seiner Tätigkeit auf eine Gruppe von kunstrichterlich versierten Kennern verteilt, am anderen architektonischen Ende des Auditoriums wieder, in dessen Ordnung sich ein überwachender Blick eingerichtet hat, der das Zuschauerverhalten ebenso minutiös wie das Bühnengeschehen beobachtet und bewertet.537

5.4   Der Mittelort Mit den Überlegungen zum Parterre wird der medialen eine räumliche Verortung kunstrichterlicher Erziehung zur Seite gestellt. Der erlesene Kreis der »Kenner«538 im Auditorium fokussiert stärker noch als die Arbeit der dramatischen Dichter deren histrionische Umsetzung und beansprucht in seinen Urteilen eine Verbindlichkeit, der die restlichen »Classen« der Zuschauer Folge zu leisten haben: »Die Entscheidung des Urtheils ist dem Parterre allein überlassen.«539 Legitimiert wird 536 Ebd. 537 Vgl. zur Theaterarchitektur im 18. Jahrhundert, ihrer panoptischen Implikation und dem Parterre als ihrem neuen Zentrum Isabel Matthes: Das öffentliche Auge. Theaterauditorien als Medium der Vergesellschaftung im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 419-432; vgl. zur Theaterarchitektur außerdem Deiters: Die Entweltlichung der Bühne, S. 51-63. 538 Reichard: Versuch über das Parterre, S. 48. 539 Ebd., S. 48. Vgl. auch Korte: Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten, S. 15-18.

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die Autorität auch in diesem Falle durch ein um eine soziale Komponente erweitertes, umfassendes gelehrtes Wissen, durch »Geschmack und Kenntniß in dieser Gattung der Dichtkunst, und in der Kunst des Schauspielers« sowie durch »gute Sitten«540 . Das Parterre ist gleichsam in Bewertung und Betragen Maßstab richtiger Theaterrezeption, als Vorbild Garant und als Autorität Wächter gelingender Wirkungsentfaltung. Reichards »grundlegendes, umfassendes ästhetisches Programm«541 von 1775 macht dabei als Entwurf gleichermaßen folgende Differenzen deutlich: Es handelt sich beim Versuch über das Parterre erstens nicht um ein Portrait des realen Parterres. Zwischen der »emphatische[n] Normgebung« des Textes und der »Theaterrealität«542 herrscht eine noch zu überwindende Diskrepanz, denn die dem Parterre zugesprochene Urteilskompetenz zeigt sich als durchaus anfällig für Missbräuche, seine Autorität, die gleichermaßen im Dienste der Verbesserung von Bühnendarbietung und Zuschauerverhalten stehen sollte, ist korrumpierbar: »Aber wo ist das Parterre, das sich dieses Rechts mit der Billigkeit und dem Anstande eines einsichtsvollen Richters bediente? bey den meisten artet es in Missbräuche aus; es wird ein Raub der Kabbale, Partheylichkeit und jugendlicher Leidenschaften.«543 Und gleichwohl Reichard die Idealität seines Versuchs betont, hält er sie für prinzipiell erreich- und die beklagte Diskrepanz für abbaubar: »Wenn nun auch an sich das Parterre bloß nur ein Ideal wäre; so haben wir doch eine gewisse Classe von Zuschauern, die sich diesen Namen beylegt; die sich gewisser Rechte anmaßt, und die, wenn sie nach und nach ihre Verbindlichkeiten beherzigen wollte, mit der Zeit dieses Ideal realisiren konnte.«544 540 Reichard: Versuch über das Parterre, S. 54. 541 Korte: Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten, S. 16. Eine »[e]ntsprechende Autorität« (Theaterperiodika und Kulturzeitschriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, S. 59) attestiert Jakob dem Text, nicht zuletzt aufgrund seiner Veröffentlichung im zeitgenössisch ungewöhnlich langlebigen, mit überregionalem Anspruch auftretenden Theater-Kalender. 542 Korte: Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten, S. 17. 543 Reichard: Versuch über das Parterre, S. 56. Vgl. zu Zusammensetzung, französischem Vorbild, Führungsanspruch und ›Machtmissbrauch‹ des Parterre ausführlich Paul: Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums, S. 57-75. 544 Reichard: Versuch über das Parterre, S. 54. Solche und andere Diskrepanzen, wie sie das Verhältnis der Theorien und Programme zur theatralen Wirklichkeit kennzeichnen, bauen sich aus der Sicht der Reformer tatsächlich über einen mit der Pädagogisierung verbundenen, einmal in Gang zu setzenden Optimierungsmechanismus nach und nach von selber ab, wie er sich etwa bei Schlegel skizziert findet: »Die heutigen Völker werden nach dem Maaße für gesitteter gehalten, in welchem ihr Theater feiner und vollkommener ist. Und wenn die übrige Auspolierung ihrer Sitten etwas dazu beygetragen hat, ihr Theater zu verbessern, so kann man wiederum mit Grunde behaupten, daß die Verbesserung und Aufnahme ihres Theaters zur Verbesserung ihrer Sitten etwas beygetragen hat.« (DT, 274f.) Als historisch verbürgte Tatsache, wenn auch regional begrenzt, behauptet Johann Friedrich Schütze diese Wechselwirkung

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Zweitens verweist die Bezeichnung Parterre nicht allein auf einen Ort im Auditorium. Ähnlich wie der Pöbel aus der pädagogisch motivierten Perspektive der Reform weniger als soziale, sondern als geschmacklich‐sittliche Klasse konturiert und (dis-)qualifiziert wird, bezeichnet Reichards ideale Funktionsbestimmung ein »Parterre im moralischen Sinne«545 , als Zusammenschluss von in Kenntnis und Betragen vorbildlichen Zuschauern. Dass dies nicht notwendigerweise, aber »der Regel nach«546 , mit dem architektonischen Parterre zusammenfällt, also »Ort und Funktion […] in engem Zusammenhang [stehen]«547 , erklärt sich dadurch, dass letztere, die Funktion – und um die geht es den Überlegungen primär –, sich dort am besten erfüllen kann, wo sie dem Schauspiel besonders konzentriert und aufmerksam folgen und diese Haltung samt der entsprechenden Urteile gleichermaßen in Richtung Bühne und Auditorium zur Schau stellen kann. Das Parterre wird damit in mehrfacher Hinsicht zu einem »Mittelort«: Reichards »Muthmassungen«548 zufolge ist seine Entstehung als Zusammen‐schluss dessen, was sich prinzipiell auch in eine moralische und eine architektonische Komponente differieren kann, letztlich sozial begründet. Hier versammelten sich ursprünglich jene Gelehrte und Theaterfreunde, die für die Logen gesellschaftlich unterqualifiziert waren, sich für die Galerie aber für überqualifiziert hielten.549

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in seiner Hamburgischen Theater-Geschichte (1794), im Bewusstsein der quantitativen Grenzen dieses Prozesses ebenso wie unter direkter Bezugnahme auf eine Art Superparterre als seiner treibenden Kraft: »So wie das Schauspiel sich in Hamburg besserte und vervollkommnete, besserte und veredelte sich auch der Geschmack des Publikums, und dieser bessere Geschmack des Publikums beförderte gegenseitig die Vervollkommnung der Kunst. So wie eins sich verfeinerte, verfeinerte sich auch das andre. Der Kunsteifer der Artisten ward befeuert. Die Zahl geschmackvoller Schauspielbesucher mehrte sich, wenn sie gleich die Zahl derer nie ganz überstieg, die nur den gröbern Sinn zu befriedigen suchen. […] Das Publikum zeigte einen ungewöhnlichen Enthusiasmus für sein Theater, wie fast nie zuvor, wenigstens nie gerechter. Hierzu trug nicht wenig eine gewisse, nicht kleine Gesellschaft von Schauspielfreunden bei, die als ein Publikum im Publikum, ein Status im Statu, ein Parterre im Parterre sich bildeten, und welche, was man auch dagegen erinnert haben mag, dem Theater, der Kunst und Geschmacksbesserung nicht wenig nachgeholfen haben.« (Johann Friedrich Schütze: Hamburgische Theater-Geschichte, Hamburg, 1794, S. 397f.) Reichard: Versuch über das Parterre, S. 49. Ebd. Rüskamp: Dramaturgie ohne Publikum, S. 114. Reichard: Versuch über das Parterre, S. 52. Vgl. ebd., S. 52. Vgl. zur räumlichen und sozialen Aufteilung des Auditoriums außerdem Paul: Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums, S. 33-75; Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, S. 75-86 und speziell zur Zusammensetzung des Parterre S. 78-81. Die Befunde lassen sich etwa durch Schützes Theatergeschichte belegen: »Diese Gesellschaft formte sich nach und nach aus Kennern und Dilettanten, aber durchaus warmen Anhängern des Theaters, Juristen, Gelehrten von Handwerk und Ungelehrten, aber durch Reise und Lektüre gebildeten Männern aus dem Kaufmannsstande.« (Hamburgische Theater-Geschichte, S. 398) In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal an Schlegels Lob des sozialen Mittelstandes,

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Stärker noch als ein sozialer, ist das Parterre jedoch ein normativer Mittelort: Bei ihm liegt nicht nur die alleinige Urteilskompetenz, es »stimm[t]« immer auch »den Ton des Beyfalls oder Missfallens«550 für den Rest des Auditoriums und sorgt dort aufgrund seiner pädagogische Komponente für eine neue Verknüpfung von Schauen und Anschauen: Das Parterre führt und gibt den Maßstab theatraler Rezeption vor. In seiner Verhaltensvorbildlichkeit und Urteilsautorität ist es »der Kreismittelpunkt des neuen Auditoriums, die Sonne, um die sich alles dreht […]. Dieses Zentrum verweist Logen und Ränge in die Peripherie und lenkt die Blicke auf sich, dorthin, wo die Urteile gefällt werden.«551 Über die Vorbildfunktion erhält sich der Aspekt des »Geschautwerden[s]«552 als integraler Bestandteil auch auf Zuschauerseite im Theatersaal aufrecht. Er dient hier allerdings nicht mehr der Repräsentation der eigenen Person oder des sozialen Status, sondern des Erziehungsgrades und ist darüber aufs Engste mit dem für bestimmte Publikumskreise nötigen Unterricht verknüpft. Über die aufmerksame Beobachtung der kunstrichterlich Tätigen und rezeptionskundigen Kenner im Parterre und die Übernahme der von ihnen gesetzten Maßstäbe soll die gleichermaßen aufmerksame Beobachtung des Bühnengeschehens gelernt werden. Unterricht und Erziehung des Publikums sind damit an die Präsenz eines Erziehers gebunden, der in der prinzipiellen Gleichheit der Zuschauer als Zuschauer eine Differenz markiert,553 die, weil sie auf unterschiedliche Erziehungsgrade verweist, keine absolute, sondern, über eine anvisierte Annäherung aller an den vornehmlich programmatisch entworfenen Differenzpunkt, pädagogisch abbaubar ist.554 Dem wiederholt, etwa bei Lessing, Sulzer

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seine Bedeutung für die Aufnahme des Theaters und seine potentielle Deckungsgleichheit mit dem aufgestellten Zuschauerideal erinnert. Reichard: Versuch über das Parterre, S. 54. Matthes: Das öffentliche Auge, S. 428. Diesen herrschaftlichen Aspekt und die ihm zugrundeliegende »Parterregewalt« betont Paul: Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums, S. 71-73, hier: S. 73; vgl. außerdem Rüskamp: Dramaturgie ohne Publikum, S. 111 und Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin, S. 164. Rüskamp: Dramaturgie ohne Publikum, S. 114. Erst aus der Perspektive einer Pädagogisierung des Publikums wird deutlich, dass und inwiefern dieser Aspekt, den Rüskamp in der vornehmlich fokussierten Differenz zu einem höfischen Repräsentationstheater aus seiner Analyse des Parterre streicht, unbedingt bedeutsam bleibt: aus dem sozialen ist ein Unterrichtsarrangement geworden. Rüskamp spricht, allerdings im Gedanken an Zahlungskraft und unterschiedliche »ökonomische[] Verhältnisse«, von einem nur »scheinbare[n] Egalitarismus« (Dramaturgie ohne Publikum, S. 108f.) im Auditorium. Damit haben sich umfangreicher, gelehrter Studien- und Lerneifer jedoch keineswegs erübrigt, wie Reichard nach Resümierung wesentlicher Voraussetzungen und Anforderung des vorbildlichen Theaterbesuchs betont: »[D]ie übrigen, die dieses noch nicht gewußt haben, aber gern Mitglieder des Parterre zu seyn wünschen, können dieses wenige zum mindesten als einen Fingerzeig betrachten, an die Quellen selbst zu gehen, und dort dasjenige zu lernen, zu dessen Unterricht hier der Raum für sie zu enge ist.« (Versuch über das Parterre, S. 60)

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und schließlich besonders pointiert bei Schiller betonten Gedanken eines »Empfindungskollektiv[s]«555 steht ein pädagogisiertes Auditorium gegenüber, das weniger die »[e]ine[] Empfindung […]: ein Mensch zu sein«556 kennzeichnet, sondern ›Klassen‹ von unterschiedlich gut erzogenen Zuschauern. Statt zu einer Angleichung scheint es gegen Ende des Jahrhunderts allerdings eher zu einem weiteren Aufreißen der bereits bei Reichard ausgemachten und beklagten Diskrepanz zwischen programmatischem und realem Parterre, der Verhaltensnorm unparteiischen Kunstrichtertums und einer »demagogischen Freude am Skandal« zu kommen: Statt im »Bewusstsein kritischer Responsibilität« zu agieren, »genießt [das Parterre] vorzugsweise das Gefühl der Macht«557 . Es »erschein[t]« zwar mit der Überzeugungskraft »eines Mannes […], der bey der Entscheidung einer Sache durch seine Stimme den Ausschlag geben soll«, aber offensichtlich mitunter ohne den bei Reichard in diesem Zusammenhang unbedingt geforderten »Anstande«558 mitzubringen. So kommt es zu Beginn der 1790er Jahre etwa in Königsberg zu einem »Theatervorfall«, an dem nicht nur »der Privathaß gegen [den Schauspieler – AW] Hrn. Steinberg, die Laune des Augenblicks, und ein unrichtiger Begriff von Parterrfreiheit etc. den größten Antheil [haben]«559 , sondern in dem sich zugleich eine latente Heterogenität des Parterre entfaltet.560 Ein »tumultarisches Betragen, Lärmen und Pfeifen« bringen den Theaterabend phasenweise zum Kollabieren: Sie führen nicht nur dazu, dass »[v]erschiedene angesehene Männer […] sich sogar auf die Bühne [begaben], um den Gekränkten Trost einzusprechen«, Steinberg selbst gibt ob der massiven Attacken auf »die Ehre, den Fleiß und die Sorge eines ehrlichen Mannes […] tags darauf«561 seinen Beruf auf. Den notwendigen und wichtigen Einfluss des Publikums auf den Zustand des Theaters, ebenso wie die hier notwendig zu ziehenden Grenzen, hatte bereits Lessing an bedeutsamer Stelle betont: In der Ankündigung zur Hamburgischen Dramaturgie mahnt er die gleichermaßen pädagogische Aufgabe eines kunstrichterlich 555 556 557 558 559

Schneider: Familiendramaturgie und Nationaltheateridee, S. 66. Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, S. 200 Paul: Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums, S. 65f. Reichard: Versuch über das Parterre, S. 54. [Anonym]: Theatervorfall, in: Zeitung für Theater und andre schöne Künste. 1. Heft, Stuttgart 1793, S. 44-46, zitiert nach: Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 102-103, hier: S. 102. 560 Nach Paul, und anders als es etwa das ruhmreiche Parterre aus Schützes Theatergeschichte vermuten lässt, wird der Mittelort eher »durch eine gewisse Buntheit der Ansichten geprägt«. (Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums, S. 62) Vgl. zu ähnlichen Einschätzungen und zur zunehmenden Kritik am Parterre auch: Rüskamp: Dramaturgie ohne Publikum, S. 116-121 und Korte: Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten«, S. 23f. 561 Ebd.

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tätigen Publikums an und setzt auf ein im Zeichen wechselseitiger Optimierung begründetes, dialogisches Verhältnis von Theaterdirektion und Auditorium: »Und hat es nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es hierin mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und höre, und prüfe und richte. Seine Stimme soll nie geringschätzig verhöret, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden!« (HD, Ankündigung, 184) Die hier behauptete Hierarchie wird jedoch sogleich wieder entscheidend relativiert und letztlich umgekehrt. Denn die Voraussetzungen zur Teilhabe an diesem heraufbeschworenen Diskurs sind Geschmack und Kennerschaft, die ausdrücklich nicht jedem Zuschauer attestiert werden. Insofern fungieren sie als Regulationsmechanismen, um »Selektionen unter den sprechenden Subjekten« vorzunehmen und Publikumsurteile wie -forderungen, wenn sie nicht den diskursiven »Erfordernissen genüg[en]«562 , als unangemessen abzuweisen: »Nur daß sich nicht jeder kleine Kritikaster für das Publikum halte, und derjenige, dessen Erwartungen getäuscht werden, auch ein wenig mit sich selbst zu Rate gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht jeder Liebhaber ist ein Kenner; nicht jeder, der die Schönheiten Eines Stücks, das richtige Spiel Eines Acteurs empfindet, kann darum auch den Wert aller andern schätzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnügen und Entzücken erwartet, als sie nach ihrer Art gewähren kann.« (HD, Ankündigung, S. 184f.) Dieser Exklusion eingeschrieben ist gleichwohl die pädagogische Struktur eines ›noch nicht‹. Die angenommene Korrigier- und Optimierbarkeit eines Mangels an Kennerschaft und Geschmack bedingt und legitimiert eine umfassende Publikumspädagogik, wie sie das Zusammenspiel von literarisch vorfixierter Bühnendarstellung, (journalistischem) Kunstrichtertum und ausgestellter Verhaltensnorm bereits Erzogener im Auditorium gewährleisten soll. Bei allem offensichtlichen Vorbehalt Lessings gegen ein umfangreiches Mitspracherecht des Publikums bringt allerdings das Parterre auf programmatischer Ebene die diskursiven und als räumlicher Mittelort die architektonischen Voraussetzungen mit, die neben der Diskursteilhabe überhaupt erst eine Theaterrezeption im Sinne der Hamburgischen Dramaturgie ermöglichen. Das Zusammenspiel aller Ebenen dieses Mittelorts fundiert nicht nur seinen Anspruch, der »privilegierte Adressat des Spiels auf der Bühne«563 zu sein, sondern etabliert überhaupt erst ein 562 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 26. 563 Matthes: Das öffentliche Auge, S. 429.

II Die Pädagogisierung des Theaters

Rezeptionsarrangement, das den anvisierten wohltemperierten, ruhigen und aufmerksamen Zuschauer als (Über)Träger und Objekt eines pädagogischen Wissens hervorbringt: Seine räumliche Mitte ermöglicht dem Parterre, das sich unmittelbar vor ihm abspielende Bühnengeschehen genau zu beobachten; seiner sozialen und habituellen Mitte gemäß wird dies ruhig und konzentriert geschehen, es wird gleichwohl an richtiger Stelle das richtige Maß an richtiger Reaktion zeigen und damit ein Verhalten präsentieren, das es, ebenso wie seine der geschmacklich‐normativen Mitte entsprechende Kennerschaft, dem übrigen Publikum als vorbildlich und nachahmenswert vorstellt. Vor allem die ersten beiden Aspekte, »Frontalitätsprinzip«564 und konzentrierte Ruhe, sind auf Rezipientenseite die Voraussetzungen für das Zustandekommen theatraler Illusion, wie sie nicht erst, aber besonders der publikumskritische Lessing einfordert.565 Die dazu nötigen Anforderungen auf Produzentenseite sind Wahrscheinlichkeit und Evidenz. Die Illusion ist also aufs Engste verzahnt mit Lessings poetologischen wie wirkungsästhetischen Überlegungen und in diesem Gefüge ein ebenso unverzichtbares wie fragiles, literarisch fundiertes Element: »Der tragische Dichter sollte alles vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald sie daran erinnert sind, so ist sie weg.« (HD, 42. Stück, S. 393) Christopher Wild hat dies als einen Zustand der Absorption beschrieben, der darauf zielt, »den Zuschauer sein Zuschauen vergessen zu lassen« und, gemäß der von ihm ausgemachten antitheatralischen Stoßrichtung der Reform, eine Theatererfahrung anvisiert, »die auf die Erfahrung des Theaters nicht achtet.«566 564 Deiters: Die Entweltlichung der Bühne, S. 56. 565 Vgl. zur Illusionsforderung im Rahmen der Reform, insbesondere bei Gottsched: Hollmer: Anmut und Nutzen S. 70, 102; Saße: Die aufgeklärte Familie, S. 37f.; Heßelmann: Die Geburt des gereinigten Theaters, S. 211 und in Zusammenhang mit Lessing S. 342f.; die Verbindung zu Lessing in dieser Hinsicht betont Schulz: Der Krieg gegen das Publikum, S. 488. Durchaus im Sinne des letztgenannten Titels zeigt sich Lessings Publikumskritik am resignativen Ende der Hamburgischen Dramaturgie: »Wenn das Publikum fragt; was ist denn nun geschehen? und mit einem höhnischen Nichts sich selbst antwortet: so frage ich wiederum; und was hat denn das Publikum getan, damit etwas geschehen könnte? Auch nichts; ja noch etwas schlimmers, als nichts. Nicht genug, daß es das Werk nicht allein nicht befördert: es hat ihm nicht einmal seinen natürlichen Lauf gelassen.« (HD, 101-104. Stück, S. 684) 566 Wild: Theater der Keuschheit, S. 330f. So auch Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 342f. Vgl. für diesen Zusammenhang ausführlicher Wild, insbesondere das Kapitel »Die Antitheatralik des bürgerlichen Trauerspiels und die Verdrängung des Sündenfalls«, S. 328-356. Wild liest hier nicht zuletzt Kunstrichter und absorbierten Zuschauer als »die zwei Seiten desselben Ideals, das die Theaterreformer für den realen Zuschauer entwarf« und die lediglich hinsichtlich ihres Distanzierungsgrades zu differenzieren sind: Im Zustand »imaginativer Absorption« ist jene kritische Distanz nicht mehr gegeben, die der Kunstrichter zur Beurteilung des Geschehens stets beibehalten muss. Grundsätzlich aber nehmen beide »eine strukturell ähnliche Stellung vis à vis der theatralischen Darstellung ein.« (Ebd., S. 329)

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Dies ist dann gewährleistet, wenn nicht nur die Darstellung jedes Ausstellen ihrer Künstlichkeit verbirgt, sondern auch die Darstellungsgrundlage sich strukturell äquivalent zur Wirklichkeit verhält, wenn also Text und Bühne sich durch Wahrscheinlichkeit auszeichnen. Als in sich stimmiges Gefüge und Illusionsvoraussetzung ist die Wahrscheinlichkeit in diesem Zusammenhang insbesondere auf Figurenebene bedeutsam. Jede Handlungsmotivation und jedes Agieren der Charaktere muss sich an deren psychologisch kohärenten Dispositionen messen lassen. Erst die Signatur einer »poetische[n] Wahrheit« macht ihr Verhalten transparent und nachvollziehbar und ermöglicht eine, wie es zunächst scheint, rational vergleichende, aber wesentlich stärker affektiv angleichende Verbindung mit dem Auditorium: »[G]enug, wenn sie [die Charaktere – AW] poetisch wahr sind, wenn wir gestehen müssen, dass dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urteilen können.« (HD, 2. Stück, S. 195f.) Über eine solche Stimmigkeit und Ähnlichkeit567 der Charaktere lässt sich die Organisation und Bündelung von Aufmerksamkeit im Zuschauerraum gewährleisten und aufrechterhalten. Sie, die kalkulierbare568 Wirkung, liegt im Zentrum der Verantwortung des Poeten, an ihrem Gelingen muss er sich messen lassen: »Der einzig unverzeihliche Fehler eines tragischen Dichters ist dieser, das er uns kalt lässt; er interessiere uns, und mache mit den kleinen mechanischen Regeln, was er will.« (HD, 16. Stück, S. 263)569 Um niemanden kalt zu lassen, sondern (An-)Teilnahme und imaginative Involvierung sicher zu stellen, ist vor allem eine kohärente Affektführung und -entwicklung entscheidend. Sie schreibt der zu entdeckenden Ähnlichkeit einen sanften Zwang ein, der Interesse in Absorption überführt. Der dramatische Dichter wird nämlich »die Leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen, und ohne Sprung, in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen […] lassen, dass dieser sympathisieren muss, er mag wollen oder nicht« (HD, 1. Stück, S. 187f.). Der in Folge dramatisch‐theatraler Evidenz sich einstellende Zustand der Absorption 567 Vgl. II.2.2. 568 Eine solche Kalkulation macht nicht nur einen wesentlichen Aspekt der dichterischen Arbeit aus, sie stellt auch die Grundlage für die kunstrichterliche (Über-)Prüfung dar: »Die Bewegungsgründe zu jedem Entschlusse, zu jeder Änderung der geringsten Gedanken und Meinungen, müssen, nach Maßgebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegeneinander abgewogen sein, und jene müssen nie mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervor bringen können.« (HD, 2. Stück, S. 191f.) 569 Ähnlich hatte bereits der in der Vorrede zur Hamburgischen Dramaturgie ausdrücklich gewürdigte Schlegel für eine affektive Anteilnahme der Zuschauer als theatraler Wirkungsvoraussetzung argumentiert: »Denn nie kann man zuverläßiger von der Aufmerksamkeit des Zuschauers versichert seyn, als wenn sein Herz an der Handlung Antheil nimmt.« (DT, 283) Vgl. zum Einfluss Schlegels auf Lessing Wild: Tradition und Neubeginn, S. 150-159.

II Die Pädagogisierung des Theaters

weist sich damit als eine Unterrichtsbedingung aus, die diesen Unterricht als Unterricht zugleich kaschiert. Weil der Zuschauer in Folge der Wahrscheinlichkeit der Darstellung Ähnlichkeiten entdeckt, also nicht offenkundig belehrt wird, sondern ›Umgang mit Menschen‹ hat und dabei die Darstellung als Darstellung ausblendet, kann schließlich jener Temperierungsprozess in Gang gesetzt werden, um den Lessings Aristotelesaktualisierung zentriert ist.570 Die Voraussetzung dazu liegen jedoch nicht ausschließlich auf Seiten der Darstellung, des Dargestellten und der Darsteller, sie sind eben nicht allein theatraler, dramaturgischer und histrionischer Art,571 sondern finden sich auch in einer bestimmten räumlichen Aufteilung eines pädagogisierten Auditoriums. Erst wenn das Publikum entsprechend organisiert, in seinen heterogenen Interessen adressiert, seine Aufmerksamkeit sichergestellt und es auf ein bestimmtes Rezeptions- wie Reaktionsverhalten eingestimmt ist, wenn also eine bestimmte Disziplinierung und Konditionierung572 eine Neuordnung des Publikums zu bewirken beginnt, greifen die von Foucault als Disziplin beschriebenen Techniken »zur Erkennung, zur Meisterung und zur Nutzbarmachung« vollends; erst dann wird es möglich, »jeden Augenblick des Verhaltens eines jeden überwachen, abschätzen und sanktionieren zu können; die Qualitäten und Verdienste zu messen.«573 In der Pädagogisierung des Publikums berühren sich so Disziplinierung als Prozess und Disziplin als machtbasierte Organisa‐tions-, Wissens- und Individualisierungsstechnik. Sie verwandelt den Zuschauer- in einen panoptischen Observationsraum, in dem das Publikum nicht allein auf die Bühne, sondern auch aufeinander schaut, sich bei Bedarf unmittelbar (noch im Theater) oder mittelbar (im Theaterjournalismus) maßregelt und dabei zugleich in einer reziproken Optimierungsrelation mit dem Bühnengeschehen verknüpft ist. Der Pädagogisierungsprozess selbst generiert dabei Verdoppelungen und Spiegelungen, die das Theater in einen endlos sich verzweigenden Erziehungsraum verwandeln: Erzogene Zuschauer erziehen Zuschauer, indem sie ihre Erzogenheit innerhalb des Auditoriums als exemplarisch zur Aufführung bringen, damit letztlich die eigentliche Aufführung erzieherisch wirksam sein kann, die ihrerseits wiederum stets den prüfenden Blicken und Urteilen des Publikums ausgesetzt ist, ebenfalls mittel- wie unmittelbar – alle Relationen, die in diesem Raum gestiftet werden sollen, sind pädagogisch motiviert, hergerichtet und wirksam. Diese Dynamik erfasst die verlebendigenden Erziehungsagenten auf der Bühne jedoch nicht nur von Zuschauerseite her, die Schauspieler werden, wie im Fol570 Heßelmann betont in diesem Zusammenhang, »[w]ie sehr Lessing Täuschung und Mitleid in einer Dependenz sah« (Gereinigtes Theater, S. 343). 571 Vgl. II.6. 572 Vgl. Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 391. 573 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 184.

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genden Kapitel aufgezeigt wird, auch hinter den Kulissen Objekte umfassender pädagogischer Bestrebungen.

6   Die Pädagogisierung des Schauspielers Der Formungsprozess der Pädagogisierung, der das Dispositiv des Reformtheaters maßgeblich strukturiert, umfasst nicht allein die Generierung nützlicher Inhalte, die, von entsprechend geschulten Poeten geliefert und mindestens ebenso kenntnisreichen Kunstrichtern überwacht, einem idealiter zur richtigen Aufnahme bereits hergerichteten Publikum vorgestellt werden, sondern auch den Akt der Vermittlung und insbesondere die Vermittler. Die ab der Jahrhundertmitte verstärkt einsetzenden Überlegungen zur Etablierung und Systematisierung einer Schauspielkunst befassen sich dementsprechend nicht allein mit der Optimierung des Bühnenspiels.574 Vielmehr geraten die Schauspieler selbst in den Fokus eines Diskurses, der ihre soziale Randstellung als Folge von Erziehungsdefiziten perspektiviert, die korrigiert werden können und denen gezielt beizukommen ist, nicht zuletzt mit dezidierten Schulprojekten für Schauspieler und solche, die es werden wollen.575 Die entsprechenden Pläne und Überlegungen fallen insofern stärker mit einer Institutionalisierung der Theatererziehung zusammen, was zur Folge hat, dass hier mitunter in zweifacher Hinsicht von Erziehern und Lehrern gesprochen wird: mit Bezug auf den pädagogisierten Schauspieler und auf diejenige pädagogische Instanz, die ihn in unterschiedlich stark ausgeprägten institutionellen Rahmungen dazu befähigen soll, seine Funktion in der moralischen Anstalt zu erfüllen. Einmal zum Objekt pädagogischer Bestrebungen geraten, wird von den Schauspielern bald schon toposhaft gefordert, ihrer selbstverschuldeten schlechten Reputation576 die Grundlage zu entziehen und ihren Lebenswandel denjenigen an574 Vgl. zur vereinzelten Thematisierung der Schauspielkunst im Gottschedumfeld und einem ersten Anwachsen des Diskurses ab der Jahrhundermitte Graf: Theater im Literaturstaat, S. 132f.; Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 164. 575 Vgl. Tim Zumhof: Die Erziehung und Bildung der Schauspieler. Disziplinierung und Moralisierung zwischen 1690 und 1830, Wien/Köln/Weimar 2018. 576 So etwa Johann Friedel, der seines Zeichens selbst Schauspieler ist: »Lüderlichkeit, Faulheit, Verschwendung, Zügellosigkeit, Hang zum ungebundnen freyen Leben – bey Frauenzimmern oft noch vorhergegangene Verführung, oder Begierde nach Gelegenheiten zu selber, sind – ich muß es zur Beschämung meines eigenen Standes bekennen, fast immer die geheime Triebfeder, worinne so manches lüderliche Muttersöhnchen, so manche bürgerliche Phryne in den Tempel der Thalia eilt, und unbesorgt um die Pflichten ihres Standes den mit so wenigem Talente, und Geschicklichkeit betretenen theatralischen Weg forttrabt.« (Johann Friedel: Philanthropin für Schauspieler, in: Theater-Journal für Deutschland, Siebzehntes Stück (1781), S. 15-27, hier: S. 20) Ähnlich äußert sich Knud Lyne Rahbek, dessen Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn ebenfalls im Theater-Journal für Deutschland sukzessive in deutscher Übersetzung

II Die Pädagogisierung des Theaters

zupassen, die die Modelle ihres Gefühlshaushalts, Verhaltens, Normen- und Wertegefüges nicht nur zunehmend, sondern mitunter überhaupt erst auf der Bühne vorgestellt bekommen wollen bzw. sollen. Diese Forderung aber ist kein bloßer Selbstzweck, die pädagogische Mission der moralischen Anstalt etabliert vielmehr einen wesentlichen Konnex zwischen der Gesinnung des Schauspielers und dem Gelingen des theatralen Unterrichts. Die Moralität der Darsteller muss mit derjenigen der Bühne deckungsgleich sein, sie wird als Voraussetzung einer erfolgreichen Vermittlung ausgemacht. Erst mit der Pädagogisierung der Schauspieler kann sich daher das Projekt der Theaterreform vollenden. Die dazu notwendige, angestrebte Kongruenz von individueller und institutioneller Gesinnung wiederum bedarf einer entsprechenden Darstellung, in deren Dienst die histrionischen Repräsentationsformen gestellt werden. Im Folgenden wird es allerdings weniger um Schauspielkunst im Sinne von Affektdarstellungsmodellen, eloquentia corporis oder der Debatten um den ›heißen‹ respektive ›kalten‹ Schauspieler gehen, wie sie in der Forschung bereits ausgiebig diskutiert wurde.577 In den Fokus gestellt werden vielmehr die Schauspielabgedruckt werden: »[A]llein ist es nicht ihre eigene Schuld, da sonst zu jeder neuen Truppe Akteurs herzuströmten, die ein Abschaum des menschlichen Geschlechts waren, Leute, die zum Theil nicht einmal lesen konnten, und nur deswegen aufs Theater giengen, um nach Herzenslust schwärmen zu können? Wer konnte da Achtung für Schauspieler haben? Das ist nun zwar so ziemlich anders geworden, allein noch lange blieben Akteur und Libertin, Aktrize und Kokette gleichbedeutende Worte.« Dieses »Vorurtheil […], zu dem ihr selbst die Veranlassung gabt« ([Knud Lyne Rahbek]: Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn, in: Theater-Journal für Deutschland, St. 13 (1780), S. 3-19, hier: S. 14f.), teilt sich in zwei gegenderte Maßlosigkeiten auf: Gilt der Akteur als »Ausschweifling« (ebd., S. 12), werden die Aktrizen, besonders ausgiebig etwa von Schiller, als »Töchter der Wollust (TT, S. 169) in die Nähe zur Prostitution gerückt. Vgl. zum topischen Charakter der Ermahnung etwa Wolfgang F. Bender: Vom »tollen« Handwerk zur Kunstübung. Zur »Gramatik« der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 11-50, hier: S. 15; vgl. zum Status des Schauspielers Koebner: Zum Streit für und wider die Schaubühne, S. 31f.; Graf: Theater im Literaturstaat, S. 131; den Spagat zwischen sozialer Verachtung und künstlerischer Bewunderung betont Maurer-Schmoock: Deutsches Theater, S. 103; ausführlicher widmen sich dem Thema etwa Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin, S. 146-160 und Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 254-265. 577 Vgl. zur Schauspielkunst allgemein den von Wolfang F. Bender herausgegebenen Sammelband Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1992; Maurer-Schmoock: Deutsches Theater, S. 149-201; zu den theoretischen Grundlagen der neuen Schauspielkunst Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 329-372; zur Neumodellierung von Körper und Sprache des Schauspielers in diesem Zusammenhang Graf: Das Theater im Literaturstaat, S. 130-145; zur Theorie der Darstellung Brandstetter: Figura: Körper und Szene; Käuser: Körperzeichentheorie und Körperausdrucktheorie; zur Geschichte und Theorie der eloquentia corporis Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 31-182; zum Verhältnis von Schauspielkunst und Rhetorik Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 222-229; zum Maß der rechten Darstellung Krebs: Die frühe Theaterkritik, S. 480f.

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kunst als pädagogischer Gegenstand, ihre Voraussetzungen, Konturen, Aufgaben und Pflichten, wie sie sich, in einem zunehmend institutionalisiert gedachten Rahmen, in verschiedenen Schul- und Unterrichtsarrangements diskursiv niederschlagen.578 Diese Pläne fokussieren und korrelieren zwei Bereiche: Unterweisung in verschiedenen Wissensfeldern sowie Übung in technischen respektive künstlerischen Aspekten einerseits und Modellierung von charakterlicher Disposition und Verhalten andererseits. Dabei wird sich neben dem Bemühen um eine Nobilitierung des Schauspielens zur (freien) Kunst nicht nur das diskursive Primat einer auf Nützlichkeit hin ausgerichteten, über den Theaterberuf hinausgehenden, moralischen Erziehung im Zeichen des Maßes zeigen. Es wird auch deutlich werden, wie in den verschiedenen Plänen und Entwürfen zur Institutionalisierung dieser Erziehung die zu etablierende Schauspielkunst mit den bereits untersuchten Funktionsstellen des Dichters und des Kritikers verknüpft wird und schließlich, inwiefern diese Pläne in Bezug stehen zu den Überlegungen des Philanthropismus, der als zweites großes Reformprojekt des 18. Jahrhunderts anschließend ausgiebig in den Fokus gerückt wird.

6.1   Institutionalisierungsprozesse: Akademien, Philanthropine, Lehrer und Lernende Am 25. Oktober 1776 besucht der Schauspieler Johann Heinrich Friedrich Müller auf seinem Weg von Berlin nach Hildesheim Lessing in Wolfenbüttel. Müller befindet sich zu dieser Zeit im Auftrag Josephs II. auf einer Reise durch Deutschland, um Bericht zu erstatten über die dortige Theaterlandschaft und Schauspieler für das erst kürzlich umbenannte Teutsche Nationaltheater in Wien zu engagieren, an dem er selbst seit Beginn der 1760er Jahre tätig ist. Im Gespräch äußert sich Lessing anerkennend, aber nicht unkritisch über die Wiener Bühne. Er legt daher Müller nahe, dem Kaiser vorzuschlagen, zur möglichen weiteren Optimierung »ein Theater=Philanthropin zu errichten«579 . Seine kurz wiedergegebene Skizze dieses Projekts umfasst in nuce die wesentlichen Aspekte, die den diskursiven Fokus auf 578 Dass in diesen Plänen selbst »die Technik der Schauspielkunst« ohnehin weniger stark im Fokus stand als »die neuen, durch die Literarisierung des Theaters entstandenen Anforderungen und – hier lag der Schwerpunkt – […] das moralische Verhalten des Schauspielers im öffentlichen Leben«, betont Peter Schmitt: Schauspieler und Theaterbetrieb. Studien zur Sozialgeschichte des Schauspielerstandes im deutschsprachigen Raum 1700-1900, Tübingen 1990, S. 126. Die zeitgenössischen Schauspieler- und Darstellungsdebatten spielen hingegen für das Auftreten und die Wirkung der reformpädagogischen Erzieherfigur eine wichtige Rolle, vgl. III.3.2. 579 Johann Heinrich Friedrich Müller: J.H.F. Müller’s Abschied von der k. k. Hof- und NationalSchaubühne: Mit einer kurzen Biographie seines Lebens und einer gedrängten Geschichte des hiesigen Hoftheaters, Wien 1802, S. 133.

II Die Pädagogisierung des Theaters

den Schauspieler und die entsprechenden Pädagogisierungsbestrebungen ausmachen. Damit sich die Schauspielkunst als Kunst behaupten kann, ist, so Lessing, eine Schule nötig, die die Unterrichtsgegenstände systematisiert, konzentriert vermittelbar macht und zugleich eine zentrale pädagogische Aufgabe übernimmt: die Organisation von Prägekräften. In dieser Schule sollen die Zöglinge also die Möglichkeit haben, sich »durch eifriges Studium und mühsamen Schweiß«580 – auch sozial und jenseits der Bühne – auszuzeichnen. Und damit Kunst und Leben, »die Bildung [des] Künstlers« und die »moralische[] Bildung«, entsprechend dauerhaft in Form gebracht werden können, müssen »[a]lle Empfindungen, Leidenschaften, Neigungen und Fähigkeiten […] in ihrem ersten Keime geleitet werden, wo das weiche unbefangene Herz noch jeder Biegung gehorcht«, denn: »Diese Eindrücke sind unvertilgbar, und ihr Einfluß wirkt durch das ganze Leben.«581 Neben der Absicht, Künstler- und Menschenerziehung nicht nur institutionell zu vereinen, sondern beide einander als jeweils integrale Bestandteile zuzuordnen, ist auch Lessings Forderung nach moralischer Kongruenz von Darstellung und Darsteller von diskursiver Relevanz und rührt an das Kernproblem, das die Schauspielererziehung für die Theaterreform überhaupt so notwendig werden lässt. Tummeln sich, unabhängig von aller technischen Finesse, auf der Bühne lediglich »Idioten und sittenlose Menschen«, wird das ganze Projekt der moralischen Anstalt und ihr komplexes pädagogisches Netz von einer einzigen pädagogischen Leerstelle sabotiert: Dann wird »ihr edler Zweck […] durch unedle, nicht nach Grundsätzen dazu erzogene Mitglieder […] vereitelt«582 . Die Idee zu einer solchen systematisierten, auf Grundsätzen beruhenden Schauspielererziehung findet sich allerdings nicht erst bei Lessing. Als »premier essai d’éducation collective des acteurs«583 kann die Akademie der Schönemannischen Gesellschaft gelten, die 1753 auf Betreiben von Conrad Ekhof ins Leben 580 Ebd. 581 Ebd. Vgl. diesbezüglich II.4.2. 582 Müller: Abschied, S. 134. Müller selbst versuchte wenige Jahre später, Lessings Plan in Wien in die Tat umzusetzen. An seinem Philanthropin sollten Kinder für den Theaterberuf ausgebildet werden und führten regelmäßig Stücke öffentlich auf. Den tatsächlichen Nutzen solcher »Kindergesellschaften« – und ebenso ausführlich wie ausdrücklich der Müllerschen – zieht der ebenfalls in Wien für sein eigenes Schauspielerphilanthropin um (Müllers) Geldgeber werbende und in diesem Kapitel noch ausführlich zu Wort kommende Johann Friedel massiv in Zweifel (Beschluß des Philanthropins für Schauspieler, in: Theater-Journal für Deutschland, Achtzehntes Stück (1781), S. 16-28, hier: S. 21). Vgl. zu Müllers Truppe und Friedels Kritik daran Schmitt: Schauspieler und Theaterbetrieb, S. 128. Grundsätzlich gegen solche Kindergesellschaften richtet sich die Kritik in der philanthropistischen Diskussion des Kindertheaters, vgl. III.2.3. 583 Krebs: L’Idée de »Théâtre National«, S. 293. Vgl. zur ansonsten üblichen knappen Unterweisung angehender durch erfahrene Schauspieler etwa Schmitt: Schauspieler und Theaterbetrieb, S. 111-116.

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gerufen wird und sich im Verlauf ihres etwas mehr als einjährigen Bestehens bereits mit allen in den weiteren Debatten über die Schauspielkunst wichtigen Themen auseinandersetzt. Wie das von Ekhof geführte Journal der Akademie deutlich macht, verbindet sich diese umfassende Auseinandersetzung mit dem Vorsatz, »zur Aufnahme des Theaters und eines jeden insbesondere etwas beyzutragen«584 . Beides, die individuelle Optimierung und die des Theaters fallen in dem Bestreben in eins, die Schauspielkunst als Kunst zu etablieren. Dazu soll nicht nur der Schauspieler in seinem neu zu entwerfenden Anforderungsprofil mit anderen Funktionsstellen des reformierten Theaters kurzgeschlossen werden, die Akademie stellt auch den Versuch dar, seine zu erwerbenden Kenntnisse, seine Arbeitshaltung sowie seinen Lebenswandel festzuschreiben. Und das ganz buchstäblich: Den alle 14 Tage angesetzten Versammlungen, die ausschließlich den Mitgliedern der Gesellschaft offen stehen, liegt ein von Ekhof aufgesetzter Katalog verpflichtender »Verfassungen« (Journal, S. 10) zugrunde, der die Sitzungsinhalte und administrative Aspekte ebenso festsetzt, wie er unter Strafandrohung regelmäßige Teilnahme, Entschuldigungen im Krankheitsfall, Pünktlichkeit, Geheimhaltung und ein entsprechendes »Verhalten der Einzelnen« anmahnt, das »[d]ie Versammlung beurteilt und überwacht«585 . So heißt es etwa im Artikel 7: »Keiner von den Mitgliedern muß, entweder im geringsten betrunken, oder in einer andern Unordnung des Verstandes erscheinen«, und im Artikel 11: »Alle Mitglieder der Academie sollen sich einander höflich und bescheiden begegnen; aller unanständiger Spaaß, Privat-Haß, Sticheleyen oder wohl gar Heftigkeiten und pöbelhafte Ausdrücke aber sollen auf das sorgfältigste vermieden werden, bey scharfer Strafe, nach Gutbefinden des Präsidis oder der Mehrheit der Stimmen der Academie.« (Journal, S. 11f.) Im Zeichen der Mäßigung wird hier ein gemeinsamer Diskussions- und wechselseitiger Erziehungsraum etabliert, in dem nach und nach für jeden behandelten Gegenstand »eine gewisse Ordnung« (Journal, S. 26) bestimmt werden soll, die allein als »Grundlage jeder vernünftigen Handlung« (Journal, S. 21) und damit als Beitrag zur angestrebten Optimierung ausgemacht wird. Auf eine Diskrepanz zwischen Sein und Sollen innerhalb der Gesellschaft lassen jedoch nicht nur die ausführlichen Verhaltensregeln der Verfassungen schließen, sondern vor allem deren 584 Heinz Kindermann: Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie, Wien 1956, S. 8. Im Folgenden mit der Abkürzung Journal und Seitenzahl direkt im Text zitiert. Vgl. zur Schönemannischen Akademie ausführlich Zumhof: Die Erziehung und Bildung der Schauspieler, S. 336-355; ferner Krebs: L’Idée de »Théâtre National, S. 285-293; Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 171-173; Graf: Theater im Literaturstaat, S. 132-135; Schmitt: Schauspieler und Theaterbetrieb, S. 171-179; Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 296f. 585 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 134.

II Die Pädagogisierung des Theaters

offensichtliche Nichtbeachtung, die Eckhof immer wieder latent und in einer längeren Anmerkung zur Sitzung vom 28. Juli 1753 explizit beklagt: »Sie sehen aus diesen Anmerkungen wohl, meine Herren und Damen, daß ich Ursache habe, mich über das Vergangene zu beklagen, und mich deswegen vor den Folgen fürchte. Die Verfassungen sind unsere Grundgesetze, sie sind die Richtschnur, wornach wir die Betrachtungen anzustellen und auszuüben haben. […] Die Ermahnungen und Bestrafungen müssen also von ihnen nach Befinden der Sache mit Nachdruck geschehen, wie es das Ansehen ihres Amts erheischt, ohne daß dieser Nachdruck für eine Beleidigung gehalten werden kann, und ohne daß die Schuldigen sich hierüber entrüsten können; Sie müssen sie vielmehr als Warnungen, die zu ihrem Nutzen gereichen, mit Erkänntlichkeit annehmen.« (Journal, S. 19) Hier zeigt sich deutlich der pädagogische Impetus der Akademie. ›Ermahnungen und Bestrafungen‹ sind nicht Ausdruck persönlicher Befindlichkeiten und Kabale, sie reagieren vielmehr auf Transgressionen der in den ›Verfassungen‹ objektivierten Maßstäbe, deren verpflichtender Charakter sich darüber legitimiert, dass sich die Akademie »als Einrichtung der Erziehung aller Akteure zur Verantwortlichkeit für das Ganze des Theaters«586 versteht. Dass der Schauspieler im Zuge der Reform eine (Selbst-)Disziplinierung durchläuft, ist in der Forschung bereits thematisiert worden,587 nicht jedoch die Voraussetzungen und Stimuli dieses Prozesses, die Techniken und Prozeduren der Disziplin, die in der Pädagogisierung der Schauspieler deutlicher noch als in der des Publikums ihre besondere Anschlussfähigkeit an erzieherisch motivierte Institutionalisierungen und Formungsprozesse zeigen: etwa, im Falle der Akademie, in der Beobachtung und Bewertung aller durch alle, oder den Sanktionen, die hier greifen. Dass sich die Mechanismen der Disziplin »von innen her mit der Ökonomie und den Zwecken der jeweiligen Institution [verbinden]«588 , hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf die Institution, sondern umgekehrt auch auf die disziplinären Mechanismen. Die Ausrichtung und die Zwecke der Institution spezifizieren ihre jeweilige Form und Wirkung. In Ekhofs Akademie zeigt so sich bereits, was später auch für das Relationsgefüge der sich institutionalisierenden Pädagogik charakteristisch sein wird:589 Jede Sanktion ist eigentlich gut gemeint und kann 586 Ebd., S. 133. Diese »fonction éducative« betont auch Krebs: L’Idée de »Théâtre National«, S. 286. 587 Vgl. etwa Koebner: Zum Streit für und wider die Schaubühne, S. 32; Bender: Vom »tollen« Handwerk zur Kunstübung, S. 38; Graf: Theater im Literaturstaat, S. 145-155; Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 58-62; Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin, S. 17, 132-146; Krebs: Die frühe Theaterkritik, S. 475; Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 279-328; Wild: Theater der Keuschheit S. 278. 588 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 228. 589 Vgl. III.3.2.

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deswegen auf Einsicht setzen. Ihr wird nicht aus Furcht gehorcht, sondern Folge geleistet aus Dankbarkeit – und die speist sich, hier am Beispiel der Akademie, aus dem Vorsatz zur Selbstoptimierung, den wiederum die immer nur auf Besserung zielende, nützliche Erziehungseinwirkung stimulieren will. Weil der Sanktionskatalog »die Aufgabe [hat], Abweichungen zu reduzieren« und »darum wesentlich korrigierend« wirkt, also »weniger die Rache des verletzten Gesetzes als vielmehr seine Wiederholung, seine nachdrückliche Einschärfung« ist, fungiert er durchaus als »Disziplinarstrafe«590 . Weil aber diese Strafe eigentlich gar keine zu sein scheint, sondern auf einen »Besserungseffekt«591 zielt und dementsprechend als Warnung, guter Rat, oder Hilfe aufgenommen werden will, verlangt sie nach einer angemessenen Reaktion: einer Annahme und Beherzigung, die nicht verdrossen, sondern erfreut ist über den nützlichen Impuls. Dies gilt für die festgelegten Sanktionen eben so sehr wie für die ebenfalls während der Sitzungen abgehaltene Aufführungskritik, die »[i]n unpartheyischen, ohne Ansehen der Person, von allen Vorurtheilen und Schmeicheleyen entfernten critischen Betrachtungen über die Stücke und ihrer Vorstellungen« dafür sorgen soll, dass »etwa untergeschlichene Fehler abgeschaffet oder verbessert werden können.« (Journal, S. 13) Damit verfolgt die Akademie mehrere Ansprüche: Die Kritik ist als eine im kollektiven Austausch gefundene und über den Konsens ebenso gerechtfertigte wie gerechte gedacht. Deswegen kann sie auf eine entsprechende Reaktion setzen und auf ein nachdrückliches, kollektives Durchsetzen des vernünftig Angemahnten: Erwartet wird, »daß ein solcher oder solche, die etwa in den Sitzungen von ihm oder ihr angemerkte und durch die Mehrheit der Stimmen bestätigte Fehler verbessern, und vernünftige Erinnerungen vernünftig annehme. Im Fall aber ein solcher oder eine solche sich darinne gegen das Ansehen des Directeurs der Gesellschaft widerspenstig erwiese und sich weigere, diese Anmerkungen anzunehmen oder sich darnach zu verhalten, so sollen alle und jede Mitglieder der Academie verbunden seyn, das Ansehen des Directeurs hiebey zu unterstützen und ihren gefaßten Entschluß gegen den Widerspenstigen aufs nachdrücklichste zu vertheidigen und zu behaupten.« (Journal, S. 14) Mit diesem Anspruch nun verleibt sich die Akademie diejenige Funktionsstelle der moralischen Anstalt ein, die, über Theaterjournalismus und erzogene Zuschauer verteilt, die Arbeit der Schauspieler von außen überwacht und bewertet. Die Autorität, die etwa Reichard später seinem idealen Parterre zuspricht, nämlich »den Schauspieler zu benachrichtigen, daß das gespielte Stück entweder einer guten Vorstellung fähig sey oder nicht, daß es an ihm allein gelegen, daß das Stück 590 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 232. 591 Ebd.

II Die Pädagogisierung des Theaters

verlohren habe, oder nicht gehoben worden«592 , versucht Ekhofs Projekt als integralen Bestandteil der neu zu formenden Schauspielkunst zu etablieren. Das Kunstrichteramt soll ihr als Funktion einverleibt werden und auch im geschlossenen pädagogischen Verbund der Akademie aufgehen. In diesem Verbund und seiner immer auch mitbehaupteten Gleichheit der Sprecher im diskussions- und lektürebasierten Unterricht ist die maßgeblich antreibende Kraft nicht der Directeur Schönemann, sondern der Initiator und »spiritus rector«593 Ekhof, der sich eine zunächst ausdrücklich nicht in Anspruch genommene pädagogische Autorität im Nachhinein über den Zuspruch seiner ›Klassenkameraden‹ implizit zukommen lässt: »Glauben Sie aber nicht, daß ich mich dabey zum Lehrer aufzuwerfen willens bin; Im geringsten nicht. Ich bin ein Lernender. Mein Vortrag wird in nichts als in Anträge, Betrachtungen, Vorlesungen fremder Schriften über die Schauspielkunst und in Anmerkungen über dieselben bestehen; wobey ein jedes Mitglied die Freyheit behalten, und, was noch mehr, gebührend darum gebeten wird, seine Gedanken nach der Vorschrift des 10ten Artikels zu erkennen zu geben; ich hergegen werde die meinige selbst nicht eher für gegründet halten, biß sie von der Academie geprüft und für richtig erkläret worden sind.« (Journal, S. 20f.) Die noch im Fahrwasser dieser Vermittlerposition vorgetragenen und kollektiv affirmierten eigenen Gedanken Ekhofs verwandeln sich jedoch sogleich selbst in Unterrichtsgegenstände, der Diskussionsstoff wird Didaxe, die, über die Art der Disqualifizierung jeglicher Verweigerung, auch für den Schauspielerstand hinterrücks eine nie endende Optimierungsnotwendigkeit mitklingen lässt: »Ich werde mich bemühen, durch meine Betrachtungen Anfängern Einsicht beyzubringen, und ihnen die Mittel zu zeigen, in dieser Kunst eine Geschicklichkeit zu erlangen. Ich werde mir und denen, welche schon Begriffe davon haben, zur Uebung reden und Gelegenheit zu fernern Nachdenken geben; und blos denen werden meine Betrachtungen überflüssig und lächerlich vorkommen können, welche glauben, daß sie den höchsten Gipfel der Vollkommenheit längst erreicht haben.« (Journal, S. 21) Die Besetzung einer solchen edukativen Funktionsstelle, einer Lehr- und Erziehungsinstanz der Schauspieler, wird in den verschiedenen Schulplänen und -projekten unterschiedlich konturiert, figuriert und problematisiert. Ist sie im Rahmen der Schönemannischen Akademie Ekhofs Amt nicht fest eingeschrieben, 592 Reichard: Versuch über das Parterre, S. 59. Tatsächlich steht Reichard ab Ende 1775, dem Erscheinungsjahr seines Versuchs, mit Ekhof zusammen als Direktor dem Hoftheater in Gotha vor. 593 Schmitt: Schauspieler und Theaterbetrieb, S. 171.

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sondern eher seinem stärkeren Engagement geschuldet, findet sie sich als Bestandteil der wesentlichen intratheatralen Autoritätsposition wenige Jahre später in Johann Friedrich Löwens Vorläufiger Nachricht von der auf Ostern 1767 vorzunehmenden Veränderung des Hamburgischen Theaters. Er erklärt hier nicht nur die Erziehung der (angehenden) Schauspieler zu einem wesentlichen Bestandteil des neuen Theaters, sondern macht sie auch gleich zur Chefsache: Der moralisch integre, kenntnisreiche Direktor der Hamburgischen Entreprise, der bekanntlich Löwen selbst war, hat »ausser den bekannten Pflichten, die einem jeden Directeur obliegen, noch die so höchst nothwendige Verbindlichkeit über sich genommen […], für die Bildung des Herzens, der Sitten und der Kunst junger, angehender Schauspieler zu sorgen; so kann man leicht denken, daß das Publicum sich in der Erwartung, die man ihm macht, gewiß nicht betriegen wird. Man ist willens, dieser Gesellschaft gesitteter und einsichtsvoller Leute alle die Vortheile zu verschaffen,die man in einer theatratralischen Akademie gewinnen kann.«594 Der noch einige Jahre später im Theater-Journal für Deutschland veröffentlichte Artikel Philanthropin für Schauspieler wiederum kann für eine der den Text strukturierenden Leitfragen – »Wer sollen die Lehrer an diesem Philanthropin seyn?«595 – keine Antwort finden: Schauspieler kommen dafür einerseits aufgrund ihrer Arbeitsbedingungen (Wanderbühnen, ökonomische Abhängigkeiten) nicht in Betracht und andererseits ist ihr anzunehmendes Fachwissen nicht notwendig mit methodisch‐didaktischer Kompetenz zu verwechseln – auf der Bühne pädagogisch zu wirken heißt nicht automatisch, hinter der Bühne als Pädagoge auftreten zu können. Aus ähnlichen Gründen kommen auch keine pensionierten Schauspieler in Frage.596 Gleichwohl ist die Beantwortung dieser Frage für Friedels Text aufgrund des am weitesten ausgeprägten Institutionalisierungsgrades von besonderer Relevanz. Seine Skizze sieht das Schauspielerphilanthropin als eine weiterführende, vertiefende Schule, die sich an einen allgemeinen Elementarunterricht anschließt, denn: 594 Johann Friedrich Löwen: Vorläufige Nachricht von der auf Ostern 1767 vorzunehmenden Veränderung des Hamburgischen Theaters, in: Johann Friedrich Löwens Geschichte des deutschen Theaters (1766) und Flugschriften über das Hamburger Nationaltheater (1766 und 1767), hg. v. Heinrich Stümcke, Berlin 1905, S. 85-90, hier: S. 87. Vgl. zu diesem Anspruch Krebs: Die frühe Theaterkritik S. 477. Das Modell für Löwens Pläne dürfte die Schönemannische Akademie geliefert haben, deren Hauptprotagonist Ekhof ja auch Teil des Hamburger Nationaltheaters war. Von einem solchen Einfluss überzeugt ist etwa Kindermann, vgl. seine dem Journal nachgestellte Abhandlung Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie, S. 83. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Krebs, vgl. L’Idée de »Théâtre National«, S. 293. 595 Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 23. Vgl. zu Friedels Plan weitestgehend resümierend Schmitt: Schauspieler und Theaterbetrieb, S. 126-128; Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 299f. 596 Vgl. Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 24f.

II Die Pädagogisierung des Theaters

»Der Schauspieler ist Mensch wie jeder andre; er hat also eben die Pflichten, und alle die Kenntnisse nöthig, die jedes Glied des Staates unumgänglich nöthig hat, wenn es ein würdiges, brauchbares Glied desselben seyn will. Es giebt vorläufige Unterrichte, die sich auf alle Stände verbreiten. Diese muß der zu bildende Schauspieler eben sowohl geniessen, wie die andern Zöglinge.«597 Das Philanthropin nun öffnet seine Tore nur für diejenigen, die »man in öffentlichen Schulen tüchtig zum Theater fände, nach vorhergegangenen nöthigen allgemeinen Unterricht ausläse, und sodenn der besondern Theaterbildung unterzöge.«598 Die entsprechenden Talente zu entdecken, obliegt den Elementarschullehrern, deren Beobachtungskompetenz sich besonders dort entfalten kann, wo ihre Zöglinge sich spielerisch beschäftigen.599 Und wo könnte sich nun eine mögliche Berufseignung künftiger Bühnendarsteller besser zu erkennen geben, als im Schultheater: »Durch die, in so manchen Schulen üblichen Kinderkomödien, welche ich wünschte, daß sie statt so vieler anderer weniger nutzbaren Unterhaltungen allgemeiner würden – könnte von dem geschickten aufmerksamen Lehrer das zum Theater verborgen liegende Talent frühzeitig genug entdeckt, und sodann benutzt werden.«600 Die im Folgenden noch zu untersuchenden Unterrichtsinhalte am SchauspielerPhilanthropin und ihre Herleitung aus einer ebenfalls noch genauer zu bestimmenden, neuen beruflichen wie sozialen Verortung der Schauspieler zeichnen jedoch das Bild einer weit weniger spezialisierenden Ausbildungsstätte, als ihr Berufsfokus es vermuten lässt: Sie macht nicht allein für die Bühnenkunst tauglich, sondern für eine sich im Zusammenspiel von Maß und Nützlichkeit gleichermaßen konstituierende wie legitimierende Lebensweise. Eine nützliche Kunst wird hier also gerade nicht von einer Nützlichkeit im gesellschaftlichen Leben getrennt: Das Philanthropin soll sich damit rühmen können, am Ende der schulischen Laufbahn »nützliche und rechtschaffene Bürger gebildet zu haben«601 , die, auch wenn sie sich gegen den Schauspielerberuf entscheiden, aufgrund dieser Qualitäten »dem Staate, auch in jedem andern Stande nützlich«602 sein werden. 597 Ebd., 21. 598 Ebd., S. 22. 599 Der gleichen Überzeugung sind auch die Philanthropisten, Vgl. III.2.3.1. 600 Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 22. Gänzlich konträr sind hier die Absichten, die die Philanthropisten mit dem kindlichen Theaterspiel verfolgen: Hier sollen die Zöglinge gerade nicht lernen, gut zu spielen, sondern sie selbst zu sein und zwar so, wie sie aus der Sicht ihrer Erzieher sein sollen, vgl. III.2.3.2. 601 Friedel: Beschluß des Philanthropins für Schauspieler, S. 22. 602 Ebd., S. 24. In dieser Absicht stimmt es mit den namensgleichen Institutionen und der zugrundeliegenden Programmatik der Reformpädagogik überein, vgl. II.1.

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Damit sind zwei zentrale Aspekte der Pädagogisierung der Schauspieler angesprochen: eine Erziehung zur Nützlichkeit und eine damit einher gehende soziale Aufwertung des Schauspielerberufs. Beides steht in engstem Zusammenhang mit den Inhalten der Schauspielschulprojekte und ruht auf deren gemeinsamen Nenner, eine Kunst zu etablieren, die von respektablen Künstlern ausgeübt wird, deren Reputation sich der Qualität ihrer Arbeit mindestens ebenso wie ihrem privaten Betragen und ihrer charakterlichen Disposition verdankt.

6.2   Auf dem Weg zur Schauspielkunst In seinem Rundumschlag am Ende der Hamburgischen Dramaturgie nimmt sich Lessing auch die von ihm selbst mit seinen Übersetzungsarbeiten angestoßene und vorangetriebene Diskussion um die Schauspielkunst zur Brust, deren hier beklagter Verlust noch im Gespräch mit Müller einige Jahre später nachhallt und deren endliche Neubegründung dort unmittelbar mit einem schulisch institutionalisierten Bühnenberuf in Bezug gesetzt wird: »Wir haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. Wenn es vor Alters eine solche Kunst gegeben hat: so haben wir sie nicht mehr; sie ist verloren; sie muß ganz von neuem wieder erfunden werden. Allgemeines Geschwätze darüber, hat man in verschiedenen Sprachen genug: aber specielle, von jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Präcision abgefaßte Regeln, nach welchen der Tadel oder das Lob des Akteurs in einem besondern Falle zu bestimmen sei, deren wüßte ich kaum zwei oder drei. Daher kömmt es, daß alles Raisonnement über diese Materie immer so schwankend und vieldeutig scheinet[.]« (HD, 101.-104. Stück, S. 683f.) Hier nun Präzision und Eindeutigkeit, eben ›Ordnung‹ zu schaffen, ist mit der Schönemannischen Akademie bereits das Anliegen Ekhofs, dessen Spiel wiederum während der gemeinsamen Zeit am Hamburger Nationaltheater Lessings eigene Überlegungen zum Schauspieler befeuert.603 603 Vgl. zu den um ein rechtes Maß der Darstellung kreisenden, in der Forschung breit diskutierten Überlegungen zur Schauspielkunst, wie sie Lessing vor allem im 3. bis 5. Stück der Hamburgischen Dramaturgie entwickelt sowie seine die Diskussion massiv prägenden Übersetzungen von Riccoboni, Sainte-Albine und Dubos u.a. Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 164-171; Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 2: Vom »künstlichen zum »natürlichen« Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung, 2. durchgesehene Auflage Tübingen 1989, S. 103-184; Bender: Vom »tollen« Handwerk zur Kunstübung, S. 24-41; Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 117-151; Claudia Jeschke: Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Wolfgang F. Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 85-111; hier: S. 102; Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 277-309; Rothe: Lesen und Zuschauen, S. 172f.; Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 357-359.

II Die Pädagogisierung des Theaters

Dieses Bestreben findet seinen nachhaltigen Ausdruck in Ekhofs Vorhaben, »die Gramatik der Schauspielkunst [zu] studieren« (Journal, S. 21): Sie soll dazu dienen, das Bühnenspiel ebenso wie seine Bewertung auf eine objektive Grundlage zu stellen. Als Methode, Legitimierungs- und Formgewinnungsstrategie ist dieser Ansatz durchaus charakteristisch für die Dynamik der Reform, denn: »Wie für die Theaterreformer die Erfüllung der Regeln das gute Drama auszeichnet, so suchen nun die Schauspieler die Regeln der Schauspielkunst zu ergründen, um das gute Spiel vom schlechten zu unterscheiden.«604 Diese Regeln sollen aber nicht nur die Grundlage einer Fremd- sondern auch einer Selbstbewertung, ja überhaupt erst die Standards einer Bewertbarkeit festlegen, die nicht länger beliebig sind, sondern vernunftgemäß richtig. Ihre Kenntnis ist wesentlich für die angestrebte ›Aufnahme‹ und ihr Studium soll dementsprechend Einsicht liefern in kausale Zusammenhänge, nach denen Regelhaftigkeit und Qualität organisiert sind: Es soll »uns mit den Mitteln bekannter machen, durch deren Anwendung wir zu der Fähigkeit gelangen, die Ursachen von allem einzusehen, nichts ohne hinlänglichen Grund zu reden noch zu thun« (Journal, S. 21). Als Zentrum dieser Grammatik macht Ekhof ein Prinzip aus, das die als eine solche verstandene Schauspielkunst diskursiv sicher zu verorten vermag: »Die Schauspielkunst ist: durch Kunst der Natur nachahmen und ihr so nahe kommen, daß Wahrscheinlichkeiten für Wahrheiten angenommen werden müssen oder geschehene Dinge so natürlich wieder vorstellen, als wenn sie jetzt erst geschehen.« (Journal, S. 17) Die Grammatik bezeichnet also nicht nur das objektive, lern- und lehrbare Fundament der Schauspielkunst und akzentuiert damit die ebenso nötige wie mögliche Vermittelbarkeit der für die moralische Anstalt so zentralen histrionischen Tätigkeit. Sie markiert zugleich auch deren »Integration in ein Einzelkünste übergreifendes System«, nämlich das »der gesellschaftlich akzeptierten schönen Künste«605 . Doch nicht nur in dieses. Ihr Ruhen auf objektiven Grundsätzen, die gleichermaßen Grundlage ihrer Ausübung wie ihrer Bewertung sind, erhebt die Schauspielkunst für einige Zeitgenossen noch in einen ganz anderen Rang: Weil sie auf Regeln basiert, die vernünftig aus ihrem »Wesen« destillier- und systematisierbar sind, »ist die Schauspielkunst ebenfalls eine Wissenschaft.«606 In jedem Falle aber verbindet sich mit der Nobilitierung der Schauspielkunst und der Betonung ihrer Zugehörigkeit zum ästhetischen und/oder epistemischen607 Verbund der Zeit eine neue Konturierung des schauspielerischen 604 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 134. 605 Bender: Vom »tollen« Handwerk zur Kunstübung, S. 15, 21. 606 Reichard: Versuch über das Parterre, S. 58.Vgl. zur ähnlichen Argumentation Löwens Bender: Vom »tollen« Handwerk zur Kunstübung, S. 17f. 607 Vgl. zur Rolle des Theaters respektive der Schauspielkunst für die Ergründung des Menschen, wie ihn die entstehenden Humanwissenschaften, unter anderem die Pädagogik, als ihren Gegenstand hervorbringen III.3.2.2.

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Berufsprofils. Sie ist eine tragende Säule der Rechtfertigung einer sozialen Relokalisierung der Akteure, deren Ansprüchen Genüge zu leisten ihnen verpflichtend eingeschrieben, aber zugleich über das schulisch vermittelte Kenntnis- und Charakterprofil ermöglicht wird. Ihr Unterricht, der einen ausufernd breiten Fächerkanon mit einer dauerhaften Verhaltensformung korreliert, soll im Folgenden näher betrachtet werden.

6.3   Gelehrter und Menschenkenner II In den Sitzungen der Schönemannischen Akademie geht es neben der bereits erwähnten Aufführungskritik um eine Ordnung des Repertoires, die Diskussion neuer Stücke in gemeinsamen Leseproben, »gründliche[] und genaue[] Untersuchungen der Charactere und Rollen solcher Stücke; und […] vernünftige[] Überlegungen, wie sie gespielt werden können und müssen« (Journal, S. 13). Es geht also nicht länger darum, lediglich die eigene Rolle mehr oder weniger auswendig hersagen zu können, sondern um eine verstehensorientierte Auseinandersetzung mit dem figuralen Gefüge im Handlungsganzen eines Stückes.608 Daneben steht auch die gemeinsame Lektüre schauspieltheoretischer Texte auf dem Programm und die Verständigung »über unsere Pflichten im gemeinen Leben, insoweit sie mit der Aufnahme der Gesellschaft und unserer Theaterverrichtungen in Verbindung stehen.« (Journal, S. 13f.) Die aufführungs- und berufspraktischen Aspekte dieses Curriculums schlagen sich in thematisch gegliederten »Betrachtungen über die mechanischen Theile der Schauspielkunst«609 (Journal, S. 18) nieder. Sie sollen dazu dienen, »die[] Mittel so viel als möglich auseinander zu setzen und zu erleichtern« (Journal, S. 18), die das Bühnenspiel zur Kunst machen. Wer diese Kunst ausübt und die gemeinsam erarbeiteten Mittel kennt und umsetzen kann, wird Ekhof zufolge, und hierin finden die sozialen wie beruflichen Optimierungsbestrebungen ihren einschlägigsten Ausdruck, »den Namen eines Freykünstlers mit Recht […] verdienen.« (Journal, S. 21) Zu diesem altehrwürdigen Reputationsziel führt eine Annäherung des Schauspielers an einen in dieser Hinsicht bereits voll etablierten Akteur der moralischen Anstalt, den Dichter, und zwar bezüglich der erbrachten Leistung wie der zu erbringenden Voraussetzungen.610 Den Impuls dazu liefert Christlob Mylius Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, der in der Sitzung 608 Vgl. auch Graf: Theater im Literaturstaat, S. 153. 609 Gemeint sind damit: »die Schauspiele, […] das Theater und die dahin gehörigen Theile, […] die Schauspieler […] und endlich […] die Vorstellungskunst.« (Journal, S. 18) 610 Bender weist darauf hin, dass der Anspruch des ›Freykünstlers‹ mit dem einer eigenen ›Grammatik‹ zusammenhängt, die aufgrund ihrer traditionellen Zugehörigkeit zum Trivium der septem artes liberales eine »Standeserhöhung der ars histrionalis […] heraus aus den Niederungen eines fast schon unehrlichen Gewerbes in die Höhen der freien Künste [impliziert]« (Bender: Vom »tollen« Handwerk zur Kunstübung, S. 17).

II Die Pädagogisierung des Theaters

vom 30. Juni 1753 verlesen wird. Mylius nobilitiert hier den Schauspieler über eine neue Arbeitsweise und Fertigkeiten, die er mit dem Dichter teilt. Der Schauspieler macht in einem spezifischen Umgang mit Rolle und Textvorlage, der sich in den ›vernünftigen Überlegungen‹ der Akademie wiederfinden wird, die Keimzelle des Freikünstlers aus: »Eine jede spielende Person muß alles genau verstehen, was sie sagt, und die dazu gehörigen Töne der Stimme und Bewegungen des Leibes und der Gliedmaßen deutlich vorstellen.«611 Diese körperliche Übersetzungsleistung ist nicht nur Index der gelungenen Textarbeit, sie hebt den Schauspieler auch auf die Höhe desjenigen, dem er den Text verdankt: Er, der »in einem Monate wohl zwanzigerley Charaktere und Affecten ausdrücken [muss]«612 , kann und soll letztere nicht tatsächlich fühlen, muss aber in der Lage sein, den darzustellenden Affekt verstandesmäßig, mittels des ausführlichen Textstudiums so zu durchdringen, dass er ihn überzeugend von der dichterischen Versprachlichung in die histrionische Verkörperung überführt. Damit aber weisen die Arbeit des Schauspielers und die des Dichters in ihren unterschiedlichen künstlerischen Formen eine strukturelle Parallelität auf: Beide müsse durch »besondere Fähigkeit ihrer höhern Seelenkräfte« in der Lage sein, sich »in einen fremden Affect [zu] setzen« ohne ihn tatsächlich zu empfinden; und wenn diese Fähigkeit den Dichter auszeichnet, »warum soll man den spielenden Personen auf der Schaubühne nicht gleiches Recht wiederfahren lassen, da sie eben dergleichen thun?«613 Über diese strukturelle Gemeinsamkeit wird eine Augenhöhe zwischen beiden Instanzen behauptet, die maßgeblich zur diskursiven Aufwertung der beruflichen Seite des Schauspielers beiträgt.614 Schauspieler und Dichter gleichen sich darüber hinaus nicht nur in den übrigen Voraussetzungen ihrer pädagogisierten Tätigkeiten. Sie müssen auch ähnlich belehrt und unterrichtet werden. Zunächst aber brauchen beide »eine reife Beurtheilungskraft und ein[en] lebhafte[n] Witz«615 , oder in Ekhofs Version, die die Mittel zu ihrer richtigen Formung gleich mit angibt, »eine lebhafte Einbildungskraft, eine männliche Beurteilungskraft, ein[en] unermüdete[n] Fleiß und eine nimmermüßige Uebung« (Journal, S. 18). Das Profil des neuen Schauspielers wird damit über Konzepte der Schulphilosophie und »der Vermögenspsychologie der aufklärerischen Metaphysik« mit dem »ideale[n] Dichterbild der Zeit«616 kurzgeschlossen. Literatur und Schauspiel werden so als verschiedene Spielarten und Funktionsstränge der grundlegenden Pädago‐gisierungsdynamik der Reform akzentuiert. Als gleichrangig werden beide Künste dennoch nur selten wahrgenom611 612 613 614 615

Mylius: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, S. 10f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Vgl. Bender: Vom »tollen« Handwerk zur Kunstübung, S. 23. Mylius: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, S. 12. Vgl. hier auch Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 224-226. 616 Bender: Vom »tollen« Handwerk zur Kunstübung, S. 21. Vgl. dazu II.4.2.

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men: Der Schauspieler ist der Ordnung des dramatischen Textes unterstellt und auf die Umsetzung seiner schriftlich fixierten Arbeitsgrundlage verpflichtet,617 die ihm der Dichter als ausführendes Organ der Philosophen und Kunstrichter liefert: »Die Charaktere legt der Verfasser des Schauspiels den Comödianten vor.«618 Sollten diese Vorlagen jedoch nicht allen hohen Ansprüchen genügen können, ist es durchaus möglich, dass der Schauspieler dezidiert optimierend tätig wird: »Die Vorstellungen fallen hier [auf dem Prager Theater – AW] oft besser aus, als manche Stücke […]. Nie verunglückte hier ein Stück gänzlich, so elend es auch seyn mochte; – die Kunst der Schauspieler half solchem stets noch durch«619 . In jedem Falle aber soll und muss dem neuen Schauspieler ein angemessenes Zuschauerverhalten entgegengebracht werden. Er kann Anspruch auf Anerkennung und diejenige Aufmerksamkeit erheben, die lernbegierige Schüler ihrem Lehrer entgegen zu bringen haben: Der Schauspieler hat »eben sowohl, als jeder andere Künstler, nach dem Grade der Vollkommenheit, den er in seiner Kunst besitzt, Achtung von uns zu fordern und zu erhalten das Recht«620 und kann gerade in seiner pädagogischen Mission »fodern, daß der Zuschauer ihn nicht durch tausend Unschicklichkeiten in seinem Bestreben störe«621 . Dieses Recht beruht auf dem Status, der dem Schauspieler in Folge seiner Pädagogisierung zukommt. Dieser Status jedoch ist mit einem Katalog von Fertigkeiten und Pflichten verbunden, die der Schauspieler teilweise von sich aus mitbringen und sich teilweise aneignen muss, die jedoch in jedem Fall in Form gebracht und dispositionell befestigt werden müssen. Dazu gehören, neben der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text, die beständige, freudige Arbeit an sich selbst und ein angemessener Umgang mit möglicherweise nicht immer angemessener Kritik – in den Worten Ekhofs: »Lesen und Schreiben, ein gutes Gedächtniß, Lernbegierigkeit, einen unermüdeten Trieb, immer vollkommener zu werden, und die Stärke, sich weder durch schmeichelhafte Lobeserhebungen, Stolz, noch durch 617 Vgl. etwa Krebs: Die frühe Theaterkritik, S. 475; Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 168-170. 618 Mylius: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, S. 9. 619 [Anonym]: Ein Blick auf unser Theater und Parterre, S. 151. Zwar ist es zweifellos Hauptaufgabe des Schauspielers, »die lückenlose Präsenz des Textes zu garantieren« (Graf: Theater im Literaturstaat, S. 143), eine ausschließliche Betonung dieser Mediatisierung oder gar der »Anaisthetisierung des Mediums Schauspieler« (Deiters: Die Entweltlichung der Bühne, S. 36) aber übersieht nicht nur den textlich fundierten Spielraum, den das Schauspielen als Kunst beinhaltet, sondern auch deren nobilitierende Anteiligkeit am Funktionsstellengefüge innerhalb der Reform und das damit in Zusammenhang stehende Verständnis der Schauspieler als pädagogischer Instanz. Vgl. etwa zum poietischen Charakter der Schauspielkunst in der Hamburgischen Dramaturgie Bender: Vom »tollen« Handwerk zur Kunstübung, S. 35-38; knapp aber differenziert Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 57f. 620 [Anonym]: Ueber die Pflichten der Zuschauer, S. 146. 621 [Anonym]: [Über den Schauspieler und sein Publikum], S. 120.

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unvernünftigen Tadel furchtsam machen zu lassen.« (Journal, S. 39f.) Der hier genannte Optimierungswille macht einen wesentlichen Bestandteil des neuen Schauspielers aus und steht in engem Zusammenhang mit einigen der bereits genannten obligatorischen Eigenschaften.622 Rahbek beschreibt ihn als »Ehrbegierde« und meint damit »die wahre Begierde nach Ehre, das Verlangen, seine Gespielen an Verdiensten zu übertreffen; besser, klüger, rechtschaffener als sie zu seyn.«623 Sie ist »[u]nter allen Tugenden […] einem Schauspieler die nothwendigste«624 , weil sie die ins Zentrum des Schauspielerprofils neu eingeschriebene Steigerungslogik mit der Dynamik einer dem Beruf an sich zugesprochenen Eitelkeit zusammenführt und moralisch codiert. Sie wird damit zur Formel, die über den zugrunde gelegten Willen zur Selbstoptimierung die pädagogisch zu modellierende Arbeitshaltung und Disposition als tugendhaft ausweist. Die ›Ehrbegierde‹ bzw. der ›Trieb, immer vollkommener zu werden‹ steht in engem Zusammenhang mit dem Fleiß625 und der Übung, die bereits Ekhof betont und die ihrerseits umso nötiger scheinen, je ausufernder das Curriculum der Schauspieler wird. Je weiter sich das Projekt der Schauspielererziehung diskursiv ausdifferenziert und je stärker damit die Histrionik im Kunst- und Wissenschaftsverbund behauptet werden kann, desto mehr verzweigt sie sich darin. Vor allem die epistemische Rolle der Schauspielkunst – insbesondere ihr Verhältnis zum anthropologischen Wissen der Zeit – ist in der Forschung bereits untersucht und diskutiert worden.626 Aus der Perspektive einer Pädagogisierung der Schauspieler verschiebt sich der Fokus nun dahingehend, wie verschiedene Kunst- und Wissensdisziplinen für deren Erziehung herangezogen und nicht nur als anschlussfähig gedacht, sondern zu unverzichtbaren Bestandteilen des Berufsbildes erklärt werden. In Ekhofs Akademie stehen zunächst die »mechanischen Theile der Schauspielkunst« (Journal, S. 18) im Vordergrund, die neben Bühnenbild- und Kostümfragen 622 623 624 625

Vgl. etwa Krebs: Die frühe Theaterkritik, S. 477. Rahbek: Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn, S. 5. Ebd. »Fleiß ist eine von denen Tugenden die einen Schauspieler am meisten empfehlen«, betont auch Rahbek: Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn, S. 7. 626 Vgl. vor allem die nachhaltig wichtige Studie von Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, insbes. S. 85-116; außerdem Rupperts These von der Diskursivierung der bürgerlichen Innenwelt, ausführlich entwickelt und vorgetragen in Labor der Seele und der Emotionen; zu einer wissenschaftsgeschichtlichen Verortung und epistemologischen Kontextua‐lisierung dieser Entwicklung etwa Erika Fischer-Lichte: Entwicklung einer neuen Schauspielkunst, in: Wolfgang F. Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 51-70; ferner Graf: Utopie und Theater; Käuser: Körperzeichentheorie und Körper‐ausdrucktheorie; Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 363f. In Kapitel III.3.2 wird komplementär dazu aufgezeigt, welchen Einfluss die Schauspielkunst auf die Pädagogik als human‐wissenschaftliche Disziplin hat.

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Körpersprache und verständige Intonation, im besagten Anschluss an Mylius, umfassen. Doch dabei bleibt es nicht: »Dem Schauspieler sind viele Wissenschaften nöthig«627 , weiß Rahbek und fordert etwa (theoretische) Kenntnisse der Malerei, Bildhauerkunst und der Physiognomik.628 Weiter reicht noch der Fächerkanon, den Friedel für sein Schauspielerphilanthropin vorschlägt.629 Dort sollen zusätzlich Anatomie, Musiktheorie, Tanzkunst und Pantomime auf dem Stundenplan stehen. Doch auch damit hat sich der Unterricht noch nicht erschöpft. Einen entscheidenden Anteil erhält das Studium der Literatur und Literaturgeschichte: Es umfasst die »allgemeine[]«, sodann die nationale, »besondre Geschichte der Litteratur und des Theaters« und wird »mit der Auswahl der besten Stüke und deren Lectüre unterstützt«630 . Dieses textintensive Studium verfolgt nicht nur ein grundsätzliches Anliegen der theaterreformatorischen Pädagogisierung, in dem Fall den angehenden Schauspielern »wahren Geschmack beyzubringen«631 , sondern verknüpft ihr Unterrichts- und Anforderungsprofil besonders dezidiert mit anderen Funktionsstellen der moralischen Anstalt. Auch Friedel plädiert für eine verstehensorientierte Lektüre, um »in den Sinn des Dichters einzudringen«632 und gibt die dazu dienliche Unterrichtsmethode an, die gleich auch noch in den Fächerkanon integriert werden soll: »Dem Zöglinge wird zu dieser Pflicht durch eine, auf ihn eingeschränkte, gründliche Hermeneutik am vortheilhaftesten der Weg gebahnet. Die Lehrer müssen daher auch diese Wissenschaft nicht versäumen.«633 Dieser Unterricht soll aber »nicht nur zwischen den Zöglingen und den besten Schriftstellern ein vertrautes Verständniß […] errichten, und sie ihre Werke kennen […] lehren«634 , sondern rückt durch schriftstellerische Anteile die Schauspieler in den Geschäftsbereich derjenigen Instanz, die bewertend über die Arbeit der Dichter wacht. Der seine hermeneutischen Operationen verschriftlichende Schauspieler fungiert als Kunstrichter der eigenen Arbeitsgrundlage: Der Literaturunterricht muss »mit […] den Kräften der Zöglinge anpassenden Aufsätzen und eigenen Ausarbeitungen verknüpfet werden. Denn es ist nicht genug, daß der künftige Schauspieler die Werke des Witzes kennt, er muß sie sogar – verbessern können.«635 Der Schauspieler bleibt als Schauspieler zwar grundsätzlich der Autorität der Texte unterstellt, als Kunstrichter jedoch legitimieren seine umfangreichen Kenntnisse einen Umgang mit dem dramatischen Material, der sich nicht schon in der richtigen Bewertung 627 Rahbek: Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn, S. 8. 628 Vgl. ebd. 629 Vgl. zu Friedels Curriculum Schmitt: Schauspieler und Theaterbetrieb, S. 127. 630 Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 27. 631 Friedel: Beschluß des Philanthropins für Schauspieler, S. 16. 632 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 142. 633 Friedel: Beschluß des Philanthropins für Schauspieler, S. 16. 634 Ebd. 635 Ebd. Es ist diese mögliche Verbesserung, die nach Graf den Kunstrichter auszeichnet und zum potentiell besseren Autor macht, vgl. Theater im Literatustaat, S. 292.

II Die Pädagogisierung des Theaters

erschöpfen muss, sondern im Bedarfsfall noch die Arbeit des Autors optimierend überbieten kann. Auch ein weiterer Unterrichtsinhalt rückt den Schauspieler mit den beiden anderen Akteuren eng zusammen. Er muss sich in jedem Fall wie der Dichter – und letztlich auch der Kunstrichter – als Menschenkenner profilieren und sich hier ein umfassendes allgemeines Wissen samt der spezifischen Darstellungs‐möglichkeiten und -mittel aneignen.636 Der Grund ist auch hier der gleiche: Wer Menschen erziehen will, im Falle des Schauspielers durch Menschendarstellung, muss den Menschen kennen. Friedel fordert nachdrücklich eine »gründliche Kenntniß des Menschen überhaupt […]. Das reichhaltigste, für den Schauspieler unentbehrlichste Studium. Es ist also die Pflicht der Lehrer, alles vorzutragen, was diese Kenntniß des Menschen berichtiget und erweitert.«637 Solche anthropologischen Kenntnisse sind wiederum die Voraussetzung für die »Lehre der Leidenschaften«638 , einen der wichtigsten und zugleich am schwierigsten zu vermittelnden Gegenstände. Geeignete Lehrer für die übrigen Fächer zu finden, scheint kein allzu großes Problem: »Aber Leute, die ihre Zöglinge die menschliche Natur in ihren geheimsten Gängen studiren, und für sich kopiren lehren sollen, wie viele? Wenige, sehr wenige! Und diese wenige, wie zerstreut in den verschiedenen Winkeln Deutschlandes!«639 Allerdings gibt es hier didaktische Alternativen: »Wär ich Joseph,« so erklärt Rahbek, »ich lies alle Schauspieler meine Bildergalerien besehen, so oft sie nur wollten.640 In diesem Sinne empfiehlt auch Friedel, nach einer Unterweisung in die »Theorie des Historienmahlens«, die »besten Kunststücke dieser Art« als Exempel: Sie bieten hinreichend »Gelegenheit, die verschiedenen Ausdrücke der Leidenschaften […] zu studiren.«641 Dieses Studium ist eines der beobachtenden Analyse, das sich in seinem umfassenden Anspruch jedoch nicht allein in Galerien vollziehen muss: Es soll nämlich »nicht blos die schöne Natur sondern auch […] die ekelerweckende Natur«642 einbeziehen und findet sein Anschauungsmaterial dazu nicht allein in der bildenden Kunst, sondern auch am lebenden Objekt. Weil sich die Exemplarität des Gegenstandes aber über ein berufliches Interesse hinaus in den Charakter des Schauspielers einschreiben kann, sind hier mitunter besondere Vorsicht, analytische Distanz und ein innerer Sicherheitsabstand von Nöten. Gerade

636 Vgl. zu dieser Schauspieler wie Dichter betreffenden Qualifikation Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 120-127; zu ihrem Anteil am Profil des Autors und Kunstrichters II.4. 637 Friedel: Beschluß des Philanthropins für Schauspieler, S. 17. 638 Ebd., S. 17. 639 Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 24. 640 Rahbek: Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn, S. 8. 641 Friedel: Beschluß des Philanthropins für Schauspieler, S. 18. Vgl. Rothe: Lesen und Zuschauen, S. 141-147. 642 Rahbek: Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn, S. 13.

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die ›ekelerweckende Natur‹ muss er »nur als solche kennen, muß darüber Betrachtungen anstellen, aber sich selbst mit ihr beflecken, das darf er nicht. Man bilde sich ja nicht ein, die Thorheit kennen lernen zu wollen, wenn man sie selbst begeht«643 . Er darf in solchen Fällen »weiter nichts als ein Beobachter seyn«644 . Durchaus teilnehmend hingegen sollen seine Observationen in ›guter‹ Gesellschaft sein, deren besonders lehrreichen »Umgang« er suchen muss, wo er nur kann, denn: »wie soll der ernsthafte Schauspieler den wahren Ton des menschlichen Lebens, den man von ihm verlangt, sich angewöhnen, wenn ihm die Gesellschaft des besten Theils der Nation fremd ist?«645 Diese Verquickung von Schauspieler und Gesellschaft und die Notwendigkeit einer bestimmten sozialen Teilhabe, die eben nicht bloß eine berufliche ist, verbindet sich mit dem anderen großen Unterrichtsbereich, der die Pädagogisierung des Schauspielers bestimmt. Er soll nämlich nicht nur, wie letztlich der Dichter und der Kunstrichter, über ein breites, gelehrtes wie anthropologisches Wissen verfügen,646 sondern auch und wesentlich stärker bzw. unter stärkerer Beobachtung noch als die beiden anderen Genannten, eine moralische, charakterliche Tauglichkeit besitzen und unter Beweis stellen. Nicht nur für sich persönlich, seine Truppe und seinen Berufsstand, sondern tatsächlich für den erzieherischen Erfolg des ganzen Reformprojektes.

6.4   Charaktererziehung Zur Aufnahme an Friedels Schauspielerphilanthropin reicht schauspielerisches Talent alleine nicht aus. Was die Elementarschullehrer zu beobachten und richtig einzuschätzen haben, sind mehr als die Leistungen während der Schulkomödien. Ihre Observationen müssen über die histrionischen Regungen hinaus die Zöglinge durchleuchten und die wahre Eignung zum Bühnenberuf in der Tiefe ihres Charakters und ihrem dispositionellen Potential ausfindig machen:647 Die maßgebliche Voraussetzung ist, »daß sie Anlage zur moralischen Güte des Herzens besässen, […] denn ohne dieser wünschte ich das größte Talent von der Bühne entfernet[…]«648 . Bei unterschiedlichen Akzentuierungen steht diese Rolle der sittlichen Qualität im Zentrum aller Projekte und Pläne zur Schauspielererziehung. Sie koinzidieren in dem Bestreben, Beruf, Arbeitsethos und Lebenswandel über ein ge643 644 645 646 647

Ebd. Ebd. Ebd., S. 14. Vgl. Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 90 und S. 364. Eine solche Tiefe und Gründlichkeit der Beobachtung wird auch vom philanthropistischen Erzieher gefordert, allerdings aus anderen Gründen: Sie zielt auf den Zögling als Gegenstand der Erziehung und eines pädagogischen Wissens, nicht auf seine histrionische Eignung, vgl. III.4. 648 Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 22.

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meinsames Gesinnungs‐fundament auf eine einheitliche Form zu verpflichten.649 Notwendig wird dies aus Sicht der Reform aufgrund der Verortung des Schauspielers in ihrem Funktionsstellengefüge, möglich aus der Perspektive einer universellen Erziehungsbedürftig- und Erziehbarkeit. Die Dynamik der Pädagogisierung macht auch den Schauspieler nicht allein zum Objekt formierender Bestrebungen, sondern schreibt ihm zugleich eine eigene Erziehungspflicht ein. Diese Kernstruktur, in einem endlos sich verzweigenden, von verschiedentlich zu besetzenden Funktionsstellen mitorganisierten Erziehungsgefüge zugleich Subjekt und Objekt zu sein, lässt sich an keiner anderen Stelle des Reformprozesses deutlicher ablesen als hier. Dies gilt auch für eine damit einher gehende doppelte Verantwortung, die sich ebenfalls besonders klar im Diskurs über den Schauspieler artikuliert: Um nicht länger als vagabundierender Außenseiter, sondern als respektables Mitglied der Gesellschaft wahrgenommen werden zu können, muss er sich zugleich dankbar korrigieren und unterrichten lassen und seiner Aufgabe nachkommen, selbst erzieherisch tätig, also als erzogener Erzieher nützlich zu sein. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn der Schauspieler nicht bloß als Medium auktorialer Botschaften perspektiviert,650 sondern als »Lehrer der Sitten«651 in die Pflicht genommen wird, was wiederum die diskursive Nähe zum Profil der Dichter und Kunstrichter unterstreicht. Von dieser Position schreibt sich die Notwendigkeit einer strengen Charaktererziehung ebenso her wie das Bewusstsein eines defizitären Status quo, einer Diskrepanz zwischen Sein und Sollen, wie sie ähnlich auch den Publikumsdiskurs prägt und die hier ebenfalls auf eine vernünftig‐maßvolle Idealform hin aufgelöst werden soll. Dass es diese Diskrepanz gibt und warum sie der moralischen Anstalt abträglich ist, betont Friedel: »Ist es wohl möglich, daß eine Schule, die so selten von moralisch guten Lehrern dirigirt wird, den moralisch guten Endzweck erreiche? Und dies ist gerade der Fall vom Theater!«652 Es ist die zweifelhafte und im Zweifelsfalle als selbstverschuldet bewertete Reputation der Schauspieler, die dem Wirken der moralischen Anstalt zuwiderläuft. Solange »moralische Kenntniß der Pflichten unter dem großen Haufen der Schauspieler eben so selten als deren Folgeleistung angetroffen werde«, können sie weder einen Anspruch auf soziale Anerkennung erheben, noch wird es möglich sein, »warmes Streben nach Tugend, Gefühl, Liebe für Edles in dem Busen ihrer Zuhörer an[zu]fachen«653 . Damit aber steht und fällt das Projekt der moralischen 649 Bender spricht in diesem Zusammenhang von der »Verquickung von sozialpolitischem und ästhetisch‐künstlerischem Engagement.« (Vom »tollen« Handwerk zur Kunstübung, S. 17) 650 So etwa bei Deiters: Die Entweltlichung der Bühne, S. 36f. 651 Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 18. 652 Ebd. 653 Ebd. Die Grundsätzlichkeit dieser Problematik für die Konzepte zur Schauspielererziehung betont Schmitt: Schauspieler und Theaterbetrieb, S. 119.

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Anstalt mit der sittlichen Kongruenz von Darsteller und Bühne, ohne die »der ganze Nutze des Theaters, der überdem immer beschrieen wird, sogleich wegfällt, und die Sitten der Mitbürger umsonst gebessert werden«654 . Diese Kongruenz herzustellen ist dementsprechend das maßgebliche Anliegen der Schauspielererziehung. Sie gilt es aber nicht allein beruflich, sondern vornehmlich im alltäglichen Lebenswandel unter Beweis zu stellen,655 und die Beweislast liegt auf Seiten der Schauspieler, die sich der Möglichkeit ihrer sozialen Nobilitierung als würdig zu erweisen haben: »So lange also die Lehrer der Sitten nicht selbst in ihren Häuslichen Muster derselben sind, so lange ist auch die Hoffnung einer glücklichen Würkung ihrer Bemühungen vergebens.«656 Die Theaterreform, die, wie unter anderem Christopher Wild ausführlich dargelegt hat,657 Argumente und Perspektiven der Theaterfeinde inkorporiert und sich anverwandelt, verfährt hinsichtlich des Schauspielers ähnlich. Sie übernimmt das tradierte Misstrauen gegenüber dem Berufsstand, plädiert für eine besonders scharfe soziale wie institutionelle Überwachung,658 versucht aber auf dieser Grundlage, »dessen Bild um[zuformen]«659 : Sie kombiniert die Gegenargumente mit einer Rechtfertigungsstrategie, die die dezidierte Strenge nicht primär präventiv, sondern pädagogisch begründet und notwendig macht. Die Reformer zielen weniger auf die Bestrafung eines maßlosen, amoralischen Verhaltens, sondern auf die Unterstützung, Stabilisierung und Überwachung einer Aufgabe: Nicht die soziale Devianz an sich steht im Vordergrund, sondern die mit ihr unvereinbare Verantwortung der Funktion, die den Schauspielern als erzogenen Erziehern im Rahmen der pädagogischen Mission des reformierten Theaters angetragen wird und die Möglichkeit ihrer gesellschaftlichen Nobilitierung auf Widerruf eröffnet. Erfüllen die Schauspieler allerdings abweichungsfrei die an sie 654 Löwen: Vorläufige Nachricht, S. 88. 655 Vgl. Graf: Theater im Literaturstaat, S. 132. 656 Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 19. Vgl. zu dieser grundsätzlichen Forderung auch Matthes: Das öffentliche Auge, S. 430. 657 Vgl. Wild: Theater der Keuschheit. 658 Löwen betont sehr nachdrücklich: »[A]uch der Beste unter ihnen wird sogleich alle Vortheile verlieren, so bald man ihn von dieser Pflicht, und von allen den übrigen strengen Gesetzen, die man unter sich machen wird, nur im geringsten vorsetzlich abweichen siehet.« (Vorläufige Nachricht, S. 88f.) Und Sulzer etwa fordert, die Schauspiele von »Privatanstalten« in »öffentliche Einrichtungen« umzuwandeln. Sie sollen als solche nicht nur »durch Gesetze gehörig eingeschränkt«, sondern auch »von verständigen, redlichen und öffentlich dazu bestellten Männern« überwacht und zensiert werden: »Eben diese Männer müßten die Aufsicht auf die Policey des Schauspieles haben, und die Schauspieler unter ihnen, als ihrer besondern Obrigkeit, in Sachen, die zum Schauspiel gehören, stehen.« (Art. Schauspiel, S. 256) 659 Graf: Theater im Literaturstaat, S. 131. Vgl. außerdem Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen, S. 55. Grafs Einschätzung ist grundsätzlich zuzustimmen, sie bedarf aber hinsichtlich Grundlage und Argumentation dieser Umformung einer weiteren Kontextualisierung, die erst aus einer die Pädagogisierung stärker fokussierenden Perspektive möglich wird.

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gestellten Anforderungen, haben sie nicht nur einen berechtigten Anspruch auf die Anerkennung ihrer Mitbürger, werden sie ihnen diese schlechterdings auch nicht länger absprechen können.660 Dass sie diese Anforderungen grundsätzlich zu erfüllen im Stande sind, hängt, wie im Falle aller anderen Akteure der moralischen Anstalt damit zusammen, dass ihre ausgemachten Defizite als pädagogische kategorisiert werden: »Ich glaube keinen andern Grund finden zu können, als weil die wenigsten Schauspieler in ihrer Jugend eine Erziehung genossen, die sie in der Folgezeit ihrer größern Ausbildung fühlen machte, wie nöthig die Moralität jeder Handlung alle Schritte seines Lebens vorzüglich bezeichnen müsse.«661 Damit werden diese Defizite nicht nur sogleich als behebbar markiert, sondern bekommen auch einen entsprechenden Fahrplan zur Behebung zugewiesen, der auf eine einfache Formel gebracht werden kann, in die jedoch das sich immer weiter ausbreitende und zunehmend institutionalisierende Gefüge eines pädagogischen Diskurses eingefaltet ist: »Man beßre ihre Herzen selbst, und dann werden sie auch andre bessern.«662 Anders als Friedel, dessen Plan für ein Schauspielerphilanthropin die sittliche Diskrepanz gar nicht erst aufklaffen lassen will, zielen Ekhofs Bestrebungen auf ihre nachträgliche Behebung. Sie formulieren einen weiterreichenden Forderungskatalog, der »die Pflichten, die der Name und Charakter eines Comödianten im gemeinen Leben erfodern, und in die, welche zu seiner Kunst gehören« gleichermaßen umfasst und beide »Haupttheile« (Journal, S. 32) im Zeichen des Maßes korreliert. Sie erfordern als unumgängliche Voraussetzungen dafür, dass der Schauspieler »ein rechtschaffener Mann seyn werde«, eine strenge (Selbst-)Überwachung, sind »auf das genaueste zu erfüllen« und daher »aufs sorgfältigste zu beobachten« (Journal, S. 33). Ausgehend von der Schönemannischen Truppe steht dahinter ein die Berufsgruppe insgesamt betreffender Anspruch, der – wohl aufgrund des Zusammenspiels von Resistenzen innerhalb der Akademie, dem zugrundeliegenden Vorhaben der ›Aufnahme‹ und dem anvisierten Selbstverständnis als Freikünstler – die aneinander geknüpfte berufliche wie private Umformung über Normierungsund Disziplinierungs‐maßnahmen zu gewährleisten sucht. Dass dieses Anliegen durchaus auf Widerstand gestoßen ist, machen nicht nur die wiederholten, bereits angesprochenen Ermahnungen Ekhofs in den regelmäßigen Promemoriae deutlich, sondern auch die noch einmal nachträgliche, explizite Ausweitung der

660 Vgl. zur privaten Anerkennung etwa Rahbek: Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn, S. 15 und zur beruflichen [Anonym]: Kann den Schauspielern oder besser dem Direkteur einer Schauspielergesellschaft etwas zur Last gelegt werden, S. 155. 661 Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 19f. 662 Ebd., S. 19.

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innerhalb der Akademie getroffenen Beschlüsse über die Grenzen der Sitzungen hinaus auf die tatsächliche Theaterarbeit der Schönemannischen Truppe: »[D]ie Verfassungen zielen auch eigentlich nur auf das Betragen jedes Mitgliedes in den Sitzungen selbst und in Ansehung derselben. Unsere Bemühungen und Betrachtungen in denselben aber sind die Früchte davon. Ist es also nicht billig, meine Herren und Damen? Ist es nicht nothwendig, frage ich, eine Strafe auf die Versäumung und Übertretung der in unseren Sitzungen beschlossenen und zu beschließenden Ausübungen zu setzen?« (Journal, S. 26f.)663 Die Beschlüsse zielen also dementsprechend darauf, aus der etwa auch von Rahbek als Problemursache ausgemachten »unordentlichen Lebensart«664 ganz im Sinne der Ekhofschen Ordnungs- und Systematisierungsidee eine nützliche und dem neuen (Selbst-)Verständnis angemessene zu machen. Die Koordinaten dazu werden klar benannt, und ähnlich wie die Kunstrichterfunktion wird die Überwachungs- und Sanktionierungshoheit dem intratheatralen Verbund der Akademie selbst zugesprochen. Die wechselseitige Beobachtung und Qualitätskontrolle, zu der sich die Mitglieder einstimmig verpflichten, erstreckt sich damit nicht allein, wie bereits dargestellt, auf das Bühnenspiel, sie ist ausdrücklich auch eine Verhaltenskritik, die sich das Betragen hinter den sowie jenseits der Kulissen minutiös zum Gegenstand nimmt und auf eine maßvolle Lebensweise verpflichten will. So heißt es hinsichtlich des Schauspielers in den nachträglichen Zusätzen zu den Verfassungen etwa: »Ein jeder Acteur (oder Actrice) soll auch verbunden seyn, seine oder ihre eigne Ehre zu behaupten und einen guten Ruf zu erhalten und zu behalten suchen. Er (oder sie) soll diese weder durch einen übertriebnen Stolz, noch durch niederträchtige Handlungen, die seinem (oder ihrem) Namen und Stande nachtheilig sind, beschimpfen, noch durch unanständige Gesellschaften, Besoffenheit und unordentliches ausschweifendes Leben gar verliehren. Wer eines dieser Vergehen überführet werden kann, soll nach Mehrheit der Stimmen auf das schärfste, und sogar nach Befinden mit der Dimission bestrafet werden.« (Journal, S. 36) Diese anvisierte Mäßigkeit und Diszipliniertheit der Lebensführung soll sich in zweifacher Weise beruflich niederschlagen. Sie sorgt nicht allein für die sittliche Kongruenz zwischen Darsteller und Bühne, sondern wirkt sich massiv auf das histrionische Arbeitsethos aus. »Ein Ausschweifling«, erklärt Rahbek, »schwärmt lieber umher, als daß er arbeitet«, was sich insbesondere im Probenverhalten zeigt: 663 Dies ist, so Peter Schmitt, »der erste und […] einzige Fall in der Geschichte der Wandertruppenbewegung, daß sich die Mitglieder einer Truppe ohne nennenswerte Mitwirkung des Prinzipals freiwillig Theatergesetze gegeben haben.« (Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 177) 664 Rahbek: Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn, S. 12.

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»Der Akteur geht nämlich in die Proben, ohne seine Rolle studiert zu haben, oft sogar ohne sie auswendig zu wissen«665 . Das maßlose, mit einem unsittlichen identifizierte Leben zeigt sich hier als entsprechend frei vom (selbst-)optimierungszentrierten Tugendkatalog der Reform. Kein Fleiß, keine Übungsbereitschaft oder ›Ehrbegierde‹, kein Wille, sich und andere zu bessern, prägen die unpädagogisierte Theaterarbeit: Der Akteur »ließt ein Stück davon nach dem andern her, ohne in den Karakter der Rolle einzudringen« und befindet sich damit in ›bester‹ Gesellschaft: »Sie [die Schauspieler – AW] sehen bei den Proben keinen andern Zweck, als sich zu versammeln und zu versuchen, ob sie ihre Rolle auswendig wissen, das Einzige Erforderniß in den Augen mancher Schauspieler, um sie spielen zu können«.666 Und damit nicht genug, die Proben sind in Rahbeks Augen von einer dezidierten wirkungs- und optimierungsfeindlichen Unordnung geprägt, wie sie ähnlich auch im Publikumsdiskurs dem noch nicht hergerichteten Auditorium zugeschrieben wird: Die Schauspieler, »haben […] nichts zu sagen[,] […] lärmen und halten sich mit lautem Gelächter über den auf, der die Probe zu dem, was sie ist, machen will.«667 Eine solch mangelhafte Arbeitshaltung bleibt nicht ohne Folgen für die tatsächliche Aufführungssituation: »[D]ie Vernachlässigung der Proben ist Schuld an allen den Fehlern, die bey den Aufführungen vorfallen.«668 Sie sabotiert die moralische Wirkung der Bühne nicht nur aufgrund der ihr ursächlich zugeschriebenen, sittlichen Defizite und der damit verbundenen Diskrepanz von Darstellung und Darsteller. In ihrem ausschweifend‐undisziplinierten, eklatant erziehungsbedürftigen Charakter zersetzt eine solche Haltung gleichermaßen die vom Zusammenspiel der Funktionsstellen gestiftete illusorische Potenz des Theaters, löst die Absorption der Zuschauer auf und verhindert von vornherein das Zustandekommen eines unterhaltsam kaschierten Unterrichtsverhältnisses: »Sie laufen hinaus, herein, wie’s Ihnen beliebt ohne sich darum, was ihre Rolle erfordert, zu bekümmern, und oft sieht man einen Akteur gerades Weges zu einem Fenster, oder quer über eine Strase hinaus wandern. Wäre dieses auch nur die einzige Unschicklichkeit, die daraus entsteht, so wär es für den ehrliebenden Schauspieler schon hinreichend, ihn zur Aufmerksamkeit in den Proben zu ermuntern, zumal wenn er selbst den Verdruß empfunden hat, den solche Ungereimtheiten einem theilnehmenden Zuschauer machen, in dem Augenblick, wo der Pinsel des Malers, unterstützt von dem wahren Spiel der Aktrize und der Vortreflichkeit des Stücks, in so weit getäuscht hat, daß er glaubt, er sehe eine würkliche Geschichte, die Personen seyen würklich in Rom, oder wohin sonst der Dichter sie versetzt haben mag. Auf einmal nun erinnert ihn der Akteur, der durchs Fenster hinausgeht, 665 666 667 668

Ebd., S. 12. Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 17.

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daß er nur ein Schauspiel sieht, nur gemalte Leinwand, nicht Roms prächtige Kolonnaden, und so erwacht er denn auf einmal aus seiner ergötzenden Laune.«669 Etabliert ist auch hier ein Transparenzverhältnis, das Lebens- und Berufshaltung aneinander ablesbar werden lässt. Erstere schreibt sich in letztere ein, bedingt deren Qualität und wird umgekehrt über sie beobachtbar. Und so wie ein ausschweifender Lebenswandel sich sichtbar in mangelnder darstellerischer und moralischer Qualität niederschlägt, erfüllt sich die Wirkungsgarantie eines mit lehrreichen Inhalten bestückten, vor lernbegierigen Zuschauern in angemessener Weise aufgeführten Theaters erst dann, wenn die Schnittsstelle zwischen dem seinerseits transparent auf die Qualität seines Autors verweisenden Text und dem Publikum moralisch passgenau besetzt wird. Stehen »rechtschaffne Leute« auf den Brettern der moralischen Anstalt, »deren Herzen man eben so ihren Werthes wegen liebt, als man ihre Talente schätzet«, gilt es als ausgemachte Sache, dass sie ihren Zweck, den Zuschauer unterhaltsam zu unterrichten und »die Herzen zu bessern«670 , erreichen werden. Beide Schwerpunkte der Schauspielererziehung greifen also als Wirkungsvoraussetzungen in einer sich wechselseitig katalysierenden Bewegung ineinander über: Die sittliche Qualität des Charakters, die auf einem Wertegefüge von Fleiß, Optimierungswillen und Mäßigkeit ruht, drückt sich in einer entsprechenden Arbeitshaltung aus, deren Ergebnis der umfangreiche Erwerb von Wissen und Fertigkeiten ist, die überhaupt erst zu einer überzeugenden Darbietung befähigen, die nun ihrerseits wieder auf das moralische Niveau des Schauspielers verweist, das sich idealiter über eine Kongruenz mit dem der Bühne unter Beweis stellt und eine soziale Aufwertung der Darsteller legitimiert. Die Pädagogisierung des Schauspielers verortet ihn auf einem Wertefundament, das eine gesellschaftliche wie zwischenmenschliche, Lebens- und Arbeitshaltung einander anverwandelnde Form hervorbringt, die bei aller tatsächlichen Heterogenität ihren gemeinsamen Nenner im prägenden Zusammenspiel von Maß und Nützlichkeit findet: In allen Plänen und Projekten soll, implizit oder explizit, »nicht der praktische Schauspieler blos, sondern auch der tugendhafte Mann, und nützliche Bürger gezogen [werden]«671 . Das Ziel des Ekhofschen Reglements 669 Ebd., S. 16. 670 Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 19. 671 Friedel: Beschluß des Philanthropins für Schauspieler, S. 23. Auch dieses Projekt spielt sich allerdings maßgeblich auf diskursiver Ebene ab, weitgehend losgelöst von der sozialen Wirklichkeit: »Der soziale Aufstieg vom verachteten ›Possenreißer‹ zum arrivierten Künstler in der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft blieb eine Ausnahme. […] Die Masse der Schauspieler aber – insbesondere das Heer der vagierenden Komödianten – blieb hinsichtlich ihrer Stellung in der Gesellschaft und ihres Sozialprestiges in der unteren sozialen Hierarchieskala und damit diskriminiert. Somit kann von einer generellen Verbürgerlichung des Schauspielerstandes im 18. Jahrhundert nicht die Rede sein. Auch das Bürgerrecht blieb den meisten als

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wie grundsätzlich aller pädagogischen Zugriffe auf den Schauspieler liegt in der Partizipation an diesem sozialen Werteverbund, dessen normativen Rahmen das literarische Theater der Reform maßgeblich auszubuchstabieren und anschaulich zu kommunizieren hilft und den es zugleich als zu transportierenden Inhalt empfängt; der es also gleichermaßen hervorbringt und von ihm hervorgebracht wird; dessen Vertreter von ihm adressiert und überhaupt erst als solche hergerichtet werden sollen.672 Wie im nächsten Hauptteil aufgezeigt wird, ist dieses Ziel deckungsgleich mit dem der sich neu und vollends institutionalisierenden Pädagogik: Es liegt in einem »gesetzten und vernünftigen Leben[]« (Journal, S. 36), einem Leben, das frei von Ausschweifungen und auf ein rechtes Maß zentriert ist, das sich auf die eigene Mäßigkeit hin stets selbst zu beobachten und auf seine Nützlichkeit hin zu überprüfen gelernt hat. Den Weg zu diesem Leben ebnet, bahnt und normiert eine Perspektive pädagogischer Totalität, die jeden für erziehungsbedürftig und gleichermaßen zum Erzieher qualifiziert hält. Sie spannt ein allumfassendes Netz sozialer Observation und stellt entsprechende Kategorien bereit, die neben der Wahrnehmung auch die Bewertung normieren. Und sie markiert die Schnittstelle, an der sich die beiden großen Reformprojekte des 18. Jahrhunderts, des Theaters und der Pädagogik, treffen. Dabei ist es aber nicht nur das Theater, das diskursiv als Erziehungsinstitution profiliert wird. Wie im folgenden Hauptteil aufgezeigt werden soll, prägen umgekehrt die Überlegungen der moralischen Anstalt, ihre möglichen Leistungen, ihre Wirkungsstrategien, Formen und Funktionsstellen das umfangreiche Projekt der philanthropistischen Reformpädagogik. Friedel zieht sie dezidiert, aber mit durchaus ambivalenter Haltung als Referenzgröße für sein Schauspielerphilanthropin heran. Einerseits soll sie als methodisches Vorbild dienen: »Man lese aber diese Produkten des Geschmacks genau nach der Vorschrift, welche die Dessauischen Lehrer beobachten, um nicht blos die Worte den Schülern faßlich zu machen, sondern zugleich sie mit dem wahren Geist, und der Energie der Schriftsteller bekannt zu machen.«673 Andererseits aber steht sie im Zentrum einer diskursiven Wucherung, die ob ihrer Maßlosigkeit entschieden abgelehnt wird: »Man erwarte hier nicht weitausgeführte Vorschläge, keine Elementarwerke, die ich wie Pestbeulen scheue, eben weil jeder, der Dessau und Basedow, oder Hildesheim und Bahrdt gesehen hat, – glaubt im Stande zu seyn, Elementarwerke fur die

Voraussetzung für eine erfolgreiche gesellschaftliche Integration im Allgemeinen verwehrt.« (Heßelmann: Gereinigtes Theater, S. 264f.) Dieser prekäre Status bleibt auch noch das 19. Jahrhundert hindurch bestehen, vgl. Schmitt: Schauspieler und Theaterbetrieb, S. 119. 672 Vgl. etwa Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen; Graf: Theater im Literaturstaat, S. 130-132. 673 Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 27.

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ganze Christenheit liefern zu können. Es ist der pädagogischen Stümper eine solche Menge, daß ich mirs zur Sünde anrechnen würde, ihre Heerde zu vermehren. Mags immerhin Mode seyn, – ich mache sie nicht mit.«674 Dem sich gerade erst im Zusammenhang mit seiner Institutionalisierung verselbstständigenden pädagogischen Diskurs mangelt es offenbar noch an den nötigen »Prozeduren der Kontrolle und Einschränkungen«675 , an denen die »Patriarchen der Pädagogik«676 im letzten Drittel des Jahrhunderts arbeiten. Wie ihre Ordnung des Diskurses sich gestaltet, wie sie an der Hervorbringung jener von Maß und Nützlichkeit geprägten bürgerlichen Lebensweise arbeiten, welche textlichen und performativen Formen dabei zum Einsatz kommen, wodurch sich die von Friedel gerühmte Methode auszeichnet und inwiefern all das mit einer den Philanthropismus prägenden Theatralisierung zusammenhängt, gilt es, im folgenden Hauptteil zu untersuchen.

674 Ebd., S. 25. 675 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 17. 676 Friedel: Philanthropin für Schauspieler, S. 26.

III   Die Theatralisierung der Pädagogik

1   »die Jugend zum bürgerlichen Leben vorbereiten« – Der Philanthropismus 1.1   Pädagogische Defizite Ein junger Mann fasst einen Entschluss. Er hat gerade einen angemessenen Gesellschafter getroffen und macht sich nun daran, über dem Eingang seiner Wohnstätte die Prinzipien einer Lebensweise schriftlich zu fixieren, die er in Folge beständiger Introspektion als Ursachen für seine sich zunehmend erfolgreich gestaltende Existenzbestreitung ausgemacht hat. Erfolgreich ist er in dem Sinne, dass er dank allerhand nützlicher Kenntnisse für sein Wohlergehen sorgen kann. Seine Introspektion verliert sich keineswegs in weltfremder Träumerei, sondern dient der kritischen Retrospektive seiner Tage und ihrer weiteren Planung. Seinen neuen Gesellschafter tauft er auf den Namen »Freitag«. Seine Behausung ist eine Höhle auf einer ansonsten unbewohnten Insel, sein Schreibwerkzeug ein selbst gefertigtes Beil. Sein Name lautet Robinson, er ist der Titelheld von Joachim Heinrich Campes 1779/80 erschienenem – man wird sagen können – Roman Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder. Das »sinliche[] Merkzeichen«, das er zur Befestigung des Vorsatzes, seine Tage stets fleißig, genügsam und wohl strukturiert zuzubringen, in den Stein schlägt, besteht aus den Worten »Arbeitsamkeit und Mäßigkeit.«1 Was Robinson so in eine dauerhafte Sichtbarkeit überführt, 1 Joachim Heinrich Campe: Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder. Nach dem Erstdruck herausgegeben von Alwin Binder und Heinrich Richartz, Stuttgart 2005, S. 219f. Im Folgenden unter der Sigle RdJ und Seitenzahl im Text zitiert. Dass Robinson der Jüngere hier zusammen mit theoretischen Arbeiten, Abhandlungen und Aufsätzen der Reformpädagogik in den Blick genommen wird, ist durch dessen, im Text selbst angelegten, uneindeutigen Status begründet. Gemeinhin als Roman gelesen, ist Campes Buch zugleich als Anleitung für Pädagogen konzipiert, die nicht nur ebenfalls an der Konsolidierung philanthropistischer Erziehungsgrundlagen mitwirkt, sondern auch ihre Anwendung idealtypisch vorstellt. Dieser Vorstellungsaspekt wird wiederum durch die dominante Dialogform des Textes begünstigt, in Folge derer Robinson der Jüngere auch als dramatischer Text gelesen und sogar aufgeführt worden ist. Vgl. zu Status und Form des Textes ausführlicher III.5.3.

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ist in dreifacher Hinsicht bedeutsam: Es handelt sich erstens um den edukativen Mittelpunkt des Textes, bezeichnet zweitens die Kernprinzipien der pädagogischen Programmatik, die Campes Roman fundiert und die in ihm zugleich als überaus wirksam vorgeführt wird, und symbolisiert drittens das Verfahren, mit dem diese Pädagogik ihre nachhaltige Wirksamkeit gewährleisten will. Robinson der Jüngere ist nicht nur der wohl zeitgenössisch bekannteste,2 sondern programmatisch auch einer der repräsentativsten Texte des Philanthropismus, jener im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf den Plan tretenden Gruppierung aufklärerisch gesinnter Pädagogen, zu der neben Campe unter anderem Johann Bernhard Basedow, Ernst Christian Trapp, Christian Gotthilf Salzmann oder Johann Stuve zu zählen sind.3 Ihre Programmatik, so gilt es im Folgenden aufzuzeigen, prägt ein umfangreicher, ex- und impliziter Bezug auf das andere große pädagogische Projekt des Jahrhunderts: das reformierte Theater. Dieser Bezug ist für die Ausdifferenzierung philanthropistischer Pädagogik, ihrer Theorie und Praxis derart bedeutsam, dass mit ihrer Professionalisierung, Institutionalisierung und Verfachlichung eine Theatralisierung der Pädagogik einhergeht. Diese institutionelle, personelle, didaktische, methodische und textuelle Prägung ist bisher ein weitgehendes Forschungsdesiderat geblieben.4 Ihr wird sich die folgende Analyse widmen. Bevor jedoch die dabei als Fundament gelegte Theatralisierungsthese genauer vorgestellt und dann in den folgenden Kapiteln in ihren jeweiligen Ausprägungen untersucht wird, gilt es zunächst, die philanthropistische Programmatik einführend als diejenige Grundlage zu erörtern, an die die Kapitelkontexte dann vertiefend anschließen werden. Der Anspruch, mit dem die Philanthropisten auftreten, ist kein geringerer als der einer umfassenden Reform des Erziehungs- und Schulwesens. Dessen attestierten inhaltlichen, strukturellen und methodischen Defiziten stellen sie auf diskursiver und institutioneller Ebene ihre mitunter als konträr inszenierten pädago2 Vgl. Reinhard Stach: »Robinson der Jüngere« als pädagogisch‐didaktisches Modell des philanthropistischen Erziehungsdenkens. Studien zu einem klassischen Kinderbuch, Ratingen/Wuppertal/Kastellaun 1970, S. 77; Eva Funke: Bücher statt Prügel. Zur philanthropistischen Kinderund Jugendliteratur. Bielefeld 1988, S. 8f. 3 Vgl. zum Philanthropismus und seinen Protagonisten einführend etwa Ulrich Herrmann: Die Pädagogik der Philanthropen, in: Hans Scheuerl (Hg.): Klassiker der Pädagogik. Erster Band. Von Erasmus von Rotterdam bis Herbert Spencer. Zweite, überarbeitete Auflage, München 1991, S. 135-158. 4 Eine Ausnahme bilden hier die Arbeiten von Martin Jörg Schäfer: Der ›erste unter allen Trieben‹. Regulierte Mimesis in der pädagogischen Literatur der Aufklärung, in: Archiv für Mediengeschichte 12 (2012), S. 65-77; Die Theatralität des Philanthropinismus. Salzmanns Exempel, in: Bettine Menke, Thomas Glaser (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität, Paderborn 2014, S. 65-87; Das Theater der Erziehung. Goethes »pädagogische Provinz« und die Vorgeschichte der Theatralisierung von Bildung, Bielefeld 2016, insbes. S. 127-169.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

gischen Überzeugungen entgegen, die neben veränderten Erziehungszielen eine neue Perspektivierung des Kindes respektive der Kindheit als eigenwertiger, zukunftsoffener und damit erzieherisch gestaltbarer Lebensphase, aber auch ein anderes Verständnis des Erziehers hinsichtlich seiner Profession und seiner Praxis auszeichnet. Umgesetzt und in ihrer Umsetzung auf die eigenen Verbesserungsmöglichkeiten hin überprüft werden soll diese neue Pädagogik an eigenen Schulen und Erziehungsinstituten, wie etwa dem 1774 von Basedow in Dessau gegründeten Philanthropin, an dem nahezu alle namhaften Philanthropisten Zwischenstation machen. Es ist dem Selbstverständnis nach erstens nichts weniger als eine »Mutterschule«, zur »Verbesserung des Schul-Unterrichts insbesondere, wie zur Verbesserung des ganzen öffentlichen Erziehungswesens überhaupt«, also eine institutionelle Keimzelle der Reform, an der »eine ganze mit sich übereinstimmende Gesellschaft eben so fähiger und Sachverständiger,5 als arbeitsamer Männer«6 tätig ist. Gerahmt sind solche Schulversuche von einem regen Publikationsbetrieb, der umfangreiche Elementarwerke wie die von Basedow oder Salzmann ebenso umfasst, wie diverse Zeitschriftenprojekte, die pädagogische Abhandlungen, Erziehungsanweisungen, Rechenschaftsberichte, Fallgeschichten und kleinere literarische Texte konstellieren und darüber maßgeblich eine Ordnung des pädagogischen Diskurses konsolidieren. Zweitens aber ist das Dessauer Philanthropin als Mutter- und Musterschule der Ort, an dem die Umsetzung der pädagogischen Ansätze zugleich erprobt, validiert und optimiert wird, an dem pädagogische Praxis und Theorie in einen möglichst unmittelbaren Bezug gesetzt werden und einander wechselseitig konturieren sollen. In diesem Sinne versteht es sich immer auch als eine »Experimentalschule, in welcher Versuche, und immer neue Versuche, zur Abschaffung der vielen, euch wohl bewußten Mängel des Schulwesens angestellt würden«7 . Diese Ausrichtung, die pädagogische Praxis von vornherein in einer prozessualen Dynamik an beständige (Selbst-)Beobachtung und kritische Reflexion knüpft, versucht einer 5 Auch in diesem Hauptteil werden im Folgenden bei editionsphilologisch nicht aufbereiteten Quellen aus Gründen der Übersicht die zahlreichen orthografischen und grammatischen Eigenheiten nicht eigens mit [!] oder [sic!] hervorgehoben. Zudem werden alle textimmanenten Hervorhebungen in der Zitation übernommen, ohne darauf jeweils im Einzelnen hinzuweisen. 6 [Joachim Heinrich Campe]: Fortsetzung des abgebrochenen Entwurfs der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 2. Stück, S. 114-131, S. 121. Der Artikel ist mit einem C. signiert, das von der Forschung als Autorenkürzel Campes identifiziert worden ist, vgl. Heike Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik. Eine Quellenstudie zur reformpädagogischen Internatserziehung seit dem 18. Jahrhundert, Tübingen 2005, S. 45f.; Pethes: Zöglinge der Natur, S. 236. Dementsprechend werden ihm auch die im Folgenden herangezogenen, mit C. signierten Texte aus den von ihm mit herausgegebenen Zeitschriften zugeschrieben. 7 [Joachim Heinrich Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 177778, 1. Stück, S. 14-59, hier: S. 23.

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Reihe von konstitutiven Unsicherheiten zu begegnen, die als solche Folge der reformatorischen Programmatik sind. Dies betrifft die Methodik, den Adressaten und, in letzter, sich hier noch weniger deutlich artikulierender Konsequenz, das Gelingen der Erziehung selbst. Die experimentelle Haltung, das Spannungsverhältnis von Versuch, Validierung und Variation bei gleichzeitiger Diskursivierung, fasst diese selbstgeschaffenen Unsicherheiten als Wissensdefizite und setzt sich damit zugleich Aufgabe und Möglichkeit ihres kontinuierlichen Abbaus. Im Anschluss an Rousseau, der in vielfacher Hinsicht Impulsgeber des Philanthropismus ist,8 perspektiviert die Reformpädagogik Kindheit nicht nur als eigenwertige, gestaltungsoffene Lebensphase, sondern orientiert sich in deren Gestaltung an einem als natürlich gesetzten Entwicklungsgang des einzelnen Zöglings. Dem nicht Rechnung getragen zu haben, wird umgekehrt dem bisherigen Schul- und Erziehungswesen als gravierendes Versäumnis angelastet. Als Problem 8 Vgl. Herrmann: Aufklärung und Erziehung, S. 46-56; für die in der vorliegenden Arbeit relevanten Aspekte vor allem Düwell: Institutionalisierung der Pädagogik. Die intensive, auf die unterschiedlichen konzeptuellen (Mensch – Bürger) wie formalen (Abhandlung – Roman) Aporien im Emile Bezug nehmende, pädagogische, philosophische und poetologische Rezeption skizziert Wilhelm Voßkamp: »Un livre paradoxal«. J.-J. Rousseaus ›Émile‹ in der deutschen Diskussion um 1800, in: ders.: Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin 2009, S. 49-59. Dass Rousseaus pädagogisch‐literarischem Projekt eine anthropologische Perspektive unterliegt, die wiederum eine maßgebliche experimentelle Dimension der im Emile vorgeführten negativen Erziehung bedingt, zeigt Christophe Martin: »Der Natur Gewalt antun«? Negative Erziehung und die Versuchung des Experiments im Émile, in: Bettine Menke, Thomas Glaser (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität, Paderborn 2014, S. 25-46.; vgl. in diesem Sinne auch Christian Grabau: Leben machen. Pädagogik und Biomacht. Fink 2013, S. 45. Was Martins Text streift, wenn er in Zusammenhang mit der experimentell‐observativen Ausrichtung des rousseauschen Erziehungsmodells von Inszenierung, Künstlichkeit, falschem Schein etc. spricht, ohne dies jedoch explizit zu benennen und weiter zu verfolgen, ist die im Emile bereits angelegte Theatralität der Pädagogik. Die wiederum hat Martin Jörg Schäfer ausführlicher untersucht und aufgezeigt, vgl. mit Schwerpunkt auf Rousseau Martin Jörg Schäfer: Émile unter Schauspielern. Rousseaus Theater der Erziehung, in: Maud Meyzaud (Hg.): Arme Gemeinschaft: Die Moderne Rousseaus, Berlin 2015, S. 130-154 und ders.: Das Theater der Erziehung, S. 103-125 und, zur Rousseaurezeption der Philanthropisten, S. 137-143. Eine Variante der in der vorliegenden Arbeit untersuchten Verschränkung von Theater und Pädagogik lässt sich also bereits bei einem der wichtigsten Impulsgeber beider Diskurse beobachten: Was Rousseau im Brief an D’Alembert als strukturelle wie wesenhafte Defizite des Theaters so nachdrücklich beklagt, zeichnet umgekehrt die umfassende Experimentalanordnung des Emile aus: »Die ›natürliche‹ Welt, in der Émile lebt, ist in Wirklichkeit gerade das Werk des Erziehers und es handelt sich um eine komplett künstliche Welt, geradezu ein Universum der Fallgruben und des falschen Scheins.« (Martin: Negative Erziehung, S. 36) Dass Rousseau bei aller wirkmächtig vorgetragenen Ablehnung eigentlich alles andere als theatrophob sei, argumentiert Stefanie Diekmann: Kein Theater für Genf. Rousseaus ›Brief an D’Alembert‹, in: dies., Christopher Wild, Gabriele Brandstetter (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München 2012, S. 31-40, vgl. S. 39f.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

mit schließlich gesamtgesellschaftlichen Folgen wird beklagt, »daß die ehemaligen, der Natur angemessenen, Absätze des menschlichen Alters, so nahe zusammengerückt werden, daß die Zwischenräume der verschiedenen Stufen fast gar nicht mehr bemerkbar sind.«9 Demgegenüber setzt die philanthropistische Pädagogik auf eine anthropologische Entstauchung, die gerade die ›verschiedenen Stufen‹ in erzieherischer Absicht adressieren will. Dazu muss ihre Ausrichtung nicht nur grundsätzlich kindgemäß, sondern in ihren Anforderungen dem jeweiligen Entwicklungsstand angepasst, das heißt »elementarisch« sein, wie Campe mit Bezug auf die Lehrmittel am Philanthropin erläutert: »Ein Buch aber verdient nur alsdann erst elementarisch genannt zu werden, wenn die Ordnung der darinn vorgetragenen Begriffe ganz genau dem natürlichen Gange entspricht, den die menschliche Seele zur Entwicklung ihrer Ideen zu nehmen pflegt.«10 Diese Anpassungsleistung ist jedoch nicht nur ein wesentliches Charakteristikum philanthropistischer Programmatik, sondern zugleich auch eine ihrer größten Herausforderungen. Denn ihre anthropologische Fundierung11 liefert zwar die Grundlage für das »zeitliche[] Sequenzieren«, dessen Folge und Festschreibung die Elementarmethode ist, zeichnet sich jedoch durch eine, wenn überhaupt, nur sukzessiv abzubauende Ungewissheit aus. Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr haben im Bezug auf die philanthropistische Elementarmethode herausgestellt, dass sie der Natur als derjenigen »Basis« verhaftet bleibt, der »die Bestimmung über den Zeitfluß der Erziehung zukommt«12 . Was dieser in der Aufklärungspädagogik eher vage bleibende Naturbegriff zwar ermöglicht, ist es, »das Kind als formbares Material zu denken, dem Prägungen durch äußere Einflüsse eingedrückt werden können.«13 Dass es 9 [Campe]: Fortsetzung des abgebrochenen Entwurfs der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 117. 10 Ebd., S. 124. Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr haben dies als »eine Art Gleichlauf von Psychologie und Logik« beschrieben: »An die Aufnahmebedingungen kognitiver bzw. motivationaler Art im Schüler soll angeknüpft werden durch das Herausziehen sinnfälliger Aspekte des Unterrichtsstoffes bzw. durch seine analytische Dekomposition. Das ist […] die Quintessenz der Elementarmethode.« (Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, S. 132) 11 Jörn Garber spricht von einer »einer radikalen Anthropologisierung des Erziehungskonzepts«. (»Die Bildung des bürgerlichen Karakters« im Spannungsfeld von Sozial- und Selbstdisziplinierung, in: ders. (Hg.): »Die Stammutter aller guten Schulen«, S. 357-374, hier: S. 358. 12 Luhmann, Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, S. 135 und 138. Im Unterschied dazu »relativiert« Pestalozzi, der eigentlich im Fokus ihrer Analyse steht, den Naturbezug so weit, dass die Synchronität zugunsten »selbsterzeugte[r] Grundlagen« (ebd., S. 136) in Erziehung und Unterricht aufgehoben wird und der Erziehungs-/Wissensstand des jeweiligen Zöglings der alleinige Bezugspunkt bleibt: »Das Gelernthaben tritt an die Stelle von natürlichen Prämissen (Anlage, Begabung). […] Somit hat die Methode ihren Zugriffspunkt in der (individuellen) Lernfähigkeit.« (Ebd., S. 138) 13 Düwell: Institutionalisierung der Pädagogik, S. 95. Vgl. zum Naturbegriff ebd., S. 94-96. In diesem Sinne heißt es etwa in Salzmanns Ameisenbüchlein: »Ihr [der Kinder – AW] Herz ist die wahre Jungfernerde, in welcher jedes Samenkorn schnell Wurzel schlägt und emporwächst; es ist ein

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eine spezifische Natur des kindlichen Menschen gibt, dass sie sich schrittweise entwickelt, dass sich Erziehung, will sie gelingen, daran orientieren und sie als Erziehung formen muss, gilt als gesetzt. Damit einher geht jedoch die Einsicht, dass der auf dieser Begriffs-›Basis‹ angenommene, natürliche Entwicklungsgang als wesentliche Bezugsgröße der Erziehung und Grundlage ihrer Operationen (noch) unbekannt ist und in seinen Stationen überhaupt erst entdeckt werden muss. Diese Problematik bestimmt bereits die Ausgangslage von Rousseaus Emile. Er versucht ihr zu begegnen, indem er »den Gang der Natur darstellt«14 und diese natürliche Entwicklung an pädagogische Praxis knüpft. Denn der Text buchstabiert nicht nur diesen im Zögling Emile sich zeigenden Verlauf aus, sondern auch die sich daran orientierenden Eingriffe und Reflexionen des Erziehers Jean-Jacques. Beides wiederum ordnet er über eine den kindlichen Entwicklungsstufen entsprechende Einteilung in seine einzelnen Bücher.15 Rousseau markiert damit am und als Beginn moderner Pädagogik gleichermaßen ein Wissensdefizit wie die Aufgabe, es abzubauen. »Die Kindheit ist etwas uns vollkommen Unbekanntes,« konstatiert er im Vorwort und fordert: »Studiert zunächst eure Zöglinge besser, denn ihr kennt sie ganz sicher nicht.«16 Die sich ausdifferenzierende Pädagogik ist also einer zweifachen Wissensgenese verpflichtet, die das Kind als Individuum und als menschlichen Sonderfall betrifft. Sie zielt auf eine zukunftsorientierte Formung des Menschen, die sich zunächst auf Lebensphasen konzentriert, die man als Kindheit und Jugend entdeckt, und damit zugleich als Bezirke eines anthropologischen Spezialwissens, das erst noch erhoben und verarbeitet werden muss. Die Philanthropisten nun sehen in ihrer experimentellen Ausrichtung und institutionellen Verankerung die Möglichkeit, das ihr Fundament mit prägende Wissensdefizit abzubauen, reflektieren dabei allerdings ebenso die Schwierigkeit der Aufgabe wie die Einsicht, sie allein prozessual und sukzessive lösen zu können, bleiben diesbezüglich aber optimistisch: »Und wie viel Beobachtungen über den natürlichen Wachsthum der Kinderseele, wie viel Versuche dazu erfodert würden, brauche ich wohl nicht zu sagen. Daß das also abermals nicht das Werk eines einzigen Menschen, das Product eines einzigen oder einiger Jahre seyn könne, wird jeder leicht von selbst begreifen. […] Und wo könnte diese Arbeit besser gelingen, als in dem Schooße einer Experimentalschule, wo es weder an Gelegenheit zu Beobachtungen, noch an nöthiger Freyheit

Wachs, das sich willig in jede Form schmiegt, in die du es druckst.« (Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 148) 14 Rousseau: Emile, S. 102. Vgl. diesbezüglich auch Düwell: Institutionalisierung der Pädagogik, S. 90f. 15 Vgl. zur romanhaften Form des Emile Kapitel IV. 16 Rousseau: Emile, S. 102.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

zu fortgesetzten Versuchen fehlte? Abermals ein wichtiger Zweck, den man durch die Stiftung eines Philanthropins zu erreichen hoffte!«17 Das spezifische Interesse an Kind und Kindheit in Charakteristika und Verlauf sowie die für das eigene Anliegen als konstitutiv erachtete Notwendigkeit, über ein im Vollzug der Erziehung zu gewinnendes Wissen die eigene Praxis auf objektive Grundlagen zu stellen und sich damit zugleich disziplinär zu konsolidieren, verortet die entstehende Pädagogik im epistemischen Verbund der sich ihrerseits herausbildenden Humanwissenschaften. Sie ist in ihrem spezifischen Fokus zugleich ebenso Index für deren disziplinäre Ausdifferenzierung, für ein sich immer weiter spezifizierendes und darin disziplinkonstituierendes Interesse am Menschen, wie für eine wechselseitige Bezugnahme einzelner anthropologisch ausgerichteter Wissensbezirke. Insbesondere Psychologie und Sittenlehre sind wesentliche Bezugsgrößen der Pädagogik, die das Kind als anthropologischen Sonderfall kennenlernen muss, um es auf bestimmte Ziele hin erziehen zu können.18 Mit diesem letztgenannten Punkt verbindet sich jedoch noch eine weitere Problematik. Denn ungewiss ist mit Kind und Kindheit nicht nur der Ausgangs- und Ansatzpunkt der Pädagogik, ungewiss sind auch ihre Ergebnisse. Eine pädagogische Programmatik kann zwar Zielvorstellungen formulieren, sie kann Mittel und Methoden angeben, die zur Erreichung dieser Ziele dienen sollen – wirklich gewährleisten aber, dass sie auch erreicht werden, kann sie nicht. Eva Geulen hat in dieser Hinsicht von »der Unbestimmbarkeit erzieherischer Effekte«19 gesprochen. Die gleiche Problemlage adressiert aus systemtheoretischer Perspektive die These von Luhmann und Schorr, »daß das Erziehungssystem strukturell durch ein Technologiedefizit geprägt sei.«20 Dieses Defizit wird von beiden jedoch erst nach je17 [Campe]: Fortsetzung des abgebrochenen Entwurfs der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 124f. 18 Vgl. Jürgen Jahnke: Moral und Erfahrungsseelenkunde als Problem der Pädagogik, in: Manfred Beetz, Jörn Garber und Heinz Thoma (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 208-224; die breiteren wissenschaftshistorischen, methodischen und epistemischen Kontexte, die neben der allgemeinen Anthropologie philosophische Konzepte, Medizin, aber auch naturwissenschaftliche Verfahren umfassen sowie die disziplinäre, institutionelle und akademische Verortung der Pädagogik in den Humanwissenschaften hat Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert ausführlich untersucht und aufgezeigt. Vgl. zu den disziplinären und epistemischen Bezügen sowie ihrer gemeinsamen methodischen Fundierung ausführlicher III.4.1. 19 Eva Geulen: Erziehungsakte, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Figuration und Performanz, Stuttgart, Weimar 2004, S. 629-652, hier: S. 632. 20 Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr: Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik, in: dies. (Hg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt a.M. 1982, S. 11-40, hier: S. 14. Vgl. auch dies.: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, S. 119-124. Dort findet sich auf S. 118f. eine etwas kürzere, hier jedoch hinreichende Bestimmung des Technologiebegriffs: »Der Begriff bezieht sicht auf die operative Ebene eines

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ner »epikantische[n] Wende« beobachtet, die den Übergang vom Philanthropismus zum Neuhumanismus kennzeichnet, den wiederum Luhmann an anderer Stelle als »Übergang von einer empirisch‐anthropologisch und praxisnah orientierten Konzeption des Erziehungsprozesses in Familien und Schulen zur Theorie der Menschenbildung«21 pointiert benannt und untersucht hat. Ist in dieser Theoriesubstitution letztlich die kantische Ethik zentraler Bezug,22 verweist zunächst dessen Pädagogik in ihrer Verhandlung von Freiheit und Zwang auf den Ausgangspunkt der für das sich um 1800 ausdifferenzierende Erziehungssystem dann als strukturell beobachtbaren Problematik: »Eines der größesten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen.«23 Für die Philanthropisten, so Luhmann und Schorr, greift das von diesem Gedanken aus sich entfaltende systemische Technologiedefizit insofern noch nicht, als dass sie »in aller Unschuld Erziehungswissenschaft als eine Art zweckgesteuerte Subsumtionstechnologie [dachten].«24 Eine vermeintliche Unschuld darf hier jedoch nicht über ein tatsächlich sehr ausgeprägtes Problembewusstsein hinwegtäuschen. Trotz allen Vertrauens in die

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Systems, auf der der Gegenstand seiner Tätigkeit durch geordnete Arbeitsprozesse in Richtung auf Ziele verändert wird. Die Technologie eines Systems ist die Gesamtheit der Regeln, nach denen dieser Veränderungsprozeß abläuft, also zum Beispiel Schüler das lernen, was ihnen gelehrt wird.« Luhman: Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, S. 128 und 121. Vgl. auch Luhmann und Schorr: Das Technologiedefizit der Erziehung, S. 11-13. »Die Wendung selbst wird auf eine Umkehrformel verkürzt: Die alte These, Sittlichkeit beruhe auf Erziehung, wird ersetzt durch die These: Erziehung beruhe auf Sittlichkeit. Der Erzieher müsse in der durch das Sittengesetz gebotenen Übereinstimmung mit sich selbst erziehen; die Moral hieße ihn, Moral zu verbreiten.« (Luhmann: Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, S. 125) Immanuel Kant: Über Pädagogik, in: ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, hier: Band VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1966, S. 691-761, hier: S. 711. Luhmann und Schorr insistieren darauf, »daß dies die zentrale Problemstellung der Pädagogik sein und bleiben müsse«: die in ihren Worten »[g]leich am Anfang der pädagogischen Bewegung« auftauchende Frage danach, »wie ein kausales Einwirken auf Freiheit überhaupt zu denken sei.« (Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr: Einleitung, in: dies. (Hg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt a.M. 1982, S. 7-9, hier: S. 7) Luhmann und Schorr: Das Technologiedefizit der Erziehung, S. 11. Subsumtion bezeichnet hier »[d]ie Zuordnung des Handelns« zu Kausalgesetzen, »die der Handelnde kennen müsse, um richtig handeln zu können.« (Ebd.)

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Wirksamkeit der eigenen Programmatik, gilt es den Philanthropisten nicht als ausgemacht, dass sich in jedem Fall und mit kausaler Notwendigkeit ein Erziehungserfolg einstellt. Dies zeigt sich vor allem darin, dass dessen auf mehreren Ebenen angedachte Überprüfung Teil eines sich darüber zeitlich wie räumlich entgrenzenden Erziehungsprozesses wird. So zunächst hinsichtlich des Pädagogen selbst, von dem eine beständige Selbstbeobachtung und Reflexion seiner Tätigkeit verlangt wird. Johann Karl Wezel fordert in diesem Sinne, dass er »oft bey sich bedenkt, was er gethan hat, und mit welchem Erfolge.«25 Ungleich schwieriger wird diese Validierung jedoch dann, wenn die Zöglinge aus der Erziehungsinstitution hinausund in ihr (Erwerbs-)Leben eintreten, also ab dem Moment, wo sich Erziehungseffekte unter nicht länger experimentellen Bedingungen zeigen sollen. Diese sich ändernden Bedingungen sollen jedoch von einer Kontinuität pädagogischer Techniken begleitet werden, einer Ausweitung erzieherischer Arrangements, die den Blickregimen der pädagogischen Institutionen nachempfunden ist und eine den Grad der Erzogenheit überprüfende Fremd- und Selbstbeobachtung zu einem gesamtgesellschaftlichen Strukturprinzip erhebt: »Da aber die Wirkung der Erzihung länger, als bis an das Ende der Schuljare dauren, oder vielmehr, da sie sich nachher erst am meisten zeigen sol, so ist es nicht weniger nötig, daß unsre Eleven auch hernach, wenn sie uns verlassen haben, von Verständigen beobachtet werden, es sei auf der Akademie oder in Aemtern. Denn nun sollen die Folgen unsrer Erzihung und der Denkungsart, die wir unsern Zöglingen anzugewönen suchten, vornemlich erst sichtbar werden. […] Und endlich, wenn unsre Eleven nach und nach in die Welt eintreten, Männer werden, und in allerlei Verhältnisse geraten: so müste das Institut diejenigen unter ihnen aufsuchen, welche vorzüglich richtigen Verstand und Beobachtungsgeist hätten; – mit diesen müste es sich nun in eine vertrauliche Unterhandlung einlassen, um von ihnen selbst zu erfaren, was unsre Erzihungsart auf sie, als Kinder, Knaben und Jünglinge – jedes Mal für Eindrükke gemacht habe?«26 In Reaktion auf den nicht restlos gewissen Ausgang seiner Bemühungen setzt der Philanthropismus also auf den regulierenden und normierenden Einfluss einer sozialen Architektur, die Michel Foucault als »panoptische[…] Gesellschaft«27 beschrieben und analysiert hat. Die Reformpädagogik etabliert sich jedoch nicht bloß 25 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 39. 26 [Anonym]: Beschlus der Antwort des Instituts auf die Anfrage des Ungenanten, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 2. Quartal, S. 199-208, hier: S. 205f. 27 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 388. Vgl. ausführlicher zu diesem »Kerkersystem« ebd. S. 379-397. Zu einer solchen Einschätzung kommt bei anderer analytischer Schwerpunktsetzung auch Pethes: Zöglinge der Natur, S. 239 und ders.: »Und nun, ihr Pädagogen – beobachtet, schreibt!« Zur doppelten Funktion der Medien im Diskurs über Erziehung und Bildung im 18. Jahrhundert, in: Eva Geulen, ders. (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissen-

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als Vorschule einer solchen Ordnung, sondern gibt ihr mit einer sichtbar zu haltenden und beständig zu beobachtenden Erzogenheit überhaupt erst einen größeren Beobachtungs- und Überprüfungsmaßstab, der wiederum in letzter Konsequenz für jeden Teilnehmer dieses Observationsnetzes den eigentlich nur temporären, pädagogischen Status des Zöglings zu einer gesamtbiographischen Kategorie ausweitet. Dass ihr künftiger sozialer Rahmen derart observativ strukturiert ist, wird auch den Zöglingen kommuniziert. So zumindest im Rahmen der ihre Fiktionalität so weit wie möglich kaschierenden Konfiguration von Campes an seinen Robinson anschließenden Roman Die Entdekkung von Amerika (1782). Das Personal und Arrangement der Rahmenhandlung stellt in beiden Texten eine literarisierte Doppelung des Erziehungsinstitutes bei Hamburg dar, das Campe zu dieser Zeit leitet. Dass sie, die Zöglinge, im Anschluss an ihre institutionelle Erziehung ganz bewusst einer sozialpanoptischen Überwachung ausgesetzt werden sollen, teilt ihnen ihr Erzieher, also Campes eigenes literarisches Double, unumwunden mit: »[W]enn ihr künftig einmal nach Bremen, oder nach Stade, oder nach Ritzebüttel kommen werdet, gleich wird man sich auf allen Strassen, wo ihr Euch nur blicken lasst, ins Ohr zischeln: Seht, seht, das ist einer von Campe’s Pflegesöhnen! […] Und nun werden Aller Augen auf Euch gerichtet sein. Man wird jeden Eurer Schritte und Tritte beobachten, wird auf alles aufmerksam sein, was ihr redet und thut. Und erfüllt Ihr dann, wie ich mit Zuversicht zu hoffen wage, die Erwartung, die man sich von Euch gemacht hat, o, dann wohl Euch! dann werden alle Menschen mit Liebe und Freundschaft Euch zuvorkommen.«28 Beständige Kontroll- und Feedbackschleifen dienen also nicht nur dazu, den jeweiligen Erziehungsgrad festzustellen, sie sollen auch überprüfen, ob Erziehung in ihren Wirkungen auf Dauer gestellt werden kann. Sie erweisen sich in der Überprüfung jedoch zugleich als Mittel, um diese Dauer zu gewährleisten. Das soll allerdings nicht allein und erst ein solcher gesellschaftlicher Panoptismus leisten, die ganze philanthropistische Didaktik ist darauf ausgerichtet. Bevor dies ausführlicher thematisiert wird, gilt es zunächst noch aufzuzeigen, worum es dem Philanthropismus inhaltlich geht, woraufhin er erzieht und was überhaupt lebenslang beobachtbar sein muss.

schaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2007, S. 49-67, hier: S. 56-59. 28 Joachim Heinrich Campe: Die Entdekkung Amerikas, zitiert nach: J[akob Anton] Leyser: Joachim Heinrich Campe. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung, Bd. 1, Braunschweig 1896, S. 238.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

1.2   Pädagogik des Maßes und der Nützlichkeit Im programmatischen Zentrum der Reformpädagogik und ihrer institutionellen Ausrichtung steht eine Erziehung zur Sittlichkeit: »Man wird daher gerne eingestehen, daß die moralische Bildung des Menschen zu dem Hauptgeschäfte der Erzihung zu rechnen sei, dem die übrigen alle, wo nicht nachgesezet, doch wenigstens untergeordnet werden müssen. Disem Grundsaze zufolge hat sichs die philanthropische Anstalt zur Regel gemacht, bei ihrem Erziehungsgeschäfte der Bildung des Herzens den Vorzug vor der Bildung des Verstandes beizulegen, und auch die erstere ihr vorzüglichstes Augenmerk zu richten.«29 Philanthropistische Erziehung nimmt nun, das zeigt sich an diesem ihrem maßgeblichen Anliegen, auf die ›Natur‹ nicht allein als Orientierungspunkt für ihre methodische Sequenzierung Bezug, sondern auch als edukativ in Form zu bringende, je individuelle Anlage des Zöglings.30 Pädagogik fungiert in diesem Sinne als ein biographisches Stellwerk, das diese Anlage auf eine erfolgreiche (gesellschaftliche) Zukunft hin ausrichtet und zwischen Weichenstellung und Lebensweg ein Verhältnis von Ursache und Wirkung setzt. Das zeigt sich zum Beispiel in folgendem Ausschnitt eines fiktiven Erzieherdialogs über einen noch unterschiedlich bewerteten Zögling: »T—g. [A]ber er hat auch noch andre Eigenschaften, die in Ihrem Register nicht stehen. […] Und die Anlage zu einem Manne, den man einst unter die vortreflichen zählen wird. Ich. Nemlich, wenn er das wird, was er, seiner Anlage nach, werden kann! T—g. Eben das muß man suchen aus ihm zu machen.«31 Die Einrichtung des Philanthropins ist darauf hin insofern angelegt, als dass sie im extensiven Kontakt zwischen Erziehern und Zöglingen eine sittlichkeitszentrierte, spezifische Adressierung und zweckgerichtete Stimulierung dieser ›Natur‹ ermöglicht: »Soll nun die Tugend unsern Kindern liebenswürdig gemacht werden: was für 29 Ueber die erste Bildung zur Moralität, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 2. Quartal, S. 255-276, hier: S. 255f. 30 Vgl. zu diesem durchaus widersprüchlichen Verhältnis von Natur und Erziehung, nach dem »die Erziehung der Natur zu folgen habe, sich aber zugleich die Natur nur durch Erziehung entfalten kann« Susanne Düwell: Erziehung »durch Vorzeigung der Dinge in der Natur«. Aufklärungspädagogik und Naturgeschichte, in: Tanja van Hoorn und Alexander Košenina (Hg.): Naturkunde im Wochentakt. Zeitschriftenwissen der Aufklärung, Bern [u.a.] 2014, S. 221-238, insbes. S. 221-225, Zitat von S. 222. 31 [Anonym]: Brief eines Ungenanten an das Institut; nebst einigen Bemerkungen für die praktische Erziehung, in: Pädagogische Unterhandlungen, 3. Jahrgang 1779/80, 3. Quartal, S. 325-353, hier: S. 337.

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Triebfedern ihres Herzens müssen wir in Bewegung zu setzen suchen? Ohnstreitig folgende: wir müssen erstlich, so oft wir können, gute, tugendhafte Empfindungen in ihnen zu erwecken suchen«32 . Solche Empfindungen nicht nur zu wecken, sondern auch wach zu halten und damit auf Dauer zu stellen, verläuft über eine affektiv codierte, soziale Anerkennungsökonomie, die idealtypisch im Verhältnis von Erzieher und Zögling angelegt sein und kausal mit der moralischen Qualität des eigenen Handelns verknüpft werden soll: »Wir müssen endlich […] ihnen ein Verlangen nach der Liebe und dem Beyfall guter Menschen einzuflößen, und alle Umstände, wo möglich, so einzurichten suchen, daß sie erfahren, dieser Vortheil könne nur durch sittliche Güte und durch nützliche Geschicklichkeiten erworben werden.«33 Zwei wesentliche Aspekte der Reformpädagogik sind hier angesprochen. Der erste betrifft die noch ausführlicher zu untersuchende inszenatorische Arbeit des Philanthropismus,34 wie sie sich insbesondere an einer Experimentalschule wie dem Philanthropin zeigt. Die (Experimental-)Bedingungen, unter denen hier Zöglinge erzogen und in ihrer Natur beobachtet werden sollen, sind stets so weit planvoll eingerichtet, dass sie einen bestimmten Verhaltensspielraum vorstrukturieren, ohne sich als künstliches Arrangement bemerkbar zu machen, so dass die Zöglinge in einem kontrollierten Rahmen in einer Weise agieren können, die man dann als ›natürlich‹ beobachtet. Der zweite Aspekt führt hingegen zurück an die eingangs als Einschreibung philanthropistischer Kernprinzipien präsentierte Szene aus Robinson der Jüngere. Arbeitsamkeit und Mäßigkeit kollidieren nämlich keineswegs mit der hier nun als edukativem Zentrum ausgemachten Sittlichkeit, im Gegenteil. Das obige Zitat macht bereits deutlich, dass ›nützliche Geschicklichkeiten‹ die Anerkennung sittlicher Menschen erwarten dürfen, dass, so kann hier angeschlossen werden, Arbeitsamkeit und Sittlichkeit zusammenhängen. Ausbuchstabiert und vorgeführt wird dieser Zusammenhang in Campes Roman selbst, in dem es, so Hans-Christoph Koller, »um die Installierung eines pädagogischen Diskurses über Arbeit [geht], in dem Arbeit nicht konkrete Arbeitsvorgänge oder die ›reale‹ Arbeit der arbeitenden Schichten meint, sondern vor allem einen abstrakten moralischen Wert.«35 Der Text konkretisiert diesen Wert, indem er den sittlichen Effekt, den 32 33 34 35

[Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 50. Ebd., S. 50f. Vgl. dazu III.4.2. Hans-Christoph Koller: Erziehung zur Arbeit als Disziplinierung der Phantasie. J. H. Campes Robinson der Jüngere im Kontext der philanthropischen Pädagogik, in: Harro Segeberg (Hg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ›Arbeit‹ in der deutschen Literatur (1770-1930). Dokumentation einer interdisziplinären Tagung in Hamburg vom 16. bis 18. März 1988, Tübingen 1991, S. 40-76, hier: S. 67. In diesem Sinne ist der Philanthropismus entscheidend an der Herausbildung einer, die bürgerliche Gesellschaft mitkonstituierenden, weil zentral in ihrem Wertefundament gesetzten Arbeitsmoral beteiligt. Sie ist Ausdruck jener sich dann vor allem im 18. Jahrhundert vollziehenden, »anthropologische[n] Wende«, die Arbeit,

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das Erwerben und Anwenden allerlei ›nützlicher Geschicklichkeiten‹ zeitigt, anhand von Robinson exemplifiziert. Die sittliche Erziehung, die im Zentrum der Reformpädagogik steht, ist also, so lässt sich pointieren, eine Erziehung zur Nützlichkeit. Damit ist die grundsätzliche Neuausrichtung des Erziehungs- und Schulwesens angezeigt, die der Philanthropismus anstrebt. Umgestellt wird, was die Inhalte angeht, von gelehrtem auf praktisches Wissen, von einem primären Traditions- und zu einem gesellschaftlichen Bezug.36 Nützlichkeit wird dabei zu demjenigen Kriterium erhoben, das nicht nur diese Inhalte bestimmt und zum Maßstab ihrer Priorisierung wird, sondern auch ihren Verwendungs- und Verwertungszusammenhang anzeigt. Denn sie zeigt sich dort, wo sittlich‐arbeitsame Zöglinge ins (Berufs-)Leben eintreten. Im Unterschied zum älteren Erziehungswesen, das, so betonen die Reformer, sich auf eine nicht als Gegensatz zu einer adeliger Lebensführung zugeschriebenen Müßigkeit, nicht nur moralisch auflädt, sondern »zum herausragenden Merkmal moderner Subjektwerdung« (Anja Lemke und Alexander Weinstock: Einleitung, in: dies. (Hg.): Kunst und Arbeit. Zum Verhältnis von Ästhetik und Arbeitsanthropologie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2014, S. 9-22, hier: S. 11) erhebt. Es ist wiederum gerade das Genre der Robinsonade, in dem dieses neuzeitliche Verständnis von Arbeit literarisch reflektiert wird, und das sich dementsprechend, »als textuelle Institutionalisierung eines mentalitätsgeschichtlichen Übergangs von der biblischen Vorstellung von Arbeit […] zu einem modernen Arbeitsbegriff charakterisieren [lässt].« (Wilhelm Voßkamp: Homo Oeconomicus und Homo Poeticus. Über Arbeit und Kunst in den Robinsonaden von Daniel Dafoe und Johann Gottfried Schnabel, in: Anja Lemke und Alexander Weinstock (Hg.): Kunst und Arbeit. Zum Verhältnis von Ästhetik und Arbeitsanthropologie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2014, S. 177-188, hier: S. 177) 36 Gegen eine solche Fokussierung praktischen Realienwissens unter einem Nützlichkeitsprimat regt sich schon bald mitunter heftige Kritik. Als repräsentativ kann hier Friedrich Immanuel Niethammers Polemik Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit von 1808 gelten. Seine Kritik entzündet sich daran, dass die Reformpädagogik »das ganze Glück einer Nation in die Masse materieller Production, den ganzen Werth des Einzelnen in der Erwerb mechanischer Fertigkeit setzt«, dementsprechend bloß eine »materielle Bildung des Geistes« bezwecke, die »einerseits auf Kenntnis bloß materieller Gegenstände [beschränkt], andrerseits auf bloß praktische Anwendbarkeit [bezogen]« sei. (Friedrich Immanuel Niethammer: Philanthropinismus – Humanismus. Texte zur Schulreform. Bearbeitet von Werner Hillebrecht, Weinheim [u.a.] 1968, S. 30f. und 107.) Vgl. ausführlicher zu Niethammers Kritik und seinen neuhumanistischen Forderungen für den Erziehungsunterricht Günther Buck: Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie, Paderborn/München 1984, insb. S. 231-247; zu den theoretischen Grundlagen des Paradigmenwechsels Philanthropismus – Neuhumanismus Luhman: Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft; zum neuhumanistischen Bildungskonzept, insbesondere in Zusammenhang mit der deutschen Rousseaurezeption zwischen Philanthropismus und Neuhumanismus Wilhelm Voßkamp: Perfektibilité und Bildung. Zu den Besonderheiten des deutschen Bildungskonzepts im Kontext der europäischen Utopie- und Fortschrittsdiskussion, in: ders.: Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin 2009, S. 33-48.

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nur wenig kindgemäße, sondern auch nutzlose »Vielwisserey«37 kapriziert, gerät nun das, was bisher als hauptsächlicher pädagogischer Gehalt gilt, nämlich, »ohne Rücksicht auf Charakterbildung, die Erlernung der Sprachen und der Wissenschaften«, am Philanthropin zur »Nebensache«38 : Zur eigentlichen Hauptsache wird stattdessen ein Wissen erhoben, das sich durch eine möglichst unmittelbare soziale Funktionalität, das heißt durch seine Nützlichkeit auszeichnet: »[E]s sollte, durch Anwendung verbesserter Methoden, die Hälfte derjenigen Zeit, welche bisher der Erlernung der Sprachen und der Wissenschaften gewidmet werden mußte, für sie [die Zöglinge – AW] gewonnen, und auf wirkliche Vorübungen des menschlichen und bürgerlichen Lebens verwandt werden. Es sollten nämlich fast eben so viel Stunden des Tages mechanischen Arbeiten und ökonomischen Geschäfften, als den eigentlichen Studien gewidmet, und die letzteren bis zu einem gewissen Alter der Kinder, fast nur beyläufig, und als ein angenehmer Zeitvertreib, während der Handarbeit getrieben werden.«39 Der Begriff, der diese Berufslebensvorbereitung als Zielvorstellung und den damit zugleich befestigten Konnex von Sittlichkeit und Arbeitsamkeit umfasst, ist der der Gemeinnützigkeit: Denn um »durch Kentnisse und Gewöhnung zu den Ständen des gesellschaftlichen Lebens gemeinnüzig die Jugend vorzubereiten«, gehört zum einen, dass die Zöglinge »einen wirksamen aufs wahre Gute und Nüzliche gerichteten Willen [haben]«40 . Dazu gehört zum anderen, die ›Jugend‹ über die korrelierten Werte (Sittlichkeit, Arbeitsamkeit, Nützlichkeit) in die Tätigkeitsvarianten derjenigen Lebensweise einzupassen, die sich über dieses gemeinsam geteilte Wertefundament definiert, die mit dem anvisierten ›gesellschaftlichen Leben‹ identifiziert wird und deren Reproduktion bei gleichzeitiger Optimierung die Reformpädagogik verpflichtet ist: Der »wichtigste Zwek der Erziehung«, darüber herrscht Einigkeit, ist es, »die Jugend zum bürgerlichen Leben vor[zu]bereiten«41 . Die von Rousseau eröffnete Dichotomie, entweder »den Menschen oder den Staatsbürger«42 zu erziehen, wird von den Philanthropisten klar zugunsten des letzteren entschieden. Das hat Konsequenzen für die pädagogisch zu formende, natürliche 37 [Campe]: Fortsetzung des abgebrochenen Entwurfs der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 115. 38 Ebd., S. 115f. 39 Ebd., S. 119. 40 [Anonym]: Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 1. Quartal, S. 67-103, hier: S. 74,76. Vgl. mit Bezug auf Luhmanns (und Schorrs) philanthropistische Hauptreferenz, Trapps Versuch einer Pädagogik, Luhmann: Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, S. 128-138. 41 [Christian Heinrich Wolke]: Von Vorbereitung zum bürgerlichen Leben durch die Erziehung, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 2. Quartal, S. 158-162, hier: S. 160. 42 Rousseau: Emile, S. 111.

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Anlage der Zöglinge und führt zugleich zur Rolle des anderen in Robinsons Einschreibung mitgeführten Begriffs, dem des Maßes. Er spielt für die philanthropistische Pädagogik als zweiter prägender Begriff insofern eine Rolle, als dass er die anthropologische und soziale Dimension der Erziehung nicht nur jeweils definiert, sondern auch miteinander korreliert. Campe erklärt es zur Aufgabe der Erziehung, die »ursprünglichen Kräfte des Zöglings« hinsichtlich eines »möglich größten Ebenmaaßes oder Gleichgewichts dieser Kräfte«43 zu formen. Entscheidend ist dabei jedoch, dass dieses Gleichgewicht relativ sein muss, dass es also einen Maßstab des Ebenmaßes gibt – und der liegt in Beruf und sozialer Funktion, für die der Zögling erzogen wird: Man würde, so führt er aus, »auf diese Weise lauter trefliche Menschen von ungewöhnlicher Brauchbarkeit für jeden Stand und für jedes Gewerbe bilden […], vorausgesetzt, daß man bei der Ausbildung und Übung einer jeden Kraft auf die individuelle Bestimmung eines jeden Zöglings zu diesem oder jenem Berufe genaue Rücksicht nehme und also jene Uebungen an keinen andern Gegenständen als solchen anstellte, welche innerhalb des künftigen Wirkungskreises des Zöglings liegen. Unter dieser Bedingung dürften, glaube ich, alle ursprünglichen Kräfte des künftigen Bauers oder Handwerkers, ohne Gefahr für das Individuum und für den Staat, intensivisch, d. i. dem Grade ihrer innern Stärke nach, eben so emsig ausgebildet und durch Uebungen gestärkt werden, als die Kräfte des künftigen Staatsministers, wenn nur extensivisch, d. i. dem äußeren Wirkungskreise nach, der nöthige Unterschied beobachtet würde.«44 Die natürliche Anlage eines jeden Zöglings ist also nicht an und für sich, als Selbstzweck, erzieherisch herzurichten, sondern im Bezug auf seine Nützlichkeit oder eben ›Brauchbarkeit‹. Die wiederum besteht ihrerseits »mehrentheils in einer gewissen Mittelmäßigkeit.«45 Ein solches Mittelmaß, in der mesótes-Tradition als 43 Joachim Heinrich Campe: Von der nöthigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften. Besondere Warnung vor dem Modefehler die Empfindsamkeit zu überspannen, in: Allgemeine Revision des gesammten Schul= und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Dritter Theil. Herausgegeben von Joachim Heinrich Campe, Hamburg 1785, S. 291-434, hier: S. 316f. Diese Kräfte »sind in unserer einigen Seelenkraft und also in der wesentlichen Natur des Menschen, teils unmittelbar, teils mittelbarer Weise gegründet.« (Ebd., S. 297) Das zu erziehende Ebenmaß, um das es Campe geht, betrifft lediglich die unmittelbaren, das heißt »die Körperkräfte, den gemeinen Verstand, die gemeine Vernunft, die Einbildungskraft, das gemeine Gedächtnis, die Empfindungskraft und die Vergleichungskraft« (ebd., S. 312). 44 Ebd., S. 341f. 45 Villaume: Ob und inwiefern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei, S. 470.

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Mitte zwischen zwei Extremen gedacht,46 wird zum Normalfall des menschlichen Kräfteradius ebenso erklärt wie zur Ordnungsnorm des Sozialen, in dem sich diese ebenmäßigen Kräfte als nützlich erweisen: »Die mehresten Menschen sind in allen ihren Kräften mittelmäßig, und ihre Bedürfnisse gehn nur auf Mittelmäßigkeit. […] Die erhabene Vollkommenheit, das höhere Genie ist nicht oft brauchbar.«47 Die sich jedoch nur hinsichtlich ihres Radius unterscheidende, ansonsten grundsätzlich zu befördernde, ebenmäßige Entwicklung dieser Kräfte hat aber, so der Gedanke, gerade in der daraus resultierenden Nützlichkeit den Effekt, dass das einzelne Individuum harmonisch in seinem jeweiligen gesellschaftlichen ›Wirkungskreis‹ aufgeht. Denn die Folge von Brauchbarkeit ist Glückseligkeit: »[J]e mehr diese Kräfte in einem Menschen verhältnismäßig entwickelt und durch Uebungen gestärkt sind, desto grösser ist seine innere Fähigkeit zur Glückseligkeit, weil er nun für tausend angenehme Genüsse Sinn und Empfänglichkeit hat […] und weil er diese Genüsse nun auch besser, als andere, sich zu erwerben weiß.«48 Das Maß im Sinne von Ebenmaß und Gleichgewicht ist also für das Kompositionsprinzip, als das sich Erziehung versteht, ein anthropologisches Formungsideal und rückt so ins Zentrum der philanthropistischen Überlegungen. Der Begriff prägt jedoch auch den im Erziehungsprozess selbst zu vermittelnden Wertekanon, über den sich das anvisierte, mittelmäßige ›bürgerliche Leben‹ definiert. Maß im 46 Georg Jäger attestiert der philanthropistischen Erziehung in diesem Sinne ein »Ethos der Mittelmäßigkeit« und beschreibt einen »Standpunkt des Maßes und der Mitte« als für die Reformpädagogen »charakteristisch« (Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart [u.a.] 1969, S. 52 und 48). 47 Villaume: Ob und inwiefern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei, S. 481-483. Vgl. zu Villaumes Argumentation, dem hier artikulierten sozialen Nützlichkeitsprimat und den Vorrechten der entsprechenden gesellschaftlichen Ordnung Johannes F. Lehmann: Kontinuität und Diskontinuität. Zum Paradox von ›Bildung‹ und ›Bildungsroman‹, in: IASL 41 H2 (2016), S. 251-270, hier: S. 261-263. 48 Campe: Von der nöthigen Sorge, S. 324. Glückseligkeit ist gewissermaßen die Entschädigung dafür, nicht auf eine ›Erziehung zum Menschen‹, also auf Vollkommenheit und damit auf eine »proportionierliche Entwicklung aller Anlagen« (Luhman: Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, S. 131) zu setzen, sondern stattdessen auf eine berufs- und zweckdeterminierte Entwicklung, also auf Brauchbarkeit. Das Verhältnis der drei Begriffe ist dabei, so Luhmann, »fast schon dialektisch: Die Negation der Vollkommenheit durch Brauchbarkeit erzwingt die Negation der Differenz in der Glückseligkeit.« (Ebd., S. 134) Ihr kommt dementsprechend in der »Theorie der Philanthropie« eine Schlüsselstellung zu, ist diese doch, so Luhmann weiter, »der Versuch, die Differenz von Mensch und Bürger mit dem Prinzip der Glückseligkeit abzukorken« (ebd., S. 167). Christian Begemann spricht von der »Einschrumpfung eines emphatischen zu einem pragmatischen Glücksbegriff […], der mit der gesellschaftlichen Brauchbarkeit nahezu zusammenfällt« (Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1987, S. 166).

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Sinne von Mäßigkeit hat hier eine verhaltensregulative und strukturgebende Funktion: »[S]ei mäßig und enthaltsam, widme den Tag der Arbeit und die Nacht der Ruhe«49 , fordert Salzmann vom angehenden Erzieher, der seinen Zöglingen einen entsprechenden Lebenswandel vorleben soll. Einen solchen entdeckt auch Campes Robinson als Grund für sein sittliches Wohlergehen: »[L]ediglich der arbeitsamen und mäßigen Lebensart«, so versichert er sich selbst, ist es »zu zuschreiben«, dass er »manche Schwachheit und Untugend abgelegt [hat]« (RdJ, S. 218). Dementsprechend beschließt er just in dem Moment, sie unbedingt beizubehalten, wo eine solche Lebensart aufgrund des prinzipiell als »Knecht« (RdJ, S. 218) einsetzbaren, als »Geselschafter« (RdJ, S. 217) bevorzugten und letztlich dazwischen verbleibenden Freitags nicht mehr zwingend nötig ist. Es ist die Sorge, seine mit diesem Lebenswandel in einen ursächlichen Zusammenhang gesetzte Sittlichkeit wieder einzubüßen, die ihn zu folgendem Vorsatz führt, der schließlich mit der genannten Höhleninschrift festgeschrieben wird: »Ich will, dacht er, der neuen götlichen Wohlthaten zwar geniessen; aber immer mit der größten Mäßigkeit. Die einfachsten Speisen sollen auch künftig meine Nahrung sein, so groß und mannigfaltig mein Vorrath auch immer sein mag. Meine Arbeiten will ich eben so unverdrossen und eben so ununterbrochen fortsetzen, als bisher, ohngeachtet, sie nicht mehr eben so nothwendig sein werden.« (RdJ, S. 219) Die ›mäßige Lebensart‹ zeichnet sich jedoch nicht nur durch solche im weitesten Sinne diätetischen Aspekte aus, sondern auch durch »[e]inige Mäßigung der sinnlichen Begierden«, die vor allem über das Erlernen einer beständigen, freiwilligen Verzichtsbereitschaft erzielt werden soll: »Seid daher nicht zu eilfertig, ihre [der Kinder – AW] unschuldigen sinnlichen Begierden zu erfüllen; gewöhnt sie zu abschlägigen Antworten; versagt zuweilen etwas, bloß in der Absicht, damit bestimmte Begierden nach gewissen Dingen, deren Genuß oft unmöglich wird, nicht gestärkt werden, und damit es den Kindern leichter bleibe, die Versagung vieler Bitten ruhig zu ertragen.«50 In Campes Robinson wird diese Tugend der »Selbstüberwindung« (RdJ, S. 126) in der Rahmenhandlung vorgeführt, als der Erzieher-Vater seine Zöglings-Kinder darum bittet, ihn von dem gegebenen Versprechen zu entbinden, mit ihnen eine Reise 49 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 210. 50 Johann Bernhard Basedow: Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker [Auszug aus der 2. Auflage 1771], in: ders.: Ausgewählte pädagogische Schriften. Besorgt von A. Reble, Paderborn 1965, S. 81-163, hier: S. 93. Mäßigkeit bezeichnet in diesem Sinne, so bringt es Begemann auf den Punkt, »eine umfängliche Programmatik der Kontrolle, Beherrschung, Moderierung und Modellierung der Triebe, Neigungen, Affekte und Leidenschaften« (Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung, S. 34).

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nach Travemünde zu unternehmen, und das am Tag der Reise selbst, die nun aufgeschoben werden soll. Derartige Erfahrungen und das anschließende, pädagogisch angeleitete Treffen der richtigen Entscheidung – dem bereitwilligen Verzicht auf das angekündigte Vergnügen – zielen darauf, so erklärt der Erzieher-Vater, »euch in der allen Menschen so nöthigen Geduld und Mässigung zu üben; um euch auf euer künftiges Leben vorzubereiten!« (RdJ, S. 127) Erziehung zeigt sich hier nicht nur als Vorbereitung auf ein im passgenauen Bezug von individuellen Vermögen und gesellschaftlicher Funktion glückseliges, sondern auch auf ein potentiell verzichtsreiches Leben. Als eine Erziehung zu Maß und Nützlichkeit zielt sie dementsprechend nicht nur darauf, jeden einzelnen mit seinem beruflich‐sozialen ›Wirkungskreise‹ zu harmonisieren, sondern auch auf eine Vorabversöhnung mit dem, was ihm dort im Verlaufe seines Lebens widerfahren kann.

1.3   Der Weg »in die Tiefe der Seele, in das Herz des Menschen« Mit dem Philanthropismus ändern sich am Beginn der sich institutionalisierenden Pädagogik nun nicht nur die Perspektive auf den Zögling (Natur des Kindes, Kindgemäßheit), die Zielvorstellungen der Erziehung (Brauchbarkeit, Glückseligkeit) und die dafür als relevant erachteten Erziehungsinhalte (›nützliches‹ Wissen, Werte und Normen). Die zweite große Umstellung der Reformpädagogik betrifft die Art und Weise, wie Inhalte und Ziele miteinander vermittelt werden, wie also die um Maß und Nützlichkeit zentrierte Erziehung zu einer, individuelle Glückseligkeit zeitigenden, sozialen Brauchbarkeit führen soll. Der bereits genannte gesellschaftliche Panoptismus ist dazu nur der Schlussstein. Das Fundament aber liegt in einer veränderten Zugriffsweise auf den Zögling, die überhaupt erst Erziehung als Tätigkeit und Prozess definiert: »In einem gewissen Sinne kann man sagen daß bei der Erziehung Alles auf die Lenkung und Regierung des menschlichen Willens ankomme, sowol in der Hinsicht, daß man während der Erziehung Herr über den Willen der Jugend sei und ihn nach Belieben hinrichten und abkehren könne; als auch in der, daß man den Zöglingen zu der Herrschaft über ihren Willen verhelfe, welches, weil es den Anbau der Vernunft und die Aufklärung des Verstandes voraussetzt, oder in sich schließt, für das wesentliche Stück der Erziehung zu halten ist.«51 Philanthropistische Pädagogik versucht mit anderen Worten nicht, äußerlich auf ihre Zöglinge einzuwirken, sondern sucht ihre Ansatzpunkte in der kindlichen In51 Ernst Christian Trapp: Versuch einer Pädagogik. Unveränderter Nachdruck der 1. Ausgabe Berlin 1780. Mit Trapps hallischer Antrittsvorlesung Von der Nothwendigkeit, Erziehen und Unterrichten als eine eigne Kunst zu studiren, Halle 1779. Besorgt von Ulrich Herrmann, Paderborn 1977, S. 241.

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nerlichkeit, die gezielt her- und ausgerichtet werden soll. Denn der Wille, so Trapp weiter, bezeichnet »die ganze oder überhauptige Disposition des Menschen sich zu innern und zu äußern.«52 Erziehung versteht sich in diesem Sinne als eine Steuerungstechnik, die die Disposition des Zöglings so weit modelliert, dass sie sich schließlich selbst reguliert. Sie zielt darauf, dass die zunächst angeleitete Tätigkeit des Zöglings in vernünftige Selbsttätigkeit übergeht, dass er mit anderen Worten von sich aus will, was er wollen soll. In diesem Zugriff liegt zweifellos eine der wesentlichsten Neuerungen der Reformpädagogik. Anders als ältere, vor allem pietistische Erziehungskonzepte, etwa bei August Hermann Francke, wird nicht nur Kindheit als eigenwertige Lebensphase anerkannt, sondern zugleich der Wille des Kindes statt als ein auf dem Weg zur Unterwerfung zu durchbrechendes Hindernis, als pädagogisch zu formendes Material perspektiviert.53 Anders als es Trapps Äußerung vielleicht suggerieren mag, soll diese Willenslenkung und Dispositionsmodellierung allerdings nicht mit Hilfe von Restriktionen und Drohungen erzwungen werden: »[W]ir [legen] ihnen [den Zöglingen – AW] keinen Zwang auf, welcher vermieden werden kann; und gewöhnen sie vielmehr, dasjenige, was andere von ihnen zu erzwingen pflegen, aus eigener Neigung, oder aus willigem Gehorsam gegen uns, zu thun.«54 Repression wird ersetzt durch sanfte Manipulation. Der Zugriff auf den Willen des Kindes vollzieht sich mit anderen Worten und im Sinne Foucaults nicht innerhalb einer Beziehung der Gewalt, sondern einer der Macht.55 Zweifellos stellt die in Überwachen und Strafen neben Kasernen und Spitälern auch anhand schulischer Einrichtungen analysierte Disziplinarmacht eine geeignete Folie bereit, um wichtige Charakteristika der Reformpädagogik erfassen zu können:56 Sie ist detailinteressiert, setzt auf maximaleffiziente Raum-, Zeit- und Entwicklungsorganisation, verteilt, teilt ein, finalisiert und zeigt sich so als Spielart jener »Kunst des Körpers […], die nicht nur die Vermehrung seiner Fähigkeiten und auch nicht bloß die Vertiefung seiner Unterwerfung im Auge hat, sondern die

52 Ebd. Mit seiner Wortschöpfung »innern«, so erläutert Trapp ein wenig verlegen, versucht er »das Gegentheil von sich äussern so allgemein auszudrücken, als dieses Wort einen Begriff ausdrückt.« (Ebd.) 53 Vgl. Begemann: Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung, S. 176-180. 54 [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 36. 55 Im Sinne von Foucault: Subjekt und Macht. Vgl. dazu ausführlicher III.4.2 56 Vgl. etwa Helga Glantschnig: Liebe als Dressur. Kindererziehung in der Aufklärung, Frankfurt/New York 1987; mit Fokus unter anderem auf Trapps Versuch einer Pädagogik und das Dessauer Philanthropin Pethes: Zöglinge der Natur: S. 219-243; ferner mit Bezug zur Policeywissenschaft, dem Einfluss der pietistischen Tradition, Unterrichtsarrangements und der Diskursivierung kindlicher Sexualität das Kapitel »Pädagogische Mikrophysiken der Macht« in Grabau: Leben machen, S. 88-119; vgl. zu den pädagogischen Kontrolltechniken der Disziplinarmacht Andreas Gelhard: Kritik der Kompetenz, Zürich 2012, S. 31-40.

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Schaffung eines Verhältnisses, das in einem einzigen Mechanismus den Körper um so gefügiger macht, je nützlicher er ist, und umgekehrt.«57 Allerdings lässt sich hier eine entscheidende Verschiebung ausmachen, geht es doch der Reformpädagogik, wie ihre veränderte Zugriffsweise zeigt, gerade nicht (mehr) primär darum, am Körper des Zöglings zu wirken und von außen auf ihn einzuwirken, sondern darum, etwas in ihm wirksam werden zu lassen, darum, die Veranlagung zu bestimmten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsweisen dauerhaft zu implementieren, um ihn auf eine nahtlose Einfügung in eine bestimmte Gesellschaftsform vorzubereiten.58 Der eigentliche, nachhaltige Akt der Erziehung vollzieht sich in der frisch entdeckten und in ihrem Umfang noch in Entdeckung begriffenen kindlichen Innerlichkeit. Dem Anspruch, diese Innerlichkeit in einem Atemzug beobacht- und formbar zu halten, entspricht die umfassende didaktische Umstellung von Zwang auf Gewöhnung. Sie hat ein verändertes Agieren des Erziehers zur Folge, eine Entgrenzung seiner Tätigkeit, eine neue Adressierung des Zöglings samt verlagertem Lerneffekt und das Setzen auf eine letztlich bereits bekannte Methode. Gewöhnung, als dasjenige Mittel, mit dem die Disposition des Zöglings in die erwünschte Form gebracht, sein Wille in die ›richtige‹ Richtung gelenkt werden soll, ist an eine möglichst dauerhafte Präsenz des Erziehers gebunden,59 der sie in zweifacher Weise anregt und anleitet, mechanisch und performativ. In ersterer Hinsicht wird auf eine beständige, detaillierte Repetition der als Gewohnheit zu verinnerlichenden Handlung oder Haltung gesetzt: »Die Gewöhnung geschieht hauptsächlich durch die ununterbrochene Wiederholung der nämlichen Handlung, bis man Fertigkeit darin hat. […] Man kann nicht zu einer Handlung oder Tugend gewöhnen, wenn man nicht zu ihren Theilen und Theilchen gewöhnt, so wie man das Klavier nicht kann spielen lernen, wenn man nicht jede Taste unzählige Male gegriffen hat, und so wie man nicht kann kalligraphisch schreiben lernen, wenn man nicht jeden Buchstab und jeden kleinsten Theil desselben unendliche Male sorgfältig nachgemalt hat.«60 Jedoch soll der Erzieher dazu zweitens nicht nur Übungen und Situationen vorgeben bzw. vorstrukturieren, ein wesentlicher Gewöhnungseffekt geht vielmehr von 57 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 176, vgl. zu den genannten Charakteristika, S. 173-219. 58 Begemann spricht von einer »Imprägnierung des Individuums mit bestimmten Werten« (Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung, S. 180), Herrmann von einer »Habitualisierung [der] Normen der bürgerlichen Gesellschaft.« (Die Pädagogik der Philanthropen, S. 141) 59 Vgl. Trapp: Versuch einer Pädagogik, S. 251. 60 Ebd., S. 251f. Um eben nicht in Zwang und Drill umzuschlagen, ist der Maßstab der Wiederholung die Aufnahmebereitschaft des Zöglings: »Diese Wiederholung muß nicht bis zur Ermüdung getrieben werden. Daher muß der Erzieher sie nicht länger fortsetzen, als er Ekel und Ueberdruß verhüten kann.« (Ebd., S. 251)

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ihm selbst und seinem Umgang aus. Der Erzieher lebt die von ihm zu vermittelnde, sittlich‐arbeitsame, maßvolle Lebensweise vor, seine Aufgabe ist es, den Zöglingen darüber »Vergnügen am gesellschaftlichen Umgange, Vertragsamkeit, gegenseitige Freundschaft, und die edlen Empfindungen des Mitleidens und der Mitfreude anzugewöhnen.«61 Und nicht nur das, auch das pädagogische Zentrum, der »wichtigste[] Teil der Erziehung«, soll auf diese Weise, als eine »Gewöhnung zur Sittlichkeit oder nach gewissen richtigen Regeln zu handeln«62 , vermittelt werden. Als Modus »der Internalisierung von Normen und Werten«63 wirkt Gewöhnung also auf den kindlichen »Nachahmungstrieb« ein, als dem »ersten unter allen Trieben, die bei uns zu erwachen pflegen« (RdJ, Vorrede, S. 7). Er soll jedoch nicht nur stimuliert, sondern vor allem gesteuert werden: Zu seinem Gegenstand werden die Vorgaben und die Vorbildlichkeit des Erziehers, der Zögling eignet sich nachahmend an, was dieser ihm aufgibt respektive vorlebt, bis diese nachahmende Tätigkeit schließlich in »Selbstthätigkeit« (RdJ, Vorrede, S. 7) übergeht und er von allein, aus sich selbst heraus, in erwünschter Weise agiert.64 Dieses Verhältnis von gesteuerter Tätigkeit und Gewöhnung prägt eine zweite, mit der Umstellung von Zwang auf Gewöhnung korrespondierende und die Reformpädagogik charakterisierende Entgrenzung. Es wurde bereits ausgeführt, inwiefern die Überprüfung der Erziehung im (Berufs-)Leben als koextensiv mit diesem Leben gedacht und der soziale Rahmen, in dem es sich vollzieht, darüber organisiert wird. In dem Moment aber, wo Erziehung, um überhaupt Wirkungen von lebenslanger Dauer zeitigen zu können, auf Gewöhnung setzt, totalisiert sie sich dergestalt, dass Unterricht, Freizeit, Lernen und Spielen nahtlos ineinander übergehen und in ihrer stets vorausgesetzten, eduaktiven Zweckmäßigkeit ununterscheidbar werden. Die idealen Bedingungen dafür schafft eine internatshaft organisierte Institution wie das Philanthropin, wo rund um die Uhr über den beständigen Kontakt von Erzieher und Zöglingen erzogen und damit eingewöhnt wird.65 Die Struktur dieser Verschränkung findet sich bei Trapp. Er setzt »1) Der Thätigkeit 61 [Anonym]: Von der gegenwärtigen Beschaffenheit und Einrichtung unsers Instituts, von den gegenwärtigen Lehrern und dem Plane, nach welchem die Lectionen und Stunden für dieses halbe Jahr bis Johannis vertheilt sind, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang (1777/78), 7. Stück, S. 595-624, hier: S. 614. 62 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 199. 63 Begemann: Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung, S. 180. 64 Martin Jörg Schäfer hat im Bezug auf diesen sich in der Nachahmung vorbildlicher Selbsttätigkeit »von sich selbst, von der eigenen Nachträglichkeit, lösen[den]« Nachahmungstrieb von einer den Philanthropismus kennzeichnenden »Ausstreichung der Vermittlungsverhältnisse« (Das Theater der Erziehung, S. 132f.) gesprochen. Vgl. zum Umgang der Reformpädagogen mit diesem als Teil der kindlichen Natur gesetzten und gleichwohl ambivalent betrachteten Nachahmungstrieb ausführlich ders: Regulierte Mimesis in der pädagogischen Literatur der Aufklärung; Das Theater der Erziehung, S. 127-137. 65 Vgl. dazu ausführlicher III.3.2. und III.4.2.

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freien Spielraum und zweckmäßigen Anlaß geben; 2) Verhüten; 3) Gewöhnen; 4) Unterrichten« als Grundpfeiler der Erziehung und erklärt, »daß diese vier Hauptregeln immer zugleich in Ausübung gebracht werden müssen; daß man also z.B. nie unterrichte, ohne der Thätigkeit der Jugend Freiheit und Beschäftigung zu geben, und die Jugend nie thätig sein lasse, ohne sie zugleich zu unterrichten, und in beiden Fällen die nöthigen Gewöhnungen und Verhütungen veranstalte, so wie diese wieder von Unterricht und Thätigkeit begleitet sein müssen.«66 Diese Totalisierung ist durch das Kernanliegen sittlicher Erziehung motiviert. Denn Werte und Normen, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata können nicht in Schulstunden auswendig gelernt, sie müssen vielmehr beständig vorund darüber eingelebt werden. Die anvisierte Einrichtung einer Lebensweise kann nur gelingen, wenn die dies beanspruchende Erziehung so eingerichtet ist, dass sie das Leben der Zöglinge möglichst in Gänze umfasst. Und wenn sie, zum Zwecke der Verinnerlichung, auf eine Verlagerung des Lerneffekts setzt: »[A]lle [Zöglinge – AW] sind auf dem besten Wege, Religion und Sittenlehre zu einer Angelegenheit, nicht ihres Gedächtnisses, sondern ihres Herzens zu machen, weil wir uns bemühen, sie beyder Lehren nicht bloß erkennen und begreifen, sondern sie auch empfinden zu lassen.«67 Was lediglich auswendig gelernt, also »nur nach der Worterkenntnis (symbolisch)« erkannt und begriffen wird, hat, so Basedow, »weder eine starke, noch eine dauerhafte Wirkung«68 . Langfristig – idealiter lebenslang – wirkt hingegen nur, was »Eingang in die Tiefe der Seele, in das Herz des Menschen [findet].«69 Der Weg ins Herz aber verläuft auch im Falle der Reformpädagogik über die Augen. Um die Zöglinge empfinden zu lassen, was in ihnen wirksam werden, ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten prägen soll, muss es ihnen anschaulich gemacht und vorgestellt werden.70 Eine solche Anschaulichkeit ist die Voraussetzung jeglicher Verinnerlichungs- und Gewöhnungsprozesse sowie des damit verbundenen Übergangs von Nachahmung zu Selbsttätigkeit und muss dementsprechend einer Pädagogik, in deren Zentrum die Habitualisierung 66 67 68 69 70

Trapp: Versuch einer Pädagogik, S. 246. [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 35. Basedow: Methodenbuch, S. 123. Ebd. Vgl. Johann Stuve: Ueber die Nothwendigkeit Kinder frühzeitig zu anschauender und lebendiger Erkenntniß zu verhelfen und über die Art wie man das anzufangen haben, in: Allgemeine Revision des gesammten Schul= und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Zehnter Theil. Herausgegeben von Joachim Heinrich Campe, Wien und Braunschweig 1788, S. 163-444. Stuves Konzeption ist nicht nur hochgradig theateraffin (vgl. III.2.2), sondern entfaltet auch eine ausführliche Anleitung zur Histrionisierung des Erziehers (vgl. III.3.2.2).

III Die Theatralisierung der Pädagogik

hochgradig abstrakter Normen und Werte steht, als maßgebliches Qualitätsmerkmal ihrer Praxis gelten. In diesem Sinne wendet sich Salzmann an angehende Erzieher: »Wollt ihr, meine jungen Freunde, euch also der Erziehung widmen, so müßt ihr notwendig lernen, den Kindern die praktischen Wahrheiten so anschaulich zu machen, daß sie dieselben auffassen, annehmen, sich die Befolgung derselben zum Gesetz machen und so ihren eignen Willen tun.«71 Zum Zwecke der Gewöhnung setzt der Philanthropismus also auf eine Erziehung im Zeichen der Evidenz: Was verinnerlicht werden soll, muss vor Augen gestellt werden. Ihre »Präsenzform«72 ist deckungsgleich mit der Präsenz des Erziehers, seinem Agieren, aber auch seinem Unterricht. Letzterer soll gegenstands- und fachübergreifend stets vom unmittelbar Anschaulichen, Sichtbaren, Präsenten ausgehen und erst mit zunehmendem Alter und Reifegrad, abstraktere Gehalte vermitteln.73 Dieser anschauliche Unterricht macht gerade, indem er elementarisch organisiert ist, also dem ›Entwicklungsgang der Natur‹ folgt, umgekehrt diesen Gang selbst, der sich in Betragen, Reaktionen und Lernfortschritt der Zöglinge zeigt, anschaulich, das heißt beobacht- und damit in Wissen übersetzbar. Diese evidentielle Ausrichtung verbindet also den Ausgangspunkt der Philanthropisten, eine angenommene kindliche Natur, mit dem anderen Ende ihrer Programmatik, der Unterrichtspraxis. Zwischen dieser anthropologischen Neuausrichtung, die die sich konstituierende Pädagogik mit ihrem spezifischen Interesse am Menschen im Verbund der sich ausdifferenzierenden Humanwissenschaften verortet, und dem konkreten Umgang mit dem Zögling, entfalten sich die wesentlichen Charakteristika des Philanthropismus: seine inhaltliche Zentrierung um Maß und Nützlichkeit, seine als Brauchbarkeit gefasste Zielvorstellung, seine dazu vorgenommene didaktische Umstellung auf Gewöhnung sowie die dazu in Anschlag gebrachten, über den Erzieher laufenden, evidenzorientierten Vermittlungstechniken. Für den Philanthropismus, so gilt es im Folgenden aufzuzeigen, ist in dieser Entfaltung eine Bezugsgröße von besonderer Prägekraft – eine Institution, die sich 71 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 207. Vgl. auch ebd., S. 203, 228. 72 Campe: Epoche der Evidenz, S. 28. Mit Präsenzform ist hier die Art und Weise gemeint, »wie Evidenz sich zeigt«, ohne dabei festzulegen, »man ontologische, mentale oder medientechnische Arten der Aktualität meint« (ebd., S. 28f.). 73 Salzmanns Ameisenbüchlein etwa gibt wiederholt Hinweise, wie naturgeschichtliches, aber auch handwerkliches Wissen vermittelt werden soll (vgl. S. 181-197): Von der unmittelbaren Betrachtung, eines Tieres, einer Pflanze, oder »der Erzeugnisse des menschlichen Verstandes (ebd., S. 190) und ihrer Beschreibung hin zu den Begriffen und Systematiken, die sie bezeichnen und verorten, oder dem »Selbstverfertigen, anfänglich von allerlei Spielwerk und in der Folge wirklich nützlichen Werkzeugen und Geräten« (ebd., S. 196). Für die Naturgeschichte hat Susanne Düwell dies im breiteren Kontext der Aufklärungspädagogik gezeigt, vgl. Aufklärungspädagogik und Naturgeschichte.

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ihrerseits über einen erzieherischen Anspruch legitimiert, darin gesellschaftlich nützlich sein will, dazu auf eine ihr wesenhafte Anschaulichkeit setzt, dies leistende und überwachende Funktionsstellen ausbildet, im Maß ihr Form- und Effektideal findet und darüber professionalisiert wird: das Theater, so wie es dessen umfassende Reform mit beispiellosem diskursiven Furor hervorgebracht hat. Es ist in der Konstituierung, Ausgestaltung, Konturierung, aber auch der Diskussion ihrer Programmatik einer der maßgeblichen Impulsgeber für die Reformpädagogik und schreibt sich fest in deren Institutionalisierung und Verfachlichung ein. In diesem Sinne ist, so die These, von einer Theatralisierung der Pädagogik zu sprechen. Sie entfaltet sich und ihre Prägekraft in Pädagogischen Anschlüssen an die moralische Anstalt, in einer Histrionisierung des Erziehers, einer Theatralität der Methode und einer Dramatisierung der Form. Diesen vier Bezugsfeldern sind die folgenden Kapitel gewidmet. Zunächst wird es darum gehen, aufzuzeigen, dass und inwiefern die Philanthropisten sehr dezidiert Bezug auf den Diskurs der moralischen Anstalt und die ihn prägenden, inzwischen topischen Pros und Contras nehmen. Sie sehen das Theater, unter der Voraussetzung, dass es sich als moralische Anstalt präsentiert, durchaus affirmativ und interessensverwandt. Diskussionen kommen jedoch dort auf, wo eine institutionelle Überlagerung im Raum steht, das heißt, wo die Zöglinge selbst Theater spielen sollen. Gleichwohl kann von einer ablehnenden Haltung der Philanthropisten gegenüber dem Theater eigentlich kaum gesprochen werden. Anschließend rückt die zentrale reformpädagogische Funktionsstelle, der Erzieher, in den Blick. Dabei geht es zunächst um eine Professionalisierung der Pädagogik, die um den Erzieher zentriert ist und seine Tätigkeit zwischen Beruf und Berufung changieren lässt. Damit zusammen hängt das für den Philanthropismus spezifische Verhältnis von Erzieher und Zögling, das die Voraussetzung jeglicher erzieherischen Einwirkung bildet. Diese Einwirkung selbst, so wird schließlich aufgezeigt, beruht auf einer umfangreichen Histrionisierung des Erziehers. Die Vorlage seiner auf Effekt und Wirkung ausgerichteten Präsenz, seines Agierens und Auftretens, ist der seine Künstlichkeit verbergende, ›natürlich‹ agierende Schauspieler, wie er im Diskurs des regelmäßigen Theaters konturiert wird. Auch die methodische Ausrichtung der Reformpädagogik steht im Zeichen des Theaters, wie in ihrem Fokus auf Experiment und Beobachtung deutlich wird. Der Philanthropismus setzt in seinem Anliegen, sowohl ein praktisches als auch ein theoretisches Wissen, vom je individuellen Kind und der kindlichen Natur, hervorzubringen und beide Register miteinander zu verschränken, auf Konfigurationen, Sichtbarkeiten, Blickachsen und -hierarchien, wie sie das Theater prägen und sich insbesondere in der institutionellen Rahmung des Philanthropins einrichten lassen. Sie markieren damit zugleich die Theatralität von Experimentalanordnungen und der Ausrichtung des sich empirisch verstehenden Teils der Humanwissenschaften.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Abschließend wird sich zeigen, wie das Theater auch die Texte prägt, mit denen die Reformpädagogik ihre Programmatik vorstellt, ausdifferenziert, diskutiert, aber auch anschaulich zu machen und in ihrer Wirksamkeit vorzuführen sucht. Dafür setzen die Philanthropisten wiederholt auf einen Darstellungsmodus, der sich durch Performativität und Evidentialität auszeichnet. Damit steht hier genau genommen weniger das Theater selbst, sondern sein textliches Korrelat im Fokus: das Drama, das wesenhaft dialogisch ist und mit dialogischer Unmittelbarkeitssuggestion die Vorgänge selbst in ihrem Vollzug präsentiert. Diese Dramatisierung der Form kommt jedoch nicht nur in theoretischen Texten und Abhandlungen zum Einsatz, sondern auch in der literarischen Produktion. Der Weg führt darüber wieder zurück an den Ausgangspunkt der Überlegungen, zu Campes Robinson. Vor der Folie einer Dramatisierung geraten hier jedoch die Form und der Status des Textes in den Blick, der zwischen Theaterstück, Erzieheranleitung und Roman oszilliert.

2   Pädagogische Anschlüsse an die moralische Anstalt Gegen Ende des 18. Jahrhunderts werden im Umfeld der Reformpädagogik zwei große Prägungen der Zeit ausgemacht. Campe betont in den Pädagogischen Unterhandlungen, man könnte es mit einigem Recht »das theatralische Jahrhundert nennen.«74 Johann Gottlieb Schummel hingegen gibt seinem in Bezug auf die Reformpädagogik satirischen Roman Spitzbart von 1779 den Untertitel: eine komisch‐tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert.75 Beide Zuschreibungen – theatralisch und pädagogisch – sind allerdings nicht voneinander zu separieren. Erstere lässt sich vielmehr unter letzterer subsumieren. Dies zeigt sich zum einen in dem die Theaterreform überhaupt nur legitimierenden Anliegen sittlicher Erziehung, dessen Gelingen Campe an gleicher Stelle ausdrücklich betont. Es zeigt sich zum anderen, und darum soll es im Folgenden gehen, in der Fortschreibungen und Modifizierung dieses Diskurses im Rahmen der sich professionalisierenden und institutionalisierenden Pädagogik, das heißt in den ausdrücklichen und vielfältigen Anschlüssen der Philanthropisten an die moralische Anstalt. Diskutiert wird eine Indienstnahme des Theaters, das darüber erstens in der entstehenden Ordnung des pädagogischen Diskurses einen festen Platz zugeschrieben bekommt,76 was zweitens im Umkehrschluss Index der Wirkmächtigkeit ist, die die Theaterreform ih74 [Joachim Heinrich Campe]: Eine Bitte an die theatralischen Dichter, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 4. Stück, S. 349-357, hier: S. 349. 75 Vgl. zum ›pädagogischen Jahrhundert‹ Herrmann: Die Pädagogik der Philanthropen, S. 135-141; Pethes: Zöglinge der Natur, S. 15-17. 76 Vgl. für einen ersten Überblick zu diesem von der Forschung sonst noch wenig durchgearbeiteten Feldes Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 96-101.

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rerseits als Diskursformation entfaltet hat. Drittens aber wird so auch und gerade von fachlicher Seite das Theater als privilegiertes Erziehungsinstrument bestätigt. Folgende Anschlüsse lassen sich ausmachen: Die Reformpädagogik bietet sich einerseits selbst als ein auf dem Theater in seiner Wichtigkeit vorzustellendes Thema an, diskutiert andererseits auch eine umgekehrte institutionelle Verlagerung, einmal als Verlängerung, einmal als Inkorporierung. In erstgenannter Hinsicht geht es um Theaterbesuche nach der Schule, in letztgenannter um eigenes Theaterspiel. Dabei zeigt sich, dass theaterskeptische Positionen, die vor allem dann laut werden, wenn die Zöglinge selbst auf der Bühne stehen sollen, durch eine kindgemäße Transponierung der Parameter des reformierten Theaters weitgehend ausgeräumt werden. Auf dieser Transponierung und der sie begleitenden Theaterskepsis liegt, anders als bisher in der Forschung geschehen, der Analysefokus, werden hier doch unter Vorgabe und mit dem Maßstab der Kindgemäßheit die Bedingungen ausgehandelt, unter denen sich eine denkbar weite institutionelle Einverleibung der Schaubühne in die Pädagogik vollziehen darf, in deren Zentrum eine philanthropistische Poetik des Kinderschauspiels steht. Diesen drei Bezugsebenen sind die nachfolgenden Unterkapitel gewidmet. Das Theater soll als Popularisierungsinstanz pädagogischer Grundsätze gewonnen werden (2.1) und als Unterrichtsmittel fungieren (2.2), von dem die Zöglinge nicht nur als Zuschauer profitieren, sondern auch als Darsteller (2.3).

2.1   Eine Bitte unter Kollegen In den Pädagogischen Unterhandlungen legen, dem eigenen Anspruch nach, für gewöhnlich die Dessauer Philanthropisten sowie weitere »bekannte, im Nachdenken über Erziehungssachen geübte Männer« die Ergebnisse ihrer Reflexion und Praxis und damit »alles, was sie auf dem einen oder dem anderen Wege gemeinnütziges, und der öffentlichen Bekanntmachung würdiges gefunden zu haben glauben, […] dem denkenden Publikum zur Beurtheilung [vor]«77 . Im vierten Stück des ersten Jahrgangs von 1777 wird gleichwohl eine Bitte veröffentlicht. Sie richtet sich an niemand Geringeren als »an die theatralischen Dichter«78 und es handelt sich dabei gewissermaßen um eine Bitte an Kollegen. Ganz dem Selbstverständnis des reformierten Theaters entsprechend, werden sie nämlich nicht primär als Literaten adressiert, sondern als Pädagogen – eine Zuschreibung, die sich auch auf die histrionischen Umsetzer ihres Unterrichts erstreckt und die sich gleichermaßen auf 77 [Joachim Heinrich Campe]: Plan der pädagogischen Unterhandlungen, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 1. Stück, S. 3-14, hier: S. 3. Vgl. zu diesem »für die pädagogische Wissenschaftsentwicklung maßgeblichen Journal« etwa Kersting: Die Genese der Pädagogik, S. 67-70, hier: S. 70. 78 [Campe]: Eine Bitte an die theatralischen Dichter, S. 349.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

eine unumwunden attestierte pädagogische Integrität wie Wirkmächtigkeit gründet: »[D]ie Schauspieldichter und die Schauspieler von Profession sind fast die einzigen Sittenlehrer geworden, welche auf die moralische Bildung der Nation einen merklichen Einfluß haben.«79 Und nicht nur werden – im Gegensatz zu den Kirchen80 – »die Schauspielhäuser immer voller«, der Massenunterricht zeigt seine Wirkung: Das im Theater einem stetig wachsenden Publikum Präsentierte »wird begierig verschluckt, und geht über in Saft und Blut.«81 Unumwunden bestätigt wird hier die Programmatik und ebenso unumwunden behauptet wird der Erfolg derjenigen theatralen Form, die wenige Jahre nach den Pädagogischen Unterhandlungen an anderer, bekannterer Stelle als moralische Anstalt ihre einschlägige Formel gefunden haben wird und deren funktionale Ausdifferenzierung sowie diskursive Konsolidierung in den 1770er Jahren zwar bereits weit fortgeschritten, aber noch nicht abgeschlossen ist. Gleichwohl damit nicht geizend, erschöpft sich der Artikel, der schließlich eine Bitte ist, nicht in Lobpreisungen, sondern gemahnt dezidiert die »allgemein beliebten Lehrer der Nation« an ihre aufklärerische Verantwortung und pädagogische Autorität, um darüber nicht nur das Anliegen der eigenen Profession in seiner Wichtigkeit zu bestätigen, sondern es auch als thematisches Zentrum der Arbeit der so erfolgreichen Kollegen zu etablieren: »An wen wird man sich also künftig wenden müssen, um verkannte ächte Wahrheiten wieder in Cours zu bringen, die falsche Münze der Vorurtheile hingegen abzusetzen? An euch, ihre theatralischen Dichter, ihr allgemein beliebten Lehrer der Nation! O möchtet ihr doch alle eure Bestimmung nie verkennen, und den großen Einfluß, den ihr auf die Sitten eurer Zeitgenossen und der Nachkommenschaft habt, immer dahin lenken, wo die Bedürfnisse der Menschheit am allerdringendsten sind!«82 Das ›allerdringendste Bedürfnis‹, da besteht für die Philanthropisten wenig Zweifel, ist eine Form von sozialer Optimierung: »[D]ie Menschheit [ist] im Ganzen genommen, in hohem Grade verderbt«83 , und dem Abhilfe zu schaffen, scheint allein die Tätigkeit der Pädagogen in der Lage zu sein, die nicht nur die richtige Kur parat haben, sondern auch wissen, wem sie am effektivsten zu verabreichen ist: 79 Ebd. 80 Vgl. in diesem Kontext zur Tradition und zum Zusammenspiel von Klerus, Erziehung und Literatur etwa Walter Pape: Das literarische Kinderbuch. Studien zur Entstehung und Typologie, Berlin/New York 1981, S. 59-69. 81 [Campe]: Eine Bitte an die theatralischen Dichter, S. 349. 82 Ebd., S. 349f. 83 [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 16.

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»Alles wohl erwogen, scheinets also, daß der Anfang der Menschenbesserung nicht bey Erwachsenen, sondern bey der Jugend, müsse gemacht werden.«84 Die Dringlichkeit dieser Aufgabe in ein öffentliches Bewusstsein zu rufen und zugleich von einem formlosen Gemurmel die wesentlichen Elemente einer diskursiven Ordnung sicher zu trennen, dabei die ›im Wahren‹ dieses Diskurses angesiedelten, pädagogischen Prämissen zu veranschaulichen und zu popularisieren, ist die Aufgabe, die die Philanthropisten ihren Theaterkollegen recht nachdrücklich anheim stellen: »Man schwatzt und schreibt jetzt überall – auch hier bey uns – von nichts als Kinderzucht. Ueber verschiedene axiomatische Grundsätze derselben hat man, dächt ich, nunmehr ausgeschwatzt, über viele andere aber wird man erst noch lange schwatzen und noch lange experimentiren müssen, bevor sie für axiomatisch gehalten werden können. Jene sollten nun auch unters Volk – das vornehme und gemeine Volk – gebracht werden: aber sie bleiben noch immer in todten Büchern vergraben. Euch ist es vorbehalten, sie aus diesen Goldgruben hervor zu ziehen, und mit dem Bildniß der Thalia oder der Melpomene gestempelt, unter die Leute zu bringen. Denn, wem anders, als euch, und allenfalls den Romanschreibern, ist es gegeben worden, die Folgen guter und schlechter Erziehungsgrundsätze so lebendig und überzeugend darzustellen, daß auch der unphilosophische Zuschauer sie mit Händen greifen kann?«85 Nicht zugestanden wird der Schaubühne hier ein Anteil an der experimentellen Generierung von pädagogischen Grundsätzen.86 Aus Sicht der Bitte leistet sie keinen eigenen Beitrag zum Diskurs, sie fügt keine Elemente oder Aussagen hinzu, sondern wird lediglich mit dem, was man bereits ›für axiomatisch hält‹, bestückt, um es breiten- wie tiefenwirksam anschaulich zu machen. An die Stelle von Gottscheds Weltweisen87 treten so im philanthropistischen Einsatzplan des Theaters die Pädagogen als Stiftungsautoritäten der auf der Bühne sinnlich einzukleidenden und in ihren Konsequenzen vorzuführenden Grundsätze. Wie zu Beginn der Theaterreform, wird die Schaubühne hier in einer ebenso wirkmächtigen wie rein 84 Ebd., S. 18. Gleichwohl der Artikel ebenso wie die Bitte an die theatralischen Dichter von Joachim Heinrich Campe verfasst ist, markiert hier das Theater in der Aufzählung vergeblicher Erziehungsmethoden für Erwachsene eine auf den zweiten Blick auffällige Leerstelle. Genannt und verworfen werden stattdessen »Gesetzgebung«, »Schriften« und »Predigen« (ebd., S. 17), die für sich genommen unwirksam sind, wie der Artikel betont. 85 [Campe]: Eine Bitte an die theatralischen Dichter, S. 350. 86 Im Dienste der professionellen Pädagogen fungiert das Theater zumindest hier nicht, wie es Ruppert für die Theaterreform aufgezeigt hat, als Labor der Seele und der Emotionen, es ist dem Anspruch nach eine Übersetzungswerkstatt pädagogischer Grundsätze in lebendige Anschauung. 87 Vgl. II.4.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

medialen Funktion betrachtet, die sich aber nicht mehr nur über die topischen Argumente der Verlebendigung und der Massenreichweite empfiehlt, sondern, in Folge ihrer Reformierung, als eine Sittenschule, in der die Funktionsstellen von moralisch integren Akteuren besetzt sind, die sicherstellen sollen, dass die theatrale Wirkmächtigkeit edukativ eingesetzt wird. Für die erbetene theatrale Aufbereitung pädagogischer Grundsätze und ihrer Folgen führt Campes Text ein Beispiel an, in der Hoffnung, dass »bald mehr solche Scenen, von ähnlichen Meistern bearbeitet, auf die Bühne gebracht werden«88 . Dieses Beispiel weist allerdings, abgesehen von seinem Thema, wenig Bezug zu den zuvor betonten und anvisierten medialen Qualitäten der Schaubühne auf, Kausalverhältnisse breitenwirksam fasslich darzustellen. Es handelt sich um den Anfang von Goethes 1775 in erster Fassung veröffentlichtem Singspiel Erwin und Elmire, einen Dialog zwischen Elmire und ihrer Mutter Olimpia, in dem zwar zwei Erziehungskonzepte gegeneinandergestellt, ihre Folgen aber eher behauptet, als ›lebendig und überzeugend dargestellt‹ werden. Abgesehen von dieser eingangs und tatsächlich etwas unvermittelt zwischen Mutter und Tochter geführten Diskussion, behandelt das kurze »Schauspiel mit Gesang«, wie es in der ersten Fassung untertitelt ist, weitgehend ein gattungskonventionelles Sujet: ein getrenntes Liebespaar wird von einem findigen ›Alten‹ wieder zusammengeführt. Nachdem Elmire zunächst, irgendwo zwischen Naivität, Keckheit und Stolz, das Werben Erwins verschmäht hat und der sich daraufhin enttäuscht in eine einsame Hütte in der Natur zurückzieht, bereut sie ihr Betragen und trauert um den vermeintlich Verschwundenen, wie sie vor allem ihrem ehemaligen Französischlehrer und jetzigem Vertrauten Bernardo gegenüber nicht verhehlt, der daraufhin mit einer kleinen List die beiden Liebenden wieder zusammen- und Erwin aus der einsamen Natur zurück in die Gesellschaft führt, in die er buchstäblich mit einem lachenden, weil zu seinem häuslichen und beruflichen Glück, und einem weinenden Auge, weil die zivilisationsabgewandte Natureinsamkeit verlassend, zurückkehrt.89 Unvermittelt erscheint der Eingangsdialog zwischen Mutter und Tochter also nicht nur im Verhältnis zum Rest der Handlung, sondern auch mit Blick auf die Konstellation selbst, ist sich Olimpia doch recht schnell sicher, dass die Traurigkeit 88 [Campe]: Eine Bitte an die theatralischen Dichter, S. 350. 89 Die durchaus Sturm und Drang typischen Elemente, wie Generationenkonflikt und Zivilisationskritik, fallen der umfangreichen Überarbeitung des Stückes zum Opfer, das in einer zweiten Fassung 1788 veröffentlicht und wohl erst 1796 uraufgeführt wird, vgl. diesbezüglich, aber auch zu Entstehung und Rezeption den Kommentar von Dieter Borchmeyer in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Dieter Borchmeyer et al. I. Abteilung: Sämtliche Werke Band 4: Dramen 1765-1775. Unter Mitarbeit von Peter Huber herausgegeben von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M. 1985, S. 954-970 und Band 5: Dramen 1776-1790. Unter Mitarbeit von Peter Huber herausgegeben von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M. 1988, S. 1344-1350.

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ihrer Tochter pädagogische Gründe hat. Die Bitte an die theatralischen Dichter zitiert nun ausgiebig aus diesem Dialog, in dem Olimpia sodann ihren Unmut über Versäumnisse der Erzieher (in diesem Falle der Eltern) und einer »neumodische[n] Erziehung« kund tut, die in einer Mischung aus »Verfeinerungen«90 und Strenge zu einer nachhaltigen Unzufriedenheit, zu einem gestörten Selbstverhältnis der Kinder führt, weil sie nicht Kinder sein dürfen. Stattdessen, gleichwohl sie »doch Kinder von innen [sind]«, müssen sie sich wie Erwachsene gebärden und dürfen »gleich von Anfang ihres Lebens nicht seyn […], was sie sind.«91 Was hier als ›neumodische Erziehung‹ angeklagt, in seinen Folgen aber nicht im Sinne theatraler Handlung vorgeführt, sondern als theatraler Dialog diskutiert wird, setzt vor allem auf körperliche Züchtigung als Erziehungsmittel und zeichnet sich durch eine nachhaltige Deformierung aus, die Folge einer gänzlich fehlenden Kindgemäßheit ist. Die jedoch steht im Zentrum der philanthropistischen Programmatik: »Erst müssen die Kinder wieder Kinder werden, wenn die Menschen wieder Menschen werden sollen.«92 Die Anerkennung von Kindheit und die kindgemäße Einrichtung dieser Lebensphase auf eine bestimmte biographische Form hin, macht einen maßgeblichen Teil dieser Programmatik aus und prägt, wie im Folgenden aufzuzeigen sein wird, eine zweite, wesentlich umfangreichere Diskussion, die die Pädagogen um den Einsatz des Theaters führen. Was in Goethes Text nun als ›neumodische Erziehung‹ präsentiert wird, erweist sich aus der Perspektive der Pädagogen vielmehr als deckungsgleich mit einem prekären Status quo, den die Philanthropisten mit ihrer Reform des Erziehungswesens überwinden wollen. Sie zielen auf die notwendige, aber noch ausstehende Realisierung von pädagogischen Verhältnissen, wie sie Olimpias Aufwachsen prägten: »[U]nd übrigens hatten wir alle Freiheit und Freuden der ersten Jahre. […] Ich dächte, der größte Vorzug in der Welt wäre, glücklich und zufrieden zu sein. So war unsere Jugend.«93 Was Goethes Text als verloren gegangene Vergangenheit inszeniert, verlegen die Philanthropisten in eine noch ausstehende, aber erreichbare Zukunft. Um den Weg dorthin zu beschleunigen, fordern sie ein Einschreiben von Pädagogik ins Themenspektrum des reformierten Theaters, was über den Rückgriff auf die betonte sittliche Autorität der Schaubühne nicht nur die Bedeutsamkeit professioneller Erziehung selbst buchstäblich ausstellen, sondern auch ihre inhaltlichen Ansätze popularisieren, also ihre Grundsätze veranschaulichen soll. 90 Johann Wolfgang Goethe: Erwin und Elmire. Ein Schauspiel mit Gesang, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Dieter Borchmeyer et al. I. Abteilung: Sämtliche Werke Band 4: Dramen 1765-1775. Unter Mitarbeit von Peter Huber herausgegeben von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M. 1985, S. 503-529, hier: S. 504f. 91 Ebd., S. 506. 92 [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 18. 93 Goethe: Erwin und Elmire, S. 505.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Diese Forderung findet im Theaterdiskurs tatsächlich einen gewissen Widerhall, allerdings aus einer Motivation heraus, die den philanthropistischen Pädagogen wenig zusagen kann. Schiller wird der Schaubühne wenige Jahre später auch die Fähigkeit eines pädagogischen Korrektivs zusprechen: »Nur die Schaubühne könnte die unglücklichen Schlachtopfer vernachlässigter Erziehung in rührenden erschütternden Gemälden an ihm vorüber führen; hier könnten unsre Väter eigensinnigen Maximen entsagen, unsre Mütter vernünftiger lieben lernen.«94 Allerdings macht er im gleichen Atemzug deutlich, dass es sich dabei auch um ein Korrektiv der Pädagogen handeln muss, das den fehlerhaften Grundsätzen und der Methodik einer ganz bestimmten Gruppe entgegenarbeiten soll: »Falsche Begriffe führen das beste Herz des Erziehers irre; desto schlimmer, wenn sie sich noch mit Methode brüsten, und den zarten Schößling in Philanthropinen und Gewächshäusern systematisch zu Grund richten.«95

2.2   Der Zögling als Zuschauer Wesentlich präsenter jedoch als die Forderung nach der Thematisierung einer zeitgenössischen Problematik im Theater – die Bitte an die theatralischen Dichter stellt hier eher eine Ausnahme dar –, ist in den Abhandlungen und Überlegungen der Philanthropisten umgekehrt die Diskussion um eine Inkorporierung des Theaters in die eigene, pädagogische Praxis und die damit verbundene Frage, ob und wenn ja, inwiefern dem Theater im Schulunterricht sowie im Spektrum der außerschulischen, aber gleichermaßen nützlich zuzubringenden ›freien Zeit‹ der Zöglinge eine Rolle zukommen soll. An das in der Bitte an die theatralischen Dichter aufgerufene und bestärkte Verständnis der theatralen Sittenschule schließt ausdrücklich Johann Stuve an.96 Seine Überlegungen zu »einer weisen, würdigen Anwendung«97 verschiedener Künste im und zum Unterricht – etwa dem Einsatz von Kupferstichen und Gemälden, wie er sich bei Salzmann und Basedow weiter ausgearbeitet findet98 – räumen 94 95 96 97

Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, S. 197. Ebd., S. 197f. Vgl. zu Stuve einführend Hanno Schmitt: Johann Stuve, Baltmannsweiler 2002. Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 428. Vgl. zu Stuves Abhandlung und der zeitgenössischen Rezeption Kersting: Die Genese der Pädagogik, S. 261-274. 98 Salzmann und Basedow legen ihren Elementarwerken methodisch ein mediales Zusammenspiel von exemplarischen Erzählungen und Kupferstichen zugrunde, das über die bildlich gesteigerte Anschaulichkeit auf Stimulation samt spezifischen, angeleiteten Gebrauch der kindlichen Einbildungskraft und, damit zusammenhängend, auf die im Kern angestrebte Dispositionsmodellierung des Zöglings zielt – in Salzmanns Worten also darauf, »in Kindern eine gute Gesinnung [zu] erzeugen« (Moralisches Elementarbuch, nebst einer Anleitung zum nüzlichen Gebrauch desselben. Nachdruck der Auflage von 1785. Mit 67 Illustrationen von Daniel Chodowiecki. Herausgegeben von Hubert Göbels, Dortmund 1980, VIII). Vgl. zum genannten Zu-

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der »Schauspielkunst« einen besonderen Vorzug ein: »Diese vereinigt Alles in sich, wodurch Anschauen und Leben der Erkenntniß und die wahrste innigste Empfindung bewirkt werden kann.«99 Stuves Argumentation zielt auf einen regen Kontakt mit der Schaubühne, auf eine Verlängerung des schulischen Unterrichts durch das reformierte Theater. Dessen Anschlussfähigkeit an das pädagogische Projekt der Philanthropisten versucht er nicht nur mit einem bereits bekannten Bezug auf die theatrale Evidenz und Sinnlichkeitsadressierung, sondern auch hinsichtlich der edukativen Wirkungen zu begründen. Bis in den Wortlauf hinein zitiert er den Katalog derjenigen Vorzüge, die in den vergangenen Jahrzehnten die Schaubühne diskursiv nobilitiert haben. Der hauptberufliche Pädagoge Stuve mobilisiert dabei die zentralen Topoi der Sittenschule, um sie für Schüler im eigentlichen Sinne zu öffnen: »Auf keine Art kann insonderheit Menschenkenntniß, und alles das, was zur gesellschaftlichen Ausbildung und zur Klugheit des Lebens gehört, besser gelehret werden, als durchs Schauspiel. Welch eine lehrreiche Schule müßte es daher für junge Leute seyn können. [Absatz] Wie kann man sie leichter zur Kenntniß der mannigfachen menschlichen Charactere, Leidenschaften, Thorheiten, Vorurtheile, Schicksale, Leiden und Freuden führen? Wie kann man sie das Conventionelle des gesellschaftlichen Umgangs und die mannigfachen Verhältnisse der Menschen untereinander besser lehren? Wie kann man ihnen Laster und Thorheit anschaulicher in ihrer verächtlichen Gestalt und in ihren traurigen Folgen; Tugend und Weisheit aber in ihrer Schönheit und Würde und in ihrem wohlthätigen Erfolsammenspiel und dem jeweils angedachten Umgang mit Narration und Bild Salzmanns Vorrede: Ueber die Absicht und den nüzlichen Gebrauch des moralischen Elementarbuchs, ebd., S I-XXVI; vgl. dazu Schäfer: Das Theater der Erziehung, S. 154-164; vgl. bei Basedow etwa die »Vorerinnerung an die Kinderfreunde« aus dem zweiten Buch des Elementarwerks (Das Basedowische Elementarwerk. Ein Vorrath der besten Erkenntnisse zum Lernen, Lehren, Wiederholen und Nachdenken. Erster Band. Zweite sehr verbesserte Auflage, Leipzig 1785, S. 99f.). Für einen knappen Überblick Hanno Schmitt: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung, Bad Heilbrunn 2007, S. 245-259; vgl. mit Fokus auf die Kupferstiche Jasmin Schäfer: Das Bild als Erzieher. Daniel Nikolaus Chodowieckis Kinder- und Jugendbuchillustrationen in Johann Bernhard Basedows Elementarwerk und Christian Gotthilf Salzmanns Moralischem Elementarbuch, Frankfurt a.M. [u.a.] 2013. Den philanthropistischen Umgang mit der kindlichen Einbildungskraft hat ausführlich Rüdiger Steinlein analysiert, vgl. etwa Die domestizierte Phantasie. Studien zur Kinderliteratur, Kinderlektüre und Literaturpädagogik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1987, S. 62-208. 99 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 429. Wie bereits Wolff am Beginn der Theaterreform, begründet auch Stuve die erzieherische Wirkmächtigkeit des Theaters mit einer anschauenden Erkenntnis, die es aufgrund seiner evidentiellen Qualität zu produzieren im Stande ist, vgl. II.2.1. Vgl. zum Anschauungskonzept im Anschluss an Wolff und dessen Modifikationen bei Stuve Kersting: Die Genese der Pädagogik, S. 250-261.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

ge darstellen, wie kann man mächtiger das jugendliche Herz zu großen Gefühlen erheben und damit begeistern?«100 Ausdrücklich wird hier kein Konkurrenzverhältnis behauptet, sondern ein Zusammenwirken von professioneller, theateraffiner Pädagogik und professionellem, pädagogisierten Theater anvisiert. Beide Institutionen, die reformierte Schaubühne und die reformierte Schule, antworten auf das ›allerdringendste Bedürfnis‹ der Zeit, beide zielen auf eine gesamtgesellschaftliche Optimierung. Wer dazu grundsätzlich besser im Stande ist, steht für Stuve gleichwohl außer Frage: »Es ist in der That durchaus kein vortrefflicheres und wirksameres Mittel zu erdenken (wenn wir die zur Unterweisung und Bildung der Jugend bestimmten, zweckmäßig eingerichteten öffentlichen Anstalten ausnehmen), eine Nation zu cultiviren und zu veredeln als das Schauspiel.«101 Nimmt man die Schulen und Erziehungsinstitute nun nicht aus, und behält die philanthropistische Prämisse im Hinterkopf, dass der eigentliche Schlüssel zu dieser ›Veredelung‹ in der Erziehung der Jugend liegt, lässt sich das hier umschriebene Verhältnis genauer fassen: Die Schaubühne kann und soll die Arbeit der Pädagogen unterstützen. Sie ist eine institutionell verlagerte Fortsetzung des Unterrichts und damit auch des zukünftigen sittlichen Bürgers Abendschule.102 Ein Theater, wie es dessen Reform entworfen hat, wird so die passgenaue Ergänzung zum Projekt professioneller Erziehung. Wo letztere am für das Gesamtanliegen wesentlicheren, jugendlichen Adressaten ansetzt und damit die ›wichtigere‹ pädagogische Aufgabe verfolgt, zeichnet sich ersteres durch eine gesellschaftliche Breitenwirkung aus, aber auch durch eine besondere Unterrichtseffizienz, wie Stuve im Anschluss an die Topoi der moralischen Anstalt betont: »O! gewiß aller methodische Unterricht, er sey historisch oder dogmatisch, oder von welcher Art und von welchem Werth er immer wolle, kommt dem Einfluß, den ein vortrefliches Schauspiel auf die menschlichen Gemüther überhaupt, insonderheit aber auf die jugendlichen hat, auf keine Weise bei.«103 Dennoch bleibt in den Augen des Pädagogen die (reformierte) Schule die überlegene Institution. Sie ist nicht nur minutiös auf ihre Adressaten zugeschnitten, sondern reichert, wie noch aufzuzeigen sein wird, diesen Zuschnitt gezielt mit theatralen Wirkungstechniken an, um nicht nur den Unterricht selbst zu optimieren, sondern seine Ergebnisse – und darauf zielt die philanthropistische Pädagogik im Kern – dauerhaft in den Zöglingen zu implementieren. 100 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 429f. 101 Ebd., S. 429. 102 Vgl. Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. 103 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 430.

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Stuve übernimmt in seiner Argumentation bei aller Affirmation jedoch auch einen gleichermaßen topischen Vorbehalt gegen die Schaubühne. Das überschwängliche Lob wird begleitet von der ebenfalls bekannten Klage über die hinter ihren Möglichkeiten und ihrer Bestimmung zurückbleibende moralische Anstalt: »Aber man merke bei dem allen ja wohl, daß ich von einem vortreflichen Schauspiel rede; von dem Schauspiele, wie es seyn könnte, seyn sollte und leider! fast durchaus nicht ist.«104 Als flankierende pädagogische Institution kommt das Theater ausdrücklich nur in seiner regelmäßigen, reformierten Form in Frage. Und die scheint sich, wie auch Stuve nachdrücklich betont, noch immer nicht hinreichend durchgesetzt zu haben: »Denn ohne den Werth einzelner sehr weniger vorzüglicher Schauspiele zu verkennen und dem Verdienste einzelner guter Schauspieler und Schauspielerinnen zu nahe zu treten, kann man doch wol mit großer Sicherheit behaupten, daß diese edle Kunst unter uns unermeßlich weit von ihrer Vollkommenheit abstehet.«105 Im (noch) nicht pädagogisierten Theater verkehren sich die genannten Vorzüge bekanntlich in ihr gleichermaßen schädliches Gegenteil und die unter anderen Vorzeichen ›cultivierende‹ Kraft der Schaubühne bricht sich als eine verderbende ihre Bahn: »Schlechte Schauspiele aber, sie seyn dem Inhalte oder der Darstellung nach, schlecht, haben wenig oder nichts von dem vortreflichen Einflusse, welchen ich den guten beigemessen habe – sie dienen vielmehr nur dazu, Zeit, Sitten und Geschmack zu verderben, die Empfindung zu verstimmen und das Räsonnement zu verleiten.«106 Spätestens hier zeigt sich, wie Stuves Überlegungen einem größeren Argumentationszusammenhang verhaftet bleiben, vom dem sich die eigentlich anvisierten erzieherischen Qualitäten der Schaubühne nicht isolieren lassen. Als Direktimport aus dem theatralen in den genuin pädagogischen Diskurs wiederholt sich in den Äußerungen der Philanthropisten das Wechselspiel von Affirmation und Misstrauen, das die Reformbemühungen der Theaterfreunde in all ihren Verzweigungen begleitet und geprägt hat. Das beginnt bei der Gegenüberstellung von Nutzen und Schaden, den die Schaubühne je nach Gebrauch nach sich ziehen kann, der jeweiligen Größenordnung von sittlichem ›Gewinn‹ oder ›Verlust‹ und endet bei der Frage nach der dafür zuständigen oder zu schaffenden Oberaufsicht. Stuve argumentiert hier vom edukativen Potential des Theaters her, von der sozialoptimierenden Chance, die die Schaubühne bereithält: »Die Verbesserung der öffentlichen 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Schauspiele sollte daher billig ein wichtiger Gegenstand der Sorge des Staats seyn – wenn anders die Beförderung der Cultur, des Geschmacks und der Sittlichkeit seiner Bürger ein seiner Fürsorge würdiger Gegenstand ist.«107 Sein Herausgeber, Joachim Heinrich Campe, auf dessen eigenes Verhältnis zum Theater noch zurückzukommen sein wird, geht hingegen von einer dazu komplementären Überwachungsnotwendigkeit aus, wenn er in einer den Gedanken dann beschließenden Fußnote zu Stuves Forderung einhakt: »Aber dann müsste auch die Aufsicht über die Schauspiele und die ganze Anordnung einem der weisesten und besten Männer der Nation übertragen werden.«108 Die beklagenswerte Feststellung, dass sich die Schaubühne (noch) nicht auf der sittlichen Höhe befindet, zu der sie fähig ist, findet sich auch bei Johann Bernhard Basedow. Hier allerdings mit der Konsequenz, dann auf andere, noch unmittelbarer wirkende Anschauungsformen zurückzugreifen. Im Methodenbuch von 1770 benennt er recht konkret ein theatrales Gefahrenpotential und setzt, wenigstens so lange diese Gefahr nicht gebannt ist, auf Schauspiele einer anderen Art als wirksames Unterrichtsmittel. In seinen Ausführungen über die Herrichtung von »Schamhaftigkeit« taucht neben einer wesentlich stärker im Fokus stehenden, erzählenden Literatur ein wenig unvermittelt das Theater als potentiell gegenwirksamer Ort zu diesem »stärkste[n] Außenwerk der Keuschheit«109 auf. Schuld sind hier vor allem die Stücke, die zur Aufführung gebracht werden, Schuld sind die dramatischen Dichter, die mit amourösen Verwicklungen jugendliche Zuschauer in Gefahr bringen und das mühsam zu errichtende Gefüge zersetzen, das über körper- wie sprachhygienische Vorschriften, Sexualitätsüberwachung und Thematisierungspflichten die kindliche Disposition modellieren soll:110 107 Ebd., S. 431. 108 Ebd. Beide Seiten der Forderung, staatliche Unterstützung und die Institutionalisierung einer Aufsicht, durchziehen, auch hier bis in die Formulierungen, den Diskurs der Theaterreform, vgl. etwa Mylius Abhandlung zur Wahrscheinlichkeit der Vorstellung, Schlegels Schreiben von Errichtung eines Theaters in Kopenhagen oder Sulzers Schauspiel-Artikel in der Allgemeinen Theorie. 109 Basedow: Methodenbuch, S. 99. 110 Vgl. ebd., S. 99-101. Vgl. zu einer Erziehung zur Schamhaftigkeit außerdem Ulrich Nassen: Das Kind als wohltemperierter Bürger. Zur Vermittlung bürgerlicher Affekt- und Verhaltensstandards in der Kinder-, Jugend- und Ratgeberliteratur des späten 18. Jahrhunderts, in: Dagmar Grenz (Hg.): Aufklärung und Kinderbuch, Pinneberg 1984, S. 213-238, insb.: S. 216-219. Wesentlich prominenter im philanthropistischen Diskurs ist in diesem Zusammenhang die an gleicher Stelle auch von Nassen angesprochene Masturbationsproblematik. Sowohl bezüglich außerehelicher als auch autoerotischer Sexualität ist ihre Verknüpfung mit einer körper- wie moralzersetzenden Ausschweifung ebenso charakteristisch für die philanthropistische Sexualerziehung wie ein diskursiver Furor der Pädagogen, der seinen Gegenstand als solchen überhaupt erst hervorbringt. Der Philanthropismus fügt sich hier nahtlos ein in das Dispositiv der Se-

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»O könnten wir das Theater von den Vorstellungen säubern, um derentwillen auch die meisten Romane der Jugend gefährlich sind! Alles dieses sage ich nur, um Eltern und Aufseher zu bewegen, daß sie mit der strengsten Wahl diejenigen Romane und Schauspiele, zu welche ihre anwachsende Jugend zugelassen werden darf, aussuchen und durch andre Vorstellungen unschädlich machen.«111 Ebenso reinlich wie sittlich rein müssen die Körperverhältnisse der Zöglinge und gleichermaßen die Vorstellungen der Schaubühne sowie das dort gezeigte Agieren der Körper sein. Unterliegt das Theater nun keiner staatlichen Obhut, und fehlt dementsprechend eine institutionalisierte, zentrale Aufsichtsinstanz, wie etwa Campe sie in der philanthropistischen Übernahme der bekannten Diskussion fordert, ist die – ob eines noch zu optimierenden Zustandes der Bühne notwendige – Zensur eine individuell von den einzelnen Erziehungsberechtigten, den ›Eltern und Aufsehern‹, zu leistende Aufgabe. Sie haben seligierend die Theaterbesuche ihrer Zöglinge rein zu halten, indem sie ihnen all das dort leider auch gezeigte Verführerische und Anzügliche vorenthalten. Aber das ist noch nicht alles. Mit dem partiellen Theaterverbot korrespondiert der Besuch anderer ›Vorstellungen‹, die gegen die Unterschlagungen unverantwortlicher Romane und Schauspiele den Zöglingen allzu deutlich vor Augen stellen sollen, welche Wirkungen »[d]ie Laster der Unreinigkeit« tatsächlich mit sich bringen: »Ungefähr im fünfzehnten Jahre sollte ein Knabe, nach einer gewissen Vorbereitung, mit seinen Eltern oder Aufsehern etliche Mal ein Lazarett besuchen, wo die Huren und Ehebrecher durch häßliche und höchst schmerzhafte Krankheiten für ihre ehemals gering geachteten Sünden büßen.«112 An die Stelle eines Theaters, das leichtfertig Liebe und Begehren, Tändeleien und Verführungen darstellt, statt »die Unzucht mit der Dieberei in gleiche Klasse zu setzen«113 , rückt Basedow reales Leid als edukatives Schauspiel, das als notwendige Folge in einem Kausalzusammenhang fest mit außerehelicher Sexualität verknüpft und über die Drastik der Anschauung in dieser Verknüpfung im Zögling auf Dauer gestellt werden soll. xualität, wie es Michel Foucault analysiert hat, vgl. Der Wille zum Wissen, S. 77-129 und insb. S. 103-114; vgl. im Anschluss an Foucault Glantschnig: Liebe als Dressur, S. 58-68 und Grabau: Leben machen, S. 109-116; ferner Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, 2., durchgesehene Auflage, München 2003, S. 76-87; sowie Harald Neumeyer: »Ich bin einer von denjenigen Unglückseligen […]«. Rückkopplungen und Autoreferenzen. Zur Onaniedebatte im 18. Jahrhundert, in: Maximilian Bergengruen, Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann (Hg.): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001, S. 65-95. 111 Basedow: Methodenbuch, S. 101. 112 Ebd., S. 100f. 113 Ebd., S. 100.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Wenn Basedow nun anschließend eine (Rück-)Übersetzung dieses Konnexes in pädagogisch einzusetzende Literatur fordert, überrascht es nur auf den ersten Blick, dass er ausschließlich an erzählende Literatur, nicht jedoch an eine Umsetzung auf der Bühne denkt. Erstere ist wesentlich stärker durchzogen von in Basedows Augen verführerisch wirkenden Verklärungen und Verharmlosungen. Sie verbergen sich selbst »in tugendhaften und guten Büchern«114 . Dringlicher noch als eine Reinigung der Schaubühne scheint daher eine der Literatur geboten, um deren erzieherisches Potential abrufen zu können: »Beide Geschlechter aber sollten in diesem Alter eine Sammlung solcher Geschichten von Verführungen lesen, in welchen die Aufmerksamkeit vor den Sünden selbst geschwind vorübergeführt und nur bei den entsetzlichen Folgen derselben, zuweilen auch bei dem Schicksale der abscheulichen Kindermörderinnen aufgehalten würde.«115 Die für eine solche, pädagogisch wertvolle Literatur verantwortlichen Instanzen sind die gleichen, die auch in der Diskussion um die Schaubühne angerufen und auf die erzieherische Verantwortung ihrer Tätigkeit respektive Stellung erinnert werden: »O wie segensvolle Geschäfte eines moralischen Schriftstellers! O wie wichtige Überlegungen für die Landesväter!«116 Basedows Fokus auf die erzählende Literatur lässt sich auch über eine im Folgenden noch bedeutsame Mediendifferenz erklären. Denn das gereinigte Theater, das Basedow keineswegs ablehnt, ist einer maßvollen Darstellung verpflichtet. ›Häßliche und höchst schmerzhafte Krankheiten‹, körperliche Extremzustände insgesamt gehören schlicht nicht so auf die Bühne »als sie in der That sind«117 . Eine wirklich mimetische Darstellung würde hier aufgrund der konstitutiven Unmittelbarkeit des Schauspiels zwar ein »Entsetzen«118 auslösen, wie es Basedow mit seinen Lazarettbesuchen anvisiert, wie es aber durchaus nicht zum Arsenal der maßvollen und mäßigenden Effekte der moralischen Anstalt passt. Die ›ent-

114 Ebd. 115 Ebd., S. 101. Bekanntlich wird gerade ein solches, zuletzt genanntes Schicksal, dann jedoch in einem wesentlich komplizierteren Kontext familiärer Verfehlungen und sozialer Missstände 1776 dramatisch von Heinrich Leopold Wagner unter dem Titel Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel ausformuliert. Vgl. zur »komplexe[n] Diskursmatrix« dieses für die Aufklärung »paradigmatischen Feldes« etwa Luise Winterhager-Schmid: Die Kindsmörderin im Diskurs der Aufklärung, in: Dorle Klika, Hubertus Kunert, Volker Schubert (Hg.): Bildung als engagierte Aufklärung. Ernst Cloer zum 60. Geburtstag, Hildesheim 2000, S. 25-54, hier: S. 26. 116 Basedow: Methodenbuch, S. 101. 117 Schlegel: Abhandlung von der Unähnlichkeit in der Nachahmung, S. 174. 118 Ebd.

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setzlichen Folgen‹ außerehelicher Sexualität sollen stattdessen erzählt respektive gelesen werden.119

2.3   Der Zögling auf der Bühne Den zweifellos gewichtigsten Teil im philanthropistischen Diskurs über das Theater nimmt allerdings die Frage ein, ob und unter welchen Bedingungen das Theaterspielen selbst integraler Bestandteil der reformierten Pädagogik sein kann, ob ihre Zöglinge also auch auf die Bühne gehören. Anders als bei einem Einschreiben der eigenen Tätigkeit ins Themenspektrum der Schauspiele oder dem möglichen Schaubühnenbesuch der Zöglinge, geht es dabei um einen Zugriff, der das Theater in die pädagogischen Praxis hineinzieht und in dieser institutionellen Überblendung Akteure, Adressaten und Funktionsstellen verschiebt oder neu besetzt. Die Überlegungen stehen hier zum einen im Bezug zur älteren Tradition des Schultheaters, zum anderen zu einer literarischen Form, die sich, im Gefolge philanthropistischer Pädagogik, im letzten Drittel des Jahrhunderts großer Popularität erfreut: der Kinderschauspiele, als einem prominenten Teil der entstehenden Kinder- und Jugendliteratur.120 Im Unterschied zum Interessensschwerpunkt der bisherigen Forschung, soll im Folgenden allerdings nicht diese eigens für Kinder geschriebenen Dramatik in den Fokus gerückt und untersucht werden,121 sondern eine philanthropistische Poetik des Kinderschauspiels. Dabei handelt es sich, so die These, um eine Transponierung der moralischen Anstalt unter dem Maßstab der Kindgemäßheit, die gleichermaßen einen zur Aufführung zu bringenden, dramatischen Text umfasst, wie die Praxis dieser Aufführung sowie eine zugehörige Rezeptionsform und dabei alle drei Ebenen miteinander korreliert. 119 Inwiefern hier jedoch der Erzieher buchstäblich eine Rolle spielt und die Vermittlung von edukativen ›Geschichten‹ an theatrale Techniken angebunden ist, vgl. III.5. 120 Vgl. bezüglich des Kinderschauspiels etwa Otto Brunken/Carola Cardi: Vom »Speculum Vitae« zur »Moralischen Anstalt für Kinder«. Zur Beziehung zwischen traditionellem Schuldrama und aufklärerischem Kinderschauspiel, in: Dagmar Grenz (Hg.): Aufklärung und Kinderbuch. Studien zur Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts, Pinneberg 1984, S. 119-152; Ute Dettmar: Von der Rolle. Zur Theorie und Praxis des Kinderschauspiels im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Kinder- und Jugendliteraturforschung 2000/2001, S. 13-23; vgl. hier für eine Kontextübersicht Gina Weinkauff/Gabriele von Glasenapp: Kinder- und Jugendliteratur, 2. aktualisierte Auflage, Paderborn 2014, S. 18-39; zur philanthropistischen Kinderliteratur Funke: Bücher statt Prügel. 121 Vgl. zum Kinderschauspiel etwa Carola Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit. Eine Untersuchung der deutschsprachigen Kinderschauspiele von 1769-1800, Frankfurt a.M./Bern/New York 1983; Gunda Mairbäurl: Die Familie als Werkstatt der Erziehung. Rollenbilder des Kindertheaters und soziale Realität im späten 18. Jahrhundert, München 1983; Ute Dettmar: Das Drama der Familienkindheit. Der Anteil des Kinderschauspiels am Familiendrama des späten 18. und 19. Jahrhunderts, München 2002.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

2.3.1   Theaterspiel in Unterricht und Freizeit Das kindliche Theaterspiel interessiert die Philanthropisten zum einen als integraler Unterrichtsbestandteil, zum anderen als dessen kaschierte Verlängerung nach Schulschluss122 und in beiden Kontexten als Materiallieferant einer das gesamte pädagogische Arrangement prägenden Beobachtungsökonomie. Ernst Christian Trapp spricht ihm in seinem Versuch über Pädagogik eine wichtige Funktion im Hinblick auf den »letzte[n] Zweck des Unterrichts« zu, der darin besteht, »daß die Jugend sich und ihre Kenntnisse mittheilen lerne.«123 Zu dieser »Mittheilung« gehört neben ihrer schriftlichen Wiedergabe »in Aufsätzen von aller Art« die Überführung der Unterrichtsgehalte in eine performative Sichtbarkeit, »in Vorlesungen und Erzählungen eigner oder fremder Sachen, und im Aufführen dramatischer Stücke«124 . Bei diesen unterrichtsinternen Aufführungen geht es nicht allein um die vorzustellenden Kenntnisse, auch und gerade der Aspekt ihrer Vorstellung und damit verbunden der vorstellende Zögling selbst werden ins Zentrum der edukativen Bemühungen gerückt: »Der mündliche Vortrag beruht hauptsächlich auf guter Deklamation, und auf gute Deklamation sollte, wie schon erinnert worden, gleich beim ersten Lesenlernen Rücksicht genommen werden.«125 Wie bedeutsam diese Kombination der doppelten Präsentation des Zöglings selbst und seiner Kenntnisse ist, unterstreicht Trapps Bestimmung als ›letzter Unterrichtszweck‹. Bei Basedow findet sich dies noch weiter ausgeführt. Das schulische Theaterspiel wird bei ihm zum Trainingsgelände für eine Souveränität, die die gesamte Körperlichkeit des Zöglings umfasst und für den sozialen Verkehr »im bürgerlichen Leben« herrichtet: Hier wird »die Jugend geübt […], nach der Beschaffenheit der Materie und der Umstände sowohl die Stimme zu stärken, zu schwächen und zu verändern, als auch mit den Worten die gehörigen Stellungen und Mienen zu verbinden.«126 Eine solche theatervermittelte »Verbindung zur Rhetorik in der Wohlredenheit als Erziehungsziel«127 knüpft die Überlegungen der Philanthropisten an die Tradition des älteren Schultheaters mit seiner Eingebundenheit in den regen eloquentiaBetrieb insbesondere des 17. Jahrhunderts.128 Sie findet sich ebenfalls in den Ausführungen zum außerschulischen Theaterspiel. Ein anonymer Beitrag im Wochen122 123 124 125

Vgl. Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 47 und 49. Trapp: Versuch einer Pädagogik, S. 329. Ebd. Ebd. Vgl. zu den Anschlüssen und Differenzen zwischen Schuldrama und Kinderschauspiel Brunken/Cardi: Vom »Speculum Vitae« zur »Moralischen Anstalt für Kinder«. 126 Basedow: Methodenbuch, S. 138. 127 Ingrid Lohmann: Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit. Zur pädagogischen Transformation der Rhetorik zwischen 1750 und 1850, Münster/New York 1993, S. 39. Vgl. konkret zu Basedow in diesem Zusammenhang ebd., S. 32-34, zu Trapp S. 39-41. 128 Siehe II.4.2.

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blat für rechtschaffene Eltern etwa rückt hier noch expliziter die Herrichtung und Formung öffentlichen Auftretens in den Aufgabenbereich auch der reformierten Pädagogik. Sozial reüssiert, wer vor den Blicken Anderer besteht, wer in Bewegung und Ausdruck, in actio und pronuntiatio ein rechtes Maß beherrscht: »Eine edle Freymüthigkeit, ein schicklicher Anstand in den Minen und in der Action des Körpers, und eine richtige Deklamation, die zu einem jeden Worte des Vortrags den rechten Ton findet, sind für uns sehr kräftige Empfehlungen, nach welchen wir nicht selten gleich bey dem ersten Anblicke von der Welt beurtheilet werden. Sie sind ein Werk der Erziehung.«129 Sie, die Erziehung, muss hier allerdings auf »andere Mittel«130 zurückgreifen, um diese Formung auf Dauer zu stellen. Denn mit der äußeren muss auch eine Modellierung der Disposition korrespondieren und die körper‐sprachliche Performanz im Sinne des ethos auf einen entsprechend maßvollen und beständigen Charakter verweisen. Das ›Mittel‹ dazu ist an sich nicht unbekannt, wird aber im Philanthropismus in einem neuen Kontext verortet. Dem Anonymus im Wochenblat zufolge reicht »der gewöhnliche Umgang mit den Menschen von einer guten Erziehung« lediglich aus, »diese Vorzüge in einem gewissen Maaße hervor[zu]bringen«, Präsenz und Ausdruck des Körpers lassen sich über den Kontakt allein jedoch nicht »zu einer gewissen Vollkommenheit […] erheben«131 . Für die auf erfolgreiche soziale Interaktion hin konzipierte rhetorisch‐pädagogische Formung eignen sich hingegen »vorzüglich die kleinen Familien- oder Haustheater […], auf welchen man die Kinder zu einer freymüthigen Unerschrockenheit, zu einer richtigen Deklamation und zu einer schicklichen Bewegung der Glieder angewöhnen kann.«132 Der eigentliche Ort des kindlichen Theaterspiels, gleichwohl sich etwa Basedow im Methodenbuch auch einige geeignete Kinderschauspiele für den schulischen Unterricht wünscht, liegt also außerhalb der Schulstunden, idealerweise in einem häuslich‐familiären Kontext.133 Hier erweist es sich als eine der maßgeblichen Entgrenzungsformen, die die pädagogische Logik der Philanthropisten aus den Erziehungsanstalten in das nachhaltig zu formende Leben einfließen lässt und die dazu129 [Anonym]: Von Kindertheatern, in: Wochenblat für rechtschaffene Eltern. Vierzigstes Stück (1773), S. 605-613, hier: S. 605. 130 Ebd., S. 606. 131 Ebd. Kontaktbasiert wird dann von den Philanthropisten vor allem die sittliche Erziehung gedacht, für die ein als Vorbild agierender Erzieher verantwortlich ist. Dessen Vorbildhaftigkeit ist wiederum Effekt einer theatralen Formung seines körper‐sprachlichen Auftretens. Vgl. diesbezüglich und in diesem Zusammenhang zum Verhältnis von Rhetorik und Theater III.3.2. 132 [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 606. 133 Vgl. Basedow: Methodenbuch, S. 138; vgl. zum privaten Kontext der Kindertheater etwa Brunken/Cardi: Vom »Speculum Vitae« zur »Moralischen Anstalt für Kinder«, S. 136; Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 23f.

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gehörigen Techniken der Dispositionsmodellierung und Beobachtung auch in der freien Zeit der Zöglinge installiert. Dem latent spielerisch gestalteten Unterricht werden heimlich unterrichtende Spiele zur Seite gestellt, um »die Mußestunden der Kinder« nicht beschäftigungs- und damit im Zweifelsfall nutzlos verstreichen zu lassen, sondern sie auf angenehme Weise »mit moralischer Belehrung und Unterhaltung nutzbringend aus[zu]füllen.«134 Das Spiel ermöglicht aber nicht nur, sofern es »einen nützlichen Zweck hat«135 , ein letztendliches Ununterscheidbarwerden von Schul- und Freizeit, es erweist sich auch und vor allem als privilegierter Ort pädagogischer Observation: Hier werden nämlich die Erzieher »Gelegenheit finden, in das Innerste eurer Kleinen zu sehen, da sie bei dem Spiele weit offner und freier handeln als in anderen Lagen und sich mit allen ihren Fehlern, Schwachheiten, Einfällen, Anlagen, Neigungen zeigen, wie sie wirklich sind.«136 Diese Annahme, dass in der »Selbstvergessenheit«137 des Spiels Unverstelltheit und Authentizität beobachtbar werden, führt jedoch in Zusammenhang mit dem Theater zu einer bemerkenswerten Umdeutung. Schließlich speist sich die Tradition der Theaterfeindschaft, wie sie sich im 18. Jahrhundert besonders wirkmächtig etwa im Pietismus artikuliert, neben der unterstellten Gefahr für Sittlichkeit und Ordnung, nicht zuletzt aus dem Vorwurf Lüge, Verstellung und Unaufrichtigkeit, also eine Diskrepanz von Innen und Außen, seien konstitutive Bestandteile der Schaubühne.138 Demgegenüber ist es nun ausgerechnet das kindliche Theaterspiel, das 134 Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 22; vgl. auch Glantschnig: Liebe als Dressur, S. 105-109. Das Theaterspiel war zwar nur eine Form dieser nutzvollen Freizeitgestaltung, gleichwohl aber eine besonders beliebte, vgl. u.a. Brunken/Cardi: Vom »Speculum Vitae« zur »Moralischen Anstalt für Kinder«, S. 142; Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 11-13 und 33. 135 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 218. Diese Nützlichkeit des Spiels besteht nun, wie Salzmann fortfährt, darin »entweder dem Leibe eine freie, angenehme Bewegung und Behendigkeit zu verschaffen oder die geistigen Kräfte zu üben.« Ähnlich Basedow, der ein Kapitel im ersten Buch des Elementarwerks der Vorstellung verschiedener Spiele widmet, »welche also nützlich seyn können, gewisse Fertigkeiten des Körpers, gewissen Begriffe des Verstandes, die Erlernung des künftig nöthigen Memorienwerks und die Erleichterung künftiger Tugenden zu befördern.« (Elementarwerk. Erster Band, S. 48) 136 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 218. Das Argument findet sich auch bei Niemeyer, vgl. dazu knapp Heidrun Diele/Pia Schmid: Anfänge empirischer Kinderforschung. Die Schwierigkeiten einer Anthropologie vom Kinde aus, in: Manfred Beetz, Jörn Garber und Heinz Thoma (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 253-277, hier: S. 254f. 137 Glantschnig: Liebe als Dressur, S. 107. 138 Vgl. Eleonore Kalisch: Aspekte einer Begriffs- und Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung, in: Erika Fischer-Lichte und Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen/Basel 2000, S. 31-44, hier: S. 37; vgl. auch Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 45.

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als besondere Variante eines Modus von Unverstelltheit für einen gegenteiligen Effekt von den Pädagogen in Dienst genommen wird. Sowohl die sittliche Qualität und Vorbildlichkeit der literarischen Darstellungsgrundlage, als auch ihr Aufführungskontext sollen zugleich die körperliche, geistige und sittliche Erziehung des Zöglings im Spiel vorantreiben, auf Maß und Nützlichkeit hin zur Deckung bringen und dauerhaft festigen. Als Spiel macht das Theater dabei immer auch den Erfolgsgrad dieses Unterfangens sichtbar, für ein auserlesenes Publikum, das sich gänzlich seiner pädagogischen Aufgabe verpflichten und minutiös observieren muss.

2.3.2   Poetik des Kinderschauspiels In seiner außerunterrichtlichen (Re-)Lokalisierung in einem weitestgehend nichtöffentlichen, familiären Kontext zeigen sich neben den Anschlüssen auch die maßgeblichen Differenzen zwischen älterem Schuldrama und neuerem Kinderschauspiel, dessen Rahmung die Philanthropisten diskursiv abzustecken suchen. Mit der temporär behaupteten kleinen Hausbühne soll nämlich kein wirklich differenter Raum etabliert werden, sondern im Gegenteil einer, der bis kurz vor eine Ununterscheidbarkeit mit seiner privaten Umgebung reicht. Schon die äußere Einrichtung des Kindertheaters macht dies deutlich. Bestandteile eines professionellen Theaters sind hier nicht vorgesehen, die Vorstellungen müssen ohne großen Aufwand gespielt werden können: »Die äusserlichen Anstalten, die man dabey zu machen hat, sind den wenigsten Schwierigkeiten unterworfen. Hier sind keine Decorationen, keine Maschinerien, keine Guarderoben, die mit Kleidungen aller Nationen der Welt angefüllt sind, nothwendig. Eine Bühne, die fünf oder sechs Kinder fassen kann, gewöhnliche Kleidungen oder höchstens etliche Schäferhabite, das ist alles, was man von einem solchen Privat- und Kindertheater zu fordern hat.«139 Für die Kinder ist hier zunächst nicht mehr als ein Übungsraum eröffnet, ein Trainingsgelände verschiedener Fertigkeiten. Gleichwohl soll eine Minimalöffentlichkeit idealerweise zumindest suggeriert werden, eine kleine Öffnung des vertrauten Rahmens, um die angestrebten rhetorisch‐pädagogischen Effekte zu generieren: »Je mehr Zuschauer zugegen sind: desto besser ist es. Wenn es bloß in Gegenwart der Eltern oder der bekanntesten Freunde geschieht: so wird ein Theil des Nutzens dieser Uebungen wegfallen, nemlich die Unerschrockenheit und Freymüthigkeit, auch vor einer zahlreichen und unbekannten Versammlung einen lebhaften Vortrag zu machen.«140 139 [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 608. 140 Ebd., S. 608f. Brunken/Cardi konstatieren im Zusammenhang mit der dezidierten Unaufwändigkeit der Aufführungen und ihrem weitgehend nicht öffentlichen Charakter einen »Verzicht auf die admiratio, die zu den prägenden, konstitutiven Elementen des Schuldramas gehört«

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Tatsächlich ist die rhetorische Komponente nicht der einzige Nutzen des kindlichen Theaterspiels. Welche Vorteile es außerdem mit sich bringt, zeigt sich vor dem Hintergrund desjenigen Theaters, das nicht nur in seiner pädagogischen Potenz, sondern auch in seiner Form letztlich der stärkere Bezugspunkt für die Pädagogen ist: das regelmäßige Literaturtheater der Reform, dessen Diskurs jedoch nicht nur hinsichtlich seiner erzieherischen Versprechen, sondern auch in seinen Kontroversen in die Debatten um das (häusliche) Kindertheater eingespeist wird.141 »[D]ie theatralischen Uebungen der Kinder«142 im häuslichen Umfeld lassen sich überhaupt nur in Folge der Theaterreform legitimieren. Sie hat die sittliche Nutzbarkeit des Mediums unter Beweis gestellt, wie es im Wochenblat für rechtschaffene Eltern möglichen Kritikern mit Verweis auf die inhaltlichen und formalen Auszeichnungen der regelmäßigen Schaubühne sowie deren weitgehender Anerkennung in Erinnerung gerufen wird: »Jedoch dieses ungerechte Vorurtheil hat sich unter dem billigern Theile des Publikums so ziemlich verlohren, da wir so viele vortrefliche dramatische Stücke haben, die auch die strengste Tugend gewiß mit keinem Worte beleidigen, und da die Zoten und Possen des grünen Huts in dem grösten Theile von Deutschland die Schaubühne nicht mehr verunreinigen und entehren.«143 Das philanthropistische Kindertheater steht nun vor der schwierigen Aufgabe, an diese Verdienste anzuschließen, ohne dabei »ein Äquivalent zum Erwachsenentheater zu schaffen.«144 Es gilt, bestimmte Effekte und Wirkungen, die im reformierten, professionellen Theater sichtbar und von ihm befördert werden, nicht jedoch dessen Professionalität in die Pädagogik zu übersetzen, denn: »Man will keineswegs haben, daß die Kinder Schauspieler werden sollen, wenn man ihnen dergleichen dramatische Uebungen empfiehlt«145 . Ein Theater, auf dem hingegen genau das gefordert wird und von dem der Anonymus im Wochenblat sich vornehmlich indirekt, anhand seiner programmatischen Ausführungen zu einem pädagogischen Kindertheater, abgrenzt, unterzieht Joachim Heinrich Campe einer ausführlichen Kritik. Sie richtet sich gegen das Theaterspiel professionell organisierter Kindertruppen, die vor einem öffentlichen, erwachsenen Publikum Stücke zu des-

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(Vom »Speculum Vitae« zur »Moralischen Anstalt für Kinder«, S. 136) und sehen darin eine wesentliche Differenz des aufklärerischen Kinderschauspiels. Vgl. etwa Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 96f.; Dettmar: Von der Rolle, S. 13; ferner zum Einfluss der Theaterreform auf das Kindertheater am Beispiel Weißes, Pape: Das literarische Kinderbuch, S. 211-235. [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 607. Ebd. Mairbäurl: Die Familie als Werkstatt der Erziehung, S. 39. [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 607.

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sen Unterhaltung aufführen.146 Geäußert wird diese Kritik in Campes dialogischer Abhandlung Soll man Kinder Komödien spielen lassen?, in der er mögliche Positionen zum Kinderschauspiel anhand der Sprecher A., B. und C. aufeinandertreffen lässt. Dieser eigentliche, aber erst spät genannte Adressat der Kritik, »ein so unmoralisches, sittenverderbendes Kinderspiel«, wie es ein »Director einer Kindertrupp«147 zu verantworten hat, gerät allerdings leicht aus dem Blick. Schließlich räumt Campes Text der theaterskeptischen Haltung B.s nicht nur den meisten Raum ein, auch dessen unter Rekurs auf einschlägige, theaterfeindliche Topoi vorgetragene, sehr grundsätzliche Kritik am dramatischen Material wie einer charakter- und dispositionsdeformierenden Wirkung der Bühne, lassen – durchaus kalkuliert – den Eindruck einer ebenso grundsätzlichen Ablehnung des Kindertheaters durch den Text entstehen.148 Vor dem Hintergrund aber, dass sie sich gegen eine spezifische Kindertheaterform richten, lassen sich B.s (Gegen-)Argumente als Kontrast und zur schärferen Akzentuierung eines philanthropistischen Kindertheaters heranziehen, wie es im Wochenblat für rechtschaffene Eltern entfaltet wird und auf das sich schlussendlich auch Campes Text einigen kann. Unbestritten ist, dass in den Überlegungen zum Kindertheater die Darsteller in einem pädagogischen Fokus stehen. Nicht jedoch, um mit ihrem Spiel zu unterrichten, sondern um über ihre Darstellung selbst unterrichtet zu werden und ihre Fortschritte buchstäblich zur Aufführung zu bringen. ›Letzter Zweck‹ dieses Theaters ist nicht die Erbauung seiner Zuschauer über die Vorstellung eines dramatischen Textes,149 sondern die Erziehung der kindlichen Darsteller – mit glei146 Vgl. zum professionellen Kindertheater, wie es etwa der bereits erwähnte Johann Heinrich Friedrich Müller einige Jahre betrieb, Melchior Schedler: Kindertheater. Geschichte, Modelle, Projekte, Frankfurt a.M. 1972, S. 21-42; Pape: Das literarische Kinderbuch, S. 233f. 147 Joachim Heinrich Campe: Soll man Kinder Komödien spielen lassen?, in: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts 1 (1788), S. 206-218, hier: S. 212. »Zugestanden« (ebd., S. 206) werden dabei rundherum die vom Theaterfreund A. vorgetragenen Vorzüge des Theaterspiels. Dass B. nun trotz Anerkennung dieser Punkte eine radikal ablehnende Position bezieht, ist Folge eines pädagogischen Kosten-Nutzen-Kalküls: Die »Vorzüge und Vollkommenheiten auf der einen Seite« können nur »durch größere Unvollkommenheiten und Verwahrlosungen auf der andern erkauft werden« (ebd., S. 214). Dass diese Ablehnung zwischen Theaterkritik und -feindschaft wesentlich ausführlicher vorgestellt und begründet wird, ist wiederum ein Kalkül von Campes Text. 148 Tatsächlich ist Campes Theaterdiskussion in der Forschung bisher in diesem Sinne, als allgemeine (Kinder-)Theaterkritik gelesen worden, ohne dass der eigentliche Gegenspieler erkannt und für die Argumentation berücksichtigt worden ist: ein das professionelle Erwachsenentheater kopierendes Kindertheater, in dem die Darsteller ein ihnen unangemessenes Material in einem unangemessenen Verhaltensmodus (Verstellung) und einer unangemessenen Aufführungssituation präsentieren. Vgl. Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 101-104; Dettmar: Von der Rolle sowie Das Drama der Familienkindheit, S. 70-75. 149 So wie es sich etwa bei Mylius findet: »Der letzte und hauptsächliche Endzweck der Schauspiele ist die Erbauung der Zuschauer. Diese sollen durch eine sinnliche lebhafte und natürliche

III Die Theatralisierung der Pädagogik

chen Mitteln: Schließlich ist auch das Kindertheater ein Literaturtheater. Allerdings kommt es hier zu einer spezifischen Modifizierung des Unterrichtsmaterials, die eine Adressatenverschiebung akzentuiert, die das Kinder- vom professionellen Theater absetzt. Das Kindertheater schließt zwar nahtlos an die Zentrierung der Aufführung um einen dramatischen Text an, er muss hier jedoch anderen Anforderungen genügen: »Das wichtigste bey der ganzen Sache ist die Wahl eines kleinen und guten dramatischen Stücks, das den Fähigkeiten und Kräften der Kinder angemessen ist.«150 Dieses darstellerzentrierte aptum151 steht im poetologischen Zentrum der Überlegungen. Kindgemäßheit ist die ebenso maßgebende wie maßgebliche, inhaltliche und formale Anforderung für den dem kindlichen Spiel zugrunde liegenden dramatischen Text. Er muss genauestens auf diejenigen zugeschnitten sein, die ihn zur Aufführung bringen und kann deswegen nicht deckungsgleich mit den Gattungsnormen des professionellen Theaters sein: »Keine Farce oder kein Possenspiel darf man hier nicht wählen, weil diese Stücke theils den Kindern anstößig werden könnten, theils auch die in denselbigen zum Grunde liegende Fabel nicht aus der Sphäre der Kinder genommen ist, und die Charaktere dem kindischen Alter nicht angemessen sind. Eben so wenig schickt sich für Kinder ein Drama, das auf dem Heldencothurn einhergeht; das Kind kann sich weder in die Rolle eines Richards oder einer Pelopia hinein denken, und sich also auch die zu dergleichen Rollen gehörige Action nicht geben.«152 Weder Komödie153 noch Tragödie entsprechen in ihrem Personal wie in ihren Konflikten der geforderten Angemessenheit. Sie entziehen sich einem kindlichen Zugang und selbst wenn sie über einen pädagogischen Gehalt verfügen, entspricht dessen Radius nicht den Aufnahme- und Verarbeitungskapazitäten der als dessen primäre Adressaten verstandenen kindlichen Darsteller. Für die privaten Bühnen kommt letztlich nur eine eigene dramatische Form in Betracht, die sich als »Kinderschauspiel« durch ihr »Maß an ›kindgemäßem‹ Zuschnitt«154 legitimiert und

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Vorstellung berühmter Handlungen zur Nachahmung derselben angereizet, und durch eben dergleichen Abbildungen auslachenswürdiger Laster, von denselben abgeschrecket worden.« (Eine Abhandlung, worinnen erwiesen wird: Daß die Wahrscheinlichkeit der Vorstellung, bey den Schauspielen eben so nöthig ist, als die innere Wahrscheinlichkeit derselben, S. 302) [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 609. Vgl. diesbezüglich Brunken/Cardi: Vom »Speculum Vitae« zur »Moralischen Anstalt für Kinder«, S. 137-139. Vgl. zur Diskussion um das Stilproblem der Kinderliteratur, die Frage des aptums, bzw. das Aufkommen einer solchen Frage Pape: Das literarische Kinderbuch, S. 175-190, für die Philanthropisten insbes. S. 181-184; Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 15 und 22. [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 609. Gleichwohl schließen die Kinderschauspiele, wie Carola Cardi untersucht hat, in bestimmter Hinsicht an die Tradition der Aufklärungskomödie an, vgl. Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 76-82. Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 75.

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über dieses aptum definiert wird. Dazu gehört zunächst eine Situierung der Stücke innerhalb der kindlichen Erfahrungswelt, so dass keine nennenswerte Differenz zwischen den Darstellern und ihrer Darstellung entsteht. Dafür ist es »[a]m allerbesten […], wenn sie einzig und allein Kinderrollen enthalten, daß man sich nicht genöthiget sieht, entweder erwachsene Personen mitspielen zu lassen, oder den Kindern die Rollen erwachsener Personen aufzutragen. Möglich ist es, daß man dergleichen Fabeln findet; denn die Kinder haben eben so gut unter sich selbst ihre Begebenheiten, als die Erwachsenen.«155 Die Stücke sollen sich in ihren Szenarien und Handlungen dementsprechend auch nicht von der Lebenswirklichkeit ihrer Darsteller unterscheiden, sondern, im Gegenteil, sich als deren pädagogisch optimierte Verdopplung ausweisen: »Wahre und rührende Begebenheiten oder auch erdichtete Fabeln aus dem bürgerlichen Leben verdienen vorzüglicher Weise bey dramatischen Kinderspielen zum Grunde geleget zu werden. Kleine Familiengemälde, welche merkwürdige Beyspiele der kindlichen Liebe und Dankbarkeit, einer uneigennützigen Freundschaft und dergleichen enthalten, geben den besten Stoff zu dergleichen dramatischen Stücken ab.«156 Von dieser spezifischen Form des als Spielvorlage getarnten Unterrichtsmaterials, dem dramatischen Text, gehen die pädagogischen Wirkungen des Kindertheaters aus, die die Darsteller als Zöglinge betreffen und als zukünftige Bürger mit hervorbringen sollen. Sie entfalten sich in einem theatralen Arrangement, das keinen aufwendig herzurichtenden Raum ästhetischer Illusion etabliert, sondern im Gegenteil, sich kaum mehr von seinem häuslichen Umfeld abhebt und damit einen Rahmen schafft, in dem die Zöglinge nicht irgendwelche Kinder spielen, sondern letztlich sich selbst, und zwar so, wie sie sein sollen respektive mit Hilfe eben ihrer Darstellung sein werden. Je nach Erziehungsstand spielen sie damit strenggenommen gar nicht mehr, sondern stellen wiederholt ihre Wohlerzogenheit den prüfenden Blicken ihrer kleinen Zuschauerschaft vor. Die situative und thematische Annäherung an die Darsteller ermöglicht nämlich eine Einspeisung von Erziehungsinhalten, die weit über eine rein körperliche Formung hinausgehen. Denn die herzurichtende ›edle Freymüthigkeit‹ im Betragen soll gerade nicht das Ergebnis einer »Uebung in der Verstellungskunst« sein, die die Zöglinge lehrt, »Emp155 [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 610f. Vgl. Dettmar: Das Drama der Familienkindheit, S. 16; Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 47. 156 [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 610. Mairbäurl etwa berichtet von einem »Gelegenheitswerk aus Anlaß des väterlichen Geburtstags«, das der genannten Logik einer pädagogisch optimierten Verdopplung entspricht: »[D]ie Kinder [erfreuen] ihren Vater mit einem Stück, in dem sie, sich selbst spielend, den Geburtstag des Vaters feiern.« (Die Familie als Werkstatt der Erziehung, S. 42)

III Die Theatralisierung der Pädagogik

findungen und Affecte zu äußern, die sie nicht ha[ben]«157 , sondern Folge einer Einformungstechnik, die aufgrund der genannten Annäherung im Stande ist, diejenigen ›Empfindungen und Affecte‹ zu stimulieren, die sie haben sollen. Ihr körper‐sprachliches Auftreten soll also referentiell gedeckt sein, als Ausdruck einer korrespondierenden Innerlichkeit, die zweifach theatral geformt wird: Zum einen hinsichtlich des Darstellers als Zögling in einem Erziehungsgefüge, dessen Relationen von Liebe, Dankbarkeit und Freundschaft geprägt sind.158 Die Kinderschauspiele haben hierfür Beispiele von Verhaltensidealen zu liefern, oder genauer, den Haltungen, die idealerweise jedem Verhalten als festes Fundament unterliegen. Die Zöglinge üben als Darsteller, diese optimierten Versionen ihrer selbst zu werden, als die sie dann problemlos über die verschwindend geringe Schwelle der Haustheaterbühne in ihr reales Leben zurückkehren können. Zum anderen sollen sie gerade im Hinblick auf den Verlauf dieses Lebens geformt werden, dessen sittlich‐soziale Grundlagen sie über die aufgeführten Stücke zu verinnerlichen lernen. In dieser biographischen Dimension nun fließen der rhetorische und der theaterreformatorische Einfluss auf das Kindertheater zusammen. Wo dem kindlichen Theaterspiel ein dramatischer Text zugrunde liegt, muss dessen Präsentation auf einer verständigen Aneignung basieren, die über ein bloßes Wortverstehen weit hinausgehen und – so deutet es der Anonymus im Wochenblat überraschend vorsichtig am Ende seiner Überlegungen an – auf eine buchstäbliche Verinnerlichung der Figuren samt der ihnen und ihrem Agieren eingelagerten sittlichen Gehalte zielen soll. Die Darstellung auf den Hausbühnen ist hier insofern transparent, als dass sie den dahinter liegenden Lern- und Formungsprozess beobachtbar hält, dessen Gelingen in der Präsentation seinen Ausdruck findet: »[D]as Kind [soll] hier sein gelerntes Pensum nicht bloß herlallen […], sondern eine richtige Deklamation und Action damit verbinden […]. Das letztere kann nicht geschehen, wofern es seine Rolle nicht vollkommen versteht.«159 Was dabei zwischen Aneignung und Präsentation vermitteln soll, ist eine rhetorische Technik: »Man darf dasselbige [das Kindertheater – AW] auch als eine vortrefliche Uebung des Gedächtnisses ansehen, die unter dem wörtlichen Memoriren vielleicht den ersten Plaz verdient«160 . Über dieses Memorieren läuft auch die sittliche Formung des Zöglings, die die Pädagogen mit Hilfe des Theaters auf Dauer zu stellen suchen. 157 Campe: Soll man Kinder Komödien spielen lassen, S. 215. 158 Diese Codierung macht den Kern des spezifischen Verhältnisses von Erzieher und Zögling aus, vgl. dazu ausführlicher III.3.2. 159 [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 613. So auch Trapp in seinem stärker den deklamatorischen Aspekt innerhalb des Schulunterrichts betonenden Versuch einer Pädagogik: »Man kann nichts gut lesen, was man nicht völlig versteht und empfindet. Daher deklamieren Kinder solche dramatische Stücke immer unnatürlich, die für ihr Alter nicht gemacht sind.« (Versuch einer Pädagogik, S. 329) 160 [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 613.

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Eingeprägt und verinnerlicht wird immer auch die dramatisch eingekleidete, für das Kinder- wie für das professionelle Theater gleichermaßen geforderte, pädagogische Substanz: »Auch in das zarte Herz kann dabey [im Memorieren – AW] mancher gute Saame fallen, der in der Zukunft eine uns erwartete Frucht trägt. Ich setze dabey zum voraus, daß in dergleichen dramatischen Kinderspielen tugendhafte Charaktere, gute moralische Sentiments und manche Regel der Klugheit für das bürgerliche Leben enthalten sind.«161 In den Ausführungen des Anonymus wird die traditionelle Speichertechnik der memoria also mit einer hermeneutischen Dimension dergestalt korreliert, dass das Memorieren sich, wenigstens anteilig, auch als Verstehensprozess vollzieht. Es ist der kindliche Darsteller, der im Auswendiglernen des Textes von diesem Text lernt, sich die dort vorgeschriebenen Verhaltensmuster und -normen verstehend aneignet, über seine Darstellung einverleibt und aus dem Kindertheater hinaus in seinen Lebensverlauf trägt, der passgenau gemacht wird für ein soziales Wertegefüge, dem allein ein maßvolles Auftreten und Verhalten entspricht, ein ›schicklicher Anstand‹ in Körperlichkeit und Disposition. Gleichwohl es also seine eigene pädagogische Qualität nur in der Differenz zu dessen Professionalität behaupten kann, ist auch das im Wochenblat für rechtschaffene Eltern vorgestellte Kindertheater »bürgerliches Erziehungstheater.«162 Ein edukativer Effekt auf die Zuschauer, wie ihn die Erwachsenenversion dieses Erziehungstheaters so zentral setzt, bleibt bei dergleichen poetologischen Koordinaten hier allerdings aus. Er wird aber auch nicht einkalkuliert, denn »man fordert ja von einem Kinderdrama keineswegs, daß es uns erschüttern, oder durch einen tief verwickelten Plan durch unerwartete Situationen interessiren und überraschen soll.«163 Das Kindertheater soll seine Zuschauer ausdrücklich nicht affizieren. Für sie steht keine ästhetisch vermittelte Erfahrung im Zentrum, sondern die Gelegenheit zu pädagogischer Observation: »Hier versammeln sich die Zuschauer nicht deswegen, um sich durch die Illusion zu täuschen oder um gerührt zu werden, sondern nur Zeugen von der Geschicklichkeit der Kinder abzugeben.«164 Sie sollen einen überprüfenden Blick darauf richten können, wie sehr die Darsteller selbst von ihrem Spiel unterrichtet werden. Dieses pädagogische Publikum registriert Verinnerlichungsgrade wie Fortschritte und bekräftigt anschließend die 161 Ebd. 162 Mairbäurl: Die Familie als Werkstatt der Erziehung, S. 72. Vgl. auch Dettmar: Das Drama der Familienkindheit, S. 17. 163 [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 611. 164 Ebd., S. 608

III Die Theatralisierung der Pädagogik

theatral gewonnenen Lerneffekte, indem es die dargestellten affektiven Relationen anschließend auch jenseits der Bühne bestätigt.165 Eine solche, fest zum Entwurf eines philanthropistischen Kindertheaters gehörende Rezeptionshaltung ist hingegen im professionellen Kindertheater ebenso konstitutiv nicht gegeben. Dort sorgen in letzter Konsequenz die Zuschauer dafür, dass jede Vorstellung ihre Darsteller ein Stück weit mehr deformiert. Denn selbst wenn ausschließlich integre Stücke zur Aufführung kämen, »in welchen keine andere, als moralisch gute, also nachahmungswürdige Personen und Handlungen vorkommen«, bliebe im professionellen Rahmen noch immer die Erwartungshaltung eines Publikums bestehen, das sich nicht zur pädagogischen Observation, nicht zu einem Verinnerlichungsansporn für theatral vermittelte Lerneffekte kindlicher Darsteller versammelt, sondern schlicht um sich »zu belustigen«166 . Zunichte gemacht wird darüber der philanthropistische Erziehungsansatz einer umfassenden, harmonischen Formung des Zöglings, der sich einst durch seine soziale Nützlichkeit auszeichnen soll, »weil das Klatschen, das Lobpreisen und Bewundern der Zuschauer das junge Herz zur Eitelkeit, zur Coketterie und zur Lobsucht entzünden, das kleine Köpfchen verdrehen und dem Kinde Ansprüche auf das Bemerktwerden und auf Bewundern verleihen, welche den guten, schlichten und liebenswürdigen Kindersinn um einige Jahre früher aus ihm verdrängen, als es für seine künftige Moralität und Zufriedenheit zu wünschen wäre. Es ist ihm endlich zuwider, weil dieses unweise Beklatschen und Bewundern ihnen einen ganz falschen und in hohem Grade schädlichen Maaßstab zur Schätzung und Würdigung des wahren Werthes ihrer Handlungen und Bestrebungen verleiht.«167 Worin nun beide, die theateraffirmative Position des Anonymus und die skeptische von Campes B., übereinkommen, ist, dass die geforderte Angemessenheit als Voraussetzung des »Nutzens, den man von einem solchen Kindertheater ziehen kann«168 , zu einem Repertoireproblem führt. Aufgrund des spezifischen Zuschnitts und Anforderungsprofils fehlt es an geeignetem Unterrichtsmaterial: Es gibt, B. zufolge, »nicht bloß in unserer deutschen Litteratur, sondern auch in allen andern Sprachen, vielleicht nicht zwei gute, vielleicht nicht ein einziges vortrefliches Stück […], welches für Kinder, merken Sie wohl! für Kinder, in jeder Rücksicht völlig unschädlich und durchaus zweckmässig wäre«169 . Tatsächlich beginnt sich erst im letzten Drittel des Jahrhunderts nach und nach formal herauszubilden 165 166 167 168 169

Vgl. Mairbäurl: Die Familie als Werkstatt der Erziehung, S. 44. Campe: Soll man Kinder Komödien spielen lassen, S. 213. Ebd. S. 215f. [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 613. Ebd., S. 208.

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und auszubreiten, was als Kinderschauspiel ein Teil der Kinder- und Jugendliteratur wird.170 Als Diskursphänomen ist es jedoch bereits präsent. Basedow etwa wünscht sich im Methodenbuch Kinderschauspiele »von einer so moralisch guten und lehrreichen Art, als mir noch keine bekannt sind«171 , der Anonymus im Wochenblat schlägt hingegen vor, diesem »Mangel, den wir an dergleichen dramatischen Kinderspielen haben«172 mit einer Zwischenlösung zu begegnen, die nicht nur erneut auf die wichtige Rolle des reformierten Theaters für das Kindertheater verweist, sondern hier die Relation der Beeinflussung und Impulsgebung umkehrt. Gleichwohl das Kindertheater nicht nur über die regelmäßige Schaubühne legitimiert wird, sondern auch als reformpädagogische Adaption der moralischen Anstalt und als deren adressatenspezifisch verschobene Weiterführung einer philanthropistischen Erziehung »[z]u vernünftigem Mittelmaß […], zu Mäßigung und Aufgeräumtheit«173 verpflichtet ist, wird im Wochenblat plötzlich ein Beitrag der Kinderdramatik zur allgemeinen Aufnahme des Theaters in Aussicht gestellt: »Vielleicht dürfen wir uns mit der Hofnung schmeicheln, daß in unsern Zeiten, wo man fast alle Felder der Poesie mit so glücklichem Erfolge zu bearbeiten anfängt, auch diese Dichtungsart mit nützlichen und schönen Stücken werde bereichert werden. Und vielleicht wäre dieses der erste und beste Schritt, den man zur Verbesserung des deutschen Theaters und zur Ausbreitung einer Liebe zu demselbigen thun könnte.«174 Aus dem Kontext der Argumentation lässt sich schließen, dass die in Aussicht gestellte Unterstützung des professionellen Theaters vor allem dazu dienen soll, das eigentliche Anliegen reizvoller zu machen: Dramen für Kinder zu verfassen.175 Der Gedanke verweist aber durchaus auch auf das Selbstverständnis der Pädagogen hinsichtlich ihrer Tätigkeit: So wie am Anfang einer gesamtgesellschaftlichen Optimierung die Erziehung der Jugend stehen muss, baut eine Optimierung der – nur wenige Seiten zuvor bereits gleichermaßen topisch ob ihrer sittlichen und formalen Qualität gelobten – Schaubühne auf der Entwicklung des Kindertheaters auf. Die Arbeit der Pädagogen wird hier gleichermaßen als Ausgangspunkt und Generator sozialer wie künstlerischer Entwicklungen gesetzt. 170 Vgl. Brunken/Carola Cardi: Vom »Speculum Vitae« zur »Moralischen Anstalt für Kinder, S. 135f.; Dettmar: Das Drama der Familienkindheit, S. 14. Vgl. zu dessen historischen Vorläufern und Entstehungsbedingungen das gleichnamige Kapitel bei Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 17-35. 171 Basedow: Methodenbuch, S. 138. 172 [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 612. 173 Mairbäurl: Die Familie als Werkstatt der Erziehung, S. 73. 174 [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 612. 175 Vgl. zum pädagogischen Selbstverständnis der Kinderliteraten Dettmar: Das Drama der Familienkindheit, S. 14f.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Bis das Kindertheater allerdings ein eigenes, stabiles Repertoire ausgebildet hat,176 kann auf Stücke des regelmäßigen Theaters zurückgegriffen werden, sofern sie wenigstens den Darstellungsmöglichkeiten und Situationsanforderungen der kleinen Hausbühnen gehorchen: »Lessings Philotas, ist schon an verschiedenen Orten von jungen Leuten aufgeführt worden, vornemlich deswegen, weil keine Frauenzimmer=Rollen darinnen vorkommen. Geßners Erast würde mir fast noch besser gefallen, da die Fabel nicht aus der Heldengeschichte, sondern aus dem bürgerlichen Leben genommen ist.«177 Alternativ kämen die 1770 aus dem Französischen übersetzten Spiele der kleinen Thalia von Alexandre Guillaume Mouslier de Moissy in Frage, die, gleichwohl sie für die von den Philanthropisten geforderte Kindgemäßheit wichtige Impulse liefern,178 durchaus skeptisch betrachtet werden. Im Wochenblat wird ausdrücklich anerkannt, dass sie »schon mehr aus der Sphäre der Kinder genommen, und so wohl wegen der Kürze, als wegen der aus dem bürgerlichen Leben entlehnten Begebenheiten dem Alter und den Fähigkeiten der Kinder angemessen [sind].«179 Wesentlich kritischer werden die Spiele hingegen einige Jahre später in den Pädagogischen Unterhandlungen besprochen.180 Hier wird gerade ihre Inkompatibilität mit den Grundsätzen philanthropistischer Pädagogik beklagt, weil sie sich eben 176 Basedow selbst hat sich, so berichtet Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 45, nicht nur allgemein »immer wieder für die Herstellung und Verbreitung eigener Schriften für Kinder und Jugendliche ausgesprochen«, sondern auch ganz konkret Christian Felix Weiße »ausdrücklich zum Schreiben ermuntert.« 177 [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 612. Vgl. zu Geßners Stück Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 84-86. Campes B. lässt gerade nur zwei Stücke von Johann Jakob Engel durchgehen. Genannt werden Der dankbare Sohn und Der Edelknabe. Gleichwohl beide Stücke in pädagogischen Kontexten veröffentlicht worden sind – Der dankbare Sohn 1772 in der Wochenschrift zum Besten der Erziehung der Jugend und Der Edelknabe 1775 im Niedersächsischen Wochenblatt für Kinder –, waren sie ursprünglich als Dramen für das professionelle Theater konzipiert. Vor allem letzteres wurde zeitgenössisch als für Kinder und Erwachsene gleichermaßen pädagogisch wertvoll gelobt, vgl. Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 82-84; Pape: Das literarische Kinderbuch, S. 227. 178 Vgl. Brunken/Cardi: Vom »Speculum Vitae« zur »Moralischen Anstalt für Kinder«, S. 139 und Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 23. 179 [Anonym]: Von Kindertheatern, S. 611f. 180 Vgl. zu Moissys Text, seiner Rezeption in Deutschland sowie Verhältnis und Differenzen zum Kinderschauspiel (vor allem am Beispiel Weißes) Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 51-76, zur philanthropistischen Kritik insbes. S. 62 und 66. Sie führt diese spätere Distanzierung von Moissys Stücken und das tatsächlich nachlassende Interesse auf die inzwischen verstärkte Produktion »moralisch‐didaktische[r] Kinderschauspiele« (ebd., S. 66) zurück.

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nicht der »Sittenlehre der Kinder«, sondern lediglich ihrer »Unterhaltung«181 verpflichten. Hinter dem »muntern natürlichen Dialog« und den »mannigfaltigen, aus dem wahren Kinderleben hergenommenen Vorfallenheiten«182 , lauert eine hochgradig defizitäre Pädagogik, die die Darsteller auf beiden vom Kindertheater mit zu formenden Achsen – als Zöglinge und als künftige Bürger – verdirbt. Die Spiele präsentieren, so der Vorwurf, der an einigen der kleinen Szenen veranschaulicht wird, pädagogische Verhältnisse zwischen Erziehern, Zöglingen und Eltern, die auf Unehrlichkeit, Misstrauen, Angst und mindestens sittlicher Indifferenz beruhen, und wo sie allen moralpädagogischen Bemühungen nicht gleich völlig zuwiderlaufen, »[weisen] sie unrechte Mittel, zu einem guten Zwecke zu gelangen, an«183 . Der Autor der Unterhandlungen belässt es allerdings nicht bei einem Tadel dieses Mangels, sondern greift zu einem durchaus pädagogischen Mittel: der Verbesserung. Statt die Spiele der kleinen Thalia in Gänze zu verwerfen, versucht er, sie »nach meinen eigenen, jetzt geäußerten Grundsätzen umzuschmelzen«184 und schreibt einige der Szenen nach den Prämissen philanthropistischer Pädagogik um. Korrigiert werden diese Mängel, damit sie den »ausgebreiteten Nutzen«185 , den sie eigentlich haben könnten, doch noch einzulösen im Stande sind. Aus Lehren der Verstellung und der Übervorteilung werden so jene bereits vom Anonymus im Wochenblat geforderten ›Beyspiele der kindlichen Liebe und Dankbarkeit sowie einer uneigennützigen Freundschaft‹, die tugendhaftes Verhalten vor- und Regeln wie Maßstäbe sozialer Interaktion bereitstellen.186 Die so unterschiedliche Bewertung von Moissys Stücken führt zu einer gewichtigen Differenz im philanthropistischen Diskurs, zu einer mitunter auf engstem medialen Raum entfalteten Uneinigkeit, die weit über eine Qualität des Materials hinausreicht. Sie betrifft viel mehr das Theaterspiel der Zöglinge insgesamt. Auch nach ihrer philanthropistischen ›Umschmelzung‹, so stellt der Autor der Unterhandlungen klar, kommen die Stücke nicht für eine Aufführung in Frage. Er versteht sie als Gespräche, die im Modus der Lektüre zu rezipieren sind, nicht als Dramen, die einer theatralen Vorstellung bedürfen. In diesem letztgenannten Falle nämlich würden sie genau jenen Effekt zeitigen, den der Anonymus in seiner Poetik des 181 [Anonym]: Ueber die aus dem Französischen übersetzten Spiele der kleinen Thalia, des Herrn Moisy, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1778/79, 9. Stück, S. 825-853, hier: S. 825. 182 Ebd. 183 Ebd., S. 829. Vgl. zu der genannten Schelte S. 826-829. 184 Ebd., S. 833. 185 Ebd., S. 831. 186 In ihren Überarbeitungen stellen die Szenen nun auf Freundschaft, Vertrauen und einsichtigem Gehorsam beruhende Erzieher-Zögling Verhältnisse dar (vgl. Das Kind und die Bonne, ebd., S. 833-836), eine damit verbundene Hinwendung zu tugendhaftem Verhalten (vgl. Der Hofmeister, und Junker Fritz, ebd., S. 836-845) und dessen Anwendung als Interaktionsgrundlage (vgl. Der Hofmeister, und Junker Carl, ebd., S. 845-853). Ausgehend von einem Fehlverhalten, münden diese Szenen stets in die Einsicht der Kinder in die Lektionen ihrer Erzieher.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Kindertheaters verhindern will – aus der theatral katalysierten Formung würde dann eine histrionische Deformierung: »Niemals aber rathe ich, dem in der Vorrede gegebenen Vorschlage des Verfassers zu folgen, solche Gespräche, oder wenn man lieber will, solche Dramas, und wenn sie auch noch so moralisch gut wären, von Kindern wirklich aufführen zu lassen, weil zu besorgen steht, daß sie dadurch bloß zu guten Schauspielern gebildet werden, die nur dasjenige scheinen wollen, was wir wünschen, daß sie seyn mögen.«187 Anstelle eines Unterrichtsmittels, das seine Effizienz einer spielerischen Selbstverdopplung auf Grundlage einer pädagogisch ebenso integren wie adäquaten Spielvorlage verdankt, die die Bahnen des anvisierten Verinnerlichungsprozesses genau absteckt, wird hier das Kindertheater als eine Schule der Verstellung abgelehnt. Verlassen die Zöglinge in der Version eines exakt auf sie zugeschnittenen Theaters, wie es der Anonymus im Wochenblat entwirft, die Bühne letztlich als jene erzogeneren Versionen ihrer selbst, die sie dargestellt haben, negiert der Autor der MoissyKritik jeden erzieherischen Transfer, den das Theaterspiel stimulieren könnte. Er hält dem vielmehr den theaterfeindlichen, klassischerweise gegen Schauspielerinnen und Schauspieler gerichteten Topos einer über den Bühnenrand hinausragenden Unaufrichtigkeit entgegen, einer rein äußerlichen Anverwandlung, die sich eben nicht in den authentischen Ausdruck eines darüber erzogenen Selbst übersetzt, sondern sich als Technik einer Täuschung entpuppt, die vor allem das Verhältnis von Erzieher und Zögling gefährdet. Eine mit W. unterschriebene, vom Mitbegründer des Dessauer Philanthropins Christian Heinrich Wolke stammende Fußnote versucht hier einzulenken und diese grundsätzliche Ablehnung des kindlichen Theaterspiels wieder zu relativieren – unter den gleichen »Bedingungen«, die bereits der Anonymus im Wochenblat aufgestellt hatte: »Wenn Kinderschauspiele […] dem Character, Geschlechte und Stande der Kinder, von denen sie aufgeführt werden, ganz angemessen sind, und kein Affectiren in Handlung oder Denkart nöthig machen; wenn darinn weder Sentenzen den Kindern auf eine unnatürliche Weise in den Mund gelegt, noch Unarten, die dadurch leicht ankleben würden, wiederholt werden; wenn das Lob über die Fertigkeit der Vorstellung nichts weiter ist, als eine Bezeugung, daß man von ihrer (der Kinder) Geschicklichkeit und Bereitwilligkeit zum lobenswürdigen Guten nun öfter und mehr zu hören hoffe; unter diesen Bedingungen, würde unser Campe die Auffüh-

187 Ebd., S. 832f.

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rung der Kinderschauspiele, da sie Uebung und Vergnügen giebt, nicht so sehr abrathen.«188 Gehorchen die Kinderschauspiele dem aptum der Kindgemäßheit, sind sie sittlich tadellos und von einem pädagogischen Zuschauerarrangement gerahmt, das die Darsteller in ihrem theatral vermittelten Lernprozess bestärkt, kann ihre Aufführung nicht länger abgelehnt werden – nicht einmal, so Wolke etwas hoffnungsvoll, von Joachim Heinrich Campe, der sich zuerst via Fußnote zu Wort meldet und der rundum ablehnenden Haltung des Verfassers gegenüber Aufführungen der Stücke gänzlich beipflichtet: »Ein Rath, den ich, als der Herausgeber dieses Artikels, von ganzem Herzen unterschreibe.«189 Tatsächlich schreibt Campe diese Position mit seinem Theaterskeptiker B. fort. Er betont nachdrücklich, dass »zwischen Aufführen und Lesen, in Rücksicht auf Nützlichkeit und Schädlichkeit, ein Unterschied« besteht, der von einem von einem höheren Verinnerlichungsgrad des Schauspiels herrührt: »Das Lesen macht vergleichungsweise nur flache, das Aufführen hingegen und das damit verbundene Hineinstudiren, Hineinempfinden tiefe Eindrükke.«190 Genau diese Wirkungstiefe ist ein wesentlicher Bestandteil der theateraffirmativen Argumentation im Wochenblat für rechtschaffene Eltern. Der dort abgesteckte, thematische und situative Rahmen soll dabei sicherstellen, dass dieses ›Hineinempfinden‹ zu einer pädagogisch ebenso wertvollen wie effektiven Anverwandlung gerät und die Figuren in der Darstellung zur Formvorlage ihrer Darstel188 Ebd., S. 832. Wolke kann in diesem Zusammenhang bereits auf ein gewisses Repertoire verweisen, nämlich »Kinderschauspiele, wie die bekannten von unserm August Rode, und einige in Weissens Kinderfreunde« (ebd.). Vgl. zu Weiße Pape: Das literarische Kinderbuch, S. 129-235; Cardi: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 103-244; zu beiden Autoren Dettmar: Das Drama der Familienkindheit, S. 35-98; vgl. zur Produktion von Kinderschauspielen im Umfeld des Dessauer Philanthropins und ihren Aufführungen im ab 1780 bestehenden hausinternen, kleinen Theater Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 46-57. 189 [Anonym]: Ueber die aus dem Französischen übersetzten Spiele der kleinen Thalia, des Herrn Moisy, S. 832. Als Herausgeber der Pädagogischen Unterhandlungen fungierten zunächst Basedow und Campe gemeinsam. Ab dem 5. Stück des ersten Jahrgangs wird in dieser Funktion jedoch die schon 1777 wieder von Campe verlassene Institution, das »Dessauische[] Erziehungs=Institut« genannt. 190 Ebd. Dass jedoch auch die Lektüre in eine exzessive Schädlichkeit umschlagen kann, zeigt sich wiederum im Kontext der philanthropistischen Empfindsamkeitskritik, für die neben Campe vor allem Peter Villaume steht. In seiner Abhandlung Ueber die Weichherzigkeit. Eine pädagogische Aufgabe, rät er, um eine »zu starke Empfindsamkeit zu mäßigen«, zu radikalen Maßnahmen: »Verschlies, noch besser, verbrenne deine Romanen, Trauerspiele, Elegien, Dramas, und wie das Zeug alle heist. Hüte das Kind vor der honigsüßen, schmelzenden, entzükten Poeterei.« (Peter Villaume: Ueber die Weichherzigkeit. Eine pädagogische Aufgabe, in: Pädagogische Unterhandlungen, 3. Jahrgang, 1779/80, 4. Quartal, S. 539-554, hier: S. 546 und 548.) Vgl. zu Campes Empfindsamkeits- und Lektürekritik etwa seinen Vorbericht zu Robinson der Jüngere.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

ler werden. Für Campes B. gerät nun just diese »medienspezifische Wirkkraft«191 , die bereits im Diskurs der Theaterreform unbestritten gewesen ist und das Verhältnis von Theatergegnern und -freunden hinsichtlich ihrer Differenzen, vor allem aber hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten geprägt hat,192 zum Problem. Seine Sorge gilt dabei, anders als beim Autor der Moissy-Kritik, nicht so sehr dem Erlernen von Täuschungsfähigkeiten, sondern viel mehr einem defizitären Verhalten, das tatsächlich referentiell gedeckt, weil es Ausdruck eines von lasterhaften Figuren verunstalteten, kindlichen Wesens ist. Bs. Kritik liegt damit eine der zeitgenössisch gängigen Schauspieltheorien zugrunde:193 »[B]eim Aufführen hingegen muß, wenn anders die theatralische Darstellung gelingen soll, der Gemüthszustande des Spielenden mit dem Gemüthszustande der gespielten unmoralischen Person nothwendig zusammentreffen.«194 Weil nun der Schauspieler im Sinne des ›heißen‹, oder Gefühlsschauspielers gedacht wird, wie es auf den durch Lessings Übersetzung und Kritik in Deutschland bekannt gemachten Pierre Rémond de Sainte-Albine zurückgeht, er also in B.s Worten »mitempfindend spielt«, bleibt im Falle des kindlichen Darstellers »irgend etwas, dem nachgeahmten Charakter entsprechendes, in ih[m] hafte[n]«195 . Dies ist vor allem im professionellen Kindertheater, das bei B.s Argumentation die Referenz ist, ein Problem. Denn es bedarf, sowohl für die Entfaltung der dramatischen Handlung, als auch, um deren sittliche Dimension umso deutlicher hervortreten zu lassen, »fehlerhafte[r] oder ganz unsittliche[r] Charactere«196 . Sie müssen »nothwendig vorkommen[…], um die guten Charaktere desto mehr zu heben, um Verwicklung und anziehende Situationen in das Stück zu 191 Dettmar: Das Drama der Familienkindheit, S. 71. Dettmars an dieser Stelle geäußerte Kritik an der älteren Forschung, dies nicht zu berücksichtigen bzw. nicht ausreichend hinsichtlich der spezifischen medienästhetischen Überlegungen der Philanthropisten zu differenzieren, ist sicherlich zuzustimmen, vgl. ebd., S. 70f. 192 Vgl. zum Verhältnis der Theaterfreunde und -feinde in der genannten Hinsicht noch einmal II.2. 193 Darauf hat Ute Dettmar zurecht hingewiesen, vgl. Von der Rolle, S. 17 und Das Drama der Familienkindheit, S. 74. 194 Campe: Soll man Kinder Komödien spielen lassen, S. 209. 195 Ebd., S. 210. Bei der Zulässigkeit negativer Charaktere im Kinderschauspiele handelt um eine zentrale Streit-, laut Dettmar sogar um die »Kardinalfrage« (Das Drama der Familienkindheit, S. 75) einer Debatte, die sich exemplarisch an der Auseinandersetzung zwischen Campe und Weiße verfolgen lässt. Entgegen der Position von B., macht sein Autor Campe in diesem Zusammenhang durchaus von der Möglichkeit einer Umschreibung Gebrauch. Aus Weißes Stück Der ungezogene Knabe wird unter Campes Korrekturfeder Der leichtsinnige Knabe. Verändert ist nicht nur der Titel, sondern auch der im Titel stehende Knabe namens Ludwig, dessen charakterliche in behebbare Erziehungsdefizite transformiert werden. In der bearbeiteten Form nimmt Campe das Stück dann in den zweiten Band seiner Kleinen Kinderbibliothek auf. Vgl. Dettmar: Das Drama der Familienkindheit, S. 67-80; dies.: Von der Rolle, S. 14-16; ferner Pape: Das literarische Kinderbuch, S. 225-230. 196 Campe: Soll man Kinder Komödien spielen lassen, S. 211.

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bringen.«197 An Kinderschauspielen, die ohne solche katalysatorische Figuren auskommen, ist laut B. hingegen zu kritisieren, »daß sie langweilig sind.«198 Für das philanthropistische Kinderschauspiel ist hingegen weder dieser Maßstab relevant, noch das sich daran knüpfende Problem virulent.199 Tatsächlich ist es, was bei der so ausführlichen und grundsätzlichen Kritik ebenso überrascht wie leicht aus dem Blick gerät, mitunter ausgerechnet Campe selbst, der dies nicht nur bestätigt, sondern auch belegt. In den Pädagogischen Unterhandlungen wird mit Der Geburtstag des Fürsten ein Kinderschauspiel veröffentlicht, das aus seiner Feder stammt und in weiten Teilen den sicher idealtypischen Anforderungen entspricht, wie sie der Anonymus im Wochenblat oder Wolke proklamieren. Eine wesentliche Differenz besteht jedoch darin, dass das Stück jenseits einer privaten Bühne öffentlich aufgeführt wurde. Allerdings aus gutem Grund. Denn Anlass der Aufführung wie Inhalt des Stückes selbst ist, der Titel lässt es erahnen, der Geburtstag des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau, dem maßgeblichen Financier und Förderer des Philanthropins. In dem Stück geht es dementsprechend darum, dass und wie sich die Philanthropisten, namentlich August und Philipp, das Stadtkind Wilhelm, ja sogar das Bauernkind Jacob an der Güte, Großzügigkeit und Weisheit ihres Fürsten erfreuen, in dieser Freude standesübergreifend vereint sind und schließlich mit den übrigen Philanthropisten und ihren Lehrern die an der Feier aufzuführenden Gesänge und Tänze einüben.200 Die Darsteller spielen sich hier also als Philanthropisten in ihrem alltäglichen Leben weitestgehend und in vorbildlicher Weise selbst, und wo nicht, gerät die durchaus signalisierte Standesdifferenz201 insbesondere zum Bauernkind zugunsten einer übergreifenden, theatral zu vermittelnden Haltung zur darstellungsunproblematischen Nebensache. Campes Stück zeigt sich so als eines jener ›merkwürdigen Beyspiele der kindlichen Liebe und Dankbarkeit‹, wie sie der Anonymus als Gegenstand der theatralen Einübung von Kinderschauspielen fordert. Als August etwa auf die Idee 197 Ebd., S. 211f. 198 Ebd., S. 212. 199 Selbst der Autor der Moissy-Kritik zeigt in seinen Bearbeitungen nicht zuletzt, wie sich der pädagogischen Intention zuwiderlaufende, literarische Mängel buchstäblich überschreiben lassen. 200 Vgl. [Joachim Heinrich Campe]: Der Geburtstag des Fürsten, ein Kinderschauspiel am Geburtsfeste des Landesvaters aufgeführt, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 4. Stück, S. 367-383. Vgl. zu Campes Stück und seinem Hintergrund Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 45f. und zu weiteren Kinderschauspielen für das Philanthropinum S. 46-57. 201 So etwa, wenn der später eintreffende, vom Philanthropisten Philipp als »lieber Herr B.« angeredete und offenbar Basedow bezeichnende Lehrer »indem er Jacob sieht« ins Stocken gerät und sogleich skeptisch fragt »Wer ist der?« ([Campe]: Der Geburtstag des Fürsten, S. 379), den Bauernjungen dann aber auch am Fest partizipieren lässt.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

kommt, einen Lehrer um Hilfe zu bitten, um ein geeignetes Mittel zu finden, »wodurch wir unsre Freude an den Tag legen«, gibt es für Philipp und Wilhelm kein Halten mehr: »Bravo, bravo lieber August! O das ist herrlich! herrlich! (Beyde hüpfen und umarmen sich)«202 . Auch Jacob ist überglücklich, an den Feierlichkeiten mit den anderen Kindern teilnehmen dürfen: »Er springt, und wirft den Hut in die Luft«203 . Und der hilfsbereite Lehrer ist seinerseits über so viel Dankbarkeitsbekundungswillen hoch erfreut: »So recht, ihr Lieben! Es freut mich herzlich, daß ihr unser Glück, einen so lieben, menschenfreundlichen Fürsten zu haben, schon zu schätzen wißt. Ich umarme euch dafür.«204 Schließlich, auch das legt der Text den sich selbst zur Aufführung bringenden Kindern in den Mund und darüber ins Gemüt, ist die von allen Figuren des Stückes permanent bestätigte Großzügigkeit des Fürsten und seiner Gattin Ausdruck einer für den Philanthropismus typischen Modellierung von Autorität im Sinne einer patriarchalen Familienlogik, die Gehorsam einfordern kann nicht aufgrund von Strenge, sondern affektiver Zuneigung. Aus dem Fürsten- wird so ein fürsorgliches Elternpaar. Im Bezug auf den Fürsten sagt August: »Nun sah Er da nicht leibhaftig so aus, als wenn er unser aller Vater wäre?« Und hinsichtlich der Fürstin gibt Philipp unumwunden zu: »Ich glaube, ich würde meine Mutter vergessen können, wenn ich immer bey Ihr wäre!//August: Das geht andern Leuten auch so.«205 Doch nicht nur als Dramatiker schließt Campe, für den eine solche Betätigung eher die Ausnahme bleibt,206 an die Koordinaten des philanthropistischen Kinderschauspiels an, er beschließt mit einer entsprechenden Position auch seinen vor allem hinsichtlich der vorgetragenen Theaterkritik vorgestellten Dialog Soll man Kinder Komödien spielen lassen. Die hier bezeichnenderweise von C. formulierten Anforderungen entsprechen, gleichwohl sie mit weniger Emphase vorgetragen werden, grundsätzlich denen, die auch der Anonymus im Wochenblat und Wolke für die ausdrücklich affirmierten kleinen Hausbühnen aufstellen: C. plädiert für Figuren, deren Verkörperung eine pädagogisch wünschenswerte Einformung bedingt – also für »solche dramatische Stücke […], worin kein einziger Character vorkommt, den man den Kindern nicht zum Muster der Nachahmung ausstellen kann.«207 Er legt außerdem den Status des Theaters als einer möglichen Freizeitgestaltung fest; als Spiel, das sich in der Handhabung nicht von anderen Spielen der Zöglinge unterscheiden soll: Es sei »ihnen eine solche Unterbrechung ihrer nützlichern Beschäftigungen, nur selten erlaubt, und ihnen die Sache nicht zu einer wichtigen 202 203 204 205 206 207

[Campe]: Der Geburtstag des Fürsten, S. 374. Ebd., S. 378. Ebd. Ebd., S. 370f. Vgl. zu diesem Autoritäts- und Gehorsamsmodell ausführlicher III.3.2. Vgl. Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 104f. Campe: Soll man Kinder Komödien spielen lassen, S. 218.

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Angelegenheit, wobei Ehre oder Schande zu erwecken steht, sondern lediglich zu einem kindischen Spiele, ohne alle weitere Bedeutung, werden läßt.«208 Schließlich bestimmt C. auch die Aufführungssituation samt zugehöriger Rezeptionshaltung: Man soll »der ganzen Sache bloß die Form einer häuslichen Familienergötzlichkeit [geben], alle fremde Zuschauer davon entfern[en], und alles aufblähende Lobpreisen vermeide[n].«209 Seine Position markiert hier mit dem Schluss des Textes auch die Schließung des philanthropistischen Theaterdiskurses, der, so zeigt sich, kindliches Theaterspiel als eine edukative Spielform unter anderen mindestens zulässt, wenn nicht sogar aktiv befürwortet, solange es einer pädagogisch integren Darstellung verpflichtet bleibt, die sich vor den Blicken ausgewählter, vornehmlich erziehungsberechtigter Kreise vollzieht.210 Maßgeblich gespeist wird dieser Diskurs, so konnte gezeigt werden, von dem der reformierten Schaubühne – etwa hinsichtlich theatraler Wirkmächtigkeit und dramatischer Form –, dessen Elemente jedoch im Hinblick auf die im Fokus stehenden Darsteller-Zöglinge modifiziert und den philanthropistischen Prämissen angepasst werden. Die gleichwohl bestehende Differenz zwischen beiden Diskurssträngen verläuft entlang des Status der Professionalisierung und einer damit verbundenen Öffentlichkeit. Die Darsteller der Kindertheater sollen mittels der kleinen, kaum als solche hervorgehobenen Hausbühnen gehorsame Zöglinge und nützliche Bürger werden, wo man aber »die Absicht hat, gute Schauspieler aus ihnen zu ziehen, [muß man] das Komödienspielen bleiben lassen.«211 In einer entprofessionalisierten Form jedoch, die den Anforderungen der Kindgemäßheit genügt, zeigt sich das Kindertheater im Diskurs der Pädagogen als philanthropistische Variante der moralischen Anstalt.

3   Die Histrionisierung des Erziehers Mit der Institutionalisierung und Professionalisierung der Pädagogik gerät auch der Status und das Anforderungsprofil ihrer ›ausführenden‹ Instanz in den Blick. 208 Ebd., S. 219. 209 Ebd. Die Behauptung, »daß sich Theaterspiel für Kinder [unter diesen Bedingungen] erübrigt« (Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 102), wird man vor dem hier vorgestellten diskursiven Hintergrund nicht aufrecht halten können. Noch weniger jedoch Papes Schlussfolgerung, dass »[d]ie Forderungen […] auf eine Ächtung des Schauspiels für Kinder hinaus[laufen]« (Das literarische Kinderbuch, S. 227f.). 210 Cs. Position, so lässt sich nun präzisieren, stellt auch keinen vermittelnden »Kompromiß« (Dettmar: Das Drama der Familienkindheit, S. 75) dar, der zwischen den vermeintlichen Kontrahenten A. und B. eine Art Verlegenheitslösung anzubieten versucht. Sie bedeutet vielmehr einen die Diskussion beschließenden Anschluss an das (Kinder-)Theater, das sich im Diskurs der Pädagogen herausgebildet hat. 211 Campe: Soll man Kinder Komödien spielen lassen, S. 219.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Eine zentrale Rolle im pädagogischen Diskurs der Philanthropisten nimmt dementsprechend der Erzieher ein. Ihm obliegen nicht nur Leitung und Formung des Zöglings in einem in der Reformpädagogik spezifisch ausgestalteten Verhältnis, er ist auch über dieses Verhältnis hinaus für den Erfolg (oder eben Misserfolg) der Erziehung verantwortlich zu machen. Erfolgreich wird sein Unterfangen gewesen sein, wenn der Zögling die ihm angediehenen Erziehungsinhalte als seine eigenen verinnerlicht hat, wenn er von sich aus will, was er wollen soll und also der Erzieher nicht mehr tatsächlich präsent zu sein hat, allerdings, in eine dauerhafte Selbstüberprüfung übersetzt, gleichwohl funktional als Teil dieser Verinnerlichung erhalten bleibt. Im Fokus steht vor diesem Hintergrund im Folgenden zunächst die vom Philanthropismus angestrebte Professionalisierung der eigenen Tätigkeit (3.1). Für den Erzieher, dessen Status zwischen Beruf und Berufung changiert, wird dabei ein Anforderungskatalog aufgestellt, der, um Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe zentriert, eine Profilverwandtschaft von professionellem Erzieher und Theaterautor erkennen lässt. Anschließend geht es um die mit diesem professionellen Selbstverständnis einhergehende, spezifisch philanthropistische Gestaltung des Verhältnisses von Erzieher und Zögling, das die Voraussetzung jeglicher erzieherischen Einwirkung bildet (3.2.1). Damit ist die diskursive und programmatische Rahmung gesetzt, innerhalb derer sich eine für die Erzieherfigur konstitutive Form von Theatralität aufzeigen und untersuchen lässt (3.2.2). Denn um innerhalb des auf Vertrauen und Freundschaft beruhenden Verhältnisses zum Zögling erzieherisch wirken, das heißt, um anschaulich unterrichten und seine Erziehungsinhalte vor allem über sich selbst veranschaulichen zu können, muss die Präsenz des Erziehers, sein Agieren und Auftreten, entsprechend hergerichtet sein. Die Hauptvorlage für eine solche wirkmächtige, körperlich wie sprachlich kontrollierte pädagogische Performanz ist der natürlich agierende, seine Künstlichkeit verbergende Schauspieler, wie er im Diskurs des reformierten Theaters zur Darsteller- wie Darstellungsnorm erklärt wird. Als Hauptakteur der programmatisch geforderten, pädagogischen Evidenz wird der Erzieher also, so die zugrundeliegende These, histrionisiert, um sowohl Anschaulichkeit als auch Gewöhnungseffekte zu gewährleisten. Diese Histrionisierung des Erziehers gilt es in ihren Voraussetzungen, Funktionen und Effekten aufzuzeigen, sowohl hinsichtlich seines Auftretens und seiner Interaktion als auch hinsichtlich seiner dann im Folgekapitel untersuchten Methodik.

3.1   Praktiker und Menschenkenner: Der Erzieher zwischen Beruf und Berufung Die Professionalisierung der Pädagogik betrifft neben ihrer Institutionalisierung auch und vor allem die pädagogische Tätigkeit selbst und das ihr gleichermaßen

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Das Maß und die Nützlichkeit

zugrunde liegende wie in ihr zum Ausdruck gebrachte, berufliche Selbstverständnis.212 Im Zentrum des philanthropistischen Diskurses steht dabei der Erzieher, der, wie sich im Folgenden zeigen wird, als Oberbegriff die Einheit einer Differenz von Funktionen, Aufgaben, aber auch Status verbürgt: Erzieher und Lehrer, Beruf und Berufung, oder personenunabhängige, übertragbare Funktion. Am deutlichsten trennt hier zweifellos Trapp, der Erziehung und Unterricht jedoch in einem spezifischen Verhältnis fasst: »Oder ist Erzihung und Unterricht, Lehrer und Erziher einerlei? In meinen Augen nicht. Unterricht ist mir blos ein Teil der Erziehung; und einer kan ein guter Lehrer sein, one darum schon den Namen eines Erzihers zu verdienen«213 . Umgekehrt aber, so wird man erstens schließen dürfen, gehört es zum Profil des Erziehers, auch zu unterrichten. Es ist eine seiner möglichen Aufgaben.214 Dies entspricht durchaus dem Selbstverständnis der Dessauer Pädagogen und der Einrichtung des Philanthropins, in dessen Printorgan, den Pädagogischen Unterhandlungen, Trapp das universitär angebundene Lehrinstitut in Halle vorstellt, dessen Leitung er zusammen mit seinem Lehrstuhl innehat. Gemäß ihrer institutionellen Zugehörigkeit bezeichnen sich die Pädagogen am Philanthropin als Lehrer oder Professoren.215 Sie agieren aber durchgehend immer auch als Erzieher, wie sich in der spezifischen Gestaltung des Verhältnisses der dort zusammenlebenden Pädagogen und Zöglinge zeigt. Dem Umfang ihrer Tätigkeit trägt nicht zuletzt der Anspruch des Philanthropins Rechnung, »Mängel des Schulwesens« und »Mängel[] des Erziehungswesens«216 zu beheben. Am Dessauer Musterinstitut wird so das philanthropistische Programm umgesetzt, Erziehung und Unterricht, aber eben auch freie Zeit, sowohl räumlich‐institutionell als auch methodisch an die Schwelle einer Ununterscheidbarkeit zu führen.

212 Wesentliche Kriterien dieser Professionalisierung, wie sie sich aus »einer Vielzahl von Reformforderungen« destillieren lassen, hat Niklas Luhmann mit Fokus auf den schulischen Lehrberuf zusammengefasst, vgl. Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 150. Sie gelten weitgehend auch für die hier zentral gesetzte Instanz des Erziehers: Hauptberuflichkeit statt Übergangsstation; Autonomie der Berufspraxis, die – dies gilt es zu ergänzen – im Philanthropismus gleichwohl eingespeist ist in die Logik einer Pädagogisierung, die den Erzieher immer zum Subjekt und Objekt der Erziehung zugleich macht; Reputationsverbesserung der Tätigkeit, vgl. ebd. und für den breiteren Kontext S. 142-167. 213 Ueber das Hallische Erzihungsinstitut, von E.C. Trapp, in: Pädagogische Unterhandlungen, 5. Jahrgang 1782-84, 1. Quartal, S. 32-70, hier: S. 32. Vgl. zu dieser so konsequent wohl nur bei Trapp und insbesondere in seinem Versuch einer Pädagogik auf theoretischer Ebene vollzogenen Trennung von Erziehung und Unterricht, Pädagogik und Didaktik Luhman: Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft: S. 128-131. 214 Vgl. Simone Austermann: Die »Allgemeine Revision«. Pädagogische Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 2010, S. 92. 215 Vgl. etwa [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins. 216 Ebd., S. 23 und 29.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Zweitens, so schwingt in Trapps Formulierung mit, kommen in der (Neu-)Aufstellung der im sich ausdifferenzierenden Erziehungssystem entstehenden Berufe im Philanthropismus die höchsten Weihen dem Erzieher zu. Diese Hierarchisierung lässt sich auch aus den Strukturen seines eigenen Instituts herauslesen: »Nimand wird doch wol mit mir zanken, wenn er findet, daß dise Einrichtungen mehr als den Lehrer, daß sie eigentlich schon den Erziher bilden.«217 Eine solche ›Spitzenstellung‹ des Erziehers resultiert aus der Wichtigkeit seiner Aufgabe, die wiederum die hohen Ansprüche der Pädagogen an die Pädagogen rechtfertigt. Aufgestellt wird in diesem Sinne ein umfangreicher Katalog an Qualifikationen, der Beruf und Berufung miteinander verknüpft und in dem »[d]ie Anforderungen […] geklärt werden«218 , die eine sich professionalisierende Pädagogik auch in Folge ihres Professionalitätsanspruches aufstellen muss. Was in dieser Hinsicht am naheliegendsten erscheint, eine »Einsicht in die Erziehungskunst«219 , wie etwa Salzmann sie anmahnt, kann jedoch noch eigentlich nicht gefordert werden. Denn diese ›Kunst‹ gilt es überhaupt erst auf allgemein lehr- und lernbare Standards und Vorgehensweisen zu verpflichten, die ihrerseits nicht einfach gesetzt werden können, sondern auf Basis »guter pädagogischer Grundsäze«220 zu entwickeln sind. Diese Grundsätze allerdings werden allein über ihre Operationalisierbarkeit in der Praxis Verbindlichkeit beanspruchen können. Sie sind also prozessual zu entwickeln, »zu erprüfen, zu berichtigen, und gegen einander in das nöthige Gleichgewicht zu bringen; denn sonst erreicht man wieder seinen Zwek nicht. Und wie geschieht dis? – Ganz natürlich durch Versuche, durch vielfältig wiederholte Versuche und Erfahrungen.«221 An diesem wechselseitigen Bezug von Praxisoptimierung und Theorieentwicklung wird idealiter jeder Erzieher partizipieren. Einerseits ruht seine Praxis auf den Grundsätzen einer sich darüber ausdifferenzierenden, empirischen Wissenschaft, andererseits bildet diese Praxis überhaupt erst die Grundlage dieser Grundsätze, die, einmal bestimmt, in ihrem Vollzug beständig überprüft, optimiert und diskursiviert werden. 217 Trapp: Ueber das Hallische Erzihungsinstitut, S. 42. 218 Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 154. Was Luhmann hier im Kontext des entstehenden Schulsystems Ende des 18. Jahrhunderts und mit Fokus auf die damit verbundene »professionelle als auch die organisatorische Respezifikation« (ebd., S. 153) hinsichtlich der Professionalisierung des schulisch tätigen Lehrers betont, gilt gleichermaßen für den nicht minder von einer professionellen Respezifikation betroffenen Erzieher. Vgl. zu Anforderungen und Berufsprofil mit stärkerem Fokus auf das Revisionswerk Austermann: Die »Allgemeine Revision«. Pädagogische Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert, S. 99-104. 219 Christian Gotthilf Salzmann: Einige Gedanken über die Notwendigkeit und den Vorzug öffentlicher Erzihungsanstalten, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 2. Quartal, S. 162-198, hier: S. 175. 220 [Anonym]: Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten, S. 73. 221 Ebd., S. 101.

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Seine Erfahrungen müssen dabei jedoch in der Einsicht münden, dass »eine volständige Samlung zwekmäßiger Erziehungsgrundsäze« nicht nur »ein Werk […] vieler Jahre [ist], wie der Augenschein lehrt«222 , sondern in letzter Konsequenz überhaupt nicht zu bewerkstelligen ist. Dies verhindert die empirische Ausrichtung selbst. Denn in der angenommenen und auch berichteten Vielzahl der Erfahrungen wird es immer solche geben, die sich nicht unter den bisherigen Regelbestand subsumieren lassen und so eine Vollendung dieser Art ›Sammlung‹ beständig aufschieben. Zeitschriften wie die Pädagogischen Unterhandlungen verstehen sich gleichwohl als Plattformen, um die einzelnen Erfahrungsberichte, aus denen sich nach und nach pädagogisches Wissen zusammensetzen soll, zu bündeln und ihrem pädagogisch interessierten oder Fachpublikum vorzustellen. Diese Aufbereitung macht aus den Erfahrungen Fälle und die wiederum zum Fundament der entstehenden Wissenschaft sowie zum Reservoir eines praxisorientierten Vergleichswissens.223 »Die algemeinen Regeln,« so berichtet es ein anonymer Einsender in den Pädagogischen Unterhandlungen, »wodurch einige trefliche Männer uns in der so mühvollen Erziehungskunst weiter geholfen haben, thaten mir nicht selten gute Dienste; besonders die, welche sich dem ofnen gesunden Menschenverstand gleich als zwekmäßig empfohlen, und bei ihrer Anwendung keine künstlichen Veranstaltungen erfoder=derten[!]. Doch oft verließen sie mich auch, und das weder aus ihrer noch meiner Schuld, sondern, weils die Natur der Sache so mit sich bringt; und dan half mir entweder ein guter Freund, oder ein ähnlicher Fal, oder ein guter Genius, das ist, ich selbst, zurecht, so gut ich konnte.«224 Diese ›Natur der Sache‹, die eine vollständige Übertragung von Empirie auf Theorie unterläuft, beruht auf einer bestimmten Perspektive der Pädagogen auf ihre Zöglinge. Einheitliche Erziehungsgrundsätze sollen auf Grundlage einer Differenzbeobachtung aufgestellt werden: der »Unterscheidung der individualen körperlichen 222 Ebd., S. 99 und 101. 223 Vgl. Susanne Düwell/Nicolas Pethes: Fall, Wissen, Repräsentation – Epistemologie und Darstellungsästhetik von Fallnarrativen in den Wissenschaften vom Menschen, in: dies. (Hg.): Fall – Fallgeschichte – Fallstudie. Theorie und Geschichte einer Wissensform, Frankfurt a.M./New York 2014, S. 9-33; Margret Kaul: Erziehungsgeschichten und Lebensgeschichten in der Pädagogik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800, Tübingen 1998, S. 11-28; Pia Schmid: »beobachtet, und dann – schreibet!« Anfänge der empirischen Kinderforschung von Kindern im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Dorle Klika, Hubertus Kundert, Volker Schubert (Hg.): Bildung als engagierte Aufklärung. Ernst Cloer zum 60. Geburtstag, Hildesheim 2000, S. 7-24; Heidrun Diele: »Kalter Zuschauer« und »Brennspiegel«. Beobachtungen in den Pädagogischen Unterhandlungen, in: Jörn Garber (Hg.): »Die Stammutter aller guten Schulen«. Das Dessauer Philanthropinum und der deutsche Philanthropismus 1774-1793, Tübingen 2008, S. 209-228. Dazu mehr im Kontext von III.4. 224 [Anonym]: Brief eines Ungenanten an das Institut, S. 326.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

und geistigen Beschaffenheit der Kinder«225 . Auf diese Individualität hin, die es gleichwohl zu formen und zu individualisieren gilt, hat die pädagogische Praxis ausgerichtet zu sein, um überhaupt erzieherisch wirken zu können. Von ihr aus nimmt Erziehung ihren Ausgang: »So wie jeder Knabe seine eigene Form des Fußes hat, so hat auch jeder seinen eigenen Charakter und seine eignen Talente. Wollt ihr nun die Knaben mit ihren verschiedenen Charaktern und Talenten auf einen Fuß oder, wie man auch zu sagen pflegt, über einen Leisten behandeln, so wird diese Behandlungsart immer den wenigsten angemessen sein; wollt ihr nun dieses den Knaben als Untugend anrechnen und sie eurer Behandlungsart anzupassen suchen, so handelt ihr mit ebenso weniger Überlegung als derjenige, der die Füße nach den ihnen bestimmten Stiefeln formen wollte.«226 Die Erziehung muss also den Spagat vollziehen, einerseits der Individualität des Zöglings vollends gerecht zu werden und sie anderseits im Erziehungsprozess zugleich mit einem über diese Individualität hinausweisenden, fachspezifischen Regel- oder Grundsatzwissen zu vermitteln, das sich wiederum zu einem großen Teil aus dieser Vermittlung speist. Dies führt wieder zu den vom Erzieher geforderten Berufsqualifikationen. Da es die »individuelle Beschaffenheit«227 des Zöglings zu entdecken gilt, um die Erziehung darauf hin abstimmen zu können, bedarf der Erzieher einer überaus anspruchsvoll konzipierten Fähigkeit zur Beobachtung sowie eines in dieser Fähigkeit zum Ausdruck gebrachten, sich ungefähr zeitgleich konsolidierenden und von der Pädagogik mitgenerierten Wissens vom inneren Menschen: Ein »gewissenhaftes Studium der menschlichen Seele ist darum das erste Erfordernis eines Erziehers.«228 Dabei handelt es sich weniger um ein gelehrtes, als vielmehr um ein Anwendungswissen, das mit denjenigen anthropologischen Zusammenhängen vertraut macht, auf die die Pädagogen modellierend zuzugreifen trachten. Eine solche »Menschenkenntniß« ist für den Erzieher tatsächlich wesentlich entscheidender 225 [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 33; vgl. auch Pethes: Zur doppelten Funktion der Medien S. 63f. 226 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 167f. Heinz-Elmar Tenorth spricht in Zusammenhang mit dieser Individualität vom »problematische[n] Ausgangspunkt« (»Lehrerberuf s. Dilettantismus«. Wie die Lehrprofession ihr Geschäft verstand, in: Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr (Hg.): Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt a.M. 1986, S. 275-322, hier: S. 290) der Erziehung; Luhmann in Abgrenzung zum Neuhumanismus, von einem »Grenzbegriff« (Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, S. 147). 227 [Anonym]: Einige Scenen aus meiner Kindheit, in: Pädagogische Unterhandlungen, 5. Jahrgang 1782-84, 4. Quartal, S. 492-503, hier: S. 493. 228 [Anonym]: Zufällige Gedanken über die ersten Eindrükke und frühern Empfindungen bei Kindern, in: Pädagogische Unterhandlungen, 5. Jahrgang 1782-84, 4. Quartal, S. 503-516, hier: S. 515. Vgl. dazu ausführlicher III.4.

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als etwa eine damit in Kontrast gesetzte, umfassende »Gelehrsamkeit«229 . Erstere verschafft ihm ein tiefes, oder genauer, in die Tiefe gehendes Verständnis seines Gegenstandes und liefert damit die Grundlage seiner Tätigkeit: Wer über die Formung und Lenkung von Innerlichkeit erzieherisch auf Menschen einwirken will, muss mit dieser Innerlichkeit, ihren Regungen, Dynamiken und Impulsen vertraut sein. Diese Kernanforderung hat der professionelle Erzieher mit seinen Theaterkollegen, den Dramatikern und auch den Schauspielern gemein.230 Gelehrsamkeit hingegen wird unter dem Primat von Nützlichkeit als wenig praxistauglich und vor allem als bei jüngeren Zöglingen unangemessen zurückgewiesen und durch ein kindgemäßeres Vermittlungswissen ersetzt. »Was von aller eurer Gelehrsamkeit könnt ihr denn in diesem euern Wirkungskreise benutzen? Fast gar nichts. Diese Kleinen hängen noch ganz an der sichtbaren Welt, durch deren Betrachtung sich ihr edlerer Teil entwickeln und für übersinnliche Vorstellungen Empfänglichkeit erwerben soll, und ihr – seid in der sichtbaren Welt Fremdlinge.«231 Vom (angehenden) Erzieher fordert Salzmann daher nachdrücklich, in dieser sichtbaren Welt zuhause zu sein, weil er nur hier dem Entwicklungsstand seiner Zöglinge angemessene Gegenstände vorfinden kann. Wichtig sind daher Kenntnisse der Natur, von Flora und Fauna sowie der auch in der kindlichen Lebenswirklichkeit präsenten »Erzeugnisse des menschlichen Verstandes, der Werkzeuge, Gefäße, Kleidungsstücke und Hausgeräte«232 . Sie alle können aus dem unmittelbaren Kontakt sogleich in eine Unterrichtssituation überführt werden und legitimieren sich als solche gerade aufgrund ihrer lebensweltlichen Nähe und der damit verbundenen Anschaulichkeit, denn: »Das Kind will seine Kräfte üben an sinnlichen Gegenständen: wie kann es dies, wenn ihm keine vorgezeigt werden?«233 Die geforderten Kenntnisse konturieren als Berufsqualifikationen die Profession des Pädagogen. Sie gehen im Wechselspiel von Praxisbezug und Theoretisierung ein in ein »Berufswissen, in dem die dann erwarteten Kompetenzen benannt

229 [Anonym]: Pädagogische Gespräche über mancherley unerkannte Erziehungssünden, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 10. Stück, S. 896-946, hier: S. 898. . 230 Vgl. II.4 und II.6. 231 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 193. 232 Ebd., S. 190. Ähnlich hält es auch der Erzieher-Vater in Campes Robinson 233 Ebd., S. 181. Wie ein solcher, katechistisch anmutender Unterricht anhand von den Zöglingen sinnlich zugänglichen Gegenständen organisiert sein kann, führt Salzmanns Text am Beispiel eines Kanarienvogels (vgl. S. 182-184) und einer Handsäge (vgl. S. 190f.) vor. Vgl. zu diesem Fokus auf die Gegenstände und Vorgänge der kindlichen Umgebung vor dem Hintergrund eines pädagogischen aptum Lohmann: Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit, S. 46f. und, mit Schwerpunkt auf das Ameisenbüchlein, S. 43-48.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

und so geordnet werden, daß die Tätigkeit lehrbar und kontrollierbar wird«234 . Eine solche von den Philanthropisten für den Erzieher vorgenommene ›Ordnung der Kompetenzen‹ weist aber an einschlägigen Stellen über den lehr- und lernbar zu machenden Beruf hinaus: »Wehe dem Erziher, der sein Ideal in drei Tagen erreichen kan«235 , warnt Trapp und macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass der Aufstellung dieses spezifischen Anforderungsprofils eine durchaus kalkulierte, anspornend gedachte Unerreichbarkeit eingeschrieben ist: »[S]o last uns vor der Hand mit denen zufrieden sein, die sich aufrichtig bemühen, jenem Muster nach Vermögen ähnlich zu werden«236 , relativieren etwa die Dessauer Pädagogen die zuvor präsentierten Erwartungen an ihre Profession. Der philanthropistische Diskurs bringt so in der Formierung der eigenen Tätigkeit als Beruf ein idealisches Moment ins Spiel, das neben der (Selbst-)Nobilitierung und beruflichen Distinktion als Fix- und Orientierungspunkt dienen soll: »Mag man mir immer vorwerfen, meine Idee vom Erziher sei zu hoch: ich werde sie nicht faren lassen, so lange ich eines Urbildes bedarf, nach dem ich mich und meine jungen pädagogischen Freunde modele.«237 Was dieses Ideal kennzeichnet, ist neben der durchaus ambitionierten, aber nicht unmöglichen Erfüllung der genannten Anforderungen allerdings eine Überlagerung von Beruf und Berufung, deren distinktive Komponente nicht wie ein Wissensdefizit überwind- weil abbaubar ist, sondern die Zugangsbeschränkungen auf einer ganz anderen Ebene produziert. Der Berufsausbilder und pädagogische Theoretiker Trapp spricht von denen, die »von der Natur den Beruf zum Erziher ha[ben]«238 , woraus nun folgt, dass dies nicht bei jedem der Fall ist. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein fakultatives Surplus, die Philanthropisten implementieren vielmehr im Kern ihrer eigenen Profession eine Unverfügbarkeit, die als denkbar strenges Kriterium selegiert, wer in die »Gesellschaft der Erzieher« aufgenommen werden kann: Bei Salzmann wird diese je individuelle Veranlagung des Pädagogen die Voraussetzung gelingender Erziehung: 234 Tenorth: Wie die Lehrprofession ihr Geschäft verstand, S. 290. Eine auf solchem Berufswissen beruhende und dieses Wissen zugleich mit hervorbringende Pädagogik des späten 18. und 19. Jahrhunderts stellt Tenorth einer von ihm kritisch betrachteten »hermeneutischen Pädagogik« gegenüber, die sich im 20. Jahrhundert auf Grundlage einer geisteswissenschaftlicher Theorie herausbildet. Sein Vorwurf: »Die hermeneutische Pädagogik bietet nämlich nur eine Hypostasierung und Umdeutung praktischer Schwierigkeiten in einen Verstehensbegriff, der selbst aber weder als wissenschaftliche Methode präzisiert, noch als Handlungsmöglichkeit der Lehrer und Erzieher nützlich ist und die Theorie der Erziehung eher blockiert.« (Ebd., S. 277) 235 Trapp: Ueber das Hallische Erzihungsinstitut, S. 34 236 [Anonym]: Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten, S. 92 237 Trapp: Ueber das Hallische Erzihungsinstitut, S. 33f. 238 Ebd., S. 33. Auch in der Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten wird die »seltne, natürliche Anlage« (S. 92) hervorgehoben.

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»[S]o ist es auch nicht jedes Menschen Sache, das Geschäfte der Erziehung mit gutem Erfolg zu treiben. Es gehört dazu eine eigne natürliche Anlage. Man kann in hohem Grade rechtschaffen und weise sein, viele Wissenschaft und mannigfaltige Geschicklichkeit besitzen und doch, wenn jene Gabe fehlt, unvermögend sein, auf Kinder zu wirken und sie zu lenken.«239 Im Zentrum dieser natürlichen Anlage stehen, als Voraussetzung noch der bei Salzmann genannten Einwirkung und Lenkung, einige charakterliche Eigenschaften, die den Erzieher überhaupt erst befähigen, in einer den Erziehungsabsichten dienlichen Weise mit seinen Zöglingen umzugehen: »Sanftmuth, Neigung, unermüdete Geduld und Thätigkeit, sich mit Kindern abzugeben, und für ihre kleine Angelegenheiten zu interessiren.«240 Ohne eine solche, grundsätzliche Zuneigung geht es nicht, allen übrigen Talenten und Fertigkeiten zum Trotz. Bei Stuve etwa heißt es in diesem Sinne: »Deswegen glaube ich, daß durchaus niemand zum Lehrer und Erzieher, vorzüglich der kleinern Jugend, Brauchbarkeit hat, wenn er nicht von jenem lautern Wohlwollen und einer recht innigen Liebe und Zuneigung zu den Kindern beseelet wird.«241 Beruf und Berufung des Erziehers sind jedoch nicht als Alternativen gesetzt,242 sondern werden im philanthropistischen Diskurs aufeinander bezogen: Die Berufung liegt dem Beruf zugrunde, der Beruf aber wird die natürliche Anlage mit fachspezifischem Wissen anreichern, also in eine objektiven, dauerüberprüften Kriterien entsprechende Form bringen und operativ effizienter machen. Dieser Zusammenhang liegt etwa Salzmanns Ameisenbüchlein zugrunde, das zwar die Notwendigkeit einer natürlichen Anlage betont, sich aber zugleich als Anleitung zur Erziehung professioneller Erzieher versteht. Mit seinem dort als deren Grundlage aufgestellten Symbolum, das zweifellos als »Verpflichtung der Berufsinhaber auf das Berufsethos«243 verstanden werden soll, wird allerdings zugleich noch eine dritte Spielart des Erziehers aufgerufen: »Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in sich selbst suchen«244 , heißt es zunächst. Eine solche, auf Dauer gestellte Selbstdurchsuchung betrifft aber nicht nur den (angehenden) professionellen Erzieher als eigentlichen Adressaten des Textes. Die Kernforderung macht viel mehr deutlich,

239 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 155 und 232. 240 [Anonym]: Von der gegenwärtigen Beschaffenheit und Einrichtung unsers Instituts, S. 614. 241 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 419. 242 Für die in Folge der »Ausdifferenzierung eines Systems schulischer Erziehung« im gleichen Zeitraum entstehenden »Schwierigkeiten im Bereich der Professionalisierung des Lehrberufs« stellt Luhmann fest: »Man konnte von Berufen sprechen und damit auf Rollendifferenzierung, aber auch auf innere Berufung anspielen.« (Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 145) 243 Tenorth: Wie die Lehrprofession ihr Geschäft verstand, S. 290. 244 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 155.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

dass der Begriff des Erziehers neben der Profession auch eine pädagogische Funktion bezeichnet, die nicht notwendig an eine Person gebunden ist. Denn der Appell zur permanenten Selbstdurchsuchung richtet sich dezidiert auch an die im philanthropistischen Diskurs nicht immer allzu gut bedachten Eltern: »Ihr, liebe Eltern, seid auch die Erzieher eurer Kinder. Habt ihr gleich die Erziehung derselben zum Teil einem andern übertragen, so nehmet ihr doch noch immer, auf eine nähere oder entferntere Art, daran Anteil. Für euch ist also mein Symbolum auch niedergeschrieben. Überdenkt, beherziget es und macht die Anwendung davon auf euch selbst. Statt die Untugenden eurer Kinder dem Erzieher zur Last zu legen, suchet den Grund davon in euch. Der Erzieher sucht ihn in sich, ihr sucht ihn in euch, und jeder Teil bessert da, wo er findet, daß er gefehlet habe. So wird alles recht gut gehen.«245 Bei just dieser pädagogischen Aufteilung mag es sich eher um eine Ausnahme handeln. Salzmann selbst hatte noch im Umfeld des Dessauer Philanthropins die Eltern dezidiert von den pädagogisch befähigten Erziehern unterschieden und dafür plädiert, die Erziehung ausschließlich letzteren in einem institutionalisierten Rahmen – wie eben den Philanthropinen –, also den ›Profis‹ zu überlassen.246 Aber auch und gerade hier ist für die Erziehung keine Einzelperson verantwortlich, sondern der die Erziehungsinstitution ausmachende Pädagogenverbund, dessen »verschidene[] Glider[]« sich mit »der Uebernemung der Aufsicht über die Zöglinge abwechseln.«247 So geschieht es etwa in den raumzeitlich minutiös durchgetakteten Instituten in Dessau oder Halle.248 Und auch im pädagogischen Arrangement der Rahmenhandlung von Campes Robinson der Jüngere unterstützen die »zwei Freunde des Hauses, R** und B**« (RdJ, S. 19) die narrative Erziehungsarbeit des ErzieherVaters. Insofern übernimmt durchaus »[i]m Idealfall […] jede erwachsene Person, die im Umfeld eines Kindes agiert, die Rolle des Erziehers.«249 Zu diesem Ideal, so muss hier ergänzt werden, gehört allerdings, dass die Erwachsenen im Umfeld des Zöglings pädagogisch qualifiziert, also professionelle Erzieher sein oder wenigstens eine Veranlagung dazu mitbringen sollten. Alle genannten Akzentuierungen des Erzieherbegriffs sind, den Binnendifferenzen zum Trotz, der gleichen Grundüberzeugung verpflichtet: Der Erziehung kommt eine beispiellos hohe gesellschaftliche Bedeutung zu, die sie vor anderen 245 Ebd., S. 170. 246 Vgl. Salzmann: Einige Gedanken über die Notwendigkeit und den Vorzug öffentlicher Erzihungsanstalten, S. 178-185. Dort heißt es etwa unmissverständlich auf S. 178: Die Eltern »besizen keine von den Eigenschaften, die ein Erziher notwendig haben mus.« 247 Ebd., S. 186. 248 Vgl. etwa für Dessau Von der gegenwärtigen Beschaffenheit und Einrichtung unsers Instituts, S. 614-619 und Trapp: Ueber das Hallische Erzihungsinstitut, S. 61-66. 249 Austermann: Pädagogische Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert, S. 93

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nützlichen Tätigkeiten noch einmal besonders auszeichnet. In ihrem unmittelbaren, gezielten Einwirken auf die zukünftigen Akteure des menschlichen Zusammenlebens, ist sie im Stande, die Voraussetzungen für eine umfangreiche und vor allem nachhaltige soziale Optimierung zu schaffen. Deren Ausgangspunkt ist die pädagogische Formung des Einzelnen und ein daraus resultierender Schneeballeffekt der Pädagogisierung: »Diese [die Erziehung – AW] schafft dir Gelegenheit, für Menschenwohl recht tätig zu sein. Wer Moräste austrocknet, Heerstraßen anlegt, Tausenden Gelegenheit verschafft, sich ihre Bedürfnisse zu verschaffen, Gärten pflanzt, Krankenhäuser stiftet, wirkt auch für Menschenwohl, aber nicht so unmittelbar und durchgreifend als der Erzieher. Jener verbessert den Zustand der Menschen, dieser veredelt den Menschen selbst. Und ist der Mensch erst veredelt, so geht aus ihm die Verbesserung von selbst hervor, und der Zögling, dessen Veredlung dir gelungen ist, hat Anlage, auf dem Platze, wohin ihn die Vorsehung stellt, den Zustand von Tausenden seiner Brüder angenehmer und behaglicher zu machen.«250 Die in diesem Kapitel untersuchte Professionalisierung der eigenen Tätigkeit soll gewährleisten, dass diese hohen Ansprüche, mit denen die philanthropistische Erziehung auftritt, auch umgesetzt werden können. Um aber individuell ›veredeln‹, kollektiv optimieren, rund um die Uhr präsent sein und dabei die elterliche durch eine bessere, professionelle Erziehung ersetzen zu können, sind all die Anlagen und Kenntnisse nutzlos, wenn sie nicht im Rahmen eines spezifischen Verhältnisses von Erzieher und Zögling zum Einsatz kommen, über das alle pädagogischen Operationen zielsicher, weil als solche gar nicht bemerkbar, verlaufen können. Die besondere Ausgestaltung dieses Verhältnisses im Philanthropismus gilt es im Folgenden näher zu betrachten.

3.2   Väterlicher Freund und vorbildlicher (Selbst-)Darsteller: Das Erzieher-Zögling-Verhältnis 3.2.1   Familienbande Das Selbstverständnis der Philanthropisten als Kinderfreunde darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Erziehung keineswegs zwischen zwei gleichberechtigten Partnern stattfindet, im Gegenteil: Konstitutiv für ihre Pädagogik ist eine »asymmetrische Struktur der Beziehung zwischen Erzieher und Zögling oder Lehrer

250 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 148.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

und Schüler«251 . Was diese Beziehung jedoch ausmacht, und das gerät bei dem Befund allein leicht aus dem Blick, ist die gleichermaßen konstitutive Kaschierung dieser Struktur. Wesentliches Charakteristikum der philanthropistischen Pädagogik ist es gerade, die Asymmetrie nicht offen auszuspielen, sondern ein Nahverhältnis zwischen Erzieher und Zögling zu etablieren, das sie vergessen machen soll. Auf dieser Nähe, die zwei verschiedene Modelle in einer affektiv verhüllten Ungleichheit zusammenfallen lässt, beruht der anvisierte Erfolg der Erziehung. Erzieher und Zögling sollen sich einerseits idealiter als Freunde begegnen, auf einer vermeintlichen Augenhöhe, die wechselseitiges Vertrauen rechtfertigt und befördert.252 Ein solcher Begegnungsmodus ist jedoch nicht nur Voraussetzung für, sondern selbst bereits Teil der Erziehung: »[W]ie viel Freundschaft und Vertrauen über einen Jüngling vermag, der beides werth ist! – Nichts erhebt ihn so sehr, nichts veredelt seine Gesinnungen besser, nichts reizt ihn mehr zu guter Wirksamkeit, nichts leitet ihn sichrer und leichter, nichts bewahrt ihn gewisser fürs Laster«253 . Andererseits jedoch findet die Relation von Erzieher und Zögling ihr strukturelles Vorbild in derjenigen Konfiguration von der sich die Pädagogen ihre Funktion her übertragen haben: der patriarchalisch organisierten Familie, wobei an die Stelle des paternalen Familienoberhaupts nun der Erzieher tritt.254 Der Philanthropismus markiert damit für die Verlagerung von häuslicher zu öffentlicher, schulischer Erziehung, wie sie sich um 1800 vollzieht, einen wichtigen Übergang. Wenn Luhmann feststellt: »Die Funktion der Erziehung wird von den Häusern auf die Schulen und von den Vätern auf die Lehrer übertragen«255 , bleibt 251 Luhmann: Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, S. 151. Luhmann sieht hier eine wesentliche Differenz zur neuhumanistischen Theorie, die das Verhältnis von Erzieher und Zögling respektive Lehrer und Schüler auf Grundlage des kantschen Sittengesetztes symmetrisch denkt. 252 Salzmann etwa macht deutlich, dass sich ein Erzieher dieses Vertrauen verdienen und sich ihm als würdig erweisen muss – zum Wohle seiner eigenen Absichten: »Mißbrauchst du das Zutrauen, das dir dein Zögling beweiset, plauderst du die Geständnisse aus, die er dir als seinem Freunde tut, hältst sie ihm wohl gar öffentlich vor und beschämst ihn deswegen – was lehrst du ihn? Verschlossenheit. Kannst du im Ernste verlangen, daß dieser junge Mensch dir seine Geheimnisse anvertrauen soll, da du sie nicht zu bewahren weißt? Daß er Offenherzigkeit gegen dich zeigen soll, wenn du sie ihm zum Verbrechen machst?« (Ameisenbüchlein, S. 161) 253 [Anonym]: Dritter Brief eines Ungenanten an das Institut, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 1. Quartal, S. 3-38, hier: S. 37. 254 Legitimiert wird diese Übertragung durch das sich ausbildende Berufswissen des professionellen Pädagogen, vgl. Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 111 und 176f. sowie, mit Bezug auf den Vater-Erzieher Reiner Wild: Die Vernunft der Väter. Zur Psychographie von Bürgerlichkeit und Aufklärung in Deutschland am Beispiel ihrer Literatur für Kinder, Stuttgart 1987, S. 165. 255 Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 138.

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ein reformpädagogischer Zwischenschritt ungenannt, der diese Funktionsübertragung erst mit ermöglicht.256 Zwischen Privathäusern und öffentlichen Schulen stehen die Philanthropine, zwischen Vätern und Lehrern die Erzieher, deren Funktionsprofil die ›natürliche‹ Autorität eines Familienoberhaupts mit freundschaftlicher Nähe und professioneller Unterrichts- und Freizeitgestaltung in einem institutionellen Rahmen strukturell verknüpft. Mit der Fokussierung auf das Schulsystem, das schnell zum »Kernsystem des ausdifferenzierten Erziehungssystems«257 avanciert, wird hingegen schon bald die ältere Funktionsstelle (Vater) ausgestrichen, deren Funktion (Erziehung) selbst jedoch als integraler Bestandteil beibehalten: Schulunterricht soll erziehender Unterricht sein.258 Für den Philanthropismus hingegen ist eine andere Verschränkung charakteristisch: Paternale Autorität und affektive Nähe werden in der Formel vom »väterlichen Freund«259 zusammengeführt. Dessen professionelle Lenkung grenzt sich von einer defizitären, weil das rechte Maß verfehlenden und damit schädlichen Erziehung im häuslichen Umfeld ab, die sich vielfach durch ein zu wenig oder zu viel an elterlicher Liebe auszeichnet, nämlich »wenn sie [die Eltern – AW] gegen ihre Kinder nicht anders als auffahrend, hart und lieblos handeln können, wodurch sie die Kinder nur schüchtern, sklavisch und boshaft machen würden; […] wenn sie ihnen eine übertriebene blinde Liebe beweisen, und zur Unzeit so viele Freuden zu verschaffen suchen, daß die Kinder nachher eigenwillig, ungefällig, unzufrieden und unglücklich werden[.]«260

256 Er wird gleichwohl an anderer Stelle zumindest angedeutet: »Die Philanthropie hatte die Aufwertung der schulischen Erziehung als öffentlicher Erziehung, als Staatserziehung mitgetragen.« (Luhmann: Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, S. 173) 257 Niklas Luhmann: Die Homogenisierung des Anfangs: Zur Ausdifferenzierung der Schulerziehung, in: ders.: Schriften zur Pädagogik. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M. 2004, S. 123-158, hier: S. 139. Zum ins Zentrum rückenden Schulsystem heißt es bei Luhmann und Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, S. 116: »Um die Jahrhundertwerde wird aber die Schule so sehr Zentrum aller Erziehungs- und Reformüberlegungen, daß die Pädagogik sich mehr und mehr auf den Schulunterricht konzentriert und ihm selbst Erziehungsleistungen abverlangt.« 258 Mit dieser Formel wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts Erziehung mit Schulunterricht gleichgesetzt, Niethammer etwa spricht schon 1808 ganz selbstverständlich vom »Erziehungsunterricht« (Philanthropismus – Humanismus, S. 106). Vgl. zu dieser Gleichsetzung Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 138f.; vgl. zu den grundlegenden, für die Pädagogik daraus resultierenden Problemen Luhmann und Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, S. 115-118. 259 [Anonym]: Von der gegenwärtigen Beschaffenheit und Einrichtung unsers Instituts, S. 618; vgl. außerdem ebd. S. 617. 260 [Anonym]: Von dem Verhältnisse des Erziehers zu seinen Zöglingen und deren Eltern, in: Pädagogische Unterhandlungen, 3. Jahrgang 1779/80, 1. Quartal, S. 91-124, hier: 106.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Doch machen derlei Erziehungsfehler das Kind nicht nur unglücklich und weitestgehend lebensuntauglich, sondern auch ungehorsam: Der von seinen Eltern »mit Unverstand« geliebte Robinson in Campes Roman, dem seine Eltern ausdrücklich seine Reisewünsche untersagen, bricht heimlich gen England auf und »ohne daß sie’s ihm erlaubt haben!« (RdJ, S. 21, 23) Die Korrelation funktioniert allerdings auch andersherum und knüpft die Liebe ›mit Verstand‹ an gelingende Pädagogik und diese an das Glück des Zöglings: »Diese wenigen Blätter sind für solche Eltern und Jugendfreunde bestimt, die ihre Zöglinge nicht nur zärtlich, sondern auch vernünftig lieben, und sie dahero durch eine gute Erziehung glüklich zu machen suchen«261 , heißt es in einer Abhandlung Von dem Verhältnisse des Erziehers zu seinen Zöglingen und deren Eltern. Und weil dies im Zweifelsfall nur Profis leisten können, muss der Erzieher – bei privater Erziehung, wie im Falle der Abhandlung, ebenso wie an den internatshaft organisierten Philanthropinen – »das Recht haben, die ganze itzige Lebensart seines Zöglings zu bestimmen« und vertretungsweise »in die Rechte der Eltern«262 treten. So etwa in Dessau, wo eine familiäre Struktur auch zwischen den Pädagogen proklamiert wird: »Das Verhältniß, welches wir zwischen uns und unsern Zöglingen zu erhalten suchen, ist dasjenige, welches zwischen gütigen Eltern und folgsamen Kindern statt findet; so wie wir selbst – Vorsteher und Lerer des Instituts – wie ältere und jüngere Brüder, einer und eben derselben Familie mit einander zu leben uns gewöhnt haben.«263 Ersetzt wird also die biologische durch eine pädagogische Familie und damit die latent maßlose, verwandtschaftliche durch eine maßvolle, professionelle Liebe, die weder verzärtelt, noch abstumpft, sondern für die Widrigkeiten des Lebens vorbereitet: »Erstlich suchen wir unsern Zöglingen das Leben so angenehm zu machen, als es, ohne Verzärtelung, ohne nachtheilige Verwöhnungen, in Rücksicht auf die unvermeidlichen Einschränkungen, denen sie künftig in der Welt werden unterworfen seyn, nur immer möglich ist.«264 Hinter der Implementierung dieses Nahverhältnisses im Zentrum der Erziehung steht ein nach außen hin offen kommuniziertes, pädagogisches Kalkül. Die familiäre Einkleidung dient vornehmlich der Effizienzsteigerung: »Wie viel Gewalt uns dies Verhalten über die jungen Bemühungen unserer Pflegesöhne giebt, brauche ich wohl nicht zu beschreiben«265 , heißt es in Campes Abhandlung Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins. ›Beschrieben‹ wird im Diskurs allerdings 261 Ebd., S. 91. 262 Ebd., S. 109. 263 [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 36f. Vgl. auch das Arrangement der Rahmenhandlung in Campes Robinson, das ausdrücklich als Familie bezeichnet wird, oder Salzmann, der im Ameisenbüchlein von seinen Zöglingen als seinen Pflegesöhnen spricht. 264 [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 35. 265 Ebd., S. 36.

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ausführlich die Struktur dieses Verhältnisses, dessen ›Gewalt‹ nie als eine solche erscheinen soll, sondern sich vielmehr sanft, ohne Zwang und idealiter im eigenen Ausdruck des Zöglings äußert. Daran ändert auch nichts, dass als Fundament der Beziehung ein bedingungsloser Gehorsam des Zöglings etabliert werden soll. Er »wirkt das angenehmste Verhältnis der Kinder zu den Eltern und Lehrern«, allerdings nur – gleichwohl wenigstens »anfangs« auch die »Furcht vor den besondern Folgen des Unwillens« mitschwingen kann –, wenn er »aus Liebe und Vertrauen«266 folgt. Damit wird nicht nur eine der »Haupttugenden«267 des Zöglings von den Pädagogen gesetzt, sondern auch auf die spezifische Formel vom »willigen Gehorsam«268 gebracht. Den Aufforderungen und Anordnungen seines Erziehers Folge zu leisten, muss dem Zögling unhinterfragbar selbstverständlich sein. Diese Freiwilligkeit verdankt sich dem affektiven Nahverhältnis zwischen den beiden. Denn der Erzieher tritt, wenn es sich nur irgendwie vermeiden lässt, nicht als strafender, zorniger Vater auf, sondern liebevoll und verständig, als väterlicher Freund, dessen »[w]eise[r] Leitung«269 der Zögling stets gewiss kann und soll. Hergeleitet und besonders anschaulich gemacht wird diese Gehorsamsforderung in Campes Robinson. Schon nach kurzer Zeit auf seiner Insel gewinnt das ehemals ungehorsame, weil von unvernünftigen Eltern falsch geliebte Kind Robinson von sich aus Einsicht in das zwar nicht immer sogleich nachvollziehbare, aber doch stets vernünftige und gute Wirken der göttlichen Vorsehung, in der ein »liebreicher, […] weiser und mächtiger Vater« (RdJ, S. 159) am Werk ist, dem er sich aus dieser Einsicht in einem »beständigen kindlichen Gehorsam« (RdJ, S. 67) unterwirft. Derartige Zuschreibungen ermöglichen eine Analogisierung von göttlicher und väterlicher Autorität, wie der Erzieher-Vater der Rahmenhandlung seinen Zöglings-Kindern nahelegt: »[N]un Kinder, meint ihr nicht, daß der große liebe Gott seine Kinder, die Menschen alle, eben so lieb hat, als wir euch haben?« (RdJ, S. 47f.)270 Ein bedingungsloser Gehorsam kann insofern uneingeschränkt gefordert werden: denn was auch immer die Erziehungsautorität verlangt ist nicht nur vernünftig, weise und gut, das affektiv codierte Verhältnis 266 Basedow: Methodenbuch, S. 83. 267 [Anonym]: Zweiter Brief eines Ungenanten an das Institut, in: Pädagogische Unterhandlungen, 3. Jahrgang 1779/80, 4. Quartal, S. 450-467, hier: S. 460. Vgl. auch Basedow: Methodenbuch, S. 83. 268 [Anonym]: Von dem Verhältnisse des Erziehers zu seinen Zöglingen und deren Eltern, S. 103. Vgl. auch Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 36. 269 [Anonym]: Zufällige Gedanken über die ersten Eindrükke und frühern Empfindungen bei Kindern, S. 512. Vgl. zum philanthropistischen Gehorsamsmodell und seinem Bezug zur Autorität des Erziehers Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung, S. 177-180. 270 Vgl. hierzu auch Rüdiger Steinlein: »Aufgeklärte Gottesfurcht« – das Gott-Vater-Paradigma als religionspädagogisches und wirkungsästhetisches Prinzip erzählender Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung (am Beispiel von J.H. Campes »Robinson der Jüngere«), in: Zeitschrift für Germanistik N.F.4 (1994), S. 7-23 und Pethes: Zöglinge der Natur, S. 256.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

weist zudem alle Entscheidungen, alle Zu- und Absagen als auf eine Steigerung von Zufriedenheit und Freude abzielend aus. Was auch immer geschieht, es geschieht »[n]icht aus Zorn, sondern aus Liebe« (RdJ, S. 67). In dieser »väterliche[n] Liebe«271 fallen somit ein Gehorsamsmodell und dessen begründende Legitimation zusammen, als Formel artikuliert sie zugleich die beiden Konstituenten des Erzieher-Zögling-Verhältnisses: die Asymmetrie und ihre affektive Kaschierung. Von ihr gehen alle weiteren Spezifika der pädagogischen Relation aus. Wichtig ist, dass sich diese Liebe beständig zeigt, dass sich die Erzieher stets »mit redlichem Herzen und warmer Zuneigung gegen ihre ihnen anvertrauten Zöglinge«272 betragen. Dann nämlich, so der Gedanke, werden auch die Zöglinge entsprechend auf ihre Erzieher reagieren und sich nachhaltig an ihre väterlichen Freunde binden. Darin liegt schließlich der Schlüssel zum pädagogischen Erfolg, denn diese Bindung resultiert nicht aus Angst vor drakonischen Strafen und tyrannischer Willkür. Sie beruht nicht auf (offenem) Zwang, sondern dem im Dauerkontakt entstehenden Vertrauen: »Deine Pflegesöhne werden dich mit ihrer Liebe und ihrem Zutrauen belohnen; deine Winke werden sie befolgen, deine Bemühungen werden gelingen, ihre Fehler und Untugenden werden nach und nach weichen.«273 Gerade die hier anklingende prozessuale Komponente zeigt, dass dieses über väterliche Zuneigung und Freundschaft gestiftete, als Band Erzieher und Zögling aneinanderknüpfende Vertrauen in zweifacher Weise die anvisierte Willenslenkung und -modellierung letzterer durch erstere ermöglichen soll. Einmal hinsichtlich der besagten Gehorsamsforderung: Allen Anweisungen des Erziehers ist zwar Folge zu leisten, die dahinter stehende, gute Absicht kann, wenn auch vielleicht nicht immer sogleich erkannt, so doch stets als sicher vorausgesetzt werden.274 Zum anderen sorgt die enge Bindung dafür, und dies ermöglicht in viel umfassenderem Sinne das Gelingen der pädagogischen ›Bemühungen‹, dass der Erzieher, über Quantität und Qualität der Relation, zum Vorbild seines Zöglings wird. Bereit- und buchstäblich vor Augen gestellt wird so mit dem väterlichen 271 [Anonym]: Ueber Behutsamkeit und Gelindigkeit in Beurteilung und Behandlung eines Zöglings. Schreiben eines Erziehers, in: Pädagogische Unterhandlungen, 5. Jahrgang 1782-84, 4. Quartal, S. 466-484, hier: S. 474. 272 Ebd., S. 467. 273 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 171. Vgl. auch Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 35f. 274 Diese Einsicht gewinnen in Campes Robinson gleichermaßen der insulare Zögling wie die Kinder der Rahmendhandlung: »Weiß er [Gott – AW] nicht am besten, was mir gut ist, und wird ers nicht so mit mir machen, als es mir am zuträglichsten ist?« (RdJ, S. 159), fragt sich Robinson, die ›richtige‹ Antwort schon wissend. Und in der Rahmenhandlung, die den Erzieher-Vater an Gottes Stelle rückt, aber mit gleicher vernünftiger Verfügungsgewalt ausstattet, erkennen die Kinder: »Vater. […] Meine Einrichtung wolte euch Allen damahls nicht zu Kopfe; denn ihr wustet meine Ursachen nicht. Aber warum sagte ich euch die nicht?//Johannes. Um uns eine unerwartete Freude zu machen« (RdJ, S. 47).

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Freund zugleich ein Orientierungspunkt für das kindliche Betragen und ein Muster derjenigen Normen und Werte, die der Zögling, ›nach und nach‹ zu inkorporieren lernen soll. Entsprechend viel Aufmerksamkeit erhält daher die Frage, wie sich seinerseits dieses Vorbild betragen, also wie der Erzieher agieren und sich sein Verhalten in diesem direkten, zuneigungsbasierten Kontakt gestalten soll.

3.2.2   Der Erzieher als Vorbild und (Selbst-)Darsteller Die hohe Effizienz, die sich die Philanthropisten von diesem spezifischen Nahverhältnis versprechen, hat einen gleichermaßen hohen Preis. Wer mit dem Anspruch auftritt, das Leben seiner Zöglinge auf eine soziale Form hin passgenau zu gestalten und das Gelingen des Lebensverlaufs an den Verlauf der Erziehung koppelt, tut dies unter Einsatz des eigenen Lebens: Der Erzieher »widmet euren Kindern die Kräfte seiner besten Jahre, damit sie noch spät Freuden davon erndten können«275 . Und weil er dabei in die Rolle eines Vorbilds rückt, ist seine Arbeit all diese Jahre nicht auf Unterrichtssituationen oder die Beaufsichtigung von Spielen beschränkt. Der philanthropistische Erzieher hat im wahrsten Sinne des Wortes einen Vollzeitjob. Sobald er sich im Umfeld seiner Zöglinge befindet – und dies soll letztlich beständig der Fall sein –, ist der Erzieher als solcher tätig. Die Vorbildfunktion, die er für seine Zöglinge einnehmen soll, macht aus seiner bloßen Präsenz bereits Erziehung und diese Erziehung theatral.276 Um das enorme pädagogische Potential dieser wirksamen Gegenwart voll auszuschöpfen, aber auch das Risiko einer versehentlich falschen Vorbildlichkeit zu minimieren, wird der direkte Kontakt histrionisch geformt, wie im Folgenden ausführlich dargelegt werden soll. Dabei ist nicht allein von Bedeutung, was der Erzieher sagt oder nicht sagt, wie er in dieser oder jener Situation agiert. Die für den Philanthropismus charakteristische Ausgestaltung des Erzieher-Zögling-Verhältnisses, die den väterlichen Freund als liebevolle Autorität und Vorbild setzt, zeichnet sich darüber hinaus durch eine pädagogische Mikrophysik aus, die sich auf die gesamte Körperlichkeit des Erziehers erstreckt

275 [Anonym]: Von dem Verhältnisse des Erziehers zu seinen Zöglingen und deren Eltern, S. 119. Auch dies gilt für den einzelnen Erzieher ebenso wie für die Arbeit an einem Erziehungsinstitut. Die Herausgeber der Pädagogischen Unterhandlungen etwa versichern, sie hätten »sich in der Absicht mit einander verbunden […], ihr ganzes Leben, theils durch Nachdenken, theils durch wirkliche Versuche, der Verbesserung des Erziehungswesens zu heiligen.« (Plan der pädagogischen Unterhandlungen, S. 3) 276 Eine solche Vorbildstruktur findet sich bereits in Lockes Erziehungsbuch und macht, wie Helmar Schramm aufgezeigt hat, einen wesentlichen Aspekt der Theatralität der dort aufgestellten Konzeption aus, zu der ferner die Inszenierung von (ab-)geschlossenen Erziehungsräumen, Tagesabläufen und die Modellierung kindlicher Wahrnehmung und Bewertung gehören, vgl. Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 235-242.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

und neben seiner zur Schau zu stellenden Gesinnung noch seine kleinsten Regungen umfasst. Dass der Zögling seinen Erzieher dabei überhaupt als Vorbild wahrnehmen und dessen Verhalten zum Muster seines eigenen machen wird, gilt für die Philanthropisten als gesichert. Sie setzen auf eine, gleichermaßen zu stimulierende wie zu regulierende, mimetische Kraft, die als wesentlicher Trieb der kindlichen Natur eingeschrieben und als Quell aller Erziehung behauptet wird. Campe etwa betont: »Die Begierde, nachzuahmen, ist überhaupt eine der wirksamsten und wohlthätigsten Triebfedern der jungen Menschenseele, auf welche man die ganze Erziehung bauen sollte. Alle freywillige Handlungen der Kinder fließen aus dieser Quelle.«277 Und Salzmann pflichtet ihm bei: »Der Nachahmungstrieb ist bei allen Menschen, vorzüglich in den ersten Jaren ihres Lebens, sehr stark. Wir werden insgemein das, was unsere Geselschafter sind. [Absatz] Wenn ich also erzihen solte, so würde ich diesen Trieb zu nuzen suchen.«278 Diesen Trieb pädagogisch nützlich zu machen, ihn an die richtigen Gegenstände zu knüpfen, dabei aber seine als Trieb latente Maßlosigkeit zu regulieren, ist Aufgabe des Erziehers. Er präsentiert sich dazu als theatral geformtes Objekt der kindlichen Nachahmung und ermöglicht es so zugleich, das Kind zum Objekt seiner Erziehung zu machen. Wie diese dazu immer mehr ins Detaillierte und dabei Körperliche gehende Vorbildlichkeit zu gestalten ist, und wie sie erzieherisch einzusetzen ist, wird von den Philanthropisten entsprechend breit thematisiert. Im Zuge einer Pädagogik, die maßgeblich auf Anschaulichkeit setzt, obliegt es dem Erzieher, Anschauungsmaterial bereitzustellen. In dem Moment, wo er als Vorbild seines Zöglings installiert wird, rückt er nicht nur selbst in den Fundus dieses Materials, sondern dort auch gleich an erste Stelle. Nicht allein, aber insbesondere in Fragen der sittlichen Erziehung, muss der Erzieher für die gesuchte Anschaulichkeit einstehen und zwar als verkörpertes Exempel dessen, was er von seinem Zögling verlangt und was er in der Erziehung vermitteln möchte. Mit dieser Formel, die einerseits den Effekt seiner Histrionisierung beschreibt, lässt sich andererseits ein breiterer struktureller Zusammenhang fassen, der die Theatralität 277 So Campe in einer Fußnote zu [Johann Georg Heinrich] Feder: Von den Mitteln, die Aufmerksamkeit der Jugend zu gewinnen, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 2. Stück, S. 163-184, hier: S. 168. Es handelt sich bei Feders Text um die erste eingesandte Abhandlung, die in den Unterhandlungen veröffentlicht wird. Feder selbst ist zu diesem Zeitpunkt Professor für Philosophie in Göttingen und in pädagogisch interessierten Kreisen bekannt durch die Veröffentlichung seines, die eigenen Erfahrungen als Hauslehrer mit aufnehmenden Buches Der neue Emil oder von der Erziehung nach bewährten Grundsätzen (1768-71). 278 Salzmann: Einige Gedanken über die Notwendigkeit und den Vorzug öffentlicher Erzihungsanstalten, S. 171. Vgl. auch das Ameisenbüchlein, S. 203; vgl. zum gleichen Gedanken bei Locke Schramm: Karneval des Denkens, S. 237f. und im Rahmen von Gottscheds Überlegungen zur Dichtererziehung Kapitel II.4.2.

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des Erziehers, die reformpädagogische Didaktik und die zugrundeliegende Form des affektiven Nahverhältnisses zwischen Erzieher und Zögling in ihrem unmittelbaren Bezug beobachtbar macht. Körperlichkeit, so hat es die Forschung herausgestellt, ist ein wesentlicher Aspekt von Theatralität. Sie kennzeichnet in diesem Kontext das Zusammenspiel eines sich in spezifischer Weise selbst hervorbringenden phänomenalen Leibes, der in seiner Präsenz affizierend wirkt, und einem darüber immer auch mit hervorgebrachten, bedeutungstragenden und -generierenden semiotischen Körper.279 Diese Dopplung zeigt sich auch hinsichtlich des philanthropistischen Erziehers – wie wohl in pädagogischen Relationen insgesamt. Der funktionale Zusammenhang, in den die Präsenz des Erziehers und die im Folgenden zu untersuchende, wirkungsorientierte, körperliche Formung im Philanthropismus gesetzt wird, führt jedoch über den in der Theatralitätsforschung in diesem Zusammenhang geprägten Begriff der Verkörperung hinaus. Darunter wird dort nämlich »nicht verstanden, einem ›Geistigen‹ – einer Idee, einer Vorstellung, einer Bedeutung oder auch einem körperlosen Geist – vorübergehend einen Körper zu ›leihen‹, durch den es sich artikulieren, durch des es wahrnehmbar in Erscheinung treten kann.«280 Genau dies muss der Pädagoge allerdings leisten: Er soll abstrakte Gehalte gerade über seine Körperlichkeit ›in Erscheinung treten‹ lassen, und so den Anforderungen insbesondere einer Moraldidaxe genügen, die auf Anschaulichkeit als Mittel und Gewöhnung als Effekt setzt. Beides vermag er als verkörpertes Exempel. Hat die Forschung den theatralen Bezug der Anschaulichkeit produzierenden Verkörperung herausgestellt, wird der anvisierte Gewöhnungseffekt bereits zeitgenössisch dem Exempel eingeschrieben. Kant definiert den Begriff nahezu en passant in der ethischen Methodenlehre der Metaphysik der Sitten: »Das Exempel ist ein besonderer Fall von einer praktischen Regel, sofern diese die Tunlichkeit oder Untunlichkeit einer Handlung vorstellt.«281 Es ist in diesem Sinne als ein edukatives Mittel Teil der Tugendlehre, kann hier jedoch aus kantischer Sicht nicht mehr als eine letztlich moralpropädeutische Funktion übernehmen. Denn das Exempel, das ein anderer gibt, ist strukturell unvermögend, Maximen der Tugend zu begründen. Dazu ist nur eine freie Selbstverpflichtung auf das Sittengesetzt in der Lage, das dementsprechend als alleinige Vergleichs- und Bezugsgröße des Exemplifizierten zu gelten hat. Dennoch fordert Kant vom Tugendlehrer, »von exemplarischer Führung zu sein«, ist doch sein »exemplarische[r] Wandel« geeignet, dem Schüler zur 279 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Einleitung. Theatralität als kulturelles Modell, in: dies., Christian Horn, Sandra Umathum und Matthias Warstatt (Hg.): Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften Tübingen/Basel 2004, S. 7- 26, hier: S. 18-22. 280 Ebd., S. 20. 281 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Band IV: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Darmstadt 1963, S. 303-634, hier: S. 620.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

»Nachahmung«282 zu dienen und so, je nachdem, einen An- oder Abgewöhnungseffekt zu zeitigen, in Folge dessen dann selbsttätig Maximen gebildet werden können. Das Exempel ist also genau dort wirksam, wo die Reformpädagogik ansetzt, um Formung auf Dauer zu stellen: auf der Ebene der Gewöhnung. Wenn Kant in diesem Zusammenhang den Begriff der Führung ins Spiel bringt, ist damit außerdem eine wesentliche Komponente der pädagogischen Relation angezeigt, wie sie insbesondere im Philanthropismus sich zeigt. Der Begriff weist diese Beziehung nicht nur im Kern als eine der Macht aus, wie sie Foucault in Subjekt und Macht bestimmt, sondern scheint sie gerade in ihrer Spezifik überhaupt erst erfassbar zu machen: »›Führung‹ heißt einerseits, andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten. Machtausübung besteht darin, ›Führung zu lenken‹, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen.«283 Im Verhältnis von Erzieher und Zögling realisiert sich diese Struktur in der Theatralität des Erziehers, die sich hier als Histrionisierung zeigt. Es ist seine gezielte Selbstaufführung, durch die die Führung des Zöglings gelenkt und über die dessen künftiger Aufführung eine Formvorgabe gegeben wird, in die er sich nachahmend einpassen soll. Es zeigt sich in dieser Beziehung also nicht nur die Theatralität der Macht, sondern auch die Macht der Theatralität. Damit verbinden sich jedoch gleichermaßen Chance wie Risiko, denn: »Exempel (diser Saz gehört unter die pädagogischen Axiomen) wirken auf Kinder allemal mehr als Unterricht. Wenn also der Pädagog gut unterrichtet und schlecht handelt, so wird das Kind allemal sicherer durch das leztere, als durch das erstere bestimt werden.«284 Die affektive Nähe droht so, das pädagogische Projekt massiv zu unterminieren, wenn der Erzieher sich nicht stets selbst als erzogen präsentiert, über diese Selbstpräsentation Inhalte und Werte der Erziehung, samt zugehöriger Verhaltensweisen, veranschaulicht und so eine entsprechende Wahrnehmung und Bewertung seiner Zöglinge stimuliert: »Tue oft in Gegenwart des Zöglinges, was du wünschest daß er tun sol«, fordert etwa Salzmann und führt dazu aus: 282 Ebd., S. 619f. 283 Foucault: Subjekt und Macht, S. 256. 284 Salzmann: Einige Gedanken über die Notwendigkeit und den Vorzug öffentlicher Erzihungsanstalten, S. 178. Der gleiche Gedanke findet sich bereits bei Basedow, vgl. Methodenbuch, S. 91. Martin Jörg Schäfer hat – mit Bezug auf die gleiche Kantstelle – den uneinheitlichen Gebrauch des Begriffs bei Salzmann herausgestellt, im Rahmen einer ausführlicheren Untersuchung der Rolle von Exempel und Beispiel für dessen Pädagogik, vgl. Die Theatralität des Philanthropinismus; und Das Theater der Erziehung, S. 143-153.

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»Ich würde es mir und meinen Gehülfen zum unverbrüchlichen Geseze machen, in Gegenwart der Kinder immer so zu urteilen und zu handeln, wie ich wünschte, daß sie urteilen und handeln sollten. Von Selbstbeherschung, Tätigkeit, Rechtschaffenheit und Menschenlibe würde ich allemal mit einem gewissen Enthusiasmus, von Puz, sinlichen Vergnügungen, Ruhm und Reichtum gleichgültig, von niderträchtigen Handlungen verächtlich sprechen, und mein Urteil durch meine Handlungen zu bestätigen suchen.«285 Der Erzieher soll sich also in Übereinstimmung mit den Gehalten seiner Vermittlung befinden,286 und darüber seiner Vorbildfunktion ihre pädagogische Effizienz verleihen. Dies gilt für die Lebensführung ebenso wie für die Fertigkeiten, die er seinen Kindern beibringen will, vor allem aber hinsichtlich der sittlichen Formung des Zöglings. In dieser Hinsicht nämlich darf der nicht bloß äußerlich nachahmen, wie sich sein Erzieher verhält, es soll sich auch die dispositionelle Grundlage dieses Verhaltens in ihm herausbilden. Dazu aber ist es »nicht genug, daß man etwas Gutes saget und vernünftig handelt, sondern es kommt auch noch darauf an, wie man spricht und wie man handelt.«287 Der Erzieher muss also die eigene Übereinstimmung mit den Gehalten seiner Vermittlung in einer Weise kommunizieren, die sie in ihrer Anschaulichkeit auf den Zögling überträgt: »Soll nun die Tugend unsern Kindern liebenswürdig gemacht werden: was für Triebfedern ihres Herzens müssen wir in Bewegung zu setzen suchen? Ohnstreitig folgende: wir müssen erstlich, so oft wir können, gute, tugendhafte Empfindungen in ihnen zu erwecken suchen […]. Die Mittel dazu sind von unendlicher Mannigfaltigkeit; das sicherste aber unter allen ist, wenn des Lehrers eigenes Herz oft in Gegenwart seines Zöglings von solchen Empfindungen selbst überfließt, u.s.w.«288 Die erzieherische Wirkung beruht damit strukturell auf einem Transfer. Das, wovon der Erzieher in einer bestimmten, affektiven Weise spricht, wird mit einem 285 Salzmann: Einige Gedanken über die Notwendigkeit und den Vorzug öffentlicher Erzihungsanstalten, S. 171f. 286 Dabei handelt es sich, so Luhmann, um die ›anspruchslosere‹ Variante eines Topos, der sich auch in der Theorie des Neuhumanismus findet. Dort allerdings kantianisch fundiert, als vom Sittengesetz gebotene Selbstübereinstimmung des Erziehers, vgl. Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, S. 125. 287 Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 158. 288 [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 50. Bei Salzmann heißt es bezüglich Lebensführung und Fertigkeiten: »Dies wird mir aber jeder zugestehen, daß der Erzieher mit mehrern Nachdrucke wirken kann, wenn er von den Bedürfnissen frei ist, an welche er seine Zöglinge nicht gewöhnen, und die Fertigkeit selbst besitzt, die er ihnen beibringen will.« (Ameisenbüchlein, S. 179)

III Die Theatralisierung der Pädagogik

umfassenden Körpereinsatz evidentialisiert und darüber im Zögling aktiviert und stimuliert, denn: »Ganz unleugbar hängt vom Ton, Miene und Geberde nicht bloß die lebhafte und interessirende Darstellung unserer Ideen und Empfindungen ab, – wir geben dadurch Andern nicht bloß richtig und bestimmt zu erkennen, was in unserm Innern vorgehet – sondern wir bewirken dadurch insonderheit auch das Entstehen ähnlicher oder gleicher Empfindungen und Seelenzustände.«289 Transportiert wird jedoch nicht nur der Affekt, sondern vor allem der zugehörige Gegenstand. Verknüpft werden so Tugend und Liebenswürdigkeit sowie Laster und Verachtung. Diesen Zusammenhang können die Zöglinge verinnerlichen, weil er nicht in abstrakten Grundsätzen erklärt, sondern erkennbar gemacht wird in der ›überfließenden‹, sinnlichen Präsentation des ihn zugleich exemplifizierenden Erziehers. Eine solche Struktur liegt, wie bereits aufgezeigt wurde, auch der Reform des Theaters zugrunde.290 In ihrer philanthropistischen Variante nun beruht sie auf der Theatralität des Erziehers, die sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Diskurs- und Traditionsstränge speist. Die Technik des Affekttransfers und die wirkungsorientierte Formung der Körpersprache prägen die wichtigen Schauspieltheorien des Jahrhunderts, entstammen aber der rhetorischen Tradition.291 Ein Widerspruch zur Theatralitätsthese ergibt sich daraus jedoch nicht, im Gegenteil: Beide Bereiche, Schauspielkunst und Rhetorik, stehen seit der Antike in enger, wenn auch ambivalenter Beziehung zueinander. Denn gleichwohl sich die Redner von den Schauspielern in entscheidender Hinsicht abzugrenzen suchen, stellen deren Darstellungsmittel und -techniken die Voraussetzungen der eigenen Tätigkeit, öffentlich zu sprechen, bereit.292 Dieser Bezug zeigt sich vor allem in den Ausführungen zur actio, von deren Gestaltung maßgeblich das Zustandekommen der erwünschten Wirkung abhängt. Bei Quintilian heißt es in diesem Sinne: »[D]enn es kommt ja nicht so sehr darauf an, wie gut das ist, was wir selbst in unserem Inneren verfaßt haben, als darauf, wie es vorgetragen wird: denn es wird ein jeder so, wie er sie hört, von der Rede gepackt.«293 289 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 405. 290 Vgl. II.2. 291 Vgl. etwa Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 222-229; Lily Tonger-Erk: Actio. Körper und Geschlecht in der Rhetoriktheorie, Berlin/Bosten 2012, S. 124. 292 Vgl. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992, S. 80-94; Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 34-39; Tonger-Erk: Actio, S. 122-134. 293 Quint. Inst. XI 3, 2. Bei Cicero heißt es in diesem Sinne: »Doch dies alles wirkt nur in dem Maße, wie es vorgetragen wird. Der Vortrag, allein, sage ich, nimmt die beherrschende Stellung in der Redekunst ein.« (De or., III, 56, 213)

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Dieser Vortrag muss dabei die ganze Körperlichkeit einbeziehen: »Alle Gefühlswirkungen müssen matt werden, wenn sie nicht ihr Feuer erhalten durch die Stimme, das Mienenspiel und nahezu alles in der Haltung des Körpers.«294 Gleichermaßen als Vor- wie als Kontrastbild, in jedem Falle aber als wesentliche Referenz, wird hier der Schauspieler herangezogen. Er selbst verdeutlicht schließlich in seiner Tätigkeit die Wirkmächtigkeit eines körper‐sprachlich geformten Auftretens: »Den Beweis liefern auch schon die Schauspieler auf der Bühne, die sowohl den vortrefflichsten Dichtern noch soviel mehr Reiz abgewinnen, daß der Genuß, den sie uns bereiten, noch unvergleichlich viel größer ist, wenn wir die Szene hören, als sie nur lesen«295 . Vom großen Redner Demostehens wird berichtet, er habe Unterricht bei einem Schauspieler genommen, und der Schauspieler Roscius wird von Cicero wiederholt als beispielhaft herangezogen.296 Zur Kontrastfigur wird der Schauspieler allerdings, neben seiner per se schon minderwertigeren Tätigkeit,297 hinsichtlich des ethos, dem der Rhetor als vir bonus verpflichtet ist sowie der damit einher gehenden, differenten »Zuschreibung von Wirklichkeitseffekten«298 , die Cicero klar hierarchisiert, wenn er den Redner als »Darsteller der Wirklichkeit« (veritatis actores) vom Schauspieler als bloßem »Nachahmer der Wirklichkeit«299 (imitatores veritatis) in seiner Tätigkeit abgrenzt. Insbesondere wird eine Differenz beider Künste darüber hinaus hinsichtlich des aptum behauptet. Dem Schauspieler wird ein latentes Zuviel unterstellt. Er verletzt jenes »rechte Maß«, das auch hinsichtlich der actio »über alles geht«, ja im beherzigten aptum unterscheidet sich überhaupt erst der Rhetor vom Actor: »Doch hat sich schon eine etwas lebhaftere Vortragsweise eingebürgert, sie wird verlangt und paßt auch an bestimmten Stellen, ist jedoch immer so zu mäßigen, daß wir nicht, während wir nach der erlesenen Kunst des Schauspielers haschen, die Geltung und das Gewicht unseres guten Namens einbüßen.«300 294 Quint. Inst. XI 3, 2. 295 Ebd., XI 3, 4. 296 Vgl. ebd., XI 3, 7; Cic. De or., III, 26, 102 sowie hinsichtlich einer für den Redner kaum vergleichbar zu erreichenden Vollkommenheit, I, 28, 129f. 297 In Cic. De or., I, 5, 18 heißt es: »Wie wichtig dieser [der Vortrag – AW] schon für sich allein ist, zeigt die unbedeutende Kunst der Schauspieler und der Bühne deutlich«. Mit der Parallelisierung wird also zugleich eine Hierarchisierung etabliert, der Bezug geht mit der Abgrenzung einher. Allein Roscius bleibt davon ausgenommen. 298 Tonger-Erk: Actio, S. 123. 299 Cic. De or., III, 56, 214. 300 Quint. Inst. XI 3, 181 und 184. Anhand des Lobes von Roscius Darstellungskunst in Ciceros De or., III, 26, 102 macht Geitner allerdings deutlich, dass sich auch die gelungene histrionische Kunst durch einen angemessen‐maßvollen Einsatz ihrer Techniken und Mittel auszeichnet, vgl. Die Sprache der Verstellung, S. 83.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Damit wird der Zusammenhang noch einmal auf den Punkt gebracht: Der Redner orientiert sich hinsichtlich seines wirkungsorientierten Auftretens am Schauspieler, er übernimmt dessen Techniken, schaut sie ihm buchstäblich ab, und gleichwohl eine Betonung von Differenzen auf Seiten der Rhetorik damit einher geht, weisen die Bezüge Theatralität als einen wesentlichen Bestandteil der actio aus.301 Die jedoch wird den Ansprüchen des ethos als Mäßigungsinstanz unterstellt und damit im Vortrag auf ein mit der vorbildlichen Gesinnung korrespondierendes Maß verpflichtet. Im 18. Jahrhundert hingegen wird nun umgekehrt die Schauspielkunst zum einen »auf der Basis rhetorischer Prämissen«302 theoretisiert und nobilitiert, zum anderen wird unter explizitem Bezug auf bestimmte Restbestände rhetorischen Wissens versucht, dieses Wissen im Dienste einer sich neu herausbildenden Darstellungsnorm303 zu aktualisieren, die ihrerseits die wesentliche Differenz von Rhetor und Actor insofern nivelliert, als dass sie jede un- und übermäßige Körperlichkeit, jeden Exzess der Sinnlichkeit von der Bühne verbannt. Lessing erinnert in seiner Diskussion des Schauspielers in der Hamburgischen Dramaturgie an die rhetorische Chironomie als »dem Inbegriffe der Regeln, welche die Alten den Bewegungen der Hände vorgeschrieben hatten« (HD, 4. Stück, S. 202). Und so wie er den weitestgehenden Verlust dieses Gestensystems beklagt, unterstellt er als selbstverständlich nicht nur dessen Einsatz auf der antiken Bühne, sondern dies auch im Sinne einer Darstellungsweise, wie sie sich im 18. Jahrhundert durchzusetzen beginnt: Der Schauspieler, so Lessing, wusste seine Hände amplifizierend einzusetzen, um dadurch »den Nachdruck derselben [seiner Stimme – AW] [zu] vermehren, und durch ihre Bewegungen, als natürliche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben verschaffen helfen.« (HD, 4. Stück, S. 202) Der Gebrauch der Hände wird auf der antiken Bühne damit in einer Weise bedeutsam, die Lessing für die zeitgenössische Schauspielkunst aktualisieren möchte und von einem beliebigen oder zu technischen Gebrauch abgrenzt. Zum Einsatz kommen sollen solche »individualisierenden Gestus« vornehmlich bei »moralischen Stellen« (HD, 4. Stück, S. 204). Auch hier gilt es, die Körperlichkeit – in dem Fall des Schauspielers – zu mobilisieren, um einen abstrakten Gehalt zusätzlich zu seiner Versprachlichung sinnlich zu konkretisieren: »Wann es daher ein Mittel giebt, diese Beziehung sinnlich zu machen, das Symbolische der Moral wiederum auf das Anschauende zurückzubringen, und wann dieses Mittel gewisse 301 Vgl. Tonger-Erk: Actio, S. 123. 302 Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 229. 303 Der theatralische Code als Norm bezieht sich auf die historisch spezifische Konkretisierung bestimmter Elemente des theatralen Zeichensystems, ihre Kombination und Bedeutung, vgl. Fischer-Lichte: Das System der theatralischen Zeichen, S. 21-23 und Vom »künstlichen« zum »natürlichen« Zeichen, S. 7-9.

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Gestus sein können, so muss sie der Schauspieler ja nicht zu machen versäumen.« (HD, 4. Stück, S. 204) Die hinter derartigen Überlegungen stehende, sich in der Aufklärung, also im reformierten Theater, neu etablierende theatrale Norm ist auf der Ebene des kinesischen Codes – der Mimik, Gestik und Proxemik umfasst – an einem Natürlichkeitsideal der Darstellung orientiert, das heißt einer Darstellung von und mit natürlichen Zeichen, die als solche einem (bürgerlichen) Publikum als authentischer Ausdruck unmittelbar verständlich werden sollen.304 Dass auch diese natürlichen Zeichen durchaus technisch in Form zu bringen und kalkuliert einzusetzen sind, zeigt sich nicht erst in Lessings Überlegungen zur Schauspielkunst,305 sondern auch bereits in den Überlegungen Ekhofs, bevor er in Hamburg eines der maßgeblichen Beobachtungsobjekte für Lessing wird. Im Rahmen der Schönemannischen Akademie hatte er die als solche zu konstituierende Schauspielkunst nicht nur auf jene Darstellungsweise verpflichtet, die sich rückblickend als besagte Norm beobachten lässt; er hatte ihre Beherrschung auch klar als Ergebnis von Studium und Übung markiert, als Erlernen einer Grammatik, deren Aneignung ebenso wie die Beobachtung und Evaluierung ihrer Umsetzung eine der Aufgaben der Akademie sein sollte. Im expliziten Anschluss an Riccoboni hält Ekhof fest, dass es die Schauspielkunst darauf beruhe, »der Natur nachzuahmen, « dass aber »die Theorie davon nicht eher erlernet sey, als bis man durch geschikte Bewegung und Anordnung sei304 Vgl. dazu ausführlich Fischer-Lichte: Vom »künstlichen« zum »natürlichen« Zeichen und für das bürgerliche Illusionstheater rekapitulierend ebd., S. 182-184; vor allem aber, nicht theater‐semiotisch argumentierend, Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 117-151; dass und inwiefern sich der Körperausdruck in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von einer unterstützenden Funktion emanzipiert, die lediglich sprachlich formulierte Gehalte amplifizieren soll – wie etwa in den genannten Überlegungen Lessings –, und stattdessen in den anthropologisch geprägten Debatten um den Schauspieler zunehmend als das eigentliche »authentische Zeichenreservoir« in den Blick gerät, skizziert Käuser: Körperzeichentheorie und Körperausdrucktheorie, Zitat von S. 43. 305 In Zusammenhang mit seiner Sainte-Albine Kritik und seiner Selbstinduktionstheorie aus der Hamburgischen Dramaturgie weist Geitner gleichermaßen auf »rhetorisch‐technische« wie »allgemeine anthropologisch-›kommunikationstheoretische‹ Voraussetzungen« (Die Sprache der Verstellung, S. 306) in Lessings Überlegungen zur Schauspielkunst hin. Dies ist insofern kein Widerspruch, als dass die Natürlichkeit der technisch aufbereiteten, histrionischen Körperzeichen sich minutiöser anthropologischer Beobachtungen verdankt. Der Schauspieler gewinnt die Grundlage seines Darstellungsmaterials, hier hält es Lessing mit Riccoboni, als Menschenbeobachter (vgl. ebd. 309f.). Dass das Verhältnis von natürlichem Ausdruck und rhetorischer Zurichtung bzw. Erzeugung nicht allein in theater- und schauspieltheoretischen Texten verund ausgehandelt wird, sondern auch dramatisch figuriert wird, hat Anja Lemke aufgezeigt, vgl. »Medea fiam« – Affekterzeugung zwischen Rhetorik und Ästhetik in Lessings Miss Sara Sampson, in: DVjs 86.2(2012), S. 206-223.

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nes Körpers den erdichteten oder angenomenen Zustand seiner Seele als wirklich glaubend machen könne« (Journal, S. 40).306 Der sich vor dem Hintergrund derartiger Überlegungen herausbildende theatrale Code, der die Seele, ihre Dynamiken sowie deren angemessene Darstellung fokussiert und ihre Zustände sicht- und beobachtbar machen soll, kann nun insofern »als repräsentatives Sinnsystem der Aufklärung«307 gelten, als dass er in enger Verbindung zu dem epistemischen Verbund steht, der sich ab der zweiten Jahrhunderthälfte um den Menschen zentriert und ihn dabei gleichsam erfindet. Dass es sich dabei allerdings nicht bloß um parallele Entwicklungen handelt,308 sondern sich hier viel mehr verschiedene Disziplinen und Traditionen diskursiv überlagern und der kinesische Code des Theaters sowie das entstehende Wissen vom Menschen wechselseitig aufeinander einwirken, ist in der Forschung aufgezeigt und, wo nicht, als Desiderat markiert worden.309 Gefragt wird dabei jedoch stärker nach dem Einfluss etwa psychologischen oder anthropologischen Wissens auf die sich dem in dieser Konfiguration entstehenden Natürlichkeitsideal verpflichtende Schauspielkunst. Hier soll es hingegen umgekehrt um den Einfluss gehen, der dem Theater als wirkmächtigstem, anschauungsstärksten Medium des Jahrhunderts, als »Labor der Seele und der Emotionen«310 , auf die Pädagogik zukommt, als eine der sich empirisch verstehenden, humanwissenschaftlichen Disziplinen. Dieser Einfluss zeigt sich insbesondere in der Struktur der Erzieher-Zögling-Beziehung und dem Agieren des ersteren. Denn die wirkungsästhetisch orientierte theatrale Norm der moralischen Anstalt stellt, so zeigt es sich im pädagogischen Auftreten des Erziehers, Darstellungsweisen und Techniken bereit, die im ebenfalls am Wissen vom Menschen arbeitenden beziehungsweise dieses Wissen mit hervorbringenden Philanthropismus, dann auf genuin eduaktivem Terrain, zum Einsatz kommen: »Ein Lehrer oder Erzieher der Jugend muß daher im Stande seyn, durch die wahre und natürliche Darstellung insonderheit, vermittelst des Tons, seinen Worten Leben, Eingang und Nachdruck zu verschaffen, und die Seele des Kindes dadurch zu eigenen Empfindungen und Ideen zu erheben.«311 Die Pädagogen schließen also, gleichwohl modifizierend, an diesen rhetorisch‐histrionischen Konnex an. Feder etwa adressiert stärker die rhetorische 306 Vgl. in diesem Sinne insgesamt die Sitzung vom 15. Juni 1754. 307 Fischer-Lichte: Vom »künstlichen« zum »natürlichen« Zeichen, S. 177. Vgl. zu dem genannten wissenschaftlichen Umfeld ebd., S. 177-182. 308 So Fischer-Lichte, vgl. ebd., S. 181. 309 Vgl. etwa Wolfgang F. Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1992; Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 285-317 und Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Vgl. für weitere Forschung II.6.3. 310 Vgl. Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen. 311 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 407.

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Tradition, wenn er im Bezug auf die Unterrichtssituation vom »Redner« spricht, der die Künstlichkeit seines Auftretens in einer Vortragsweise zum Verschwinden bringen will, die gleichermaßen auf Ausstellung des ethos und dessen darstellungsmäßigende Kraft sowie seine sich transportierende Vorbildlichkeit setzt: »Angenehm und interessant kann die Art der Darstellung, der Vortrag, Dinge machen, und die Aufmerksamkeit für sie gewinnen, wenn dem Redner alles so leicht vonstatten geht, Sprache und Action schön und anpassend sind, daß es ein Vergnügen ist, ihn anzusehen und ihm zuzuhören; wenn er recht natürlich von der Wahrheit und Wichtigkeit der Sachen überzeugt scheint, und so durchdrungen, daß er gar nicht an die Absicht, seine Zuhörer zu überreden, zu denken scheint, am wenigsten an die Künste der Sprache und der Action; sondern nur so ganz seine Empfindung und seine Ueberzeugung heraus zu reden; ohne jedoch in schwärmerische Convulsionen zu verfallen – dann, dann sind die Seelen der Zuhörer in seiner Gewalt; und die meisten wissen nicht, wie ihnen geschieht.«312 Stuve hingegen führt als Beispiele für eine solche, erzieherisch nutzbar zu machende, den Zögling sittlich affizierende Übertragung neben der »Zauberkraft des Gesanges« die »Declamation der Schauspielkunst«313 an. Obwohl zwar die sinnliche Veranschaulichung abstrakter Erziehungsgehalte über das von diesen Gehalten affizierte Agieren des Erziehers verläuft, dessen Affiziertheit den Transfer des so Veranschaulichten gewährleistet, ist die Performanz des Pädagogen von der des Schauspielers zu unterscheiden. Denn die Grundlage seines ›Enthusiasmus‹, seines ›überfließenden Herzens‹, ist, gleichwohl sinnlich‐affektiv vorgetragen und dargestellt, nicht dieser oder jener Affekt, auch nicht seine affektive, sondern viel mehr seine moralische Disposition, sein sittlich‐integrer Charakter. Der Erzieher bringt sich selbst zur Aufführung und somit – spielt er nicht: »Alles dieses aber läßt sich auf keine Weise annehmen oder nachahmen, sondern ist der reine Erguß der lautern Quelle selbst, und jede Affectation sticht davon ab, wie die geschminkte Lüge von der unverstellten Wahrheit.«314 Um diese, seine Vorbildlichkeit legitimierende und im Exempel des Selbst veranschaulichte Wahrheit seiner Sittlichkeit pädagogisch wirksam, also affektiv übertragbar zu machen, bedarf der Erzieher allerdings einer histrionischen Formung. Die Effizienz seines ›natürlichen‹ Auftretens verdankt sich einer technischen Zurichtung. Ton, Miene und Gebärde müssen stimmen, wenn er tugendhafte Gesinnungen transportieren und im Zögling über 312 Feder: Von den Mitteln, die Aufmerksamkeit der Jugend zu gewinnen, S. 167. Ein sicheres, die eigene körpersprachliche Wirksamkeit unbemerkt aber wohlkalkuliert ausspielendes Auftreten zeigt sich damit nicht nur als Garant sittlicher Erziehung, sondern als pädagogische Voraussetzung schlechthin. Vgl. auch den sich hier ebenfalls stärker auf die rhetorische Tradition beziehenden Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 156-159. 313 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 406. 314 Ebd., S. 420

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die affizierende Zurschaustellung seiner eigenen Tugendhaftigkeit anlegen will. Und so, wie man vom professionellen Schauspieler erwartet, sich sittlich in die sozialen, vor allem theatral kommunizierten und diskursivierten Normen und Verhaltensweisen einzupassen, um als Sittenlehrer in der ›moralischen Anstalt‹ dienen zu können,315 entspricht die für die Wirksamkeit der Erziehung notwendige und auch geforderte Histrionisierung des Erziehers derjenigen Norm, die der Diskurs des reformierten Theaters aufstellt: der Mobilisierung natürlicher Zeichen. Er, der Erzieher, soll darüber jedoch keineswegs zum Schauspieler gemacht werden, sondern, im Gegenteil, sich selbst und seine eigene Erzogenheit vorbildlich und edukativ zur Aufführung bringen können. Zwischen Erzieher und Zögling zeigt sich so ein komplementärer Theaterbezug: Ermöglicht ersterem eine schauspielerische Herrichtung die optimale Ausübung seiner pädagogischen Tätigkeit, ist für letzteren das philanthropistische Kindertheater der Ort, an dem er nicht spielen, sondern sich als er selbst dispositionell zu optimieren lernt.316 Das Theater stellt im Falle des Zöglings einen situativen Rahmen, im Falle des Erziehers die Techniken bereit, damit sich beide, so, wie sie als sie selbst sein sollen, zur Aufführung bringen können. Diese Selbstaufführung ermöglicht es, den Erziehungsstand des Zöglings zu überprüfen und die Erziehung entsprechend zu justieren, für den Erzieher hingegen ist sie die maßgebliche Grundlage seiner Tätigkeit. Um diese pädagogische Selbst-Darstellung des Erziehers und die ihr zugrunde liegende wie sie transportierende Körperlichkeit erlernen respektive verfeinern zu können, kommt als Trainingsgelände idealiter ein Theater in Frage. Salzmanns im Ameisenbüchlein geschickt inszenierter »Plan zur Erziehung der Erzieher«317 trägt diesem Gedanken Rechnung. Er fordert dringlich die Institutionalisierung pädagogischer Ausbildung: »Man errichte vor allen Dingen eine Pflanzschule für Erzieher.«318 Und er skizziert anschließend mit ebenso groben wie großen Zügen, jedoch durchaus emphatisch, die Einrichtung eines solchen Instituts, nur um diesen Plan sogleich wieder mit Verweis auf die Langwierigkeit und eine zweifelhafte Wirksam- und Durchführbarkeit zugunsten einer einfachen, unmittelbar in autopädagogischer Praxis umzusetzenden Handlungsanweisung – »Erziehe dich selbst!«319 – zu verwerfen. Salzmann lenkt allerdings gerade in seiner nachträglichen, rhetorischen Ausstreichung die Aufmerksamkeit auf das ausgestrichene Projekt, zu dem als fester Bestandteil ein Theater gehören, das nichts weniger leisten soll, als die Körperlichkeit angehender Pädagogen histrionisch zu formen: »Könnte damit ein Schauspielhaus verbunden werden, in welchem die Erzieher 315 316 317 318 319

Vgl. II.6 Vgl. III.2.3. Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 208. Ebd., S. 208. Ebd., S. 209. Insofern stehen hinter Salzmanns Plan genau genommen zwei Pläne: ein institutioneller und ein individuell‐praxisorientierter.

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monatlich ein paar Schauspiele aufführten, so wäre es desto besser, so lernten sie Ton, Miene und Anstand des Körpers bilden.«320 So, oder so ähnlich geschieht es tatsächlich in Dessau, wo ab Mitte der 1770er Jahre – also Jahrzehnte vor Salzmanns Plan – einige Pädagogen des Philanthropins im dortigen »Gesellschaftlichen Theater« überaus involviert sind.321 Jenseits aller Bezugnahmen und Anschlüsse, wie sie in dieser Arbeit untersucht werden sollen, kommt es hier zu einem recht unmittelbaren Kontakt von Reformpädagogik und Theaterreform. Lessings Präsenz auf dem Spielplan mag dies bereits andeuten, es zeigt sich aber noch viel signifikanter in der Rezeption des Dessauer Gesellschaftstheaters – und zwar in einem der wesentlichen Medien, die am Diskurs der regelmäßigen Schaubühne mitwirken: dem Gothaer Theaterkalender. Dort erscheint 1780 eine Geschichte der deutschen Bühne, die dem Narrativ der ebenso notwendigen wie sich endlich vollziehenden Aufnahme des deutschen Theaters seit der Zusammenarbeit von Gottsched und der Neuberin verpflichtet ist. »Einen starken Beweis« für den Erfolg dieser Reform, also »für den zunehmenden feinen Theatergeschmack«, findet der Text schließlich durch die »gesellschaftlichen Bühnen« erbracht, unter denen sich ausdrücklich »die regelmäßigen Bühnen des Philanthropinums zu Dessau und Heidesheim […] besonders auszeichnen.«322 Ohne eine entsprechende institutionelle Rahmung zu denken, widmet sich vor allem Johann Stuve den Anforderungen, Problemen und Chancen einer am Theater orientierten, pädagogisch operationalisierten »Kunst des Vortrags und der Darstellung«323 . Stuve markiert dabei gleichermaßen den pädagogischen Anschluss an eine bestimmte darstellerische Norm wie die konstitutive Differenz von Schauspieler und Erzieher, die sich wiederum aus dem beruflichen Anforderungsprofil der Philanthropisten ergibt. Der seinen Ausführungen hier zugrunde liegende Gedanke ist der des genannten pädagogischen Transfers im Rahmen ausgestellter Vor320 Ebd., S. 208f. Vgl. zum Bezug auf die rhetorische Tradition hier auch Lohmann: Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit, S. 45. 321 Vgl. für eine knappe Übersicht zu diesem »rege[n] Zusammenwirken« Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 40-44, Zitat von S. 44. Wolke war an diesem Gesellschaftstheater ebenso aktiv wie die aus dem Straßburger Sturm und Drang Umfeld stammenden Johann Friedrich Simon, Johann Schweighäuser und Johann Ehrmann. Vgl. zu den letztgenannten, ihren Ansätzen, Absichten und dem schließlich in ihrer kollektiven Abreise vom Philanthropin mündenden, massiven Konflikt vor allem mit Basedow und Campe als Vertretern einer nützlichkeits‐fokussierten, bürgerlichen Erziehung Michael Niedermeier: Mitteldeutsche Aufklärer und elsässische ›Genies‹ im Kampf um das pädagogische Musterinstitut des Philanthropismus in Dessau, in: Lenz-Jahrbuch 5 (1995), S. 92-111. 322 [Anonym]: Geschichte der deutschen Bühne, in: Theater-Kalender auf das Jahr 1780, S. 83-104, hier: S. 103f. 323 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 407.

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bildlichkeit: Es gilt, den »natürlichen und lebendigen Ausdrucke«324 des Körpers zu mobilisieren, um einen »innern Zustand und […] Ideen und Empfindungen«325 in affizierender Weise darzustellen und einen sprachlich kommunizierten Gehalt zugleich zu evidentialisieren. Dieses Zusammenspiel scheint nun insofern unproblematisch, als dass sich bei entsprechender Disposition des Erziehers der angemessene Ausdruck von selbst ergibt. Stuve fasst diesen Konnex und seine Effekte unter dem Begriff der Herzlichkeit. In ihr fallen vertrauensbasiertes Nahverhältnis, Erzieherdisposition, ihr ›natürlicher‹ Ausdruck, seine Form und der anvisierte Transfer in eins: »Diese Herzlichkeit, die die Folge des Wohlwollens und reiner guter Absichten ist, schränkt sich nicht bloß auf die Wirksamkeit moralischer Regeln und Vorschriften ein, wie Mancher vielleicht glauben möchte – nein, sie beseelet den ganzen Menschen, wie in seiner innern, so in seiner äußern Thätigkeit, und verschaft letzterer überall eine freiere Bahn und einen leichtern glücklichern Eingang. [Absatz] Sie giebt dem Blicke ein gewisses sanftes Leben und eine anziehende fesselnde Kraft, den Mienen einen gefälligen Reiz, dem Tone etwas Zutrauliches, Eindringendes, und wird in allen körperlichen Geberden und Bewegungen in ihrer natürlichen Schönheit und Würde sichtbar.«326 Gleichwohl Stuve diese Herzlichkeit mit viel Emphase als referentielle Deckung und Formungsgaranten eines adäquaten, natürlichen Ausdrucks setzt, scheint er der eigenen Konzeption einer sich ohne weiteres findenden, pädagogischen eloquentia corporis jedoch zu misstrauen. Der argumentative Kontext seiner Abhandlung macht mehr als deutlich, dass gute Disposition und Körpereinsatz allein nicht ausreichen. Sie müssen ihrerseits geformt und in ihrer Darstellung kontrolliert werden, dürfen dabei aber nichts von ihrer Natürlichkeit einbüßen, was nichts weniger heißt, als dass ein Teil dieser Formung in ihrer notwendigen Verbergung besteht. Die Voraussetzungen dieser Vortrags- und Darstellungskunst schließen an den, Beruf und Berufung verschränkenden, Anforderungskatalog an den Erzieher an.327 Der Schwerpunkt liegt dabei allerdings ausdrücklich auf den nicht erlernbaren Komponenten: »So wenig man jemanden durch Vorschriften dahin bringen kann, daß er mit Empfindung spielt, singt, tanzt, mahlt; eben so wenig kann man auch jemanden zur 324 Ebd., S. 405. Grundlag der diesen Ausdruck konstituierenden Zeichen, die »wir natürlich [nennen]«, im Gegensatz zu den »willkührliche[n]« der Sprache, sind auch in Stuves Konzeption Mimik, Gestik und »vorzüglich der Ton« – also letztlich das »ganze[] Aeußere« (ebd., S. 403f.). 325 Ebd., S. 403. 326 Ebd., S. 420. 327 Vgl. ebd., S. 407.

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richtigen und ausdrucksvollen Declamation dadurch verhelfen. Es kommt hierbei fast – wo nicht durchaus – Alles auf natürliche Anlage, Feinheit und Richtigkeit des Gefühls und mechanische Uebung an.«328 Dieser letzte Aspekt macht zugleich deutlich, dass die natürlichen Anlagen, von denen gleichwohl alles abzuhängen scheint, in ihrer Natürlichkeit entsprechend herzurichten, aber auch, so gilt es aufzuzeigen, als Natürlichkeit zu kommunizieren sind. Sie sollen durch die anzueignenden Kenntnisse »ausgebildet«329 und über den repetitiven Charakter der Übung in Form gebracht werden. Dies ist insofern unerlässlich, als dass auch die natürlichen Zeichen falsch eingesetzt werden können und der Erzieher ein hohes Bewusstsein von der Wirksamkeit seiner bloßen Präsenz, seines Auftretens und seiner ganzen Körperlichkeit entwickeln muss, um sie edukativ einsetzen zu können. Denn das vertrauensbasierte Nahverhältnis zwischen Erzieher und Zögling sorgt nicht nur dafür, dass ersterer seine Vorbildhaftigkeit als lebendiges Exempel theatral ausspielen kann, sondern auch, dass letzterem noch die kleinste Regung seines väterlichen Freundes zeichenhaft und jeder Kontakt bedeutsam wird: »Der Erzieher ist selbst ein großer, und oft der größte Theil alles desjenigen, was auf den Eleven Einfluß hat, wirkt auf ihn Theils wissentlich – durch veranstaltete Mittel, die er zur Erreichung seiner Erziehungszwecke für die tauglichsten hält – Theils nur größtentheils unwissentlich – durch alle die Handlungen und Reden, die ohne Bewußtseyn, wenigstens unbemerkt, aus der Denkungsart, dem Charakter, der Angewohnheit eines jeden Menschen hervorgehen.«330 Wezel bleibt hier jedoch insofern skeptisch, als dass er diese ›unwissentliche‹ Komponente des Erziehers für nicht vollständig formbar, also in ein kontrollierbares Element von dessen Präsenz übertragbar denkt. Kein Zweifel besteht jedoch auch bei ihm an deren in der Vorbildfunktion des Erziehers gegründeten Wirkmächtigkeit: »Ist man auch der tiefste Späher, der sorgfältigste Aufseher seiner Selbst, so stehlen sich doch eine Menge solcher Kleinigkeiten unter unsrer Aufmerksamkeit durch: es sind einzelne flüchtige Sonnenstrahlen, die aber der Zögling, wie eine weiße Wand, alle auffängt, und, wo nicht gleich, doch endlich einmal wieder reflektirt. Hat er Zutrauen und gute Meynung von seinem Erzieher, so ist er gar ein Brennspiegel, in welchem alle jene unbemerkbare Charakteräußerungen des letztern zusammentreffen, und mit verdoppelter Stärke zurückprallen.«331 328 Ebd., S. 408. 329 Ebd., S. 407. 330 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 27f. 331 Ebd., S. 28.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Damit dies pädagogisch problematisch wird, muss nicht einmal angenommen werden, dass dieser Charakter defizitär wäre.332 Es reicht schon, wenn er sich mal in wenig mäßiger Weise äußert, oder genauer, wenn der Zögling Zeuge einer solchen Unmäßigkeit wird. Der Erzieher muss sich also hinsichtlich seines Auftretens beständig unter Kontrolle haben und souverän über die Wirkmächtigkeit seiner Präsenz verfügen. Er ist aufgrund der vorgestellten Übertragungseffizienz auf einen Dauereinsatz verpflichtet. Lücken in der dadurch bedingten, permanenten Selbstaufmerksamkeit, wie sie Wezel für unausweichlich hält, sind in Stuves Überlegungen hingegen nicht vorgesehen. Er fordert eine restlose Selbstbeherrschung. Zu groß ist das Risiko, dass sich die Vorbildfunktion des Erziehers im ›Brennspiegel‹ des Zöglings sonst ins Negative verkehrt, die Dispositionsbildung zwar angeregt werden kann, aus der Formung jedoch eine Deformation wird: »Man wird es mir ohne Beweis zugeben, daß z.B. der Ton und die Miene der Verachtung, des Hasses, des Stolzes, des Spottes, des Hohns u. s. w. welche die Kinder an Erwachsenen, zumal solchen, die von ihnen geehrt und geliebt werden, als Eltern, Lehrern sc. wahrnehmen, ähnliche Empfindungen bei ihnen erzeugen und eine Stimmung und Disposition des Characters darzu bei ihnen hervorbringen müssen. […] Man sollte daher durchaus vorsichtig seyn, sich Kindern nicht in dem Zustande der Leidenschaft zu zeigen oder über sein Aeußeres wenigstens in ihrer Gegenwart zu herrschen suchen.«333 Aus den gleichen Gründen wird der grundsätzlichen Selbstbeherrschung eine ebenso grundsätzliche, vernünftige Mäßigkeit dieses ›Characters‹ und seiner ›Disposition‹ ex negativo als Anforderung zur Seite gestellt. Deren Gegenmodell wird klar benannt: Stuve warnt »recht ernstlich vorzüglich junge Männer, denen die Erziehung oder Bildung der Jugend anvertraut ist, wie vor aller Schwärmerei und Ueberspannung an sich, so auch vor allem überspannten, schwärmerischen, gesuchten Ausdruck durch Ton und Miene. Man setzt sich dadurch bei Verständigen in den gegründeten Verdacht einer Verschrobenheit des Geistes oder Characters und verursacht bei ber Jugend einer Verstimmung des innern Sinnes – wenn man nicht etwa ihr lächerlich wird, wie dieses denn auch der Fall gar wol seyn kann.«334 332 Dann wäre das ganze pädagogische Unterfangen ohnehin hinfällig. 333 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 415. Vgl. hinsichtlich der Selbstbeherrschung des vorbildlichen Erziehers auch Austermann: Pädagogische Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert, S. 164. 334 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 412. Überspannung und Schwärmerei werden hier in einem Atemzug und letztlich synonym mit der als Inbegriff von Maßlosigkeit verhassten »Empfindsamkeit« und »Empfindelei« genannt, deren toxische, kontaminierende Kraft »dunkle, lebhafte Gefühle« anstelle von »deutlichen Begriffen und Räsonnements« (ebd., S. 411) hervor-

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Um nun die geforderte Vorbildhaftigkeit nicht dergestalt kippen zu lassen, ist neben der Kontrolle und Mäßigkeit335 des Selbst auch ein rechtes Maß im Auftreten gefordert, das nicht nur ›gefunden‹ werden, sondern mit der zugrundeliegenden Disposition korrespondieren und sie angemessen zum Ausdruck bringen muss. Dies betrifft insbesondere die Vortragsweise des Erziehers als rhetorisch‐histrionischer Schnittstelle, für deren Gelingen Stuve, wie erwähnt, den Schauspieler beispielhaft anführt. Für den Erzieher bedeutet dies, dass er einerseits nicht zu einförmig sprechen darf, sondern hinsichtlich Modulation und Tonfall maßvoll bleiben muss, weil »bei Jungen und Alten nichts die Aufmerksamkeit mehr erstickt – nichts tiefer in träge Gedanken und Bewußtlosigkeit versenkt, als Monotonie, noch dazu, wenn der Ton an und für sich schon widrig, heulend, kreischend u. s. w. ist.«336 Tatsächlich findet sich diese Problematik auch in den – rhetorisch informierten – Überlegungen zur Schauspielkunst wieder. Lessing betont: »Es giebt wenig Stimmen, die in ihrer äußersten Anstrengung nicht widerwärtig würden; und allzu schnelle, allzu stürmische Bewegungen werden selten edel sein.« (HD, 5. Stück, S. 210) Sich aber derart im Ton zu vergreifen ist in letzter Konsequenz kein ästhetisches, sondern ein pädagogisches Problem, denn »jeder Sinn will geschmeichelt sein, wenn er die Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen giebet, unverfälscht überliefern soll.« (HD, 5. Stück, S. 210) Dies gilt für den Schauspieler in der moralischen Anstalt ebenso wie für den theatralischen Erzieher. Er darf umgekehrt auch nicht ins andere Extrem verfallen und »überall mit Empfindung, Ausdruck, Nachdruck reden«, denn sobald »er überall, und also auch da, wo es gar nicht hingehört, Nachdruck und Emphase anbringt: so fehlt es seinem ganzen Vortrage daran.«337 Um hier nun das rechte Maß zu finden, helfen die geforderten Berufsqualifikationen des Erziehers. Er ist als Menschenkenner und -beobachter gefragt, der insbesondere für Unterrichtssituationen das »Vorbild« eines angemessenen, das heißt aufmerksamkeitsstimulierenden und transferfähigen Tonfalls »im gemeinen Leben« entdeckt – allerdings nicht irgendwo, sondern in genau derjenigen sozialen Form, deren (Re)Produktion die philanthropistische Pädagogik verpflichtet ist und deren habituelles Profil sie zu konturieren hilft: Es sind »gesittete und gebringt. Vgl. zur vorzulebenden Mäßigkeit bei sinnlichen Begierden Basedow: Methodenbuch, S. 93. 335 Dies gilt auch für die an und mit Affekten operierenden Schauspieler, die in Lessings pädagogischem Theater des Maßes (vgl. II.2.2) zwar Zustände der Leidenschaft natürlich darstellen, aber hierin, um des zu erzielenden Effekts wegen, temperiert sein müssen im Sinne einer »Mäßigung, zu der sie die Kunst auch in den heftigsten Leidenschaften verbindet« (HD, 5. Stück, S. 211). 336 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 408f. 337 Ebd., S. 409.

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bildete Leute«338 , die hier buchstäblich den Ton angeben und denen, so lässt sich Stuves Ausführungen – erneut ex negativo – entnehmen, ein natürliches Sprechen attestiert wird. Denn ihnen gegenübergestellt und dezidiert abgewertet wird eine Vortragsweise, die sich als solche präsentiert, die ihre Künstlichkeit hervorkehrt und nicht zuletzt deswegen, aus Sicht des Pädagogen, pädagogisch ineffizient ist: Gerade mit Blick auf jüngere Kollegen und Berufsanfänger fordert Stuve daher, »den unerträglichen, einförmigen Canzel= und Cathederton«339 zu vermeiden respektive abzulegen. Unterrichts- und Alltagsinteraktion sollen sich also in dieser Hinsicht nicht voneinander abheben, was die Übergänge hier fließend zu gestalten zweifellos unterstützt und an die Prämisse anschließt, die Unterrichtsituation als solche so wenig wie möglich auszustellen. Für den Erzieher müssen allerdings, im Unterschied zum Schauspieler, die von ihm pädagogisch eingesetzten, natürlichen Zeichen referentiell gedeckt sein. Das Zeichenmaterial mag er anhand von ›gesitteten und gebildeten Leuten‹ gewinnen. Was er jedoch vermitteln will, exemplifiziert der Erzieher anhand seiner eigenen, darüber ihre Vorbildhaftigkeit bestätigenden, ›gesitteten und gebildeten‹ Person.340 Schließlich sind, so konnte aufgezeigt werden, sein eigener Charakter und seine Disposition die Grundlage seiner theatralen Erziehung, in der er sich selbst zur Darstellung bringen soll. Wo der Erzieher sich also auf sich selber bezieht, müssen maßvolle Innerlichkeit und eloquentia corporis miteinander vermittelt werden. In dieser Korrespondenz erst werden sein enthusiastisches Sprechen und der Ausdruck seines überquellenden Herzens auf eine angemessene kommunikative Form gebracht. Die wiederum beweist dann umgekehrt ihre Angemessenheit im Verweis auf die zugrundeliegende, vorbildliche Disposition, weil »nämlich durch die Modification oder Veränderung des Tons nur die Modification oder Veränderung unserer innern Empfindung ausgedrückt werden soll, keineswegs aber das äußere Geräusch oder der Schall, wovon etwa die Rede seyn mag, durch unsere Stimme nachgeahmt werden dürfen.«341 Einmal entsprechend hergerichtet und referentiell abgesichert, können die natürlichen Zeichen ihre Wirkmächtigkeit im pädagogischen Einsatz schließlich voll 338 Ebd., S. 408. So auch Salzmann im Ameisenbüchlein, S. 215: »Wenn du aber dich mit deinen Kindern unterhältst, so rate ich dir, sprich nicht wie ein Buch, sondern wie ein Mensch im Umgange mit Menschen zu sprechen pflegt, sprich die Sprache des gemeinen Lebens.« 339 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 408. 340 Sein Profil unterscheidet sich hier, bei durchaus ähnlichem Vorgehen, dezidiert vom technischen Schauspieler, den Riccoboni und Lessing favorisieren. Denn der soll, so Riccoboni in Lessings Übersetzung, mit Hilfe von Beobachtung und Selbstbeherrschung seine Seele gerade und »nach Belieben der Seele eines andern ähnlich machen« (Gotthold Ephraim Lessing: Die Schauspielkunst an die Madame*** durch den Herrn Franciscus Riccoboni, den jüngern. Aus dem Französischen übersetzt, in: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, 4. Stück 1750, S. 481-544, hier: S. 508). 341 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 410.

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entfalten. »Ein scharfer anspruchsvoller Blick, Eine Miene und Ein Ton dieser Art« sind aufgrund ihrer evidentiellen Kraft als »natürliche, lebendige, unzweideutige und unverkennbare Darstellungen«342 jeder nüchternen, sachlichen Erklärung, die möglicherweise noch zu abstrakt bleibt, überlegen. Die Voraussetzungen einer solchen Vortragsweise, eines Auftretens, dessen Form die Verbergung seiner Formung ausmacht, sind also, neben einer dispositionellen Korrespondenz, beständige Übung, Beobachtung und Selbstbeherrschung. Auf eine Natürlichkeit als deren Effekt setzt auch der stärker die rhetorische Tradition evozierende Feder.343 Der bei Stuve jedoch ausführlicher behandelte und ans Theater rückgebundene Zusammenhang schließt hingegen recht bruchlos an die sich etablierenden Darstellungskonventionen der Schauspielkunst an. Georg Friedrich Lichtenberg etwa, der in London wiederholt Garrick auf der Bühne sieht, oder genauer, dessen Schauspielkunst mit Begeisterung beobachtet, schreibt in diesem Sinne an Boie über den wohl berühmtesten Mimen des Jahrhunderts: »[E]s ist vieljährige Zeit und Schweiß kostende Uebung des Leibes, die sich endlich zu dieser Ungezwungenheit aufgeklärt hat, und die, durch beständige Beobachtung schöner, von Personen beyderley Geschlechts bewunderter und beneideter Männer verherrlicht, izt bey ihm aussieht, als hätt er sie umsonst.«344 Die im Philanthropismus zusammenkommenden Traditionsstränge und mit ihnen die sie modifizierend aufgreifende Pädagogik selbst verbindet so unter den Vorzeichen des Natürlichkeitspostulats eine identische Struktur: rhetorische, histrionische und pädagogische Elemente sind im Auftreten des Erziehers zum Verschwinden gebracht.345 Seine im Zusammenspiel dieser Elemente hervorgebrachte, wirkungsorientierte Theatralität zeigt sich dort, wo der Erzieher als und wie ein väterlicher Freund spricht und sich gebärdet: in einem vertrauensvollen Nahverhältnis. Und damit – zeigt sie sich nicht. Insbesondere Stuves Überlegungen weisen so eine histrionisch geformte Körperlichkeit als Voraussetzung eines gelingenden pädagogischen Kontaktes aus. Sie 342 Ebd., S. 415 und S. 418. 343 Vgl. Feder: Von den Mitteln, die Aufmerksamkeit der Jugend zu gewinnen, S. 167 und 171f. 344 Georg Friedrich Lichtenberg an Heinrich Christian Boie, Brief vom 30. Nov. 1775, in: ders.: Briefwechsel, Bd. 1 (1765-1779), hg. v. Ulrich Jost und Albrecht Schöne, München 1983, S. 548. Vgl. zu diesem Zusammenhang Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 311-314. 345 Martin Jörg Schäfer hält in diesem Sinne hinsichtlich des Philanthropismus fest: »Dieser Erziehung geht es also um den in der traditionellen Rhetorik rhetorischsten aller Effekte und den im zeitgleich zur neuen Erziehung entstehenden Theater des späten 18. Jahrhunderts theatralsten aller Theatertricks: um die Vollendung des Theaters als Theater, indem das Theater mit den eigenen Mitteln seine Theatralität verdeckt.« (Das Theater der Erziehung, S. 22) Diese Struktur findet sich nicht nur in den zeitgenössischen Debatten um den Schauspieler und in pädagogischer Hinsicht nicht erst im Philanthropismus, sondern ist, wie Schramm aufzeigt, bereits für Lockes theatrale Erziehung elementar, vgl. Karneval des Denkens, S. 238f.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

lässt sich gleichwohl mit keinem der beiden vorherrschenden Schauspielerkonzepte der neuen theatralen Norm verrechnen. Die in der Pädagogik zentral gesetzte Übereinstimmung von Charakter und Darstellung des Erziehers – wie sie an Sainte-Albine erinnert – kann nur auf technischem Wege und unter kontinuierlicher (Selbst-)Beobachtung – wie Riccoboni und Lessing es befürworten – hergestellt, kommuniziert und damit erzieherisch operationalisiert werden. Erst diese schauspielerische Herrichtung und die so ermöglichte Selbstkontrolle befähigen den Erzieher dazu, seine Vorbildlichkeit als solche und in der richtigen Weise vorzustellen. Sie machen eine Disposition sicht- und vermittelbar, die es über diese Vermittlung im Zögling anzulegen gilt – ohne abstrakte Erklärungen oder direkte Anweisungen, sondern über die wirkungsorientierte Präsenz und Selbstpräsentation des Pädagogen. Die Theatralität des Erziehers wird damit zur Bedingung der Möglichkeit von Erziehung.

4   Die Theatralität der Methode Theatralität ist jedoch nicht nur wesentliche Komponente der Relation von Erzieher und Zögling, sondern auch in einem zentralen Element der philanthropistischen Methodik346 wirksam: der Beobachtung. Hier allerdings weniger hinsichtlich einer theatral geformten Körperlichkeit, als vielmehr im Sinne eines Sichtbarkeitsarrangements und einer Blickverteilung, für die das Theater Parameter sowohl des konfigurativen, als auch des Repräsentations- und des epistemischen Modells bereitstellt. Schließlich teilen Pädagogik und Theater – spätestens sobald die psychologische Ausdifferenzierung dramatischer Figuren und ihr Pendant eines natürlichen Spiels der Schauspieler Teil der theatralen Norm werden – ein Interesse am gleichen Gegenstand: dem Menschen, den Regungen seiner Seele, ihrem sichtbaren Ausdruck, den hier möglichen Zusammenhängen und einem wirksamen, modellierenden Zugriff darauf. Ist das Theater der privilegierte Aus- und Darstellungsort anthropologischer Dynamiken, verschreibt sich die Pädagogik ganz buchstäblich der Generierung, Systematisierung und Operationalisierung eines entsprechenden Wissens. Überspitzt gesagt: Im Theater finden sich die Mittel zur Kenntnis des 346 Verschiedene Bestandteile der philanthropistischen Methodik wurden in den vorherigen Kapiteln bereits entweder thematisiert oder tangiert, sei es die Kindgemäßheit, das Setzen auf Anschaulichkeit, auf freundschaftliche Nähe statt Strafe, Gewöhnung statt Drill, oder die Vermengung von Unterricht und freier Zeit. All diese Elemente können insofern einer reformpädagogischen Methodik zugerechnet werden, als dass sie entweder Verfahren bezeichnen oder anteilig an Verfahren sind, die den philanthropistischen Erziehungszielen dienen. Vgl. für eine knappe Übersicht und zum Status der Methode auch Tenorth: Geschichte der Erziehung, S. 111f.

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Menschen, in der Pädagogik die Zwecke. Dass diese Aufteilung keine allzu starre ist, zeigt sich in den Erziehungsansprüchen des reformierten Theaters und es zeigt sich umgekehrt in der Theatralität pädagogischer Methodik, namentlich der Beobachtung. Die Beobachtung verdient dementsprechend eine gesonderte Aufmerksamkeit, und dies vor dem Hintergrund, dass sie als Schnittstelle wesentliche Aspekte des vorherigen Kapitels zusammenführt. Beobachtung ist integraler Bestandteil der Erzieher-Zögling-Beziehung, sie wird ermöglicht von deren konstitutiver Asymmetrie347 und gewinnt ihre Effizienz aufgrund der damit einhergehenden, freundschaftlich‐familiären Kaschierung. Sie ist als praxisorientierte und -basierte348 Kompetenz Teil der pädagogischen Berufsanforderungen, die zwar zugleich die Qualität ihrer Anwendung gewährleisten, aber über den Beobachtungsanspruch selbst an ihre epistemischen Grenzen geführt werden, in Gänze Kenntnis des Menschen zu erhalten. Als empirisches Verfahren ist Beobachtung gleichwohl Ausdruck und Lieferant eines Berufswissens, das die pädagogische Praxis ebenso prägt, wie es ihre Verfachlichung und Grundsatzgewinnung stimuliert,349 den Zögling also mit anderen Worten nicht nur zum Objekt der Erziehung zu machen hilft, sondern auch zum Objekt eines in deren methodisch abgesichertem Verlauf gewonnenen Wissens (4.1). Einer Reihe von dabei potentiell auftretenden Schwierigkeiten und Problemen, die sowohl dem Beobachtungsgegenstand als auch der Methode selbst geschuldet sind, versuchen die Pädagogen mittels ihrer charakteristischen Prämissen, mit disziplinären Rahmungen und mit theatralen Arrangements zu begegnen (4.2).

4.1   Register und Situationen der Beobachtung Wie hoch der Stellenwert des Beobachtens in der philanthropistischen Pädagogik ist, zeigt sich neben ihrer breiten Thematisierung in der Forderung, »den Beobach347 Vgl. Pethes: Zöglinge der Natur, S. 17. 348 »Die Fähigkeit zur Beobachtung ist deswegen nicht theoretisch, in der Vorbildung des Lehrers zu erwerben, sondern erst in der Praxis selbst«, hält Tenorth: Wie die Lehrprofession ihr Geschäft verstand, S. 299 fest. Dies betrifft gleichermaßen den philanthropistischen Erzieher. Was Tenorth im argumentativen Kontext jedoch stärker im Hinblick auf die Schulmänner des 19. Jahrhunderts konstatiert, etwa dass die pädagogische von anderen professionellen Beobachtungen zu unterscheiden sei (vgl. ebd., S, 298f.) und Beobachtung als Ausdruck einer »Berufsweisheit« auf einer situationsgebundenen Erfahrungsebene verbleibt, ohne »methodisch kontrollierte experimentelle Grundlagen« (ebd., S. 300), gilt für die aufklärerische Reformpädagogik so nicht. Anschlussfähig ist hingegen, was er hinsichtlich der Methode betont, dass sie nämlich als Index fachspezifischer Handlungskompetenz der professionellen Selbstversicherung ebenso dient wie der professionellen Abgrenzung, vgl. ebd., S. 307f. 349 Diele/Schmid sprechen in diesem Sinne von einer »pragmatische[n]« und einer »theoretische[n] Funktion von Beobachtung« (Anfänge empirischer Kinderforschung, S. 254).

III Die Theatralisierung der Pädagogik

ter mit dem Erzieher zu verbinden«350 , also Observation als festen Bestandteil von Erziehung zu implementieren. Und zwar innerhalb eines Bedingungsgefüges, das die Qualität der Pädagogik an ihre Methode und die Qualität der Methode an ein Wissen um den Gegenstand der Pädagogik als humanwissenschaftlicher Disziplin bindet, deren epistemischer Verbund sich seinerseits optimieren muss: »Um also der Erziehungskunst mehr Vollkommenheit zu verschaffen, muß die pädagogische Beobachtung vervielfältigt und erleichtert werden; um dieses zu bewerkstelligen, muß die wahre Psychologie, die Kenntniß der Seele und des Menschen, vollständiger richtiger und ausgebreiteter werden.«351 Für den je einzelnen professionellen Erzieher erklärt sich so die Anforderung, dass er »weitläufige psychologische Kenntnisse«352 als Beobachtungsbedingung mitbringen muss. Am Beginn der sich ausdifferenzierenden Humanwissenschaften herrscht eine fachübergreifende Einigkeit, wie solche Kenntnisse zu erwerben sind: im Kontakt mit Menschen, sei es unmittelbar »durch Umgang mit seinen Stadt- oder Landesgenossen«353 , mittelbar durch in Zeitschriften und Magazinen veröffentliche, faktenbasierte Beobachtungsberichte,354 oder deren fiktionalisierte Zwillinge in der Literatur. Wissen vom Menschen, so führen Anthropologie, Erfahrungsseelenkunde und Pädagogik an, stellen auch Romane und Schauspiele bereit, sofern sie »der Natur folgten«355 . Die poetologische Kategorie der Nachahmung wird vor diesem Hintergrund zum Gradmesser epistemischer Relevanz. Insofern sie »der Qualität nach aber doch mit der menschlichen Natur übereinstimmend sein müssen«356 , bringen Schauspiele und Romane die Struktur dieser Natur zur Darstellung und machen sie modellhaft beobachtbar. Sie leisten mit anderen Worten einen »Beitrag zur inneren Geschichte des Menschen«357 . Auf diese Formel bringt bekanntlich wiederum Friedrich von Blanckenburg die spezifische Leistung des Romans. Er bezeichnet damit in seinem Versuch über den Roman, mit maßgeblichen Bezügen auf Wielands Agathon, aber auch Shakespeares charakterstarke Dramen, eine prozessuale Entfaltung der »Verbindung der äußern Wirkung mit den innern Ursachen«358 . Vermittels dieses 350 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 42; vgl. in diesem Sinne auch die Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten, S. 92. 351 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 34f. 352 Ebd., S. 25. Hier liegt durchaus die Gefahr eines Zirkelschlusses, denn auch die geforderten psychologischen Kenntnisse sind nicht zuletzt anhand der Beobachtung von Kindern zu gewinnen, vgl. ebd., S. 35. 353 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 400. 354 Vgl. etwa Moritz: Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre. 355 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 26. 356 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 402. 357 Moritz: Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre, S. 90. 358 Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S. 271. Vgl. zu Blanckenburg und dem hier angesprochenen Verhältnis von Roman und Theater Kapitel IV.

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Kausalnexus, der die Psychologie der Figuren durchläuft und sie mit ihrem Handeln korreliert, zeigt der Roman »die möglichen Menschen der wirklichen Welt.«359 Es ist das gleiche Wissen, das auch ein Theater, in der Aufführung von zunehmend Figurenpsychologien fokussierenden Stücken, zu vermitteln beansprucht, wie etwa Schillers rhetorische Frage signalisiert: »Sind sie [die Bühnen – AW] es nicht, die den Menschen mit dem Menschen bekannt machten, und das geheime Räderwerk aufdeckten, nach welchem er handelt?«360 Literatur und die ihr verpflichtete Institution des Theaters zeigen sich so nicht nur als dem zeitgenössisch so zentralen Interesse am Menschen zugehörig, sie verstehen sich aufgrund ihrer genuinen Darstellungsmöglichkeiten auch als privilegierte Orte anthropologischer Studien und Kenntnisgewinnung. Derartige Kenntnisse sollen nun einerseits den Blick des Pädagogen hinsichtlich der zu beobachtenden Oberfläche schärfen, indem sie diese Ober- als Ausdrucksfläche innerer Vorgänge lesbar machen.361 Und sie sollen andererseits zu einer buchstäblichen Einsicht hinter diese zeichenhaft werdende Außenseite führen, indem sie die sich dort zeigenden, inneren Vorgänge als Momente eines Wechselspiels kontingenter Ursachen und ihrer Wirkungen erkennbar werden lassen. Pädagogische Beobachtung ist also ebenfalls Beobachtung von Kausalität und zwar »von dem Einflusse körperlicher Ursachen auf die Seele, auf ihr Denken, Empfinden und Wollen, von der Wirkung der Ideen oder der vorstellenden Seelenkräfte auf die wirkenden, von dem entgegengesetzten Einflusse der letztern auf die erstern, und also vorzüglich von dem ruhigen und leidenschaftlichen Gange der Ideen und seiner Aeußerung durch den Ausdruck der Rede, bei Geberden, Minen und Handlungen, von der Angewöhnung durch Nachahmung, durch Sympathie, durch zufällige Umstände des körperlichen oder geistigen Mechanismus[.]«362 Die Philanthropisten folgen damit bei ihrer Fokussierung des Kindes den zeitgenössischen anthropologischen Beschreibungs- und Erklärungsmodellen,363 wie sie sich auch das Theater zu eigen macht. Im Moment ihrer Setzung wird die Methode jedoch sogleich wieder in Frage gestellt, weil sie sich auf die Entdeckung von 359 Ebd., S. 257. 360 Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken, S. 196. 361 Stuves Annahme, »Aeußere Zeichen, Mienen, Geberden, Töne, Bewegungen, Handlungen und Reden sind die Mittel, wodurch wir auf diese Art zum Anschauen dessen, was in andern Seelen vorgeht, gelangen« (Ueber die Nothwendigkeit, S. 175), gilt schließlich nicht bloß hinsichtlich des Erziehers und seines histrionisch geformten Auftretens, sondern auch umgekehrt für dessen registrierenden Blick auf den Zögling. 362 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 34. 363 Vgl. Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin/New York 2003, S. 11-17 und speziell zu Wezels Anthropologie ausführlich S. 251-369; vgl. zur »Anthropologie als Fundament pädagogischer Theoriebildung« das gleichnamige Kapitel in Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert, S. 115-135.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Zusammenhängen verpflichtet, die sie in ihrer Komplexität eigentlich kaum überblicken kann: »Der Mensch ist eine so zusammengesetzte Maschine, steht unter dem Einflusse so mannigfaltiger äußerer Dinge, die Federn seines Denkens und Wirkens werden so häufig von unbemerkten Zufällen der Atmosphäre und des Körpers in verschiedene Spannungen versetzt, die inneren Seelenwirkungen sind ein so feines Gewebe, daß es auch dem erfahrensten Menschenkenner oft begegnet, eine Wirkung einer falschen Ursache zuzuschreiben: gleichwohl kömmt auf die wahre Ursache alles an.«364 Der hier notwendige Überblick muss aufwändig selbst erarbeitet werden und sich dort, wo er ›wahre‹ Ursachen nicht sicher ausmachen kann, wenigstens an den wahrscheinlichen365 orientieren. Die Philanthropisten setzen in diesem Sinne einerseits darauf, Zufälle möglichst auszuschließen, äußere Einflüsse wo nicht zu steuern, so doch zu registrieren, also insgesamt Kontingenz in einer spezifischen Weise durch Kontrolle zu ersetzen, und anderseits die Beobachtung selbst so genau wie möglich zu gestalten. Dann nämlich kann auf diesem aus pädagogischer Sicht nicht ungefährlichen Wege zweierlei erschlossen werden: die angenommene Natur des Kindes und ihre Entwicklung sowie die Individualität des Zöglings. Erstere, die kindliche Natur und natürliche Entwicklung, gilt es zu erforschen, um auf dem gewonnenen Wissen aufbauend, Pädagogik als empirische Wissenschaft zu errichten,366 die für jedes Stadium angemessene, operationalisierbare Grundsätze bereitstellt, nach denen diese Natur in ihrem Entwicklungsgang geformt werden kann. Zwar, so gestehen die Pädagogen ein, »fehlt es noch an genugsamen Beobachtungen, folglich an hinreichender Bekantschaft mit der Kindernatur, um daraus eine volständige Samlung zwekmäßiger Erziehungsgrundsäze herzuleiten«367 , allerdings handelt es sich bei dieser Unternehmung um ein work in progress, zu dessen Unterstützung die Philanthropisten ihre Kollegen ausdrücklich mit der Bitte um Einsendung von Beobachtungsberichten aufrufen, wozu Wezels

364 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 23f. 365 Vgl. ebd., S. 24f. 366 Vgl. Schmid: Anfänge der empirischen Kinderforschung von Kindern im ausgehenden 18. Jahrhundert, S. 7f.; Diele/Schmid: Anfänge empirischer Kinderforschung, S. 255f. und S. 270 sowie Pethes: Zur doppelten Funktion der Medien, S. 57; Jörn Garber bezeichnet in diesem Sinne, die »Beobachtung des jungen Menschen als pädagogische Forschungsstrategie« (Die Bildung des bürgerlichen Karakters, S. 358). 367 [Anonym]: Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten, S. 99. Diese Grundsätze müssen dann wieder, mittels Beobachtung, empirisch validiert werden, vgl. ebd., S. 100. Vgl. in diesem Sinne auch [Campe]: Fortsetzung des abgebrochenen Entwurfs der eigentlichen Absicht des Philanthropins, S. 124.

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Text Ueber die Erziehungsgeschichten die nötige Anleitung und Programmatik entwirft. Die Dialektik von Empirie und Theorie, die dieses Aufstellen objektiver Erziehungsgrundsätze ermöglichen soll, ist bereits thematisiert worden.368 Ihre methodische Scharnierstelle, so lässt sich der Zusammenhang nun vervollständigen, ist die vom Erzieher geleistete und systematisierte Beobachtung der kindlichen Natur; ihre mediale die Veröffentlichung solcher Einzelbeobachtungen als Fälle.369 Der so bestimmte Gegenstand der Erziehungswissenschaft, der anthropologische Sonderfall ›Kind‹, der in seiner Differenz vom erwachsenen Menschen ebenso erkannt, wie aus dieser Differenz natürlich herausgeführt werden soll, zeigt sich letztlich als »Konstrukt eines Beobachters«370 , das sich aus den Bausteinen eines aus Einzelfällen abstrahierten Wissens nach und nach zusammensetzen und vervollständigen soll. Doch dieser Beobachter interessiert sich nicht allein für die allgemeine ›Kindernatur‹, auch das jeweilige Kind selbst muss stets im Blick bleiben. Beide Beobachtungsregister stehen dabei nicht voneinander getrennt, sondern sind in einem Wechselverhältnis aufeinander bezogen. Nur vom einzelnen Kind ausgehend können Rückschlüsse über die allgemeine Natur des Kindes gezogen werden und diese, einmal systematisiert und klassifiziert, die jeweilige Formung fachlich fundiert anleiten. Was also in der Beobachtung zum anderen entdeckt werden soll, und dies betrifft stärker die pädagogische Praxis, ist die Individualität des Zöglings. Deren Kenntnis ist für den Erziehungserfolg entscheidend und muss dies auch für eine Pädagogik sein, die ihrem Gegenstand dezidiert keine dressurhaften Oberflächeneffekte aufzwängen, sondern ihn tiefenstrukturell modellieren will. Ein ungenannter Einsender berichtet im ersten einer Reihe von Briefen, die in den Pädagogischen Unterhandlungen veröffentlicht werden, in diesem Sinne von seinen Erziehungsbemühungen: » [I]ch fand immer, daß es mir mit meinen Untergebnen desto besser gelang, je richtiger ich ihren Charakter und den Gang ihres Geistes gekant, und diesem gemäß meine Behandlung eingerichtet hatte.«371 Beobachtung zeigt sich so als Voraussetzung einer Erziehung, die die Zöglinge weniger überwachend im Blick behält, als diesen Blick vielmehr kenntnisnehmend in sie hineinführt.372 368 Vgl. III.3.1. 369 Vgl. zu dieser theoretischen Beobachtungsfunktion Diele/Schmid: Anfänge empirischer Kinderforschung, S. 255f. und zu ihrer medialen Voraussetzung Pethes: Zur doppelten Funktion der Medien. 370 Luhmann: Das Kind als Medium der Erziehung, S. 166. So auch Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert, S. 204. 371 [Anonym]: Brief eines Ungenanten an das Institut, S. 325. Dass dieser Ungenannte hinsichtlich seines Vokabulars nicht gänzlich auf Linie der Philanthropisten ist, ändert nichts an der inhaltlichen Übereinstimmung. 372 Vgl. zu dieser pragmatischen Beobachtungsfunktion Diele/Schmid: Anfänge empirischer Kinderforschung, S. 254f.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Den Charakter des Zöglings kennenzulernen, ist jedoch weit weniger leicht, als die zitierte Bemerkung suggerieren mag. Vielmehr knüpfen sich an den observativ zu erfüllenden Anspruch eine ganze Reihe von Anforderungen und möglichen Hindernissen, die genau dann erkennbar werden, wenn der Anspruch über einzelne Erfahrungsberichte hinaus programmatisch ausformuliert werden soll, wie es vor allem, aber nicht nur der genannte Beitrag Wezels zu leisten unternimmt. Um die Ursachen dieses oder jenes Verhaltens richtig erkennen zu können, reicht der unmittelbare Kontakt allein nicht aus. Die Perspektive auf den Zögling muss vielmehr dergestalt erweitert werden, dass er auch in einer biographischen Dimension und damit ebenfalls hinsichtlich der jenseits seiner (professionellen) Erziehung sich vollziehenden Prozessualität seines Lebens in den Blick gerät. Es müssen dazu umfangreiche Erkundigungen eingeholt werden, denn »wenn der Beobachter nicht die vorhergehende Geschichte seines Eleven genau kennt«373 , wird er entweder Gefahr laufen, dessen Verhalten fehl zu deuten und möglicherweise falsche Ursachen anzunehmen, oder überhaupt nicht deuten, also gar keinen kausalen Nexus erkennen zu können. Was der Pädagoge bei Übernahme seiner Amtsgeschäfte in diesem Zusammenhang ebenfalls in Erfahrung bringen muss, sind bisherige Erziehungseinflüsse auf den Zögling.374 Derartigen ›Vorarbeiten‹ wird dabei weitgehend unterstellt, der eigenen pädagogischen Tätigkeit entgegenzustehen. Die Philanthropisten sehen sich mit den Folgen von Erziehungsformen konfrontiert, die dafür sorgen, dass sich die meisten Kinder »von Jugend auf in einer Lage befinden, wo sie sich nicht zeigen dürfen, wie sie sind – wo sie nicht aufrichtig handeln dürfen und also verstekt handeln müssen!«375 Eine solche »unnatürliche Lage«376 , also ein sich nicht kindhaft verhaltendes Kind, ist gemäß der philanthropistischen Konfiguration von Wissensformen, methodischem Fokus und Gegenstandsbeschaffenheit nicht beobachtbar. Statt registrierend in die Tiefe dringen, Ursachen und Wirkungen erkennen und von dort aus weiter abstrahieren zu können, läuft der »pädagogische Blick«377 hier ins Leere. Er verliert sich darin jedoch nicht, sondern wird, im Gegenteil, zu noch größerer Anstrengung gereizt und, je 373 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 29. 374 Vgl. ebd., S. 28f. 375 [Anonym]: Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten, S. 78. 376 Ebd., S. 87. 377 Kersting: Die Genese der Pädagogik, S. 209 prägt den Begriff in Analogie zum ärztlichen Blick Foucaults hinsichtlich der Hervorbringung seines Objekts – in diesem Falle des Kindes – auf Grundlage beobachtungsbasierten Wissens. Sie zeigt in diesem Zusammenhang auf, wie gerade für Wezels Abhandlung medizinische Vorgehens- und Darstellungsweisen das Modell liefern, vgl. ebd., S. 203-211; vgl. zur Bedeutung der Medizin für das auch die Pädagogik leitende, anthropologische Beobachtungswissen Pethes: Zöglinge der Natur, S. 201-211; vgl. zum Niederschlag anthropologischen Denkens in Medizin und Philosophie allgemein Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch.

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länger der Entzug andauert, in einen wahren Furor versetzt, wie die Briefe eines Ungenanten an das Institut wiederholt thematisieren, etwa im Dritten: »Je verdekter diese [die Eleven – AW] sind, destomehr reizen sie meine Aufmerksamkeit sie zu erforschen, besonders, wenn ich vermuthe, daß sichs der Mühe verlohnt; ich kann nicht eher ruhen, bis ich glaube, den Standpunkt gefunden zu haben, von dem ich meine Zöglinge in ihrer wahren Gestalt erblikke.«378 Dass die Zöglinge sich ihrer Beobachtung entziehen, ist also ausdrücklich nicht vorgesehen, das Kennenlernen ist obligatorisch. Es muss seinen drängenden, fordernden Charakter jedoch verbergen, um nicht die eigenen Voraussetzungen zu verunmöglichen. Die Gründe dafür sind allerdings auf einer anderen Ebene zu suchen, unabhängig davon, ob biographische Erkundigungen eingeholt worden sind und die Erziehung entsprechend darauf eingestellt ist. Sie liegen in der Methode selbst. Angezeigt ist damit ein Problem, das die empirisch ausgerichteten und sich konstituierenden Disziplinen der Humanwissenschaften insgesamt betrifft, sei es die Pädagogik in den genannten, observativ gespeisten Registern, oder die gleichermaßen beobachtungsgeleitete Erfahrungsseelenkunde.379 Ihre epistemische Stabilität wie ihre praktische Effizienz beruhen nicht zuletzt auf der Validität ihrer empirisch gewonnen Befunde. Ihre systemischen Aussagen, ebenso wie der Erfolg ihrer erzieherischen Ansagen, hängen von der Aussagekräftigkeit eines Gegenstandes ab, dessen Eignung die Methode selbst zu verhindern droht. Denn die menschliche Natur versperrt sich nur zu schnell ihrer Beobachtung. Der hier zeitgenössisch konstatierte Problemzusammenhang ist folgender: Beobachtung verunmöglicht sich selbst nicht per se, sondern nur dann, wenn sie als solche bemerkbar wird, wenn der Beobachtete sich als den Blicken Anderer ausgesetzt erfährt.380 Denn diese Selbsterfahrung als Gegenstand fremder Beobachtung 378 [Anonym]: Dritter Brief eines Ungenanten an das Institut, S. 15. 379 Vgl. Moritz: Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre; vgl. hinsichtlich Beobachtungsanspruch und -problematik der Erfahrungsseelenkunde sowie der epistemischen und methodischen Zusammenhänge mit der Pädagogik Pethes: Zöglinge der Natur, S. 211-234; Jahnke: Moral und Erfahrungsseelenkunde als Problem der Pädagogik; Diele/Schmid: Anfänge empirischer Kinderforschung, S. 256, 270. 380 Moritz etwa umgeht ein solches Problem auf literarischem Weg und nutzt den Roman als Mittel der anthropologisch‐pädagogischen Beobachtung: Der heterodiegetische Erzähler des Anton Reiser vermag als Erzähler nicht nur eine »wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens, bis auf seine kleinsten Nüancen« vorzulegen, um »in pädagogischer Rücksicht […] die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften« (Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, in: ders.: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier. Band 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, Frankfurt a.M., 1999, S. 85-518, hier: S. 186 und S. 86), sondern ist in seiner heterodiegetischen Anlage auch jeglicher Gefahr enthoben, von seinem Beobachtungsgegenstand Anton

III Die Theatralisierung der Pädagogik

führt in ihrer Bewusstwerdung zum Verschwinden oder Entzug des Beobachteten. Dies betrifft nicht nur die Erziehung, es ist vielmehr ein anthropologisches Problem und lässt sich als solches insbesondere an jener buchstäblichen Kippfigur veranschaulichen, in der sich im 18. Jahrhundert theatrale, dramatische und anthropologische Überlegungen treffen: dem Schauspieler. Schiller sieht in seiner frühen Schrift Über das gegenwärtige teutsche Theater die Grundlage für dessen maßvolles, natürliches Spiel in der »anscheinenden völligen Abwesenheit des Bewußtseins« (TT, S. 172) wie sie auch den Schlafwandler zu sicherem Tritt befähigt. In dem Moment jedoch, wo er sich in seinem Spiel als beobachtet beobachtet, stürzt er ab: »Schlimm für ihn, wenn er weißt[!], daß vielleicht tausend und mehr Augen an jeder seiner Gebärden hangen, daß eben so viel Ohren jeden Laut seines Mundes verschlingen. – Ich war einst zugegen, als dieser unglückliche Gedanke: Man beobachtet mich! den zärtlichen Romeo mitten aus dem Arm der Entzückung schleuderte; – Es war gerade der Sturz des Nachtwandlers, den ein warnender Zuruf auf gäher Dachspitze schwindelnd packt.« (TT, S. 173) Schiller veranschaulicht hier am Beispiel des Schauspielers einen Zusammenhang, der nicht bloß den Menschendarsteller betreffen könnte, sondern den in den Blick geratenden Menschen insgesamt betrifft. Kant hält in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht diesbezüglich fest: »Der Mensch, der es bemerkt, daß man ihn beobachtet und zu erforschen sucht, wird entweder verlegen (geniert) erscheinen, und da kann er sich nicht zeigen, wie er ist; oder er versteckt sich, und da will er nicht gekannt sein, wie er ist.«381 Den Pädagogen ist diese Problematik durchaus bewusst. Sie wissen, dass verwertbares Beobachtungsmaterial nur zu gewinnen, der Zögling also nur wirklich kennenzulernen ist, wenn er sich als Beobachtungsgegenstand in seiner »unverstelten Natur«382 zeigt. Dazu werden die Zöglinge in einer Weise in die Pflicht genommen, sich zu öffnen, die sie gerade als Abwesenheit von Pflichten bemerken sollen. Denn die Mittel, um ihre ›wahre Gestalt‹ hervorzulocken, stellen die reformpädagogischen Charakteristika bereit, deren Zusammenspiel das Fundament

als Beobachter wahrgenommen werden zu können. Vgl. zur theoretischen Grundlage dieses Erzählprogramms und seinem Verhältnis zu den philanthropistischen Erziehungsgeschichten Kapitel IV. 381 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 401. Dass Kant dabei zugleich die Darstellungsweise des Schauspielers zum Gegenstand anthropologischen Interesses macht, behauptet Käuser: Körperzeichentheorie und Körperausdruckstheorie, S. 40. 382 [Anonym]: Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten, S. 91.

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bilden soll, auf dem sich der Zögling als repräsentatives Kind und das Kind als individueller Zögling beobachtbar machen lassen.383 Dafür sorgt – als Knotenpunkt dieser Charakteristika – der vertrauens- und liebevolle Kontakt mit dem Erzieher. Ist dieses Verhältnis einmal etabliert und entsteht hier – wenigstens aus Sicht des Zöglings – »eine feste, treue Freundschaft ohne Eitelkeit«384 , wie es im Dritten Brief eines Ungenanten an das Institut geschildert wird, scheint sich die Gefahr der Verstellung weitestgehend von selbst zu erledigen, zumindest für den seine Erfahrungen schildernden Ungenannten: »Seine Sele«, so heißt es in diesem Sinne über den zunächst verschlossenen, weil verzogenen Zögling B*, »öfnete sich ohne allen Rückhalt, und ich entdekte in ihm einen Jüngling vol Stärke des Geistes und Edelmuth, dem Zärtlichkeit und Freundschaft ein Bedürfnis war, das ihm bisher, vermuthlich weil mans bei ihm nicht kante, nicht befriedigt war.«385 Der Zögling hat idealiter keinen Grund, sich vor seinem väterlichen Freund zu verschließen und öffnet sich damit – ohne es zu wissen – den registrierfreudigen, aber auch unersättlichen Blicken des Beobachters. Dies gilt für alle Varianten ihres Kontaktes, die stets von dem gleichen observativen Anspruch geprägt sind, umfassende Kenntnisse des Zöglings zu generieren. Das bereits thematisierte Spiel als edukativ kolonisierte Freizeitgestaltung dient ebenfalls diesem Zweck. Ihm wird sogar zugetraut, einen besonders wichtigen Beitrag zur Entdeckung der kindlichen Natur und Individualität zu leisten, gilt es doch als »privilegierte Ausdrucksform«386 dieser Lebensphase und Inbegriff kindhaften Verhaltens. Der von seiner Tätigkeit absorbierte Zögling soll den omnipräsenten Erzieher hier, gerade weil er gelernt hat, dass er nichts Verbotenes tut, sondern im Gegenteil, von seinem älteren Freunde sogar mit Spielideen versorgt wird, entweder gar nicht, oder als Spielgefährten wahrnehmen, in jedem Falle aber nicht dessen wachsamen Blick bemerken, dem er sich dabei so vielsagend präsentiert.387 Valides Beobachtungsmaterial soll jedoch auch dort erhoben werden können, wo sich, im Sinne der geäußerten, zeitgenössischen Beobachtungsskepsis, ein natürliches, unverstelltes Verhalten eigentlich nicht einstellen kann: im Unterricht. Er beruht schließlich darauf, dass die Anwesenden einander in den Blick geraten. 383 Etwa der weitgehende Verzicht auf Zwang, der liebevolle Umgang, die Perspektivierung der Zöglinge als Kinder, die sich auch wie Kinder verhalten dürfen, vgl. unter anderem Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 162-165. 384 [Anonym]: Dritter Brief eines Ungenanten an das Institut, S. 26. 385 Ebd., S. 23f. 386 Glantschnig: Liebe als Dressur, S. 105; vgl. Kapitel 2.3.1. 387 Vgl. Salzmann: Einige Gedanken über die Notwendigkeit und den Vorzug öffentlicher Erzihungsanstalten, S. 176; [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 38f. Salzmann betont dementsprechend, dass die Fähigkeit, mit Kindern spielen zu können, eine der wesentlichen Voraussetzungen des Erzieherberufs ist, vgl. Ameisenbüchlein, S. 218. Der Gedanke findet sich bereits bei Locke, vgl. dazu Schramm: Karneval des Denkens, S. 240f.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Schillers ›Man beobachtet mich!‹ ist die konstitutive Erfahrung dieser Situation:388 »[D]er Lehrer muß Schritt für Schritt beobachten, was die Schüler beobachten, und dies in einer Situation, in der die Schüler so gut wie gezwungen sind, ihn, den Lehrer zu beobachten.«389 Der Philanthropismus jedoch modifiziert dieses Interaktionssystem wo es geht dergestalt, dass zwar »das laufende Wahrnehmen des Wahrgenommenwerdens« erhalten und damit eine »basale Gleichzeitigkeit des Beobachtens und Verhaltens verschiedener Teilnehmer [garantiert]«390 wird, sich die Blicke jedoch auch hier auf einer Ebene zu kreuzen scheinen, die für den Zögling jeglichen Anlass zur Verstellung – sei es aus Misstrauen, sei es aus Angst vor Strafen – ausräumen soll: in einem freundschaftlichen Gespräch statt in frontaler Belehrung. Vor allem Trapp wird in seiner Zeit am Philanthropin von seinen Kollegen für diese Unterrichtsform gelobt, in der zwanglose Wissensvermittlung, vorbildhafte Selbstpräsentation und valide Observation zusammenfallen können: »Kurz, er verwandelt den Unterricht in eine Unterredung über ihre [der Zöglinge – AW] wichtigste Angelegenheit, daß ist, itzige und künftige Glückseligkeit. […] Wie aufmerksam junge Leute, die Kopf und Herz haben, bey einem solchen Unterrichte sind, kann man sich nicht vorstellen; man muß es selbst erleben. Und ebenfalls kann man sichs kaum denken, wenn mans nicht anhört, wie bey solcher vertraulichen Unterredung, wo das Herz zum Herzen spricht, so häufig sich die Gelegenheiten darbiethen, in das Innerste der Jünglinge zu schauen und den Gang ihrer Gedanken, Neigungen und Triebe zu bemerken und zu leiten. Ihr Herz schließt sich auf, wenn sie fühlen, daß sich das Herz des Lehrers ihnen öffnet. Sie entde-

388 Es ist dies auch eine konstitutive Erfahrung Schillers, wie Andreas Gelhard, ausgehend von dessen Bericht an Herzog Karl Eugen über die Mitschüler und sich selbst von 1774, argumentiert, vgl. Kritik der Kompetenz, S. 39f. Tatsächlich kreuzen sich in diesem frühen Text die repressive Verfügungsgewalt des souveränen Landesherren mit Techniken der Disziplinarmacht: Auf »ausdrücklichen Befehl« des Herzogs soll der fünfzehnjährige Schiller nicht nur sich selbst, sondern »auch den letzten meiner Freunde beurteilen.« (Friedrich Schiller: Bericht an Herzog Karl Eugen über die Mitschüler und sich selbst, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 8: Theoretische Schriften. Herausgegeben von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt a.M. 1992, S. 11-26, hier: S. 11) Sein Bericht ist insofern Index eines observationsbasierten »Beziehungsnetz[es]«, das »pausenlos überwachte Überwacher« und Macht als eine die Institution – in diesem Falle die Karlsschule – durchsetzende »Maschinerie« hervorbringt: »Zwar gibt ihr der pyramidenförmige Aufbau einen ›Chef‹; aber es ist der gesamte Apparat, der ›Macht‹ produziert und die Individuen in seinem beständigen und stetigen Feld verteilt.« (Foucault: Überwachen und Strafen, S. 228f.) 389 Luhmann: Die Homogenisierung des Anfangs, S. 141. 390 Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 103. Vgl. zum Interaktionssystem Unterricht ebd., S. 102-110.

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cken ihre Gesinnungen frey, wenn der Lehrer ihnen das Beyspiel der Freymüthigkeit giebt.«391 Das philanthropistische Verhältnis von Erzieher und Zögling stellt also eine Interaktionsform bereit, die nicht nur mit jeder in der Reformpädagogik angelegten Erziehungs- und Unterrichtssituation kompatibel ist, sondern sie immer auch zugleich in dezente Observatorien verwandelt. Im Falle des Unterrichts ermöglicht sie so den Spagat, einerseits der Situation selbst und ihren Anforderungen gerecht zu werden, und andererseits, indem sie diejenigen Faktoren ausräumt, die der erwünschten Unverstelltheit des Zöglings entgegenstehen, auch hier dem größeren Projekt individueller Formung bei gleichzeitiger Wissensgenerierung Anschlüsse zu verschaffen.

4.2   Disziplin – Macht – Theatralität Diese Modifikation der Unterrichtsform, zu der auch etwa die bereits genannte Orientierung an alltagsnaher Kommunikation gehört, betrifft nicht nur mögliche methodische und damit systemische Probleme, sondern auch den bereits genannten, breiteren Zusammenhang von Reformpädagogik und Disziplinarmacht.392 Ge391 [Anonym]: Von der gegenwärtigen Beschaffenheit und Einrichtung unsers Instituts, S. 610f. So betont es auch Trapp selbst, vgl. Ueber das Hallische Erzihungsinstitut, S. 55. Er reflektiert einige Jahre später jedoch gleichermaßen Vorzüge und Grenzen dieser »Sokratische[n] Methode«, durch die »das Wachsthum des Verstandes und der Vernunft am Besten gedeit«, die zwar »denken«, jedoch »nicht wissen [lehrt]« und scheint gerade, weil sie als Gespräch gestaltet wird, das betont Trapp ausdrücklich, »[b]ei einer kleinen Anzahl lernbegieriger Schüler, also ausserhalb der Mauern unserer Schulen und Universitäten, beim Unterricht in einem vernünftigen väterlichen Hause oder in kleinen Erziehungsanstalten […] nur noch anwendbar zu seyn.« (Ernst Christian Trapp: Vom Unterricht überhaupt. Zweck und Gegenstände desselben für verschiedene Stände. Ob und wie fern man ihn zu erleichtern und angenehm zu machen suchen dürfe? Allgemeine Methoden und Grundsätze, in: Allgemeine Revision des gesammten Schul= und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Achter Theil. Herausgegeben von Joachim Heinrich Campe, Wien und Wolfenbüttel 1787, S. 1-210, hier: S. 189-191) Vgl. zum breiteren diskursiven Kontext solcher sokratischen Unterrichtsorganisation sowie einer entsprechenden Wissensproduktion Gabriele Kalmbach: Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Tübingen 1996, S. 151-178; mit stärkerem Fokus auf die Philanthropisten Pape: Das literarische Kinderbuch, S. 190-200; Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 107-109. 392 Luhmann und Foucault geraten, bei gleichwohl differentem Fokus, Interessenskontext und anders gelagerten Konsequenzen, ähnliche Elemente hinsichtlich des sich ausdifferenzierenden Erziehungssystems respektive seiner machtdurchzogenen Institutionen und Relationen in den Blick. Dies zeigt sich beispielhaft etwa in Luhmanns Analyse einer notwendigen Homogenisierung des Anfangs im Schulsystem aufgrund einer diachron angelegten, der Entwicklung des Schülers Rechnung tragenden Methodik und in Foucaults Befund der Implementierung einer Disziplinarzeit in der Pädagogik, die, gemäß einer Steigerungslogik organisiert,

III Die Theatralisierung der Pädagogik

rade hinsichtlich des Unterrichts und seiner institutionellen Einbettung zeigt sich pointiert, inwiefern die in Überwachen und Strafen aufgestellten Befunde im Hinblick auf die Reformpädagogik analytisch anschlussfähig sind und sich vor dieser Folie zugleich die spezifisch philanthropistische Akzentuierung und Variation der entsprechenden Machtmechanismen und -techniken präzise fassen lässt. Die Beobachtung, die von den Pädagogen zur methodischen Grundlage erklärt wird, ist in ihrem panoptischen Ideal Kernelement der disziplinären Mechanismen, die produktiv wirksame Machtausübung mit Wissensgenerierung ebenso steigerungslogisch miteinander verknüpfen, wie Gehorsam und Nützlichkeit. Und auch dem philanthropistischen Unterricht, so ungezwungen freundschaftlich, so anziehend kindgemäß er sich geben mag, liegt »eine gegenseitige und hierarchisierte Beobachtung«393 zugrunde. Ihr ist jedoch in der Reformpädagogik ein in dieser Gegenseitigkeit gegenläufiges Kalkül eingeschrieben: Diskretion der Beobachtung des Zöglings durch den Pädagogen und umgekehrt gezielter Ansporn der Beobachtung des vorbildlichen Pädagogen durch den Zögling. Dessen in der Dauerobservation fokussierte »Entwicklungsindividualität« ist dabei »sowohl Effekt wie Objekt« pädagogischer Operationen, die in der Hervorbringung und Formung dieser Individualität anhand bestimmter Maßstäbe und Werte jener »Macht der Norm« verpflichtet sind, wie sie in den »Disziplinen […] zum Durchbruch [kommt].«394 Besonders deutlich wird diese Verschränkung der Formung des Zöglings mit der Gewinnung pädagogischen Wissens in einer schulischen Institution wie dem Dessauer Philanthropin. Im Zusammenleben der Pädagogen und Zöglinge werden hier nicht nur Unterrichts- und freie Zeit denkbar enggeführt, auch die jeweiligen Beobachtungssituationen gehen im Dienste beider anvisierter Wissensregister nahtlos ineinander über. Tatsächlich sind die Zöglinge in Dessau rund um die Uhr den Blicken ihrer väterlichen Freunde ausgesetzt, auch jenseits ihrer Schulund Freistunden, und das in einer disziplinären Rahmung, wie sie vor allem in der Gestaltung der morgendlichen und abendlichen Randzeiten durchscheint, mit der Carl Gottfried Neuendorf betraut ist. Dazu gehört neben dem typischen, vertrauensvoll‐lehrreichen Umgang eine Überwachung »der Ordnung und Reinlichkeit in ihren Zimmern, bey ihrem Anzuge und übrigen Sachen«, und auch, dass er seine Schützlinge »besonders von der moralischen Seite, täglich beobachtet«395 . Diese unbemerkte Beobachtung wird dort, wo es nicht so sehr um die pädagogische die Entwicklung der dieser Logik Unterworfenen minutiös zu überwachen ermöglicht. Vgl. Luhmann: Die Homogenisierung des Anfangs, S. 146f. und Foucault: Überwachen und Strafen, S. 205f. 393 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 228. 394 Ebd., S. 207 und 237. Vgl. auch Pethes: Zur doppelten Funktion der Medien, S. 63f. 395 [Anonym]: Von der gegenwärtigen Beschaffenheit und Einrichtung unsers Instituts, S. 614. Vgl. in diesem Sinne auch Trapp: Ueber das Hallische Erzihungsinstitut, S. 61-66.

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Vermessung kindlicher Innerlichkeit, sondern stärker um die Durchsetzung der internen Ordnung der Institution selbst geht, von einer expliziten, hierarchisch gestaffelten Überwachung flankiert, die ihrerseits im Sinne einer Leistungsindizierung immer auch individualisierend und disziplinatorisch registrierend wirkt: »Denen, welche diese Morgengeschäfte mit vorzüglicher Ordnung verrichten, wird, zum Besten der ganzen Gesellschaft, noch ein besonders Geschäft aufgetragen, woraus ihnen ein Vorzug gemacht wird. Einer von ihnen wird zum Aufseher erwählt. Dieser Aufseher kommt zu einer gesetzten Zeit nach Hause, wo Neuendorf zugegen ist, und sieht unter dessen Gegenwart nach, ob die übrigen ihre Sachen wirklich in guter Ordnung haben? – Das Gegentheil wird angemerkt: auch sieht er den Tag über auf den Anzug seiner kleinen Mitphilanthropisten; findet er bey irgend einem hierinn einen Mangel, so zeigt er ihn an zu Verbesserung.«396 Das Dessauer Philanthropin schafft also eine institutionelle Rahmung, in der die Zöglinge rund um die Uhr im Blick behalten und die auf sie einwirkenden und in ihnen wirksamen Eindrücke zu einem hohen Grad registriert werden können, in der mit anderen Worten die Gefahr kontingenzbedingter Fehlinterpretationen hinsichtlich ihrer jeweiligen Individualität wie ihrer kindlichen Natur ein Stück weit gebannt werden kann. Ein Internat, wie eben die Einrichtung in Dessau, erweist sich, so lässt sich Foucaults Befund weiterdenken, tatsächlich als die »vollkommenste Erziehungsform«397 , ermöglicht es doch in seiner restlos – pädagogisch wie institutionell – durchinszenierten Raumzeit398 eine besonders umfangreiche erzieherische Einwirkung und schafft zugleich die Voraussetzungen für eine besondere methodische Entfaltung. Es erweist sich somit nicht nur als Knotenpunkt der Spielarten philanthropistischer Theatralität, sondern auch als der Ort, an dem diese selbst sich privilegiert beobachten lassen. Unter den dort genau abgesteckten, kontrollierten Bedingungen wird es möglich, ein methodisches Defizit, die konstitutive »Unsicherheit der Beobachtung«, zumindest soweit zu minimieren, dass nicht wahllose, sondern zumindest wahrscheinliche Rückschlüsse auf Handlungs- und Verhaltensursachen gezogen werden können: 396 [Anonym]: Von der gegenwärtigen Beschaffenheit und Einrichtung unsers Instituts, S. 617f. Foucault konstatiert in diesem Sinne: »Die Disziplinarinstitutionen haben eine Kontrollmaschinerie hervorgebracht, die als Mikroskop des Verhaltens funktioniert; ihre feinen analytischen Unterscheidungen haben um die Menschen einen Beobachtungs-, Registrier- und Dressurapparat aufgebaut.« (Überwachen und Strafen, S. 224) 397 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 181. 398 Eine solche inszenatorische Einrichtung von Raum und Zeit macht Schramm im vergleichsweise kleineren Radius der Hauslehrererziehung bei Locke aus und erkennt darin wesentliche Aspekte der Theatralität von dessen pädagogischem Konzept, vgl. Karneval des Denkens, S. 236.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

»Will man also Vermuthung zu einiger Gewissheit erheben, so müßte man die ganze innere und äußere Lage des Zöglings in jedem Zeitpunkt sehr genau kennen, alle seine Begegnisse, so lange er, so zu sagen, in der Kur steht, merken, Speisen und Getränke, selbst die Luft um ihn, mit Barometer und Thermometer abwägen, um aus der Vergleichung aller dieser Umstände mit Wahrscheinlichkeit zu muthmaßen, wie viel oder wie wenig ein jeder an der Revolution Antheil gehabt haben mag: – über dieses mag können wir nie hinaus.«399 Die disziplinäre Organisation des Philanthropins scheint jedoch zugleich den methodischen Voraussetzungen, eben die ›unverstellte Natur‹ hervorzulocken, entgegenzuarbeiten. Schließlich beruht das Blickregime der Disziplin auf einer jederzeit und überall aktualisierbaren Überwachungsmöglichkeit, die sich als solche nicht zu verstecken braucht, die sich sogar, im Gegenteil, mitunter in ihren Hierarchien ausstellt und die sichtbar macht, dass stets gesehen werden kann. Zwar ist auch der Philanthropismus einer solchen obligatorischen Sichtbarkeit und einer darauf beruhenden wie sich darin zeigenden Verschränkung von Wissensgenerierung, Formung und Individualisierung verpflichtet. Er modifiziert jedoch die Mechanismen der Disziplinarmacht dergestalt, dass deren Wirkweisen beibehalten bleiben, zugleich aber dem pädagogischen Blick nicht nur sein Gegenstand erhalten wird, sondern er auch gezielt angereizt werden kann, sich zu zeigen. Die modifizierte Unterrichtssituation steht dafür exemplarisch ein.400 Diese philanthropistische Akzentuierung von Disziplin lässt sich vor allem dann genauer fassen, »wenn man die Bedeutung des Wortes ein wenig erweitert«401 , wie es Foucault selbst in Subjekt und Macht bezeichnenderweise anhand der Schule skizziert. Hier kreuzen sich in spezifischer Weise drei Arten von Relationen: »›objektive Fähigkeiten‹«, die den technischen Umgang mit den Dingen, aber auch Arbeit allgemein und »Verhaltensweisen« umfassen, »Kommunikationsnetze« und »Machtbeziehungen«402 . Diese drei Bezugsgrößen werden in einem dynamischen Wechselverhältnis begriffen, das sich »in jeweils besonderer Weise je nach Form, Ort, Umständen oder Gelegenheit« austariert und unter Umständen »Blöcke« formiert, in denen ihre »wechselseitige Anpassung […] geregelte, 399 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 23 und 24f. 400 Ein anderes Beispiel wäre das System der Meritentafeln, wie es etwa in Dessau oder in Schnepfenthal zum Einsatz kommt. Sie zeigen, als Repräsentation eines analytisch organisierten Disziplinarraums, den jeweiligen schulischen wie sittlichen Leistungsstand eines jeden Zöglings an und machen ihn darüber in einer Bewegung zugleich sicht- und quantifizierbar, was wiederum einen pädagogischen Effekt generieren soll. Vgl. zu Anspruch und Funktionsweise der Meritentafeln in Dessau [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 39-52 und in Schnepfenthal Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 231f.; vgl. auch Glantschnig: Liebe als Dressur, S. 127-130. 401 Foucault: Subjekt und Macht, S. 254. 402 Ebd., S. 252f.

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abgestimmte Systeme bildet«, das heißt »Formen von Disziplin«403 in eben einem weiter gefassten Sinne. Im Falle des Philanthropismus nun werden die genannten Größen in einer spezifischen Weise gestaltet und aufeinander abgestimmt: Der Bereich der objektiven Fähigkeiten wird moralisch und Kommunikation affektiv codiert. Arbeit und »zweckrationale[s] Handeln«404 werden so mit sittlicher Erziehung verknüpft, die wiederum maßgeblich über das Erzieher-Zögling-Verhältnis verläuft, in dem sich die wirksame Präsenz des Erziehers und die Observation des Zöglings als zwei Seiten einer Medaille zeigen, deren Prägung eine auf Vertrauen und Freundschaft beruhende pädagogische Formung ebenso ermöglicht wie die Generierung von pädagogisch einsetzbarem Wissen. Und das aus dem gleichen Grund: Sowohl die konstitutive Asymmetrie der Relation als auch die darin angelegte Dauerbeobachtung werden in der aufgezeigten Weise so weit kaschiert, dass sie nur randständig durchscheinen und, wo dies der Fall ist, den Erziehungsabsichten nicht zuwiderlaufen, im Gegenteil: Gehorsam fordert der väterliche Freund, explizit beobachtet wird nicht das kindliche Verhalten, sondern die Übereinstimmung mit der institutionellen Ordnung, in der sich das Kind jedoch ›frei‹ verhalten kann. In diesem Verhältnis nun kommt Macht eine entscheidende Rolle hinsichtlich der Theatralität nicht nur des Erziehers zu, sondern auch seiner Methode. Sie ist in ihrem relationalen und relationierenden Charakter405 das Formkalkül der Beziehung von Erzieher und Zögling, in dem sich die konstitutive Asymmetrie und ihre affektive Kaschierung treffen. Ihre Entfaltung wird dabei von Rahmenbedingungen befördert, wie sie etwa das Dessauer Philanthropin schafft, das die Bündelung verschiedener pädagogischer Situationen mit einer übergreifenden Interaktionsvereinheitlichung institutionell zusammen führt. Machtbeziehungen sind jedoch nicht identisch zu setzen mit institutionellen Rahmungen, in denen sie wirksam werden, die sie begünstigen und innerhalb derer sie sich möglicherweise privilegiert beobachten lassen.406 Auch im Falle des Philanthropismus zeigt sich, dass die Reformschulen Machtbeziehungen nicht eigentlich hervorbringen, sondern für deren Verlauf zwischen Erzieher und Zögling über das Zurückdrängen kontingenter Einwirkungsfaktoren vor allem eine katalysatorische Funktion haben. Macht ersetzt in diesem pädagogischen Verhältnis nun weitgehend den Einsatz von Zwang und Zwangsmitteln, sie ist eine Technik, die den kindlichen Tätigkeitstrieb kontrolliert anzuregen und in Selbsttätigkeit zu überführen vermag und ein 403 Ebd., S. 253. 404 Ebd. 405 Bei Foucault etwa heißt es in diesem Sinne: »Die Disziplin hält eine aus Beziehungen bestehende Macht in Gang, die sich durch ihre eigenen Mechanismen selber stützt und aufsehenerregenden Kundmachungen ein lückenloses System kalkulierter Blicke vorzieht.« (Überwachen und Strafen, S. 229) 406 Vgl. Foucault: Subjekt und Macht, S. 257f.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Lockmittel, das dem pädagogischen Blick bei Bedarf gezielt Facetten seines Gegenstandes zugänglich macht.407 Macht realisiert sich in diesem letzten Sinne in der Etablierung observativ ertragreicher Positions-, Wahrnehmungs- und Verhaltensaufteilungen und über diesen konfigurativen Charakter entfaltet sich die theatrale Dimension der philanthropistischen Methode. Machtbeziehungen sind nämlich, so Foucault, definiert »durch eine Form von Handeln, die nicht direkt und unmittelbar auf andere, sondern auf deren Handeln einwirkt. Eine handelnde Einwirkung auf Handeln, auf mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegenwärtiges Handeln.«408 Dabei müssen zwei Elemente als konstitutiv vorausgesetzt werden: »Der ›Andere‹ (auf den Macht ausgeübt wird), muss durchgängig und bis ans Ende als handelndes Subjekt anerkannt werden. Und vor den Machtbeziehungen muss sich ein ganzes Feld möglicher Antworten, Reaktionen, Wirkungen und Erfindungen öffnen.«409 Es ist dieses Handlungsfeld, auf das Macht einwirkt und das sie zu strukturieren sucht: »Sie ist auf Handeln gerichtetes Handeln« und zeichnet sich dementsprechend durch einen hochgradig manipulativen Charakter aus: »Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder sie senkt die Wahrscheinlichkeiten von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen[.]«410 Dem Gegenüber muss allerdings stets ein Handlungspotential bleiben, es muss »frei« sein, das heißt »jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen.«411 Diese (Rest-)Potenz ist notwendige »Vorbedingung« für Macht, »insofern Freiheit vorhanden sein muss, damit Macht ausgeübt werden kann, und auch […] dauerhafte Bedingung, denn wenn die Freiheit sich der über sie ausgeübten Macht entzöge, verschwände im selben Zuge die Macht und müsste bei reinem Zwang oder schlichter Gewalt Zuflucht suchen.«412 Macht erweist sich also, neben einer institutionellen Rahmung, wie sie das Philanthropin bereitstellt, als wesentlicher Faktor zur parallelen Reduzierung kontingenter und damit beobachtungshinderlicher wie zur Steuerung und gezielten

407 Vgl. zu Foucaults relationalem, strategischen und produktiven Machtverständnis allgemein sowie dessen Bezug zum Körper Grabau: Leben Machen, S. 35-39. 408 Foucault: Subjekt und Macht, S. 255. 409 Ebd. 410 Ebd., S. 256. 411 Ebd., S. 257. 412 Ebd. Diese beiden Pole der Beziehung stehen in einem konstanten Spannungsverhältnis zueinander, in dessen Gleichgewicht Effizienz und Subversion von Machtbeziehungen simultan zum Ausdruck kommen: Freiheit muss »sich einer Machtausübung widersetzen, die letztlich danach trachtet, vollständig über sie zu bestimmen.« (Ebd.) Insofern kann es »keine Machtbeziehung ohne Widerspenstigkeit geben […], auf die sie per definitionem keinen Einfluss hat« (ebd., S. 262).

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Setzung erwünschter Einflüsse. Sie ist in ihrem hervorlockenden, aber nicht vorschreibenden Charakter eine der maßgeblichen Voraussetzungen für die Erhebung eines Beobachtungswissens an einer sich unverstellt zeigenden und zugleich hinsichtlich bestimmter Aspekte unbemerkt in den Blick gerückten kindlichen Natur und Individualität. Mit dem Ziel, deren umfangreiche Vorstellung anzuregen, realisiert sich Macht im Dienste der Beobachtung. Der Erzieher soll zu diesem Zwecke seinen Zögling in Situationen versetzen, in denen dieser vermeintlich frei agieren kann und sich in einem genau abgesteckten, reaktionsoffenen Rahmen preisgebend präsentiert: »Man verseze sie in einen Zustand, worin sie so wenig wie möglich gereizt werden, sich zu verstellen, damit sie sich zeigen, wie sie sind; – das ist der Zustand einer durch Verstand gemäßigten Freiheit, – denn nur diese macht es den Kindern möglich, sich natürlich zu äussern, – und dem Erzieher, sie richtig zu beobachten«413 . Ein solcher Zustand stellt sich etwa dort ein, wo der Zögling »sich selbst überlassen wird oder wenigstens überlassen zu sein glaubt«414 , wo bestimmte äußere Umstände gezielt herbeigeführt werden,415 wo, mit anderen Worten, ein Handlungsfeld künstlich angelegt wird, das zugleich geschlossen genug ist, um die eindringenden Blicke der Pädagogen unbemerkt registrieren zu lassen, was dort an die Oberfläche tritt, und doch so offen, dass den authentischen Äußerungen kindlicher Natur und Individualität kein Anlass zur Verstellung entgegen steht. Es handelt sich dabei um eine durch und durch inszenatorische Tätigkeit des Erziehers, die nicht bloß machtvoll eine informative Selbstvergessenheit des Zöglings anregt, sondern auch Begegnungen und scheinbare Zufälle einfädelt, hinter denen tatsächlich aber Plan und Absicht stehen. Sie verwandelt Menschen in Darsteller und Dinge in Requisiten in einem punktuell errichteten Erziehungstheater, dessen von all dem nichts ahnendes Zentrum, der Zögling, nicht nur hinsichtlich seiner Innerlichkeit, der in ihm wirksamen Ursachen und Wirkungen sichtbar, sondern auch hinsichtlich seines Erziehungsgrades quantifizierbar gemacht wird. Die entsprechenden Werte liefert sein Handeln, sein Re- und Agieren in den jeweiligen Szenarien, etwa in den folgenden, von Salzmann exemplarisch vorgeschlagenen: »Ich würde z.E. solche Veranstaltungen treffen, daß gerade in dem Zeitpunkte, da ich bei meinen Zöglingen den Trieb zur Woltätigkeit rege gemacht hätte, ein ar413 [Anonym]: Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten, S. 87f. 414 So präzisieren die Herausgeber der Unterhandlungen Salzmanns Ausführungen in Einige Gedanken über die Notwendigkeit und den Vorzug öffentlicher Erzihungsanstalten, S. 174. Hier ist sicherlich erneut an das Spiel als paradigmatischer Beobachtungssituation zu denken. 415 Vgl. den Brief eines Ungenanten an das Institut, S. 352, wo vor diesem Hintergrund auf den Entzug des Zöglings W. hingewiesen wird, der in seinem zwar abgesteckten, aber gleichwohl notwendig handlungsoffenen Rahmen anders agiert, als dies von seinem Erzieher anvisiert ist, gerade damit aber die pädagogische als eine Machtbeziehung bestätigt.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

mer Mensch kommen und um Unterstüzung flehen, zu einer andern Zeit, wenn ich ihnen begreiflich gemacht hätte, wie nötig es sei, sich früh zu Ertragung der Mühseligkeiten dieses Lebens zu gewönen, ein Freund hereintreten und zu einer mühsamen Reise zu Fuße einladen, und noch ein andermal, wenn der Wert der Selbstbeherschung wäre fühlbar gemacht worden, die Tische mit Naschwerk besezet werden müsten.«416 Mit dieser Grundkonfiguration einer im weitesten Sinne künstlichen, das heißt bewusst als solcher angelegten, aber in diesem Sinne nicht wahrnehmbaren Rahmung, innerhalb derer ein natürliches Agieren authentisch sich zeigen, registrieren und quantifizieren lässt, ist der Beobachtung eine Bühne geschaffen, auf der sich unverstellt äußern soll, was in individuelles Handlungs- und allgemeines Fachwissen übertragen werden kann: Einzelner Zögling und kindliche Natur werden hier zur Aufführung gebracht, ohne dass den Exponierten ihre Exponiertheit bewusst wird. Diese metaphorische ist strukturell mit der tatsächlichen, von der zeitgenössischen theatralen Norm entworfenen Bühne verwandt. Sie ist gleichermaßen Instrument eines Willens zum Wissen vom Menschen, das vornehmlich beobachtungsbasiert erhoben wird und insbesondere in einer künstlichen Umgebung verdichtet sich zeigen soll. Sie kehrt damit zugleich hervor, was jeder anthropologischen Beobachtung, insbesondere der natürlichkeitsfixierten der Philanthropisten, unterlegt ist: ein theatrales Arrangement, eine je diskreter etabliert, desto ausgiebiger sich präsentierende Sichtbarkeit; eine genaue Platzverteilung von Beobachteten, die unverstellt agieren können sollen und Beobachtern, die keineswegs passiv den Blick darüber schweifen lassen, sondern das, was sie sehen, mit ihren Seherwartungen und den ihnen zugrunde gelegten Normen und Erkenntnisinteressen abgleichen. Diese konfigurative Komponente und den Mechanismus dieser machtbasierten Theatralität bringt Wezel nicht nur terminologisch auf den Punkt, sondern verankert sie auch fest im Vorgehen der von ihm problembewusst diskutierten Methodik: »Nunmehr wendet sich der Blick auf den Zögling. Man sey anfangs ganz kalter Zuschauer, bemühe sich so wenig als möglich auf ihn zu wirken, setze ihn durch mannigfaltige Veranlassungen in Wirksamkeit, und locke ihm den ganzen Umfang seiner kleinen Thätigkeit, seines Denkens, Empfindens und Wollens ab, suche die Dauerhaftigkeit, Schwäche, Stärke seines Körpers, die Beschaffenheit seiner Organisation durch Proben und Versuche zu erforschen. In einigen Wochen wird man so ziemlich – Kopf und Beobachtungstalent vorausgesetzt! – den Grad einer jeden seiner körperlichen, denkenden und wirkenden Kräfte und ihr Verhält-

416 Salzmann: Einige Gedanken über die Notwendigkeit und den Vorzug öffentlicher Erzihungsanstalten, S. 170.

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niß unter einander wissen, und die Richtung seiner Thätigkeit kennen – alles nur so ziemlich! – mehr läßt sich vor der Hand nicht fodern.«417 Aufgerufen wird damit zum einen eine spezifische Rezeptionshaltung, die an die Ansprüche eines pädagogisierten Theaterpublikums418 erinnert und deckungsgleich ist mit den Vorgaben für die kleinen Hausbühnen: nicht affiziert, sondern registrierend zuzuschauen. Zum anderen weist der Bezug das Theater als die zentrale Referenz aus, wenn es um die Beobachtungsmöglichkeit anthropologischer Dynamiken geht, mit doppeltem Stabilitätseffekt: Er bestätigt und bestärkt in der Heranziehung dieses Verständnis der Schaubühne ebenso, wie er Anliegen und Anspruch der Methode konturiert. Ein solches Zusammenspiel der Verteilung von Blicken und Positionen, der unaufdringlich gesetzten Impulse und Stimuli, der kontrollierten, aber nicht gänzlich determinierten Situativität verweist zugleich auf die experimentelle Dimension des Philanthropismus, wie sie Nicolas Pethes herausgearbeitet und im Gefüge der zeitgenössischen medizinischen, anthropologischen und literarischen Diskurse verortet hat.419 Sie betrifft nicht nur die institutionelle (Stichwort Experimentalschule), sondern auch die methodische Komponente der Reformpädagogik. So nehmen gerade die permanent angelegten und arrangierten Handlungsund Verhaltensfelder den Charakter von Experimentalanordnungen420 an, die dem genannten, doppelten Interesse der pädagogischen Beobachtung, ihrer pragmatischen wie theoretischen Dimension verpflichtet sind. Experiment und 417 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 36. Ein solches theatrales Modell legt auch Moritz seinen geplanten Menschenbeobachtungen als Ideal zugrunde. Es verspricht nicht nur die nötige Distanz zur Registrierung, sondern auch Sichtbarkeit des zu Beobachtenden: »Aber wer gibt dem Beobachter des Menschen immer Kälte und Heiterkeit der Seele dazu, alles, was geschieht, so wie ein Schauspiel zu beobachten und die Personen, die ihn kränken, wie Schauspieler? […] Sobald ich also sehe, daß man mir selber keine Rolle geben will, stelle ich mich vor die Bühne, und bin ruhiger, kalter Beobachter.« (Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre, S. 94) 418 Vgl. II.5. 419 Vgl. Pethes: Zöglinge der Natur; vgl. zur zeitgenössischen Experimentalkultur Sabine Schimma und Joseph Vogl (Hg.): Versuchsanordnungen um 1800, Zürich/Berlin 2008. Dass das Experiment bereits ab Mitte des 18. Jahrhunderts seinen Platz in den sich langsam ausdifferenzierenden Humanwissenschaften behaupten kann und dort nicht nur als Methode zur Wissensgenerierung, sondern auch als eine die Wissensformen, zu denen es beiträgt, reflektierende Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet werden kann, betonen Marcus Krause & Nicolas Pethes: Zwischen Erfahrung und Möglichkeit. Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 7-18, insb. S. 14-17. 420 Vgl. Bettine Menke, Thomas Glaser: Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität. Ein Aufriss, in: dies. (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität, Paderborn 2014, S. 7-21.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Beobachtung sind dementsprechend auch nicht als methodische Alternativen zu sehen, sondern im Sinne einer »experimentellen Beobachtung«421 miteinander verschränkt. Dies steht keinesfalls im Widerspruch zu der hier fokussierten, methodischen Theatralität. Sie ist vielmehr Bestandteil beider Komponenten: Liegt einer Form der keineswegs neutral bleibenden, sondern gleichermaßen erwartungsgeleiteten und impulssetzenden Beobachtung, wie sie dem pädagogischen Blick eignet, eine theatrale Verteilung der Positionen und Wahrnehmungsweisen zugrunde, bringt die sich ihrerseits der Machtbeziehung zwischen Erzieher und Zögling verdankende, experimentelle Anordnung eine Bühne des Wissens im genannten Sinne hervor, auf der »– wie im Theater – auf eine geregelte Weise Sichtbarkeit erzeugt [wird]«422 . Wie die Forschung inzwischen aufgezeigt hat, ist Theatralität wesentliches Element (früh-)neuzeitlicher Experimentalkulturen und experimentell arbeitender Wissenschaften, deren »Wissensgenerierung an spezifische Verfahren der Konstruktion und Inszenierung geknüpft ist.«423 Dieser Bezug von Theatralität und Experiment ist gerade für die Reformpädagogik bisher noch nicht untersucht worden und lässt sich nun wie folgt fassen: Für die Methodik der am anthropologischen Grenzfall Kind ansetzenden und experimentell Wissen generierenden Pädagogik424 steht insbesondere jener Ort modellhaft ein, an dem sich im Verlauf 421 Pethes: Zöglinge der Natur, S. 10. Dass Experiment und Beobachtung als zwei voneinander getrennte Verfahren zu betrachten sind und sich im Philanthropismus schließlich letztere durchsetzt, betont hingegen Schmid: Anfänge der empirischen Kinderforschung von Kindern im ausgehenden 18. Jahrhundert, S. 7f. 422 Menke, Glaser: Experimentalanordnungen der Bildung, S. 15. 423 Klaus Müller-Wille: Inszeniertes Wissen. Theater und Experiment, in: Michael Gamper (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien, Göttingen 2010, S. 40-68, hier: S. 43. Vgl. für eine allgemeine Übersicht Helmar Schramm: Theatralität, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Wörterbuch in sieben Bänden. Band 6. Stuttgart, 2005, S. 48-73; mit Schwerpunkt auf das 17. Jahrhundert Schramm et al. (Hg.): Spektakuläre Experimente; mit spezifischem Wissenschaftsfokus exemplarisch Jan Frercks: Epistemisches Theater: Die Dialektik von Forschung und Lehre bei Vorlesungsvorführungen in der Chemie um 1800, in: Sabine Schimma und Joseph Vogl (Hg.): Versuchsanordnungen um 1800, Zürich/Berlin 2008, S. 17-38 sowie Céline Kaiser: Schauplatz Psychiatrie. Aspekte der Theatralität in der Psychotherapie um 1800, in: Jahrbuch Literatur und Medizin 2 (2008), S. 61-78. 424 Hier im Anschluss an Pethes These, »daß das Wissen über den Menschen im 18. Jahrhundert an seine Erziehung und seine Erziehung an seine experimentelle Beobachtung gekoppelt ist« (Zöglinge der Natur, S. 10). Dass dem Experiment eine maßgebliche produktive Komponente eignet, wie es Krause und Pethes betonen, dass also »das Experiment allererst hervorbringt, was es in allgemeinem Verständnis doch lediglich nachzuweisen hatte« (Zwischen Erfahrung und Möglichkeit, S. 10) ist gewissermaßen die Komplementärthese zu der bereits zitierten, an Philippe Ariès Geschichte der Kindheit anschließenden Feststellung Luhmanns, das Kind sei Konstrukt eines Beobachters.

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des 18. Jahrhunderts zunehmend der Mensch in seiner kausalen Organisation vorstellen soll: das Theater, als evidenzproduzierender Konfigurations- und Beobachtungsraum. Der Philanthropismus ist als »eine experimentelle Pädagogik«425 eine theatrale Pädagogik. Aufbauend auf den weitestmöglich eingeholten biographischen Kenntnissen, den umfangreichen Beobachtungen und dem darüber erhobenen Wissen soll nun zum einen ein »Operationsplan«426 entworfen werden und mit Hilfe dessen die individuelle Erziehung passgenau auf den jeweiligen Zögling einwirken können. Nur um diese Einwirkung dann wiederum zu beobachten. Die Bühne des Wissens, auf der man den Zögling als Gegenstand des pädagogischen Blicks agieren lässt, erstreckt sich koextensiv zu seiner Erziehung: »Sobald ein solcher Plan im Allgemeinen entworfen ist, und nunmehr an die Ausführung Hand gelegt wird, muß die Aufmerksamkeit des Erziehers beständig gespannt seyn, um erstlich jede äußerliche Situation (Lage) zu bemerken, in welche der Zögling durch den Zufall oder durch die eigne Veranstaltung des Erziehers gesetzt wird. Allenthalben, in der Gesellschaft, auf der Stube, bey den Vergnügen, bey der Arbeit muß er das kleinste Detail (die Umständlichkeit) der Begebenheiten sich nicht entwischen lassen, als wenn er der Geschichtsschreiber des kleinen Mannes werden wollte.«427 Zum anderen muss die nach diesem Plan sich vollziehende jeweilige Erziehung im fachlichen Sinne wissensförmig aufbereitet werden. Die Beobachtungen und Erfahrungen des Erziehers sollen dazu als Erziehungsgeschichte verschriftlicht und in professionelle Hände gelegt werden. Aus diesem Grunde appellieren die Philanthropisten so nachdrücklich, ja fast vehement an ihre Kollegen und bitten um möglichst zahlreiche Einsendungen solcher Geschichten, die dann wiederum, etwa in den Pädagogischen Unterhandlungen als Ausgangspunkt »einer pädagogischen Fachkommunikation«428 veröffentlicht werden sollen. Sie sind das Material, aus dem sich die Grundsätze der entstehenden Wissenschaft destillieren lassen, die Puzzlestücke, aus denen sich nach und nach das berufspraktische wie fachliche Wissen der Pädagogen zusammensetzt.429 Wezels zentrale Handlungsanweisung an die Kollegen lautet dementsprechend: »Und nun, ihr Pädagogen, Hofmeister, Informatoren, Kinderlehrer, Rektoren, Konrektoren, Schulmeister und Professoren! – beobachtet, schreibt!«430 425 426 427 428 429 430

Pethes: Zöglinge der Natur, S. 239. [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 37. Ebd. Düwell/Pethes: Fall, Wissen, Repräsentation, S. 18. Vgl. Kaul: Erziehungsgeschichten und Lebensgeschichten, S. 17f. [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 42. Vgl. Kaul: Erziehungsgeschichten und Lebensgeschichten, S. 14f. Dass solche Erziehungsgeschichten als Protokolle der pädagogischen

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Die Erziehungsgeschichten, die Wezel in seinem Aufsatz ebenso programmatisch entwirft wie eine Theorie der Beobachtung als ihre Voraussetzung, verschränken diese Wissens- mit einer bestimmten Darstellungsform.431 Sie sollen neben der Schilderung biographischer Angaben – der Herkunft, Eltern und bisherigen Erziehungs- wie Lebensstationen –, der Selbstbeschreibung des Erziehers und der Vorstellung des aufgestellten Erziehungsplans auch die Darstellung einer observativ entdeckten und gezielt stimulierten Kausalität beinhalten, also der Entwicklung des Zöglings unter Einfluss des Erziehungsplans. Der ›Geschichtsschreiber des kleinen Mannes‹ muss dabei der nie gänzlich auszuräumenden Unsicherheit seiner Methode Rechnung tragen. Die Geschichte, die er schreibt, kann nicht auf Gewissheiten beruhen, wie Wezel nachdrücklich betont, sie folgt vielmehr der Maßgabe der Wahrscheinlichkeit, also einer traditionell ästhetischen Kategorie,432 die nicht erst – dann jedoch als Vorgabe für die Darstellung kausal perspektivierter Handlungs- und Verhaltensweisen – die anthropologisch interessierten, literarischen Formen der Zeit prägt. Bevor dieser Zusammenhang abschließend ausführlicher in den Blick genommen wird, gilt es zunächst noch, die Textformen der Pädagogen aus der Warte der bisherigen Kapitel näher zu betrachten, mit anderen Worten: hinsichtlich ihrer Theatralität.

Experimente zu betrachten sind und dass ihre Verschriftlichung, Speicherung und Verbreitung die medientechnischen Voraussetzungen einer sich dergestalt methodisch geleiteten Etablierung der Pädagogik als Wissenschaft sind, zeigt Pethes: Zur doppelten Funktion der Medien. Tatsächlich wurden Beobachtungsberichte eingereicht und auch in den Pädagogischen Unterhandlungen veröffentlicht, allerdings in geringerem Umfang als offenbar angenommen, vgl. Diele: Beobachtungen in den Pädagogischen Unterhandlungen, S. 224-226. 431 Vgl. Düwell/Pethes: Fall, Wissen, Repräsentation. Die hier eingeschlagene wissensgeschichtliche Perspektive erkennt im stets Epistemologie und Repräsentation miteinander verknüpfenden Fall die »spezifische Wissensform der Humanwissenschaften« (ebd., S. 10), wie sie sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts ausdifferenzieren. Aufgezeigt wird in diesem Zusammenhang, dass »individuelle Beobachtungsprotokolle[]« (ebd., S. 18), etwa bei Wezel, erst in ihrer medialen Aufbereitung einer serialisierenden Publikation in Kompendien und Zeitschriften zu Fällen werden und diese für die empirisch arbeitenden Disziplinen der Humanwissenschaften, wie eben die Pädagogik, überhaupt erst die »Grundlage prospektiver Theorien« (ebd., S. 19), also ihrer Verfachlichung, bilden. 432 Vgl. zum ästhetischen und mathematischen Wahrscheinlichkeitsbegriff, ihren Überschneidungen und Differenzen Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002.

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5   Die Dramatisierung der Form Das Theater, so konnte bisher aufgezeigt werden, ist für die Reformpädagogik gleichermaßen Instrument wie Modell. Es prägt den Unterricht, das Auftreten des Erziehers und seine Methodik, die pädagogische Praxis ebenso wie die Pädagogik als empirische Wissenschaft. Es prägt aber auch, so lässt sich anschließen, die Texte, in denen die sich aus diesen Parametern maßgeblich zusammensetzende Programmatik der Philanthropisten vorgestellt und ausdifferenziert wird, wie es insbesondere im Umfeld des Dessauer Philanthropins und der Pädagogischen Unterhandlungen der Fall ist. Diese ausführliche Selbstpräsentation erschöpft sich nämlich nicht darin, die Spezifika, Vorzüge und professionellen Distinktionsmerkmale reformpädagogischer Schulen, Unterrichts- und Erziehungsverhältnisse argumentativ zu begründen, zu erläutern und mit Verweis auf den behaupteten Erfolg ihrer Umsetzung zu plausibilisieren. Vielmehr wird wiederholt versucht, sie im und durch den Text selbst vorzuführen und anschaulich zu machen. Dieses Anliegen bedingt wiederum die ihm zugrunde liegende Form: es dramatisiert sie. Gemeint ist damit nicht die Transformation der Abhandlungen und Vorstellungen in Theaterstücke, jedoch ein mindestens punktuell und gezielt eingesetzter Wechsel des Darstellungsmodus, ein Zurücktreten jeglicher Vermittlungs- und Erläuterungsinstanzen zugunsten einer Evidenz der Vorgänge selbst und ihres Vollzugs. Nachdem es mit dem Verhältnis von Drama und Dialog zunächst um diesen Darstellungsmodus selbst geht (5.1), wird anschließend dessen konkreter Einsatz untersucht. Im Fokus stehen dabei die Kontexte und Effekte dialogischer Schreibweisen in Abhandlungen und theoretischen Texten (5.2). Hier gilt es aufzuzeigen, wie sich durch ein dialogisch‐szenisches Zusammenspiel programmatisch von anderen Erziehungsformen gleichermaßen abgesetzt wie die eigene Überlegenheit vorgestellt werden soll. Eine Dramatisierung der Form dient außerdem dazu, die eigene Praxis, ihre Theoretisierung sowie deren Verschränkung in ihrer und als Prozessualität vorzuführen. Schließlich wird dieser Dramatisierung in Campes von den Philanthropisten selbst bereits als repräsentativ gesetztem Robinson der Jüngere nachgegangen und aufgezeigt, wie darin die unterschiedlichen, im Text angelegten und den Status des Textes jeweils verändernden Rezeptionsformen und Erziehungsziele zusammenlaufen (5.3).

5.1   Drama und Dialog Die Textform, die die Anschaulichkeit von Vorgängen samt ihres Vollzugs am ehesten zu leisten vermag, ist der Dialog, der als Gattung im 18. Jahrhundert seine letzte große Blüte erlebt. Unabhängig davon, ob man diese Konjunktur als Kompensationsversuch deutet, weil in Folge einer sich ausbreitenden Schriftkultur zunehmend deutlich wird, dass Kommunikation und Interaktion nicht notwendig aufeinander

III Die Theatralisierung der Pädagogik

bezogen sein müssen,433 oder als verstärkte Reflexion über die Voraussetzungen von Kommunikation samt ihrer Nachahmung434 – die unterschiedlichen Positionen kommen in einer Hinsicht überein: Der Dialog als Form suggeriert eine situative Gegenwärtigkeit, er fingiert Präsenz und Unmittelbarkeit und lehnt sich in seiner Orientierung am natürlichen Gespräch denkbar nah an die Wirklichkeit an, die er nachahmt.435 Was ihn dabei stets in der Nachbarschaft zum Drama hält, mit seinen Evidenzeffekten in Zusammenhang steht und ihn den Darstellungsansprüchen der Pädagogen als besonders geeignet erscheinen lassen muss, ist seine Performativität. Anders als etwa eine Abhandlung, ein Traktat oder Aufsatz vermag der Dialog im und durch den Gesprächsprozess seine Inhalte nicht bloß auszusagen, sondern vorzuführen und damit in ihrer Entstehung und Entwicklung als Bestandteile seiner genuinen Prozessualität anzuverwandeln.436 Es ist nicht zuletzt der genannte Vergegenwärtigungseffekt, der wiederum dem Drama in den Gattungsdiskussionen des an Darstellungsmöglichkeiten von Unmittelbarkeit interessierten 18. Jahrhunderts seine privilegierte Stellung zusichert und es als textliches Korrelat der evidenzproduzierenden Apparatur der Bühne zu Grunde legt.437 Was zeitgenössisch als »die äußere dramatische Form« (HD, 54. Stück, S. 450) identifiziert und als formale conditio sine qua non des Dramas reflektiert wird, ist der Dialog.438 Dieser Konnex wird retrospektiv etwa von Peter Szon433 Vgl. Kalmbach: Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. 434 Vgl. Alexandra Kleihues: Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madame d’Épinay und Voltaire, Würzburg 2002. 435 Vgl. neben den beiden genannten Studien etwa Roger Bauer: »Ein Sohn der Philosophie«: Über den Dialog als literarischer Gattung, in: Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 23 (1976), S. 29-44; Jürgen Wertheimer: »Der Güter gefährlichstes, die Sprache«. Zur Krise des Dialogs zwischen Aufklärung und Romantik, München 1990, S. 11-14; Bernd Hänser: Der Dialog. Strukturelemente einer Gattung zwischen Fiktion und Theoriebildung, in: Klaus W. Hempfer (Hg.): Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis, Stuttgart 2004, S. 13-65. 436 Kleihues sieht in dieser »performative[n] Kraft der direkten Äußerungen, aus welchen er besteht« (Der Dialog als Form, S. 39) die maßgebliche dramatische Komponente des Dialogs. Vgl. zur Performativität außerdem Hänser: Der Dialog, S. 52-59. 437 Vgl. zum Interesse an Unmittelbarkeitsdarstellungen, den Vorzügen und Grenzen der Dialogform und daran anschließende Gattungsdiskussionen Rolf Tarot: Drama – Roman – Dramatischer Roman: Bemerkungen zur Darstellung von Unmittelbarkeit und Innerlichkeit in Theorie und Dichtung des 18. Jahrhunderts, in: Linda Dietrick und David G. John (Hg.): Momentum dramaticum. Festschrift für Eckehard Catholy, Waterloo 1990, S. 241-269, insbes. S. 247-253 sowie Thomas Weitin: Unmittelbare Anschauung. Legitimation durch Verfahren in der Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts, in: Sibylle Peters, Martin Jörg Schäfer (Hg.): »Intellektuelle Anschauung«. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 183-200, hier: S. 188-191; hinsichtlich der (Guckkasten-)Bühne Schäfer: Passivität und Augenschein. 438 Vgl. zur »Rolle des Dialogs als formaler Bedingung dramatischer Texte« Reinhold Zimmer: Dramatischer Dialog und aussersprachlicher Kontext. Dialogformen in deutschen Dramen des 17. bis 20. Jahrhunderts, Göttingen 1982, S. 11-45, Zitat von S. 12; ferner Otto F. Best: Der Dialog,

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di verschärft. In seiner Theorie des modernen Dramas verortet er das Drama als eine »literaturgeschichtliche Erscheinung«439 historisch explizit vornehmlich zwischen der französischen und der deutschen Klassik. Er bezieht sich damit – so muss inzwischen ergänzend betont werden – systematisch implizit auf jene Textform, die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts als Aufführungsgrundlage und Formierungsgarant des literaturbasierten Theaters, wie es dessen aufklärerische Reform entwirft, diskursiv durchgesetzt hat. Für diese »bestimmte Form von Bühnendichtung« erhebt Szondi den Dialog »zum alleinigen Bestandteil des dramatischen Gewebes«, das sich den Menschen zum Gegenstand nimmt, und zwar in seinem »zwischenmenschlichen Bezug«, in einer vergegenwärtigenden Veräußerlichung an seine und in seiner »Mitwelt«440 . Vor diesem Hintergrund betont Szondi »[d]ie Alleinherrschaft des Dialogs, das heißt der zwischenmenschlichen Aussprache im Drama«441 und bestimmt so die Gattung – oder, wie man aus seiner Perspektive sagen müsste, einen ihrer Abschnitte – von ihrer Form her und den spezifischen Effekten, die sie produziert. Auch bei einer weniger streng respektive anders gelagerten historisch‐begrifflichen Fixierung zeigt sich, wie sehr beide, Drama und Dialog, seit je her verwandt sind. Die antike Tragödie wird, so Walter Benjamin, von zwei Bezirken gerahmt, die ihrerseits jeweils dialogisch organisiert sind: dem Recht und der Philosophie. Ersterer, »[d]er antike Prozeß – der Strafprozeß insbesondere – ist Dialog, weil gebaut auf die Doppelrolle von Kläger und Beklagtem, ohne Offizialverfahren«442 , heißt es im Ursprung des deutschen Trauerspiels. Benjamin attestiert der Tragödie hier als »Sühneverhandlung« einen Eingang in »dies Bild des Prozeßverfahrens«, eine in: Klaus Weissenberger (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht‐fiktionalen Kunstprosa, Tübingen 1985, S. 89-104, hier: S. 99-101. Bereits in Gottscheds kurzer Entstehungsgeschichte der Tragödie, die zunächst erstmal die Genese des Theaters selbst erzählt, wird als für die Gattung entscheidender Entwicklungsschritt nicht die dem Sänger Thespis zugeschriebene Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum, sondern die Umstellung von Monozu Dialog betont: »Aeschylus nämlich, ein neuerer Poet, sah wohl, daß auch die Erzählungen einzelner Personen, die man zwischen die Lieder einschaltete, noch nicht so angenehm wären; als wenn ein paar Personen mit einander sprächen, darinn sich mehr Mannigfaltigkeit und Veränderung würde anbringen lassen.« (CDII, S. 310) 439 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), Frankfurt a.M. 8 1971, S. 12. Vgl. hier ferner Lutz Ellrich: Das Drama als Form. Anschauung, Dialog, Performance, in: Oliver Kohns, Claudia Liebrand (Hg.): Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie, Bielefeld 2012, S. 39-55, insb.: S. 45-47. 440 Ebd., S. 13f. In Szondis Worten: »Indem er [der Mensch – AW] sich zur Mitwelt entschloß, wurde sein Inneres offenbar und dramatische Gegenwart.« (Ebd., S. 14) 441 Ebd., S. 15. 442 Walter Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser hier: Band I.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1974, S. 203-430, hier: S. 295.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Strukturäquivalenz, aus der sich schließlich noch bzw. überhaupt nur jene konstitutiven Dramenelemente erklären lassen, deren poetologische Karriere erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts hinterfragt werden wird: die drei Einheiten als »Gerichtsstätte«, »Gerichtstag« und »Verhandlung«443 . Auf der anderen Seite transponiert der philosophische Dialog platonischer Prägung das Tragische ins Pädagogische und macht »die Gespräche des Sokrates zum unwiderruflichen Epilog der Tragödie«: Aus dem Aufschrei des tragischen Helden, dessen Hybris gesühnt wird im Vollzug des dramatischen Verfahrens, wird »[d]as ironische Schweigen des Philosophen«, und »[a]n Stelle des Heros gibt Sokrates das Beispiel des Pädagogen.«444 Was sich in dessen Auftritten jedoch erhält, so lässt sich aus dem Schluss des Arguments fortsetzen, ist auf formaler Ebene der Kern des Dramas, oder in Benjamins Worten, »der Geist des Dialoges selbst«, den der Philosoph aus den Händen der ›verlogenen‹ Dichter entlehnt, ohne deren Fingerabdrücke gänzlich entfernt haben zu können: »Im Dialog tritt die reine dramatische Sprache diesseits von Tragik und Komödie, ihrer Dialektik, auf.«445 Martin Puchner hat hinsichtlich dieses Zusammenspiels von Drama und Dialog, Theater und Philosophie aufgezeigt, wie mit dem, was bereits Aristoteles »die sokratischen Dialoge«446 nennt, ein neues, in der Philosophie beheimatetes, aber eben »durchaus dramatische[s] Genre[]«447 entsteht, Platon, der Ahnherr der Theaterfeindschaft, also durchaus als Dramatiker zu lesen ist. Vor dem Hintergrund dieses Spannungsverhältnisses von Verwandtschaften und Interferenzen, das den Dialog formal im Drama aufgehen und auf Gattungsebene das Drama als Substrat im Dialog erkennbar werden lässt, sind auch die dialogischen Schreibweisen der Philanthropisten zu betrachten. Die Dramatisierung der Form betrifft dabei zum einen Artikel, Aufsätze und Abhandlungen und erzeugt textuelle Präsenzeffekte, die wesentliche Aspekte und Prozesse evidentialisieren sollen. Um die hier zum Einsatz kommenden Varianten und Verfahren wird es zunächst gehen. Zum anderen findet sich eine solche Dramatisierung auch im von den Philanthropisten gleichermaßen bespielten literarischen Register, am Prägnantesten sicherlich in Campes Robinson der Jüngere, einem Text, der gemeinhin als Roman gelesen wird. Er wird anschließend im Fokus stehen, hinsichtlich der dialogisch‐dramatischen Verfahren, vor allem aber hinsichtlich ihrer Implikatio-

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Ebd., S. 295f. Ebd., S. 297. Ebd. Aristoteles: Poetik, 1447b. Martin Puchner: Platon und das moderne Drama, in: Stefanie Diekmann, Christopher Wild, Gabriele Brandstetter (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München 2012, S. 193-203, hier: S. 194; vgl. dazu ausführlicher ders.: The Drama of Ideas. Platonic Provocations in Theater and Philosophy, New York 2010, insbes. S. 3-35.

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nen und Konsequenzen für den Status des Textes zwischen Roman, Theaterstück und pädagogischer Anleitung.

5.2   Erziehungsszenen Dialogische Schreibweisen und mit ihnen einher gehende Dramatisierungen lassen sich in unterschiedlichem Umfang in den Abhandlungen der Pädagogen ausmachen. Insbesondere dort, wo der Darstellungsmodus changiert, markiert ihr Einsatz eine doppelte Bedeutsamkeit: Bedeutsam macht der Wechsel ins Dialogische erstens, was dort besprochen wird, schließlich wird es aus der gesteigerten Unmittelbarkeit eines fingierten Gesprächs heraus präsentiert. Zweitens rückt dieses Gespräch so auch als Szene in den Fokus, werden doch gezielt bestimmte Situationen, Konstellationen und Begegnungen als solche vergegenwärtigt. Dieses dialogisch‐szenische Zusammenspiel ermöglicht es, pädagogische Prämissen, Relationen und Prozesse nicht allein zu behaupten, sondern vielmehr ihre konkrete Vorstellung zu suggerieren. Die Dramatisierung der Form zeigt sich so als Darstellungskorrelat pädagogischen Wissens und seiner Produktion, sie verknüpft die Darstellung dieses Wissens mit einem Wissen der Darstellung, ist also, wie es Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer skizziert haben, eine »Figuration von Evidenz«448 . Was in den Dialogen und Dialogpassagen in diesem Sinne vergegenwärtigt wird, ist das berufliche Selbstverständnis der Pädagogen, ihre besondere Relationierung von Erzieher und Zögling, ihre professionelle Praxis und Methodik. Im selben Atemzug soll somit die Qualität der philanthropistischen Reform des Erziehungswesens unter Beweis gestellt, wie zugleich die erst allmähliche Konsolidierung der Pädagogik als professioneller Praxis und theoriegestützter Wissenschaft in ihrer Prozessualität im Rahmen einer durch die Dialogform bedingten Metaprozessualität vorgeführt und als solche reflektiert werden. Zu dieser Selbstkonsolidierung und -präsentation gehört auch die dezidierte Abgrenzung von anderen Erziehungs- und Unterrichtsformen. Als wesentlicher Gegenspieler wird hier insbesondere eine die kindliche und in Folge dessen die menschliche Natur insgesamt deformierende, weil ihrer Entwicklung in keiner Weise Rechnung tragende Gelehrtenerziehung attackiert. Schon in seiner gleichermaßen programmatischen wie die Einrichtung des Dessauer Philanthropins vorstellenden Abhandlungen Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins erteilt Campe »den viele[n] Eltern, die oft nichts geringeres verlangen, als daß ihre Kinder im achten oder zehnten Jahre drey bis vier Sprachen, nebst einem halben Dutzend schönen Künste, und eben so vielen Schulwissenschaften auf einmal, und zwar in

448 Peters, Schäfer: Intellektuelle Anschauung, S. 10.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

möglichster Geschwindigkeit, lernen sollen«449 , eine deutliche Absage. Er warnt vor einer der philanthropistischen Pädagogik diametral entgegen gesetzten, methodisch defizitären Überfrachtung von Kindern mit im Zweifelsfall wenig nützlichem, weil nicht anschaulich vermittelbarem, ihrer Lebenswirklichkeit entrückten Wissen. Ein solcher Unterricht bedeutet nicht nur eine konstante Überforderung, sondern trägt weder Individualität noch Entwicklungsphase der so entkindlichten Zöglinge Rechnung: »Was tut man nicht alles, um sie, die edelsten Geschöpfe Gottes hienieden, zu schwächlichen, entnervten, kränklichen, sich und andern zur Last fallenden, erbärmlichen Phantomen zu machen? Ein ewiger, Leib und Seele entkräftender Zwang; täglich bloß durch unsere Schuld nothwendig gemachte harte Leibesstrafen; ein auch dem stärksten jungen Körper unerträgliches Stillsitzen in dumpfen Schulstuben vom Morgen bis an den Abend; […] eine ängstliche Verwahrung vor jedem frischen balsamischen Lüftchen, mit welchem das arme eingesperrte junge Herrchen wohl gar ein Gefühl von Gesundheit und Jugendkraft einathmen könnte; eine verkehrte unnatürliche Ordnung im Lernen, wodurch der Stärkste und wohltätigste Trieb der jungen Seele, die Wissbegierde, unbarmherzig getödtet, und dasjenige, was Vergnügen, was Belohnung seyn sollte, die Erweiterung seiner Kenntnisse, zu einer Strafe, zu einer Höllenmarter gemacht wird; – dies sind die allwirksamsten Mittel, welche der Unverstand ersonnen hat, um mit den unschuldigen Freuden der Jugend, auch alle Glückseligkeit der männlichen Jahre, und alle Heiterkeit des ruhigen Alters, aus dem menschlichen Leben zugleich zu verbannen.«450 Diese Disqualifizierung der konkurrierenden Erziehungs- und Unterrichtsform setzt sich auf den folgenden Seiten umfassend und mit ungebrochenem Eifer fort. Gleichwohl taucht der defizitäre Status quo schon kurze Zeit später erneut in den Pädagogischen Unterhandlungen auf, allerdings in buchstäblich anderer Form. Im sechsten Stück des gleichen Jahrgangs findet sich das ebenfalls von Campe verfasste Gespräch zwischen dem Herrn Professor Pansophus, der freyen Künste Meister, und vieler gelehrten Gesellschaften Mitglied, und Valentin Gutmann. Warum diese Dopplung, ließe sich fragen. Denn das Gespräch greift die bereits scharf akzentuierte, diametrale Gegenüberstellung der pädagogischen Konzepte wiederholend auf. Die formale Transponierung führt jedoch zu einer entscheidenden Verschiebung: Sie ermöglicht es, den grundsätzlichen Tenor beizubehalten, ihn nun allerdings als naheliegende Schlussfolgerung aus dem Dialog hervorgehen zu lassen und so aus einer 449 [Campe]: Fortsetzung des abgebrochenen Entwurfs der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 119f. 450 [Campe]: Von der eigentlichen Absicht eine Philanthropins, S. 25f.

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auktorialen Setzung das Ergebnis einer Einsicht auf Seiten des Rezipienten zu machen. Denn das Gespräch vergegenwärtigt nicht nur die Differenz beider Konzepte, indem es sie als Positionen auf zwei ihrer Vertreter verteilt. Es ermöglicht vor allem, die defizitären Effekte der Gelehrtenerziehung vorzuführen und anschließend über den so augenscheinlich gemachten Kontrast die Überlegenheit und Vernünftigkeit philanthropistischer Pädagogik ersichtlich werden zu lassen. Indem Campe also die performativen Qualitäten des Dialogs nutzt, wird aus der Disqualifikation konkurrierender Erziehungskonzepte eine Selbstdisqualifikation, vor deren Hintergrund sich die Vorzüge der Reformpädagogik hingegen umso deutlicher abzeichnen können. Im Verlauf des Gesprächs macht der vernünftig‐bodenständige, kinderfreundliche und unprätentiöse Valentin Gutmann gegenüber dem ignorantüberspannten, von Standesdünkel geprägten und für den zwischenmenschlichen Verkehr untauglichen Gelehrten Pansophus nicht nur hinsichtlich seiner Erscheinung und seines Auftretens die bessere Figur, sondern auch, so inszeniert es der Text,451 hinsichtlich seiner nicht auf abstrakten Systemen, sondern ›gesundem Menschenverstand‹ und Erfahrungswissen beruhenden pädagogischen Ansätze. Anders als bei seinem späteren Dialog zum kindlichen Theaterspiel, der die Gesprächsform vornehmlich zur sukzessiven Präsentation dreier Überzeugungen und ihrer Argumentationsgänge nutzt, ohne die Teilnehmer über das formal erforderliche Mindestmaß hinaus zu konturieren – wie schon ihre Benennung als A, B und C verdeutlicht –,452 lässt Campe hier unter Rückgriff auf dramatische Mittel und Elemente der satirisch‐komödiantischen Tradition zwei Figuren aufeinandertreffen, deren hohen Typisierungsgrad bereits ihre sprechenden Namen und ihre Titel respektive deren Fehlen erkennen lassen.453 451 Stefanie Stockhorst hat pointiert zusammengefasst, dass die Ergebnisoffenheit dialogischer Texte immer nur eine vermeintliche ist, ihr Verlauf und Ergebnis entgegen der Suggestion natürlich immer schon feststehen, vgl. Stefanie Stockhorst: Wissensvermittlung im Dialog. Literarische Pflanzenkunde und christliche Weltdeutung in den Rahmenstücken von Johann Rists Monatsgesprächen und ihrer Fortsetzung durch Erasmus Francisci, in: Flemming Schock (Hg.): Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit, Berlin [u.a.] 2012, S. 67-90, hier S. 72f. Vgl. in diesem Sinne und mit Bezug auf die Philanthropisten bereits Pape: Das literarische Kinderbuch, S. 192. 452 Gleichwohl lässt sich auch bei einer solchen Minimalkonturierung das performative Potential der Form nutzen. Schließlich ermöglicht die Dialogform Campe nicht nur, die theaterkritische Argumentation B.s besonders ausführlich vor-, sondern auch ihre Überzeugungskraft darzustellen: Nach dessen umfangreicher Theaterschelte, vor allem nach Schilderung der zu befürchtenden Folgen für die Darsteller, muss auch der Theaterfreund A. »gestehe[n], daß ich von dieser Seite die Sache noch niemals angesehen hatte.« (Campe: Soll man Kinder Komödien spielen lassen, S. 218) 453 Campes Dialog bewegt sich damit einerseits durchaus im Fahrwasser jener Spielart der Gattung, die allegorische Figuren im Disput zusammenführt, und gemahnt andererseits an eine

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Dies verdeutlicht bereits ein Blick auf den Beginn des phasenweise überaus szenisch angelegten Gesprächs, als Pansophus gegenüber Gutmann mit dem beeindruckenden Wissens- und Kenntnisstand seines sechsjährigen Sohnes Christöffel prahlt und diesen schon bald auf der Bühne des Textes auftreten lässt: »Pansophus. Nun, Sie sollen gleich hören. – (An die Kammterthür laufend) Christöffelchen! Christöffelchen! Hörst du? Christöffel, (in der Nebenkammer) Quid clamitas, mit pater? Habe mein Pensum noch nicht ausgelernt. Attendez un peu! Pansophus. Hören Sie, hören Sie Herr Gutmann? Gleich in drei Sprachen! ›S ist ein erstaunlicher Junge. […] Nun, komm nur, Christöffelchen, komm nur; kannst diesen Abend nach dem Essen noch lernen. Hier ist ein Herr, der ein Bischen von deiner Gelehrsamkeit hören möchte! Gutmann, (für sich) Um Gottes willen! Ists möglich! Christöffel. (tritt herein, die Feder hinterm Ohr und ein großes Buch in der Hand, macht einen abgezirkelten pedantischen Reverenz.) Salve, amplissime domine! – Je vous saule[!], mon Pere. Gutmann. Gott bewahre! Das Kind ist wohl krank? Es sieht ja so blaß, wie eine Leiche, aus! Pansophus. Ein Zeichen seiner Application; weiter nichts, Herr Gutmann! Weiter nichts!«454 Unter Einsatz dramatischer Stilmittel – Bühnenauf- und -abgänge, Beiseitesprechen – und ihrer Verschränkung mit den Möglichkeiten dramatischer Informationsvergabe kann Campe von Anfang an eine Rezeption und Bewertung der Figuren aus dem Gesprächsverlauf heraus zu eindeutigen Gunsten Gutmanns steuern.455 Der Leser wird hier Zeuge, wie er Zeuge der angegriffenen Gesundheit des Kindes wird, sie wird ihm, dem Leser, überhaupt nur durch Gutmanns Reaktion vergegenwärtigt,456 die ihrerseits in Kontrast gesetzt wird mit der darüber fragwürdig potentielle, darin aber durchaus traditionelle Nähe zu Satire und Komödie, vgl. Bauer: Über den Dialog als literarischer Gattung, S. 33f. und Hänser: Der Dialog, S. 37f. 454 [Joachim Heinrich Campe]: Gespräch zwischen dem Herrn Professor Pansophus, der freyen Künste Meister, und vieler gelehrten Gesellschaften Mitglied, und Valentin Gutmann, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 6. Stück, S. 529-565, hier: S. 531f. 455 Vgl. zur Informationsvergabe Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse, München 9 1997, S. 67-148 und hier insbes. zur Perspektivenstruktur dramatischer Texte samt ihrer Steuerung S. 90-103. 456 Kalmbach: Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, S. 88 spricht in Zusammenhang mit dem Dialogroman von der »Suggestion der Augenzeugenschaft« und der »Simulation eines optischen Eindrucks«.

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werdenden, konträren Bewertung durch Pansophus. Doch nicht nur perspektivisch über die Figurenrede, auch a‐perspektivisch über den Nebentext und rückwirkend schon über den Titel wird in der vermeintlich offenen Gesprächsform eine eindeutige und rezeptionssteuernde Wertigkeit der Positionen implementiert. So trägt Christöffel »mit durchdringender Stimme und in einerley Ton« auswendig gelerntes Wissen aus der Kirchengeschichte vor, reagiert Pansophus »ganz entzückt aufspringend« auf das Fehlen moralischen Bewusstseins seines Sohnes, »lächelt mit vieler Selbstgefälligkeit« über die Einsichten seiner zur Veröffentlichung anstehenden Logik, nimmt jedoch zugleich die von Gutmann gezeigte »Ironie für Ernst«457 . Wie defizitär Pansophus gegenüber Gutmanns Erziehung ist, zeigt sich gleichermaßen im Handlungsverlauf, etwa als Christöffel im Anschluss an sein Aufsagen kirchenhistorischer Definitionen eine gleichermaßen umfassende Unkenntnis über sein tatsächliches Lebensumfeld offenbart: Auf Gutmanns Frage, »in welcher Jahreszeit, mein Sohn, wird denn der Roggen gesäet?« macht er nur »([…] ein Paar große Augen, und sieht seinen Vater an) Mi pater, was ist denn das – Roggen?«458 Dieser Auftritt des Ergebnisses weltfremder Gelehrtenerziehung verleiht nun umgekehrt den Ausführungen Gutmanns ein höheres Gewicht und verhilft, sie als Korrektiv gegen die erheblichen Defizite zu inszenieren. Schließlich zeigen sich die von ihm vorgetragenen Grundsätze philanthropistischer Pädagogik als dezidiertes Gegenmodell, das Selbsttätigkeit, Nützlichkeit und Sittlichkeit miteinander verzahnt, affektiv abdichtet und Erziehung in diesem Sinne als denjenigen Rahmen vorstellt, um »sich […] zu einem immer angenehmeren Leben vor[zu]bereiten«459 . Es setzt an Stelle der verba die res, bringt also den Zögling statt mit referenzlos bleibenden Worten »mit allen Gegenständen selbst, welche um und neben uns sind« in Kontakt und findet darüber Beschäftigungen, »von denen«, so Gutmann, »ich glaubte, daß sie in seinem jetzigen Alter ihm nützlicher wären; die ihm auch mehr Freude machten, und sowohl für seine Gesundheit, als auch für die Entwickelung seiner jungen Kräfte und Fähigkeiten, zuträglicher zu seyn schienen.«460 Campes Text kann so insgesamt in deren Gegenüberstellung vorführen, welche der beiden Erziehungspositionen die ›richtige‹ ist, ohne dies jedoch als auktoriale 457 Campe: Gespräch, S. 532, 535, 553, 539. 458 Ebd., S. 533. 459 Ebd., S. 541. 460 Ebd., S. 544f. Die Wahl des Dialogs für eine solche Gegenüberstellung ist keineswegs zufällig. Die Kritik an weltfremdem Bücherwissen, bei Campe verschärft um den wesentlichen Kritikpunkt der Kindungemäßheit, ist eng mit dem Dialog verknüpft, wie Gabriele Kalmbach gezeigt hat. Sie führt aus, wie er zeitgenössisch zum Ausdruck dieser Kritik avanciert, die an Stelle einsamer Schriftgelehrsamkeit eine lebendige, gesprächsbasierte Wissensvermittlung und -produktion fordert, also auch Fragen des Unterrichts und der Didaktik im Spannungsfeld der Medienkonkurrenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verhandelt werden, der sich ihre Studie widmet, vgl. Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, insbes. »Die Kritik an der ›Buchgelehrsamkeit‹« S. 139-151.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Aussage zu setzen. Die Wertigkeit entsteht allein aus dem Verlauf des Gesprächs und beruht auf der Evidenz, die dessen Vollzug produziert. Der jedoch ist von vornherein planvoll angelegt, hinsichtlich seiner bereits formbedingten Anschaulichkeit szenisch amplifiziert und in seiner Rezeptionssteuerung durch dramatische Techniken unterstützt. Es wurde bereits dargelegt,461 dass die philanthropistische Pädagogik, wie sie hinter Valentin Gutmanns Ansätzen in Campes Gespräch steht, weit offener und unfertiger ist, als es der Zusammenhang seiner Ausführungen nahelegt; dass vielmehr die wechselseitige Formung einzelner Erziehungserfahrungen und objektiver Grundsätze nicht nur als Prozess vorgestellt, sondern auch in einer nahezu konstitutiven Unabschließbarkeit reflektiert wird. Dieses Problem und Problembewusstsein, die Prozessualität der Verfachlichung sowie die notwendige Offenheit des Verfahrens dabei zugleich zu veranschaulichen, ermöglichen dialogische Schreibweisen und vorübergehende Formveränderungen inmitten der entsprechenden Abhandlungen und Artikel. Im Rückgriff auf jenes »Spektrum zwischen wissenschaftlichen Beweisverfahren und nicht‐wissenschaftlichen Darstellungstechniken«462 verschränken die Texte so Gehalt und Vergegenwärtigung im Zeichen der Evidenz. In der Antwort des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Brief des Ungenannten diskutieren und problematisieren die Philanthropisten das genannte empirisch‐theoretische Zusammenspiel zur Grundsatzgewinnung und -systematisierung ebenso wie die zugehörige Methode der Beobachtung, ihre Voraussetzungen sowie die Anforderungen an den Beobachter. Eingestanden wird in diesem Zusammenhang eine Diskrepanz zwischen dem hier aufgestellten Ideal anthropologischen Ebenmaßes,463 das den Beobachter auszeichnen sollte, und der Kontingenz seiner Individualität, die einer eigentlich angestrebten Objektivität der Beobachtung entgegenläuft und die darauf beruhenden pädagogischen Urteile subjektiv einfärbt: »[I]hre Urtheile waren also eben so, mehr oder weniger, verschieden, – und das daher, weil jeder von ihnen in seinem Charakter, Temperament, in seinem Geschmak oder Lieblingsstudium etwas Eigenthümliches hat, das unvermerkt in seine Urtheile übergeht, oft wider seinen Willen.«464 Dies ist nicht mit einer Falsifizierung zu verwechseln, bedeutet allerdings eine so entscheidende Relativierung, dass jeder sogleich in der Anwendung wieder zu validisierende Grundsatz seinerseits nur komparativ über den Austausch der Pädagogen ermittelt werden kann: 461 Vgl. Kapitel III.3. 462 Peters/Schäfer: Intellektuelle Anschauung, S. 10. 463 Erwartet wird von ihm, »daß er erstlich eine seltne natürliche Anlage habe, – und dan, daß die Anlage und alle seine Selenkräfte in dem vortheilhaften Gleichgewicht ausgebildet werden, daß keine derselben gegen die andre zu viel – weder gewint noch verliert!« ([Anonym]: Antwort des Instituts, S. 92.) 464 Ebd., S. 98.

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»Und wer hat nun recht gesehn: Das mus durch Vergleichung und viele Erfahrungen ausgemacht werden.«465 Die Komplexität und Dauer eines solchen Verfahrens, einer solchen sich selbst hervorbringenden theoretischen Fundierung professioneller pädagogischer Praxis in ihrer Prozessualität, versucht der Text nun gleichermaßen vor Augen zu stellen. Eingeleitet wird dies durch das Vor-Stellen einer Szene auf dem zur Bühne umgeschriebenen Text, also mit Hilfe einer, so lässt sich im Anschluss an Martin Huber feststellen, kurzen »narrative[n] Inszenierung«466 : »Sehen Sie da einen Haufen Kinder und Jünglinge; sehen Sie sie einen Monat lang in ihren Geschäften und Erholungsstunden; beobachten Sie sie genau, um über sie urtheilen zu können. sie werden hie und da Vorzüge entdekken, aber auch noch Mängel. Hören Sie nun die Urtheile der Lehrer von diesen Eleven, um sie mit dem Ihrigen zu vergleichen[.]«467 Adressiert wird der sich in seinen Briefen als respektabler Pädagoge zeigende Unbekannte, allerdings als Teil eines doppelten Publikums: einerseits als Repräsentant der fachlich mindestens interessierten Leserschaft, die sich vorstellt, was der Text »auf der Szene der Rede selbst wirksam werden lässt«468 , andererseits als Teil dieser Vor-Stellung, als Element jenes theatralen Arrangements, das die philanthropistische Methodik prägt, das heißt als pädagogisch versierter Beobachter, der sich einreiht in die Zuschauerschaft seiner Kollegen. Nicht zuletzt eine solche Überlagerung von Beobachtungspositionen verweist auf die eigentlich panoptische Anlage philanthropistischer Wissensgenerierung, die ein sich beständig ausweitendes, dezentrales Gefüge von Relationen etabliert, in dem jeder Beobachter immer auch Beobachteter ist, das heißt gleichermaßen »Subjekt in einer Kommunikation« wie »Objekt einer Information«469 nicht nur sein kann, sondern auch sein will. Dabei wird neben der Erhebung von Wissen die Möglichkeit der Korrektur, der Verbesserung, der Erziehung in einer Weise an die Beobachtung geknüpft, die ausdrücklich 465 Ebd. 466 Huber: Der Text als Bühne, S. 81. Die von Huber als »Arbeitsbegriff« vorgeschlagene narrative Inszenierung erläutert er wie folgt: »Im Blick auf Texte als Bühne der literarischen Sinnproduktion stehen dabei theatrale Phänomene wie Wahrnehmungsvorgänge, Beobachtungsebenen, Betonung und explizite Verdoppelung von (Sprach-)Zeichen und Körper im Mittelpunkt.« (Ebd.) 467 [Anonym]: Antwort des Instituts, S. 93. Menke und Glaser sehen – mit Bezug auf Rousseau – in einer solchen deiktischen Vor-Stellungs-Technik einen Index für die Theatralität von pädagogischen Arrangements, vgl. Experimentalanordnungen der Bildung, S. 14. 468 Peters, Schäfer: Intellektuelle Anschauung, S. 13. Dieser Effekt weißt, so Peters und Schäfer, eine Rede als evident aus. 469 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257. Vgl. zum Panoptismus ebd., S. 251-292. Den Bezug zum Philanthropismus und dessen »Universalisierung des Beobachtungsprinzips« betont auch Pethes: Zur doppelten Funktion der Medien, S. 57-59, hier: S. 57. Ein solcher panoptischer Mechanismus etabliert sich auch in der Pädagogisierung des Theaters, vgl. etwa II.4.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

auch die Erzieher mit einschließt. In diesem Sinne wenden sich die Pädagogischen Unterhandlungen dezidiert an »erfahrene und weise Pädagogen«, mit der Bitte »um Belehrung über diesen oder jenen pädagogischen Zweifel, den wir selbst mit Zuversicht auszulöschen noch nicht im Stande sind.«470 In diesem Sinne stehen den beobachtenden Pädagogen in der Szene, die die Antwort des Instituts entwirft, die Leser des Artikels im Rücken und beobachten die Beobachter, vor allem aber den anschließenden Austausch ihrer Beobachtungsergebnisse. Der erweist sich gerade dadurch als überaus beobachtbar, dass er über eine Sukzession von Sprecherpositionen den Vergegenwärtigungseffekt fortsetzt, den die Beobachtungsszene eröffnet hat. Und in diesem Sinne beginnt schließlich auch der Austausch selbst wie folgt: »A. Wir haben noch immer an unsrer Erziehung zu bessern, Freunde! (Alle stimmen damit ein) last uns fortfahren, gemeinschaftlich Hand daran zu legen.«471 Insgesamt legen in diesem »Fragment einer Unterredung«472 15 nicht weiter benannte, sondern lediglich in der Reihenfolge von A bis P (unter Auslassung von I) alphabetisch markierte Sprecher ihre hinsichtlich der Schwerpunkte oder der Bewertung eines Sachverhalts differierenden Positionen dar. Ein von mehreren beobachtetes Nachlassen der »Arbeitsamkeit« der Zöglinge wird etwa von C auf eine zu hohe, von D hingegen auf eine zu geringe Anzahl Unterrichtsstunden zurückgeführt, O weist auf die je nach »Beurtheiler« verschiedenen »Gesichtspunkte« hin, findet die Zöglinge selbst mitunter »zu wild« und P stellt seine »durch wiederholte Beobachtungen« fundierte Forderung nach kontinuierlicher, altersgemäßer Beschäftigung »mit zwekmäßigen Arbeiten«473 in den Raum. Dass die hier vorgeführte Differenz der Beobachtungen nicht die pädagogische Grundsatzbildung von vornherein verunmöglicht, verhindert eine Grundlegende und vom Text nachdrückliche betonte Einheit des Anliegens: Alle diskutieren und debattieren, jedoch verbindet die Pädagogen »die gemeinschaftliche Absicht, ihre Eleven gut zu erziehen, als ein gemeinschaftliches Interesse«474 . Gerade die verschiedenen Positionen machen das gemeinsame Gespräch und den beständigen Austausch zu einer notwendigen Voraussetzung der Gestaltung pädagogischer Praxis und der Herausbildung ihrer Theorie. Die Dramatisierung der Form ermöglicht es, diese Notwendigkeit samt ihres Vollzugs performativ auf der Oberfläche des Textes abzubilden. Bereits im erwähnten ersten Brief eines Ungenanten wird dieser beständige Austausch in Szene gesetzt, und zwar im Rahmen einer Fallgeschichte,475 die vom 470 [Campe]: Plan der pädagogischen Unterhandlungen, S. 6. 471 [Anonym]: Antwort des Instituts, S. 93. 472 Ebd., S. 98. 473 Ebd., S. 93-97. 474 Ebd., S. 98. 475 Die Einsendungen des Ungenannten treten insgesamt mit dem Anspruch auf, »lauter wirkliche Fälle« ([Anonym]: Brief eines Ungenanten, S. 326) zu schildern, also jenes beobachtungsbasierte, ausdrücklich von den Herausgebern der Unterhandlungen erbetene Material bereit-

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schwierigen Verhältnis des Pädagogen T—g und seinem Zögling W. handelt. Geschildert werden sowohl die Komplikationen und Besonderheiten dieser Beziehung als auch die Gespräche zwischen T—g und dem als Ich-Erzähler auftretenden Ungenannten. Der Text selbst changiert dabei wiederholt und mitunter auf engstem Raum zwischen Bericht und Dialog, der Ungenannte zwischen erzählendem und figuriertem Ich. Gleichermaßen dramatisiert und über den Handlungsbogen der Fallgeschichte aufeinander bezogen werden so die pädagogische Praxis und ihre Reflexion, jedoch nicht auf Grundsatzebene, sondern hinsichtlich der konkreten Erziehung eines einzelnen Zöglings. Deren besondere Gestaltungsanforderungen qualifizieren W. zum Subjekt der Fallgeschichte und damit zum Objekt des darüber dar- und hergestellten Wissens. Ins Auge fällt er gerade deswegen, weil er sich dieser Wissensgenerierung verweigert, dem pädagogischen Blick gegenüber intransparent bleibt und so überhaupt erst jene erhöhte Beobachtung in Gang setzt, deren Ergebnisse der Text berichtet: »Indeß wer kan leicht den Charakter eines verstekten Knaben durchschauen? dacht ich, und nahm mir vor, noch länger zu beobachten, ehe ich urtheilte.«476 Diese Urteilsfindung gerät jedoch zum Problem. Dem Ich-Erzählerbeobachter scheint aufgrund diversen Fehlverhaltens bald klar, dass W. starke charakterliche Defizite aufweist. Dennoch hält der darüber sichtlich betrübte T—g, dessen »Schmerz […] in seinen Augen deutlich zu lesen war«, gegenüber seinem Kollegen am sittlichen Potential von W. fest und bekennt: »Denn ich sag Ihnen, eben dieser junge Mensch, der Ihnen und jedem Beobachter oft abscheulich sein muß, ist mir, so wie er da ist, interessant, und meinem Herzen lieb.«477 Über das Zusammenspiel von berichtenden und dialogischen Passagen kann vor diesem Hintergrund dreierlei zur Darstellung gebracht werden: erstens Erziehungsszenen, in denen Erzieher und Zögling unmittelbar interagieren und pädagogische Praxis vergegenwärtigt wird; zweitens Fachgespräche, in denen die konträren Positionen der Pädagogen miteinander vermittelt werden und die, nachdem T—g über biographische und charakterliche Hintergründe des Zöglings aufklärt, im Einlenken des Ungenannten enden;478 und drittens jene Beobachtungen, aus deren kohärenter Formung überhaupt erst die Fallgeschichte entsteht. Die formale Differenz ermöglicht es, verschiedene pädagogische Funktionen des Erziehers zustellen, aus dem allgemeines Regel- und praktisches Vergleichswissen gewonnen werden soll. 476 [Anonym]: Brief eines Ungenanten, S. 328. 477 Ebd., S. 334 und 336. 478 In diesem Dialog wird damit eingeholt, was für die Methode und die Darstellung ihrer Ergebnisse, also Beobachtungen und Erziehungsgeschichten, konstitutiv gefordert wird: Eine weitestmögliche Rekonstruktion der Ursachen und Folgen, von denen sich die jeweilige Individualität des Zöglings her erschließen und angemessene Erziehungsmaßnahmen ableiten lassen.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

gleichermaßen in ihrem Vollzug vor- und in einer Darstellung miteinander in Bezug zu stellen. Dies wird insbesondere dort bedeutsam, wo es zu Interferenzen kommt, wo narrativer und dramatischer Modus479 nicht nur permanent changieren, sondern einander überblenden, wie folgende Szene zeigt, die gerade aufgrund ihrer formalen Besonderheit etwas ausführlicher zitiert und kontextualisiert werden muss: Mitten in ein noch von der Skepsis des Ungenannten geprägtes Gespräch platzt ein Streit zwischen W. und seinem Kameraden S., den der Ungenannte vom Fenster aus beobachtet. Nach einer Beschwerde von S. werden beide Zöglinge zu ihrem Erzieher gerufen: »Sie kamen. W— voran mit dem sorglosesten Gesichte von der Welt, und S— unmuthsvol hinter ihm her. T—g. Hast du den Kleinen so beleidigt, wie er sich über dich beschwert? W—. Ich? — (er trat verwundert zurück) Ich hab ihn ja gar nicht einmal angefast! S—. (weinend) Ja, du hast mich an die Nase gestoßen, und wollt’st mich nicht gehen lassen. W—. Herr je! was er da nun wieder lügt! Na, hast du Zeugen? hast du Zeugen? wer hat’s gesehn? […] Ich habs gesehn, (sprach ich lebhaft), hier durch dies Fenster! — W— gab mit einen grolligen Blik, den ich nicht beschreiben kan[.]«480 Obwohl W.s Lüge auffliegt und T—g ihm zunächst harte Sanktionen androht, schlichtet er schließlich den Streit, indem er selbst vorbildlich vergibt: »T—g. […] Dies Kind, (indem er S— bei der Hand nahm) ist gut, wie du weist, und vergiebt dir gewiß; ich verzeihe dir auch, und überlasse es deinem eignen Herzen, wie du’s bei dem Kleinen wieder gut machen willst. Irr ich mich nicht, so wirst du mehr thun, als der Kleine verlangt. Während dieser Anrede ward W— feuerroth, sein Kin zitterte, und ein Par große Thränen traten ihm in die Augen. S— sah ihn bewegt an. ›Geht Kinder, (sagte T—g) und seid Freunde!‹ Hiermit umarmte er beide freundlich und sie gingen Hand und Hand langsam davon.«481 Was der Text hier in seiner Dramatisierung vorführt, schließt zum einen verdeutlichend an die bisherigen Befunde an: In ihrem Vollzug vergegenwärtigt wird eine Erziehungsweise, die situativ unmittelbar zu agieren vermag, sich in dieser Situation als kompetent unter Beweis stellt, weil sie vernünftig und bedächtig agiert und die ihre Effizienz einem auf den je einzelnen Zögling abgestimmten, machtbasierten Kalkül verdankt, wie T—g seinem Kollegen anschließend offenbart: »Das Gefühl der verdienten Strafe demüthigt ihn, und die gütige Verzeihung verbindet ihn seinem Richter, und macht ihn künftig behutsamer. Oft hat man dabei Gelegenheit, 479 Vgl. etwa einschlägig Matias Martinez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 8 2009, S. 47-49; stärker vom Dialog her gedacht Hänser: Der Dialog, S. 29-32. 480 [Anonym]: Brief eines Ungenanten, S. 338. 481 Ebd., S. 339.

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dem bewegten Knaben eine feine Empfindung unterzuschieben; und glüklich ist er, wenn er sie wirklich für die seinige hält.«482 Zum anderen hat das Verhältnis von Bericht und Szene Auswirkungen auf den Status des Ungenannten. Denn seine Position changiert mitunter innerhalb eines Satzes zwischen Handlungsgegenwart und observativer Distanz, szenischer Präsenz und jener narrativen Nachträglichkeit, in der die zur Fallgeschichte geronnenen Beobachtungen geschildert werden. So, wie nun die Dramatisierung innerhalb dieser Schilderung eine »Präsenzfiktion«483 als Anschauungs- und Beweisverfahren etabliert, verweist umgekehrt die darüber inszenierte Vergegenwärtigung von Situationen, die das Beobachtungsmaterial liefern, auf die konstitutiven Grenzen der Methode. Dies verdeutlicht sich insbesondere in denjenigen Kontextualisierungen und Ergänzungen, die im Drama die außersprachliche Wirklichkeit des Dialogs oder Gesprächseffekte anzeigen, also den Regieanweisungen. Im Brief eines Ungenanten meldet sich genau hier das erzählende Ich des Ungenannten zu Wort: »er trat verwundert zurück«, oder »indem er S— bei der Hand nahm«, sind Beobachtungen einer Erzählinstanz, die sich in die Form der von ihr erst evozierten Präsenz der Vorgänge einschreibt, um sie umfassender zu präsentieren, dabei jedoch als Ausdruck narrativer Mittelbarkeit die Gegenwärtigkeits‐suggestion zugleich ins Stocken bringt.484 Etwas methodisch Wesentliches wird so allerdings verdeutlicht: Zunächst, dass die Stimme des Beobachters die eines Erzählers ist. Seine Mitteilung ist stets mittelbar, enthält Befunde, die aus der konkreten Situation gezogen, aber als Beobachtungen immer schon in eine gewisse Distanz zu ihr getreten sind. Als figuriertes Ich ist der Ungenannte an der Erziehungsszene beteiligt, aber erst als erzählendes Ich formuliert er die dort angestellten Beobachtungen. Was die Forminterferenz des Textes nun ihrerseits beobachtbar macht, betrifft letztlich die Validität dieser Beobachtungen: Denn selbst dort, wo der Ungenannte als 482 Ebd., S. 341. 483 Hänser: Der Dialog, S. 36. 484 Damit hat die Dialogform, folgt man Gabriele Kalmbach, ohnehin zu kämpfen. Sie weist in Zusammenhang mit den formbedingten Rezeptionsschwierigkeiten zeitgenössischer Dialogromane auf das Paradox hin, dass der Dialog vor dem Hintergrund sich verändernder Lektüretechniken produziert, nämlich als Form zugleich unmittelbar zu vergegenwärtigen und die eigene Materialität besonders auszustellen: »Wenn bei stiller Lektüre von Romanen das gedruckte Wort nur den visuellen Sinn in Beschlag nimmt, dann entsprechen der neuen Lesetechnik vermutlich kontinuierlich erzählte Texte effektiver. Denn so wenig sie dies wollen, dialogische Texte verweisen deutlicher auf ihre Materialität als sie annehmen. […] Die illusionszerstörende Diskontinuität der szenischen Erzählweise und die typographische Gestaltung der einzelnen Seite bewirken eine ungewollte Entautomatisierung der Leseabläufe. Dialog soll Identifikation produzieren, schafft aber Distanz. Dialogische Schwerfälligkeit lenkt unvermeidbar Aufmerksamkeit auf das Medium, das doch möglichst verborgen bleiben soll.« (Der Dialog im Spannungsfeld, S. 119)

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Erzählerbeobachter die für seine professionelle Urteilsbildung relevanten Situationen eigens über ihre Dramatisierung vergegenwärtigt, können diese Vorgänge nur beschrieben, die Handlungen lediglich geschildert, aber deren zugrunde liegenden Motivationen weder dramatisch, noch narrativ verlässlich erfasst werden.485 Derartige Mischformen überführen vielmehr die den eigenen Ansprüchen entgegenstehende, konstitutive Außensicht des pädagogischen Blicks mit in die szenisch‐dialogisch bedingte Anschaulichkeit, innerhalb derer dieser Blick die Oberfläche der Dinge nicht zu durchdringen vermag. Die minutiöse Beobachtung zeigt sich so als Bestandteil einer erzieherischen Hermeneutik, die, jenseits eindeutiger Äußerungen, von den Verhaltensweisen der Zöglinge, ihrer Körpersprache und ihrem Agieren auf innerliche Vorgänge, auf charakterliche und dispositionelle Ursachen immer nur schließen kann: »Alles was man leisten und verlangen kann, ist Vermutung«486 , muss in diesem Sinne Wezel eingestehen. Um dieser Problematik begegnen zu können, lassen sich zwei aufeinander zu beziehende Möglichkeiten ausmachen. Die eine, wie sie Wezel anmahnt, wurde bereits diskutiert: Die Vermutungen lassen sich in dem Maße plausibilisieren, in dem ein umfangreiches Wissen über den jeweiligen Zögling eingeholt werden kann.487 Die andere führen der Brief des Ungenanten und daran anschließend die Antwort des Instituts vor: Erst im fachlichen Gespräch der Pädagogen, im Vergleich der jeweils angestellten Beobachtungen lassen sich die Wissensdefizite ausgleichen und die beobachtungsgestützten Befunde erhärten – oder gegebenenfalls revidieren. So etwa im Falle des Ungenannten. Nachdem ihn T—g in einem längeren Gespräch über die Herkunft seines Zöglings, dessen bisheriges Aufwachsen, einschlägige Charaktermerkmale und Anlagen ebenso aufklärt, wie über seine eigenen beobachtungsbasierten Erfahrungen und mögliche Erziehungsfehler, relativiert sich der Eindruck des Ungenannten: »Ich. […] Mannigfaltiges Licht und Schatten in diesem

485 Noch pointierter zeigt sich dies, wenn Johann Jasperson, um »den Lesern einen anschaulichen Begrif zu vermitteln« den Gesprächsverlauf einer Unterrichtsstunde ungeschönt wiederzugeben ankündigt. Im Verlauf dieser ihr formäquivalenten Veranschaulichung der sokratischen Methode werden in kleineren Einschüben wiederholt die Reaktionen der Zöglinge auf Jaspersons Fragen angezeigt. Dabei handelt es sich um formale Überblendungen von Regieanweisungen und der intern fokalisierten Rede eines Beobachtererzählers, der seine Zöglinge stets im Blick behält, jedoch lediglich äußere Vorgänge beschreiben und über deren Motivationen nur mutmaßen kann. Im Anschluss an eine offenbar schwierige Frage heißt es etwa: »(Sie schienen nachzudenken) Ich. Seht nur in euer Buch, denn ich merke, ihr bleibt zu sehr am Ausdrukke« ([Johann] Jasperson: Etwas über die deutschen Lesestunden im Institut, in: Pädagogische Unterhandlungen, 5. Jahrgang 1782-84, 4. Quartal, S. 547-605, hier: S. 555 und S. 585). 486 Wezel: Über die Erziehungsgeschichten, S. 24. 487 Vgl. II.4.

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Gemälde; aber alles nur durch die mannigfaltige Verwischung einer Grundfarbe, und alles Harmonie, wenn man’s aus dem rechten Gesichtspunkt ansieht.«488 Dieser Gesichtspunkt aber entsteht und vermittelt sich erst im Zusammenspiel der eingeholten biographisch‐charakterlichen Kenntnisse und dem Abgleich potentiell variierender Beobachtungen. Pädagogisches Wissen ist also in seiner Gewinnung zunächst dialogbasiert, und ein Text wie der Brief des Ungenanten bildet Form und Prozess dieser Genese innerhalb der es dann für die weitere Abstrahierung, das heißt die Aufstellung allgemeiner Grundsätze, verfügbar machenden Narration ab. Erst diese dramatisierte Fall- oder Erziehungsgeschichte kann den Bezug von pädagogischer Praxis und Theoriebildung veranschaulichen und über die Interferenz der Darstellungsformen Problemstellen dieses auf der Oberfläche des Textes gleichermaßen eingeholten Wechselspiels von erzieherischer Tätigkeit und ihrer Reflexion beobachtbar machen. Die Dramatisierung der Form zeigt sich so als wesentlicher Bestandteil der Bausteine, aus denen pädagogisches Wissen auf Einzelfall- und Grundsatzebene zusammengesetzt wird. Dem Dialog kommt vor diesem Hintergrund eine doppelte Funktion zu: Er ist Mittel der Vergegenwärtigung und Index des Verfahrens, in dem das Vergegenwärtigte praktisch und fachlich bedeutsam gemacht wird. Erst im Gespräch der Pädagogen, im Austausch und Abgleich ihrer Beobachtungen, lassen diese sich plausibilisieren, lässt sich verlässlichere Ursachenforschung samt Wirkungskalkulation betreiben, reduziert sich der nie ganz auszustreichende spekulative Gehalt pädagogischer Observation.

5.3   Zwischen Erziehertheater und Roman: Robinson der Jüngere Eine dezidierte Dramatisierung der Form lässt sich nicht allein in Artikeln und Berichten für Pädagogen beobachten, etwa den Erziehungsgeschichten. Sie findet sich ebenfalls dort, wo sich die Pädagogen in einer bestimmten Weise und mit dem Ziel der Veranschaulichung an ihre Zöglinge wenden, wie es insbesondere für die sittliche Erziehung vorgeschlagen wird. Denn was hier vermittelt werden soll, Verhaltensregeln oder Begriffe wie Tugend und Laster, ermangelt jener kindgemäßen Anschaulichkeit, die als Voraussetzung der anvisierten Verinnerlichung ausgemacht wird. Seine eigene Abstraktheit droht das »Hauptgeschäfte der Erzihung«489 zu sabotieren. Um diesem Problem entgegenzuwirken, obliegt es dem Pädagogen, die fehlende Anschaulichkeit zu erzeugen. Das Verfahren dazu ist bekannt. Es liegt den Überlegungen der Theaterreform ebenso zugrunde wie der sich herausbildenden intentionalen Kinderliteratur,490 deren Schnittstelle der Philanthropismus und 488 [Anonym]: Brief eines Ungenanten, S. 344. 489 Ueber die erste Bildung zur Moralität, S. 255. 490 Vgl. zu deren ins – so muss ergänzt werden – kindgemäße verlagerten Fortschreibung einer pädagogischen Funktionalisierung, wie sie ein aufklärerisches Verständnis von Literatur und – so muss ebenfalls ergänzt werden – insbesondere das Theater legitimierend prägt etwa

III Die Theatralisierung der Pädagogik

deren Anliegen bei unterschiedlichem Adressatenkreis das gleiche ist: edukativen Erfolg über Veranschaulichung zu gewährleisten. Basedow plädiert zu diesem Zweck dafür, fachliche oder terminologische Abstrakta in eine Form zu kleiden, die sie für die Zöglinge fasslich macht, deren Aufmerksamkeit und schließlich einen Prozess der Verinnerlichung sicher zu stellen im Stande ist. Es sollen, so fordert er, »[d]ie moralischen Regeln […] durch Erzählung bestätigt werden«491 . Der Pädagoge soll also nicht dozieren, sondern erzählen, oder genauer, ersteres über letzteres tun. Erst eine solche Narrativierung verleiht der sittlichen Erziehung ihre Effizienz, sie vermag es, aus bestenfalls auswendig zu lernenden Worten die Grundlage einer dispositionsmodellierenden Lektion zu machen. Wieso das so ist und was dieses Erzählen ausmacht, führt Basedow am Beispiel »Du sollst nicht stehlen« weiter aus: »Tut also der Sittenlehrer nichts weiter, als seine moralische Regel sagen und wiederholen, so muß er besorgen, daß sein Zuhörer den Satz nur der Worterkenntnis (symbolisch) denke, und daß z.B. der Begriff des Stehlens zu der Zeit gar nicht in seiner Seele sei. Solche vorübergehende Worterkenntnisse sind ganz unfähig, das menschliche Herz in Bewegung zu bringen und Vorsätze zu erzeugen: sie müssen erst von hinzugesetzten Umständen ihr Leben und ihre Wirksamkeit erhalten.«492 Vermittelst seiner Erzählung soll der Pädagoge also seine Unterrichtsgehalte evidentialisieren, darüber »den Anblick oder […] die Erinnerung der sinnlichen Gegenstände«493 evozieren und die Sinnlichkeit seiner Zuhörer als Vermittlungskanal aktivieren. Dieser Konnex von Erziehungsabsicht, einer Veranschaulichung als ausgemachtem Mittel und einer Verinnerlichung als deren Effekt findet sich nahezu identisch bereits im anderen großen pädagogischen Projekt des Jahrhunderts, der Theaterreform. Basedows Überlegungen schließen im Rahmen dieser grundlegenden Korrelation an die gleichen Prämissen an: Erstens über den Bezug zur rhetorischen Tradition, in diesem Fall die in deren Vergegenwärtigungseffekt liegende, performative Qualität der evidentia, »die sich gewissermaßen selbst zur Schau stellt«494 und deren Maximalsteigerung die Schaubühne als geeignete Apparatur breiten- wie tiefenwirksamer Erziehung maßgeblich qualifiziert hat.495 Zweitens über Aufgabe und Vorgehen des pädagogischen Erzählers:

Hans-Heino Ewers: Kinder- und Jugendliteratur »zwischen Pädagogik und Dichtung«. Über die Fragwürdigkeit einer angeblichen Schicksalsfrage, in: Kinder- und Jugendliteraturforschung 1999/2000, S. 99-114. 491 Basedow: Methodenbuch, S. 123. 492 Ebd. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Steinlein: Die domestizierte Phantasie, S. 103f. 493 Basedow: Methodenbuch, S. 123. 494 Quint. Inst. VIII 3, 61. 495 Erinnert sei etwa an die Formel, das Herz durch die Augen zu unterrichten. Vgl. II.2.

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»Nämlich die moralische Regel ist eine allgemeine Wahrheit, welche mit Abstraktion oder mit Auslassung der Umstände gedacht wird. Wir können aber die allgemeinen Wahrheiten nicht anders denken, als wenn wir sie uns in verschiedenen einzelnen Umständen, welche in Ansehung der Wahrheit gleichgültig sind, vorstellen. […] Folglich muß in dem moralischen Unterrichte der Lehrer selbst die Regeln durch hinzugesetzte Umstände in den Seelen wirksam machen. Weiß er eine wahre Geschichte, die seinem Zwecke völlig gemäß ist, so muß er sich derselben bedienen; weiß er aber keine, so darf er erdichten.«496 Basedows erzählender Sittenlehrer erweist sich mit seiner Lizenz zur edukativen Fiktion nicht nur als profilverwandt mit etwa Gottscheds unterrichtendem Poeten. Für seinen narrativen Unterricht wird als Verfahren benannt, was in der Critischen Dichtkunst als Ausweis dichterischer Produktion definiert wurde: Die Fabel, die einrichten zu können erst den Dichter ausmacht, ist ebenfalls »eine unter gewissen Umständen mögliche[], aber nicht wirklich vorgefallene Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt.«497 (CDI, S. 204) Die Differenz ist zunächst allein formaler Natur: Der hauptberufliche Sittenlehrer erzählt, sein dichtender Kollege dramatisiert. Aufgehoben, oder zumindest stark reduziert, wird diese Differenz in den Überlegungen Salzmanns, die nicht nur Basedows Erzählen in seiner Anschaulichkeit übersteigen, sondern auch den hier bereits herstellbaren Theaterbezug verschärfen und schließlich den Weg hin zu Campes Robinson ebnen, der als Knotenpunkt vieles des bisher Gesagten bündelt. Salzmann präsentiert angehenden Erziehern eine Reihe von Techniken, damit sie ihren »Erzählungston verbessern [können]«, ihre Erzählung »Leben« bekommt und darüber für Kinder »anziehend«498 wird. Es geht ihm also nicht bloß um die Erzählung, sondern eigentlich stärker noch um das Erzählen selbst. Salzmanns Vorschläge laufen dabei auf eine Theatralisierung hinaus, die aus dem Erzieher einen histrionischen Erzähler macht. Die Anschaulichkeit rührt nämlich nicht allein aus der Darstellung der einzelnen Umstände,499 sondern auch aus dem lebendigen Vortrag des Erzieher-Erzählers, der hier einen umfassenden körper‐sprachlichen Einsatz erbringen muss, also seine Geschichte nicht mehr eigentlich nur erzählt, sondern vorspielt: 496 497 498 499

Basedow: Methodenbuch, S. 123. Vgl. II.4.1. Salzmann: Ameisenbüchlein, S. 215. »Vermeide ferner, so viel du kannst, allgemeine Ausdrücke, weil diese Kindern weniger fasslich sind, und nenne lieber die Sachen einzeln, die dadurch bezeichnet werden. […] Sei ferner in deiner Erzählung etwas umständlich und vergiß nicht, in dieselbe allerlei Nebenumstände einzuweben, die die Handlung begleiten.« (Ebd., S. 215f.)

III Die Theatralisierung der Pädagogik

»Es versteht sich von selbst, daß du immer in dem Tone sprechen mußt, in welchem die Person, die du redend einführest, würde gesprochen haben, und dir daher Mühe geben, deine Stimme in deine Gewalt zu bekommen. […] Endlich suche auch in deine Erzählung Handlung zu bringen. Dies geschieht alsdann, wenn du durch deine Mienen und die Bewegung deiner Glieder die Handlungen, welche du erzählst, auszudrücken suchst.«500 Hier wird deutlich, wie weit die Histrionisierung des Erziehers reicht. Sie soll nicht nur, wie bereits aufgezeigt, dessen Vorbildhaftigkeit auf eine vermittelbare Form bringen, sondern wird selbst zu einer Form der Vermittlung abstrakter Unterrichtsgehalte. Sie löst ein, was in Basedows evidentialem Erzählen anvisiert und bereits der bisherigen, anschaulichkeitsbasierten Erziehung innerhalb der Theaterreform Prämisse wie Programm gewesen ist: »das Herz […] durch die Augen [zu unterrichten]«501 . Für mögliche Erzählvorlagen verweist Salzmann auf die zeitgenössische Kinderliteratur und erwähnt hier besonders lobend Campes Robinson. Tatsächlich schafft der Text bereits auf formaler Ebene die Voraussetzungen eines theatralisierbaren Erzählens.502 Schließlich ist seine Rahmenhandlung im Gegensatz zur 500 Ebd., S. 216f. 501 Gottsched: Schauspielrede, S. 496. Die dann in dieser Hinsicht vom Theater evidentiell überbotene Referenz von Gottscheds Äußerung ist die Malerei. In ähnlich evidentiell‐edukativer Absicht sollen im Philanthropismus die in Basedows Elementarwerk und Salzmanns Moralischem Elementarbuch behandelten, das theatrale Erzählen des Erziehers amplifizierenden Kupferstiche eingesetzt werden: »Wenn die Kupfer fertig sind, die zu diesem Buche sollen geliefert werden, so kann man die Wirkung der Erzählung dadurch verstärken, daß man, nach geendigter Erzählung, das Kupfer vorzeigt, das sich auf dieselbe bezieht. Dadurch drückt sich nicht nur die Wahrheit, die in das Geschichtchen gehüllet war, desto tiefer ein, sondern das Kind bekömmt auch dadurch Veranlassung, allerley Fragen aufzuwerfen, die dem Erzieher die schönste Gelegenheit geben, zu erfahren, ob es den wahren Sinn gefasst habe und noch manches zu mehrerer Berichtigung seiner Einsichten hinzuzusetzen.« (Salzmann: Ueber die Absicht und den nüzlichen Gebrauch des moralischen Elementarbuchs, S. XIII) Die Kupferstiche sind also nicht nur Element einer evidenzbasierten Erziehung, sondern auch Instrument der Überprüfung und Sicherung ihrer Ergebnisse. Ihr kontinuierlicher Einsatz – »Unterdessen wird doch das Zimmer nie leer von Kupfern seyn, weil ich voraus setze, daß die Erzählung immer fortgesetzt […] wird« (ebd., S. XIV) – etabliert eine ebenso kontinuierliche Prüfungssituation, in der sich, wie Foucault gezeigt hat, »eine bestimmte Form der Machtausübung mit einem bestimmten Typ der Wissensformierung« verschränkt, denn »sie bestätigt den Übergang der Erkenntnisse vom Lehrer an den Schüler und gleichzeitig erhebt sie am Schüler ein Wissen, das für den Lehrer bestimmt und ihm vorbehalten ist.« (Foucault: Überwachen und Strafen, S. 240) 502 Bei Salzmann selbst finden sich diese Voraussetzungen etwa in seinem Moralischen Elementarbuch, und zwar an einer entscheidenden Stelle: beim Auftritt von Magister Helwig, dem Landgeistlichen, den der Text im seinem weiteren Verlauf als pädagogische Autorität von exemplarischer Qualität figuriert. Martin Jörg Schäfer hat gezeigt, wie sich in diesem deus ex machina-Auftritt »die Theatralität von Salzmanns exemplarischer Autorität [verdichtet]« und

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Binnenhandlung weitestgehend dialogisch verfasst. In dieser Dramatisierung der Form, so gilt es aufzuzeigen, laufen die unterschiedlichen Rezeptionsweisen und Erziehungsziele, die Robinson der Jüngere eröffnet, zusammen. Sie macht aus Campes Roman gleichermaßen ein Mittel zur Zöglings- und Erziehererziehung, ist also Bedingung der Möglichkeit jener pädagogischen Wirkung(en), die den Einsatz des literarischen Textes überhaupt nur legitimieren. Campe selbst gibt in seinem Vorbericht zunächst folgende Lektüreanweisung: Das Buch »sol erwachsenen Kinderfreunden zum Vorlesen dienen und nur solchen Kindern selbst in die Hände gegeben werden, die im Lesen schon eine zureichende Fertigkeit erlangt haben.« (RdJ, Vorbericht, S. 6) Sind sowohl Rahmen- als auch Binnenhandlung Teil des (Vor-)Lesens, macht das bisher Gezeigte auf einen möglichen Effekt der Formdifferenz aufmerksam und darauf, wie der Roman zugleich sein eigenes Rezeptionsideal samt dessen Zustandekommen vorführt. Die Dialogform steigert die narrative Anschaulichkeit zur Fiktion einer Gegenwärtigkeit, die, zusammen mit der Konfiguration des Rahmens, dem lektüresicheren Kind eine Teilnahme an den affektiven Gesprächs- und Arbeitsvorgängen der pädagogischen Familienkonstellation suggeriert, die ihrerseits eine idealisierte Verdopplung philanthropistischer Erziehungsinstitutionen samt darin begünstigter -relationen darstellt. Der kindliche Leser wird über die Dialogform und die affektive Nähe, die hier zwischen ErzieherVater und Zöglingen zur Sprache kommt, denkbar nah an seine pädagogische ›peer group‹ herangezogen,503 vernimmt gleichsam mit ihnen Robinsons Geschichte und profitiert von einer doppelten Vorbildlichkeit. Vorbildlich ist schon bald Robinsons Betragen, ebenso wie dessen Kommentierung und Bewertung durch die dem anvisierten Adressaten entweder ähnlichen oder vertrauenerweckenden Figuren der der eigentlich verpönte »Theatereffekt« jenes formal im Text angelegte »Erzähltheater« (Das Theater der Erziehung, S. 166f.) in Gang setzt, in dem nun vorgeführt wird, wie der musterhafte pädagogische Umgang und die anschaulichen Beispielgeschichten des Magisters seinem Gegenüber Ludwig die diesen buchstäblich vom rechten Weg abbringenden Furcht und Schrecken verständlich, weil anschaulich erklären und zu überwinden helfen, vgl. Salzmann: Moralisches Elementarbuch, S. 19-33, dazu Schäfer: Das Theater der Erziehung, S. 165-169; hinsichtlich der gesellschaftlich untauglich machenden und in Folge dessen auszutreibenden Furcht und Angst ausführlich Begemann: Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung. 503 Tatsächlich wendet sich eine Erzählinstanz gleich zu Beginn des Textes an einen kindlichen Leser und rückt ihn über den Akt der Lektüre in den Kreis der interessierten, gehorsamen kindlichen Rezipienten: »Aber während der Arbeit und nach vollendetem Tagewerke, wünschte jeder von ihnen auch etwas zu hören, welchen ihn verständiger, weiser und besser machen könte. […] Eine von solchen Abenderzählungen ist die folgende Geschichte des jüngeren Robinsons. Da man glaubte, daß wohl noch mehr gute Kinder wären, die diese merkwürdige Geschichte zu hören oder zu lesen wünschten: so schrieb sie der Vater auf und der Buchdrucker mußte zwei tausend Abdrükke davon machen. Das Buch, liebes Kind, das du iezt in den Händen hast, ist einer davon. Du kannst, wenn du wilst, gleich auf der folgenden Seite anfangen.« (RdJ, S. 19)

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Rahmenhandlung, die so in einem Atemzug die ›richtige‹ Rezeption der Geschichte vorführt und dem kindlichen Rezipienten des Textes wohlerzogene Zöglinge zur Verhaltensorientierung vergegenwärtigend zur Seite stellt.504 Dies zeigt sich etwa hinsichtlich des zentralen, von Robinson in seiner Verinnerlichung vorgeführten Zusammenhangs von Tätigkeit und Tugend. Robinson gewinnt diese Einsicht im Zuge verschiedener Arbeiten, die er auf seiner Insel zur Subsistenzsicherung verrichten muss, genauer, an dem Gefühl der Zufriedenheit, das er dabei stets empfindet: »So oft ihm eine solche Arbeit glükte, hatte er eine unaussprechliche Freude darüber; und dan pflegte er sich selbst zu sagen: was bin ich doch in meiner Jugend für ein grosser Nar gewesen, daß ich meine meiste Zeit mit Müssiggang zubrachte!« (RdJ, S. 71) Der Erzähler-Vater destilliert aus dem Prozess dieser Einsicht, nachdem er hinlänglich veranschaulicht wurde, schließlich folgende Sentenz: »Die Arbeitsamkeit […] ist die Mutter vieler Tugenden; so wie die Faulheit der Anfang aller Laster ist.« (RdJ, S. 170) Robinsons Werdegang ermöglicht einen Nachvollzug dieser als naturwüchsig inszenierten Relation. Der als ungehorsames Kind Gestrandete befindet sich moralisch zunächst bestenfalls an einem Nullpunkt, aber er lernt schnell, allein im Vertrauen auf die göttliche Vorsehung, wie notwendig ein arbeitsames Leben ist und wie aus einer derartigen Lebensführung ebenso notwendig sittliche Besserung folgt. In Gang gesetzt, sichtbar gemacht und gesteigert wird Moralität durch Arbeit.505 Der Roman verweist über das Zusammenspiel beider Textebenen auf seine anvisierte Rezeption. Er führt vor, wie im Anschluss an Robinson auch die Kinder der Rahmenhandlung diesen Konnex dank der narrativen Anschaulichkeit verinnerlichen und dies durch entsprechend (be-)wertende Kommentare wiederholt zur Schau stellen, wie sie also Robinson beobachten und dabei von ihren Erziehern beobachtet werden.506 So etwa Johannes hinsichtlich der genannten Einsicht Robinsons: »Ja, darin hat er gewiß auch recht! Wenn man nichts zu thun hat, so fält einem lauter dum Zeug ein!« (RdJ, S. 170) Und wenn diese Bewertungen einmal nicht nachvollzogen werden können, werden die Kinder von ihren Erzieherfreunden zu der nötigen Einsicht geführt: »Freund R. Nun dasmahl bin ich mit Freund Robinson doch auch gar nicht zufrieden! Nikolas. Warum nicht? Freund R. Warum? Hatte nicht der liebe Gott schon so 504 Zur Kindgemäßheit eines Textes gehört also – dies zeigt sich gleichermaßen in den Überlegungen zur philanthropistischen Kinderdramatik –, dass die adressierten Zöglinge darin immer schon etwas besser erzogenen Versionen ihrer selbst begegnen und darüber ihre eigene Wohlerzogenheit steigern und/oder stabilisieren. 505 Vgl. in diesem Sinne Koller: Erziehung zur Arbeit, S. 46f. und Leonhard Fuest: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800, München 2008, S. 41-43. 506 Vgl. zu Rezeptionsvorgabe und Beobachtungsebenen des Romans Pethes: Zöglinge der Natur, S. 255-257.

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viel an ihm gethan, daß er wohl aus seiner eigenen Erfahrung hätte wissen können, daß er Niemanden verlässt, der ihm von Herzen vertraut und aufrichtig sich zu bessern sucht? […] Und doch so kleinmütig! Fi! das war nicht hübsch von ihm! Mutter. Ich bin ihrer Meinung, lieber R.« (RdJ, S. 87) Indem der Roman beide Ebenen dergestalt miteinander verschränkt, Robinsons narrative (Selbst-)Erziehung und deren dramatisierte Bestätigung, die die Zöglinge gemeinsam mit ihren Erzieherfreunden vorführen, zielt seine Form darauf, einen kindlichen Leser in den narrativ veranschaulichten und lebenswirklich in Wirksamkeit zu setzenden Wertekosmos einzupassen, den sie mit und über Robinson sowie den Rahmenkindern zu verinnerlichen lernen. Gesteigert werden kann diese Anschaulichkeit dann, wenn die dramatisierte Form theatralisiert, wenn der Text nicht von einem Kind gelesen, sondern von einem ›erwachsenen Kinderfreund‹ idealerweise nicht eigentlich mehr vorgelesen, sondern vorgespielt wird. Das Buch geht in diesem Fall aus den Händen des Kindes über in eine körper‐sprachliche Präsentation, die sich vor seinen Augen vollzieht. An die Stelle der an seine Materialität gebundenen Mittelbarkeit des Textes rückt die Performanz eines histrionischen Erzählers, die den ›toten Buchstaben‹ Leben einhaucht und das Personal der Rahmenhandlung in die Figuren eines pädagogischen Theaterstückes verwandelt, das er, gleichermaßen darstellend wie erzählend, zur Aufführung bringt.507 Der Text, der vorbildliche Kinder und Erzieher präsentiert, wird dann Grundlage einer Theatralität des Erziehers, die seine Wirksamkeit dadurch maximiert, dass sie ihn als Text verschwinden lässt. Dies führt nun zu einer anderen Funktion, die der Dramatisierung der Form, gerade in Bezug auf den Erzieher, zukommt. Er ist nämlich nicht allein Darsteller, sondern ebenso Adressat eines Textes, der auch das idealtypische Agieren einer literarischen Verdopplung seiner Profession und Praxis veranschaulicht: Je nach Lesart ist Robinson der Jüngere nicht allein ein Roman für Kinder, eine anschauliche Einkleidung abstrakter – vornehmlich moralischer und moralisierter – Unterrichtsgehalte, sondern auch eine Anleitung für Pädagogen, ein Beitrag zur Erziehererziehung. An die Stelle eines literarischen Textes rückt aus dieser Perspektive 507 Das an die dramatisierte Form anschließende theatrale Potential des Textes zeigt sich jedoch nicht allein in seiner Vortragsmöglichkeit für den Erzieher. Denn der Roman selbst, so berichtet etwa Heckelmann, wird Jahre später am Erziehungsinstitut Friedrich Fröbels in Keilhau als Theaterstück aufgeführt. Heckelmann verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Verwandtschaft der Rahmenhandlung mit den bereits thematisierten Szenarien kindlichen Theaterspiels, vgl. Schultheater und Reformpädagogik, S. 112. Tatsächlich entspricht die weitgehend dramatisierte Familienszenerie, was die Figuren, ihre Verhältnisse und Handlungen anbelangt, aber auch hinsichtlich des pädagogischen Gehalts, den Koordinaten einer lehrreichen, kindgemäßen Dramatik, wie sie in III.2.3 ausführlicher untersucht wurden. Die Übertragungsmöglichkeit des Romans auf die Bühne ist im Text bereits angelegt.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

die exemplarische Präsentation eines pädagogischen Instruments samt seiner Vermittlung.508 Der Roman als Einheit einer Binnen- und Rahmenhandlung spaltet sich auf in einen besonders ertragreichen Unterrichtsgegenstand sowie eine dramatisierte und damit anschauungsstarke Darstellung des gelungenen Umgangs damit, die selbst aber, wie auch im Falle eines histrionischen Erzählens, als Text durch die performative Umsetzung eines angehenden Pädagogen ersetzt werden soll. Gegen Ende seines Vorberichts macht Campe auf eine »Nebenabsicht« aufmerksam, die er mit seinem Buch verfolgt: »Ich hofte nemlich, durch eine treue Darstellung wirklicher Familienscenen ein für angehende Pädagogen nicht überflüssiges Beispiel des väterlichen und kindlichen Verhältnisses zu geben, welches zwischen dem Erzieher und seinen Zöglingen nothwendig obwalten muß.« (RdJ, Vorbericht, S. 14) Was also dem Erzieher szenisch vergegenwärtigt, nicht erklärt, sondern performativ im und durch den Text vermittelt werden soll, ist das dramatisierte Ideal seiner eigenen Tätigkeit. In deren Zentrum steht auch hier das Verhältnis von Erzieher und Zögling, für dessen musterhafte Gestaltung dem angehenden Pädagogen ebenfalls eine mehrfache Vorbildhaftigkeit bereitgestellt respektive figuriert wird: Vorbildlich sind der Gegenstand der Erzählung sowie die Erzähltechnik des Erzieher-Vaters. Er zeigt zunächst, unter was für Bedingungen idealiter erzählt werden sollte und knüpft damit die gleichermaßen unterhaltsame wie nützliche Erzählung an einen Rezeptionsmodus, der bereits mit der (Arbeits)Haltung korrespondiert, die hier in ihrem moralischen Wert narrativ veranschaulicht und bestätigt wird: »Vater. Aber, was denkt ihr denn zu machen unter der Zeit, daß ich euch erzäle? So ganz müssig werdet ihr doch wohl nicht gern da sizzen wollen?«509 (RdJ, S. 20) Der Erzieher-Vater führt außerdem vor, wie man die Erzählung selbst edukativ ertragreich einsetzt, wie man den immer latent unterrichtenden Umgang mit den Zöglingen dialogisch gestaltet,510 in dieses permanente, von der Geschichte stimulierte Gespräch möglichst viele »elementarische Kenntnisse« (RdJ, Vorbericht, S. 5) sowie Gelegenheit zu ihrer Überprüfung einfließen lässt,511 aber 508 Vgl. zu einer solchen Aufspaltung, auch mit Bezug auf Campes Roman Pape: Das literarische Kinderbuch, S. 195f.; Stach: Robinson der Jüngere als pädagogisch‐didaktisches Modell, S. 138; ferner Funke: Bücher statt Prügel, S. 39. 509 Vgl. zum Verhältnis von Müßiggang und Tätigkeit in Robinson der Jüngere Fuest: Poetik des Nicht(s)tuns, S. 39-47. 510 Im Sinne der sokratischen Lehrart, wie sie im Bezug auf Trapp gelobt (vgl. III.4.1) und in Jaspersons Darstellung seiner Unterrichtsstunde gezeigt wird, vgl. dazu im Bezug auf Campe Heckelmann: Schultheater und Reformpädagogik, S. 111f. 511 Den Impuls dazu gibt Robinsons Geschichte. So erklärt etwa Gotlieb auf Nachfrage, wie Maurer und Zimmerleute beim Hausbau vorgehen (vgl. RdJ, S. 55), oder der Erzieher-Vater, wie sich Robinson einen Kalender herstellt und wie auch die Kinder über ihre Fingerknöchel die Monatslängen lernen können (vgl. ebd., S. 67-69).

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auch, wie man jenen freudigen Gehorsam einübt, der die Grundlage eines gelingenden Verhältnisses von Erzieher und Zöglingen bildet. Allerdings richtet sich auch die textliche Inszenierung der Figur selbst, nicht allein ihre unterhaltsame Vermengung von Unterrichts- und Freizeit, in erzieherischer Absicht an angehende Erzieher. Der Text veranschaulicht nicht nur ein Ideal der pädagogischen Tätigkeit, sondern auch des Pädagogen selbst. In diesem Sinne stellt der Vater-Erzieher-Erzähler die von seiner Profession geforderte Vorbildhaftigkeit vorbildlich unter Beweis und zeigt, dass ein Erzieher seine Erziehungsgehalte immer auch selbst vorleben muss: Nachdem Robinson seine Verinnerlichung der philanthropistischen Kernprinzipien ›Arbeitsamkeit und Mäßigkeit‹ über seinem Höhleneingang gewissermaßen in Stein meißelt und damit festschreibt, entschließen sich die Kinder der Rahmenhandlung zu eigenen Entsagungsübungen. Ihrer Bitte, ein wenig Fasten zu dürfen, gibt der Vater wie folgt statt: »Bravo! Bravo! – Nun, ich werde doch nicht allein zurükbleiben auf dem Wege zum Guten? – Hört, wozu ich mich entschlossen habe! […] Also von heute an, rauche und schnupfe ich keinen Tabak mehr; von heute an, trinke ich keinen Thee, keinen Kaffe, kein Bier und keinen Wein mehr, ausser an Geburtstagen und andern Freudenfesten […].« (RdJ, S. 221f.) Und nach einigen weiteren Ausführungen zu den potentiellen Schwierigkeiten seines Gelübdes kommt er zu folgender Konklusion: »Ich habe geglaubt, daß es gut wäre, euch dies Alles vorher zu sagen, damit ihr aus meinem Beispiele lernen mögtet, daß man viel kan, wenn man viel will […].« (RdJ, S. 222f.) Der Erzieher-Vater zeigt sich hier als Vorbild für alle Adressaten des Textes, den kindlichen Romanleser ebenso wie den anzuleitenden Pädagogen. Indem er selbst mit gutem Beispiel vorangeht, verweist er auf jene exemplarische Qualität, die den Pädagogen grundlegend auszeichnen und die er, wie aufgezeigt wurde, in Szene setzen können muss, um sie edukativ wirksam zu machen. Hans-Christoph Koller hat zurecht darauf hingewiesen, dass »[j]eder der in (oder von) diesem Roman erzogen wird, […] sich prompt selbst in einen Erzieher an anderen [verwandelt]«512 . Diese Bewegung der Pädagogisierung verbindet Binnenund Rahmenhandlung und hält den Roman als Roman zusammen. Sie verläuft über Robinson zu Freitag und von Freitag zu dessen Vater; vom Erzieher-Vater zu den Zöglingen, von den Zöglingen zur Mutter, aber auch zwischen ihnen und prägt noch ihre biographische Zukunft, die der Vater unter die Verantwortung stellt, sich »recht viele und große Verdienste zu erwerben, […] weil alsdan eure Mitmenschen viel Vertrauen auf euch sezen und euch zu Aemtern hervorziehen werden, die euch berechtigen, viele schädliche Mißbräuche abzuschaffen und viele nüzliche Einrichtungen einzuführen.« (RdJ, S. 315) 512 Koller: Erziehung zur Arbeit, S. 67. Auf diesen Prozess weist auch Funke: Bücher statt Prügel, S. 67 hin.

III Die Theatralisierung der Pädagogik

Erst die Dramatisierung der Form, so muss ergänzt werden, ermöglicht es jedoch, diese Dynamik über die Textgrenzen hinaus zu verlängern, richtet sie sich doch unmittelbar, und Unmittelbarkeit suggerierend, an seine kindlichen wie erwachsenen Leser. Dass Robinson der Jüngere in dieser Hinsicht Zöglinge wie Erzieher adressieren kann, verdankt sich der rahmenden ›Familienscenen‹.513 Denn so, wie die Binnengeschichte um Robinson abstrakte Erziehungsgehalte für die einen unterhaltsam zu veranschaulichen hilft und sich für die anderen als Mittel dazu präsentiert, geben diese Szenen Zöglingen eine Orientierung hinsichtlich der richtigen Rezeption und der daraus zu ziehenden Konsequenzen. Für Erzieher hingegen machen sie eine funktionierende pädagogische Praxis beobachtbar und zeigen Strategien zu deren Optimierung. Erst indem der Text also Erziehung in dieser Vielschichtigkeit vorführt, kann er Erziehung auch als einen durch ihn herbeigeführten Effekt behaupten. Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere ist ein Knoten- und Konzentrationspunkt aufklärerischer Reformpädagogik. Er ist zugleich für die Untersuchung einer Theatralisierung dieser Pädagogik nicht nur ein geeigneter Ausgangs-, sondern auch ein ebensolcher Schlusspunkt, weniger in dem Sinne, dass er sie be- oder vollendete, sondern insofern, als dass er ihre wesentlichen Bezugspunkte versammelt und korreliert. Robinson der Jüngere ist dabei in seiner Dramatisierung selbst Element wie Formkorrelat einer Theatralität, die er einerseits als Bestandteil seiner Rezeption anlegt, deren Effekt er andererseits als Text einzuholen versucht. Zwischen Roman und Anleitung, Fiktion und Authentizitätsbehauptung,514 Narration und Dramatisierung, stiller Lektüre und histrionischer Vorstellung, Experiment515 und Beobachtung, Zöglings- und Erziehererziehung, lässt er in diesem Gewebe von Spannungsverhältnissen die wesentlichen Aspekte philanthropistischer Programmatik zusammenlaufen. Eine Erziehung zu Maß und Nützlichkeit, ihr institutioneller Rahmen, die Techniken ihrer Vermittlung, die dahinterstehende Methodik sowie das dies ermöglichende Verhältnis von Zögling und Erzieher, der seinerseits immer auch Gegenstand pädagogischer Absichten ist, werden hier nicht nur aufeinander bezogen, sondern insofern besonders beobachtbar gemacht, als dass sie 513 Insofern ist Papes Einschätzung, die Dialoge hätten »nur einen Zweck«, nämlich gemäß einer »dichtungsfeindlichen Einstellung« Campes die Zerstörung des »literarisch‐fiktiven Charakter[s] des Werkes« (Das literarische Kinderbuch, S. 199) zu betreiben, nicht haltbar. 514 Dies ist hinsichtlich der Dialogform als durchaus topisch zu beobachten. Die Behauptung, wirkliche Gespräche getreulich zu protokollieren, statt zu fingieren, liegt den Briefen des Ungenanten ebenso zugrunde wie Jaspersons Unterrichtspräsentation. Auch Campe legt Wert darauf, zu betonen, dass er »lieber wirkliche, als erdichtete Personen, habe redend einfügen, und meistentheils wirklich vorgefallene Gespräche lieber habe nachschreiben, als ungehaltene und künstlichere Dialogen haben machen wollen.« (RdJ, Vorbericht, S. 14.) 515 Vgl. etwa Funke: Bücher statt Prügel, S. 51.

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in ihren Bezügen und ihrer Wirksamkeit gleichsam vorgeführt werden. Diese Aspekte, so konnte in den vergangenen Kapiteln aufgezeigt werden, sind ihrerseits in unterschiedlicher Weise von diskursiven Anschlüssen und Transponierungen, von Wirkungsabsichten, Handlungs- und Verhaltensangeboten, Konfigurationen und Modellen geprägt, die sich als jene am Beginn und im Kern ihrer Verfachlichung fest installierte Theatralisierung der Pädagogik benennen und untersuchen lassen, wie es das Anliegen der vorliegenden Studie gewesen ist.

IV   Der pädagogische Roman als das bessere Theater

Drei junge Männer führten einleitend in den Themenkomplex dieser Studie und ihre beiden Hauptteile ein. In diesen kurzen Szenen ging es um Formen und Fragwürdigkeiten des Theaters sowie Fragen und Probleme der Erziehung, die jedoch nicht bloß für sich adressiert, sondern auch aufeinander bezogen wurden. Allerdings ging es ebenso um das Leben dieser drei jungen Männer, im Sinne desjenigen biographischen Kontinuums, das erzählt werden kann, das Prägungen erfährt und an das, als Kehrseite einer Medaille, Formungs- und Bewertungsmaßstäbe angelegt werden: Goethes Dichtung und Wahrheit berichtet bekanntlich Aus meinem Leben, Gottscheds Cato-Vorrede von einer einschneidenden biographischen Episode und Campes Robinson der Jüngere von den überlebenswichtigen, (auto-)edukativen Erfolgen eines ursprünglich ungehorsamen Kindes. In und zwischen diesen Szenen eröffnete sich also ein Spannungsfeld von Theater und Pädagogik, von Leben und Lebenserzählung. Davon ausgehend entfalteten sich die beiden untersuchten Kernthesen einer Pädagogisierung des Theaters und einer Theatralisierung der Pädagogik, und das innerhalb eines durchaus modifizierten, aber grundsätzlich gemeinsamen konzeptuellen und normativen Rahmens sowie epistemischer Interessen, die sich als solche mitunter erst im Verlauf der als Pädagogisierung und Theatralisierung beschriebenen Ausdifferenzierungsprozesse herausbilden. Als Gravitationszentren dieser Prozesse, ihrer Kontinuitäten und Verlagerungen haben sich das Maß und die Nützlichkeit erwiesen: Sie sind prägen als Schlüsselbegriffe der Aufklärung die zeitgenössischen Handlungs- und Verhaltensnormen ebenso wie die ästhetischen Debatten, setzen beide Bereiche in Relation zueinander, organisieren und bestimmen also das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Sowohl für das Theater, als auch die Pädagogik markiert der Anspruch gesellschaftlicher Nützlichkeit den jeweiligen Legitimationshorizont. Über die schon bald als einzig adäquaten Gebrauch festgeschriebene Möglichkeit eines nützlichen Einsatzes seiner Wirkmächtigkeit verwandelt sich die von zweifelhafter Reputation, Feindschaft und Ablehnung traditionell begleitete, gleichwohl stets ihr mitunter recht zahlreiches Publikum findende Schaubühne auf diskursiver Ebene innerhalb weniger Jahrzehnte von einem sozial wie moralisch randständigen Vergnü-

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gen zu einer beispiellos wichtigen gesellschaftlichen Erziehungsinstitution. Das Theater erweist seine Nützlichkeit also in einer pädagogischen Wirkung. Sie ist Effekt einer Kombination seiner Medienspezifika – der konstitutiven Anschaulichkeit und Gegenwärtigkeit seiner Darstellungen vor einem verhältnismäßig großen Adressatenkreis – mit edukativen Gehalten. Dazu muss die Schaubühne zunächst buchstäblich bestückt werden, ein dramatischer Text wird als verbindliche Aufführungsgrundlage gesetzt. Dies nimmt wiederum die Verfasser dieser Texte, die Theaterdichter, in die Verantwortung, Stücke zu produzieren, die gleichermaßen unterhaltend wie, zunächst dank Bezug auf sittlich‐vernünftige, philosophische Autoritäten, unterrichtend sind. Für die Qualitätsüberwachung und Bewertung dieser Stücke sorgen Kunstrichter, die nicht nur als mediale Diskursordner das ab Mitte des Jahrhunderts rege Theaterzeitschriftenwesen bestimmen, sondern funktional auch Teil des Publikums werden, also desjenigen Adressatenkreises, den das Theater eigentlich erziehen soll und von dem es zugleich hinsichtlich dieser Aufgabe überwacht wird. Das betrifft nicht allein das Dargestellte, sondern ebenso die Darsteller und ihre Darstellungsweise. Die Schauspielerinnen und Schauspieler, die für die Vermittlung der unterhaltsam‐edukativen Gehalte verantwortlich sind, werden dabei nicht nur auf ein natürliches Spiel, sondern auch auf eine vorbildliche Lebensweise verpflichtet, wobei beides, Profession und Privatleben, in dieser Hinsicht miteinander korrelieren sollen. Sie sind also gleichermaßen Subjekte wie Objekte desjenigen umfassenden Erziehungsanspruchs, der die Schaubühne diskursiv in eine moralische Anstalt verwandelt und der strukturschaffend wie strukturierend diese Verwandlung als einen Ausdifferenzierungsprozess in Gang setzt, innerhalb dessen die genannten Akteure als Funktionsstellen herausgebildet und miteinander in Bezug gesetzt werden. Dieser Bezug ist der einer permanenten, wechselseitigen Beobachtung und Bewertung, deren Maßstab Erzogenheit und Erziehungseffekt sind. Der Diskurs der moralischen Anstalt bildet also ein Theater und Theaterbetrieb definierendes Netzwerk von Erziehungsinstanzen aus, die immer zugleich auch als erziehungsbedürftig perspektiviert und zur Erziehung befähigt werden sollen. Diesen Ausdifferenzierungsprozess, seine Struktur, aber auch die Form seines Vollzugs bezeichnet der Begriff der Pädagogisierung. Eine solche Pädagogisierungsform, eine Erziehung zur Erziehung, kennzeichnet auch den im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf den Plan tretenden Philanthropismus, mit dem der Startschuss für die akademische und fachliche Institutionalisierung einer sich professionalisierenden Pädagogik ebenso gegeben ist, wie die Ablösung von älterer Kinderzucht und privater (Gelehrten-)Erziehung durch eine zunehmend öffentliche, kindgemäße und auf objektiven Grundsätzen fußende Erziehung. Sie legitimiert ihren reformatorischen Anspruch nicht nur durch eine veränderte Perspektivierung des Zöglings, an dessen immer auch mit zu beobachtendem Entwicklungsstand sich der Erziehungsprozess orientieren soll, sondern ebenso durch eine Maßstabsumstellung des darin vermittelten

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Wissens: An die Stelle einer vornehmlichen Tradierung von Traditionsbeständen rücken hier Fertigkeiten und Kenntnisse, die für die Lebensbestreitung in einer bürgerlichen Gesellschaft als nützlich erachtet werden. Umgestellt wird von Gelehrsamkeit auf Nützlichkeit, die jedoch nicht nur den Erziehungsprozess bestimmt, sondern auch sein Ziel markiert. Schließlich soll sich jeder Zögling in seinem bürgerlichen (Berufs-)Leben durch seine Brauchbarkeit auszeichnen. Diese Brauchbarkeit wiederum soll Folge und Ausdruck einer pädagogisch implementierten Freiwilligkeit sein: Philanthropistische Erziehung zielt darauf, dass ihre Zöglinge von sich aus wollen, was sie wollen sollen. Mit der programmatischen Umstellung von Gelehrsamkeit auf Nützlichkeit korrespondiert also eine methodische Umstellung von Zwang auf Gewöhnung. Erziehung bezeichnet in diesem Sinne einen Verinnerlichungsprozess, innerhalb dessen der Zögling, als Kind und in seiner Disposition, gleichermaßen Objekt pädagogischer Theorie und Praxis wird. Der Zugriff ist hier ein doppelter, der die Generierung anthropologischen, fachlich verorteten Spezialwissens mit individueller Dispositionsmodellierung verschränkt. Im Blick bleibt dabei nicht nur der jeweilige Zögling hinsichtlich seiner Erzogenheit, sondern auch sein Erzieher als derjenige, der dafür in letzter Konsequenz zur Verantwortung zu ziehen ist und seinerseits in seiner Tätigkeit als optimierungsbedürftig und -willig perspektiviert wird. Philanthropistische Erziehung umfasst also auch eine Erziehung der Erzieher. Sie versteht sich dabei als ein ebenso umfassender wie unabschließbarer Prozess. Denn die Philanthropisten entwickeln nicht bloß neue Techniken und formulieren neue Ziele der Erziehung unter dem Primat der Nützlichkeit, sondern stellen mit der in ihrer sozialverträglichen Brauchbarkeit sich niederschlagenden Erzogenheit auch einen Beobachtungs- und Bewertungsmaßstab bereit, den jeder an jeden lebenslang anlegen kann. Die entstehende Pädagogik setzt sich auf diese Weise koextensiv mit dem Leben, das sie formen, in Form halten und hinsichtlich seiner Form überwachen will. Was in diesem Zusammenhang als Theatralisierung der Pädagogik adressiert und untersucht wurde, bezeichnet ein Zusammenspiel von Bezügen, die philanthropistische Erziehung als eine Erziehung zur Nützlichkeit zum anderen großen pädagogischen Projekt des 18. Jahrhunderts unterhält. Sei es als Popularisierungsinstanz, als Unterrichtsverlängerung oder -gegenstand; sei es hinsichtlich eines wirkungsorientierten, körper‐sprachlichen Auftretens und Agierens innerhalb des besonderen Erzieher-Zögling-Verhältnisses, das der Philanthropismus etabliert; sei es als Beobachtungs- und Konfigurations- oder als Textmodell – die Reformpädagogik schließt in ihrer programmatischen, didaktischen, methodischen und institutionellen Ausdifferenzierung mal explizit, mal implizit, mitunter transponierend, an das reformierte Theater an, das sich seinerseits erst als pädagogische Institution hat ausdifferenzieren können. Beide Reformprojekte stellen ins Zentrum ihrer Bemühungen eine Erziehung zur Sittlichkeit. Behaupten beide über diesen Effekt ihre Nützlichkeit, treiben die

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Philanthropisten die Verbindung dergestalt weiter, dass sie Nützlichkeit und Sittlichkeit miteinander identifizieren. Theaterreform und Reformpädagogik treten jeweils mit dem Anspruch auf, laster- wie tugendhaftes Verhalten erkennen und qualifizieren zu lehren und zugleich dazu zu befähigen, das eigene Betragen entsprechend dauerhaft zu optimieren. Werden zu Beginn der Theaterreform, ähnlich abstrakt wie dieses Schema, seine Folgen betont – Laster und Unglück sowie Tugend und Glück gehören fest zusammen –, verlagert sich der moralische Effekt schließlich stärker zu einer Formung der Selbst- und Fremdverhältnisse regulierenden Affekte. Moralität ist dann ein notwendiger Effekt des Theaters, weil dessen konstitutive Adressierung der Affekte zugleich als ihre Formung moralisch gedacht wird. Der Philanthropismus hingegen, der das genannte Tugend-LasterSchema genauso mitlaufen lässt, wie er auf psychologische, dispositionelle Modellierung setzt, spezifiziert Verhalten und Lebensweise, in denen die anvisierte Sittlichkeit zum Ausdruck kommt, nimmt also wesentlich konkreter ihren Niederschlag in der tatsächlichen Lebensbestreitung wie im sozialen Zusammenhang in den Blick. Sittlichkeit ist fest im Wertefundament verankert, auf dessen gesellschaftliche Ausgestaltung hin erzogen wird, sie zeigt sich in einem Leben, das arbeitsam, fleißig und mäßig, also ein bürgerliches Leben ist. Sittlichkeit, so lässt sich schließen, zeichnet sich aus pädagogischer Perspektive nicht nur durch eine besondere Legitimierungs-, sondern gleichermaßen durch eine hohe Anschlussfähigkeit aus. Sie kann offensichtlich je nach Anlage des Erziehungsprojekts mit dessen konstitutiven Elementen und Grundlagen amalgamiert werden – den Affekten des Theaters, den Werten einer bürgerlichen Gesellschaft – und damit dessen Nützlichkeit außer Zweifel stellen. Sorgt der Anspruch von Nützlichkeit im Zusammenhang von Theater und Pädagogik für eine Stimulation von Ausdifferenzierung, erweist er sich also als ebenso legitimatorisch wie strukturbildend, kommt dem Maß als zweiter, hier als wesentlich verstandener Kategorie eine eher regulierende Funktion zu. Bezeichnet Nützlichkeit einerseits Anspruch (Theater), andererseits Inhalt und Ziel (Pädagogik), bestimmt das Maß nicht nur deren Niederschlagsformen, sondern auch die dazu eingesetzten Mittel. Schon innerhalb der Theaterreform lässt sich hier eine Verschiebung ausmachen. Als poetologische Kategorie bestimmt das Maß die Form des dramatischen Materials: Um edukativ wirken zu können, bedarf es ›regelmäßiger‹ Stücke, das heißt Dramen, die traditionellen oder als traditionell behaupteten Formvorgaben wie den drei Einheiten oder einer gebundenen Sprache entsprechen, deren Fabeln wahrscheinlich eingerichtet und deren Personal moralisch vorbildlich oder abschreckend, in jedem Falle lehrreich konzipiert ist. Was diesen Vorgaben nicht entspricht, wird als unregelmäßig und maßlos disqualifiziert. Bekanntlich verändert sich im Verlauf der Theaterreform – von Gottsched zu Lessing als den beiden konzeptionellen Polen, zwischen denen sich der Diskurs weitestgehend organisiert – der Stellenwert einiger dieser Elemente. Die Einhei-

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ten etwa werden weniger dogmatisch gefordert, die Ständeklausel fällt weg. Umso gewichtiger wird hingegen das dramatische Personal, das in diesem Zusammenhang zunehmend hinsichtlich seiner Psychologie interessiert und dessen geforderte Sprach- sich zu einer umfassenderen Ausdrucksangemessenheit wandelt, die sich nicht mehr an der gebundenen Form des Textes bemisst, sondern an ihrer Korrespondenz mit den Regungen der Seele, die es auf die Bühne zu bringen gilt. Es sind ihre Motive und Motivationen, die, als Zusammenspiel von Ursachen und Wirkungen, die Figuren als Charaktere prägen und veränderter sprachlicher wie körperlicher Ausdrucksweisen bedürfen, eines ›natürlichen Spiels‹, das psychologisch plausible Natur statt Typenhaftigkeit zur Darstellung bringt und sichtbar macht. In diesem Zusammenhang erweitert sich auch der Referenzrahmen des Maßes. Verlagert sich die Figurenkonzeption von in ihrer herausragenden Tugendoder Lasterhaftigkeit vorbildlich oder abschreckend wirkenden zu mittelmäßigen, dem anvisierten Zuschauer ähnlichen, gemischten Charakteren, wird das Maß zum edukativen Effekt eines Theaters erklärt, das diese Charaktere zeigt. An die Stelle der Nachahmung einer vorbildlichen Haltung tritt dann die Entdeckung einer psychologischen und affektiven Ähnlichkeit, die zur Voraussetzung theatraler Affektwirkung wird. Reguliert werden darüber Selbst- und Fremdverhältnisse. Maßstab dieser Regulierung ist das Maß selbst, als Mitte, die zwischen zwei Extremen liegt. In dieser von Lessing ausgehenden Konzeption, seiner die Affekte selbst moralisierenden Mitleidsästhetik sowie seiner Aristotelesaktualisierung, zeigt sich das Maß als Grenzbereich zwischen Kunst und Leben, als poetologisch‐theatertheoretische, ethische und soziale Kategorie. Es ist Folge einer nur dem Theater eigenen Mobilisierung und Regulierung der Affekte sowie Grundlage optimierter gesellschaftlicher Verkehrsformen. Das Maß ist wie kaum eine zweite Kategorie Index dieses aufklärungscharakteristischen, engen Bezuges zwischen ästhetischer und sozialer Form, die von der (Selbst-)Verpflichtung ersterer herrührt, letzterer dienlich zu sein. Es zeigt aber umgekehrt auch den Beitrag, den gerade das Literatur und Bühne verschmelzende, regelmäßige Theater in seiner Evidentialisierung, Verhandlung und Diskursivierung zur Konstituierung und Normierung gesellschaftsrelevanter Verhaltensweisen und Wertvorstellungen leistet. Wie und inwiefern das Maß zeitgenössisch dabei als sozialnormative Kategorie fungiert, zeigt sich deutlicher noch dort, wo nicht von einem erzieherisch konzipierten Theater aus auf gesellschaftliches Leben eingewirkt, sondern an dessen Einrichtung und Reproduktion von einer professionellen Pädagogik gearbeitet wird. Indem er zu Arbeitsamkeit und Mäßigkeit als Ausdrucksformen jener die Nützlichkeit der Erziehungsreform belegenden Sittlichkeit erzieht, bestätigt der auf reibungslose Einpassung seiner brauchbar gemachten Zöglinge in eine als bürgerlich verstandene Gesellschaft zielende Philanthropismus die Zentralstellung beider Werte für ein bürgerliches Leben. Maß im Sinne von Mäßigkeit ist dann das

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Verhaltensideal einer Überfluss und Müßiggang ablehnenden, stets zum Verzicht bereiten, Glückseligkeit im passgenauen Aufgehen in ihrer sozialen Stellung und Tätigkeit erfahrenden, sich in dieser Tätigkeit als sittlich erweisenden Existenz, zu der die Reformpädagogik erziehen will. Maß im Sinne von Ebenmaß ist dazu ihr Kompositionsprinzip, das ein Gleichgewicht der individuellen Kräfte in Relation zur späteren gesellschaftlichen Stellung und Berufslaufbahn anvisiert. Im Sinne einer Angemessenheit, bestimmt das Maß schließlich auch die hier eingesetzten Mittel: sei es hinsichtlich des angemessenen Auftretens und Agierens des vorbildlichen Erziehers, oder sei es hinsichtlich eines als Unterrichtsmittel diskutierten kindlichen Theaterspiels, dessen Stücke sich, angesichts der mal mehr, mal weniger deutlich artikulierten Vorbehalte gegenüber einer sittlich korrumpierenden, unbrauchbar machenden Gefahr der Bühne, formal wie inhaltlich durch eine besondere Kindgemäßheit auszeichnen müssen. Im Begriff des Maßes verschränken sich also sowohl in der Theaterreform als auch in der Reformpädagogik, bei gleichwohl unterschiedlicher Akzentuierung und Ausgestaltung, poetologische Formüberlegungen, ein anthropologisches Formideal und eine sozialkompatible Lebensform. Lassen sich nun anhand der Kategorien von Nützlichkeit und Maß einerseits die Ausdifferenzierungsprozesse der Reformprojekte sowie ihre strukturellen Gemeinsamkeiten, Verlagerungen und Anschlüsse beobachten und beschreiben, gerät darüber andererseits ein diesen Prozessen und Strukturen unterliegendes, breiteres anthropologisches Interesse in den Blick. Den Menschen zu kennen, ist unwidersprochene Voraussetzung, um erzieherisch auf ihn einzuwirken. Menschenkenntnis wird dementsprechend zu einer obligatorischen Kernkompetenz für Theaterdichter, Schauspieler wie für professionelle Erzieher erklärt. Gleichzeitig aber sind sowohl das pädagogisierte Theater wie die theatralisierte Pädagogik darum bemüht, den Gegenstand ihrer Erziehung, also den Menschen selbst, erst zu ergründen. Diese anthropologische Ausrichtung schlägt sich in psychologisch ausdifferenzierten Figuren, einer entsprechenden Darstellung und der anvisierten Affektformung im Verlauf der Theaterreform nieder. Die Reformpädagogik hingegen ruht von Anfang an auf der Prämisse, Kindheit zwar als eigene Lebenssphäre anzuerkennen, deren natürlichen Entwicklungsgang und eine vorausgesetzte kindliche Natur aber erst noch kennen lernen zu müssen. Beiden Reformprojekten gerät so der (kindliche) Mensch in zweifacher Weise zum Objekt: einer erzieherischen Einwirkung, zu der es die Voraussetzungen zu schaffen, und eines dieses Objekt überhaupt erst mit konstituierenden Wissens, das es hervorzubringen gilt. Diese Verschränkung einer edukativen und einer epistemischen Dimension zeigt sich erstens in der jeweiligen Erziehungsleistung, der genannten Formung der Affekte respektive der Kräfte; und zweitens im zunehmenden Interesse an der Innenseite des Menschen, den Dynamiken der Seele und ihrem sichtbaren, körper‐sprachlichen Niederschlag, die es wissbegierigen Blicken bereit zu stellen gilt.

IV Der pädagogische Roman als das bessere Theater

Ist Erziehung an Menschkenntnis gekoppelt, hängt die anhand von Beobachtungen zu erwerbende Kenntnis des Menschen samt ihrer wissensförmigen Aufbereitung von entsprechenden Darstellungsformen ab. Letztere liefern zu können, beansprucht vor allem das Theater für sich, ist es doch deswegen im Stande, den Menschen mit dem Menschen bekannt zu machen, weil es kausal gedachte, anthropologische Dynamiken vergegenwärtigen, weil es also vor‐stellen kann, warum jemand handelt, wie er handelt und was dabei warum in ihm vorgeht. Dementsprechend sind es theatrale Techniken, Konfigurationen und Sichtbarkeitsarrangements, die in der Pädagogik zum gleichen Zwecke menschlicher Innenausleuchtung zum Einsatz kommen. Dort sollen sie jedoch nicht nur stärker ermöglichen, ein solches Wissen systematisch zu generieren, sondern auch, es operationalisieren zu können. Entlehnen sich die dazu eingesetzten Techniken dem Theater, setzen die Pädagogen allerdings auf eine andere Darstellungsform, die dem als letztlich utopisch mitreflektierten Anliegen entspricht, möglichst alle potentiellen Ursachen für das konkrete und zu erwartende Verhalten eines Zöglings in Erfahrung zu bringen. Um Erziehung als Prozess individualisieren und darüber das zukünftige Leben eines Zöglings in Form halten zu können, sollen dessen bisheriges Leben und sein Entwicklungsstand narrativiert werden. Grundlage dieser individualisierten wie individualisierenden Erziehung ist eine nach weitestmöglicher Fakteneinholung vom Erzieher zu verfassende Erziehungsgeschichte, die alle äußeren und inneren Einflussfaktoren als Verhaltensursachen des erzählten Zöglings ihren Wirkungen und Wirkungspotentialen zuordnet und darin zur pädagogischen Voraussetzung wird, die Ordnung seines weiteren Lebens anzulegen. Was hier auf wenigen Seiten noch einmal als Konzentrat und in seinen größeren Zusammenhängen rekapituliert, in den einzelnen Kapiteln entsprechend ausführlicher untersucht wurde, ist eine diskursive Ausdifferenzierung und Verschränkung der das 18. Jahrhundert prägenden Reformprojekte des Theaters und des Erziehungswesens. Verwandelt sich ersteres auf diesem Wege in eine moralische Anstalt, deren Erbe in einem hochgradig subventionierten Theaterbetrieb mit stehenden Bühnen in nahezu jeder Stadt im deutschsprachigen Raum nachhallt, wird letzteres unter dem Namen Pädagogik professionalisiert und verfachlicht, ist mittlerweile akademisch fest installiert und in der Frage, was es wie zu welchem Zweck vermitteln soll – Stichwort Bildung – prägend für gesellschaftliche und politische Debatten. Diese beiden Größen, Theater und Pädagogik, in ihrer wechselseitigen Stimulation, bleiben nicht nur präsent, sondern erweisen sich in mehrfacher Hinsicht als Integrale, wenn auch die andere Seite des eingangs skizzierten Junge-MännerThemengefüges stärker in den Blick gerät: Leben(sverlauf) und Lebenserzählung. Dies sei hier, die vorliegende Untersuchung der theatralen und pädagogischen Ausdifferenzierungsprozesse und Bezugnahmen beschließend und zugleich in der Absicht skizziert, das Anschlusspotential für weitere Untersuchungen deutlich zu ma-

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chen, die vor dem Hintergrund der das 18. Jahrhundert prägenden Verschränkung von Theater und Pädagogik die Frage des Lebens und seiner Erzählung ins Zentrum stellen, und dies auch eigentlich erst vor diesem Hintergrund tun können. Ausgangpunkt ist die Beobachtung, dass sich dieser Zusammenhang maßgeblich in diejenige Gattung einschreibt, die qua Form mit Leben und Lebenserzählung zusammenhängt: den Roman. Er nobilitiert sich unter Bezugnahme auf legitimatorische und wirkungsästhetische Argumente des Theatersdiskurses und beansprucht darüber auch für sich einen erzieherischen Effekt, der jedoch, aufgrund seiner gattungsspezifischen Darstellungsqualitäten, noch über den des Theaters hinausgeht. Mit anderen Worten: Der pädagogische Roman inszeniert sich mit Hilfe des Theaters als das bessere Theater. Eine Annäherung an diesen Zusammenhang findet sich anhand der Bedeutung, die diesem am Leben orientierten und aus dem Leben gewonnenen Roman, in dem sich Theater und Pädagogik verschränken, für das moderne Erziehungssystem zukommt. Nachdem Niklas Luhmann zunächst vorgeschlagen hatte, das Kind als Medium der Erziehung zu verstehen, plädiert er im Anschluss an Vorüberlegungen Karl Eberhard Schorrs und angesichts eines Erziehungssystems, das sich spätestens im 20. Jahrhundert über universitäre, berufsbegleitende Erwachsenenund noch Seniorenbildung koextensiv zum Leben erstreckt, für ein anderes, diesem Ausdifferenzierungsgrad und dieser biographischen Spannweite eher Rechnung tragendes Medium: den Lebenslauf.1 Der Begriff bezeichnet »eine Beschreibung, die während des Lebens angefertigt und bei Bedarf revidiert wird. Der Lebenslauf schließt die vergangenheitsabhängige, aber noch unbestimmte Zukunft ein; er ist insofern eine Konjektural-Biographie. Die Einheit des Lebenslaufs muß also Vergangenheit und Zukunft umgreifen, ohne doch eine teleologische Struktur aufzuweisen. Sie liegt in einer Integration von Nichtselbstverständlichkeiten. Sie ist eine rhetorische Leistung, eine Erzählung. Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. […] Man erhält einen Namen, lernt seine Eltern kennen (oder auch nicht), läßt sich durch dieses oder jenes beeindrucken, arbeitet sich spielend in die Welt hinein, beginnt eine Karriere mit der Erfahrung von Erfolgen und Misserfolgen und schiebt mit all dem eine noch nicht bestimmte Zukunft vor sich her.«2

1 Vgl. zusammenfassend das Kapitel Medium und Form in Luhmann: Erziehungssysstem der Gesellschaft, S. 82-101; für die beiden vorgeschlagenen Medien ausführlicher ders: Das Kind als Medium der Erziehung und den ganz späten Text Erziehung als Formung des Lebenslaufs, in: ders.: Schriften zur Pädagogik. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M. 2004, S. 260-277. 2 Luhmann: Erziehung als Formung des Lebenslaufs, S. 267.

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Mit dem Konzept des Lebenslaufs ist also zum einen das beschriebene Leben hinsichtlich seiner Unfertigkeit und der Möglichkeit einer Neubewertung des Vergangenen, je nach Verlauf, akzentuiert.3 Zum anderen wird so zwischen den Ereignissen, die einen solchen Verlauf bilden, und die nicht notwendig haben eintreten müssen oder noch eintreten werden, die aber möglich (gewesen) sind, ein Zusammenhang etabliert. Dieser Zusammenhang fasst sie nicht nur unter einem gemeinsamen Zeithorizont, sondern setzt sie auch, bei aller Nicht-Notwendigkeit ihres Eintretens, als einander bedingende Bedingungen4 in einen Bezug: »Das hervorstechende Merkmal eines Lebenslaufs ist wohl: daß er nicht begründet werden muß, aber erzählt werden kann. […] Wenn dargestellt werden kann, wie sich eins aus dem anderen ergibt (ergeben hat, ergeben wird), liegt darin eine überzeugende Präsentation von Ordnung. Da die Geschichte auf der Ebene der Formen5 und nicht auf der Ebene der kombinatorischen Möglichkeiten des Mediums Lebenslauf erzählt wird, entsteht der Eindruck einer festen Kopplung von etwas, was gleichwohl als Zufall angesehen werden könnte. Der erzählte Lebenslauf derandomisiert seine Komponenten.«6 Der Lebenslauf ist also nicht nur »Medium im Sinne eines Kombinationsraumes von Möglichkeiten«, sondern umfasst auch den damit korrelativen Begriff als »eine von Moment zu Moment fortschreitende Festlegung von Formen, die den Lebenslauf vom jeweiligen Stand aus reproduzieren, indem sie ihm weitere Möglichkeiten eröffnen und verschließen.«7 Er ist eine Übertragung der Ereignisse, die den Verlauf eines Lebens ausmachen, in eine Ordnung, eine Übertragung von Kontingenz in eine Zusammenhang stiftende Narration, die die Individualität desjenigen verbürgt, dessen Leben erzählt wird. Als »Unikat« ist jeder Lebenslauf dabei gleichermaßen individuell wie individualisierend: »Im Lebenslauf präsentiert das 3 »Im Unterschied zu ›Biographie‹ enthält er [der Lebenslauf – AW] eine noch nicht geschriebene Seite. Der Lebenslauf mag, so kann man annehmen, zu einer ständigen Neubeschreibung der eigenen Biographie führen.« (Ebd., S. 266) 4 »Der Lebenslauf ist insofern ein Paradefall für die kybernetische These, daß in geschlossenen Systemen nur Konditioniertes konditionieren kann. Nichts wird dadurch selbstverständlich, aber alles erhält seinen Platz in der Sequenz, die den Lebenslauf konkretisiert. Alle beitragenden Ereignisse schränken weitere Möglichkeiten ein, können sie aber auch ausweiten.« (Luhmann: Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 94) 5 In seiner systemtheoretischen Bedeutung als strikte Kopplung von Elementen (vgl. u.a. Luhmann: Das Kind als Medium der Erziehung, S. 162-164) wird der Formbegriff im Folgenden nur dort verwendet, wo explizit darauf hingewiesen wird. Ansonsten folgt der Gebrauch Rüdiger Campe: Form und Leben in der Theorie des Romans, in: Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker (Hg.): Vita aesthetica. Szenerien ästhetischer Lebendigkeit, Zürich/Berlin 2009, S. 193-211. 6 Luhmann: Erziehung als Formung des Lebenslaufs, S. 268. 7 Ebd., S. 270.

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Individuum sich selbst in seiner Individualität, in seinem Anderssein, in seiner Unvergleichbarkeit. Obwohl alle Komponenten eines Lebenslaufs auch auf andere zutreffen können […], ist die sequentielle Kombination jeweils auf Einzigartigkeit hin stilisiert.«8 Luhmanns Überlegungen zum Lebenslauf sind aus vornehmlich zwei Gründen für den hier verfolgten Gedankengang bedeutsam. Denn nicht nur seine strukturellen Voraussetzungen, auch seine Formvorlage, die eine literarische ist, findet sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, wo sich beide Aspekte im Koordinatensystem von Theater, Erziehung und Leben(serzählung) lokalisieren lassen. Luhmann diskutiert diese veränderte Mediumsbestimmung vor dem Hintergrund einer institutionellen Ausweitung und einer Anspruchsverlängerung, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts vollzieht. Die Voraussetzungen für diese Entwicklung, jeden in jeder Lebensphase zu betreffen, sind jedoch schon zu Beginn seiner Ausdifferenzierung im Erziehungssystem angelegt. Die Philanthropisten halten das Leben, im Sinne eines biographischen Kontinuums beständig im Blick.9 Denn gleichwohl es ihnen um die Erziehung von Kindern geht, werden mit der Ausrichtung ihrer Erziehung auf die Ermöglichung einer individuellen, sozialkompatiblen Lebensbestreitung nicht nur die Weichen für den Verlauf des Lebens gestellt, es wird auch der Anspruch verfolgt, dieses Leben dauerhaft in Form zu halten. Erziehungs(miss)erfolg zeigt sich zwar einerseits erst ab dem Eintritt ins Berufsleben,10 andererseits aber wird Erziehung als lebensbegleitender, jederzeit möglicher Korrektur- und Optimierungsvorgang betont. So entschließt sich etwa der mit gutem Beispiel vorangehende Erzieher-Vater-Erzähler in Campes Robinson, die ihm bereits zur Gewohnheit gewordenen Fehler seiner eigenen Erziehung zu beheben: »Ihr wißt, daß ich in meiner Jugend sehr verwöhnt worden bin. Man hat mir Kaffee und Thee, Bier und Wein zu trinken gegeben. aus eigener Narheit habe ich als Jüngling mir den Schnupftabak und Rauchtabak angewöhnt. […] Ich habe oft Kopfschmerzen; vermuthlich würd‹ ich sie nicht haben, wenn ich nicht von Jugend auf an warme und erhizende Getränke gewöhnt worden. Dies und das Beispiel unsers Robinsons hat mich dan zu der Entschliessung gebracht, von nun an auf Alles dies Verzicht zu thun.« (RdJ, S. 221f.) Das Leben ist als herzurichtende Verlaufsform nicht nur von Anfang an Referenz professioneller Erziehung, es wird auch von Anfang an die Möglichkeit fortlaufender (Selbst-)Edukation mitgedacht. Vor der Herausbildung einer institutionellen 8 Ebd., S. 269f. 9 Gleichwohl lässt sich hier, angesichts des Ausdifferenzierungsgrades des Erziehungssystems, noch das Kind als dessen Medium beobachten, vgl. Luhmann: Das Kind als Medium der Erziehung, S. 170-172. 10 Vgl. III.1.

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Infrastruktur sorgt dafür im Falle des Philanthropismus eine auf Verinnerlichung ihrer Prinzipien zielende Erziehung, die auch die Parameter ihres biographiebegleitenden und -formenden Einflusses vorgibt: Maß, vornehmlich im Sinne von Mäßigkeit, und Nützlichkeit. Ohne diese Prinzipien je ganz ausstreichen zu können, oder zu wollen,11 wandeln sich historisch die Programmatiken samt ihrer Parameter ebenso wie Institutionen und Einrichtungen entstehen, die eine lebenskoextensive Edukation und (Selbst-)Optimierung stimulieren und befördern. Davon zeugen der Bildungsbegriff12 ebenso wie das diskursiv zwischen Chance und Imperativ changierende Paradigma lebenslangen Lernens.13 Als eigentlicher Entfaltungsraum edukativer Effekte ist dieses Leben jedoch bereits am Beginn ihrer systemischen Ausdifferenzierung Bezugsgröße pädagogischer Theorie und Praxis. 11 Auf Anschlüsse etwa des Neuhumanismus an den Philanthropismus macht Peter Uwe Hohendahl aufmerksam, vgl. Pädagogischer Diskurs und Roman um 1800, in: ders. und Rüdiger Steinlein (Hg.): Kulturwissenschaften. Cultural Studies. Beiträge zur Erprobung eines umstrittenen literaturwissenschaftlichen Paradigmas, Berlin 2001, S. 95-114, hier: S. 103. Dem wäre sicherlich vertiefend nachzugehen, bilden doch seit Beginn moderner Erziehungsreflexion im weitesten Sinne selbstzweckhafte Ganzheitlichkeit und pragmatischer Nutzen konkurrierende Pole, von denen sich bei allem Übergewicht mal des einen über den anderen – bisher zumindest – nie einer in Gänze hat durchsetzen können. 12 Dies betrifft zum einen Bildung anstelle von Erziehung als Gegenstand eines institutionell und organisatorisch so weit ausdifferenzierten Erziehungssystems, dass dessen Medium der Lebenslauf wird und das Luhmann dementsprechend auch als »Bildungssystem« (Erziehung als Formung des Lebenslaufs, S. 260) bezeichnet, vgl. ebd. sowie Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 92f. Es betrifft zum anderen bereits den ›klassischen‹ Bildungsbegriff, wie er ebenfalls um 1800 Kontur gewinnt und in dem eine dem biographischen Verlauf eingeschriebene individuelle Formgewinnung mit einer allgemeinen Menschheitsentwicklung zusammengedacht wird: In diesem Sinne ist Bildung »Subjekt und Objekt von Prozessen, Material und Kraft zugleich, wodurch die Menschheit und der einzelne Mensch sich selbst hervorbringen und dadurch die Trennung von Veränderung/Fortschritt und individueller Lebensgeschichte aufheben.« (Ulrich Herrmann: Erziehung und Bildung, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. Herausgegeben von Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann, München 2005, S. 97-168, hier: S. 121) Vgl. zu einer allgemeinen Übersicht Rudolf Vierhaus: Bildung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch‐sozialen Sprache in Deutschland. Herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Band 1: A-D, Stuttgart 1972, S. 509-551. Vgl. zur wechselseitigen Beeinflussung von ›klassischem‹ Bildungsbegriff und Literatur Wilhelm Voßkamp: Der Roman eines Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin 2009 und zum Verhältnis von Erziehung und Bildung pointiert Käte Meyer-Drawe: Zum metaphorischen Gehalt von »Bildung« und »Erziehung«, in: Zeitschrift für Pädagogik 45/2 (1999), S. 161-175. 13 In diesem Sinne hat Martin Jörg Schäfer unter anderem die theatrale Pädagogik der Philanthropisten als Element einer Vorgeschichte dieses Paradigmas in den postfordistischen Arbeitskulturen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts untersucht, vgl. Das Theater der Erziehung, S. 9-32.

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Wesentliche Impulse für diese »›Institutionalisierung des Lebenslaufs‹«14 , bereits in der sich um 1800 konsolidierenden Pädagogik, gehen von Rousseaus Emile aus. Zu seinem maßgeblichen programmatischen und methodischen Einfluss auf die Philanthropisten gehört nämlich auch und gerade die biographische Perspektive, die der Text mit großer Prägekraft einschlägt, präsentiert er doch das Leben als Verlaufsform, dessen Formung als Erziehung und beides in einer gegenstands- wie prozessadäquaten Darstellungsform. Ein Stück weit unentschieden ist dabei seit jeher sein Status geblieben, der in seiner Rezeptionsgeschichte zwischen pädagogischem Traktat und Roman changiert.15 Für letzteres spricht vor allem die Umsetzung seines Anliegens, eine doppelte Prozessualität zur Darstellung zu bringen. Romanhaft ist der Emile einerseits hinsichtlich seiner korrelierenden Darstellung von natürlicher Entwicklung und sequenzialisierter Erziehung, die für die bereits in der Reformpädagogik zentrale Perspektivierung des Lebens als einzurichtender Verlaufsform entscheidend ist: »Erziehung ist als Abfolge datierbarer Phasen vorgeführt. Der Zeit ist die Aufgabe zugedacht, die Voraussetzungen dafür in der Form der Entwicklung des Kindes vorzugeben. Dieser Auffassung entspricht die Form des chronologischen Romans.«16 Als Erziehungsroman führt er dabei andererseits zugleich vor, wie diese das kindliche Leben und seinen Entwicklungsgang in den Blick nehmende Erziehung gelingt. Neben Rousseaus Erziehungsroman, über den das – zunächst noch nur kindliche und jugendliche – Leben Gegenstand der Pädagogik wird, spielt noch eine andere Ausprägung der Gattung eine wesentliche Rolle für das Konzept des Lebenslaufs. Er findet seine Formvorlage in einem Roman, der – im Gegensatz zum Emile – den biographischen und biographiekonstituierenden Einfluss von Kontingenz im Verhältnis zu narrativer Ordnung verhandelt und dessen eigene Formbildung Folge eines Zusammenspiels von erzähltem Leben, Theater und Erziehung ist. 14 Düwell: Institutionalisierung der Pädagogik, S. 91. Weiter heißt es dort: »[D]ie pädagogischen Institutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts dienen nicht zuletzt der Durchsetzung eines solchen Lebenslaufschemas, das mit der Vorgabe von Verhaltenserwartungen und der Annahme korreliert, die Kontingenz der Abfolge von Ereignissen dadurch zu reduzieren.« 15 Tenorth: Geschichte der Erziehung, S. 82 sowie, ausführlicher, Düwell: Institutionalisierung der Pädagogik lesen den Emile als Erziehungsroman. Von der »Konstruktion einer fiktiven Biographie sub specie educationis« spricht Herrmann: Aufklärung und Erziehung, S. 40, von einem Traktat Grabau: Leben machen, S. 45, von der Gleichzeitigkeit von Traktat und Fiktion respektive Traktat und Roman Pethes: Zöglinge der Natur, S. 12, und Schäfer: Das Theater der Erziehung. Auf die schon das Erscheinen des Emile begleitende, unterschiedliche Klassifizierung macht Georg Stanitzek aufmerksam und diskutiert zugleich ausführlich den Einfluss, der von Rousseaus Text für den Roman um 1800 ausgeht, vgl. Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur. Zur Frühgeschichte des deutschen »Bildungsromans«, in: DVjs 62 (1988) S. 416-450, hier: S. 419-441. 16 Luhmann und Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, S. 153. Sie sprechen an gleicher Stelle mit Bezug auf den Emile allerdings auch von der »Form des Erziehungsromans« (ebd., S. 152).

IV Der pädagogische Roman als das bessere Theater

Luhmann betont allgemein die Wichtigkeit der Literatur für die Herausbildung einer Darstellungsweise von biographischem Leben und seiner Wahrnehmung als zukunftsoffener Verlaufsform, wie sie seinem Lebenslaufbegriff zugrunde liegen: »Die fiktionale Literatur (und wir schließen hier das moderne Bühnentheater ein) schult das Beobachten von Lebensläufen, die die Bedingungen ihres eigenen Fortgangs selbst erzeugen; sie löst das alte Modell des ›Schicksals‹ ab, dem der Held nicht ausweichen kann.«17 Dass es die Literatur ist, in der sich derartige Umstellungen eines Verständnisses von Wirklichkeit und ihrer Einrichtung – etwa von vorgegebenem Schicksal zu offenem Verlauf – abzeichnen und herauslesen lassen, hat an einschlägiger Stelle auch Hans Blumenberg ausgeführt, dessen Überlegungen, so scheint es, bei Luhmann implizit mitlaufen. Gerade weil die Literatur, so Blumenberg, das platonische Verdikt ihrer Lügenhaftigkeit nie vollends hat abschütteln können, weil ihr also »ihr Realitätsbezug bestritten wird,« ist die Poetik als »Theorie von der Dichtung zu einem systematischen Ort geworden, an dem der Wirklichkeitsbegriff kritisch hereinspielen und aus seiner präformierten Implikation heraustreten muß.«18 Das bedeutet einerseits, dass in der Literatur selbst die sich historisch wandelnden Verständnisse von Wirklichkeit nicht nur beobachtbar gemacht – weil sie ›kritisch hereinspielen‹ –, sondern auch verhandelt werden – weil sie aus ihrer ›präformierten Implikation heraustreten‹. Und es bedeutet andererseits, dass diese Wirklichkeitsbegriffe Literatur in Theorie und Praxis prägen, ja sogar in bestimmten Ausprägungen überhaupt erst ermöglichen. Blumenberg zeigt diesen Zusammenhang am Verhältnis von neuzeitlichem Wirklichkeitsbegriff und Roman auf, dessen eigentlichen Ermöglichungsgrund er in der Umstellung von einer als providentiell abgesicherten zu einer als kontingent erfahrenen Wirklichkeit sieht.19 Der Roman ist jedoch nicht nur in dieser Umstellung fundiert, sie wird umgekehrt maßgeblich von ihm beobachtet, verhandelt und beobachtbar gemacht.20 Auch Luhmann zielt, wenn er in diesem Zusammenhang von 17 Luhmann: Erziehung als Formung des Lebenslaufs, S. 271. Vgl. zur Rolle massenmedialer Realitätskonstruktion, neben der Literatur, für die Etablierung von Lebensläufen als Wahrnehmungsschema von Personen ebd., S. 272f. 18 Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 48f. 19 Blumenberg spricht für das Mittelalter und die frühe Neuzeit von einer göttliche verbürgten, »garantierte[n] Realität«, für die Neuzeit hingegen von der sukzessiven »Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes« (ebd., S. 50f.). 20 Vgl. Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 1988. In diesem Sinne ist der Roman nicht nur in einem sich wandelnden Verständnis von Wirklichkeit fundiert, er selbst ist in seiner Adressierung und Problematisierung des Verhältnisses von Providenz und Kontingenz Teil dieses Wandels. Blumenberg betont, »daß Wirklichkeitsbegriffe sich nicht wie mutierende Typen ablösen, sondern daß die Ausschöpfung ihrer Implikationen, die Überforderung ihrer Befragungstoleranzen in die Neufundierung treiben.« (Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 52)

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›Literatur‹ spricht, primär und noch weiter konkretisiert auf eben diese Gattung, konstatiert er doch »auffällige Parallelen« zwischen dem Medium des Erziehungssystems und dem, was er den »modernen Individuenroman«21 nennt. Damit ist wiederum eine Bezeichnung von hohem Tragfähigkeitspotential für eine Spielart des Romans gegeben, die im 18. Jahrhundert ebenso Kontur gewinnt wie eine theoretische Fundierung erfährt. Nicht nur beginnt hier die nachhaltige Nobilitierung der Gattung insgesamt, es konsolidiert sich in diesem Zusammenhang auch ein Strukturschema, das seitdem literarisch wie literaturwissenschaftlich eine enorme Prägekraft entfaltet hat: der Lebensweg eines in der Regel kunstinteressierten jungen Mannes.22 Individuenroman kann dementsprechend als übergeordneter Begriff für gängige Kategorisierungen wie Bildungsroman, Entwicklungsroman, Desillusionierungsroman etc. gelten, weil damit der strukturelle Fokus und das thematische Zentrum adressiert sind, die von den genannten Typen in angezeigter Weise ausbuchstabiert werden. Als einer der wesentlichen Ausgangspunkte für diese Ausrichtung des Romans darf Friedrich von Blanckenburgs 1774 veröffentlichter Versuch über den Roman gelten.23 Tatsächlich entspricht Luhmanns Modell des Lebenslaufs in seiner Narrativität, seiner Verfolgung einer biographischen Entwicklung und seiner Ordnungsleistung von als Bedingungsgefüge dargestellten, jedoch an und für sich »nicht selbstverständlichen, kontingenten Ereignissen, die am Individuum aufgefädelt werden können«24 , derjenigen Form, die Blanckenburgs Versuch zur vollkommensten Ausprägung der Gattung erklärt und die er als deren Maßstab etablieren will. Diese literarische Formvorlage des Lebenslaufs findet umgekehrt ihre eigene Vorlage nicht in Literatur und Poetik, sondern im Leben. Sie kann sich, wie der Roman insgesamt, auf keine eigene poetologische Tradition berufen, sie wird nicht durch überlieferte Schemata geprägt, sondern bildet sich über ihren Inhalt aus. Wie Rüdiger Campe aufgezeigt hat, gewinnt der Roman, selbst ohne Formvorgaben, seine Form über das Leben, von dessen Formung er erzählt: »Nur und erst beim modernen Roman ist es unter allen Gattungen so, dass man über Form nur als eine des Lebens sprechen kann. Mit dem modernen Roman wird literarische Form statt zu einer Sache der literarischen zu einer der Lebensform.«25 Der Versuch über den Ro21 Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 95. 22 Botho Strauss bringt diese Romantradition in Der junge Mann (1984) nicht nur hinsichtlich des Titels auf den Punkt. Er spielt auch unter Aufbrechung der an einem individuellen Lebensverlauf orientierten Form ebenso reflektierend wie aktualisierend wesentliche ästhetische, institutionelle, philosophische und soziale Themen, Problemstellungen und Topoi der Gattung und ihres ideengeschichtlichen Entstehungsumfeldes durch. 23 Blanckenburgs Text »bündelt«, so Werner Frick, »die romanpoetologischen Reflexionen seiner Epoche« (Providenz und Kontingenz, S. 346). 24 Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 93f. 25 Campe: Form und Leben in der Theorie des Romans, S. 196. Bezugsgröße für den hier verwendeten Begriff der Lebensform sind die Überlegungen Giorgio Agambens, vgl. Lebens-Form, in:

IV Der pädagogische Roman als das bessere Theater

man, der für Campes Überlegungen eine zentrale Referenz ist, unternimmt genau das: »Formwerdung auf den Charakter des Helden zurück[zu]führen«26 . Dieser die Gattung eigentlich erst konstituierende Bezug von Form und Leben ist im Falle von Blanckenburgs Romantheorie27 Folge der Korrelation eines Erzählprinzips mit einer spezifischen Gegenstandsfokussierung und einer dezidierten Wirkungsabsicht. Der Versuch über den Roman verfolgt tatsächlich ein doppeltes Ziel. Einerseits geht es ihm darum, den Roman im Verhältnis zu anderen, traditionsreichen Gattungen zu verorten, also »das Eigenthümliche des Romans« zu bestimmen, als dasjenige, »wodurch er sich einen Platz unter ihnen [den übrigen Dichtungsarten – AW] verdienen kann.«28 Andererseits soll die Wirkung der Gattung, die sich einer großen Beliebtheit erfreut, aber oft »nur für die Unterhaltung der Menge geschrieben ist« und darüber Geschmack und Sitten verdirbt, optimiert, das heißt der Roman »zu einem sehr angenehmen, und sehr lehrreichen Zeitvertreibe gemacht werden«29 . Blanckenburgs Argumentation zielt nun darauf ab, beide Ziele miteinander zu verschränken und so den seine eigentliche Bestimmung verfehlenden Roman »zur Wahrheit und Natur zurück[zu]führen«30 : Was den Roman als Gattung nobilitiert ist eine erzieherische Wirkmächtigkeit, die als ihm wesenhaft und einzig wesensadäquater Effekt behauptet wird, weil sie die Folge bestimmter, nur dem Roman eigener Darstellungsqualitäten ist. Dieses Argumentationsmuster, die Integrität eines Gegenstandes von zweifelhafter Reputation über ein ihm eigentlich inhärentes pädagogisches Potential auszuweisen, hat sich zeitgenössisch bereits als überaus erfolgreich erwiesen. Es ist die Grundlage der Theaterreform gewesen, die nun ihrerseits zur Vorlage für Blanckenburgs Projekt wird.31 Vor der Folie einer sich zum Veröffentlichungszeitpunkt des Versuchs noch immer vollziehenden Pädagogisierung des Theaters, verfolgt Blanckenburgs Text das Ziel, auch dem Roman eine Pädagogisierung als dessen Selbsterfüllung einzuschreiben. Er

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Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 251-257. Vgl. zur Formfrage des Romans in diesem Kontext auch Rüdiger Campe: Robert Walsers Institutionenroman Jakob von Gunten, in: Rudolf Behrens und Jörn Steigerwald (Hg.): Die Macht und das Imaginäre, Würzburg 2005, S. 235-250, insbes. S. 235f. Campe: Form und Leben in der Theorie des Romans, S. 199. Blanckenburg kündigt gleich zu Beginn seines Vorberichts an, »daß ich eine Art von Theorie für die Romane schreiben will.« (Versuch über den Roman, Vorbericht, S. III.) Dass der »moderne Roman […] eine Theorie und zwar eine Theorie des Lebens [erfordert]«, ist eine der zentralen Thesen, die Campe diskutiert, vgl. Form und Leben in der Theorie des Romans, S. 195-200, Zitat von S. 195. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 68. Ebd., Vorbericht, S. V, VII. Ebd., Vorbericht, S. VII. Vgl. Selbmann: Theater im Roman, S. 13, der sich allerdings lediglich auf das bürgerliche Trauerspiel bezieht.

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unternimmt dies im Aufzeigen von Charakteristika, die als gattungskonstitutiv behauptet, aber letztlich normativ gesetzt und als Ursache einer dann notwendigen erzieherischen Wirkung gedacht werden. Dabei versteht sich der Versuch dezidiert auch als Anleitung für Romanautoren. Blanckenburg will also den Nachweis einer literaturinhärenten Erziehungsleistung erbringen und zugleich einen Beitrag zur Erziehererziehung. Im Zentrum des pädagogischen Interesses stehen damit zwei Instanzen: der Dichter als zu erziehender Erzieher und der literarische Charakter, über dessen Formungserzählung die Erziehung durch den Text verläuft. Blanckenburg richtet sich dezidiert an »junge, angehende Romandichter«32 , deren Tätigkeit sich erst über eine attestierte Erziehungspflicht legitimiert. Ihre Aufgabe ist es, »das Herz und den Geist [ihres] Volks zu bilden«, worüber sie sich ein »Verdienst« erwerben, das »größer ist, als zehn Finanz-Entwürfe gemacht und ausgeführt, und zwanzig Friedens-Congressen beygewohnt zu haben.«33 Das entspricht dem Verständnis des (dramatischen) Dichters, wie es in der Theaterreform gesetzt und konturiert wird, und auf das auch die professionellen Pädagogen, unter vorsichtiger Einbeziehung der Romandichter, rekurrieren.34 Der Romandichter wird also auf die gleiche Funktion wie sein dramatischer Kollege verpflichtet, überhaupt nur über diese Funktion in seiner Tätigkeit legitimiert und auch auf das gleiche Vorgehen zu ihrer Erfüllung verwiesen: Beide werden zu Sittenlehrern von nationaler Reichweite und Verantwortung erklärt, beide kommen dem Anspruch des prodesse über das delectare nach.35 Auch der Romandichter erreicht seinen Zweck nicht über ein offensichtliches »Vordociren«36 , sondern über eine spezifische Darstellungsweise, die den Roman anziehend und darüber edukativ wirksam macht. Dabei setzt er den gleichen Fokus, wie ihn zunehmend das Theater entdeckt und wie er mit entsprechender Spezialisierung die Pädagogik prägt: »[D]er Romandichter [beschäftigt] sich vorzüglich mit dem Menschen«37 . Dieses anthropologische Interesse ist ein doppeltes, denn es geht darum, den Menschen als epistemischen und edukativen Darstellungsgegenstand zu behaupten. Die Voraussetzungen dazu sind für den Romandichter die gleichen, wie für seine Kollegen in der Dramatik, dem Schauspiel und der Pädagogik. Wer Menschen darstellen möchte, um edukativ auf den Menschen einwirken zu können, muss sich zunächst selbst mit ihm bekannt machen: »[O]hne Kenntniß der menschlichen Natur, und ohne mancherley Beobach32 33 34 35

Blanckenburg: Versuch über den Roman, Vorbericht, S. XIX. Ebd., S. 291. Vgl. II.4.1 und III.2.1. »Der Romandichter, so wie jeder andre Dichter, soll billig auch mit der Anordnung seines Ganzen den Endzweck haben, durchs Vergnügen zu unterrichten: einen so edlen Endzweck, daß er sicher keinen anständigern haben kann.« (Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 311) 36 Ebd., S. 253. 37 Ebd., Vorbericht, S. XVIII.

IV Der pädagogische Roman als das bessere Theater

tungen« geht es nicht: »Zur Nachricht aller künftigen jungen Romandichter sey es also gesagt, daß wir gleich bey dem ersten Schritt an diese beyden Sachen verwiesen worden sind! Sie mögen hieraus folgern, daß man den Menschen ehe studieren müsse, als man ihn vergnügen und unterrichten könne.«38 Der Roman, wie ihn Blanckenburg entwirft, ist also nicht nur ein anthropologischer,39 sondern vor allem ein pädagogischer Roman. Dabei begründet der Zweck des pädagogischen den Fokus des anthropologischen Romans, dessen Gegenstandsbehandlung umgekehrt die Wirkungsvoraussetzung für den pädagogischen Roman ist. Um nun die angestrebten Effekte, Vergnügen und Unterricht, zu gewährleisten, muss der Romandichter seinen Gegenstand in einer bestimmten Weise präsentieren: »Der Dichter, dessen erste Pflicht es ist, mich mit den Personen bekannt zu machen, die er mir zeigt – denn warum zeigt er sie mir sonst? – das heißt, sie zu individualisiren, erreicht hiedurch allein seinen Zweck; – erreicht ihn dadurch, wenn er mich sehen läßt, warum sie so handeln, wie sie handeln.«40 Zu dieser Individualisierung trägt nicht nur der im Roman erzählte Verlauf, sondern auch die vorhergehende Sozialisation bei.41 Was der Romandichter unter expliziter Berücksichtigung auch derartiger Faktoren leistet, ist die anschauliche Darstellung eines Zusammenspiels der »bloßen äußern Umstände« mit der »Geistes- und Gemüthsverfassung der Person«42 . Dabei liegt der Fokus klar auf letzterer, der handelnden Person. Sie ist »der Faden […], an den, um mich so auszudrücken, die Begebenheiten angereiht werden müssen, wenn unter ihnen

38 Ebd., S. 24. 39 Blanckenburgs Versuch schreibt, so Hans-Jürgen Schings, »die Theorie des anthropologischen Romans fest.« (Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung, in: Studien zum 18. Jahrhundert 3: Die Neubestimmung des Menschen. Wandlungen des anthropologischen Konzepts im 18. Jahrhundert. Herausgegeben von Bernhard Fabian, Wilhelm-Schmidt-Biggemann und Rudolf Vierhaus, München 1980, S. 247-275, hier: S. 256) Vgl. im Anschluss an Schings ferner Košenina: Literarische Anthropologie, S. 71-74. Als »über jeden Vorwurf erhabene Legitimation« (Schings: Der anthropologische Roman, S. 256) der Gattung erweist sich jedoch nicht, wie Schings weiter ausführt, diese Gegenstandsfokussierung, sondern die erzieherische Absicht, die damit verfolgt wird und die Blanckenburg, wie hier aufgezeigt werden soll, argumentativ wie inhaltlich aus dem Diskurs der Theaterreform übernimmt. 40 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 281. 41 Vgl. ebd., S. 207f. Der Bedeutsamkeit »diese[r] kleinen Züge« (ebd., S. 208), wie Blanckenburg derartige Einflüsse nennt, für die im Zentrum des Versuchs stehende Charakterformung geht Heide Volkening nach, vgl. Ausbildung des Charakters. Wilhelm Meisters Lehrjahre (mit Blanckenburg), in: IASL 41 H2 (2016), S. 290-303, insbes. S. 292-295. 42 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 260.

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eine genaue Verbindung von Wirkung und Ursache, sich befinden soll.«43 Und das soll sie ausdrücklich. Denn was der Romandichter zu zeigen hat, sind »Ursachen, wie sie das Innre der Person in eine Bewegung setzen, die wieder zur Ursache der folgenden Wirkung wird.«44 Diese erstgenannten Ursachen hinterlassen Eindrücke im Innern der Person, sie prägen deren Agieren und »so muß natürlich der zweyte Eindruck, den der Charakter erhält, nur nach Maaßgabe des erstern Eindrucks, den der Charakter erhalten hat, wirken, so daß die zweyte Begebenheit also gleichsam ihre eigenthümliche Gestalt durch die vorhergehende (vermöge des Eindrucks, den diese auf den Charakter gemacht haben) bekommt. Mit einem Wort, jeder Eindruck, jede Begebenheit muß Spuren zurück lassen, die wir an dem Eindruck, den die folgende Begebenheit macht, erkennen.«45 In dem Maße also, wie über die Eindrücke der Figur der Zusammenhang zwischen den Begebenheiten als ein kausaler sichtbar wird, zeigt sich in der Folge der Begebenheiten die Formung der Figur, zeigt sich ihre »innere Geschichte« als eine »Folge abwechselnder und verschiedener Zustände«46 . Diese psychologisch kausale Entwicklung als Darstellung einer Lebensformung zeichnet den Roman als Gattung aus – und erst über sie gewinnt er seine eigene Form: »Hieraus ist am Ende das Ganze entstanden, in welchem alles unter sich, und alles mit dem Ausgang dieses Ganzen verbunden, eine Reihe in einander gegründeter Ursachen und Wirkungen geworden ist, deren Resultat, aus den vorhergehenden, nothwendig und anschauend erfolgte. Und dies Resultat, dieser festgesetzte Zweck eines Werks dieser Art kann also kein andrer seyn, als die Ausbildung, die Formung des Charakters auf eine gewisse Art.«47 Eine solche Formung darstellen zu können, ist allein das Verdienst des Romandichters. Gleichwohl er einem biographischen Schema folgt, ist er doch ausdrücklich von einem Biographen zu unterscheiden, weil er, im Unterschied zu diesem, den Nexus aller die Person betreffenden und ihr erzähltes Leben formenden Ursachen und Wirkungen kennt. Sein Einrichtungs- ist zugleich ein maximales Übersichtswissen. Ein bloßer Biograph hingegen 43 Ebd., S. 318. Vgl. die bereits genannte, verwandte Formulierung bei Luhmann, in Bezug auf den Lebenslauf und die dort individualisierend geordneten Ereignisse, die »am Individuum aufgefädelt werden können.« (Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 94) 44 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 272. 45 Ebd., S. 319. 46 Ebd., S. 391. 47 Ebd., S. 321. Dementsprechend wird, so Rüdiger Campe, die »Form des Romans […] als Form des Lebens jedes Mal neu begründet« (Form und Leben in der Theorie des Romans, S. 197).

IV Der pädagogische Roman als das bessere Theater

»zeichnet auf, was er sieht und weiß; aber den Gesichtspunkt, aus dem er es ansehen soll, und den der allein kennt, der das Ganze dieses einzeln Menschen übersieht, kann er nicht kennen; er weis die Beziehungen, die Verhältnisse nicht, die sich zwischen dem, was er aufzeichnet und zwischen dem befinden, was seine Person werden soll, oder werden kann. Er kann den Punkt nicht sehen, in dem alle einzelne Strahlen zusammen kommen und vereint werden sollen.«48 An diese Grenzen des Biographen stoßen auch die Reformpädagogen, und zwar dort, wo sie zur Unterstützung der Erziehung auf Erziehungsgeschichten setzen, also der Formung des künftigen das Aufschreiben des bisherigen und gegenwärtigen Lebens unter dem Gesichtspunkt erziehungsrelevanter Aspekte zugrunde legen. Zielvorstellungen wie Grenzen eines solchen Projektes werden im Wesentlichen vom Roman aufgezeigt, der vor- und darstellt, woran sich die Erziehungsgeschichten orientieren sollen, ohne dass sie dies jedoch je im gleichen Maße wie ihre fiktionalen Impulsgeber erreichen können. Das zeigt sich zum einen anhand von Rousseaus Emile. Was ihn als Erziehungsroman auszeichnet, ist neben seiner Beobachtbar- und damit pädagogischen Verfügbarmachung einer kindlichen Natur und ihrer Entwicklung vor allem die Vorführung einer sich an dieser Entwicklung orientierenden Erziehung »in einem fiktiven Szenario«49 . Für das Gelingen dieser Erziehung sind jedoch nur in einem solchen Szenario die idealen Voraussetzungen gegeben. Nur im Erziehungsroman ist möglich, was die Pädagogen realiter durch institutionelle und methodische Einrichtungen so gut es eben geht gewährleisten wollen und was ihnen, wie sie etwa im Falle von Wezel genau reflektieren, nur annäherungsweise gelingen kann: die Ersetzung von Kontingenz durch Kontrolle, das planvolle Arrangieren aller Lebensumstände und -erfahrungen durch den Erzieher.50 Im Gefolge des Emile, der gerade als Roman entsprechende Problematiken überwindet, konzentrieren sich vor diesem Hintergrund, jedoch unter den ›erschwerten Bedingungen‹ der Wirklichkeit, auch die Erziehungsgeschichten »auf die Frage […], wie die Umwelt zu gestalten und zu kontrollieren ist, damit sich die gewünschten Fähigkeiten entwickeln.«51 Ihre Programmatik ist allerdings nicht nur von dem Kontingenz ausschaltenden Erziehungsroman Rousseaus beeinflusst, der ihnen ein in der Realität nicht umzusetzendes Kontrollideal vorstellt, sondern auch von dem gerade Kontingenz in ihrem Einfluss auf die Entwicklung eines Protagonisten verhandelnden Roman, den Blanckenburgs Versuch entwirft. Er wiederum liefert ein Darstellungsideal, 48 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 379. Vgl. zu diesem Verhältnis Wilhelm Voßkamp: Individualität – Biographie – Roman, in: ders.: Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin 2009, S. 26-32. 49 Pethes: Zöglinge der Natur, S. 13. 50 Vgl. III.4.2. 51 Düwell: Institutionalisierung der Pädagogik, S. 107.

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dem sich die Erziehungsgeschichten ebenfalls annähern sollen, dabei jedoch insofern an ihre Grenzen stoßen müssen, als dass sie notwendig in jenem rein biographischen Rahmen verbleiben, über den der Roman in Blanckenburgs Theorie ebenso notwendig hinausragt.52 Um die Erziehung des Zöglings individualisieren, darüber optimieren und schließlich sein Leben dauerhaft in Form halten zu können, fordert Wezel seine Kollegen auf, unter Einbeziehung relevanter sozialisatorischer Hintergründe, alle potentiellen Einflüsse, Stimuli und äußeren Umstände ebenso bis ins »kleinste Detail« zu registrieren wie »die Wirkungen, Veränderungen und Revolutionen […], die in dem Mikrokosmus […] [des] Zöglings vorgehn«53 , und dabei Außen- und Innenwelt auf kausale Zusammenhänge hin zu untersuchen. Ausgehend von diesen zur Romantheorie des Versuchs analogen Prämissen, sollen dann die beobachtungsbasierten Erziehungsgeschichten verfasst werden. Wezel, der deren Absicht, Form und Ausführung ausführlich vorstellt, kommt nicht umhin, sie im gleichen Atemzug genau hinsichtlich dieses Anspruchs auch zu problematisieren.54 Wie bereits thematisiert, beklagt er eine ›Unsicherheit der Beobachtung‹, die nie über den Grad einer ›Vermutung‹ hinausreichen kann.55 Denn der pädagogische Beobachter, der »der Geschichtsschreiber des kleinen Mannes werden«56 soll, kann anders als der Romandichter, der als ihr »Schöpfer und Geschichtsschreiber«57 das Leben einer Figur bis zu einem Punkt der »Vollendung«58 erzählt, eben nicht »die ganze innere und äußere Lage des Zöglings in jedem Zeitpunkt sehr genau kennen«59 . Diese Differenz wird jedoch im Roman selbst versuchsweise aufgelöst. Es ist Karl Philipp Moritz Anton Reiser, in dem sich das Anliegen der Erziehungsgeschichten, ein avanciertes Hilfsmittel für professionelle Pädagogen bereitzustellen, und die Form des Blanckenburgschen Romans miteinander verschränken:60 Der Text tritt mit dem Anspruch auf, »vorzüglich die innere Geschichte des Menschen [zu] schildern«61 , verfolgt damit jedoch eine Absicht, die über Blanckenburgs Überle52 »Der Dichter soll und will ja mehr, als Biograph seiner Personen seyn.« (Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 379) 53 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 37f. 54 Vgl. Düwell: Institutionalisierung der Pädagogik, S. 98-100. 55 Vgl. III.4.2. 56 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 37. Vgl. zur (strukturellen) Verwandtschaft von Erziehungsgeschichte und Biographie Kaul: Erziehungsgeschichten und Lebensgeschichten, insbes. S. 17-19. 57 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 379. 58 Ebd., S. 254. Vgl. ausführlicher ebd., S. 392-402 sowie Frick: Providenz und Kontingenz, S. 363f. 59 [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 25. 60 Das Verhältnis des Romans zur philanthropistischen Erziehungsgeschichte diskutiert auch Kaul, allerdings in einer überaus autobiographischen Lesart des Textes, die außerdem das entscheidende, romantheoretische Fundament unberücksichtigt lässt, vgl. Erziehungsgeschichten und Lebensgeschichten, S. 23-28. 61 Moritz: Anton Reiser, S. 86.

IV Der pädagogische Roman als das bessere Theater

gungen hinaus geht: Denn die ihm als Roman mögliche, umfassende Darstellung des kausalen Zusammenhangs von ›innerer und äußerer Lage‹ soll, über die so veranschaulichten Ursächlichkeiten jeglichen Zöglingsbetragens, Pädagogen entsprechend sensibilisieren und ihre pädagogische Praxis optimieren: »Vielleicht enthält auch diese Darstellung manche, nicht ganz unnütze Winke für Lehrer und Erzieher, woher sie Veranlassung nehmen könnten, in der Behandlung mancher ihrer Zöglinge behutsamer, und in ihrem Urteil über dieselben gerechter und billiger zu sein!«62 Welche schwerwiegenden Folgen ein Defizit in dieser Hinsicht hat, wird, ebenso wie das Defizit selbst, ausgiebig im Roman vorgestellt. Dies bildet den Ausgangspunkt für pädagogische Anweisungen, die nicht nur als impliziter Bestandteil in den Vorreden angekündigt werden, sondern mitunter auch explizit Einzug in die Handlung des Romans erhalten. Im zweiten Teil des Romans etwa berichtet der Erzähler von Antons misslicher Lage im Hause des Schuldirektors. Er überführt dabei jedoch nicht allein, ganz im Sinne Blanckenburgs, das Beziehungsgefüge von Anton und seiner sozialen Umwelt in eine kausale Ordnung, sondern wendet sich erzieherisch Tätigen mit einer daraus abgeleiteten, pädagogischen Forderung zu: »Allein man erwog nicht, daß eben dies Betragen, weswegen man ihn zurück setzte, selbst eine Folge von vorhergegangner Zurücksetzung war ‒ Diese Zurücksetzung, welche in einer Reihe von zufälligen Umständen gegründet war, hatte den Anfang zu seinem Betragen, und nicht sein Betragen, wie man glaubte, den Anfang zur Zurücksetzung gemacht. Möchte dies alle Lehrer und Pädagogen aufmerksamer, und in ihren Urteilen über die Entwickelung der Charaktere junger Leute behutsamer machen, daß sie die Einwirkung unzähliger zufälliger Umstände mit in Anschlag brächten, und von diesen erst die genaueste Erkundigung einzuziehen suchten, ehe sie es wagten, durch ihr Urteil über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden, bei dem es vielleicht nur eines aufmunternden Blicks bedurfte, um ihn plötzlich umzuschaffen, weil nicht die Grundlage seines Charakters, sondern eine sonderbare Verkettung von Umständen an seinem schlecht in die Augen fallenden Betragen schuld war.«63 Der Roman verweist also über den Kontrast mit den Defiziten seines pädagogischen Personals auf die Notwendigkeit einer Perspektivierung, die er auf Erzählerebene selbst als Korrektiv vorführt, um einen bestimmten, pädagogischen Adressatenkreis auf eine eben solche Beobachtung von kausalen Zusammenhängen zu verpflichten. Insofern er dabei in dieser konkreten Adressierung über das, was »zur Aufklärung des Wie sich die Sachen zugetragen? erforderlich ist«64 , hinausgeht, zeigt sich der ›psychologische Roman‹ als ein Roman für Pädagogen, in dem sich 62 Ebd., S. 286. 63 Ebd., S. 257. 64 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 284.

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innere Geschichte und Erziehungsgeschichte berühren, weil er den kausalen Zusammenhang von ›innerer und äußerer Lage‹ seines Protagonisten explizit in einer Weise zu zeigen beansprucht, »aus der [ein] Erzieher Regeln und gute Lehren für seine Praxis ableiten kann«65 . Anders als die Erziehungsgeschichten, die gleichermaßen zur Unterstützung der konkreten Erziehungspraxis professioneller Pädagogen verfasst werden, wie über ihre Veröffentlichung als Bausteine des sich konsolidierenden pädagogischen Wissens fungieren sollen,66 ist der ihnen formverwandte Roman, wie ihn Blanckenburgs Versuch entwirft, selbst erzieherisch wirksam, und zwar genau aufgrund des ihn als Roman auszeichnenden, jede biographische Perspektive überschreitenden Vermögens, die raumzeitliche Entfaltung eines kausal organisierten Kontinuums darstellen zu können, biographisches Leben also im Prozess seiner Formung zu zeigen.67 Die ihm in dieser Hinsicht zugeschriebenen Wirkungen sind allerdings Importe. Sie entstammen in wesentlichen Punkten den dramen- und theatertheoretischen Überlegungen der Zeit:68 Auch der Roman macht mit Tugend und Laster bekannt und zeigt, »was werth sey, geschätzt und geachtet, so wie gehaßt und verabscheut zu werden«69 . Auch er setzt dazu auf die im Zentrum seiner Darstellung stehende Person, vermittelt also ebenfalls mit einer moralischen Bewertungs- eine anthropologische Lektürekompetenz: »[W]ir sehen, wenn die Formung der Person uns gefällt, unter welchen Umständen, und wie sie das geworden ist, was sie ist? und können, zu unserm Seyn Vortheil davon ziehen; und gefällt uns ihre Ausbildung nicht: so werden wir sie auf eine andre Art nutzen können, indem wir alle Gelegenheiten kennen lernen, wodurch wir am Ende dieser Person ähnlich werden müssen.«70 Dieses Training von Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata läuft jedoch im Falle des Romans nicht über die Vergegenwärtigung dieser Person in einzelnen Szenen, sondern über die kontinuierliche, konstitutive und konstituierende Formung des dargestellten individuellen Lebens, genauer, über die transparente Kausalität, die dieser Darstellung biographischer Prozessualität zugrunde liegt. 65 Kaul: Erziehungsgeschichten und Lebensgeschichten, S 25. Entgegen Kauls in dieser Hinsicht formulierter Skepsis lässt sich Anton Reiser gerade aufgrund der sehr konkreten, ihre Absicht klar formulierenden Adressierung von Pädagogen auch als Erziehungsgeschichte lesen. 66 Vgl. [Wezel]: Ueber die Erziehungsgeschichten, S. 22f. 67 Vgl. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 291f.; vgl. zum Kontext des Verhältnisses von Kausalität und Moralität Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973, S. 190-196. Insofern ist auch Anton Reiser in seinem Bezug auf Blanckenburg nicht nur ein Roman für Pädagogen, sondern auch ein pädagogischer Roman. 68 Vgl. II.3. 69 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 435. 70 Ebd., S. 335.

IV Der pädagogische Roman als das bessere Theater

Es zielt aber, auch im Falle des Romans, auf eine entsprechende Verhaltensmodifikation und -optimierung: »Wenn wir es einsehen gelernt haben, auf welche Art, und durch welche Mittel eine Begebenheit so erfolgt ist, wie sie erfolgte; – wenn wir das, was gewisse Ursachen unter gewissen Umständen wirken und hervorbringen können, richtig zu beurtheilen, und jede Wirkung gegen ihre Ursache abzuwiegen wissen: so werden wir uns, wenn gewisse Ursachen in uns zutreffen, uns gegen sie in Schutz zu setzen vermögen. Wir werden das Uebel vermeiden können, das daraus hätte erfolgen müssen. Und diejenigen Ursachen, welche gute Wirkungen unter gewissen Umständen hervorbringen, werden wir aufsuchen; wir werden, wenn sie in uns zutreffen, Vortheil von ihnen ziehen, und jeden unsrer Zustände in der Welt zu unserm Nutzen anwenden können. Wer sieht nicht, daß diese Kunst, Wirkungen und Ursachen gegen einander abmessen zu lernen, durch die bloße Erzehlung einer Begebenheit gar nicht; wohl aber durch die andre Art von Behandlung, und durch sie allein, gelehrt zu werden, möglich ist?«71 Blanckenburg bezieht sich jedoch nicht nur hinsichtlich des Argumentationsmusters und der Wirkweisen auf die Theaterreform. Es ist vor allem das Drama als dort zur Aufführung gebrachte Erziehungsgrundlage, das noch vor dem Epos als wichtigster Referenzpunkt herangezogen wird.72 Damit werden zwei Absichten verfolgt. Neben der wirkungsästhetischen Folie, die Blanckenburg in seine Romantheorie integriert, fungiert das Drama, ähnlich wie das Epos, zugleich als Kontrastmittel, um die Eigenheiten und vor allem die Vorzüge des Romans und seiner Darstellungsweise desto deutlicher akzentuieren zu können. Wird diese Abgrenzung im Falle des Epos geschichtsphilosophisch begründet,73 argumentiert Blanckenburg hinsichtlich des Dramas gattungstheoretisch.74 Anders als beim Epos soll die Differenz hier jedoch nicht zu stark gezogen werden, liefern Theater und Drama doch die wirkungsästhetischen und formalen Mittel, die der Roman bei gleicher Gegenstandsfokussierung mit seiner gattungseigenen Darstellungsleistung amalgamiert und sich so als das bessere Erziehungsmedium ausweist. Insofern handelt es sich um einen Bezug zum Zwecke der Überbietung. 71 Ebd., S. 293. 72 Vgl. zu diesem umfangreichen, wirkungsästhetische wie formale Qualitäten betreffenden Einfluss des Dramas auf den Roman Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 169-176. 73 Vgl. zu dieser Abgrenzung, in deren Zentrum die Differenz zwischen den »öffentliche[n] Thaten« des antiken Bürgers im Epos gegenüber den »Privatbegebenheiten« des neuzeitlichen Menschen steht Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 7-24, Zitate von S. 17 und 21. Vgl. zur geschichtsphilosophischen Grundlage der Abgrenzung Frick: Providenz und Kontingenz, S. 347-352; zum Fokus auf die Privatbegebenheiten Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 178-186. 74 Vgl. Selbmann: Theater im Roman, S. 29f.

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Dies zeigt sich insbesondere anhand des im Zentrum des Romans stehenden Charakters. Wie dessen Individualisierung zu bewerkstelligen ist, worin sie sich äußert und in welcher Weise dabei sozialisatorische Einflüsse eine Rolle spielen, erläutert Blanckenburg zunächst ausführlich mit Bezug auf Lessing, der neben Shakespeare seine wesentliche Referenz ist, genauer, anhand des Personals aus Emilia Galotti.75 Diese Individualisierung, die der Roman als Formung darstellt, steht in engem Zusammenhang mit einer den Versuch über den Roman durchziehenden Rhetorik der Evidenz, die ebenfalls – und grundsätzlicher – aufs Drama zurückweist. Sie kommt in der Form des Textes, vor allem aber in den Anforderungen zum Ausdruck, die Blanckenburg unter Entfaltung einer Bandbreite evidentialer Terminologie an den Roman stellt:76 Er »soll uns den Menschen zeigen, wie er ihn, nach der eigenthümlichen Einrichtung seines Werks, zu zeigen vermag«, und das, »indem wir eine anschauende Verbindung von Wirkung und Ursache sehen«, die sich wiederum im »Wirklichwerden«77 der geschilderten Begebenheiten manifestiert. Der ›inneren Geschichte‹, von deren Entwicklung die edukativen Effekte des Romans ausgehen, entspricht also eine Darstellung im Zeichen der Evidenz. Anschaulichkeit ist auch im Falle des Romans Voraussetzung der Erziehung. Allerdings muss er in dieser Hinsicht gegenüber dem Drama das Nachsehen haben, gilt doch bereits dessen Form unwidersprochen und noch vor jeglicher Aufführung als Garant für eine höchstmögliche textgenerierte Vergegenwärtigung.78 Es geht Blanckenburg dementsprechend auch nicht darum, diesen Evidenzrückstand auszugleichen – »[f]reylich werden wir die Sache immer nicht so lebhaft vor uns sehen können, als im Drama«79 –, sondern über das Drama als Orientierungspunkt die der Romandarstellung eigene Evidentialität zu amplifizieren. Was Blanckenburg also fordert, um Anschaulichkeit und Vergegenwärtigung gleichermaßen als Voraussetzung wie als Qualitätsmaßstab der vom Roman zu entfaltenden ›inneren Geschichte‹ zu gewährleisten, ist eine nicht bloß wirkungsästhetische, sondern auch eine formale Annäherung an die effekt- und anschauungsstärkste Gattung – mit anderen Worten eine Dramatisierung des Romans: Damit »wir die vorzustellenden Gegenstände so lebhaft, so anschauend sehen, als möglich«, gilt es, »den Roman so dramatisch zu machen, als möglich.«80 Dies geschieht vornehmlich, indem der Dichter, von dem hier noch kein Erzähler unterschieden wird, zurücktritt, wo es 75 Vgl. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 210-232. Vgl. zu diesem Einfluss Volkening: Ausbildung des Charakters, S. 294f. 76 Vgl. zu Auftreten und Funktion der evidentia in Blanckenburgs Versuch Campe: Form und Leben in der Theorie des Romans, S. 200-206. 77 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. XV (Vorrede) und S. 312. Ähnliche oder identische Formulierungen finden sich unter anderem auf S. 264f., 272, 287, 321, 335, 390. 78 Vgl. III.5.1. 79 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 498. 80 Ebd., S. 515.

IV Der pädagogische Roman als das bessere Theater

seine Einrichtung der Begebenheiten erforderlich macht,81 und, anstelle mittelbar über seine Personen zu sprechen, sie selbst unmittelbar zu Wort kommen lässt, also den Bericht in Dialog verwandelt: »Wenn der Dialog natürlich herbeygeführt würde; wenn die Personen sich so zusammen finden müßten, daß es nun nicht anders seyn könnte, wenn ihre ganze Situation diese, dem vollen Herzen so natürliche Ergießung erfoderte; so sehe ich nicht ab, was den Romandichter abhalten sollte, zwey Liebende z.B. in Unterredung aufzuführen? Der Leser würde dadurch gleichsam in den Zuschauer verwandelt; und der Dialog, als ein nothwendiges Stück mit dem Ganzen verbunden seyn.«82 Die rezeptiven Konsequenzen, die ein solcher temporärer Wechsel des Darstellungsmodus zur Folge hat, zeigen jedoch, dass es tatsächlich nicht eigentlich darum geht, den Roman zu dramatisieren, sondern ihn vielmehr zu theatralisieren, also der an Evidenzkraft nicht zu überbietenden Institution anzuverwandeln, in der vollends verlebendigt wird, was das Drama bereits textuell weitestmöglich vergegenwärtigt, und in der dementsprechend auch die edukativen Effekte amplifiziert werden. Idealiter also stellen die Romandichter, »welche wissen, daß das der beste Zugang zum Herzen ist, […] jedes Ding so vor, als ob es vor unsern Augen vorgienge, und verwandeln uns gleichsam aus Lesern und Zuhörern in Zuschauer.«83 81 Anders ist dies im Falle des Dialogromans, wo zugunsten der unmittelbaren, dialogischen Figureninteraktion auf narrative Vermittlungsinstanzen verzichtet wird, wo also der Roman in Gänze auf eine dramatische Unmittelbarkeit und Präsenz setzt, jedoch auf Kosten einer ihm aufgrund seiner Erzählinstanz mit ihrem Überblickswissen möglichen Entfaltung eines kausal organisierten, biographischen Kontinuums. An die Stelle dieser idealiter lückenlosen Kausalität tritt im Dialogroman eine Abfolge einzelner Szenen. Vgl. zum zeitgenössischen Interesse an solchen dialogischen Formen und speziell zu Blanckenburgs Dramatisierung Tarot: Drama – Roman – Dramatischer Roman, S. 247-253 sowie S. 259-263; zu wirkungsästhetischen Absichten der Dialogisierung Heinz: Wissen vom Menschen, S. 145-161; zum Dialogroman vor dem Hintergrund des in ihm verhandelten Spannungsverhältnisses von inszenierter Mündlichkeit in einer sich ausbreitenden Schriftkultur Kalmbach: Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit; zum Dialogroman im Kontext wissenspoetologischer Gattungsdiskussionen Sarah Seidel: Der Dialog(roman) als anthropologische und poetologische Erzählform der Spätaufklärung – Johann Jakob Engel und August Gottlieb Meißner, in: Gunhild Berg (Hrsg): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen, Frankfurt a.M. 2014, S. 207-225. 82 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 516. Bei aller Bedeutsamkeit, die Blanckenburg der Dramatisierung des Romans zuspricht, führen seine Ausführungen diesbezüglich nicht wirklich über Dialogisierungen hinaus – er beansprucht dementsprechend auch, »lange nicht alles gesagt zu haben, was dazu beytragen kann, den Roman dramatischer zu machen« (ebd., S. 516). 83 Ebd., S. 499.

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Blanckenburgs Argumentation zielt jedoch darauf, diese poetologischen, wirkungsästhetischen und formalen Importe aus Drama und Theater mit der dem Roman eigenen Darstellungsweise zu verknüpfen und sie zu Bestandteilen der ihm eignenden, prozessualen Entfaltung einer ›inneren Geschichte‹ zu machen.84 Was also tatsächlich den Roman unter den übrigen Gattungen auszeichnet und legitimiert, wie es nachzuweisen Blanckenburgs erklärte Absicht ist, zeigt sich erst über den Gattungsparagone85 des Versuchs: »[B]ei ganz ähnlichen Inhalten und Endzwecken, und bey gleich vollkommener Behandlung des Gegenstandes, würde der Romandichter sehr augenscheinlich verlieren. Die Illusion, die das Drama durch die vermeinte Gegenwart der Personen und seine ganze Einrichtung bewirkt, ist, verglichen mit der Illusion im Roman, so mächtig, so anziehend, daß man bey dieser sehr leicht einschlafen kann, wenn man nicht, durch die Eigenthümlichkeiten, und die übrigen Vorzüge des Romans, noch erhalten wird […].«86 Diese ›Eigenthümlichkeiten‹ sind jedoch weder sein anthropologischer Fokus, noch seine Evidenzeffekte und nicht mal seine edukative Absicht, die alle zeitgenössisch zuvorderst Drama und Theater als charakteristisch eingeschrieben sind. Sie sind auch streng genommen nicht einmal im Plural zu formulieren. Was den Roman als Gattung auszeichnet, was seine Gattungsnatur erfüllt,87 ist in Blanckenburgs Theorie allein die Darstellung einer individualisierten und individualisierenden ›inneren Geschichte‹, also eine dergestalt allein vom Roman darzustellende, weil ihn umgekehrt überhaupt nur als Form konstituierende ›Formung des Charakters‹. 84 »Ich habe größtentheils schon längst bekannte, und angenommene Grundsätze und Bemerkungen auf die Romane angewandt.« (Ebd., Vorbericht, S. XVIII.) 85 Ausdrücklich will Blanckenburg den »Wetteifer« der Romandichter gegenüber ihren mit der evidenzstärkeren, dramatischen Form arbeitenden Kollegen »an[feuern]« (ebd., S. 99). 86 Ebd., S. 392. 87 Auch hier zeigt sich der Einfluss Lessings, hatte er doch in der Hamburgischen Dramaturgie im Sinne bestimmter, gattungsspezifischer Charakteristika und Wirkungen argumentiert, die ein Werk als Repräsentant der Gattung nicht verfehlen soll und die Vertreter anderer Gattungen niemals im gleichen Maße erfüllen bzw. hervorrufen können: »Ein Dichter kann viel getan, und doch noch nichts damit vertan haben. Nicht genug, dass sein Werk Wirkungen auf uns hat: es muss auch die haben, die ihm, vermöge der Gattung, zukommen; es muss diese vornehmlich haben, und alle anderen können den Mangel derselben auf keine Weise ersetzen; besonders wenn die Gattung von der Wichtigkeit und Schwierigkeit, und Kostbarkeit ist, dass alle Mühe und aller Aufwand vergebens wäre, wenn sie weiter nichts als solche Wirkungen hervorbringen wollte, die durch eine leichtere und weniger Anstalten erfordernde Gattung eben sowohl zu erhalten wären.« (HD, 79. Stück, S. 580) Im Falle des Dramas handelt es sich dabei um die Erregung von Furcht und Mitleid samt entsprechender sozialregulativer Erziehungseffekte (vgl. HD, 80. Stück). Im Falle des Romans, so kann mit Blanckenburg an Lessings Gedanken angeschlossen werden, um die Darstellung eines kausal organisierten, biographischen Kontinuums, die ebenfalls edukative Effekte zeitigt.

IV Der pädagogische Roman als das bessere Theater

Diese Eigentümlichkeit, die mit den genannten dramatisch‐theatralen ›Vorzügen‹ angereichert wird, bedingt jedoch, gerade im Zusammenspiel mit diesen legitimierenden und funktionalisierenden Anreicherungen, eine Überlegenheit des Romans, auf die Blanckenburgs Argumentation hinausläuft. Denn der Roman vermag es, dem geteilten Anspruch, »lebende, handelnde Personen«88 zu zeigen, besser nachzukommen, als Drama und Theater. Vor dem Hintergrund eines gemeinsamen anthropologischen Interesses an der Erkundung und Diskursivierung individueller Innenwelten,89 um zu erzieherischen Zwecken den Menschen mit dem Menschen bekannt zu machen, sind die Darstellungsmöglichkeiten des Romans überlegen: »Das Schauspiel«, so Blanckenburg, »kann uns, nach der Natur seiner Gattung, nichts, als schon fertige und gebildete Charaktere zeigen«90 . Seine Form, die, so lässt sich mit Blanckenburg und im Anschluss an Campe sagen, nicht über die Lebensformung dieser Charaktere gewonnen wird, sondern über ein Ereignis oder eine Begebenheit, die sprachlich zwischen91 ihnen ausgehandelt wird, gewährt nicht genug Raum und Zeit, um ihr Personal in Veränderung und Entwicklung zu zeigen:92 Dem Romandichter hingegen ist genau diese »Veränderung des innern Zustandes seiner Personen eigenthümlich. Die innre Geschichte des Menschen, die er behandelt, besteht aus einer Folge abwechselnder und verschiedener Zustände. Freylich aber muß diese Veränderung nicht, wie schon gedacht, ohne hinlängliche, auf die Person wirkende Ursachen, und in einer Zeit wirklich werden, deren Unwahrscheinlichkeit wegen man sie dem dramatischen Dichter verbietet.«93 In seiner formkonstitutiven Abfolge evidenzstarker Szenen können das Drama und ein auf ihm fußendes Theater eine solche dem Roman eignende, weil ihn konstituierende, kausal organisierte biographische Dynamik und Entwicklung nicht gleichermaßen umfassend darstellen.94 Die ›innere Geschichte‹ ist aber zum einen als ›Geschichte‹ genau daran gebunden, an die Darstellung eines Lebensverlaufs, und als ›innere‹ zum anderen an eine dazu koextensive Vergegenwärtigung der im Fokus des anthropologischen Interesses stehenden Innerlichkeit desjenigen, um 88 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 340. 89 Vgl. Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen. 90 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 390. 91 Im Sinne von Szondi: »Der Mensch ging ins Drama gleichsam nur als Mitmensch ein. Die Sphäre des ›Zwischen‹ schien ihm die wesentliche seines Daseins; Freiheit und Bindung, Wille und Entscheidung die wichtigsten seiner Bestimmungen.« (Theorie des modernen Dramas, S. 14) 92 »Daher ist denn auch im Drama die Umschmelzung eines Charakters, das, was man durch Sinnesänderung ausdrückt, ein so gröblicher Verstoß wider Wahrheit und Natur, weil der dramatische Dichter nicht Zeit und Raum hat, diese Umformung zu bewirken.« (Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 391) 93 Ebd. 94 Vgl. Kalmbach: Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. S. 130.

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dessen Lebensverlauf es geht, auch dort wo diese sich nicht, wie es für das Theater notwendig ist, körper‐sprachlich niederschlägt.95 Was den Roman also als Gattung auszeichnet, ist eine spezifische Überbietung des Dramas. Ihm eignet eine umfassendere Darstellungsweise des gleichen Gegenstandes. Weil er, das steht im Zentrum der Blanckenburgschen Argumentation, dem geteilten anthropologischen Anspruch entsprechend umfassender nachkommen kann und weil von dieser Menschendarstellung die erzieherischen Wirkungen ausgehen, die ebenso wie die dazu herangezogenen Mittel dem literaturbasierten, regelmäßigen Theater der Reform entstammen, zeigt sich der Versuch über den Roman als der Versuch, den Roman als das bessere Theater zu präsentieren. Blanckenburgs erzieherisch‐theatral geprägte Romantheorie, die ihre Ansprüche selbst mit Wielands Agathon nur in einem einzigen Vertreter der Gattung erfüllt sieht,96 findet, darauf sei abschließend hingewiesen, einen gewichtigen Niederschlag nicht zuletzt in zwei Texten, die für die vom Versuch ihren Ausgang nehmende, dominante Spielart des Romans eine große Prägekraft entfaltet haben: im bereits erwähnten Anton Reiser und in Wilhelm Meisters Lehrjahre. Beide Roman verhandeln dabei nicht nur – wenn auch in unterschiedlicher Manier – eine ›innere Geschichte‹ respektive Fragen der Lebensformung, in beiden ist dies aufs engste mit dem Theater und pädagogischen Institutionen verknüpft, die sich als wesentliche Strukturelemente des erzählten Lebens der Form des Romans selbst einschreiben.97 Im Falle von Anton Reiser etwa steht der mit dem vierten Teil ansetzende 95 Aus einer wissenspoetologischen Perspektive ist in der Forschung in den letzten Jahren wiederholt der Einfluss von Gattungen auf die Organisation, aber auch Konstituierung des darin verhandelten Wissens untersucht worden, vgl. grundlegend zu dieser Perspektive Joseph Vogl: Einleitung, in: ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7-16; im Bezug auf Gattungs- und Formfragen Michael Bies/Michael Gamper/Ingrid Kleeberg: Einleitung, in: dies. (Hg.): Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form, Göttingen 2013, S. 7-18 sowie Gunhild Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen. Zur Einleitung und zur Konzeption des Bandes, in: dies. (Hg.): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen, Frankfurt a.M. 2014, S. 1-19. Hinsichtlich Blanckenburgs Gattungsdiskussion muss hier bei aller Anschlussfähigkeit jedoch insofern differenziert werden, als dass er zwar den entscheidenden Unterschied zwischen Roman und Drama in den erweiterten Darstellungsmöglichkeiten des ersteren sieht, beide Gattungen jedoch an der Konsolidierung und Diskussion des gleichen anthropologischen Wissens beteiligt sind, das sie im Zeichen von kausaler Ordnung auch identisch zu organisieren suchen. Auf der theoretischen Ebene des Versuchs sind Roman und Drama also ähnlich eingerichtete Wissenstexturen (Berg) mit einem vergleichbaren Gattungs-Wissen (Bies, Gamper, Kleeberg), was wenig überraschen kann, bedenkt man, wie sehr Blanckenburg seine Romantheorie vor der Folie des Dramas entwickelt. 96 »Solcher Romane aber haben wir vielleicht nicht mehr, als zwey oder drey; – vielleicht gar nur einen.« (Blanckenburg: Versuch über den Roman, Vorbericht, S. VII) 97 Diese biographische Formungs- und damit literarische Formgebungsfunktion untersucht Rüdiger Campe in seinen Arbeiten zum Institutionenroman: »Die Institution ist dann Bedingung dafür, dass ein Leben (seine Orte und Stationen, seine Zeitfolge) Form hat und zwar die Form

IV Der pädagogische Roman als das bessere Theater

»eigentliche Roman seines Lebens«98 ganz im Zeichen seines vergeblichen Weges ans Theater, für das sich Antons »unwiderstehliche Leidenschaft«99 jedoch bereits in seinen »Jünglings-Jahre[n]«100 , das heißt zu Schulzeiten, oder genauer, wegen seiner weitgehend prekären, ausführlich geschilderten Schulzeit, ausbildet. Auch Wilhelm Meister zieht es, bei gleichsam glücklicheren Ausgangsbedingungen, ans professionelle Theater, als demjenigen Ort, an dem er glaubt, »die Bildung, die er sich zu geben wünschte, vollenden [zu] könne[n]«101 . Seinen Weg ans und wieder aus dem Theater hinaus begleitet und lenkt im Hintergrund dabei bekanntlich die sich schließlich ihrerseits hochgradig theatral in Szene setzende Turmgesellschaft, die als Erziehungsinstitution erstens nicht nur an der Formung von Wilhelms Lebenslauf mitwirkt, sondern zweitens dieses im Zeichen des Theaters stehende Leben selbst in eine narrative Form überführt, die Wilhelm als »seine eigenen Lehrjahre«102 präsentiert werden, und die drittens diese Lehrjahre wiederum in dem Moment für beendet erklärt, in dem Wilhelms Vaterschaft enthüllt wird, er also seinerseits eine Erzieherfunktion übernimmt. Dieser doppelten Prägung des Romans und seiner Theorie ausführlicher nachzugehen, muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Sie müssten vertiefend den Einfluss, die Konsequenzen und die Verhandlung eines pädagogisierten Theaters und einer theatralisierten Pädagogik aufzeigen, die wesentliche Strukturelemente, Referenzen und Reflektionsgegenstände des Romans in seiner theoretischen Grundlegung und deren verschiedenen Umsetzungen bilden. Beide Referenzgrößen hingegen in ihrer prozessualen Ausdifferenzierung zu verfolgen und dabei die Pädagogisierung des Theaters sowie die Theatralisierung der Pädagogik als wechselseitige Stimulierungen, Konturierungen und Regulierungen zweier für das 18. Jahrhundert zentraler Diskurse umfassend zu analysieren, ist das Anliegen der vorliegenden Studie gewesen.

des Romans – und das wieder im Roman und im Leben. Dass es ein Leben und die biographische Funktion gibt, ist dieser Annahme nach erst durch die Institution und ihren Roman zu verstehen.« (Rüdiger Campe: Das Bild und die Folter. Robert Musils Törleß und die Form des Romans, in: Ulrike Bergermann, Elisabeth Strowick (Hg.): Weiterlesen. Literatur und Wissen. Festschrift für Marianne Schuller, Bielefeld 2007, S. 121-147, hier: S. 122f.) 98 Moritz: Anton Reiser, S. 286. 99 Ebd., S. 414. 100 Ebd., S. 286. 101 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 656. 102 Ebd., S. 875.

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V   Literatur

1   Quellen [Addison, Joseph]: Das 235. Stück [1711], in: Der Zuschauer – aus dem Engländischen übersetzt. Drittel Theil. Zweyte verbesserte Auflage, Leipzig 1751, S. 330-333, zitiert nach: Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hrsg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 115-118, [Anonym]: Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen: Ob sie eine Schule guter Sitten sind, oder seyn können? übersetzt. Nebst einer Abhandlung von der Schaubühne, heraus gegeben von Joh. Friedrich Mayen, A.M. Leipzig 1734. goß 8. 8 Bogen [Rezension], in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band III: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1734-1735, 9. Stück, S. 3-27. [Anonym]: Franz Hedelin, Abtes von Aubignac, gründlicher Unterricht von Ausübung der theatralischen Dichtkunst, aus dem Französischen übersetzt durch Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr. Hamburg, bey Conrad König, 1737. in 8 [Rezension], in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band V: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1737-1738, 27. Stück, S. 141-146. [Anonym]: Ueber die Pflichten der Zuschauer, in: Die Logen, hg. von Jost Anton von Hagen, Berlin, Leipzig 1772, S. 89-104, zitiert nach: Hermann Korte, HansJoachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«.

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Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 143-153. [Anonym]: Von Kindertheatern, in: Wochenblat für rechtschaffene Eltern. Vierzigstes Stück (1773), S. 605-613. [Anonym]: Von der gegenwärtigen Beschaffenheit und Einrichtung unsers Instituts, von den gegenwärtigen Lehrern und dem Plane, nach welchem die Lectionen und Stunden für dieses halbe Jahr bis Johannis vertheilt sind, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 7. Stück, S. 595-624. [Anonym]: Pädagogische Gespräche über mancherley unerkannte Erziehungssünden, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 10. Stück, S. 896-946. [Anonym]: Ueber die aus dem Französischen übersetzten Spiele der kleinen Thalia, des Herrn Moisy, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1778/79, 9. Stück, S. 825-853. [Anonym]: Ein Blick auf unser Theater und Parterre, in: Taschenbuch von der Prager Schaubühne auf das Jahr 1778, Prag 1778, S. 68-75, zitiert nach: Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 149-153. [Anonym]: Von dem Verhältnisse des Erziehers zu seinen Zöglingen und deren Eltern, in: Pädagogische Unterhandlungen, 3. Jahrgang 1779/80, 1. Quartal, S. 91-124. [Anonym]: Brief eines Ungenanten an das Institut; nebst einigen Bemerkungen für die praktische Erziehung, in: Pädagogische Unterhandlungen, 3. Jahrgang 1779/80, 3. Quartal, S. 325-353. [Anonym]: Zweiter Brief eines Ungenanten an das Institut, in: Pädagogische Unterhandlungen, 3. Jahrgang 1779/80, 4. Quartal, S. 450-467. [Anonym]: Geschichte der deutschen Bühne, in: Theater-Kalender auf das Jahr 1780, S. 83-104. [Anonym]: [Über den Schauspieler und sein Publikum], in: Theatralischer Zeitvertreib. Eine Wochenschrift. Erster Theil, Regensburg 1779 und 80, S. 81-85, zitiert nach: Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theaterund Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 119-122. [Anonym]: Dritter Brief eines Ungenanten an das Institut, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 1. Quartal, S. 3-38. [Anonym]: Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 1. Quartal, S. 67-103.

V Literatur

[Anonym]: Beschlus der Antwort des Instituts auf die Anfrage des Ungenanten, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 2. Quartal, S. 199-208. [Anonym]: Ueber die erste Bildung zur Moralität, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 2. Quartal, S. 255-276. [Anonym]: Kann den Schauspielern oder besser dem Direkteur einer Schauspielergesellschaft etwas zur Last gelegt werden, wenn ein Stück, das einem Theil der Zuschauer nicht gefällt, mehr als einmal aufgeführt wird?, in: TheaterKalender, auf das Jahr 1783, Gotha 1783, S. 102-111, zitiert nach: Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 154-159. [Anonym]: Ueber Behutsamkeit und Gelindigkeit in Beurteilung und Behandlung eines Zöglings. Schreiben eines Erziehers, in: Pädagogische Unterhandlungen, 5. Jahrgang 1782-84, 4. Quartal, S. 466-484. [Anonym]: Einige Scenen aus meiner Kindheit, in: Pädagogische Unterhandlungen, 5. Jahrgang 1782-84, 4. Quartal, S. 492-503. [Anonym]: Zufällige Gedanken über die ersten Eindrükke und frühern Empfindungen bei Kindern, in: Pädagogische Unterhandlungen, 5. Jahrgang 1782-84, 4. Quartal, S. 503-516. [Anonym]: Theatervorfall, in: Zeitung für Theater und andre schöne Künste. 1. Heft, Stuttgart 1793, S. 44-46, zitiert nach: Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 102-103. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Olof Gigon, München 8 2010. — Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994. — Rhetorik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stuttgart 2010. Basedow, Johann Bernhard: Das Basedowische Elementarwerk. Ein Vorrath der besten Erkenntnisse zum Lernen, Lehren, Wiederholen und Nachdenken. Erster Band. Zweite sehr verbesserte Auflage, Leipzig 1785. — Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker [Auszug aus der 2. Auflage 1771], in: ders.: Ausgewählte pädagogische Schriften. Besorgt von A. Reble, Paderborn 1965, S. 81-163. Blanckenburg, Friedrich von: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965. Campe, Joachim Heinrich: Der Geburtstag des Fürsten, ein Kinderschauspiel am Geburtsfeste des Landesvaters aufgeführt, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 4. Stück, S. 367-383.

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Das Maß und die Nützlichkeit

— Eine Bitte an die theatralischen Dichter, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 4. Stück, S. 349-357. — Fortsetzung des abgebrochenen Entwurfs der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 2. Stück, S. 114-131. — Gespräch zwischen dem Herrn Professor Pansophus, der freyen Künste Meister, und vieler gelehrten Gesellschaften Mitglied, und Valentin Gutmann, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 6. Stück, S. 529-565. — Plan der pädagogischen Unterhandlungen, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 1. Stück, S. 3-14. — Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder. Nach dem Erstdruck herausgegeben von Alwin Binder und Heinrich Richartz, Stuttgart 2005. — Soll man Kinder Komödien spielen lassen?, in: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts 1 (1788), S. 206-218. — Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 1. Stück, S. 14-59. — Von der nöthigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften. Besondere Warnung vor dem Modefehler die Empfindsamkeit zu überspannen, in: Allgemeine Revision des gesammten Schul= und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Dritter Theil. Herausgegeben von Joachim Heinrich Campe, Hamburg 1785, S. 291-434. Cicero, Marcus Tullius: De oratore/Über den Redner. Lateinisch‐deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007. — Orator. Der Redner. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Harald Merklin, Stuttgart, 2004. Ekhof, Conrad: Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft, in: Heinz Kindermann: Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie, Wien 1956, S. 8-41. Feder, Johann Georg Heinrich: Von den Mitteln, die Aufmerksamkeit der Jugend zu gewinnen, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 2. Stück, S. 163-184. Friedel, Johann: Beschluß des Philanthropins für Schauspieler, Fortsetzung, in: Theater-Journal für Deutschland, Achtzehntes Stück (1781), S. 16-28. — Philanthropin für Schauspieler, in: Theater-Journal für Deutschland, Siebzehntes Stück (1781), S. 15-27. Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Dieter Borchmeyer et al. I. Abteilung: Sämtliche Werke, Band 14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Herausgegeben von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a.M. 1986.

V Literatur

— Erwin und Elmire. Ein Schauspiel mit Gesang, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Dieter Borchmeyer et al. I. Abteilung: Sämtliche Werke Band 4: Dramen 1765-1775. Unter Mitarbeit von Peter Huber herausgegeben von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M. 1985, S. 503-529. — Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel et al. I. Abteilung: Sämtliche Werke, Band 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Herausgegeben von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp, Frankfurt a.M. 1992, S. 355-992. Gottsched, Johann Christoph: Anmerkungen über das 592. Stück des Zuschauers, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VIII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742-1744, 29. Stück, S. 143-172. — Der Biedermann. Faksimiledruck der Originalausgabe Leipzig 1727-1729 mit einem Nachwort und Erläuterungen herausgegeben von Wolfgang Martens, Stuttgart 1975. — Der sterbende Cato. Des Herrn Verfassers Vorrede, zur ersten Ausgabe 1732, in: ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von Joachim Birke. Zweiter Band: Sämtliche Dramen, Berlin 1970, S. 3-18. — Des berühmten Johann le Clerk Gedanken über die Poeten und Poesie an sich selbst. Mit Anmerkungen erläutert, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VI: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1739-1740, 24. Stück, S. 531-600. — Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen, in: ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von P. M. Mitchell. Neunter Band, Zweiter Teil: Gesammelte Reden, bearbeitet von Rosemary Scholl, Berlin, New York 1976, 492-500. — Die vernünftigen Tadlerinnen 1725-1726. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort, einer Themenübersicht und einem Inhaltsverzeichnis versehen von Helga Brandes, Hildesheim/Zürich/New York 1993. — Lob- und Gedächtnißrede auf den Vater der deutschen Dichtkunst, Martin Opitzen von Boberfeld, Nachdem selbiger vor hundert Jahren in Danzig Todes verblichen, zur Erneuerung seines Andeknes im 1739sten Jahre den 20 August auf

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Das Maß und die Nützlichkeit

der philosophischen Catheder zu Leipzig gehalten, in: ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von P. M. Mitchell. Neunter Band, Erster Teil: Gesammelte Reden, bearbeiten von Rosemary Scholl, Berlin/New York 1976, S. 156-192. — M. Johann Dünnehaupts, Illustr. Quedl. Conrect. Gedrückter und erquickter Jacob, in einem öffentlichen Schauspiel, am 11ten und 12ten Octobr. 1703. Vorgestellet, durch einige im gedachten Gymnasio Studirende. Quedlinburg, in 8. 184. Seiten [Rezension], in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band I: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1732-1733, 1. Stück, S. 137-150. — Schriften zur Literatur. Herausgegeben von Horst Steinmetz, Stuttgart 2009. — Versuch einer Critischen Dichtkunst: Erster allgemeiner Theil, in: ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von Joachim Birke und Brigitte Birke. Sechster Band, Erster Teil, Berlin/New York 1973. — Versuch einer Critischen Dichtkunst: Anderer besonderer Theil, in: ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von Joachim Birke und Brigitte Birke. Sechster Band, Zweiter Teil, Berlin/New York 1973. — Zufällige Gedanken über Herrn Adam Daniel Richters, Rect. zu Annaberg Regeln und Anmerkungen über die lustige Schaubühne, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1741, 28. Stück, S. 572-604 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, hier: Band 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Frankfurt a.M. 1986. Heinitz, Gottfried: Auszug, aus Herrn M. Gottfried Heinitzens, Rectors. zu Camenz Einladungsschrift, zu zweyen Schauspielen, die 1740 aufgeführet worden, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VIII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742-1744, 30. Stück, S. 354-365. Horaz: Ars poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Eckart Schäfer, Stuttgart 2002.

V Literatur

Jasperson, Johann: Etwas über die deutschen Lesestunden im Institut, in: Pädagogische Unterhandlungen, 5. Jahrgang 1782-84, 4. Quartal, S. 547-605. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, hier: Band VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1966, S. 393-690. — Die Metaphysik der Sitten, in: ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Band IV: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Darmstadt 1963, 303-634. — Über Pädagogik, in: ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, hier: Band VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1966, S. 691-761. Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Warhen und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein. Nach der bei Johann Wendler in Leipzig 1764 erschienenen ersten Auflage unter Mitarbeit von Peter Heyl herausgegeben, bearbeitet und mit einem Anhang versehen von Günter Schenk. Zweiter Band, Berlin 1990. Lessing, Gotthold Ephraim und Christlob Mylius: Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Vorrede, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schrinding und Jörg Schönert herausgegeben von Herbert G. Göpfert, hier: Dritter Band. Frühe kritische Schriften, München 1972, S. 355-363. Lessing, Gotthold Ephraim, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schrinding und Jörg Schönert herausgegeben von Herbert G. Göpfert, hier: Vierter Band. Dramaturgische Schriften, München 1973, S. 153-227. Lessing, Gotthold Ephraim: Briefe, die neueste Litteratur betreffend, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 4: Werke 1758-1759. Herausgegeben von Gunter E. Grimm, Frankfurt a.M. 1997, S. 453-777. — Die Schauspielkunst an die Madame*** durch den Herrn Franciscus Riccoboni, den jüngern. Aus dem Französischen übersetzt, in: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, 4. Stück 1750, S. 481-544. — Le Theatre de Monsieur de Marivaux de l’Academie Françoise; nouvelle Edition. en IV Tomes, à Amsterdam et Leipzig; chez Arkstée et Merkus 1754. In 12mo. Jeder Theil von 18 Bogen [Rezension, Berlinische Privilegierte Zeitung, 62. Stück, 23.Mai 1754], in: ders.: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schrinding und Jörg Schönert herausgegeben von Herbert G. Göpfert, hier: Dritter Band: Frühe kritische Schriften, München 1972, S. 204-206.

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Das Maß und die Nützlichkeit

— Hamburgische Dramaturgie, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 6: Werke 1767-1769. Herausgegeben von Klaus Bohnen, Frankfurt a.M. 1985, S. 181-713. — Vorrede zur theatralischen Bibliothek, in: ders.: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirnding und Jörg Schönert herausgegeben von Herbert G. Göpfert, München 1973, hier: Vierter Band: Dramaturgische Schriften., S. 9-12. Lichtenberg Georg Friedrich: Briefwechsel, Bd. 1 (1765-1779), hg. v. Ulrich Jost und Albrecht Schöne, München 1983. Löwen, Johann Friedrich: Vorläufige Nachricht von der auf Ostern 1767 vorzunehmenden Veränderung des Hamburgischen Theaters, in: Johann Friedrich Löwens Geschichte des deutschen Theaters (1766) und Flugschriften über das Hamburger Nationaltheater (1766 und 1767), hg. v. Heinrich Stümcke, Berlin 1905, S. 85-90. [Ludwig, Christian Gottlieb]: Versuch eines Beweises, daß ein Singspiel oder eine Oper nicht gut seyn könne, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band II: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1733-1734, 8. Stück, S. 648-661. — Abhandlung von denen auf der Schaubühne sterbenden Personen; in sofern man sie nemlich vor den Augen der Zuschauer solle sterben oder ihren Tod erzählen lassen, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band IV: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1735-1737, 15. Stück, S. 390-406. [Meier, Georg Friedrich]: Versuch einer philosophischen Abhandlung von dem Mittelmäßigen in der Dichtkunst, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1741, 26. Stück, S. 242-286. Mendelssohn, Moses: Über die Empfindungen, in: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Band 1: Schriften zur Philosophie und Ästhetik I. Bearbeitet von Fritz Bamberger. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1929 mit einem Bildnis und einem Faksimile, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, S. 41-123.

V Literatur

— Von der Herrschaft über die Neigungen, in: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Band 2: Schriften zur Philosophie und Ästhetik II. Bearbeitet von Fritz Bamberger und Leo Strauss. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1931, S. 147-155. Moritz, Karl Philipp: Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre, in: ders.: Werke, herausgegeben von Horst Günther. Dritter Band: Erfahrung, Sprache, Denken, Frankfurt a.M. 1981, S. 85-99. — Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, in: ders.: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier. Band 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, Frankfurt a.M., 1999, S. 85-518. Müller, Johann Heinrich Friedrich: J.H.F. Müller’s Abschied von der k. k. Hof- und National-Schaubühne: Mit einer kurzen Biographie seines Lebens und einer gedrängten Geschichte des hiesigen Hoftheaters, Wien 1802. Mylius, Christlob: Critische Untersuchung, ob, und in wie fern die Gleichnisse in den Trauerspielen statt finden?, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VIII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742-1744, 31. Stück, S. 394-420. — Eine Abhandlung, worinnen erwiesen wird: Daß die Wahrscheinlichkeit der Vorstellung, bey den Schauspielen eben so nöthig ist, als die innere Wahrscheinlichkeit derselben, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in acht Bänden, Hildesheim/New York 1970, hier: Band VIII: Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742-1744, 30. Stück, S. 297-322. — Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sei, in: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, 1. St. 1750, S. 1-13. Nicolai, Friedrich: Abhandlung vom Trauerspiele, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Herausgegeben von P.M. Mitchell, Hans-Gert Roloff und Erhard Weidl, hier: Band 3: Literaturkritische Schriften I. Bearbeitet von P.M. Mitchell, Berlin [u.a.], S. 169-194. Niethammer, Friedrich Immanuel: Philanthropinismus – Humanismus. Texte zur Schulreform. Bearbeitet von Werner Hillebrecht, Weinheim [u.a.] 1968. Quintilianus, Marcus Fabius: Institutionis Oratoriae. Libri XII/Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, herausgegeben und übersetzt von Helmut Rahn. 2 Bde., Darmstadt 1975. [Rahbek, Knud Lyne]: Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn, in: Theater-Journal für Deutschland, St. 13 (1780), S. 3-19.

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Das Maß und die Nützlichkeit

Reichard, Heinrich A. O.: Versuch über das Parterre, in: Theaterkalender auf das Jahr 1775, S. 47-63. Rousseau, Jean-Jacques: Emile oder Über die Erziehung. Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martin Rang. Unter Mitarbeit des Herausgebers aus dem Französischen übertragen von Eleonore Sckommodau, Stuttgart 2009. Salzmann, Christian Gotthilf: Einige Gedanken über die Notwendigkeit und den Vorzug öffentlicher Erzihungsanstalten, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 2. Quartal, S. 162-198. — Krebsbüchlein. Ameisenbüchlein, Leipzig 1984. — Moralisches Elementarbuch, nebst einer Anleitung zum nüzlichen Gebrauch desselben. Nachdruck der Auflage von 1785. Mit 67 Illustrationen von Daniel Chodowiecki. Herausgegeben von Hubert Göbels, Dortmund 1980. Schiller, Friedrich: Die Räuber. Ein Schauspiel. Vorrede, in: ders.: Werke und Briefe in 12 Bänden. Herausgegeben von Klaus Harro Hilzinger et al., hier: Band 2: Dramen I. Herausgegeben von Gerhard Kluge, Frankfurt a.M. 1988, S. 15-19. — Über das gegenwärtige teutsche Theater, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 8: Theoretische Schriften. Herausgegeben von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt a.M. 1992, S. 167-175. — Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 8: Theoretische Schriften. Herausgegeben von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt a.M. 1992, S. 556-676. — Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 8: Theoretische Schriften. Herausgegeben von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt a.M. 1992, S. 185-200. Schlegel, Johann Elias: Abhandlung von der Unähnlichkeit in der Nachahmung, in: ders.: Werke. Herausgegeben von Johann Heinrich Schlegel (1764-1773). Band III, Frankfurt a.M. 1971, S. 163-176. — Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters, in: ders.: Werke. Herausgegeben von Johann Heinrich Schlegel (1764-1773). Band III, Frankfurt a.M. 1971, S. 259-298. Schütze, Johann Friedrich: Hamburgische Theater-Geschichte, Hamburg, 1794. Stuve, Johann: Ueber die Nothwendigkeit Kinder frühzeitig zu anschauender und lebendiger Erkenntniß zu verhelfen und über die Art wie man das anzufangen haben, in: Allgemeine Revision des gesammten Schul= und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Zehnter Theil. Herausgegeben von Joachim Heinrich Campe, Wien und Braunschweig 1788, S. 163-444.

V Literatur

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. Reprografischer Nachdruck der 2. vermehrten Auflage Leipzig 1794, Band IV, Hildesheim 1967, S. 253-262. — Philosophische Betrachtungen über die Nutzlichkeit der dramatischen Dichtkunst, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften. 2 Teile in 1 Band. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1773-81. Hildesheim/New York 1974, S. 146-165. Trapp, Ernst Christian: Ueber das Hallische Erzihungsinstitut, in: Pädagogische Unterhandlungen, 5. Jahrgang 1782-84, 1. Quartal, S. 32-70. — Versuch einer Pädagogik. Unveränderter Nachdruck der 1. Ausgabe Berlin 1780. Mit Trapps hallischer Antrittsvorlesung Von der Nothwendigkeit, Erziehen und Unterrichten als eine eigne Kunst zu studiren, Halle 1779. Besorgt von Ulrich Herrmann, Paderborn 1977 — Vom Unterricht überhaupt. Zweck und Gegenstände desselben für verschiedene Stände. Ob und wie fern man ihn zu erleichtern und angenehm zu machen suchen dürfe? Allgemeine Methoden und Grundsätze, in: Allgemeine Revision des gesammten Schul= und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Achter Theil. Herausgegeben von Joachim Heinrich Campe, Wien und Wolfenbüttel 1787, S. 1-210. Villaume, Peter: Ob und inwiefern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei?, in: Allgemeine Revision des gesammten Schul= und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Dritter Theil. Herausgegeben von Joachim Heinrich Campe, Hamburg 1785, S. 435-616. — Ueber die Weichherzigkeit. Eine pädagogische Aufgabe, in: Pädagogische Unterhandlungen, 3. Jahrgang, 1779/80, 4. Quartal, S. 539-554. [Wezel, Johann Karl]: Ueber die Erziehungsgeschichten, in: Pädagogische Unterhandlungen, 2. Jahrgang 1778/79, 1. Quartal, S. 21-43. Wolff, Christian: Gesammelte Werke, I. Abteilung. Deutsche Schriften Band 1: Vernünfftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. Herausgegeben und bearbeitet von Hans Werner Arndt, Hildesheim/New York 1983. — Gesammelte Werke, I. Abteilung. Deutsche Schriften, Band 5: Vernünfftige Gedancken von dem geselschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Hans Werner Arndt, Hildesheim/New York 1975. — Gesammelte Werke, I. Abteilung. Deutsche Schriften, Band 4: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Hans Werner Arndt, Hildesheim/New York 1976.

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Das Maß und die Nützlichkeit

[Wolke, Christian Heinrich]: Von Vorbereitung zum bürgerlichen Leben durch die Erziehung, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780, 2. Quartal, S. 158-162. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Band 58, Wo-Woq, Leipzig und Halle 1748.

2   Darstellungen Agamben, Giorgio: Lebens-Form, in: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 251-257. Alt, Peter-André: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung, Tübingen/Basel 1994. — »Arbeit für mehr als ein Jahrhundert«. Schillers Verständnis von Ästhetik und Politik in der Periode der Französischen Revolution (1790-1800), in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 102-133. Althaus, Thomas: Kritische Dichtkunst – Optionen der Gottschedischen Dramentheorie, in: Eric Achermann (Hg.): Johann Christoph Gottsched (1700-1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft, Berlin 2014, S. 221-240. Amann, Wilhelm: »Die stille Arbeit des Geschmacks«. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung, Würzburg 1999. Arnold, Antje: Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin/Boston 2012. Asmuth, Bernhard: Angemessenheit, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 1: A-Bib, Tübingen 1992, S. 579-604. Asper, Helmut G.: Hanswurst. Studien zum Lustigmacher auf der Berufsschauspielerbühne in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Emsdetten 1980. Austermann, Simone: Die »Allgemeine Revision«. Pädagogische Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 2010. Ball, Gabriele: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler, Göttingen 2000. Barish, Jonas: The Antitheatrical Prejudice. Berkeley/Los Angeles/London 1981. Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970. Bauer, Roger: »Ein Sohn der Philosophie«: Über den Dialog als literarischer Gattung, in: Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 23 (1976), S. 29-44. Begemann, Christian: Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1987.

V Literatur

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Das Maß und die Nützlichkeit

— Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, 4. Auflage Berlin 2001, S. 47-73. Bollacher, Martin: Französische und deutsche Denkungsart: Zur Rezeption der französischen Literatur bei Lessing, in: Ulrike Zeuch (Hg.): Lessings Grenzen, Wiesbaden 2005, S. 47-64. Borchmeyer, Dieter: Erwin und Elmire, in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Dieter Borchmeyer et al. I. Abteilung: Sämtliche Werke Band 4: Dramen 1765-1775. Unter Mitarbeit von Peter Huber herausgegeben von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M. 1985, S. 954-970. — Erwin und Elmire. Zweite Fassung, in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Hendrik Birus et al. I. Abteilung: Sämtliche Werke Band 5: Dramen 1776-1790. Unter Mitarbeit von Peter Huber herausgegeben von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M. 1988, S. 1344-1350. Brunken, Otto/Carola Cardi: Vom »Speculum Vitae« zur »Moralischen Anstalt für Kinder«. Zur Beziehung zwischen traditionellem Schuldrama und aufklärerischem Kinderschauspiel, in: Dagmar Grenz (Hg.): Aufklärung und Kinderbuch. Studien zur Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts, Pinneberg 1984, S. 119-152. Buck, Günther: Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie, Paderborn/München 1984. Campe, Rüdiger: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002. — Das Bild und die Folter. Robert Musils Törleß und die Form des Romans, in: Ulrike Bergermann, Elisabeth Strowick (Hg.): Weiterlesen. Literatur und Wissen. Festschrift für Marianne Schuller, Bielefeld 2007, S. 121-147. — Epoche der Evidenz. Knoten in einem terminologischen Netzwerk zwischen Descartes und Kant, in: Sibylle Peters, Martin Jörg Schäfer (Hg.): »Intellektuelle Anschauung«. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 25-43. — Evidenz als Verfahren. Skizze eines kulturwissenschaftlichen Konzepts, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 8 (2004), S. 105-133. — Form und Leben in der Theorie des Romans, in: Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker (Hg.): Vita aesthetica. Szenerien ästhetischer Lebendigkeit, Zürich/Berlin 2009, S. 193-211. — Robert Walsers Institutionenroman Jakob von Gunten, in: Rudolf Behrens und Jörn Steigerwald (Hg.): Die Macht und das Imaginäre, Würzburg 2005, S. 235-250.

V Literatur

— Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung, in: Helmut Lethen, Ludwig Jäger, Albrecht Koschorke (Hg.): Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader, Frankfurt/New York 2015, S. 106-136. Cardi, Carola: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit. Eine Untersuchung der deutschsprachigen Kinderschauspiele von 1769-1800, Frankfurt a.M./Bern/New York 1983. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern und München 4 1963. Daniel, Ute: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995. de Wild, Henk: Tradition und Neubeginn. Lessings Orientierung an der europäischen Tradition, Amsterdam 1986. Deiters, Franz-Josef: Die Entweltlichung der Bühne. Zur Mediologie des Theaters der klassischen Episteme, Berlin 2015. — Vom Werden des Theaters zum Schauplatz des Autors. Johann Christoph Gottscheds Theaterreform in mediologischer Sicht, in: Ana R. Calero Valera, Brigitte E. Jirku (Hg.): Literatur als Performance. Literaturwissenschaftliche Studien zum Thema Performance, Würzburg 2013, S. 41-56. Dettmar, Ute: Das Drama der Familienkindheit. Der Anteil des Kinderschauspiels am Familiendrama des späten 18. und 19. Jahrhunderts, München 2002. — Von der Rolle. Zur Theorie und Praxis des Kinderschauspiels im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Kinder- und Jugendliteraturforschung 2000/2001, S. 13-23. Diekmann, Stefanie: Kein Theater für Genf. Rousseaus ›Brief an D’Alembert‹, in: dies., Christopher Wild, Gabriele Brandstetter (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München 2012, S. 31-40. Diekmann, Stefanie, Christopher Wild und Gabriele Brandstetter: Theaterfeindlichkeit. Anmerkungen zu einem unterschätzten Phänomen, in: dies. (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München 2012, S. 7-15. Diele, Heidrun: »Kalter Zuschauer« und »Brennspiegel«. Beobachtungen in den Pädagogischen Unterhandlungen, in: Jörn Garber (Hg.): »Die Stammutter aller guten Schulen«. Das Dessauer Philanthropinum und der deutsche Philanthropismus 1774-1793, Tübingen 2008, S. 209-228. Diele, Heidrun/Pia Schmid: Anfänge empirischer Kinderforschung. Die Schwierigkeiten einer Anthropologie vom Kinde aus, in: Manfred Beetz, Jörn Garber und Heinz Thoma (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 253-277. Dilcher, Roman: Furcht und Mitleid! Zu Lessings Ehrenrettung, in: Antike und Abendland XLII (1996), S. 85-102.

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V Literatur

— Zur Einleitung, in: dies., Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 11-20. Flashar, Hellmut: Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik, in: Hermes 84 (1956), S. 12-48. Fleming, Paul: Exemplarity and Mediocrity. The Art of the Average from Bourgeois Tragedy to Realism, Stanford 2009. Flemming, Willi: Einführung, in: ders. (Hg.): Das Schauspiel der Wanderbühne, Stuttgart 1931, S. 5-69. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen, 16. Auflage Frankfurt a.M. 2013. — Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1983. — Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, 10. Auflage, Frankfurt a.M. 2007. — Subjekt und Macht, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV: 1980-1988. Hg. von Daniel Defert/François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt a.M. 2005, S. 269-293. — Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1994. Freier, Hans: Kritische Poetik. Legitimation und Kritik der Poesie in Gottscheds Dichtkunst, Stuttgart 1973. Frercks Jan: Epistemisches Theater: Die Dialektik von Forschung und Lehre bei Vorlesungsvorführungen in der Chemie um 1800, in: Sabine Schimma und Joseph Vogl (Hg.): Versuchsanordnungen um 1800, Zürich/Berlin 2008., S. 17-38. Frick, Werner: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 1988. Fuest, Leonhard: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800, München 2008. Fulda, Daniel: Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing, Tübingen 2005. Funke, Eva: Bücher statt Prügel. Zur philanthropistischen Kinder- und Jugendliteratur. Bielefeld 1988. Gajek, Konrad: Nachwort, in: ders. (Hg.): Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert. Einladungsschriften zu den Schulactus und Szenare zu den Aufführungen förmlicher Comödien an den protestantischen Gymnasien, Tübingen 1994. Garber, Jörn: »Die Bildung des bürgerlichen Karakters« im Spannungsfeld von Sozial- und Selbstdisziplinierung, in: ders. (Hg.): »Die Stammutter aller guten Schulen«. Das Dessauer Philanthropinum und der deutsche Philanthropismus

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Das Maß und die Nützlichkeit

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Das Maß und die Nützlichkeit

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V Literatur

Kolesch, Doris: Theater als Sündenschule. Für und Wider das Theater im 17. und 18. Jahrhundert, in: Stefanie Diekmann, Christopher Wild, Gabriele Brandstetter (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München 2012, S. 19-30. Koller, Hans-Christoph: Erziehung zur Arbeit als Disziplinierung der Phantasie. J. H. Campes Robinson der Jüngere im Kontext der philanthropischen Pädagogik, in: Harro Segeberg (Hg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ›Arbeit‹ in der deutschen Literatur (1770-1930). Dokumentation einer interdisziplinären Tagung in Hamburg vom 16. bis 18. März 1988, Tübingen 1991, S. 40-76. Kommerell, Max: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, Frankfurt a.M. 1940. Košenina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995. — Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008. — Theatromanie aus ärztlicher Sicht: Anton Reiser versus Wilhelm Meister, in: Ariane Martin, Nikola Rossbach (Hg.): Begegnungen: Bühne und Berufe in der Kulturgeschichte des Theaters, Tübingen 2005, S. 53-66. Korte, Hermann: »Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten«. Die Akteure vor der Bühne in Texten aus Theaterzeitschriften und Kulturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: ders., Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 9-49. Koschorke Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, 2., durchgesehene Auflage, München 2003. Krause, Marcus & Nicolas Pethes: Zwischen Erfahrung und Möglichkeit. Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 7-18. Krebs, Roland: L’Idée de »Théâtre National« dans L’Allemagne des Lumières. Théorie et Réalisations, Wiesbaden 1985. — Der Theologe vor der Bühne. Pastor Goezes Theologische Untersuchung der heutigen deutschen Schaubühne als Streitschrift gegen das Theater und Projekt einer Idealbühne, in: Ariane Martin, Nikola Rossbach (Hg.): Begegnungen: Bühne und Berufe in der Kulturgeschichte des Theaters, Tübingen 2005, S. 43-52. — Die frühe Theaterkritik zwischen Bestandsaufnahme der Bühnenpraxis und Normierungsprogramm, in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 463-482. — Modernität und Traditionalität in Gottscheds Theaterreform, in: Wilfried Barner (Hg.): Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, München 1989, S. 125-145.

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Das Maß und die Nützlichkeit

Lehmann, Johannes Friedrich: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg i.Br. 2000. — Kontinuität und Diskontinuität. Zum Paradox von ›Bildung‹ und ›Bildungsroman‹, in: IASL 41 H2 (2016), S. 251-270 Lemke, Anja: »Medea fiam« – Affekterzeugung zwischen Rhetorik und Ästhetik in Lessings Miss Sara Sampson, in: DVjs 86.2 (2012), S. 206-223. Lemke, Anja und Alexander Weinstock: Einleitung, in: dies. (Hg.): Kunst und Arbeit. Zum Verhältnis von Ästhetik und Arbeitsanthropologie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2014, S. 9-22. Leyser, Jakob Anton: Joachim Heinrich Campe. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung, Bd. 1, Braunschweig 1896. Lohmann, Ingrid: Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit. Zur pädagogischen Transformation der Rhetorik zwischen 1750 und 1850, Münster/New York 1993. Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Herausgegeben von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M. 2002. — Das Kind als Medium der Erziehung, in: ders.: Schriften zur Pädagogik. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M. 2004, S. 159-186. — Die Homogenisierung des Anfangs: Zur Ausdifferenzierung der Schulerziehung, in: ders.: Schriften zur Pädagogik. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M. 2004, S. 123-158. — Erziehung als Formung des Lebenslaufs, in: ders.: Schriften zur Pädagogik. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M. 2004, S. 260-277. — Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft: Von der Philanthropie zum Neuhumanismus, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 105-194. Luhmann, Niklas, Karl Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt a.M. 1988. — Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik, in: dies. (Hg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt a.M. 1982, S. 11-40. — Einleitung, in: dies. (Hg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt a.M. 1982, S. 7-9. Luserke, Matthias: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung, Stuttgart/Weimar 1995. Mairbäurl, Gunda: Die Familie als Werkstatt der Erziehung. Rollenbilder des Kindertheaters und soziale Realität im späten 18. Jahrhundert, München 1983.

V Literatur

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Das Maß und die Nützlichkeit

Meyer-Drawe, Käte: Zum metaphorischen Gehalt von »Bildung« und »Erziehung«, in: Zeitschrift für Pädagogik 45/2 (1999), S. 161-175. Müller, Lothar: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz Anton Reiser, Frankfurt a.M. 1987. Müller-Kampel, Beatrix: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert, Paderborn 2003. Müller-Wille, Klaus: Inszeniertes Wissen. Theater und Experiment, in: Michael Gamper (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien, Göttingen 2010, S. 40-68. Münz, Rudolf: Theater im Leipzig der Aufklärung, in: Wolfgang Martens (Hg.): Zentren der Aufklärung III: Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit, Heidelberg 1990, S. 169- 178. Nassen, Ulrich: Das Kind als wohltemperierter Bürger. Zur Vermittlung bürgerlicher Affekt- und Verhaltensstandards in der Kinder-, Jugend- und Ratgeberliteratur des späten 18. Jahrhunderts, in: Dagmar Grenz (Hg.): Aufklärung und Kinderbuch, Pinneberg 1984, S. 213-238. Neumeyer, Harald: »Ich bin einer von denjenigen Unglückseligen […]«. Rückkopplungen und Autoreferenzen. Zur Onaniedebatte im 18. Jahrhundert, in: Maximilian Bergengruen, Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann (Hg.): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001, S. 65-95. Newald, Richard: Die deutsche Literatur. Vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit 1570-1750, fünfte, verbesserte Auflage, München 1965. Niedermeier, Michael: Mitteldeutsche Aufklärer und elsässische ›Genies‹ im Kampf um das pädagogische Musterinstitut des Philanthropismus in Dessau, in: LenzJahrbuch 5 (1995), S. 92-111. Nowitzki, Hans-Peter: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin/New York 2003. Otto, Rüdiger: Gottsched und die zeitgenössische Publizistik, in: Eric Achermann (Hg.): Johann Christoph Gottsched (1700-1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft, Berlin 2014, S. 293-338. Pape, Walter: Das literarische Kinderbuch. Studien zur Entstehung und Typologie, Berlin/New York 1981. Paul, Arno: Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums. Eine strukturell‐funktionale Untersuchung über den sog. Theaterskandal anhand der Sozialverhältnisse der Goethezeit, München 1969. Paul, Markus: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2002. Peters, Sybille und Martin Jörg Schäfer: Intellektuelle Anschauung – unmögliche Evidenz, in: dies. (Hg.): »Intellektuelle Anschauung«. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 9-21.

V Literatur

Pethes, Nicolas: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007. — »Und nun, ihr Pädagogen – beobachtet, schreibt!« Zur doppelten Funktion der Medien im Diskurs über Erziehung und Bildung im 18. Jahrhundert, in: Eva Geulen, ders. (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2007, S. 49-67. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse, München 9 1997. Pikulik, Lothar: Schiller und das Theater. Über die Entwicklung der Schaubühne zur theatralen Lebensform, Hildesheim/Zürich/New York 2007. Pohle, Frank: Glaube und Beredsamkeit. Katholisches Schultheater in Jülich-Berg, Ravenstein und Aachen (1601-1817), Münster 2010. Pohlenz, Max: Furcht und Mitleid? Ein Nachwort, in: Hermes 84 (1956), S. 49-74. Primavesi, Patrick: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800, Frankfurt/New York 2008. Promies, Wolfgang: Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie. Sechs Kapitel über das Irrationale in der Literatur des Rationalismus. München 1966. Puchner, Martin: The Drama of Ideas. Platonic Provocations in Theater and Philosophy, New York 2010, — Platon und das moderne Drama, in: Stefanie Diekmann, Christopher Wild, Gabriele Brandstetter (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München 2012, S. 193-203. Raabe, Paul: Die Zeitschrift als Medium der Aufklärung, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 (1974), S. 99-136. Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, in: ders: Der emanzipierte Zuschauer. Aus dem Französischen von Richard Steurer, Wien 2009, S. 11-34. Rebentisch, Juliane: Demokratie und Theater, in: Felix Ensslin (Hg.): Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute, Berlin, 2006, S. 71-81. Rieck, Werner: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes, Berlin 1972. — Das Truppentheater und sein Publikum in literarischer Sicht, in: Forschungen und Fortschritte, 38 (1964), H. 7, S. 218-220. — Schaubühne contra Kanzel. Die Verteidigung des Theaters durch die Veltheimin, in: Forschungen und Fortschritte. 39 (1965), H. 2, S. 50-53. Ritter, Heidi: Von der Kanzel auf die Bühne. Taugte das bürgerliche Trauerspiel des 18. Jahrhunderts für eine säkularisierte Predigt?, in: Lothar Bornscheuer, Herbert Kaiser, Jens Kulenkampff (Hg.): Glaube · Kritik · Phantasie. Europäische Aufklärung in Religion und Politik, Wissenschaft und Literatur. Interdisziplinäres Symposium an der Universität-GH-Duisburg vom 16.-19. April 1991, Frankfurt a.M. u.a. 1993, S. 201-211. Rothe, Matthias: Lesen und Zuschauen im 18. Jahrhundert. Die Erzeugung und Aufhebung von Abwesenheit, Würzburg 2005, S. 117-124.

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Das Maß und die Nützlichkeit

Ruppert, Rainer: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1995. Rüskamp, Wulf: Dramaturgie ohne Publikum. Lessings Dramentheorie und die zeitgenössische Rezeption von »Minna von Barnhelm« und »Emilia Galotti«. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Theaters und seines Publikums, Köln/Wien 1984. Saße, Günter: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung, Tübingen 1988. Schadewaldt, Wolfgang: Furcht und Mitleid, in: Hermes 83 (1955), S. 128-171. Schäfer, Jasmin: Das Bild als Erzieher. Daniel Nikolaus Chodowieckis Kinder- und Jugendbuchillustrationen in Johann Bernhard Basedows Elementarwerk und Christian Gotthilf Salzmanns Moralischem Elementarbuch, Frankfurt a.M. [u.a.] 2013. Schäfer, Martin Jörg: Das Theater der Erziehung. Goethes »pädagogische Provinz« und die Vorgeschichte der Theatralisierung von Bildung, Bielefeld 2016. — Der ›erste unter allen Trieben‹. Regulierte Mimesis in der pädagogischen Literatur der Aufklärung, in: Archiv für Mediengeschichte 12 (2012), S. 65-77. — Die Theatralität des Philanthropinismus. Salzmanns Exempel, in: Bettine Menke, Thomas Glaser (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität, Paderborn 2014, S. 65-87. — »Émile unter Schauspielern. Rousseaus Theater der Erziehung«, in: Maud Meyzaud (Hg.): Arme Gemeinschaft: Die Moderne Rousseaus, Berlin 2015, S. 130-154. — Passivität und Augenschein. Zur medialen Apparatur der Guckkastenbühne um 1800, in: Sibylle Peters, Martin Jörg Schäfer (Hg.): »Intellektuelle Anschauung«. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 165-182. Schedler, Melchior: Kindertheater. Geschichte, Modelle, Projekte, Frankfurt a.M. 1972. Schings, Hans-Jürgen: Der mitleidigste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, Müchen 1980. — Consolatio Tragodiae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels in: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland, hg. u. eingeleitet von Reinhold Grimm, Frankfurt a.M. 1971, Bd. 1, S. 1-44. — Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung, in: Studien zum 18. Jahrhundert 3: Die Neubestimmung des Menschen. Wandlungen des anthropologischen Konzepts im 18. Jahrhundert. Herausgegeben von Bernhard Fabian, Wilhelm-Schmidt-Biggemann und Rudolf Vierhaus, München 1980, S. 247-275.

V Literatur

Schmid, Pia: »beobachtet, und dann – schreibet!« Anfänge der empirischen Kinderforschung von Kindern im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Dorle Klika, Hubertus Kundert, Volker Schubert (Hg.): Bildung als engagierte Aufklärung. Ernst Cloer zum 60. Geburtstag, Hildesheim 2000, S. 7-24. Schmitt, Hanno: Johann Stuve, Baltmannsweiler 2002. — Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungs‐bewegung, Bad Heilbrunn 2007. Schmitt, Peter: Schauspieler und Theaterbetrieb. Studien zur Sozialgeschichte des Schauspielerstandes im deutschsprachigen Raum 1700-1900, Tübingen 1990. Schneider, Helmut J.: Familiendramaturgie und Nationaltheateridee: Zur Publikumskonzeption in der deutschen und französischen Dramaturgie des 18. Jahrhunderts, in: Barbara Schmidt-Haverkamp, Uwe Steiner, Brunhilde Wehinger (Hg.): Europäischer Kulurtransfer im 18. Jahrhundert. Literaturen in Europa – Europäische Literatur?, Berlin 2003, S. 59-77. Schneiders, Werner: Nutzen, in: ders. (Hg.) Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995, S. 291-292. Schramm, Helmar: Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996. — Theatralität, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Wörterbuch in sieben Bänden. Band 6. Stuttgart, 2005, S. 48-73. Schulte-Sasse, Jochen: Der Stellenwert des Briefwechsels in der Geschichte der deutschen Ästhetik, in: Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel. Herausgegeben und kommentiert von Jochen Schulte-Sasse, München 1972, S. 168-237. Schulz, Georg-Michael: Tugend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen, Tübingen 1988. — Der Krieg gegen das Publikum. Die Rolle des Publikums in den Konzepten der Theatermacher des 18. Jahrhunderts, in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 483-502. Sdzuj, Reimung B.: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens, Tübingen 2005. Seidel, Sarah: Der Dialog(roman) als anthropologische und poetologische Erzählform der Spätaufklärung – Johann Jakob Engel und August Gottlieb Meißner, in: Gunhild Berg (Hrsg): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen, Frankfurt a.M. 2014, S. 207-225. Selbmann, Rolf: Theater im Roman. Studien zum Strukturwandel des deutschen Bildungsromans, München 1981. Stanitzek, Georg: Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur. Zur Frühgeschichte des deutschen »Bildungsromans«, in: DVjs 62 (1988) S. 416-450.

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Das Maß und die Nützlichkeit

Steinlein, Rüdiger: Die domestizierte Phantasie. Studien zur Kinderliteratur, Kinderlektüre und Literaturpädagogik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1987. — »Aufgeklärte Gottesfurcht« – das Gott-Vater-Paradigma als religions‐pädagogisches und wirkungsästhetisches Prinzip erzählender Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung (am Beispiel von J.H. Campes »Robinson der Jüngere«), in: Zeitschrift für Germanistik N.F.4 (1994), S. 7-23. Steinmetz, Horst: Das deutsche Drama von Gottsched bis Lessing. Ein historischer Überblick, Stuttgart 1987. Stern, Martin: »Über die Schauspiele.« Eine vergessene Abhandlung zum Schultheater des Basler Theologen Samuel Werenfels (1657-1740) und ihre Spuren bei Gottsched, Lessing, Gellert, Hamann und Nicolai, in: Text&Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 17/1 (1989), S. 104-126. Stiening, Gideon: »[D]arinn ich noch nicht seiner Meynung habe beipflichten können.« Gottsched und Wolff, in: Eric Achermann (Hg.): Johann Christoph Gottsched (1700-1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft, Berlin 2014, S. 39-60. Stockhorst, Stefanie: Wissensvermittlung im Dialog. Literarische Pflanzenkunde und christliche Weltdeutung in den Rahmenstücken von Johann Rists Monatsgesprächen und ihrer Fortsetzung durch Erasmus Francisci, in: Flemming Schock (Hg.): Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit, Berlin [u.a.] 2012, S. 67-90. Strube, Werner: Kurze Geschichte des Begriffs »Kunstrichter«, in: Archiv für Begriffsgeschichte XIX (1975), S. 50-82. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), Frankfurt a.M. 8 1971. Tarot, Rolf: Drama – Roman – Dramatischer Roman: Bemerkungen zur Darstellung von Unmittelbarkeit und Innerlichkeit in Theorie und Dichtung des 18. Jahrhunderts, in: Linda Dietrick und David G. John (Hg.): Momentum dramaticum. Festschrift für Eckehard Catholy, Waterloo 1990, S. 241-269. — Schuldrama und Jesuitentheater, in: Walter Hinck (Hg.): Handbuch des deutschen Dramas, Düsseldorf 1980, S. 35-47. Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, Weinheim und München 5 2010. — »Lehrerberuf s. Dilettantismus«. Wie die Lehrprofession ihr Geschäft verstand, in: Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr (Hg.): Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt a.M. 1986, S. 275-322 Tonger-Erk, Lily: Actio. Körper und Geschlecht in der Rhetoriktheorie, Berlin/Bosten 2012. Torra-Mattenklott, Caroline: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002. — Die Seele als Zuschauerin. Zur Psychologie des ›movere‹, in: Erika FischerLichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. In-

V Literatur

szenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 91-108. Tschopp, Silvia Serena: Protestantisches Schultheater und reichstädtische Politik. Die Dramen des Sixt Birck, in: Gernot Michael Müller (Hg.): Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg, Berlin/New York 2010, S. 187-215. Urban, Astrid: Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik, Heidelberg 2004. Vierhaus, Rudolf: Bildung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch‐sozialen Sprache in Deutschland. Herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Band 1: A-D, Stuttgart 1972, S. 509-551. Vogl, Joseph: Einleitung, in: ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7-16. Vogt, Margit: Von Kunstworten und -werten. Die Entstehung der deutschen Kunstkritik in Periodika der Aufklärung, Berlin/New York 2010. Volkening, Heide: Ausbildung des Charakters. Wilhelm Meisters Lehrjahre (mit Blanckenburg), in: IASL 41 H2 (2016), S. 290-303. Voßkamp, Wilhelm: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973. — Homo Oeconomicus und Homo Poeticus. Über Arbeit und Kunst in den Robinsonaden von Daniel Dafoe und Johann Gottfried Schnabel, in: Anja Lemke und Alexander Weinstock (Hg.): Kunst und Arbeit. Zum Verhältnis von Ästhetik und Arbeitsanthropologie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2014, S. 177-188. — Individualität – Biographie – Roman, in: ders.: Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin 2009, S. 26-32. — Perfektibilité und Bildung. Zu den Besonderheiten des deutschen Bildungskonzepts im Kontext der europäischen Utopie- und Fortschrittsdiskussion, in: ders.: Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin 2009, S. 33-48. — »Un livre paradoxal«. J.-J. Rousseaus ›Émile‹ in der deutschen Diskussion um 1800, in: ders.: Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin 2009, S. 49-59. Weitin, Thomas: Unmittelbare Anschauung. Legitimation durch Verfahren in der Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts, in: Sibylle Peters, Martin Jörg Schäfer (Hg.): »Intellektuelle Anschauung«. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 183-200. Wels, Volkhard: Die logische Form des Dramas im 17. Jahrhundert, in: Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazadrzig (Hg.): Spektakuläre Experimente.

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Das Maß und die Nützlichkeit

Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin/New York 2006, S. 131-153. Wertheimer, Jürgen: »Der Güter gefährlichstes, die Sprache«. Zur Krise des Dialogs zwischen Aufklärung und Romantik, München 1990. Wetterer, Angelika: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern, Tübingen 1981. Wild, Christopher J.: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg i.Br. 2003. — Theorizing Theater Antitheatrically: Karl Philipp Moritz’s Theatromania, in: Modern Language Notes 120/3 (2005), S. 507-538. Wild, Reiner: Die Vernunft der Väter. Zur Psychographie von Bürgerlichkeit und Aufklärung in Deutschland am Beispiel ihrer Literatur für Kinder, Stuttgart 1987. Winterhager-Schmid, Luise: Die Kindsmörderin im Diskurs der Aufklärung, in: Dorle Klika, Hubertus Kunert, Volker Schubert (Hg.): Bildung als engagierte Aufklärung. Ernst Cloer zum 60. Geburtstag, Hildesheim 2000, S. 25-54. Weinkauff, Gina/Gabriele von Glasenapp: Kinder- und Jugendliteratur, 2. aktualisierte Auflage, Paderborn 2014. Wölfel, Kurt: Moralische Anstalt. Zur Dramaturgie von Gottsched bis Lessing, in: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland, hg. u. eingeleitet von Reinhold Grimm, Frankfurt a.M. 1971, Bd.1, S. 45-122. Zelle, Carsten: Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß: Die Stellung von Unzer, Krüger und E. A. Nicolai in der anthropologischen Wende um 1750 (mit einem Exkurs über ein Lehrgedichtfragment Moses Mendelsohns), in: Jörn Steigerwald und Daniela Watzke (Hg.): Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830), Würzburg 2003, S. 203-224. — ›Querelle du Théâtre‹: Literarische Legitimationsdiskurse (Gottsched – Schiller – Sulzer), in: German life and letters 62,1 (2009), S. 21-38. — Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: SchillerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Herausgegeben von Matthias LuserkeJaqui unter Mitarbeit von Grit Dommes, Stuttgart/Weimar 2005, S 343-358. Zeller, Konradin: Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises, Tübingen 1980. Zimmer, Reinhold: Dramatischer Dialog und aussersprachlicher Kontext. Dialogformen in deutschen Dramen des 17. bis 20. Jahrhunderts, Göttingen 1982. Zumhof, Tim: Die Erziehung und Bildung der Schauspieler. Disziplinierung und Moralisierung zwischen 1690 und 1830, Wien/Köln/Weimar 2018.

Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch (2. Aufl.) Februar 2019, 280 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4677-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4677-5

Manfred Brauneck

Die Deutschen und ihr Theater Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? 2018, 182 S., kart., Klebebindung 24,99 € (DE), 978-3-8376-3854-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3854-1 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3854-7

Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 2017, 270 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater- und Tanzwissenschaft Adam Czirak, Sophie Nikoleit, Friederike Oberkrome, Verena Straub, Robert Walter-Jochum, Michael Wetzels (Hg.)

Performance zwischen den Zeiten Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft Februar 2019, 296 S., kart., Klebebindung, 31 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4602-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4602-7

Ingrid Hentschel (Hg.)

Die Kunst der Gabe Theater zwischen Autonomie und sozialer Praxis Januar 2019, 310 S., kart., Klebebindung, 6 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4021-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4021-6

Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert, Gerald Siegmund (Hg.)

Theater als Kritik Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung 2018, 578 S., kart., Klebebindung, 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4452-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4452-8

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