Nadelstiche: Sticken in der Kunst der Gegenwart [1. Aufl.] 9783839412169

Als Medium der Kunst gewinnen Stickereien seit den 1990er Jahren zunehmend an Beliebtheit. Künstlerinnen und Künstler nu

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German Pages 250 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Einleitung
Dank
Die Stickerin als Leitbild des bürgerlichen Interieurs
Feministische UmRäumungen
Ausstellen im Womanhouse
Sammlungen bei Annette Messager
Zusammenfassung
Konversationen. Das Come-Back historischer Stickereien
Mustergültigkeiten bei Elaine Reichek
Heldentaten bei Jochen Flinzer
Zusammenfassung
doing and undoing. Das gestickte Kunstwerk als unglaubwürdige Fetischisierung
Pin-up-Girls bei Ghada Amer
Stars bei Francesco Vezzoli
Zusammenfassung
Ausschweifungen in den Raum. Verstöße gegen die Materialgerechtigkeit
Versteinerte Fäden bei Mariann Imre
Gartenarbeit bei Barbara Nemitz
Zusammenfassung
Mediale Interferenzen
Fotografisches Gedächtnis bei Marion Strunk
Melodramen-on-Demand bei Francesco Vezzoli
Diskrete Codes bei Delaware
Zusammenfassung
Schlussfolgerungen
Literatur
Abbildungsnachweis
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Nadelstiche: Sticken in der Kunst der Gegenwart [1. Aufl.]
 9783839412169

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Matilda Felix Nadelstiche

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Matilda Felix (Dr. phil.) lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Kunstuniversität Linz und der New Design University in St. Pölten.

Matilda Felix Nadelstiche. Sticken in der Kunst der Gegenwart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Matilda Felix Lektorat: Matilda Felix Satz: Katharina Loidl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1216-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Einleitung | 7 Dank | 21

Die Stickerin als Leitbild des bürgerlichen Interieurs | 23 Feministische UmRäumungen | 30 Ausstellen im Womanhouse | 34 Sammlungen bei Annette Messager | 47 Zusammenfassung | 65

Konversationen. Das Come-Back historischer Stickereien | 69 Mustergültigkeiten bei Elaine Reichek | 69 Heldentaten bei Jochen Flinzer | 80 Zusammenfassung | 96

doing and undoing. Das gestickte Kunstwerk als unglaubwürdige Fetischisierung | 97 Pin-up-Girls bei Ghada Amer | 97 Stars bei Francesco Vezzoli | 107 Zusammenfassung | 115

Ausschweifungen in den Raum. Verstöße gegen die Materialgerechtigkeit | 117 Versteinerte Fäden bei Mariann Imre | 118 Gartenarbeit bei Barbara Nemitz | 127 Zusammenfassung | 136

Mediale Interferenzen | 139 Fotografisches Gedächtnis bei Marion Strunk | 139 Melodramen-on-Demand bei Francesco Vezzoli | 153 Diskrete Codes bei Delaware | 182 Zusammenfassung | 205

Schlussfolgerungen | 207 Literatur | 215 Abbildungsnachweis | 245

EINLEITUNG Sticken ist eine zweideutige Angelegenheit: recto eine reputierliche Handarbeit, geeignet ein traditionelles Weiblichkeitsideal der bürgerlichen Gesellschaft zu repräsentieren, verso eine provozierende Arbeitsweise im zeitgenössischen Ausstellungsbetrieb. Diese zwei Seiten erscheinen zunächst unvereinbar. Wer in Stickereien ausschließlich eine altmodische Handarbeit erkennt, wird Schwierigkeiten haben, sie im aktuellen Kunstbetrieb zu verorten, wo sie sich seit den 1990er Jahren einer auffälligen Beliebtheit erfreuen. Das verstärkte Auftreten textiler Medien bei Ausstellungen und auf dem Kunstmarkt lässt die Frage aufkommen, worauf sich dieses neuerliche Interesse gründet und was eigentlich den vorangegangenen Ausschluss von Stickereien verursachte. Und hier verschränken sich die reputierlichen, mitunter subversiven oder glamourösen Aspekte der Sticktechnik, denn ihr Potential als künstlerische Praxis der Gegenwart entfaltet sich auf Grund ihrer Genealogie. Seit der Aufklärung verkörpern Stickereien einen destillierten Ausdruck von Anstand und Ordnung, der sie als künstlerisches Medium diskreditierte und aus dem Kunstbetrieb verdrängte. Inzwischen verleiht gerade dieses gut-bürgerliche Image der Handarbeit eine Note der Renitenz, die sie für zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler interessant werden lässt. Die Re-Integration der Sticktechnik im künstlerischen Feld verläuft nicht immer reibungslos. Verunsicherungen, wie mit der neuerlichen Präsenz umzugehen ist, spiegeln sich vor allem in der Kunstkritik, aus deren Lektüre ein kontroverses Bild von Stickereien entsteht. So oszilliert die Nadelarbeit für den Kritiker Peter Guth »zwischen Hausfraulichkeit und Startum, Handwerk und künstlerischem Wunder«.1 Cornelia Gockel konstatiert im Kunstforum: »Sticken gilt in unserer Gesellschaft als stupide Freizeitbeschäftigung, die dem weiblichen Dekorationsbedürfnis Rechnung trägt«2. 1

Guth, Peter, Meister der salonfähigen Oberfläche, in: Leipziger Volkszeitung, 28.06.2002

2

Gockel, Cornelia, Jochen Flinzer, in: Kunstforum International, Bd. 149, Jan.März 2000, S. 252-259, hier S. 253

8

NADELSTICHE. Sticken in der Kunst der Gegenwart

Dagegen bescheinigt Bettina Musall Stickereien – dieser »perversesten, bürgerlichsten Provokation«3 – einen glamourösen Charakter. Dirk von Lowtzow wiederum beschreibt Techniken wie Sticken und Stricken in Texte zur Kunst als »klischeehaft den adligen Damen im jane-austenesken Landhausidyll zugeschriebene Freizeitbeschäftigungen.«4 Bei Kathrin Luz sind sie Ausdruck einer »neuen Woll-Lust«,5 während Lisa Graziose Corrin sie in politischer Hinsicht als radikale Erscheinung interpretiert.6 Hervorgerufen werden diese schizophrenen Beschreibungen durch zwei konkurrierende Vorstellungsbilder. Die Pose der introvertierten Stickerin scheint unvereinbar mit dem extravaganten Entwurf eines als autonom verstandenen Künstlersubjekts, die repetitive, langsame und detailgenaue Arbeitsweise schwer vereinbar mit einem expressiven Arbeitsduktus und gängigen Avantgarde-Rhetoriken. Rezipierenden, die an beiden ›Images‹ zweifeln, eröffnet sich der subversive Spielraum der Sticktechnik. Mit ihrem zwiespältigen Auftreten sind Stickereien als Kunstform der Gegenwart in der Lage, Normativitätsdispositive in Frage zu stellen. Das betrifft die Kategorisierungen der Kunstgeschichte ebenso wie die bipolare Geschlechterordnung der bürgerlichen Gesellschaft. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist der Einsatz der Sticktechnik in der Gegenwartskunst und ihr Anteil an der Bedeutungskonstituierung der Werke. Deutlicher als andere künstlerische Ausdrucksweisen führt diese Technik vor Augen, dass Arbeitsprozesse und Materialien nicht neutral betrachtet werden können.7 Sie ermöglichen und begrenzen die Realisierung eines Werks und beeinflussen durch ihre spezifischen Genealogien die Bildformulierungen auf inhaltlicher Ebene. Die Sticktechnik hinterfragt eine Reihe von konventionellen Übereinkünften, die üblicherweise präskriptiv im Verborgenen bleiben. Sticken 3

Musall, Bettina, Der Kaiser und ich. Glamour im Kreuzstich, in: Der KulturSPIEGEL, Nr. 3, Feb. 2006, 22-27, hier S. 23

4

Lowtzow, Dirk von, Adel verpflichtet, in: Texte zur Kunst, 10. Jg., H. 38, Juni 2000, S. 166-170, hier S. 170

5

Luz, Kathrin, Woll-Lust, in: frame. the state of the art, Nr. 7, Mai-Juni 2001, S. 68-73, hier S. 68

6

Vgl. Corrin, Lisa Graziose, Hanging by a thread, in: Loose Threads (Ausst.-

7

Vgl. Haus, Andreas, Franck Hofmann und Änne Söll (Hg.), Material im Prozess.

Kat.), Serpentine Gallery, London 1998, S. 8-41, hier S. 8 Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin 2000. Wagner, Monika, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001. Volkmann, Amrei, Friedrich Weltzien (Hg.), Modelle künstlerischer Produktivität, Berlin 2003

EINLEITUNG

gilt als altmodische Handarbeit, die von Frauen unentgeltlich ausgeführt wird und der häuslichen Dekoration dient. Das Bild der nadelarbeitenden Frau suggeriert eine häusliche Idylle, in der sich die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in allgemeinem Wohlgefallen realisierte.8 Der Arbeitsplatz, der Frauen »in der physischen und geistigen Ordnung«9 der bürgerlichen Gesellschaft zugewiesen wurde, war neben dem Herd und der Wiege vor allem der Nähtisch. Auf zahlreichen Familienporträts wurden textile Handarbeiten zur Standardrequisite, um die ordnungsgemäße Erziehung und Beschäftigung von Mädchen und die vorbildliche Haushaltsführung der Frauen zu demonstrieren.10 Obwohl handgefertigte Textilien mit der Industrialisierung im reproduktiven Alltag rapide an Bedeutung verloren, erwies sich ihr Image als krisenresistent. Bereits in dieser nachhaltigen Wirksamkeit lässt sich die Wichtigkeit textiler Handarbeiten für die symbolische Repräsentanz der bürgerlichen Ordnung ermessen. Sie können als ein Leitbild des ›kollektiven Imaginären‹ betrachtet werden, das auch jenseits reproduktiver Notwendigkeiten bis in die Gegenwart hinein funktioniert.11 Der Dreiklang Nadelarbeit, ›Weiblichkeit‹ und Heim, ergänzt durch den pejorativen Unterton, das ganze als »naiven Hausfleiß«12 abzutun, ist stets virulent, wo textile Praktiken im Kunstbetrieb auftauchen. Dieses eigenwillige Label führt in der Kunstkritik dazu, dass Kommentare und Interpretationsversuche häufig mit einem imaginären ›Trotzdem‹ einsetzen, da sie sich offenbar verpflichtet fühlen, den künstlerischen Ausdruck vor den traditionellen Konnotationen zu schützen. 8

Vgl. Parker, Rozsika, The Subversive Stitch. Embroidery and the making of the feminine [1984], New York 2003

9

Rousseau, Jean-Jacques, Emile oder Über die Erziehung [1762], Stuttgart 2001, S. 719

10 Vgl. Als die Frauen noch sanft und engelsgleich waren. Die Sicht der Frau in der Zeit der Aufklärung und des Biedermeier (Ausst.-Kat.), Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster 1995-96, S. 151-163. Sirna, Gail Carolyn, Frauen, die nie den Faden verlieren. Handarbeitende Frauen in der Malerei von Vermeer bis Dalí, München 2007 11 Diesen Begriff benutzt Christina von Braun, um geschlechtlich codierte Wunschbilder einer Gesellschaft zu umschreiben. Braun, Christina von, Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich 2001, S. 255-289. Vgl. hier das Kapitel Die Stickerin als Leitbild des bürgerlichen Interieurs 12 Müller-Christensen, Sigrid und Marie Schuette, Das Stickereiwerk, Tübingen 1963, S. 7

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NADELSTICHE. Sticken in der Kunst der Gegenwart

Dagegen ist es Anliegen dieser Untersuchung, diejenigen Anteile zu fokussieren, die das wirkungsmächtige Image mit sich bringt. Mit anderen Worten: Wegen ihrer traditionellen Konnotationen ist diese Technik prädestiniert, in künstlerischer Bearbeitung vielschichtige Argumentationen zu ermöglichen. Zweifellos konnte sich die Integration der Sticktechnik in den Ausstellungsbetrieb nur in der Nachfolge eines weitgehenden Funktionsverlustes textiler Handarbeiten als Bestandteil ›weiblicher‹ Repräsentationsstereotype vollziehen. Ernstgemeinte Porträts stickender Frauen haben doch merklich abgenommen. Dennoch folgt die bürgerliche Geschlechtermatrix der Sticktechnik in die Ausstellungsräume, wo sie in ungewohnten Kombinationen und vielfältigen Bearbeitungen psychosoziale Fragestellungen formuliert. Es ist wenig überraschend, dass die Kunstgeschichte, die sich zeitgleich zu der Hochphase dieses bürgerlichen Leitbilds im 19. Jahrhundert profilierte und schließlich akademisierte, textile Kunst weitgehend marginalisierte.13 Die Disziplin konzentrierte sich in ihren Anfängen vor allem auf die Kanonisierung individueller Einzelleistungen vermeintlicher Genies und die Konstruktion chronologischer Stilabfolgen. Entstehungszusammenhänge und Wirkungsweisen von Kunstwerken wurden unabhängig von sozialpolitischen Bedingungen reflektiert.14 Da textile Arbeitsweisen vor allem im 19. Jahrhundert nicht losgelöst von ihrer gesellschaftlichen Funktionalisierung betrachtet werden konnten, diskreditierten sie sich für die Aufnahme in den kunsthistorischen Kanon. In einigen künstlerischen Bewegungen – wie dem Arts & CraftsMovement, der russischen Avantgarde oder dem Bauhaus – waren Textilien fester Bestandteil der künstlerischen Produktion. Allerdings nahmen sie gegenüber anderen Arbeitsweisen stets einen Satellitenstatus ein, was 13 Vgl. Tammen, Silke, ›Seelenkomplexe‹ und ›Ekeltechniken‹ – von den Problemen der Kunstkritik und Kunstgeschichte mit der ›Handarbeit‹, in: Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Anja Zimmermann (Hg.), Berlin 2006, S. 215-239 14 Vgl. Salomon, Nanette, Der kunsthistorische Kanon – Unterlassungssünden, in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, H. 4, Jg. 21, 1993, S. 27-49. Zur feministischen Kritik am kunsthistorischen Kanon, vgl. jüngst das Schwerpunktheft: Kanones?, FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, H. 48, Dez. 2009. V.a. die Beiträge: Paul, Barbara, Nach dem Kanon ist vor dem Kanon? Aktuelle queer-feministische Debatten in Kunst und Wissenschaft, S. 14-25, Zimmermann, Anja, ›Kunst von Frauen‹. Zur Geschichte einer Forschungsfrage, S. 26-36

EINLEITUNG

eine weitgehende Nichtbeachtung im zeitnahen theoretischen Diskurs zur Folge hatte.15 Vereinzelte kunsthistorische Untersuchungen zu textilen Erzeugnissen widmeten sich zumeist prominenten Einzelstücken, die dann unabhängig von ihrer Herstellungsweise betrachtet wurden. In den Überblicksdarstellungen textiler Praktiken lag der Fokus häufig auf der technischen Ausführung historischer Textilien, wobei die Zielrichtung verfolgt wurde, spezifische Ikonografien und Stile zu differenzieren.16 So war beispielsweise Sigrid Müller-Christensen in den 1960er Jahren der Ansicht: »(...) eine Geschichte der Technik der Stickerei [würde] zugleich auch zu einer Kunstgeschichte der Stickerei werden, da es immer ganz bestimmte Stickarten gewesen sind, die sich zum Ausdruck dessen, was eine Zeit in ihrem Stil wollte, angeboten haben.«17

Auch bei diesen Versuchen, textile Arbeitsweisen in die Diskursordnung der Kunstgeschichte einzupassen, blieb ihre gesellschaftliche Funktionalisierung ausgeblendet, worin ein Grund für die fortgesetzte Randstellung lag. 15 Vgl. Wortmann-Weltge, Sigrid, Bauhaus-Textilien. Kunst und Künstlerinnen der Webwerkstatt, Schaffhausen 1993. Callen, Anthea, Sexual Division of Labour in the Arts and Crafts Movement, in: A View From the Interior. Women & Design, Judy Attfield und Pat Kirkham (Hg.), London 1995, S. 151-164. Bischoff, Cordula und Christina Threuter (Hg.), Um-Ordnung. Angewandte Künste und Geschlecht in der Moderne, Marburg 1999. Baumhoff, Anja, The gendered world of the Bauhaus. The politics of power at the Weimar Republic’s premier art institute. 1919-1932, Frankfurt a.M./ u.a. 2001. Baumhoff, Anja, ›…und sind doch alle auf das Bauhaus hin entworfen‹. Strategien im Umgang mit geschlechtsspezifisch geprägten Mustern in Kunst und Handwerk am Bauhaus Weimar, in: Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Jennifer John und Sigrid Schade (Hg.), Bielefeld 2008, S. 63-80. Smith, T’ai, Anonymous textiles, patented domains. The Invention (and death) of an author, in: Art Journal, H. 2, Jg. 67, Sommer 2008, S. 54-73 16 Vgl. Schuette, Marie, Gestickte Bildteppiche und Decken des Mittelalters, Leipzig 1927 17 Müller-Christensen/Schütte 1963, S. 8f. Diese Haltung wird auch in aktuelleren Publikationen vertreten. Vgl. Wilckens, Leonie von, Die textilen Künste. Von der Spätantike bis um 1500, München 1991. Dies., Geschichte der deutschen Textilkunst. Vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart, München 1997, S. 13-17 und 234-237

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NADELSTICHE. Sticken in der Kunst der Gegenwart

Voraussetzung für eine kritische Auseinandersetzung mit Textilien war die Etablierung des Geschlechts als kulturwissenschaftliche Analysekategorie. Dieses Instrumentarium zur Thematisierung und Dekonstruktion geschlechtsspezifischer Festschreibungen wurde von feministischen Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen seit den 1970er Jahre bereitgestellt.18 Damit geriet das Häusliche respektive das Private in den Fokus der Auseinandersetzung. Hinterfragt wurden die fachspezifischen Ein- und Ausschlusskriterien, die sich aufgrund der bürgerlichen Geschlechterordnung etablieren konnten, die Bedingungen der Produktion und der Funktion von Kunstwerken sowie die Konstituierung eines vermeintlich autonomen Künstlerimages. Mit zunehmender Institutionalisierung der Geschlechterkategorie seit den 1980er Jahren stieg das kunstwissenschaftliche Interesse an historischen Textilien, wobei nun ihre Entstehungsbedingungen und Repräsentationsaufgaben zentral behandelt wurden. Eine für die Sticktechnik zentrale Publikation legte Rozsika Parker mit der 1984 erstmalig und inzwischen in sechster Auflage erschienenen Monographie The Subversive Stitch. Embroidery and the making of the feminine vor.19 Im Zentrum ihrer Fragestellung steht der Anteil der Geschlechter an der Produktion gestickter Arbeiten, ihr künstlerischer Status sowie ihr Aussagepotential in Bezug auf gesellschaftliche Repräsentation der Auftraggeberinnen und Auftraggeber. Während sie ihre Untersuchung örtlich auf Großbritannien beschränkte, lieferte sie zeitlich eine kursorische Betrachtung, die im Mittelalter einsetzt und bis in die Gegenwart reicht. Gegenstand der Analyse waren neben gestickten Kunstwerken auch bestickte Produkte der Alltagskultur und zahlreiche literarische, visuelle und wissenschaftstheoretische Darstellungen textiler Handarbeiten. Das Ergebnis dieser Vorgehensweise ist ein quellenreiches Panorama, in dem die historisch wechselnden Bedingungen und Bedeutungen von Stickereien nachvollziehbar werden. Allerdings litt bei diesem zeitlich weit gespannten Untersuchungsrahmen vor allem die Erörterung der Gegenwartskunst, 18 Vgl. zur Sticktechnik: Lippard, Lucy R., Creatio es nihilo – Bausteine für eine

Definition weiblicher ›Hobbykunst‹ [1978], in: Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Anja Zimmermann (Hg.), Berlin 2006, S. 241-251. Broude, Norma, Miriam Schapiro and ›Femmage‹. Reflections on the conflict between decoration and abstraction in twentieth-Century Art, in: Feminism and art history. Questioning the litany, Norma Broude und Mary D. Garrard (Hg.), New York 1982, S 314-328 19 Vgl. Parker 1984

EINLEITUNG

die eher als abschließender Ausblick angefügt wurde. Diese Lücke lässt sich auch noch für das folgende Jahrzehnt konstatieren. Eine beachtliche Anzahl von Publikationen der 1990er Jahre widmen sich historischen Textilien,20 während die Gegenwartskunst erst um die Jahrtausendwende verstärkt Beachtung findet. Hier ist zunächst (und wiederholt) die hierarchische Differenzierung von Kunst und Kunsthandwerk, art & craft, problematisiert worden, wobei sich sowohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen als auch Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Kunst- und Designbereiche um einen pluralistisch geführten Diskurs bemühen.21 Einen Schwerpunkt in der Beschäftigung mit Textilien bilden kulturwissenschaftliche Publikationen, die Handarbeiten als Gedächtnis- und Erinnerungspraktiken vorstellen. Ihr prozessualer, auf Wiederholung basierender Charakter, die Allgegenwart von Textilien im alltäglichen Lebensumfeld wurden mit kulturellen, 20 Vgl. Kramer-Egghardt, Barbara, Frauen und Tapisserien. Ihr Anteil am

Produktionsprozess von Wandbehängen, in: Blick-Wechsel. Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Ines Lindner, Sigrid Schade, Silke Wenk und Gabriele Werner (Hg.), Berlin 1989, S. 231-241. Brassat, Wolfgang, Tapisserien und Politik. Funktionen, Kontexte und Rezeption eines repräsentativen Mediums, Berlin 1992. Franke, Birgit, Assuerus und Esther am Burgunderhof. Zur Rezeption des Buches Esther in den Niederlanden (1450 bis 1530), Berlin 1998. Nierhaus, Irene, ARCH6. Raum. Geschlecht. Architektur, Wien 1999. Signori, Gabriela (Hg.), Lesen, Schreiben, Sticken und Erinnern. Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte mittelalterlicher Frauenklöster, Bielefeld 2000. Bischoff, Cordula, ›...mit eigener hoher Hand genähet...‹ zur Funktion textiler Handarbeiten von Fürstinnen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Visuelle Repräsentanz und soziale Wirklichkeit, Festschrift für Ellen Spickernagel, Christiane Keim (Hg.), Herbolzheim 2001, S. 37-51. Carroll, Jane R. und Alison G. Stewart (Hg.), Saints, Sinners and Sisters. Gender and Northern Art in Medieval and Early Modern Europe, Adlershot 2003. Krause, Katharina, Material, Farbe, Bildprogramm der Fastentücher. Verhüllung in Kirchenräumen des Hochund Spätmittelalters, in: Das Goldene Wunder in der Dortmunder Petrikirche. Bildgebrauch und Bildproduktion im Mittelalter, Thomas Lentes, Heike Schlie und Barbara Welzel (Hg.), Gütersloh 2003, S. 161-181. Zur weiterführenden Auswertung der historischen Textilforschung vgl. bibliografische Angaben bei Tammen 2006, S. 223, Fn. 59-63 21 Vgl. Rowley, Sue (Hg.), Craft and contemporary theory, St Leonards 1997. John,

Jennifer, Sigrid Schade (Hg.), Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Bielefeld 2008

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NADELSTICHE. Sticken in der Kunst der Gegenwart

nationalen und auch individuellen Ritualen der Identitätskonstruktion in Verbindung gebracht.22 Dabei werden textile Kunstwerke häufig beispielhaft angeführt, ohne sie einer eingehenden Bildanalyse zu unterziehen. Dies betrifft auch neuere kunsthistorische Überblicksaufsätze, die sich in erster Linie darauf konzentrieren, das breite Auftreten textiler Arbeitsweisen in der Kunst vorzustellen und Traditionslinien vorzuschlagen.23 Darüber hinaus findet die Reflexion textiler Arbeitsweisen im aktuellen Kunstbetrieb vor allem in Ausstellungskatalogen und -rezensionen statt. Auch hier ging in den 1980er Jahren eine impulsgebende Wirkung von Rozsika Parkers Untersuchung aus, der 1988 unter dem übergeordneten Titel The subversive stitch zwei Ausstellungen folgten. Embroidery in women’s lives 1300-190024 thematisierte Stickereien in historischer Perspektive, während Women and textiles today25 über Rozsika Parkers Untersuchungsrahmen hinausgehend den Schwerpunkt auf zeitgenössische künstlerische Positionen legte. Pennina Barnett, die die aktuelle Sektion zusammen mit Bev Bytheway kuratierte, bedauerte fünf Jahre später, dass diese beiden Ausstellungen einen überraschenden Endpunkt in der Diskussion markierten. 22 Rowley, Sue (Hg.), Reinventing textiles. Tradition and innovation [1999], Bd.

1, Bristol 2004. Nixdorff, Heide (Hg.), Das textile Medium als Phänomen der Grenze – Begrenzung – Entgrenzung, Berlin 1999. Jefferies, Janis (Hg.), Reinventing textiles. Gender and identity, Bd. 2, Winchester 2001. Bachmann, Ingrid, Ruth Scheuing (Hg.), Material matters. The Art and Culture of Contemporary Textiles, Toronto 2002. Collett, Anne, Paul Sharrad (Hg.), Reinventing textiles. Postcolonialism and creativity, Bd. 3, Bristol 2004 23 Vgl. Jefferies, Janis, Textiles, in: feminist visual culture, Fiona Carson und

Claire Pajaczkowska (Hg.), New York 2001, S. 189-205. Tammen 2006. Kuni, Verena, ›Not your granny’s craft‹? Neue Maschen, alte Muster. Ästhetiken und Politiken von Nadelarbeit zwischen Neokonservatismus, ›New Craftivism‹ und Kunst, in: Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Jennifer John und Sigrid Schade (Hg.), Bielefeld 2008, S. 169-191. Gaugele, Elke und Verena Kuni, Embrace Domesticity – Freundschaft schließen mit der Häuslichkeit?, in: FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, H. 46, Dez. 2008, S. 70-78 24 Vgl. The subversive stitch. Embroidery in women’s lives 1300-1900 (Ausst.-Kat.),

Whitworth Art Gallery, Manchester 1988 25 Vgl. The subversive stitch. Women and textiles today (Ausst.-Kat.), Cornerhouse,

Manchester/ Watermans Art Centre, Brentford/ Cooper Art Gallery, Barnsley/ City Museum and Art Gallery, Plymouth/ Wolverhampton Art Gallery 1988-89

EINLEITUNG

»At the time [1988/89] they attracted a good deal of interest. Since then few galleries have explored the issue further. Were these concerns particular to a generation of feminists? Or is there, perhaps, a final irony: that it is in the nature of such ›blockbuster‹ exhibitions to close debates, rather than to open them – because mainstream institutions assume that these issues have now, once and for all, been addressed?«26

Dass ihr pessimistisches Resümee verfrüht erfolgte, zeigt die seit den 1990er Jahren kontinuierlich zunehmende Anzahl von Ausstellungen, die sich textilen Medien widmen. Die zwei zentralen Fragestellungen jeder Ausstellung kreisen um den Status des textilen Materials und der textilen Arbeitsweisen im Kunstbetrieb einerseits und ihre geschlechtsspezifische Vergangenheit andererseits. Dabei werden durchaus unterschiedliche Argumentationsweisen herausgebildet, um textile Materialien im Kunstkontext zu nobilitieren. Vor allem in den USA und in Großbritannien wird in Ausstellungen textiler Medien immer wieder ihr Status verhandelt, indem die Unterscheidung Kunst versus Kunsthandwerk, art & craft, problematisiert wird.27 Dies fällt vor allem in Abgrenzung zu Ausstellungsprojekten des europäischen Festlands auf, wo dieses Thema einem Meidungsgebot zu unterliegen scheint. Textile Kunstwerke werden hier losgelöst von jeder kunsthandwerklichen Tradition präsentiert. Auch die Frage nach dem Aussagepotential textiler Arbeitsweisen im Hinblick auf 26

Barnett, Pennina, Afterthoughts on curating ›The subversive stitch‹, in: New feminist art criticism. Critical strategies, Katy Deepwell (Hg.), Manchester 1995, S. 76-86, hier S. 76

27 Vgl. Out of the Frame. Historical and Contemporary Embroidery (Ausst.-Kat.),

Crafts Council Gallery, London/ Wakefield Art Gallery, West Yorks/ Herbert Gallery and Museum, Coventry/ Aberystwyth Art Centre, Aberystwyth 1992-93. Interlacings. The craft of contemporary art (Ausst.-Kat.), Whitney Museum of American Art, New York 1998. Loose Threads (Ausst.-Kat.), Serpentine Gallery, London 1998. Uncommon Threads. Contemporary Artists and Clothing (Ausst.-Kat.), Museum of Art, Ithaca 2001. Radical Lace & Subversive Knitting (Ausst.-Kat.), Museum af Arts & Design, New York 2007. Wild Styles: Hot Craft. Cutting Edge Contemporary Craft, Sesam Gallery, London 2007. Zwei Ausstellungsbeispiele aus dem deutschsprachigen Raum: Objekttextilbild. Kunst mit Textil (Ausst.-Kat.), Landesgalerie, Linz 1994-95. Kunst Stoff. Wesshalb die textilen Künste vorauszuschicken sind. Gottfried Semper (Ausst.-Begleith.), Galerie Nächst St. Stephan, Wien 2004

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NADELSTICHE. Sticken in der Kunst der Gegenwart

Geschlechterkonstruktionen wird im englischsprachigen Raum offensiv formuliert, wobei die Bezugnahme auf feministische Arbeiten der 1970er Jahre in den Katalogtexten teilweise auch durch Abgrenzung erfolgt.28 Dagegen zeichnen sich die Präsentationen auf dem europäischen Festland dadurch aus, das traditionelle Image lediglich der Vollständigkeit halber zu tangieren, dieses Thema dann zügig zu verlassen und stattdessen an vereinzelt kanonisierte ›Vorbilder‹ in der Kunstgeschichte zu erinnern. Vor allem aber lässt sich eine Tendenz erkennen, das Auftauchen textiler Techniken als geschichtslosen und innovativen Trend der Gegenwartskunst zu behandeln.29 Die hier zunehmenden nebulösen Formulierungen im Zusammenhang mit der geschlechtsspezifischen Vergangenheit textiler Arbeitsweisen werden von der Suche nach anderen Traditionen begleitet. Dazu dient beispielsweise der Verweis auf mythologische Figuren. Hier treten Ariadne,30 Athena und Arachne,31

28 Guys Who Sew (Ausst.-Begleith.), University Art Museum, Santa Barbara 1994.

Conceptual Textiles. Material Meanings (Ausst.- Kat.), John Michael Kohler Arts Center, Sheboygan 1995-96. A Labor of Love (Ausst.-Kat.), The New Museum of Contemporary Art, New York 1996. Thread of vision. Toward a new feminine poetics (Ausst.- Kat.), Cleveland Center for Contemporary Art 2001. Boys Who Sew (Ausst.-Kat.), Crafts Council, London/ Aberystwyth Arts Centre, Wales/ MAC, Birmingham/ Wolsey Art Gallery, Ipswich/ Art Gallery, Huddersfield 2004-05. Gender stitchery, Art Gallery Carleton College, Northfield 2007 29 Thread (Ausst.-Kat.), Cristinerose Gallery, New York 1997. Hand-Arbeit

(Ausst.-Kat.), Haus der Kunst, München 2000-01. art through the eye ot the needle (Ausst.-Kat.), henie onstad kunstsenter, Oslo 2001. nahtlos. Mit Nadel und Faden zur Kunst (Ausst.-Begleith.), Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 2001. Il racconto del filo. Ricamo e cucito nell‘arte contemporanea (Ausst.-Kat.), Museo di Arte Moderna e Contemporanea di Trento e Rovereto, Rovereto 2003. flexible 4 identities (Ausst.-Kat.), The Whitworth Art Gallery, Manchester/ Nederlands Textielmuseum, Tilburg/ Kunsthalle Brandts Klædefabrik, Odense/ Landesgalerie, Linz/ Rheinisches Industriemuseum/ Euskirchen 2003-05. Thread – International group exhibition (Ausst.-Begleith.), Koroška Gallery of Fine Arts, Slovenj Gradec 2007 30 Vgl. Inboden, Gudrun, Interpretieren ist nichtig, in: Rosemarie Trockel Werk-

gruppen 1986-1998 (Ausst.-Kat.), Staatsgalerie, Stuttgart/ M.A.C., Marseille 1998, S. 9-16, hier S. 10f 31 Vgl. Maharaj, Sarat, Arachne’s Genre. Towards inter-cultural studies in textiles,

in: Journal of Design History, 1991, Jg. 4, Nr. 2, S. 75-96

EINLEITUNG

die drei Parzen32, Penelope33 oder auch Herakles34 auf, um das kulturelle Gewicht von Textilien zu belegen. Selten ergeben sich diese Bezüge zwingend aus den besprochenen Kunstwerken oder können ihr Verständnis befördern. Im Unterschied zu diesen Herangehensweisen ist es mein Anliegen, das Aussagepotential der Technik ausgehend von konkreten Kunstwerken zu exemplifizieren, die in typologischen Gruppierungen vorgestellt und analysiert werden. Ich konzentriere mich in meiner Auswahl überwiegend auf Werke, die sich durch eine Auseinandersetzung mit den traditionellen Konnotationen auszeichnen, ohne diese affirmativ zu wiederholen. Damit stehen Arbeiten im Vordergrund, die die Konventionen der Geschlechterordnung ebenso berücksichtigen wie die Kategorien der Kunstgeschichte. Während Letztere durch den konsequenten Einsatz der pejorativ besetzten Arbeitsweise herausgefordert werden, entwickelt sich im Bereich der Geschlechterordnung durch die ›vorlagengetreue‹ Imitation des traditionellen Image ein subversives Potential. In beiden Fällen werden die oft zur Unlesbarkeit geronnenen Übereinkünfte durch kritische Reproduktionen zur Disposition gestellt. Bei der Untersuchung des Argumentationspotentials geht es mir nicht um die definitorische Festschreibung der Sticktechnik. Vielmehr steht die Variationsbreite der Arbeitsweise im Zentrum, wie sie sich im gegenwärtigen Mainstream-Kunstbetrieb darstellt. Dass die Semantik von Stickereien historisch kulturellen Wandlungen unterliegt, dürfte unbestritten sein.35 Es ist darüber hinaus wichtig zu betonen, dass diese Semantik auch in zeitgenössischen Positionen variiert und aktuelle Ansätze und ihre Diskursivierung zukünftige Verschiebungen initiieren.36 32 Vgl. Bianchi, Paolo, Katze Tiger Schmetterling, in: Wolle 2. embroidered images,

Marion Strunk (Hg.), Zürich 1999, S. 49-54, hier S. 54 33 Scheuing, Ruth, The Unravelling of History. Penelope and Other Stories, in:

Material matters. The art and culture of contemporary textiles, Ingrid Bachmann und Ruth Scheuing (Hg.), Toronto 2002, S. 201-213 34 Vgl. Bianchi, Paolo, Das Selbst als (roter) Faden, in: Kunstforum International,

Bd. 181, Juli-Sept. 2006, S. 138-147, hier S. 138 35 Ich folge hier der Begrifflichkeit Monika Wagners, die von einer »Semantik

des Materials« spricht, die im Wesentlichen aus der alltäglichen Verwendung jenseits des Kunstbetriebs resultiert und historischen Wandlungsprozessen unterliegt. Vgl. Wagner, Monika, Material, in: Ästhetische Grundbegriffe, Karlheinz Barck (Hg.), Bd. 3, Stuttgart/ Weimar 2001, S. 866-882, hier S. 868 36 Hier ist vor allem auf eine enorme Beliebtheit textiler Handarbeiten im

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NADELSTICHE. Sticken in der Kunst der Gegenwart

Die kunstbetriebliche Anerkennung der Sticktechnik vollzieht sich unter den Bedingungen der Koexistenz von Prozessen der Resignifizierung einerseits und der andauernden Verbindung mit einem antiquierten Weiblichkeitsideal andererseits. Da sich die spezifische Semantik der Technik nach wie vor aus ihrer Funktionalisierung innerhalb des bürgerlichen Geschlechterverhältnisses ableitet, widme ich mich zunächst der Bedeutung von Stickereien in der Mädchenerziehung des 19. Jahrhunderts. Es ist bemerkenswert, wie multifunktional diese Arbeitsweise hier eingesetzt wurde. Stickereien dienten nicht nur zur Vermittlung von handwerklichem Geschick und ästhetischer Grundbildung. Anhand der Nadelarbeit wurden Mädchen zugleich im Rechnen, Lesen und Schreiben unterrichtet. Außerdem versprach die disziplinierende Arbeit auch die gewünschte moralische Entwicklung zu befördern, indem die Mädchen zu Sauberkeit, Fürsorglichkeit, sittsamer Körperhaltung und ruhiger Zurückgezogenheit angeregt wurden. Der Weg von diesem bürgerlichen Leitbild zum Kunstbetrieb der Gegenwart führt über feministische Auseinandersetzungen der frühen 1970er Jahre. Denn die Voraussetzung für die aktuelle Integration der Sticktechnik ist die Analyse ihrer traditionellen Konnotationen. Strategien der künstlerischen Dekonstruktion geschlechtsspezifischer Konventionen Zusammenhang mit diversen DIY-Initiativen hinzuweisen, die oftmals gut

im Internet vertreten sind, damit eine breite Wirksamkeit entwickeln und so wesentlich zur ›Imagebildung‹ beitragen. In diesen ›Handarbeits-Zirkeln‹ werden Informationen und Anleitungen – zum Teil angereichert mit sozialkritischen Perspektiven – ausgetauscht. Vgl u.a. URL: http://stitchnbitch. org/, 18.04.2010. http://www.craftivism.com/, 18.04.2010. Greer, Betsy, Knitting for Good! A guide to creating personal, social, and political change, stitch by stitch, Boston 2008. Darüber hinaus findet ein breiter Informationstransfer statt, der auch Ausstellungen, Pressestimmen etc. umfasst. Vgl. URL: http://www.getcrafty.com/, 18.04.2010. Vor allem aber bietet das Internet subversiv-künstlerischen Interventionen eine Präsentationsplattform, die das große Interesse am textilen Material gerade bei Studierenden und jungen AbsolventInnen von Kunstuniversitäten demonstrieren. Vgl. Wir sticken Fakten, in: diestandard, 21.08.2006, URL: http://diestandard. at/2556134, 18.04.2010. Craftivism. Reclaiming craft & creating community (Ausst.-Kat.), Lawton Gallery, Green Bay 2008. Aufstand der textilen Zeichen. Ein künstlerisch-subversives Experiment mit Netzwerkcharakter, Die Färberei Galerie, München 2009, URL: http://zeichenaufstand.wordpress.com/, 18.04.2010. Weitere Beispiele finden sich bei Verena Kuni, vgl. Kuni 2008.

EINLEITUNG

lassen sich exemplarisch am Ausstellungsprojekt Womanhouse, das 1971-1972 in Los Angeles realisiert wurde, sowie an der Einzelarbeit Ma collection de proverbes der französischen Künstlerin Annette Messager vorstellen. Meine Wahl fiel auf diese Positionen, da sich an ihnen die Thematisierung als ›weiblich‹ geltender Arbeitsweisen – und dies betrifft nicht nur die Sticktechnik – im Kunstbetrieb besonders anschaulich aufzeigen lässt. Sowohl das Ausstellungsprojekt Womanhouse als auch Annette Messager inszenieren den privaten Wohnraum als Produktionsund Präsentationsort von Kunst, wodurch der traditionelle Wirkungsort von Textilien zum Schauplatz künstlerischer Interventionen wird. Bezüge auf die Vergangenheit der Sticktechnik fallen in der Gegenwartskunst unterschiedlich aus, im Kapitel Konversationen. Das Come-Back historischer Stickereien untersuche ich zwei Varianten. Elaine Reichek rekurriert mit adaptierten Mustertüchern sowohl auf historische Sampler als auch auf feministische Traditionslinien, indem sie Sprüche der Künstlerinnen Jenny Holzer und Barbara Kruger integriert. Bei dieser Wiederauflage der historischen Übungs- und Repräsentationstücher entsteht quasi ein Palimpsest, auf dem Traditionelles von zeitgenössischen Fragmenten ergänzt und überschrieben wird. Während dieses Vorgehen eine sehr wörtliche Auseinandersetzung mit Stickereitraditionen darstellt, ist die Bezugnahme bei der folgenden Arbeit von Jochen Flinzer abstrakter. Im Dialog mit dem Teppich von Bayeux realisierte er den Teppich von Atlanta. Allerdings ersetzt Jochen Flinzer die kriegerische Erzählung durch einen Text, der auf einem Fernsehkommentar zum Zehnkampf bei den Olympischen Spielen 1996 basiert. Mit der Anlehnung an den mittelalterlichen Wandbehang verweist er auf einen Meilenstein der Stickereigeschichte und seine Rezeption innerhalb der Kunstgeschichtsforschung, die von geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen des 19. Jahrhunderts geprägt ist. In der Verschränkung der beiden ›Teppiche‹ gelingt es Jochen Flinzer, Überlegungen zu Vermittlungsmedien anzustoßen und die aneignende Rezeption der geschlechtlich strukturierten Darstellungskonventionen ins Bild setzen. Ein gestickter Farbeinsatz ist nicht nur eine formale Variation der Bildgenerierung. Aus der im Arbeitsprozess notwendigen körperlichen und zeitlichen Zuwendung resultiert ein Effekt der Verdichtung oder Intensivierung, der zu einer bedeutungsvollen Aufladung der Motive führt. Zur Konkretisierung dieser Wirkungsweise ziehe ich den Fetisch-Begriff heran, der eine vergleichbare Zuwendung umschreibt. Inwiefern und zu welchem Nutzen das Sticken als fetischisierende Arbeitsweise verstanden werden kann, wird anhand von Ghada Amers und Francesco Vezzolis Arbeiten

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NADELSTICHE. Sticken in der Kunst der Gegenwart

unter der Überschrift doing and undoing analysiert. Bei ihren großflächigen Stickereien dienen Ghada Amer Fotografien aus Pornomagazinen als Vorlagen. Dabei vervielfältigt und fragmentiert sie die weiblichen Figuren teilweise bis zur Abstraktion. Parzellierung, Wiederholung und Ritualisierung sind Prozesse, die Sticktechnik und Fetischisierung gemeinsam haben und denen sich auch Francesco Vezzoli in seiner Huldigung der Opernsängerin Maria Callas bedient. Mit den 63 partiell bestickten Porträts der Diva inszeniert sich der Künstler als Fan. Die Sticktechnik übersetzt die Verehrung und den Versuch der Annährung. Dass jedoch die zur Fetischisierung notwendigen Wiederholungen durch zahllose Vervielfältigungen auch die Unglaubwürdigkeit ihres ›Originals‹ vorführen, auch das wird an den Arbeiten nachvollzogen. Eine bestechende Eigenschaft der Technik ist ihre Ausdehnung in die dritte Dimension. Beim Sticken entstehen stets mehrere Oberflächen. Dieser Umstand wird zum Teil in der Ausstellungspraxis bedacht, indem Werke mehransichtig präsentiert sind. Darüber hinaus kann durch die Bearbeitung von dickerem Material von einer dritten, innerlichen Ebene gesprochen werden, die Wirksamkeit entfaltet, auch wenn sie unsichtbar bleibt. Diese Ausschweifungen in den Raum verbinden die Arbeiten von Mariann Imre und Barbara Nemitz, die Beton bzw. Erde als Trägermaterial wählen und die Technik als raumgreifende, dreidimensionale Arbeitsweise inszenieren. Die Kombination von Stickereien mit neueren Medien wird im letzten Kapitel untersucht. Bei den Medialen Interferenzen geht es um bestickte Fotografien der Künstlerin Marion Strunk, inszenierte Stickerei in Videos von Francesco Vezzoli und imitierte Stickästhetik in Software generierten Bitmap-Grafiken der KünstlerInnengruppe Delaware. Auf ihren Fotografien hält Marion Strunk alltägliche Motive und belanglos wirkende Räume fest, die häufig Spiegelungen, Klone und Kopien zum Thema haben. Diese motivischen Vervielfältigungen werden durch gestickte Hinzufügungen ergänzt. Die so entstehenden Collagen dienen als Ausgangspunkt, um die Stickerei ebenso wie die Fotografie als Gedächtnismedium zu untersuchen. Francesco Vezzoli inszeniert die Sticktechnik als melodramatischen Gestus par excellence. In seinen opulenten Videoarbeiten wiederholt er das Motiv der stickenden Staffagefigur, die im Autorenkino der 1960er und 1970er wiederholt als formelhafte Darstellung bürgerlicher Moral Verwendung fand. Vor allem aber wird die Handarbeit mit einer melodramatischen Stargenese in Verbindung gebracht, geeignet sowohl zur Repräsentation wie zur Rezeption der Star-Persona. Mit der KünstlerInnengruppe Delaware finden schließlich digitale Bilder Eingang

EINLEITUNG

in diese Untersuchung. Nadel, Faden und Träger werden durch Tastatur, Maus, Soft- und Hardware ersetzt. Hier wird nicht gestickt, vielmehr werden Bilddateien erstellt. Damit sind nicht bestickte Vorlagen gemeint, die eingescannt und digitalisiert weiter Verwendung finden. Die Rede ist von Grafiken, die zu keinem Zeitpunkt als textile Objekte existieren müssen, sondern in einem Computerprogramm erstellt und durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien verbreitet werden. Zu fragen ist, welche Funktion die digitale Stickästhetik bei der Etablierung, Aneignung und Personalisierung dieser Technologien übernimmt.

DANK Die vorliegende Publikation wurde im Wintersemester 2008 unter dem Titel Nadelstiche. Sticken als künstlerische Praxis der Gegenwart vom Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität (Marburg) als Dissertation angenommen. Mein erster und besonderer Dank gilt den Gutachterinnen dieser Dissertation Prof. Dr. Barbara Paul und Prof. Dr. Katharina Krause. Beide haben mich seit meinem Studium in meinen Fragestellungen unterstützt. Die Anregungen und fördernde Kritik, die ich in zahlreichen Gesprächen mit Prof. Dr. Barbara Paul erhielt, lieferten mir viele produktive Impulse und haben wesentlich zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen. Für punktuelle Hinweise und das Interesse an meinen Forschungen danke ich außerdem Prof. Sue Rowley und Prof. Dr. Silke Tammen. Die finanzielle Realisierung dieser Dissertation übernahm im Wesentlichen die Deutsche Forschungsgemeinschaft durch das Graduiertenkolleg Psychische Energien bildender Kunst an der Johann Wolfgang Goethe Universität (Frankfurt a.M.). Das Stipendium ermöglichte mir zwei Auslandsaufenthalte in London und New York und sorgte dafür, dass ich meinen Horizont über mein Thema hinaus erweitern konnte. Von den in dieser Arbeit behandelten Künstlerinnen und Künstlern möchte ich namentlich Ghada Amer, Jochen Flinzer, Mariann Imre, Barbara Nemitz, Masato Samata und Marion Strunk danken, die mich durch die Bereitstellung von vergriffenen Ausstellungskatalogen und Bildmaterial unterstützten und mich in intensiven Gesprächen stets motivierten, mein Vorhaben voranzutreiben. Außerdem wurden meine Recherchearbeiten durch Bibliotheken und Archive des Crafts Council (London), der documenta (Kassel), des Museums für Moderne Kunst (Frankfurt a.M.), des Museum of Modern Art (New York), der Tate

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Dank

Gallery (London) sowie durch folgende Galerien erleichtert: Annina Nosei Gallery (New York), Anthony d’Offay Gallery (London), Centre Culturel Contemporain (Tours), Gagosian Gallery (New York), Galerie Anita Beckers (Frankfurt a.M.), Dörrie*Priess (Hamburg), Galerie Nächst St. Stephan (Wien), Galerie Neu (Berlin), Galerie für zeitgenössische Kunst (Leipzig). Und schließlich möchte ich einen persönlichen Dank an Nicole Graul und Patrick Ehnis aussprechen, die mich seit sechzehn Jahren durch kleinere und größere Katastrophen begleiten.

DIE STICKERIN ALS LEITBILD DES BÜRGERLICHEN INTERIEURS In seinem einflussreichen Werk Emile oder Über die Erziehung verglich Jean-Jacques Rousseau 1762 das Mikrosystem Familie mit den Erfordernissen des Makrosystems Nation.1 Familie und Staat wurden metaphorisch miteinander verknüpft. Ein ›guter Bürger‹ qualifiziere sich erst durch die Erfüllung familiärer Aufgaben zur Lösung seiner nationalen Pflichten. Die Bedürfnisse des Staates wurden zum Maßstab für die Familienstruktur und vor allem für die Erziehung künftiger Bürgerinnen und Bürger. Um sie zur Übernahme ihrer Staatspflichten zu befähigen, waren sie vor allem auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vorzubereiten: »Ist es einmal bewiesen, daß Mann und Frau nicht gleichartig sind noch sein dürfen, weder von Charakter noch von Anlagen, so folgt daraus, daß sie nicht die gleiche Erziehung genießen dürfen. Sollen sie den Weisungen der Natur folgen, müssen sie im Einvernehmen handeln, aber nicht das gleiche tun: das Ziel der Arbeiten ist das gleiche, aber die Arbeiten selbst und folglich die Neigungen, die sie bestimmen, sind unterschiedlich.« 2

In seinem durchaus fortschrittlichen Erziehungsroman widmet sich Jean-Jacques Rousseau der idealtypischen Entwicklung eines imaginierten Ziehsohns Emile. Auf Fragen der Mädchenbildung kommt er im fünften und letzten Kapitel überhaupt nur zu sprechen, da sie am erfolgreichen Abschluss der Jungenerziehung Anteil hat. Denn die Wahl einer geeigneten Partnerin und der Übertritt in den Stand der Ehe ist die letzte Hürde, um den Status eines vollwertigen Bürgers zu erreichen. So muss auch Sophie, die idealtypische Vertreterin ihres Geschlechts, auf ihre Rolle vorbereitet werden.

1

Vgl. Rousseau 1762, S. 730

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Rousseau 1762, S. 730

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NADELSTICHE. Sticken in der Kunst der Gegenwart

»Sophie muß Frau sein, so wie Emile Mann ist, das heißt sie muß alles besitzen, was der Konstitution ihrer Gattung und ihres Geschlechts entspricht, um ihren Platz in der physischen und geistigen Ordnung ausfüllen zu können.«3

Paradoxerweise bedurfte die erklärt genuine Berufung der Frau zur Ehefrau und Mutter, trotz ihres angenommenen Naturdeterminismus, einer umsichtigen Erziehung. Zu ihr gehörte – und da sind sich alle Erziehungsschriften einig4 – die textile Handarbeit. »(…) tatsächlich lernen fast alle kleinen Mädchen mit Widerwillen lesen und schreiben, aber sie lernen immer gern, wie man eine Nadel führt. Sie sehen sich schon als Erwachsene und denken voller Lust daran, daß diese Fähigkeit ihnen eines Tages dazu dienen wird, sich herauszuputzen. Ist der Anfang dieses ersten Wegs gefunden, kann man ihm leicht weiter folgen: nähen, sticken und Spitzen machen kommen von allein. (…) Diese aus freien Stücken gemachten Fortschritte lassen sich leicht bis zum Zeichnen ausdehnen, denn diese Kunst ist der, sich mit Geschmack zu kleiden, nahe verwandt: ich möchte jedoch durchaus nicht, daß man sie dazu verwendet, Landschaften zu zeichnen, und noch weniger Figuren. Laubwerk, Früchte, Blumen, Draperien, alles was danach angetan ist, einem Kleidungsstück eine elegante Linie zu geben, selbst eine Stickvorlage zu machen, wenn man keine andere findet, die einem gefällt – das genügt für sie.«5

Zahlreiche Untersuchungen zur Geschichte der Mädchenbildung unterstreichen den Umstand, dass textile Handarbeiten nicht nur aus praktischen Erwägungen für notwendig erachtet wurden, um Mädchen zur Herstellung und Instandhaltung von textilen Gebrauchsgütern zu befähigen.6 Über die Vermittlung von handwerklichem Geschick und ästhetischem Einfühlungsvermögen hinaus sollte die Beschäftigung mit textilen Arbeiten zur Weitergabe des bürgerlichen Moralkodex dienen. 3 4

Rousseau 1762, S. 719 Vgl. Sulzer, Johann Georg, Anweisung zu Erziehung seiner Töchter, Zürich 1781. Gleim, Betty, Über die Bildung von Frauen und die Behauptung ihrer Würde in den wichtigsten Verhältnissen ihres Lebens. Ein Buch für Jungfrauen, Gattinnen und Mütter, Bremen/ Leipzig 1814. Campe, Joachim Heinrich, Väterlicher Rat für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet, Braunschweig 1819

5

Rousseau 1762, S. 739f

6

Vgl. Zander, Sylvina, Zum Nähen wenig Lust, sonst ein gutes Kind... Mädchenerziehung und Frauenbildung in Lübeck, Lübeck 1996, S. 121

DIE STICKERIN ALS LEITBILD DES BÜRGERLICHEN INTERIEURS

Durch die repetitive Arbeit ließen sich Eigenschaften wie Fleiß, Sparsamkeit, Geduld und eine Sensibilität für Sauberkeit und Ordnung vermitteln. Die körperlich disziplinierende Handarbeit versprach zudem, eine gewisse Innerlichkeit, Keuschheit und Sittlichkeit zu fördern, zumindest waren die Mädchen während des Arbeitsprozesses »sinnlich, gedanklich und physisch gebunden«.7 Dagmar Ladj-Teichmann hat in diesem Zusammenhang auf die repressive Wirkung von Textilarbeiten hingewiesen: »Ein disziplinierter Geist, eine kontrollierte Phantasie und eine erfolgreich beherrschte Sexualität setzen einen disziplinierten Körper voraus. Diszipliniertes Sitzen und Bewegen sowie gleichförmiges Arbeiten sollten der Frau zur ›zweiten Natur‹ werden: Etwas, das die Frau als zu sich selbst gehörig empfinden sollte, etwas, woran sie sich im wahrsten Sinne des Wortes festhalten konnte. Gleichförmiges, geübtes Handarbeiten fördert die Geduld, gibt die Möglichkeit, sich in Gesellschaft mit anderen zurückzuziehen und kanalisiert unbeherrschte, ›unsittliche‹ Motorik.« 8

Es überrascht nicht, dass diese enge Verknüpfung textiler Techniken mit körper- und geistdisziplinierender Fleißarbeit sie als Ausdrucksmittel der ›hohen‹ Künste disqualifizierte. Stattdessen avancierten Stickereien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts »zur Lieblingsbeschäftigung nahezu aller Frauen des Bürgertums«.9 Sie wurden zu einem genuinen Merkmal des weiblichen Geschlechtscharakters, zu dessen Konstituierung sie gleichsam beitrugen. »(…) in the nineteenth century, embroidery and femininity were entired fused, and the connection was deemed to be natural. Women embroidered because they were naturally feminine and were feminine because they naturally embroidered.«10

7

Schmuck, Beate, Mustertücher aus einer Dortmunder Schule im Hause Herbrecht. Dokumente Schulischer Erziehung Dortmunder Mädchen im Spiegel sich wandelnder Lebensverhältnisse und Erziehungsvorstellungen in der Zeit von 1700-1850, Bochum 1994, S. 199

8

Ladj-Teichmann, Dagmar, Erziehung zur Weiblichkeit durch Textilarbeiten. Ein Beitrag zur Geschichte der Frauenbildung im 19. Jahrhundert, Weinheim/ Basel 1983, S. 209

9

Grönwoldt, Ruth, Stickereien von der Vorzeit bis zur Gegenwart. Aus dem Besitz des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart und der Schlösser Ludwigsburg, Solitude und Monrepos, München 1993, S. 190

10 Parker 1984, S. 11

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NADELSTICHE. Sticken in der Kunst der Gegenwart

So manifestierte sich ein Konnex von Nadelarbeit, Weiblichkeit und der häuslichen Sphäre, in der diese Arbeiten praktiziert wurden. Das ›Familienheim‹ war nicht nur der Gebrauchs- sondern auch der Ausstellungsort von Textilien. Denn die Einrichtung des Hauses wurde zunehmend von Stickereien geprägt. Als repräsentative Objekte konnten sie Nutzung und Status von Räumen anzeigen. Im Unterschied zu anderen textilen Techniken, die primär der Bedarfsdeckung an Kleidung, Bettzeug, Tischdecken oder Handtüchern dienten, waren Stickarbeiten zur Demonstration von Wohlstand und einer gehobenen gesellschaftlichen Stellung einsetzbar. Das zeitaufwendige Verarbeiten von kostbaren Materialien, beispielsweise in der Seidenstickerei, galt als Luxus-Handarbeit, die zur Reputation der Familie beitrug. Die nadelarbeitende Frau wurde selbst Teil eines ›settings‹, das in zahlreichen Porträt- und Innenraumdarstellungen ein bürgerliches Familienideal verkörperte (Abb. 1).11 »Die Handarbeit galt als die Verortung der Frau in der Wohnung schlechthin. Schon allein das Vorhandensein ›weiblicher Handarbeiten gebe die Anwesenheit einer Hausfrau zu erkennen‹, formulierte der Wohntheoretiker Lothar Abel; so gibt es eine Reihe von Innenraumbildern, wo keine Frau, aber liegengebliebene Handarbeit zu sehen ist.«12

Textile Handarbeiten vermittelten eine bürgerlich verklärte Gemütlichkeit und dienten damit der Inszenierung eines familiären Rückzugs- und Regenerationsbereichs. Bekanntermaßen förderte die in der Aufklärung favorisierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung eine dichotome Entgegensetzung von öffentlichen und privaten Räumen.13 Das Haus bzw. die Wohnung wurde zunehmend als Reproduktions- und Freizeitort 11 Vgl. Sanft und engelsgleich 1995-96 (Ausst.-Kat.), S. 151-163. Sirna 2007 12 Nierhaus 1999, S. 98 13 Bock, Gisela und Barbara Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen Juli 1976, Berlin 1977, S. 118-199. Hausen, Karin, Die Polarisierung der ›Geschlechtercharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Werner Conze (Hg.), Stuttgart 1978, 363-393. Bovenschen, Silvia, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a.M. 1979. Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das

DIE STICKERIN ALS LEITBILD DES BÜRGERLICHEN INTERIEURS

Abb. 1: Begas, Die Begas Familie, 1821

beschrieben, dessen Organisation Frauen obliegen sollte.14 Die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre wird in der Geschichtswissenschaft inzwischen weniger als historische Realität denn als gesellschaftliche Norm verstanden. Tatsächlich waren diese Wirkungsräume durchaus permeabel, wie in Detailstudien deutlich wird.15 Nichtsdestotrotz fungierte die rigide Aufgabentrennung als mustergültige Idealvorstellung, die eine »Leitfigur für kulturelle Produkte in Kunst und Wissenschaft«16 lieferte. Dies lässt sich am symbolischen Einsatz textiler Handarbeiten exemplifizieren. Für die historische Situation des 19. Jahrhunderts wäre es naheliegend, Textilien im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Konsequenzen der wachsenden Industrialisierung zu diskutieren. Und selbst als Heimarbeit müssten sie vornehmlich als Erwerbsarbeit betrachtet werden, stellten sie doch eine wichtige finanzielle Verdienstmöglichkeit Weib. 1750-1850, Frankfurt a.M./ New York 1991. Rössler, Beate, Der Wert des Privaten, Frankfurt a.M. 2001. Opitz, Claudia, Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte, Tübingen 2005, S. 156-187 14 Vgl. Nierhaus 1999, S. 124 15 Vgl. Lundt, Bea, ›Öffentlichkeit‹ und ›Privatheit‹ in der Historischen Geschlechterforschung, in: Das Private neu denken. Erosionen, Ambivalenzen, Leistungen, Karin Jurczyk und Mechthild Oechsle (Hg.), Münster, 2007, S. 48-68 16 Lundt 2007, S. 65

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NADELSTICHE. Sticken in der Kunst der Gegenwart

für Frauen und Männer dar.17 Dennoch funktioniert das Bild der handarbeitenden Frau bis heute fast ungebrochen als gesellschaftliches Leitbild, das ›weibliche‹ Fürsorgequalitäten vermittelt. Die stickende Frau repräsentiert durch ihre Handarbeit eine Mixtur aus Fleiß, Ordnung, Sparsamkeit sowie körperlicher und damit sexueller ›Sittsamkeit‹. Sie empfiehlt sich damit auch als Verkörperung von Treue und Pflichterfüllung im nationalen Kontext. Ganz im Sinne Jean-Jacques Rousseaus demonstriert sie ein harmonisches, wertekonservatives Familienleben und damit die Bereitschaft zur Aufrechterhaltung der auf diesem Wertekanon fußenden staatlichen Ordnung. In Anlehnung an den von Christina von Braun eingeführten Begriff des ›kollektiven Imaginären‹ sind Stickereien als repräsentativer Bestandteil eines bürgerlichen Idealentwurfs zu verstehen. Dieses ›kollektive Imaginäre‹ setzt sich aus sogenannten ›Leitfiguren‹ zusammen, mit denen Christina von Braun auf Walter Benjamins Konzept der ›Wunschbilder‹ rekurriert. Sie werden zu bestimmten Zeiten herausgebildet und sind nur retrospektiv, aus temporaler Distanz hinterfragbar. Entsprechend besteht bei Christina von Braun das ›kollektive Imaginäre‹: »aus den historisch wandelbaren Leitbildern oder Idealentwürfen, die jede Epoche hervorbringt und die dazu beitragen, das Selbstbild der Gesellschaft dieser Epoche zu prägen. Dabei ist allen Idealentwürfen des kollektiven Imaginären gemeinsam, daß sie auf die eine oder andere Weise eine ›Heilsbotschaft‹ transportieren, die die Aufhebung menschlicher Versehrtheit beinhaltet.«18

Als ein solches historisches Leitbild verstehe ich das Image der stickenden Frau. Sie suggerierte durch ihre Arbeit eine intakte, werte-konservative Familienstruktur und konnte positive identifikatorische Bedürfnisse erfüllen. Je mehr Nadelarbeiten mit der symbolischen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft amalgamierten, umso schwerer fiel es, sie als künstlerische Techniken zu betrachten. Daran änderten auch Bewegungen wie Arts & Crafts in England oder nachfolgend das Bauhaus in Deutschland nichts. Beide Strömungen verstanden sich als gesellschaftliche Reformbewegungen, in denen die bildende Kunst, Kunsthandwerk und Architektur im Sinne eines Gesamtkunstwerks zusammengeführt werden sollten. In diesem Kontext wurden auch textile Techniken als künstlerische Ausdrucksmittel behandelt, allerdings nicht als gleichrangig begriffen. Zu nachhaltig wirkten 17 Vgl. Ladj-Teichmann 1983, S. 37 18 Braun 2001, S. 278f

DIE STICKERIN ALS LEITBILD DES BÜRGERLICHEN INTERIEURS

hier die bürgerlichen Bemühungen, textile Arbeiten an Frauen zu delegieren und der privaten Sphäre zuzuordnen. So wurden Nadelarbeiten in der Arts & Crafts Bewegung häufig von Frauen außerhalb der Werkstätten in Heimarbeit ausgeführt. Von dem Gesamtentwurf blieben sie damit nicht nur örtlich marginalisiert.19 Auch das Bauhaus hielt sich an die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Frauen wurden überwiegend in Werkstätten beschäftigt, die gegenüber der Architektur als untergeordnet galten. So beschrieb Walter Gropius 1921 die Werkstattrealität folgendermaßen: »Nach unseren Erfahrungen ist es nicht ratsam, daß Frauen in schweren Handwerksbetrieben wie Tischlerei usw. arbeiten. Aus diesem Grunde bildet sich im Bauhaus mehr und mehr eine ausgesprochene Frauenabteilung heraus, die sich namentlich mit textilen Arbeiten beschäftigt, auch Buchbinderei und Töpferei nehmen Frauen auf. Gegen die Ausbildung von Architektinnen sprechen wir uns grundsätzlich aus.«20

Diese Kompetenzzuweisung eröffnete zwar Zugangsmöglichkeiten zum Kunstbetrieb, enthielt den Studentinnen aber auch prestigeträchtige Felder vor. Die körperliche Belastungsfähigkeit von Frauen anzuzweifeln, wird spätestens beim kategorischen Ausschluss aus dem Architekturstudium fadenscheinig. Da Frauen der Zugang zu einflussreichen Arbeitsbereichen bereits in ihrer Ausbildung versagt blieb, konnten sie sich auch nicht für entsprechende Positionen innerhalb der Institution qualifizieren. Weibliches Lehrpersonal gab es am Bauhaus bezeichnender Weise nur in der Textilwerkstatt.21 Auch aus Stellungsnahmen der Meisterinnen spricht die nachhaltige Verknüpfung von ›Weiblichkeit‹ und Textilem. So schrieb Gunta Stölzl »Die Weberei ist vor allem Arbeitsgebiet der Frau. Das Spiel mit Form und Farbe, gesteigertes Materialempfinden, starke Einfühlungsund Anpassungsfähigkeiten, ein mehr rhythmisches als logisches Denken sind allgemein Anlagen des weiblichen Charakters, der besonders befähigt ist, auf dem textilen Gebiet Schöpferisches zu leisten.«22 19 Callen 1995, S. 159 20 Zit. nach: Baumhoff, Anja, Frauen am Bauhaus – ein Mythos der Emanzipation, in: Bauhaus, Jeannine Fiedler und Peter Feierabend (Hg.), Köln 1999, S. 96-107, hier S. 102 21 Vgl. Baumhoff 2001, S. 100-116. Smith 2008 22 Gunta Stölzl: Meisterin am Bauhaus Dessau. Textilien, Textilentwürfe und freie Arbeiten 1915-1983 (Ausst.-Kat.), Stiftung Bauhaus Dessau/ Städtische Kunstsammlung Chemnitz/ Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg 1997-98, S. 42

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Feministische UmRäumungen

Und Anni Albers erinnerte sich: »Weben hielt ich für weibisch. Ich war auf der Suche nach einem richtigen Beruf. Und so fing ich ohne Begeisterung mit dem Weben an, da ich mit dieser Wahl nun einmal am wenigsten Anstoß erregte.«23 Die geschlechtsspezifischen Konnotationen von Textilarbeiten und ihre gesellschaftliche Funktionalisierung blieben im Bauhaus weitgehend unreflektiert, was eine effektive Aufwertung verhinderte. Dies wiederum führte zu ihrer Marginalisierung in der nachfolgenden kunsthistorischen Rezeption.24 Haben die traditionellen Konnotationen zum weitgehenden Ausschluss der Technik aus dem Kunstbetrieb geführt, so liegt die Vermutung nahe, dass das gegenwärtig vorherrschende Interesse nicht nur auf Modifikationen des Kunstbegriffs zurückzuführen ist, sondern aus Veränderungen der gesellschaftlichen Geschlechterordnung resultiert. Denn die Leitfiguren des kollektiven Imaginären üben »nur so lange eine Macht über das Individuum aus, wie sie nicht als Phantasien – oder Imaginationen – erkannt, d.h. ›lesbar‹ werden. Sie ›funktionieren‹, solange sie als ›Wirklichkeit‹ gelten.«25 Erst der Bedeutungsverlust der Sticktechnik in der Konstitution und Repräsentation eines stereotyp ›weiblichen‹ Geschlechtscharakters ermöglichte ihre umfassende Anerkennung als künstlerische Ausdrucksweise. Mit anderen Worten, ›die Stickerin‹ musste als Leitbild des kollektiven Imaginären lesbar und damit unwirksam werden. Die hierfür notwendigen Veränderungen im bürgerlichen Wertekodex initiierten in erster Linie feministische Interventionen der 1970er Jahre.

FEMINISTISCHE UMRÄUMUNGEN Als umfassende Gesellschaftskritik analysierten feministische Theoretikerinnen der 1960er und 1970er Jahre strukturelle Voraussetzungen des Geschlechterverhältnisses. Die rigide Trennung von öffentlichen und privaten Bereichen, die – unter anderem – geschlechtlich organi23 Zit. n. Lavin, Maud, Anni Albers. Eine moderne Frau und ihr Lebenswerk, in: Bauhaus Dessau – Chicago – New York, Georg-W. Költzsch und Margarita Tupitsyn (Hg.), Köln 2000, S. 46-57, hier S. 49 24 Paul, Barbara, ›...noch kein Brotstudium‹ – Zur Ausbildungs- und Berufssituation der ersten Kunsthistorikerinnen in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts, in: kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, H. 4, Jg. 22, 1994, S. 6-21, bes. S. 13-16 25 Braun 2001, S. 279f

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sierten Zugangsbeschränkungen und die Geringschätzung unbezahlter Reproduktionsarbeit wurden als kulturell evozierte Gesellschaftsordnung herausgestellt. Auf dieser Grundlage kritisierte auch die feministische Kunstgeschichtsforschung den Kanon des Fachs und thematisierte geschlechtsspezifische Zugangsbeschränkungen des Kunstsystems.26 Zu den wesentlichen Zielsetzungen gehörte, Orte und Techniken in den Vordergrund zu stellen, an denen und durch die Frauen historisch ihrer Kreativität Ausdruck verleihen konnten. Textile Arbeiten waren in vielerlei Hinsicht prädestiniert für eine Auseinandersetzung mit dem etablierten Kunstbetrieb. Vor allem durch den vorausgegangenen Ausschluss ließen sich die Konditionen der Produktion von Kunstwerken, die diskursive Konstituierung eines als autonom verstandenen Künstlersubjekts sowie die Innovationsrhetoriken des Kunstsystems problematisieren. Damit wurden wichtige Parameter der Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts angesprochen, die nach wie vor die zentralen Argumente zur Diskreditierung der Sticktechnik als langsame, repetitive bzw. eintönige und damit im Grunde unkreative Arbeitsweise liefern. Ein weiterer Zugang bot sich über die Festschreibung textiler Handarbeit als ›weibliche‹ Tätigkeit. Die Suche nach einer spezifisch ›weiblichen‹ Ausdrucksweise schien bei einer genuin als solche geltenden Technik vielversprechend. Dass die 1970er Jahre gemeinhin auf die Fragestellung, ob es eine spezifisch ›weibliche‹ Ausdrucksweise in Kunst und Literatur gebe, reduziert werden, hatte allerdings eine verkürzte Rezeption zur Folge und führte dazu, dass die vielseitigen und durchaus heterogenen Auseinandersetzungen der 1970er Jahre heute erst wieder rekonstruiert werden müssen. Denn neben der Befragung im Hinblick auf die Möglichkeit einer spezifisch ›weiblichen‹ Ästhetik, Ausdrucksweise oder Sensibilität wurden eine umfassende Institutionenkritik erarbeitet. Konstruktionen der Kunstgeschichte wie das mythische Image des Künstlers, die Rangfolge der Gattungen, Differenzierungen in ›high & low‹ waren ebenso Gegenstand der Untersuchungen wie die Sichtbarmachung künstlerischer Leistungen von Frauen.27 Es kann nicht deutlich genug auf die Verquickung aktueller Subjektsbefragungen mit 26 Vgl. Henderson, Kathy, Maureen McCue, Susan Triesman und Michelene Wandor, The great divide. The sexual division of labour, or ›is it art?‹, Milton Keynes 1979. Salomon 1993 27 Vgl. Gouma-Peterson, Thalia und Patricia Mathews, The Feminist Critique of Art History, in: The Art Bulletin, Nr. 3, Bd. 69, Sept. 1987, S. 326-357. Carson, Fiona und Claire Pajaczkowska (Hg.), Feminist Visual Culture, New York 2001.

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Feministische UmRäumungen

Abb. 2: Orgel, Linen Closet, 1971, Womanhouse, L.A.

der feministischen Praxis der 1970er Jahre verwiesen werden. Selbst die inzwischen in Misskredit geratene Suche nach essentialistischen Ausdrucksweisen hat in der diskursiven Folge zu der Einsicht geführt, dass Subjekte rhetorisch konstruiert werden. Sprachliche und bildliche Äußerungen sind immer auch Formulierungen von Geschlecht, wenn auch nicht von einer naturgegebenen und unveränderlichen Ausdrucksweise die Rede sein kann. Auch in den 1970er Jahren wurden textile Medien nicht ausschließlich zur affirmativen Verstärkung eines als genuin ›weiblich‹ geltenden Ausdrucks eingesetzt.28 Hier sind aktuelle Analysen gefordert, die oft ambivalenten Zwischentöne unter den angeblich rein Paul, Barbara, Kunstgeschichte, Feminismus und Gender Studies, in: Kunstgeschichte. Eine Einführung, Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp, Willibald Sauerländer und Martin Warnke (Hg.), Berlin 2008, S. 297336. Schade, Sigrid und Silke Wenk, Inszenierungen des Sehens: Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz, in: Genus. Geschlechterforschung/ Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Hadumod Bußmann und Renate Hof (Hg.), Stuttgart 2005, S. 144-184 28 Vgl. Schade, Sigrid, Zwangsjacke ›weibliche Identität‹ oder: Judy Chicagos

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Abb. 3: Messager, L’appartement d’Annette Messager collectionneuse et d’Annette Messager artiste, 1973

positiven Bezugnahmen auf traditionelle Weiblichkeitsvorstellungen herauszuarbeiten.29 Dies soll die folgende exemplarische Werk- und Ausstellungsanalyse verdeutlichen. Mit dem Womanhouse rekurriere ich auf ein Ausstellungskonzept, in dem eine Vielzahl von häuslichen Kommunikations- und Arbeitsprozessen zum Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzungen um Identität wurden. Die reproduktive Versorgung eines Haushalts avancierte zum Thema der Kunst (Abb. 2). Neben der Nahrungszubereitung oder Hygiene wurden auch textile Erzeugnisse und mit ihnen verbundene Arbeitsvorgänge repräsentiert. Mein Interesse richtet sich bei diesem Ausstellungsereignis jedoch nicht primär auf das textile Medium, sondern vielmehr auf die normwidrige Integration des privaten Reproduktionsalltags in den öffentlichen Ausstellungsraum. Die Etablierung gewöhnlicher, dem häuslichen Bereich zugewiesener Praktiken im Kunstkontext stellt eine strukturelle Voraussetzung zum neue alte Frauen-Mythen, in: Weibliche Ästhetik? Kunststück!, Renate Morell (Hg.), Pfaffenweiler 1993, S. 211-217 29 Das bleibt beispielsweise bei der zusammenfassenden Rückschau von Verena Kuni missverständlich. Vgl. Kuni 2008, S. 172f

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gegenwärtigen Einsatz der Sticktechnik unter Berücksichtigung der traditionellen Konnotationen dar. Mit ihrer 2-Zimmer-Wohnung wird auch von Annette Messager der private Wohnraum als Kunstraum inszeniert (Abb. 3). Durch die definitorische Zergliederung der Räume erklärt die Künstlerin den Ort der Kunstproduktion zum Bestandteil der Werke. Die von ihr in den 1970er Jahren in dieser Wohnung zusammengestellten Alben enthalten Bild- und Textfragmente aus Alltagsmedien, die Ratschläge zur genormten Organisation des Privatlebens bereitstellen. In diesem Zusammenhang sammelte sie Sprichwörter über Frauen, die schließlich auf Leinentücher gestickt zwei gegenläufige Frauenbilder thematisieren. Die misogyne Haltung, die sich in den Redewendungen ausdrückt, kontrastiert mit dem Image der fürsorglichen Stickerin. Diesen Einsatz der Sticktechnik möchte ich exemplarisch als ein Verfahren vorstellen, durch das die traditionellen Konnotationen der Arbeitsweise weder ignoriert noch affirmativ bestätigt werden.

AUSSTELLEN IM WOMANHOUSE Womanhouse war ein Ausstellungsprojekt im Rahmen des Feminist Art Program am California Institute of the Arts, geleitet von Judy Chicago und Miriam Schapiro, unter konzeptueller Mitarbeit der Kunsthistorikerin Paula Harper. 21 Studentinnen30 nutzten eine jahrelang leerstehende und zum Abriss freigegebene Villa, die sie innerhalb von sechs Wochen renovierten und zum Ausstellungsort umfunktionierten. Anders als 30 In der Literatur ist überwiegend von den folgenden Studentinnen die Rede: Beth Bachenheimer, Sherry Brody, Susan Frazier, Camille Grey, Vicki Hodgett, Kathy Huberland, Judy Huddleston, Karen LeCoq, Janice Lester, Paula Longendyke, Ann Mills, Robin Mitchell, Sandra Orgel, Jan Oxenburg, Christine Rush, Robbin Schiff, Mira Schor, Robin Weltsch, Faith Wilding, Shawnee Wollenman, Nancy Youdelman. Eine Ausnahme bildet Helena Reckitt, die 24 Frauen erwähnt, wobei wahrscheinlich die Kursleitung: Judy Chicago, Miriam Schapiro und Paula Harper mit eingeschlossen wurden. Vgl. Reckitt, Helena (Hg.), Art and Feminism, London 2001, S. 21. Arlene Raven nennt drei weitere Künstlerinnen aus Los Angeles, die partizipierten: Wanda Westcoast, Sherry Brody und Carol Edison Mitchell. Vgl. Raven, Arlene, Womanhouse, in: The power of feminist art. The American movement of the 1970s, history and impact, Norma Broude und Mary D. Garrard (Hg.), New York 1994, S. 48-65, hier S. 48. Faith Wilding listet 22 Studentinnen auf, mit denen das Feminist

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in der white-cube-Atmosphäre gängiger Ausstellungsräume wurde die Struktur des Wohnhauses beibehalten bzw. hergestellt. Unter den insgesamt 17 Räumen waren drei Badezimmer, eine Küche, ein Esszimmer, ein Kinderzimmer und mehrere Schlafzimmer. »Radically revising the line between public and private, the exhibition space was domestic space, and conventional assumptions about suitable artistic subject matter were discarded.«31 In vielerlei Hinsicht inszenierten die Studentinnen die symbolische und materielle Reproduktion im familiären Kontext. Haushaltsgeräte (Toaster, Kühlschrank usw.) und Möbel wurden ebenso in die Kunstwerke integriert wie häusliche Tätigkeiten. Die Nahrungszubereitung, Körperpflege und Wäscheaufbewahrung, das Bügeln oder Schminken, Praktiken der familiären Kommunikation, der Sexualität und der Kindererziehung waren Bestandteil von Environments und Performances (Abb. 2). Auch an Techniken und Materialien fand sich eine große Bandbreite, die unter anderem Nähen und Häkeln umfasste.32 Der spezifische Fokus lag auf Erfahrungen von Frauen im Zusammenhang mit der psycho-physischen Versorgung der Familienmitglieder.33 Die öffentliche Präsentationsform ermöglichte die Vorstellung solcher Art Programm startete (zu den oben aufgeführten: Marcia Salisbury) und ergänzt, dass Suzanne Lacy zur Designklasse am CalArts wechselte. Vgl. Wilding, Faith, The feminist art programs at Fresno and CalArts, 1970-75, in: Broude/Garrard 1994, S. 32-47, hier S. 290, Fn. 9 31 Phelan, Peggy, Survey, in: Art and Feminism, Helena Reckitt (Hg.), London 2001, S. 14-49, hier S. 21 32 Dokumentiert ist das Ausstellungsprojekt durch einen Ausstellungskatalog und einen Farbfilm. Vgl. Womanhouse (Ausst.-Begleith.), California Institute of the Arts, Valencia 1972. Womanhouse, 47 Min, Dokumentarfilm, Regie: Johanna Demetrakas, 1972, Verleih: WMM. Women make movies. URL: http:// womanhouse.refugia.net/, 18.04.2010. Das Haus wurde nach der Ausstellung abgerissen. Die Werke wurden, soweit sie transportabel waren, versteigert oder befinden sich im Privatbesitz der Künstlerinnen. »At the end of Womanhouse we auctioned off as many of the artefacts as possible in order to make money for the Feminist Art Program.« Faith Wilding interviewt von Brett Stalbaum, Substanial Disturbance, 2001, URL: www.obn.org./reading_room/ interviews/down/disturbance.rtf, 18.04.2010. Eine ausführliche Besprechung mit zahlreichen Abbildungen lieferte Arlene Raven: Raven 1994. 33 Vgl. Cottingham, Laura, L.A. Womyn. The feminist art movement in southern California. 1970-1979, in: Seeing through the seventies. Essays on feminism and art, Amsterdam/ New York 2000, S. 161-174, hier S. 172

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›Versorgungen‹ als konstituierende Bestandteile der gesellschaftlichen Ordnung. In erster Linie provokativ wirkte dabei nicht nur die Zurschaustellung ansonsten unsichtbar geleisteter Arbeit, sondern ihr vermessen erscheinender Anspruch auf den Kunststatus. Problematisiert wurden damit sowohl die Konventionen des Kunstbetriebs hinsichtlich der als adäquat erscheinenden künstlerischen Ausdrucksweisen als auch die gesellschaftliche Organisation und Anerkennung notwendig zu leistender Arbeit.

Rezeption Innerhalb der feministischen Rezeptionen wurde Womanhouse als beeindruckende Gruppenarbeit, innovative Ausstellung und ›Pilotprojekt der 1970er Jahre‹ vorgestellt: »Während des Öffnungsmonats kamen Tausende, Leute aller Altersgruppen, sozialer Schichten und Berufe, um es zu besichtigen. ›Womanhouse‹ war ein historisches Ereignis, ein Happening, zu dem Besucher kamen, die andere Erwartungen an die Kunst stellen als das gewöhnliche Publikum. ›Womanhouse‹ war tatsächlich die erste öffentliche Ausstellung ›feministischer Kunst‹, und als solche wurde sie von der Kritik mit gemischten Gefühlen aufgenommen.«34 »Womanhouse, a daring, avant-garde site installation in an actual house and an unexpected happening during one month in 1972 in residential Hollywood, directly addressed the everyday life of an ordinary housewife.«35 »Womanhouse, the epoch-making feminist political statement of the early seventies (…) transcended in every way the models, norms, and standards accepted by the art establishment. In celebrating the domestic lives of women the artists gave the abandoned home new life and meaning.«36 »Womanhouse (…) was a landmark exhibition produced from the conceptual idea of the home and presented within a literal house.«37 34 Teipelke, Ilse, Southern Cal – Herstory, in: Künstlerinnen international. 18771977 (Ausst.-Kat.), Schloss Charlottenburg, Berlin 1977, S. 334-338, hier S. 337 35 Raven 1994, S. 48 36 Gouma-Peterson, Thalia, Miriam Schapiro. Shaping the fragments of art and life, New York 1999, S. 69f 37 Cottingham 2000, S. 171

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In Kontrast zu diesen euphorischen Betitelungen (epochale, Maßstäbe setzende, erste feministische Ausstellung) rückte Womanhouse nach dem Einsetzen zunehmender Kritik an essentialistisch argumentierenden Positionen Ende der 1970er Jahre in den Hintergrund.38 »One of the most heated debates during the first decade of feminism, which seemed to demand a position from most writers and artists, was the possibility of a female sensibility and aesthetic expressed in contemporary art. (…) Womanhouse (1972), the project that grew out of Chicago’s and Schapiro’s Feminist Art Program at the California Institute of the Arts, was one of the first manifestations of the female aesthetic.«39

Analog zum essentialistischen Image der 1970er Jahre lag es nahe, die Ausstellung als Untersuchung spezifisch ›weiblicher‹ Ausdrucksweisen zu verstehen, zumal sich die Diskussion in den USA anhand bestimmter Orte polarisierte (Kalifornien versus New York), und Judy Chicago durch ihre nachfolgenden Großprojekte Dinner Party (1974-1979) und Birth Project (1980-1985) im Brennpunkt dieser Kontroverse stand.40 »The question was first formulated with respect to the sources and the nature of the female sensibility. Was it biologically determined? Or was it purely a social construct? Chicago, Schapiro, and, soon after, Lippard blaimed to be able to recognize female sexual or body imagery in art by women.« 41

Es ist allerdings problematisch das Projekt Womanhouse als Produkt der beiden Studienkursleiterinnen Judy Chicago und Miriam Schapiro anzusehen. Retrospektive Kommentare der Studentinnen vermitteln einen anderen Eindruck über die internen Diskussionen und Aufgabenteilungen: »There had been many conflicts, rebellions, and strong disagreements between students and faculty about structure, and about the conduct of group processes 38 Vgl. Jones, Leslie C., Transgressive Femininity: Art and Gender in the Sixties and Seventies, in: Abject Art. Repulsion and Desire in American Art (Auss.-Kat.), Whitney Museum of American Art, New York 1993, S. 33-57 39 Gouma-Peterson/Mathews 1987, S. 334 40 Vgl. Jones, Amelia, The ›Sexual Politics‹ of The Dinner Party. A critical context, in: Judy Chicago’s Dinner Party in Feminist Art History (Ausst.-Kat.), Armand Hammer Museum of Art and Cultural Center, Los Angeles 1996, S. 82-118 41 Gouma-Peterson/Mathews 1987, S. 335

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and working methods. In particular, many of the students resisted what they saw as an increasingly ideological formulation and application of a ›feminist line‹ to their art and their lives by Chicago and Schapiro. They also resented the full-time commitment to Womanhouse, which left little time for other activities. Chicago and Schapiro had often been on the road, to raise funds and to spread the word about the program, leaving the students to struggle along by ourselves – effectively bonding us into a close-knit group, making collective decisions, and running our own show. Conflicts often arose, however, when the teachers returned and began to reassert their authority and control.«42

Eine durchaus konfliktreiche Situation dokumentierte auch Paula Harper, die nachträglich Interviews mit beteiligten Studentinnen führte. Robin Mitchell beschrieb bei dieser Gelegenheit die ästhetischen Vorgaben als problematisch: »The students were not supposed to make abstract art. Making images like mainstream art was a terrible no-no, Judy was so doctrinaire about what art was: it had a hole in the middle.« Und Mira Schor schilderte die Situation folgendermaßen: »It couldn’t last too long. It was a forced situation, too artificial. At one time I thought I would throw up if I saw another drawing of a split pear.«43 Aus der zentralen Position, die Judy Chicago und Miriam Schapiro in der Kontroverse um die frauenzentrierte Kunstpraxis der 1970er Jahre einnahmen, erklärt sich teilweise die Vernachlässigung des Womanhouse in der nachfolgenden Kunsttheorie.44 Nachdem sich die Suche nach einer ›weiblichen‹ Ästhetik zunehmend als obsolet erwiesen hat, erübrigte sich offenbar für viele Ausstellungsprojekte auch eine weitere Analyse. Die unterschiedlichen Rezeptionsphasen resümiert Faith Wilding wie folgt: »I have been around long enough to know first hand that the Art System works in cycles. In my own case I experienced it something like this: Feminist art (and the Feminist Art Programm which produced Womanhouse) was cutting-edge and hot in the 70s; condemned and silenced as essentialist and non-theoretical in the 80s; rediscovered, imitated, and historicized in the 90s; 42 Wilding 1994, S. 41 43 Harper, Paula, The First Feminist Art Programm. A view from the 1980s [1985], in: Feminism-Art-Theory. An Anthology 1968-2000, Hilary Robinson (Hg.), Oxford 2001, S. 126-130, hier S. 126 44 »Womanhouse was usually credited to ›Judy Chicago, Miriam Schapiro, and their students‹ in any write up about it at the time, and it has largely remained this way until recently.« Wilding Interview 2001

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and food for dissertations, publications, exhibitions, and new formations especially cyberfeminist formations in the 21st Century.« 45

Bezogen auf das Womanhouse bestätigt sich Faith Wildings Skizzierung. Aufgrund der formalen Umsetzung sowie der inhaltlichen Konzentration auf ein Wohnhaus war die Ausstellung in den 1970er Jahren eng verwoben mit feministischen Theoriebildungen und politischer Praxis. Im nachfolgenden Jahrzehnt reduzierte sich die Reflexion des Projekts im Wesentlichen auf seine Tradierung.46 Die quantitativ zunehmende Beachtung in den 1990ern hat vor allem rekonstruierende Züge. Zum Teil müssen die Arbeiten wiederholt werden, um Diskussionsstränge wieder aufzunehmen. So wurde 1995 im Rahmen der Ausstellung Division of Labor das 1972 im Womanhouse gestohlene Crochet Environment von Faith Wilding wiederholt, und andere, erhaltene Werke aus dem ursprünglichen Projekt gezeigt.47 2001 organisierte Judy Chicago ein vergleichbares Semesterprojekt an der Western Kentucky University.48 The mood back home, Cyberfeminist House und WomEnhouse sind weitere Ausstellungen und webbasierte Netzwerkprojekte, die einen engen Bezug zur historischen Ausstellung herstellen.49 Diese Anknüpfungen sprechen für die anhaltende Relevanz der zuvor erarbeiteten Positionen.50 45 Wilding Interview 2001 46 Vgl. Parker, Rozsika und Griselda Pollock (Hg.), Framing Feminism. Art and the Women’s Movement 1970-85, London/ New York 1987, S. 11 und S. 240f 47 Vgl. Division of Labor. ›Women’s Work‹ in Contemporary Art (Ausst.-Kat.), The Bronx Museum of the Arts, New York/ MOCA, Los Angeles 1995 47 Vgl. Division of Labor. ›Women’s Work‹ in Contemporary Art (Ausst.-Kat.), The Bronx Museum of the Arts, New York/ MOCA, Los Angeles 1995 48 At home, unter Mitarbeit von Judy Chicago. URL: http://www.wku.edu/news/releases01/august/chicago.html, 18.04.2010. URL: http://www.wku.edu/news/releases01/november/athome.html, 18.04.2010 49 The mood back home. An exhibition inspired by Womanhouse, Momenta Art, Brooklyn 2009, URL: http://suzyspence.com/themoodbackhome/, 18.04.2010. Cyberfeminist House, URL: http://sva74.sva.psu.edu/~cyberfem/, 18.04.2010. WomEnhouse, unter Mitarbeit von Faith Wilding, URL: http:// www.cmp.ucr.edu/education/programs/digitalstudio/studio_projects/ webworks/womenhouse/html_s/hymen.html, 18.04.2010. http://www.cmp. ucr.edu/mainFrame/main/main_error/error.html, 18.04.2010 50 Auch ohne direkten Verweis auf die Womanhouse-Ausstellung wird das Thema der Hausarbeit seit den 1990er Jahren vermehrt aufgegriffen: Pleasures

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Arbeit im Womanhouse Als ›Vermächtnis‹ der feministischen Interventionen im Kunstbetrieb der 1970er Jahre begreift Helen Molesworth die zentrale Untersuchung von privater und öffentlicher Sphäre.51 Die ideologische Trennung dieser Bereiche und ihre Aufteilung unter den Geschlechtern führte bekanntlich zu ungleichem Ansehen von Lohn- und Hausarbeit. »Diese geschlechtlich konnotierte, strukturelle Teilung der Arbeit ist Bedingung und nicht Nebenprodukt der Moderne, auf ihr fußt die Entwicklung der modernen Gesellschaft. Denn die Ausweitung des Industriekapitalismus bedeutete die Ausweitung von außerhäuslicher Lohnarbeit als dominanter, wertschaffender und deshalb gesellschaftlich als wertvoll anerkannter Form von Arbeit.«52

Das Womanhouse befasst sich mit dem Ansehen unterschiedlicher Produktionsformen. Es knüpft an die Hausarbeitsdebatte der 1970er Jahre an, in der die Forderung formuliert wurde, bislang unbezahlte Reproduktionsarbeiten in den Begriff der gesellschaftlichen Arbeit zu integrieren und entsprechend zu vergüten.53 Überdies behandelt das Womanhouse auch and Terrors of Domestic Comfort (Ausst.-Kat.), The Museum of Modern Art, New York 1991. Dirt & Domesticity. Constructions of the Feminine (Ausst.-Kat.), Whitney Museum of American Art, New York 1992. Sense and Sensibility. Women Artists and Minimalism in the Nineties (Ausst.-Kat.), The Museum of Modern Art, New York 1994. Division of Labor 1995 (Ausst.-Kat.). Hausarbeiten. Der Alltag daheim (Ausst.-Kat.), Städtische Galerie Nordhorn, Nordhorn 2001 51 Vgl. Molesworth, Helen, House Work and Art Work, in: October, Nr. 92, Frühjahr 2000, S. 71-97. Das Thema Hausarbeit wird in den 1970er Jahren wiederholt in feministisch ambitionierten Präsentationen bearbeitet: Housework, 1975. Out of the House, Whitney Museum of American Art, New York 1978. Home Work. The Domestic Environment Reflected in the Work of Contemporary Women Artists, National Women’s Hall, Seneca Falls, New York 1981. Vgl. Henderson/McCue/Triesman/Wandor 1979 52 Jurczyk, Karin, Patriarchale Modernisierung. Entwicklungen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Entgrenzung von Öffentlichkeit und Privatheit, in: Zukunfts(t)räume. Geschlechterverhältnisse im Globalisierungsprozess, Karola Maltry, Renate Rausch, Christina Schachtner, Gabriele Sturm (Hg.), Königsstein 2001, S. 163-187, hier S. 165 53 Eine Forderung, die bis heute nicht realisiert werden konnte, da sie eine radikale Umstrukturierung sozialer Sicherungssysteme notwendig machen

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künstlerische Produktionsweisen und die damit verbundenen Imagemodelle. Das Wohnhaus wird zum Ort sich kreuzender Arbeitsfelder. Da sind zunächst die familiären Reproduktionsarbeiten und die handwerklichen Instandsetzungsarbeiten. Beides ist im Womanhouse zugleich als künstlerische Praxis zu verstehen, bei der Atelier und Ausstellungsraum in eins gesetzt sind. Die Kombination dieser ungleichen Orte und Tätigkeiten eröffnet ein Forum zur Reflexion der diskursiven Setzungen, die den Status von Arbeit bestimmen. Der konsequent subversive Umgang mit den Konventionen künstlerischer Arbeit macht das Womanhouse für aktuelle Kunstpositionen und insbesondere für die Untersuchung der traditionellen Konnotationen der Sticktechnik interessant. »Womanhouse was one of the first feminist art-projects to stress the importance of collective work and relationship between discussion and making. It was an exercise in women’s solidarity and support to forge new kinds of art work and through them new understanding. It opposed the cult of the star individual genius (…).«54

Das künstlerische Schaffen muss hier als betont kollektiver Prozess verstanden werden, der sich dem gängigen Autorisierungs- und Authentifizierungsvorgang im Kunstbetrieb durch die Zuschreibung an einen bestimmten Produzenten, eine bestimmte Produzentin widersetzt. Beginnend mit den ›CR-Sitzungen‹,55 in denen die Studentinnen persönliche Erfahrungen thematisierten und künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten würde: »Für die Konstruktion des Systems sozialer Sicherung war/ist das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie maßgebend, wonach der Mann Ernährer und Familienvorstand ist, während die Frau für die Reproduktionsarbeiten (Pflege, Haushalt, Kinder) zuständig ist.« Ehnis, Patrick, Warum (k)eine Grundsicherung? Grundannahmen und Grenzen aktueller Grundsicherungsmethoden, Marburg 2002, S. 27 54 Pollock, Griselda, Feministry? Text published to accompany the show: Anonymous. Notes towards a show on self-image [1982], in: Framing Feminism. Art and the Women’s Movement 1970-85, Rozsika Parker und Griselda Pollock (Hg.), London/ New York 1987, S. 238-243, hier S. 240 55 Mit ›consciousness-raising‹ wird eine Methode beschrieben, bei der der Austausch von Erlebnisberichten zu einem kritischen Bewusstsein über strukturelle persönliche und/oder gesellschaftliche Problemkonstellationen führen soll und Verhaltensänderungen intendiert. In künstlerischen Zusammenhängen wurde diese Methode auch als Kreationsprozess verstanden.

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suchten, zeugt auch die Herstellung der Environments, Installationen und die Aufführung der Performances von einer unorthodoxen Umgangsweise mit dem Autorindividuum. Beispielsweise wurden die Dialoge der Performance Cock and Cunt Play von Judy Chicago geschrieben und von Faith Wilding und Janice Lester aufgeführt. An der Realisierung des Dining Room waren fast alle beteiligt,56 wobei Beth Bachenheimer, Sherry Brody, Karen LeCoq, Robin Mitchell, Miriam Schapiro und Faith Wilding namentlich im AusstellungsBegleitheft aufgeführt wurden.57 Bei dem Environment Nurturant Kitchen ging die Idee für das Motiv der an der Decke befestigten Plastik-Spiegeleier, die an den Wänden sukzessive zu Brüsten werden, aus einer ›CR-Sitzung‹ hervor. Vickie Hodgett setzte diese Idee um, Susan Frazier kreierte die Küchenschürzen,58 von Wanda Westcoast stammen die Vorhänge, für die Gesamtgestaltung des Raums war Robin Weltsch verantwortlich.59 Faith Wilding beschreibt die Arbeitsprozesse aus der Rückschau folgendermaßen: »Womanhouse was a collaboration. It was done by a class of students, under the leadership of two teachers (…). Some women artists from the community were brought in to collaborate with us and were separately credited. Each room within Womanhouse, and each performance, was credited with the name of the woman who made it. The content and form of Womanhouse was evolved through consciousness-raising sessions. Since we were always working together, there was constant feed-back and response for the work and lots of informal kibitzing about processes and aesthetics.« 60 Vgl. Nabakowski, Gislind, Peter Gorsen und Helke Sander (Hg.), Frauen in der Kunst, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1980, S. 222. Cottingham 2000, S. 164. Paula Harper, die als Kunsthistorikerin im ersten Jahr am Feminist Art Program beteiligt war, benannte retrospektiv auch die Risiken, die in der engen Struktur der Zusammenarbeit lagen: »(…) both Schapiro and Chicago had, in carrying out their ideas, been psychologically manipulative« Harper 1985, hier S. 126 56 Vgl. Meyer, Laura, From Finish Fetish to Feminism. Judy Chicago’s Dinner Party in California Art History, in: Judy Chicago’s Dinner Party in Feminist Art History (Ausst.-Kat.), Armand Hammer Museum of Art and Cultural Center, Los Angeles 1996, S. 46-74, hier S. 59 57 Vgl. Womanhouse 1972 (Ausst.-Begleith.), ohne Seitenangabe 58 Vgl. Womanhouse 1972 (Ausst.-Begleith.), ohne Seitenangabe 59 Die genauen Zuweisungen sind allerdings nur in groben Zügen nachzuvollziehen. Aufgrund der häufig Jahre später verfassten Texte gibt es in der Literatur zahlreiche sich widersprechende Angaben. 60 Wilding Interview 2001

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Im Kunstbetrieb normabweichend erscheinen vor allem die konkreten Arbeitsprozesse, die zum Gesamtkunstwerk Womanhouse führten. Bedingt durch den baulich schlechten Zustand des Hauses wurden umfassende Renovierungsarbeiten notwendig, die mit den künstlerischen Interventionen einhergingen. Der künstlerische Schaffensprozess führt hier nicht nur zur Kreation spezifischer Werke. Er umfasst ebenso vorangegangene und begleitende Kommunikationsprozesse sowie die bauliche Konstruktion des Ausstellungsraumes: »Another astonishing realization was that the nature of the work ranged from cleaning to construction, labor that crossed not only class and gender lines, but that was outside of the scope of ›art‹ experienced by the rest of the art school. Students enrolled in the conceptually oriented CalArts learned graphics and text display, electronic music and ›idea art‹, in which an art object may not even be made. But for the Feminist Art Program workers, skills such as carpentry and window glazing became part of the creative process. Before picking up a paint brush, etching plate, sculpting tool, or video camera, each young artist had already used electric saws, drills, and sanders.«61

Aus der Kombination herkömmlich getrennter Arbeitsfelder ergeben sich Modifizierungen in ihrer Wahrnehmbarkeit. Da die handwerkliche, üblicherweise entlohnte Arbeit im Vorfeld der Ausstellung geleistet wurde, verschwand sie notwendigerweise hinter der Präsentation. In ihr wurden häusliche und häufig unentlohnte Arbeiten zentral, die gewöhnlich wenig Beachtung finden. Durch den Inhalt, die formale Umsetzung und die Verwendung spezifischer Materialien kamen zudem kunstfremde Techniken und Gegenstände zum Einsatz. »There are some interesting unwritten laws about what is considered appropriate subject matter for art making. The content of our first class project Womanhouse reversed these laws. What formerly was considered trivial was heightened to the level of serious art-making: dolls, pillows, cosmetics, sanitary napkins, silk stockings, underwear, children’s toys, washbasins, toasters, frying pans, refrigerator door handles, shower caps, quilts, and satin bedspreads.« 62

61 Raven 1994, S. 50 62 Schapiro, Miriam, The education of women as artists: Project Womanhouse, in: Art Journal, H. 3, Jg. 31, 1972, S. 268-270, hier S. 268

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Anders als konventionelle Vorstellungen von avantgardistischen Neuerungen, die im Verbund mit klassischen Genieerzählungen die Rezeption zeitgenössischer Kunst in der Moderne begleiten, bedienten sich die Studentinnen des CalArts diskreditierter Inhalte, Materialien und Techniken, die zum Alltag einer bürgerlichen Hausfrau gehören. Dies lässt sich nicht mit den im Kunstdiskurs üblichen Überbietungsgesten im Bemühen um die ständige Erweiterung des Kunstbegriffs vergleichen, sondern zitiert Praktiken, denen durch ihre historische Anwendung soziale Bedeutungen anhaften. Der wesentliche Unterschied besteht darin, diese Semantik in die Argumentationsweise des Kunstwerks zu integrieren ohne dabei die alltäglichen Objekte oder Praktiken mit neuen Mythologien aufzuladen, um sie aus ihren banal erscheinenden Zusammenhängen zu transzendieren.

Identität im Womanhouse Die im Womanhouse realisierten Übersetzungen sozialer Praktiken wurden verschiedentlich als zu wörtlich kritisiert: »Christine Rush schrubbte einen Tag lang vor den Augen der Besucher sinnlos den Boden; Sandra Orgel bügelte, Lockenwickler in den Haaren, mit einem kalten Bügeleisen eine Plastikgardine. Das Publikum lief davon. In verkunsteter Form konnte es nicht mehr ertragen, daß Frauen diese Plackerei täglich und gratis leisten. Die Endlosstruktur der Performances demonstrierte ein ›Lebenslänglich‹.« 63

Für Gislind Nabakowski zielte die Ausstellung darauf, das Wohnhaus in erster Linie als Ort der Re- und Depression zu inszenieren, aus dem es sich zu befreien gilt: »Alle Zimmer des ›Womanhouse‹ wurden in der Absicht umstrukturiert und gestaltet, dem weiblichen Publikum bewußt zu machen, wie sehr gerade Frauen in die ›Fallen‹ narzistischer femininer Inhalte tappen und wie leichtsinnig sie im Alltag ihre Unzufriedenheit durch Mode und Konsum kompensieren.« 64

Wenn Gislind Nabakowski die Performances als ›verkunstete‹ Präsentation ›sinnloser‹ Tätigkeiten auslegt, Mode und Konsum als ›Fallen‹ 63 Nabakowski/Gorsen/Sander 1980, S. 232 64 Nabakowski/Gorsen/Sander 1980, S. 234f

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umschreibt, entgeht ihr das Potential dieser Beschäftigungen. Damit übersieht sie nicht nur die Bedeutungsverschiebungen beispielsweise des Bügelns, das als Bestandteil einer Performance nicht äquivalent zur Hausarbeit betrachtet werden kann. Diese Interpretation übersieht darüber hinaus auch den Bedeutungsgehalt alltäglicher und notwendigerweise repetitiver Arbeitsprozesse, Kommunikationssituationen und modischer Inszenierungen, denen in den Sozialwissenschaften eine wesentliche Rolle bei der Identitätskonstruktion zugesprochen wird: »Identität verstehen wir als das individuelle Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche Identitätsarbeit dient. In dieser Identitätsarbeit versucht das Subjekt, situativ stimmige Passungen zwischen inneren und äußeren Erfahrungen zu schaffen und unterschiedliche Teilidentitäten zu verknüpfen.«65

Menschen erscheinen hier als dialogische und konversationale Wesen, die ihre Identität in Auseinandersetzung mit Anderen konstituieren. Das Womanhouse thematisiert klassische Bereiche der Identitätsforschung: familiäre Beziehungen, Intimität oder Arbeit als wichtige Realitätsbereiche, in denen Anerkennung und Zugehörigkeitsgefühle erworben werden können.66 Die in diesen Feldern verortete alltägliche Identitätsarbeit besteht aus einzelnen, situativen Selbstthematisierungen. Gemeint sind »ich-bezogene Wahrnehmungen über den Tag hinweg, (...) spontane und kurzfristige Selbstreflexionen, die kognitiv, emotional, sozial oder produktorientiert sein können.«67 »Not chiefly through ideology, but through the organization and regulation of the time, space, and movements of our daily lives, our bodies are trained, shaped, and impressed with the stamp of prevailing historical forms of selfhood, desire, masculinity, femininity.« 68

65 Ahbe, Thomas, Wolfgang Gmür, Renate Höfer, Heiner Keupp, Wolfgang Kraus, Beate Mitzscherlich und Florian Straus, (Hg.), Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 1999, S. 60 66 Vgl. Ahbe (u.a.) 1999, S. 100 67 Ahbe (u.a.) 1999, S. 100 68 Bordo, Susan, The Body and the Reproduction of Femininity, in: Writing on the body. Female Embodiment and the Feminist Theory, Katie Conboy, Nadia Medina und Sarah Stanbury (Hg.), New York 1997, S. 90-110, hier S. 91

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Ausstellen im Womanhouse

Auf dieser Grundlage werden die dargestellten Tätigkeiten wie Nahrungszubereitung und -aufnahme, Konsum oder Hygiene in ihrer Bedeutung als Rituale, die eine physische und psychische Ordnung spiegeln, lesbar. »The body – what we eat, how we dress, the daily rituals through which we attend to the body – is a medium of culture.«69 Die Aktivitäten des Alltags werden durch Dekontextualisierung als in den Körper eingeschriebene Praktiken vorstellbar, die einen spezifischen Ort (das Wohnhaus) strukturieren und von ihm strukturiert werden. In den Sozialwissenschaften dient das Haus als Metapher für die Subjektkonstituierung. Da ist von einem Personen-70 und Subjektgehäuse71 oder von einem »häuslich verkapselten Subjekt«72 die Rede. Diese Metaphorik inszeniert das Womanhouse, indem es diverse Alltags- und Arbeitspraktiken mit dem Gehäuse verknüpft. Damit stellen sich nicht nur qualitative Identitätsfragen, reflektiert werden darüber hinaus auch formale Vollzugsprozesse im Alltag einer bürgerlichen Hausfrau der 1970er Jahre. Alltagspraktiken des Konsums,73 Schminkens,74 Wartens,75 der Hygiene76 finden hier ebenso Beachtung wie Erziehung, Depression oder Sexualität. Das Haus wird als gendered space markiert, an dem eine enge Verbindung zwischen geschlechtlich codierten Praxen und räumlichen Situierungen besteht. »Doing Gender in der eigenen raumzeitlichen Genese bedeutet reflektierte oder unreflektierte Übernahmen von Geschlechterzuordnungen, Beschränkungen und Rollenvorgaben innerhalb dieser Rahmenbedingungen, aber auch das Erlernen von Handlungsstrategien und Kompetenzen zur Umsetzung der eigenen Bedürfnisse nicht nur im Einklang, sondern auch im Widerspruch zu den bestehenden Vorgaben. Doing Gender in Raum und Zeit ist daher nicht nur als Anpassungsprozess an gegebene Verhältnisse, Räume und Zeiten zu verstehen.«77 69 Bordo 1997, S. 90 70 Vgl. Ahbe (u.a.) 1999, S. 13 71 Vgl. Müller-Doohm, Stefan, Zur Genese neuzeitlicher Subjektivität, in: Psychologie & Gesellschaftskritik, H. 1, Jg. 11, 1987, S. 63-82, hier S. 71 73 Beth Bachenheimer, Shoe Closet, Mixed Media Installation im Womanhouse, Los Angeles 1971-72 74 Karen LeCoq und Nancy Youdelman, Leah’s Room, Performance und Mixed Media Installation im Womanhouse, Los Angeles 1971-72 75 Faith Wilding, Waiting, Performance im Womanhouse, Los Angeles 1972 76 Robin Schiff, Nightmare Bathroom, Mixed Media Installation im Womanhouse, Los Angeles 1971-72 77 Neidhardt, Eva und Sigrid Schmitz, Raumsozialisation von Mädchen und

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Die gegenseitig strukturierende Wirkung von Räumen und Alltagshandlungen war der zentrale Gegenstand des Ausstellungsprojekts Womanhouse. Durch verschiedene Konventionsbrüche visualisierten die Künstlerinnen Prozesse der Herstellung von Geschlechterverhältnissen. Einerseits wurde Hausarbeit exponiert und als künstlerische Praxis behandelt. Andererseits wurde die Produktion von Kunst aus den universitären und musealen Kontexten gelöst, um in einem vormaligen Wohnhaus ausgestellt zu werden. Dies schließt eine affirmative Bewertung von häuslicher Arbeit aus, ging es den Künstlerinnen doch primär um die Vorstellung der Ergebnisse ihrer künstlerischen Ausbildung. Vielmehr realisierte sich so eine Erweiterung des gängigen Spektrums von kunstadäquaten Materialien und Techniken. Sie wurden allerdings nicht aus ihrem gewöhnlichen Zusammenhang herausgelöst, wie es häufig durch die Integration in den Kunstkontext erfolgt. Ihre durch soziale Nutzung zugewiesenen Bedeutungen wurden beibehalten und instrumentalisiert. So ließen sich gängige Geschlechtercodes als Konstruktionen lesbar machen, die kulturell erzeugt und normgeleitet vermittelt werden. Die Ausstellung wirkte daher in zweierlei Hinsicht provokativ. Herausgefordert wurden sowohl gesellschaftliche Normierungen hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung als auch der kunsthistorische Kanon in Bezug auf die Ordnung der Gattungen und Medien.

SAMMLUNGEN BEI ANNETTE MESSAGER Im Zusammenhang mit feministischen Kontroversen und der Studierendenbewegung der 1960er Jahre beschäftigte sich die französische Künstlerin Annette Messager78 mit der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Kunst und einer politisch relevanten künstlerischen Ausdrucksweise. Die Ereignisse im Mai 1968 forderten diese Auseinandersetzung. Und Annette Messager erinnert sich, dass sich diese Forderung häufig kontraproduktiv auf die Pariser Kunstszene auswirkte: Jungen: Bestandsaufnahme und Möglichkeiten des Wandels, in: Zukunfts(t) räume. Geschlechterverhältnisse im Globalisierungsprozess, Karola Maltry, Renate Rausch, Christina Schachtner und Gabriele Sturm (Hg.), Königsstein 2001, S. 39-56, hier S. 39f 78 Annette Messager, 1943 in Nordfrankreich geboren, studierte in den Jahren 1962-66 an der Pariser Ecole Nationale Supérieure des Arts Décoratifs. Internationale Beachtung erlangte sie durch die Präsentation ihrer Arbeiten bei

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Sammlungen bei Annette Messager

»Beaucoup d’étudiants autour de moi ont abandonné leurs études. L’art, disaient-ils, est fait pour la bourgeoisie. Moi, au contraire, j’ai continué. Les mouvements de rue m’ont fait réfléchir et aussi les mouvements féministes, que je découvrais à travers Simone de Beauvoir ou Kate Millett. Je me suis tournée alors vers un art du quotidien, en relation avec l’intime et la société.«79

Ihr Ansatz, dem Anspruch nach politischer Wirksamkeit gerecht zu werden, bestand in einer intimen Thematisierung gesellschaftlicher Ordnung. Sie untersuchte die kollektiven Vorstellungen des Privaten. Ein Resultat dieser Befragungen war die Zerteilung ihre 2-ZimmerWohnung in zwei Arbeitsbereiche (Abb. 3). Erklärtermaßen agierte sie in ihrem Schlafzimmer als Sammlerin, wohingegen das Wohnzimmer die Tätigkeiten der Künstlerin Annette Messager beherbergte.80 Zu diesen Rollen kamen im Verlauf der 1970er Jahre weitere Spezialisierungen hinzu. Annette Messager verlieh sich diverse ›Titel‹, wie die praktische Frau, die Trickserin, die Bastlerin oder die Hausiererin. der Venedig Biennale 1975 und der documenta 6 1977. Ab den 1980er Jahren war sie regelmäßig auf Biennalen vertreten (Hamburg 1985, Havanna 2000, Liverpool 2008, Lyon 1993 und 2000, Moskau 2009, São Paulo 1991, Sydney 1984 und 1990, Venedig 1980, 1993, 2003 und 2005 sowie der Documenta 11 2002). Darüber hinaus trug vor allem die umfangreiche Wanderausstellung Annette Messager. Comédie Tragédie 1990, die an vier unterschiedlichen Orten in Frankreich und Deutschland gezeigt wurde, zu ihrer wachsenden Popularität bei. Ausstellungsbeteiligungen: Das Achte Feld. Geschlechter, Leben und Begehren in der bildenden Kunst seit 1960 (Ausst.-Kat.), Museum Ludwig, Köln 2006. WACK! Art and the feminist revolution (Ausst.-Kat.), Museum of Contemporary Art, Los Angeles 2007/ P.S.1. Museum of Modern Art, New York 2008. Als Retrospektiven vorgestellte Ausstellungen wurden 1995 in Paris, Los Angeles und New York gezeigt. Vgl. Faire Parade (Ausst.-Kat.), ARC Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, Paris 1995. Annette Messager (Ausst.-Kat.), Los Angeles County Museum of Art, Los Angeles/ The Museum of Modern Art, New York 1995-96. Annette Messager (Ausst.-Kat.), Centre Pompidou, Paris 2007 79 Annette Messager interviewt von Annick Colonna-Césari, in: L’express, Nr. 2452, 02.-08. Juli 1998, S. 8-11, hier S. 8 80 »In meinem Zimmer, dort, wo sich die ›Travaux de la chambre‹ befinden, gebe ich vor, Annette Messager Sammlerin zu heißen. Im ›Atelier‹, einem ganz normalen Wohnzimmer, wo sich die ›Travaux de l’atelier‹ befinden, nenne ich mich Annette Messager Künstlerin.« Künstlerinnen international. 1877-1977 (Ausst.-Kat.), Schloss Charlottenburg, Berlin 1977, S. 291. »Chez

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»Je n’avais pas de titres, je m’en suis donnés, je deviens ainsi une personne ›importante‹, bien définie. Je trouve mon identité à travers la multiplicité de ces personnages. Ces multiples Annette Messager me permettent de présenter en même temps des travaux de formes très diverses comme on a en nous beaucoup de personnages à la fois divergents et contradictoires. Volontairement j’ai parlé de domaines jusque-là négligés car considérés comme sans intérêt: la couture, le savoir-plaire, les plats cuisinés etc. tout cela mis sur le même plan: sentiments, événements, menus faits divers, tous présentés avec la même valeur, égalisés, sans préférence.« 81

Diese definitorische Zergliederung ihrer Person und ihrer Wohnung nutzte Annette Messager, um alltägliche Praktiken der Haushaltsführung, der emotionalen Versorgung und andere Beschäftigungen, wie das Lesen von Illustrierten, in ihre künstlerische Arbeit zu integrieren. »I became this fictional figure, ›Annette, the collector‹. I started recounting my own inner life through the magazines, through the others – I believe that making art is a bit like that – making an effort to escape from reality, that we appropriated.«82

Im Anlegen von Sammlungen sah Annette Messager eine Möglichkeit, der Realität durch Aneignung zu entgehen. Zwischen 1971 und 1974 stellte sie – neben anderen Aktivitäten – 56 Sammelalben zusammen, die nummeriert und betitelt ausgestellt wurden.83 In ihnen finden sich weder moi, j’emmaillotais des oiseaux empaillés dans des pull-overs, je collais des images dans des albums, je coupais des mèches de cheveux, je brodais des proverbes sur les femmes, je faisais de nombreux faux journaux intimes. Pour renvoyer aux différents rôles que peut incarner une femme, suivant les clichés habituels.« Messager Interview 1998, S. 8. Vgl. Kittner, Alma-Elisa, Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld 2009, S. 78-84 81 Annette Messager. Comédie Tragédie. 1971-1989 (Ausst.-Kat.), Musée de Grenoble, Grenoble/ Bonner Kunstverein, Bonn/ Musée de La Roche-surYon, La Roche-sur-Yon/ Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf 1990, S. 24 82 Zivancevic, Nina, With Annette Messager in Paris. Portrait of the artist, in: NYArts, Jan. 2001, S. 10-11, hier S. 10 83 Erstmalig bei der Ausstellung: Annette Messager collectionneuse (Ausst.-Kat.), Arc 2 Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris 1974. Schwerpunktmäßig

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kostbare Einzelpräparate noch private Erinnerungen. Vielmehr sortierte und strukturierte Annette Messager Textfragmente und Fotografien der Printmedien, die Emotionen wie Eifersucht, Neid, Liebe, Sehnsucht oder Angst inszenieren, Handlungsanweisungen zur Organisation des Haushalts oder der Körperpflege bereitstellen. Die Titel der Bücher betonen häufig ein vermeintliches Privatinteresse der Künstlerin. So hat das erste Album ›ihre‹ Heirat zum Gegenstand. Versammelt sind Hochzeitsannoncen und Brautpaarfotografien, bei denen jeweils der Name der Braut durch den Namen der Künstlerin ersetzt wurde.84 In den Alben zwei und zehn finden sich Fotografien von Männern, die ›sie‹ mag, bzw. Männer, die ›sie‹ nicht mag, jeweils mit einer Erklärung für den überwiegend recht belanglosen Grund der Zu- bzw. Abneigung.85 Die Nummer 12 dokumentiert ›ihre‹ monatlichen Ausgaben86 und Nummer 25 ›ihre‹ Eifersucht, repräsentiert durch Porträtaufnahmen von Frauen, denen Annette Messager Falten oder Zahnlücken einzeichnete.87 Diese suggerierte persönliche Involviertheit steht im Kontrast zu den selektierten Fotografien und Texten, in denen Emotionen, Affekte und Verhaltensweisen mustergültig und stereotyp vorgeführt werden (Abb. 4). Entsprechend räumt Annette Messager in einem Interview aus dem Jahr 1995 ein: »my intimate journals are falsely autobiographical.«88 Ihre Bild- und Textauch bei der Ausstellung: Messager 1995 (Ausst.-Kat.). Darüber hinaus existieren eine Reihe nicht nummerierter Alben, die vermutlich nach 1974 entstanden sind. Alma Elisa Kittner spricht von mindestens 61 AlbenSammlungen, schätzt die Gesamtzahl aber auf etwa 90. Vgl. Kittner, AlmaElisa, ›Ceci n’est pas une collectionneuse‹ – Annette Messager, Sammlerin, in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, H. 4, Jg. 34, 2006, S. 51-64, hier S. 53 und Fn. 5. Kittner 2009, hier S. 79 und S. 80, Fn. 94 84 Album-collection no 1: Le mariage de Mademoiselle Annette Messager, 1971, 23 x 18 cm, im Besitz der Künstlerin. Vgl. Bernadac, Marie-Laure (Hg.), Annette Messager. Word for word, New York 2006, S. 32-37 85 Album-collection no 2: Les hommes que j’aime, Januar 1972, 23 x 28 cm, MAC/ VAL, Museum of Contemporary Art, Vitry-sur-Seine. Album-collection no 10: Les hommes que je n’aime pas, Januar 1972, 23 x 28 cm, im Besitz der Künstlerin. Vgl. Bernadac 2006, S. 66-81 86 Album-collection no 12: Mes depenses quotidiennes pendant 1 mois, 1973, 23,5 x 18 cm, im Besitz der Künstlerin. Vgl. Bernadac 2006, S. 88-93 87 Album-collection no 25: Mes jalousies, 1972 88 Annette Messager interviewt von Robert Storr, in: Messager 1995 (Ausst.Kat.), S. 65

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Abb. 4: Messager, Mes clichés-témoins. Album-collection no 38 (Detail), 1973, Musée d’art moderne de la Ville de Paris

kollektionen beschäftigen sich vielmehr mit Darstellungskonventionen: »Les Albums-collections speichern weniger das individuelle Gedächtnis, sondern bilden größtenteils Bilder des kulturellen Gedächtnisses ab.«89 Durch ihre Adaption in den persönlichen Alltag ging Annette Messager einen Dialog mit den Vorlagen ein. Mit dem besitzanzeigenden Fürwort schiebt sie sich ständig selbst ins Bild, als wolle sie die angebotenen Lebensentwürfe und Handlungsweisen erproben. So nach ihrem konkreten Nutzen befragt, enttäuschen die selektierten Phrasen jeden Versuch, in sinnstiftender Weise auf ihr Privatleben anwendbar zu sein. Ein plausibles Ordnungssystem resultiert weder aus der thematischen Strukturierung innerhalb der Alben noch aus einer praktischen Verwertbarkeit der bereitgestellten Informationen. Augenscheinlich wird die Formelhaftigkeit der Motive beispielsweise in dem Album ›Ma peur‹, in dem Nahaufnahmen entsetzt, erschreckt oder angstvoll verzerrter Frauengesichter eingeklebt sind. Entgegen der Betitelung handelt es sich weder um Fotografien von Annette Messager noch weist das Mienenspiel der Protagonistinnen eine individuelle Note auf, die einen tatsächlichen emotionalen Affekt nahelegen würde. Ein ähnliches Album mit dem Titel ›Mes pleurs‹ versammelt Abbildungen weinender bzw. das Gesicht hinter ihren Händen verbergender Frauen.90 Auch hier verwendet sie Fotografien unterschiedlicher Frauen, obwohl das Possessivpronomen im Titel auf persönliche Aneignungsprozesse durch

89 Kittner 2009, hier S. 87f 90 Annette Messager, Ma collection d’expressions et d’attitudes diverses, 1973, 68 x 50 cm, im Besitz der Künstlerin

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die Künstlerin schließen lässt.91 Eine solche Übertragung liegt durchaus in der Intention emotional aufgeladener Bildinszenierungen. Das empathische Mitleiden konterkariert Annette Messager jedoch spätestens im seriellen Arrangement der monotonen Motive, das nicht nur reale Trauer oder Furcht im Keim erstickt, sondern auch die Glaubwürdigkeit der abgebildeten Emotionen der Protagonistinnen in Mitleidenschaft zieht. Zugleich entfernt sie sich im Arbeitsprozess von einer rein konsumierenden Rezeption der Vorlagen. Durch das Sammeln, Sortieren und Kommentieren veröffentlichter Bilder nimmt die Künstlerin eine aktive Rolle in der Medienkommunikation ein. Sie verbleibt nicht in der Position der Beobachterin zweiter Ordnung, die als Empfängerin von (Werbe)Botschaften nur eingeschränkt Möglichkeiten der Erwiderung hätte. Vielmehr belegt ihre Sammeltätigkeit eine gründliche Auseinandersetzung mit banal erscheinenden Motiven, deren phrasenhafter Charakter in der Anhäufung eklatant wird. Sammlung und Zitat werden so zu einer dekonstruktiven Strategie. »Collecting is reassuring, limitless – until death comes along, just as an object reused and reproduced, or a word repeated a hundred times, no longer means anything, is no more than a sound, an image.«92 Als aktive Rezipientin ruft sie durch diese repetitive Vorgehensweise Irritationen hervor und hinterfragt die Relevanz der kursierenden Motive. Neben der Beschäftigung mit emotionalen und organisatorischen Aspekten des Alltags behandeln die Alben auch ›ihre‹ Rolle als Künstlerin. Beispielsweise finden sich in dem Album: ›comment mes amis me dessineraient‹ 62 gezeichnete Porträts der Künstlerin und erneut täuscht die Betitelung. Tatsächlich ist sie die Urheberin der Zeichnungen. In einem weiteren Album variiert Annette Messager ihre Unterschrift auf der Suche nach einer geeigneten Signatur.93 Ähnlich der Thematisierung von mustergültigen Emotionen geht es auch hier um Konventionen. Die namentliche Nennung von Künstlerinnen und Künstlern ist wesentliche Voraussetzung, um in den Ordnungskategorien der Kunstgeschichte Beachtung zu finden. Mit der eigenhändig angebrachten Signatur 91 Vgl. Kittner 2006, S. 54 92 Messager Interview 1995 , S. 102 93 Album-collection no 24: Ma meilleur signature, 1972, im Besitz der Künstlerin. Vgl. Die Fortsetzungsromane mit Annette Messager Sammlerin, Annette Messager praktische Hausfrau, Annette Messager trickreiche Frau, Annette Messager Künstlerin (Ausst.-Kat.), Rheinisches Landesmuseum, Bonn 1978, S. 53. Bernadac 2006, S. 100-103

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übermittelt sich eine körperliche Präsenz und Legitimation. Um diese Funktionen erfüllen zu können, bedarf es allerdings der Wiedererkennung: »Die Signatur kann nicht für sich selbst unterschreiben, sie muß durch andere Signaturen, von denen angenommen wird, daß sie von derselben Person stammen, authentifiziert und autorisiert werden.«94 Indem Annette Messager unterschiedliche Versionen ihrer Unterschrift vorlegt, verunsichert sie diese herkömmliche Beglaubigungsfunktion. Als veränderbares Zeichen eignet sich ihr Namenszug nicht mehr zur Authentifizierung. Gleichwohl kann auch die Varianz zur spezifischen Handschrift werden, die sich allerdings nicht durch eine festgeschriebene Authentizität legitimiert, sondern in appropriierenden Arbeitsprozessen herstellt.

Rezeption Die gezielte Differenzierung der unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile und ihre sammelnden und archivierenden Aktivitäten rückten innerhalb ihrer ersten Ausstellungen in den Fokus des Interesses. In einem Zeitraum von drei Jahren (1973-1975) hatte Annette Messager neun Einzelausstellungen im europäischen Raum, von denen sechs sie als Sammlerin im Titel einführten.95 Annette Messager bewegte sich mit dieser funktionalen Arbeitsteilung innerhalb der Diskursparameter des damals zeitgenössischen Kunstbetriebs, in dem das Interesse an alltäglichen Materialien, individuellen Mythologien und dem Arbeitsprozess kontinuierlich zu Erweiterungen des Kunstbegriffs führte. Entsprechend lassen sich formale und inhaltliche Verwandtschaften verschiedener Werke der Künstlerin zu gängigen Praktiken im Kunstbetrieb der 1970er beobachten. Nach Hubert Besacier liegen die größten Parallelen in folgenden Punkten: 94 Cherry, Deborah, Autorschaft und Signatur. Feministische Leseweisen der Handschrift von Frauen, in: Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997, S. 44-57, hier S. 53 95 Annette Messager Sammlerin, Annette Messager Künstlerin (Ausst.-Kat.), Städtische Galerie im Lenbachhaus, München/ Musée de Peinture et de Sculpture, Grenoble 1973. Annette Messager collectionneuse – Mes clichés-témoins (Ausst.-Kat.), Galerie Yellow Now, Liège 1973. Annette Messager collezionista, Galleria Diagramma, Mailand 1974. Annette Messager collectionneuse – Les tortures volontaires, Galerie Daner, Kopenhagen/ Galerie Sankt-Pétri, Lund 1974. Annette Messager collectionneuse (Ausst.-Kat.), Arc 2-Musée d’Art

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»By the interruption of the artist into the work her own person becomes both object of investigation (…) and the subject of exhibition (…). By her refusal of traditional aesthetic criteria, and the use of forms inspired by ethnological collections and popular art (…). By the choice of methods which do not at first seem to demand a specialised skill or particular talent – but are available from childhood (collage, colouring, drawing), or are acquired through socialisation (for girls sewing, embroidery, knitting) and by her recourse to photography as a supplement to the pictorial gesture. In the choice, finally, of crude salvaged materials, the detritus of everyday life, carrying with them the emotional charge of their history, roughly cobbled together for the purpose in hand, the work is firmly anchored in the problematic of the 70s.«96

Diese Aufzählung spricht einerseits wesentliche Überschneidungen zwischen Annette Messager und ihren Zeitgenossen an, ebnet andererseits aber bemerkenswerte Differenzen ein. So wird beispielsweise das Phänomen des Sammelns als wissenschaftliche und quasi überindividuelle Untersuchung der Gesellschaft vorgestellt, die für die Künstlerin eine Position außerhalb des Beobachteten bereitstellt. Auch Annette Messager vergleicht rückblickend ihre Arbeitsweise mit der einer Ethnologin97 und ihre Sammlung mit der eines Kuriositätenkabinetts.98 Moderne de la Ville de Paris, Paris 1974. Annette Messager collectionneuse, artiste, truqueuse, femme practique, Galleria Diagramma, Mailand 1975 96 Besacier, Hubert, Sweet Sadism. Annette Messager’s Collection, in: Artscribe, Sommer 1990, S. 60-61, hier S. 60 97 »J’étais une femme qui essayait de faire de l’art. Donc, naturellement, le problème du féminin se posait: j’ai essayé de voir s’il y avait quelque chose à montrer dans ce domaine, un peu comme un ethnologue ou un histoirien de l’art primitif montre ce qu’il y a de beau dans le monde des Aborigènes d’Australie.« Annette Messager interviewt von Jean-Michel Foray, Annette Messager. Collectinneuse d’histoires, in: art press, Nr. 147, Mai 1990, S. 14-19, hier S. 17 98 »Quand j’ai commencé les ›Collections‹, je ne voulais me servir que des objets provenant d’une maison, une vraie maison avec un grenier où sont conservés des vieux livres, des échantillons de tissu, des aiguilles à tricoter et de vieux crayons, toutes ces choses qu’on ne regarde plus, qu’on n’utilise pas, mais qu’on garde et qu’on classe. On tue, en même temps, parce qu’on enferme, mais on donne aussi une autre ordonnance au monde; on montre mieux les choses en les déplaçant et en les ordonnant comme dans un cabinet de curiosités.« Messager Interview 1990, S. 16. Auch Alma-Elisa Kittner operiert

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In diesem Verständnis würde die Künstlerin die ›souveräne Position einer Expertin‹99 einnehmen, die eine sinnstiftende Untersuchung und Präsentation durchführt. Dem widerspricht allerdings der Gegenstand und die Situiertheit ihrer Analyse. Weder erforscht sie außereuropäische Kulturen noch sammelt sie exotische Kuriositäten. Die durchgeführten Alltagsadaptionen thematisieren vielmehr den durch die medialisierte Gesellschaft geprägten Emotionshaushalt einer Europäerin. In dieser Auseinandersetzung agiert Annette Messager nicht aus der auktorialen Position einer Wissenschaftlerin, die ihren Gegenstand einer objektivierenden und distanzierenden Analyse unterzieht. Zusammen mit der nahezu sekkanten Betonung des persönlichen Involviertseins zerstört der Austragungsort – die 2-Zimmer-Wohnung der Künstlerin – den Eindruck, es könne sich um eine unvoreingenommene Bearbeitung handeln. Dass es Annette Messager ebenso wenig darum geht, anhand der privaten Auseinandersetzung ein verallgemeinerbares Exempel zu statuieren, wird durch den fingierten Charakter der Aneignung deutlich. Sie vermeidet einen positivistischen Erkenntnisgewinn, indem Affizierung lediglich vorgetäuscht wird. Eine ähnliche Akzentverschiebung lässt sich im Einsatz von Alltagsfragmenten feststellen. Im Gegensatz zu anderen künstlerischen Positionen der 1970er Jahre dient das Neu-Arrangement der Kommunikationsfragmente keiner transzendierenden Erhöhung des trivial erscheinenden Ausgangsmaterials. Diese Wirkung beschreibt Mathias Winzen am Beispiel des Künstlers Joseph Beuys, der mittels einer »sammelnde[n] Hinwendung zum Banalen und Alltäglichen, die Nobilitierung des Wertlosen, Übersehenen oder Lächerlichen«100 forciert. Unbelebten oder billigen Materialien könne so subjektiver Sinn verliehen, Geringes in Bedeutendes verwandelt werden.101 Diese Form der Aufwertung, bei der Gegenstände, Materialien und Aktionsformen aus einem kunstfremden Kontext entnommen und (weitgehend) losgelöst von ihrem bisherigen mit dem Begriff der Wunderkammer und betont den enzyklopädischen Gestus der Alben-Sammlungen. Vgl. Kittner 2009, S. 234-243 99 Vgl. Knobeloch, Heinz, Porträt des Künstlers als Nomade und Bastler, in: Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, Martin Hellmold u.a. (Hg.), München 2003, S. 213-228, hier S. 220 100 Winzen, Mathias, Sammeln – so selbstverständlich, so paradox, in: Deep Storage – Arsenale der Erinnerung (Ausst.-Kat.), Haus der Kunst, München 1997, S. 16 101 Vgl. Winzen 1997, S. 17

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Bedeutungs- und Verwendungszusammenhang in den Kunststatus überführt, mit ›symbolischer Potentialität‹102 aufgeladen werden, unterscheidet sich von den unprätentiösen Zusammenstellungen Annette Messagers. Ihre Sammlungen evozieren keine mythische Verklärung alltäglicher Materialien oder Verrichtungen. Eruiert werden vielmehr die Bedingungen von Aneignungs- und Inszenierungspraktiken des Alltags wie des Kunstbetriebs. Im Zentrum ihrer Kunst stand in den 1970er Jahren der betont distinktive Umgang mit situativ ausgeführten Arbeitsprozessen. Zunächst diente die Unterteilung ihrer Wohnung dazu, die Bedingungen und Verortung der Kunstproduktion zu konturieren. In der weiteren Reflexion erlaubten diverse performative Rollenwechsel die Erprobung unerwarteter Verhaltensweisen. Anders als von einer dezidierten Funktionstrennung zu erwarten wäre, besitzt ihre Parzellierung kaum ordnende Qualitäten, die Orientierungshilfen bereitstellen.103 Einzelne Themen oder Tätigkeiten lassen sich nicht eindeutig spezifischen Rollen zuweisen. Weder beschränkt sich ihre Aktivität als Sammlerin auf unkommentierendes Erfassen, Bewahren und Archivieren, noch verzichtet sie als Künstlerin auf ihre Kollektionen. Als praktische Frau widmet sie sich unter anderem der Nähtechnik, als Sammlerin stickt sie Sprichwörter nach. Obwohl verschiedene Persönlichkeitsanteile funktional divergierenden Teilsystemen zugeordnet erscheinen, veranschaulichen gerade die auffälligen Überschneidungen das Artifizielle der Differenzierung. Die unterschiedlichen Subjektpositionen ermöglichen es Annette Messager, den jeweiligen Erwartungshaltungen durch Rollenwechsel auszuweichen. Indem sie wahlweise als Konsumentin, Privatperson und Künstlerin auftritt, erweitert sie ihren Handlungsspielraum und problematisiert Definitionsgrenzen und Relationen von Kunst, Künstlerin und Rezeption.

Ma collection de proverbes In ihrer Funktion als Sammlerin begann sie 1973 Sprichwörter zusammenzutragen, die den Charakter von Frauen thematisieren und genera-

102 Vgl. Winzen 1997, S. 17 103 Alma-Elisa Kittner hat herausgestellt, dass vor allem die Arbeitsweise der Künstlerin in beiden – durch räumliche Trennung unterschiedenen – Arbeitsbereiche strukturelle Parallelen aufweist. In beiden Zimmern agiert sie sammelnd, montierend und bewahrend. Vgl. Kittner 2009, S. 82f

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Abb. 5: Messager, Ma collecion de proverbes (Detail), ab 1974

lisieren.104 Diese Redewendungen, die zumeist ein vernichtendes Urteil über die postulierte Geschwätzigkeit, Verlogenheit oder Unberechenbarkeit von Frauen fällen und wiederholt Gewalt als notwendige Züchtigung legitimieren, stickte sie ab 1974 mit farbigem Garn nach (Abb. 5).105 CHEZ LA FEMME

L’EAU POUR LES BÊTES,

LES DENTS DE SAGESSE NE POUSSENT

LE VIN POUR LES HOMMES,

QU’APRES LA MORT106

LE BÂTON POUR LES FEMMES107

Ohne jede technische Akkuratesse, nachlässig in der Verarbeitung und Komposition setzte sie über 200 solcher Redewendungen in Stickereien um. Als Untergrund dienten hochrechteckige Leinentücher, deren ausgefranste Ränder weder abgesteppt noch gesäumt wurden. Obwohl die Tücher separat hinter Glas gerahmt ausgestellt werden, machen sie einen 104 Album-collection no 30: Ma collection de proverbes. Messager 1978 (Ausst.Kat.), S. 53 105 Annette Messager, Ma collection de proverbes, ab 1974, Stickerei auf Leinen, jeweils 35 x 28 cm, verschiedene Sammlungen u.a. Frac Lorraine, Metz/ Kunsthalle, Hamburg 106 Messager, Annette, Ma collection de proverbes, in: Jahresring 38. Der öffentliche Blick, Kasper König und Hans-Ulrich Obrist (Hg.), München 1991, ohne Seitenangabe 107 Messager 1991, ohne Seitenangabe

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Sammlungen bei Annette Messager

zerknitterten Eindruck. Die Sätze erscheinen leicht schräg gestellt zweibis vierzeilig im Zentrum der unversäumten Nesselstoffe, die Restfäden blieben unverarbeitet, schimmern durch den leicht transparenten Stoff hindurch oder schauen an der Seite hervor. In Großbuchstaben ausgeführt, weisen die Wörter weder einen einheitlichen Schriftgrad noch einen gleichbleibenden Zeichenabstand auf. Im Gegenteil suggeriert das gedrängte Schriftbild am rechten Rand einiger Tücher eine spontane Arbeitsweise, in der auf Vorzeichnungen verzichtet wurde. Durch diese Verarbeitung desavouiert die Künstlerin Aufforderungen zur Sorgfalts- und Ordnungspflicht, die gemeinhin Näh- und Stickanweisungen begleiten. In einer Sonderedition veröffentlichte Annette Messager 102 dieser Tücher und stellte ihnen die folgende Einleitung voran: »›Le proverbe est l’enfant de l’expérience‹ dit-on. En 1973 j’ai commencé à rassembler ce que la sagesse populaire avait retenu des femmes au cours des siècles et dans les différents pays. Le fond commun en est très pessimiste. J’ai bientôt observé que les hommes redoutent avec épouvante les femmes tout autant qu’ils craignent la mort; ce sont les 2 phénomènes inéluctables à subir. Les autres sujets de ces ›vérités‹ tombées dans l’usage commun semblent tous avoir leur contraire, pour nous rassurer dans notre vie quotidienne – Tandis qu’ici il y a unanimité pour montrer le fléau féminin qui aurait détérioré le monde entier. Ces clichés transmis par les hommes font une seule exception: la mère, qu‹ils ne tiennent plus pour un être du sexe féminin. Annette Messager collectionneuse«108

Annette Messager folgt der kulturellen Tradition, indem sie Sprichwörter sammelt, archiviert und kopiert. Sie reiht ihre Arbeit damit in die seit dem 16. Jahrhundert veröffentlichten parömiographischen Kompilationen ein, die sich darum bemühen, mündlich verbreitete Sprichwörter und Redewendungen lexikographisch zu erfassen.109 Sprichwörter gelten als »allgemein bekannte, festgeprägte Sätze, die eine Lebensregel oder Weisheit in prägnanter, kurzer Form ausdrücken.«110 Sie werden in 108 Messager, Annette, ma collection de proverbes. annette messager collectionneuse, Giancarlo Politi, Mailand 1976, Auflage von 1500, ohne Seitenangabe 109 Vgl. Schipper, Mineke, ›Eine gute Frau hat keinen Kopf‹. Europäische Sprichwörter über Frauen, München 1996, S. 30f 110 Mieder, Wolfgang, Sprichwörter/Redensarten – Parömiologie, erschienen in der Reihe: Studienbibliographien Sprachwissenschaft Bd. 27, Heidelberg 1999, S. 5

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erster Linie mündlich verbreitet, was letztlich zu ihrer Anonymisierung führt und eine universelle Einsatzfähigkeit ermöglicht. Zudem hebt ihr formaler Aufbau die Sätze aus der Umgangssprache hervor und fördert ihre Einprägsamkeit.111 »Die oft vorhandene ›übertragene‹ Bedeutung sichert (…) eine vielfache Anwendbarkeit, was wiederum zur Verallgemeinerungstendenz beiträgt. Diese nun, in Verbindung mit Charakteristika wie allgemeiner Bekanntheitsgrad, weite Verbreitung und Langlebigkeit, verleiht dem Sprichwort einen Allgemeinheitsanspruch im Sinne einer gültigen Erfahrungs- und Lebensregel, die letztlich als normative Forderung wirkt.«112

Die von der Künstlerin ausgewählten Redewendungen führen Frauen als nachtragende, verlogene, wechselhafte, unberechenbare, aufdringliche oder geschwätzige Wesen vor.113 Diese tendenziöse Zusammenstellung ist nicht das Ergebnis eines spezifischen Fokus, sondern kann als repräsentatives Extrakt älterer Kompilationen gelten, in denen unter den Stichwörtern Frau, Tochter oder Weib ausgiebig die Unbeständigkeit, Falschheit und Dummheit des weiblichen Geschlechts verhandelt wird.114 111 Zu den rhetorischen Stilmitteln vgl. Schipper 1996, S. 9-15. Mieder 1999, S. 5f 112 Daniels, Karlheinz, Geschlechtsspezifische Stereotypen im Sprichwort. Ein interdisziplinärer Problemaufriß, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 56, 16. Jg. 1985, S. 18-25, hier S. 20 113 So finden sich unter anderem folgende Sprüche: »La femme a les jupes longues et l’esprit court.« »Sac plein de puces est plus facile à garder qu’une femme.« »À toute heure chien pisse et femme pleure.« »Dieu aime l’homme quand il lui ôte sa femme.« »La femme est comme une épice, plus on tape dessus, plus elle exhale un arôme agréable.« »Trois femmes à elles seules font un marché.« »Entre le oui et le non d’une femme, il n’y a de place même pas pour la pointe d’une aiguille.« »Bats ta femme tous les matins, si tu ne sais pas pourquoi, elle, elle le sait.« »Aucune femme n’a jamais dit la vérité nue.« 114 Vgl. Wander, Karl Friedrich Wilhelm, Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das Deutsche Volk [1867], Darmstadt 1964. Darin werden Lehnübersetzungen festgehalten und der grenzüberschreitende Einsatz von Redewendungen dokumentiert. Unter ihnen sind auch einige der von Annette Messager verwendeten Sprichwörter. Ein Thema, das von der Künstlerin vernachlässigt wird, in den Kompilationen jedoch einen breiten Raum einnimmt, ist die umsichtige Haushaltsführung durch Frauen und die daraus entstehenden finanziellen und emotionalen Vorteile für die Familie.

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Sammlungen bei Annette Messager

In der Auswahl von Annette Messager erscheinen Frauen allenfalls durch anspruchsloses Verhalten in einem gnädigen Licht,115 und lediglich in der Rolle der Geliebten oder Mutter werden sie gewürdigt.116 Diese Ausnahmen betont auch Mineke Schipper in ihrer Auswertung europäischer Sprichwörter. Sie stellt fest, »(...) daß die einzige allgemein positiv beurteilte Kategorie die Rolle der Frau als Mutter war: einzigartig, liebevoll, vertrauenerweckend, hart arbeitend.«117 Karlheinz Daniels verglich die Wirkungsweise eines Sprichworts mit der eines Stereotyps. Beide zeichnen sich durch eine verkürzende Formelhaftigkeit aus und besitzen handlungsrelevante und identitätsstiftende Motive.118 »Wie das geschlechtsspezifische Sprichwort ist auch das Stereotyp auf die Angehörigen einer sozialen Klasse von Menschen gerichtet, denen in generalisierend-verallgemeinernder Weise sowie mit behauptender und wertender Absicht in Form einer ›All-Aussage‹ bestimmte Qualitäten zu- oder abgesprochen werden. (…) Dabei verselbstständigen sich Stereotyp und Sprichwort in der Weise, daß sie nicht mehr an der eigenen Erfahrung gemessen, sondern tradiert und ungeprüft übernommen werden.«119

Ohne also zwingend auf persönlichen Erfahrungen zu basieren, (re) produziert der Einsatz von Sprichwörtern Leitbilder und Normen, indem positive wie negative Verhaltensmuster vorgeführt werden. Während ihre anonyme Verbreitung eine ›Überprüfung‹ der Aussagen unmöglich macht, beanspruchen sie zugleich die Autorität einer »alten Weisheit«.120 Gültigkeit beanspruchen Sprichwörter nicht aufgrund einer inhaltlich zwingenden Argumentation, sondern durch den Verweis auf ihre generationsübergreifende Tradierung. Zeit wird hier zum wahrheits- und sinnstiftenden Faktor. Mit wachsendem Zeitraum, in dem die Gültigkeit Vgl. Segalen, Martine, Le mariage et la femme dans les proverbes du sud de la France, in: Annales du Midi (Toulouse), Nr. 123, 1975, S. 265-288 115 »La femme la mieux louée est celle dont on ne parle pas.« »Les bonnes femmes sont toutes au cimetière.« »Le silence est le plus beau bijou d’une femme.« »Femme qui veut parler Latin, pour le mari chagrin.« 116 »Une mâitresse est reine, une femme est esclave.« »Que le balai de la mort frappe toutes les femmes, sauf ma mère.« 117 Schipper 1996, S. 18 118 Vgl. Daniels 1985, S. 22 119 Daniels 1985, S. 21 120 Schipper 1996, S. 12

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einer spezifischen Aussage in der Kommunikation aufrechterhalten wird, wächst ihre Glaubwürdigkeit.121 Der Gebrauch von Sprichwörtern generiert so ihre Geltung und legitimiert ohne jeden Begründungszwang einen traditionellen Moralkodex. Im Zusammenhang mit Annette Messagers Sammelalben, in denen sie vor allem stereotype Bildinszenierungen der Printmedien verarbeitet, lassen sich Parömien als eine historische Variante der Popularisierung und Stabilisierung moralischer Richtlinien und gesellschaftlicher Verhältnisse begreifen. Dabei sind Sprichwörter als Produkte männlicher Profilierung anzusehen. Sprichwortsammlungen, die sich vor allem in der Romantik einer großen Beliebtheit erfreuten, wurden bis zum 20. Jahrhundert ausschließlich von Männern herausgegeben. »Während solche Sprichwörter, die den Mann aus der Sicht der Frau beurteilen, sehr selten sind, ist die Zahl der Sprichwörter zum Thema Frau fast unüberschaubar, wobei in signifikanter Weise negative Eigenschaften und rigide festgelegte Rollenzuweisungen dominieren.«122

Entsprechend bezeichnet Mineke Schipper Sprichwörter als ›Männergenre‹. Sie sind aus einem ›männlichen‹ Standpunkt heraus formuliert und argumentieren in patriarchaler Weise.123 So verwundert es nicht, dass in Annette Messagers Sammlung die Sticktechnik als historisch den Frauen zugewiesene Ausdrucksweise zunächst einen auffälligen Kontrast zu den frauenfeindlichen Sprüchen bildet. Der bürgerlichen Geschlechterordnung gemäß gibt es allerdings auch Überschneidungen zwischen der misogynen Rhetorik der Redewendungen und dem traditionellen Image der Sticktechnik. Beide verweisen Frauen auf das Haus: »Sprichwörter bilden überall vor allem für die verheiratete Frau eine Aneinanderreihung von Ge- und Verboten. Für sie scheint nur eine Wirklichkeit vorbehalten zu sein: das Haus und ein Wesen, um das sich alles dreht: der Ehemann.«124

Zur Ausgestaltung eines vermeintlich gemütlichen Haushalts gehörten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestickte Textilien. 121 Vgl. Hahn, Alois, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt a.M. 2000, S. 361 122 Daniels 1985, S. 18. Vgl. Schipper 1996, S. 20f. Seiler, Friedrich, Deutsche Sprichwörterkunde [1922], München 1967, S. 351 123 Vgl. Schipper 1996, S. 20f 124 Schipper 1996, S. 36. Vgl. auch Segalen 1975, S. 282

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Sammlungen bei Annette Messager

Annette Messager führt damit neben der Parömiographie eine zweite Genealogie fort: die der mit Sprüchen bestickten Überhandtücher, Möbelborten, Decken, Kissen und Wandschoner (Abb. 6). Diese textilen Dekorationsobjekte wurden in zahlreichen Veröffentlichungen zur Inneneinrichtung propagiert. Erörterungen, Aufforderungen oder Anleitungen speziell zum Besticken von Gebrauchsgegenständen fanden sich in Musterbüchern, Frauenjournalen, Haushaltsratgebern, aber auch in kunstgewerblichen Fachzeitschriften, die sich der stilvollen Gestaltung verschrieben.125 Wie Irene Nierhaus bereits herausgestellt hat, kam es in den verschiedenen Publikationen zu durchaus gegensätzlichen Appellen. Während Frauen- oder Wohnmagazine mit Rat und Mustern zur Verzierung von Gegenständen und Möbeln aufwarteten, kritisierten vornehmlich Kunstgewerbe- und Architekturreformer solche Ambitionen mit den Argumenten, es handele sich hier um schlechten Geschmack, unpassenden Naturalismus bzw. Zeitund Geldverschwendung.126 Dennoch dokumentieren zahlreiche Textilien die große Popularität eines spezifischen Formen- und Textrepertoires, das von Frauen unterschiedlicher sozialer Schichten ausgeführt wurde. »Aus Elternhaus, Schule und Kirche bezog man vorrangig die Kenntnis der Sprüche, Sprichwörter, literarischen Verse, Bibelzitate und Gebete. Ein nicht zu unterschätzender Übermittler für die Frauen waren jedoch schon damals [Ende des 19. Jahrhunderts] Haushaltungsbücher, Frauenzeitschriften und Ratgeber. Sie setzten an den Beginn jeden Kapitels mit Vorliebe einen Spruch und untermauerten ihre Anschauungen und Behauptungen wiederum mit Spruchweisheiten, um vornehmlich die Tugenden zu preisen, die spezifisch weibliche sein sollen: Fleiß, Ordnungsliebe, Sauberkeit und Sparsamkeit.«127

Gestickt wurden moralisierende Leitsätze zur angemessenen Haushaltsführung, Verhaltensanweisungen, religiöse Appelle und Treueschwüre, 125 In Deutschland beispielsweise: Calm, Marie, Weibliches Wirken in Küche, Wohnzimmer und Salon. Praktische Winke für Frauen und Mädchen, Berlin 1879. Davidis, Henriette, Die Hausfrau. Praktische Anleitung zur selbständigen und sparsamen Führung von Stadt- und Landhaushaltungen, Leipzig 1877. Koch, Alexander (Hg.), Deutsche Kunst und Dekoration. Monatsheft für Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskumnst und künstlerische Frauenarbeit, Darmstadt seit 1897. Bruckmann, Hugo und Julius Meier-Graefe (Hg.), Dekorative Kunst, München seit 1898 126 Vgl. Nierhaus 1999, S. 115-118 127 Stille, Eva, Trautes Heim Glück allein. Gestickte Sprüche für Haus und Küche, Frankfurt a.M. 1979, S. 172f

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Abb. 6: Überhandtuch (Detail), um 1880, Stickerei auf Leinen

die sich sowohl auf Individualpersonen als auch auf die Nation beziehen konnten. Einige Formate, Motive und Sprüche sind spezifischen Räumen des Hauses sowie bestimmten Ereignissen wie Hochzeiten, Taufen oder Todesfällen vorbehalten. Damit drücken sich auf den Textilien Wirkungsund Erlebnisräume von Frauen aus.128 In der überwiegenden Zahl wirken sie konsolidierend auf herrschende Normen und Ordnungskategorien. Wie bei Sprichwörtern taucht auch in der Sticktechnik Zeit als Garant für eine ernstgemeinte Auseinandersetzung auf. Vor allem der erhöhte temporale Aufwand und die zur Ausführung notwendige Konzentration bei dieser kleinteiligen Arbeitsweise können als Indikator für Aufrichtigkeit gelten, was die Sticktechnik zum Ausdrucksmittel für die Beständigkeit von Lebensdevisen und emotionalen Verbindungen prädestinierte. Diesen herkömmlichen Verwendungszusammenhang zitiert Annette Messager durch die Materialien, die Technik und die Satzstrukturen. Auch in Interviews parallelisiert sie traditionsbewusst ihr Werk mit den historischen Erzeugnissen: »Je trouvais intéressant de border, de manière très traditionnelle, des phrases sur des mouchoirs, comme les ouvrages de dames.«129 An einer anderen Stelle heißt es: »j’ai brodé sur tissu environ 200 de ces sentences hériditaires au point de tige ige comme les petits napperons traditionnellement décorés par les dames et les jeunes filles.«130 128 Vgl. Stille 1979 129 Annette Messager interviewt von Bernard Marcadé, in: Messager 1990 (Ausst.-Kat.), S. 114 130 Messager 1978 (Ausst.-Kat.), S. 44

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Zudem betont Annette Messager ihre exakte Übernahme der vorgefundenen Redewendungen: »I embroidered them with great care, I didn’t change a thing – apart from the fact of making them into a large number of harmless traditional embroideries.«131 Allerdings unterscheidet sich ihre Bearbeitung von den traditionellen Stickereien nicht nur durch die serielle Ausführung. Mit ihrer nachlässigen Arbeitsweise eignen sich Annette Messagers Tücher weder inhaltlich noch formal zur Repräsentation ›weiblicher‹ Tugenden. Sie hintertreiben die Aufforderung zum Hausfleiß. »The ›Annette Messager, Practical Woman‹ of the 1970s was a fighting woman. Embroidering 200 proverbs about women, for example, was no lightweight frivolity, but a provocative political act; the apparent acceptance of my condition as a practical woman, embroidering in the home all day long, is for me a subversive act.«132

Ebenso wie Annette Messager die Sprichwörter durch eine wortgetreue Übernahme desavouiert,133 goutiert sie die Stickpraxis nur vordergründig. Durch die Gegenüberstellung der fürsorglichen Frauenrolle (bestickte Haustextilien) mit dem Schreckensbild, das die misogynen Parömien zeichnen, verbindet Annette Messager konträre Geschlechterkonstruktionen und spielt zwei stereotype und herrschaftsstabilisierende Ausdrucksweisen gegeneinander aus. Die Technik wird nicht affirmativ verwendet, um kontradiktorisch den Wahrheitsgehalt der Sätze anzuzweifeln. Vielmehr unterliegt die herkömmliche Stickpraxis selbst einer kritischen Reflexion.134 In abgewandelter Form lässt sich hier durchaus die destruktive Wirkung beobachten, die Mathias Winzen als Effekt der Musealisierung von Objekten der täglichen Lebensrealität beschreibt: 131 Annette Messager interviewt von Robert Storr, in: Messager 1995 (Ausst.Kat.), S. 106 132 Annette Messager interviewt von Jean-Louis Froment, in: Penetrations (Ausst.-Kat.), Gagosian Gallery, New York 1997, S. 74 133 »There are loads of proverbs about women and death – things humanity is afraid of, I suppose.« Messager Interview 1995, S. 106 134 Dies ist ein Umstand, der in den Besprechungen der Arbeit häufig nicht klar herausgehoben wird: »By adopting the exemplary feminine skill of embroidery, Messager highlighted the subtle indoctrination of the attitudes espoused by the proverbs – how, historically, these viewpoints have been entrenched and internalised by women as part of their own handicrafts. In

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»In der Paradoxie der bewahrenden Zerstörung beim Sammeln geht die Beschädigung oder Beeinträchtigung des zu sammelnden Gegenstands darauf zurück, daß er aus seinem vorherigen Kontext, seinem alltäglichen Verwendungszusammenhang gerissen wird.«135

Während hier durch den Kontextentzug auch Sinnzusammenhänge verloren gehen, gelingt es Annette Messager, traditionelle Rhetoriken beizubehalten. Sowohl die Redewendungen als auch die Sticktechnik, treten deutlich in ihren herkömmlichen Konturen in Erscheinung. Verhindert wird hingegen die akzeptierende Übernahme dieser Rhetoriken durch die Rezipierenden. In dem Annette Messager verschiedene Alltagsmedien – unter Beibehaltung ihres gewohnten Wahrnehmungscodes – kontrastiv kombiniert, werden gesellschaftlich wirksame Geschlechterstereotype zur Disposition gestellt.

ZUSAMMENFASSUNG Zentral für die feministischen Interventionen der 1970er Jahren war die Untersuchung von Ausbildungs-, Kreations- und Ausstellungsräumen des Mainstream-Kunstbetriebs. Dabei wurde nicht nur die Marginalisierung von Frauen innerhalb dieser klassischen Institutionen thematisiert, sondern auch nach den strukturellen Voraussetzungen für die konsequent pejorative Besetzung von ›weiblichen‹ Wirkungs- und Aufgabenbereichen gesucht. Diese Fragestellungen behandelte das Ausstellungsprojekt Womanhouse, indem alltägliche Reproduktionsarbeiten ebenso wie handwerkliche Renovierungsarbeiten im kollektiven Kreationsprozess zu künstlerischen Praktiken erklärt wurden. Der Privatraum und die in ihm situierten Handlungen traten in ihrer normierenden und identitätenstiftenden Funktion hervor. Die Ineinssetzung von Wohnraum, Atelier und Präsentationsort erwies sich als eine gelungene Thematisierung kunstbetrieblicher Strukturen. Dabei wurden die unterschiedlichen Renommees dieser Räume erörtert und umbewertet. Statusunterschiede, die auf geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen zurückzuführen sind, her use of domestic crafts and materials, Messager makes clear connection with the feminine, consequently turning her back on dominant art practices.« Islands. Contemporary Installations from Australia, Asia, Europe and America (Ausst.-Kat.), National Gallery of Australia, Canberra 1996, S. 54f 135 Winzen 1997, S. 12

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Zusammenfassung

konnten so problematisiert und temporär aufgehoben werden. Die öffentliche Verhandlung des gewöhnlich abgeschlossenen privaten Raumes lenkte die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche häusliche Arbeitsabläufe und Organisationsstrukturen. Durch diese Öffnung gerieten Praktiken wie die Sticktechnik ins Blickfeld. Eine ähnliche Herangehensweise wählte Annette Messager, indem sie ihre Privatwohnung multifunktional umdefinierte und eine Vielzahl alltäglicher Handlungen in ihre künstlerische Praxis integrierte. Die Sticktechnik befindet sich in diesem Setting auf vertrautem Terrain und wurde unter Beibehaltung ihres herkömmlichen Image als künstlerische Ausdrucksweise eingesetzt. In der Kombination von Nadelarbeit und misogynen Sprichwörtern kontrastieren zunächst geschlechtlich konnotierte Rhetoriken. Allerdings unterliegen beide Anteile einem kritischen Blick. Es wird nicht nur die lange Tradition und weite Verbreitung frauenverachtender Sprüche sichtbar. Ebenso überrascht die geduldvolle und ausführliche Reproduktion der Künstlerin, die mit den demonstrativ nachlässigen Stickereien auch die selbstgewählte Arbeitsweise hinterfragt. Annette Messager nutzt so die Reputation der Sticktechnik, ohne sie affirmativ zu bestätigen. Diese und andere feministische Positionen verstehe ich als Referenzfeld für die aktuelle Kunstproduktion. Hier wurden wichtige Fragestellungen indiziert. Dies betrifft die Einführung bislang aufgrund ihrer geschlechtlichen Zuordnung nicht akzeptierter Techniken, die wachsende Thematisierung des Arbeitsprozesses selbst, die zunehmende Fokussierung auf identitätskonstruierende Prozesse in Abgrenzung zu einem modernen Subjektverständnis und die aus der Institutionenkritik resultierenden Strategien der Dekontextualisierung. Erst im Anschluss an diese kritischen Auseinandersetzungen ist eine nachhaltige Integration der Sticktechnik in den Kunstbetrieb überhaupt denkbar. Ihre historischen Konnotationen mussten fürderhin nicht übergangen werden, sondern befähigten Stickereien dazu, auf geschlechtsspezifische Setzungen aufmerksam zu machen. Mit dem Begriff Referenzfeld ist bereits angedeutet, dass hier weder einzelne Künstlerinnen als Vorläuferinnen noch konkrete Arbeiten der 1990er Jahre als direkte Ableitung aus den vorgängigen Jahrzehnten betrachtet werden sollen. Die Verbindung der Sticktechnik mit dem privaten oder intimen Raum fällt heute anders aus, dennoch ist Privatheit – und reziprok Öffentlichkeit – nach wie vor angesprochen. Darüber hinaus steht der Status der Technik weiterhin zur Disposition. Grayson Perry, der Turner-Prize-Träger des Jahres 2003, kann als Paradebeispiel dieser

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Diskurs-Schauplätze gelten. Er bedient sich neben dem Töpfern auch textiler Arbeitsweisen. In seinen selbstbestickten Kleidern tritt Grayson Perry gelegentlich als sein Alter Ego Claire auf. Dass diese Inszenierungen inzwischen zwar preiswürdig sind, aber dennoch Empörung hervorrufen, ist Ausdruck weiterhin ungelöster Fragen im Hinblick auf akzeptierte Geschlechterrollen und künstlerische Arbeitsweisen.136 Ein Vergleich mit den Positionen der 1970er Jahre lässt in diesem Zusammenhang Kontinuitäten evident werden und kann zugleich die Wahrnehmung für Wandlungsprozesse sensibilisieren.

136 Vgl. URL: http://www.tate.org.uk/britain/turnerprize/2003/perry.htm, 18.04.2010

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KONVERSATIONEN. DAS COME-BACK HISTORISCHER STICKEREIEN Im gegenwärtigen Kunstbetrieb tritt die Sticktechnik vor der Kulisse ihrer traditionellen Inszenierung auf. Aus welchen Gründen auch immer sich Künstlerinnen und Künstler zu dieser Arbeitsweise hinwenden, spätestens mit dem Einsetzen der Rezeption wird die andauernde Wirkung des überkommenen Image vordergründig. Die kunstimmanenten Bezugnahmen auf die Vergangenheit der Technik fallen in unterschiedlicher Intensität aus. Konkrete Auseinandersetzungen mit der Geschichte von Stickereien bilden einen Pol, der hier anhand einer Arbeit der US-amerikanischen Künstlerin Elaine Reichek exemplifiziert werden soll. Aber auch Kunstwerke, die sich durch unübliche Formate und provozierende Motive demonstrativ von zierlichen Nadelarbeiten abheben, können gerade mit diesen Formfehlern die herkömmlichen Konnotationen heraufbeschwören. Es ist daher stets sinnvoll, das traditionelle Image als nicht immer sichtbare Matrix zu bedenken, die ihren bedeutungsstiftenden Anteil unter Umständen erst auf den zweiten Blick entfaltet. Dies möchte ich an einer Arbeit von Jochen Flinzer zeigen.

MUSTERGÜLTIGKEITEN BEI ELAINE REICHEK Unter dem Titel: When this You see... veröffentlichte Elaine Reichek1 eine Reihe von Mustertüchern und anderen Stickereien, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre entstanden sind. Durch die Ergänzung: 1

Elaine Reichek hat an den Hochschulen Yale University, New Haven und am Brooklyn College, New York Malerei studiert. Seit den 1970er Jahren setzt sie Sticken – neben anderen Arbeitsweisen wie Fotografie, Video und Installationen – als Ausdrucksmittel ein. Markante Solo-Präsentationen ihrer Arbeiten waren: At Home & in the World (Ausst.-Kat.), Palais des Beaux-Arts, Brüssel 2000. Projects 67: Elaine Reichek, The Museum of Modern Art, New York 1999. Model Homes (Ausst.-Kat.), Stichting De Appel, Amsterdam 1994. Eine

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Mustergültigkeiten bei Elaine Reichek

...Remember me vervollständigte David Frankel in seinem Begleittext den begonnenen Satz, um mit der Aufforderung zum Erinnern programmatisch auf die Zielrichtung der Kunst Elaine Reicheks hinzudeuten.2 In ihren Werken untersucht sie die Wirkungsweise unterschiedlicher Vermittlungsmedien in der Wissensproduktion und im Erinnerungsprozess. Neben der Fotografie ist die Sticktechnik ihre zentrale Ausdrucksweise. Stickend kombiniert Elaine Reichek vorgefundenes Bild- und Textmaterial. Ihre Zitate entstammen der Mythologie, der Literatur, der Kunstgeschichtsschreibung oder anderen Wissenschaftsdiskursen ebenso wie den Alltagsmedien. Gezielt widersprüchlich collagiert sie zirkulierende Text- und Bildfragmente und irritiert verbreitete Gewissheiten.

Sampler (Kruger/Holzer) Im Sampler (Kruger/Holzer)3 verarbeitet Elaine Reichek historische Mustertücher aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Abb. 7).4 Diese Sampler arrangiert sie spaltenförmig auf einem Leinentuch. Während sie die Breite der Tücher in etwa beibehält, werden sie in der Länge erheblich erweitert. Der Aufbau des so neu entstandenen Mustertuchs virtuelle Ausstellung im Netz: Madam I’m Adam, Isabella Stewart Gardner Museum, Boston, URL: http://www.gardnermuseum.org/madamimadam/ flash_home.html, 18.04.2010. Zu ihren Ausstellungsbeteiligungen gehören: The Fabric of Myths (Ausst.-Kat.), Compton Verney, Warwickshire 2008. What is Painting? Contemporary Art from the Collection, Museum of Modern Art, New York 2007. Pricked. Extreme Embroidery (Ausst.-Kat.), Museum of Arts and Design, New York 2007. New York. States of Mind (Ausst.-Kat.), Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2007. Déjà-vu. Re-working the past (Ausst.-Kat.), Katonah Museum of Art, New York 2000. Loose Threads 1998 (Ausst.-Kat.). A Labor of Love (Ausst.-Kat.), The New Museum of Contemporary Art, New York 1996. Division of Labor 1995 (Ausst.-Kat.). The Subversive Stitch (Ausst.Kat.), Simon Watson Gallery, New York 1991 2

Frankel, David, …Remember me, in: When this you see..., Elaine Reichek (Hg.),

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Elaine Reichek, Sampler (Kruger/Holzer), 1998, Stickerei auf Leinen, 77,5 x 55,3

New York 2000, S. 7-14 cm, Sammlung Melva Bucksbaum 4

Phebe Smith, 1768, Stickerei auf Leinen, 18,4 x 54,6 cm, Privatsammlung. Hannah Breed, 1756, Stickerei auf Leinen, 25,4 x 56 cm, Privatsammlung. Die Mustertücher können online als Vorlagen-Set erworben werden: URL: http://www. emlis.com/scarletletter.htm, http://www.emlis.com/scarletletter_3.htm, 18.04.2010

KONVERSATIONEN. DAS COME-BACK HISTORISCHER STICKEREIEN

Abb. 7: Reichek, Sampler (Kruger/Holzer), 1998

ist an seine historischen Vorbilder angelehnt: Durch ein ZickzackBand gerahmt wurden in zeilenförmiger Anordnung Buchstaben und Zahlen überwiegend im Kreuzstich gestickt, einzelne Zeichenreihen sind durch Ornamentbänder separiert. Allerdings nimmt Elaine Reichek Veränderungen in der farblichen Gestaltung und der Abfolge vor. Zu den Alphabetreihen der historischen Mustertücher addiert sie vor allem in der unteren Hälfte ihres Samplers weitere Buchstabenzeilen und erweitert damit die typografische Vielfalt. Dafür verzichtet sie auf florale und figurative Elemente sowie die Begleitsätze der Vorlagen. Sie behält lediglich die Entstehungsjahre und Mädchennamen bei. Mit ihnen autorisiert sie jeweils einen Spruch in der oberen Hälfte der Spalten und fügt zwei weitere Zitate in den unteren Partien hinzu. In einheitlich dunklem Ton gestickt setzen sich diese Aussagesätze leicht von den bunten Alphabetreihen ab. Das Mustertuch von Phebe Smith aus dem Jahr 1768 ergänzt Elaine Reichek durch die Allgemeinweisheit: »A fool and his money are soon parted.«, gefolgt von dem Namen der Erzeugerin und dem Entstehungsjahr der historischen Stickerei. Im weiteren Verlauf

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Mustergültigkeiten bei Elaine Reichek

dieser Spalte erscheint das Zitat: »I shop therefore I am.« von Barbara Kruger (1987), auch hier werden Name und Jahr festgehalten. Auf der rechten Seite findet sich zunächst der Satz »DO AS YOU WOULD BE DONE BY.«, ausgestattet mit der Signatur und Datierung des historischen Tuchs: Hannah Breed 1756. Dazu in Bezug setzt Elaine Reichek ein Truism von Jenny Holzer: »ABUSE OF POWER COMES AS NO SURPRISE.« aus dem Jahr 1977. Die von Elaine Reichek ausgesuchten Sinnsprüche der oberen Hälften thematisieren gängige Redewendungen, die zu Sparsamkeit und Nächstenliebe auffordern. Sie sind als Begleittexte von Mustertüchern gebräuchlich, erscheinen allenfalls im Kunstkontext durch ihre Simplizität suspekt. Diesen Binsenweisheiten werden Zitate der Künstlerinnen Jenny Holzer und Barbara Kruger zugeordnet. Die Feststellung, dass ein Dummkopf sein Geld schnell verliert, kontrastiert mit Barbara Krugers Spruch: I shop therefore I am. Und der zwangsläufige Missbrauch, der der Macht immanent ist, kann als Kehrseite der moralischen Devise: Was du nicht willst, das man dir tut... verstanden werden.

Mustertücher Als Modell- oder Mustertücher gelten textile Objekte, auf denen verschiedene Schrifttypen, ornamentale und figurative Elemente als Exemplum zusammengestellt wurden. Sie dienen als Erinnerungsstützen, Erziehungsmittel und Repräsentationsobjekte. Geoffrey Warren unterscheidet in der Genealogie der Mustertücher verschiedene Phasen, in denen historisch wechselnde Aufgabenfelder hervortreten: »The sampler was originally a sample or record of a needlewoman’s (or man’s) stitches, and dates back to ancient Egypt. Samplers continued to be made by professionals and amateurs in some quantity from the 16. century onwards, although few of these early ones have survived. Gradually, however, they become the perserve of children; so that during the 18. and 19. centuries one finds most of them being execuded mainly by girls from the age of 6 to 16 until the end of the 18. century, even in children’s hands, they were what they had always been: samplers of work, but, as with so many an art and craft, their nature changed. By the end of the 19. century they were more of an exercise in needle work to be framed and hung on the wall, than a reference-guide.«5 5

Warren, Geoffrey, A stitch in time. Victorian and Edwardian needlecraft, London 1976, S. 122

KONVERSATIONEN. DAS COME-BACK HISTORISCHER STICKEREIEN

Ursprünglich ein gängiges Instrumentarium im handwerklichen Werkstattbetrieb war bereits im 18. Jahrhundert der Konnex von Mustertüchern und ›weiblicher‹ Handarbeit so festgeschrieben, dass ein Universallexikon aller Wissenschaften und Künste sie als reine Frauenarbeit definierte: »Modell-Tuch, wird bey der Näherey von dem Frauenzimmer dasjenige Tuch genennet, worein sie Buchstaben, allerley Figuren, Muster und so fort nach denen ganz unterschiedenen Arten derer Stiche, soviel deren nur im Nähen vorkommen können, sauber und mit bunder Seide zu nähen pflegen, die sie hernach bey vorkommender Bedürfniß zu einem Muster dienen lassen, wenn ihnen eines und das andere davon wieder aus dem Gedächtnis entfallen wäre.« 6

Neben diesem praktischen Nutzen als Schablonen übernahmen Mustertücher in der Mädchenbildung des 18. und 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Denn anhand der gestickten Alphabet- und Zahlenreihen wurde Schreiben, Lesen und durch das Auszählen der Stiche auch Rechnen unterrichtet. Das fertige Tuch war im bürgerlichen Haushalt des 19. Jahrhunderts omnipräsent. Es konnte mit einem Rahmen versehen in Wohnräumen ausgestellt sein und so das handwerkliche Geschick der Herstellerin repräsentieren. »Im Sinne von vorbildhaften, mustergültigen Gestaltungen demonstrieren sie [die Mustertücher] das vorbildliche Können der Gestalterinnen. Da die Tücher im Zusammenhang mit der Entfaltung und Demonstration weiblicher, christlich-ständischer und bürgerlicher Tugenden stehen, müssen sie auch als Vorbildtücher weiblicher Tugenden verstanden werden.«7

Die charakterliche Erziehung spricht bereits aus der Existenz des Mustertuchs. Denn um es in der erwartet ordentlichen und regelmäßigen Erscheinung zu vollenden, mussten die Mädchen ausdauernde Disziplin aufbringen. Auch die persönlichen Widmungen und Sinnsprüche thematisieren die manierliche Bildung der Mädchen. Beispielsweise bestickte die neunjährige Hannah Breed das von Elaine Reichek adaptierte Tuch in der ursprünglichen Fassung mit dem Reim: »Hannah Breed is my name 6

Zedler, Johann Heinrich (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Leipzig/ Halle 1744, Bd. 21, S. 715

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Schmuck 1994, S. 25f

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New / England is my station Lynn is my / dwelling place and Christ is my / salvation«8 Solche Lebensdevisen oder andere Kommentare finden sich auf vielen historischen Mustertüchern. Zumeist wurde auf bekannte Reime zurückgegriffen und lediglich die erfolgte Auswahl lässt Schlüsse über die Einstellung der Mädchen und Frauen zu. Die ›weiblichen‹ Tugenden, die den Erzeugerinnen unter anderem durch das Arbeiten an den Tüchern vermittelt wurden, ließen sich so an Ort und Stelle kommentieren. Häufig finden sich Widmungen, die bezugnehmend auf die Erziehung in Dankbarkeit an die Eltern adressiert sind.9 Mitunter fallen aber auch bittere Bemerkungen. Beispielsweise ergänzte Polly Cook ihren Sampler mit dem Reim: »Polly Cook did it and hated every stitch she did in it.«10 Die meisten Mustertücher symbolisieren hingegen durch die akkurate Handarbeit und das artige Bonmot eine im Sinne der normativen Erwartungen ›erfolgreiche‹ Erziehung. Der von Elaine Reichek im Titel ihrer Publikation andeklinierte Reim ›When this you see...‹ ist ebenfalls ein gängiger Sampler-Spruch: »When this you see, remember me, / And keep me in your mind, / And be not like a weather cock / That turn at every wind. / When I am dead, and laid in grave, / And all my bones are rotten, / By this may I remembered be / When I should be forgotten.«11 Aus diesen Zeilen spricht die Funktion des Mustertuchs als Erinnerungsmedium. Es erinnert an die Herstellerin, konnte aber auch ihr Gedächtnis unterstützen, wenn sie zu Beginn einer neuen Arbeit auf Ideensuche war. Besonders gelungene Motivvariationen oder komplizierte Sticharten wurden wiederum auf dem Tuch ergänzt und innerhalb der Familie tradiert. Dieser palimpsestartige Gebrauch macht Mustertücher zu Erinnerungsmedien des sozialen Gedächtnisses, die nicht nur für die Mädchen eine identitätsstiftende Funktion erfüllten. Vielmehr ruft die innerhäusliche Inszenierung der Stickerin oder das Mustertuch als Dekorationsobjekt auch bei Familienmitgliedern und Außenstehenden diffuse Vorstellungen einer wertekonservativen Gemütlichkeit hervor. Harald Welzer erkennt in vergleichbaren Gegenständen und ritualisierten Tätigkeiten nicht-intentionale Objekte zur Vergangenheitsdeutung. Er extrahiert vier Medien der sozialen Praxis, durch die Erinnerungen transportiert werden:

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URL: http://www.emlis.com/scarletletter_3.htm, 18.04.2010

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Vgl. Parker 1984, S. 128-132

10 Zitiert nach Parker 1984, S. 132 11 Zitiert nach Parker 1984, S. 134

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»Interaktionen, Aufzeichnungen, Bilder und Räume, und zwar jeweils solche, die im Unterschied zu ihrem Auftreten im kulturellen und kommunikativen Gedächtnis nicht zu Zwecken der Traditionsbildung verfestigt wurden, gleichwohl aber Geschichte transportieren und im sozialen Gebrauch Vergangenheit bilden.«12

Hierunter fallen aus seiner Sicht Aufzeichnungen, die ein Bild von Geschichte übersetzen, ohne explizit dafür intendiert zu sein. Als Beispiele dienen Harald Welzer ein Kriminalroman, ein Liebesbrief oder der – und hier ist hinzuzufügen: häufig gestickte – Sinnspruch in der Küche.13 In dieser Lesart verstehen sich Mustertücher als Medien eines historischen Alltags, die Erinnerung transportieren und dadurch an der Aneignung von Gegenwart mitwirken. Diesen Prozess versinnbildlichen sie zudem ganz wörtlich, indem Sampler nicht nur Vergangenes aufzeichnen, sondern als Probestück für Variationen zu verstehen sind. Eingesetzt zum repetitiven Lernen, zur Nachahmung und zur Erneuerung, vermitteln sie zwischen verschiedenen Zeiten.

Sprüche klopfen In der Doppelfunktion als Vorlage und gleichzeitig als Palimpsest verwendet Elaine Reichek die historischen Mustertücher, in die sie zeitgenössische Zitate einstickt. Mit dem Bezug auf Jenny Holzer und Barbara Kruger gelangt der öffentliche Raum in die private Sphäre der Sampler. Die Arbeiten der zitierten Künstlerinnen zeichnen sich in besonderer Weise durch Strategien der Dekontextualisierung aus. Abuse of power comes as no surprise ist ein Satz aus der Reihe der Truisms, die Jenny Holzer 1977-1979 schrieb und illegal in Manhattan plakatierte (Abb. 8). Jedes Poster bestand aus ca. 40 alphabetisch sortierten einzeiligen ›Wahrheiten‹, die sich zum Teil inhaltlich widersprachen. Auf und neben Werbungen und Veranstaltungshinweisen brachte sie ihre klischeehaften Sätze an, die wiederum nur kurze Zeit zu sehen waren, bevor sie von anderen Plakaten überdeckt wurden. Entsprechend ihrer richtungsweisenden Benennung sollten die Truisms nicht die Meinung der Künstlerin widerspiegeln, sondern objektiv wirken. »Ich versuche sie zu polieren, damit sie klingen, als ob sie hundert Jahre Gültigkeit hätten, doch es sind 12 Welzer, Harald, Das soziale Gedächtnis, in: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Harald Welzer (Hg.), Hamburg 2001, S. 9-21, hier S. 16 13 Vgl. Welzer 2001, S. 17

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meine.«14 Während Jenny Holzer ihre Wahrheiten selbst verfasst, bedient sich Barbara Kruger in Massenmedien vorgefundener Bilder und Texte, die sie vergrößert und neu arrangiert. »I think of how words and pictures – pictures with words – function in culture.«15 Auch sie ist in Ausstellungsräumen ebenso präsent wie an öffentlichen Plätzen und benutzt Plakate, T-Shirts, Reklametafeln und Einkaufstüten als Träger ihrer Slogans.16 Gemeinsam ist diesen Künstlerinnen das Interesse an der Rolle des Mediums bei der Bedeutungskonstituierung eines Werkes sowie an den wechselnden Erwartungshaltungen der Rezipierenden in differierenden Kontexten. Anders als die Redewendungen beanspruchen die Gnome der Gegenwartskünstlerinnen keinen universellen Geltungsanspruch. Ihre Reflexionen zu den Themenfeldern Macht und Existenz gründen auf philosophischen Versatzstücken, wobei sie Sinnhaftigkeit lediglich simulieren und in ihrer modifizierten Form Missstände andeuten. Die Praxis der Fragmentierung und Neu-Inszenierung führt Elaine Reichek durch eine neuerliche Variation fort. Dabei kombiniert sie die provokativen Slogans mit traditionell gestalteten Mustertüchern und spannt so einen Bogen von den historischen Objekten über Kunstwerke der späten 1970er (Jenny Holzer) und späten 1980er (Barbara Kruger) Jahre zu ihrer eigenen Arbeit aus dem Jahr 1998. Dadurch behält sie den originären Einsatz von Mustertüchern als Medium der Tradierung bei und aktualisiert durch ihre Erweiterungen das ›Musterrepertoire‹, das zu erneuter Nachahmung bereitgestellt wird.

Das kleine ABC Zwischen den vielfarbigen Zeichenreihen treten die zitierten Sprüche in einheitlich dunklem Farbton hervor. Elaine Reichek hat sich in der Wahl der Typografien jeweils an den Vorlagen orientiert. Sie imitiert die Majuskelschrift Jenny Holzers, den leicht kursiven Einschlag Barbara Krugers und übernimmt bei den Namen- und Jahresangaben der historischen Mustertücher das Layout ihrer Urheberinnen. Dabei wird das Entziffern der Mädchennamen durch die bunte Buchstabenfolge erheblich erschwert. Selbst die farblich einheitlich ausgeführten Sätze sind zwischen den 14 Zitiert nach Waldman, Diane, Jenny Holzer, Ostfildern 1997, S. 19 15 Zitiert nach Isaak, Jo Anna, Feminism & Contemporary Art. The revolutionary power of women’s laughter, London/ New York 1996, S. 40 16 Vgl. We won’t play nature to your culture. Works by Barbara Kruger (Ausst.-Kat.), ICA, London/ Kunsthalle, Basel 1983-84

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Abb. 8: Holzer, Truisms (Detail), 1982, mit anonymen Kommentaren

Alphabetzeilen erst durch genaueres Hinsehen auszumachen. Vor allem diese Einreihung der Zitate lässt die Frage nach einem Zusammenhang von alphabetischer und programmatischer Ordnung aufkommen.17 Durch die Konzentration auf Zeichen des phonetischen Alphabets, die redundante Wiederholung der Buchstaben- und Zahlenfolge, die Elaine Reichek über die Vorlagen hinaus vermehrt, tritt die Schrift als Medium in den Vordergrund. Es ist bereits verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass das phonetische Alphabet nicht als neutrales Notationssystem anzusehen ist.18 Unter Anderen hat Christina von Braun den Zusammenhang zwischen Schriftzeichen und Gesellschaftsordnungen herausgestellt, indem sie die Symbole, die den abstrahierten Zeichen zu Grunde liegen, 17 Eine ähnliche Fragestellung hat Paula Birnbaum bei Arbeiten Elaine Reicheks herausgestellt, indem sie den Zusammenhang von Bild und Pixel bzw. Stich beleuchtet. Vgl. Birnbaum, Paula, Elaine Reichek. Pixels, bytes, and stitches, in: Art Journal, H. 2, Jg. 67, Sommer 2008, S. 18-35 18 Vgl. Assmann, Aleida, Texte, Spuren, Abfall. Die wechselnden Medien des kulturellen Gedächtnisses, in: Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Hartmut Böhme und Klaus R. Scherpe (Hg.), Hamburg 1996, S. 96-111. Engell, Lorenz, Oliver Fahle, Britta Neitzel, Claus Pias und Joseph Vogl (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 2000. Bredekamp, Horst und Sybille Krämer, (Hg.), Bild – Schrift – Zahl, München 2003

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rekonstruiert und diverse Ein-Schreibungen der Schriftkulturen auf den menschlichen Körper nachvollzieht.19 Ein zentraler Punkt, der die Überlegungen zur Schriftlichkeit begleitet, ist ihr Verhältnis zum Körper. Da das phonetische Alphabet durch die Vokale eine umfassende Abbildung der Sprache ermöglicht, verändert sich mit seiner Einführung die Rolle der Rezipierenden. Während eine Konsonantenschrift die Beherrschung der Sprache voraussetzt, also eine Person die Vokale beim Lesen ergänzen muss, benötigen die Texte der phonetischen Lautschrift keine mündliche Exegese. Derrick de Kerckhove hat darin ein Verinnerlichungsprozess mit demokratischen Konsequenzen gesehen. »Das Alphabet hat aus der gesprochenen Sprache eine Form des Denkens gemacht und sie dem individuellen Nachdenken zur Verfügung gestellt. Die meisten Formen der Informationsverarbeitung verlagerten sich darauf hin vom oralen-vokalischen-öffentlichen zum privaten-stillen-denkenden Austausch. Das kollektive wurde zu einem privaten Bewußtsein. (...) Die verinnerlichte Sprache ist privat und persönlich, und sie wird zum Eigentum desjenigen, der sie benutzt. Durch die Schrift eignet sich der Leser die ihn umgebenden Informationen gemäß seiner persönlichen Motive an. Wenn Sie ihre Information kontrollieren, kontrollieren Sie auch sich selbst, sind Sie ihr eigener Herr. Das ist Ursprung und Sinn von dem, was wir noch heute Demokratie nennen.«20

Entgegen dieser Auffassung beschreibt Christina von Braun einen Prozess, in dem der Körper sukzessive den Auswirkungen der binären Logik dieser Schriftkultur unterliegt. Dies vollzieht sich zunächst durch seine Suspendierung von der interpretatorischen Übersetzung der Schrift, wodurch Texte mit einer objektiven Legitimation ausgestattet werden. »Im Gegensatz zur mündlichen Sprache repräsentiert die Schrift das Unveränderbare – und im ›Kanon‹, in der Entstehung von heiligen Texten, die nicht verändert werden dürfen, wird diese Eigenschaft der Schrift zum Gesetz selbst erhoben.«21 Durch diese ›Gesetzestexte‹ werden seit dem 19. Jahrhundert Gesellschaftsordnungen hergestellt, verbreitet und aufrecht erhalten. Die umfangreiche Alphabetisierung der Bevölkerung war neben der Souveränisierung – wie sie Derrick de Kerckhove beschreibt 19 Vgl. Braun 2001, Kapitel II: Der Körper des Alphabets, S. 55-142 20 Kerckhove, Derrick de, Vom Alphabet zum Computer [1990], Engell (u.a.) 2000, S. 116-125, hier S. 120 21 Braun 2001, S. 79

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– Grundvoraussetzung für die Etablierung konformer Verhaltensweisen in religiösen, wissenschaftlichen, legislativen und monetären Systemen. Entsprechend rigoros fielen die Schlussfolgerungen Claude Lévi-Strauss’ aus, der in der herrschaftskonsolidierenden Wirkung von Schrift ihre spezifische und kulturenübergreifende Eigenschaft erkannte: »Das einzige Phänomen, das sie [die Schrift] immer begleitet hat, ist die Gründung von Städten und Reichen, das heißt die Integration einer großen Zahl von Individuen in ein politisches System sowie ihre Hierarchisierung in Kasten und Klassen. (…) Schauen wir uns in unserer Nähe um: die systematischen Bemühungen der europäischen Staaten um die Einführung der Schulpflicht, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat, gehen mit der Erweiterung des Militärdienstes und der Proletarisierung einher. Der Kampf gegen das Analphabetentum brachte eine verstärkte Kontrolle der Bürger durch die Staatsgewalt mit sich. Alle müssen lesen können, damit die Staatsgewalt sagen kann: Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe.«22

Wie sich die Geschlechterordnung der bürgerlichen Gesellschaft via Schriftkultur vermitteln ließ, zeigen die Mustertücher des 19. Jahrhunderts. Durch scheinbar kontingente Manifestationen formieren sich aus der Zeichenakkumulation textuale Wortfolgen. Der Zusammenhang zwischen medialer Bereitstellung und der Generierung von systematisierenden Informationen wird in der Kombination von Buchstaben/Ziffern und Text/Jahreszahlen anschaulich. Bei der kompilierenden Arbeitsweise wird zudem augenfällig, dass sich die ›verinnerlichte Sprache‹ (Derrick de Kerckhove) stets aus bereitgestellten Versatzstücken speist, sich das ›Selbst‹ nur mit Hilfe von zirkulierenden Texten konstituieren und interpretieren lässt. Bei diesem Nachvollzug sind die demokratisch erwarteten und akzeptierten Modelle sehr viel zugänglicher und im Gegensatz zu Alternativentwürfen weitestgehend konfliktlos antizipierbar. Die Sampler rekonstruieren eine Form der Übernahme. Während der Stickübungen eigneten sich die Mädchen mit den alphabetischen auch die gesellschaftlichen Normen an, wobei sich der Memorierungseffekt durch die körperliche Geste des Stickens verstärkte. Diesen Vorgang wiederholt Elaine Reichek in dekonstruierender Zielrichtung. Dem herkömmlichen Kompendium von Leitsätzen fügt sie aktuelle Zitate hinzu. Allerdings opponieren die Sprüche untereinander und verlieren so ihren sinnstiftenden Gehalt. Das Mustertuch der Künstlerin wird zu einem Träger 22 Lévi-Strauss, Claude, Traurige Tropen [1955], Frankfurt a.M. 1978, S. 294f

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von Widersprüchen und bietet sich kaum noch als Orientierungshilfe an. Die Sticktechnik wirkt dabei als Garant einer gründlichen Verarbeitung der überkommenen Ansichten. Mit der Zeit, die Elaine Reichek in Recherchearbeiten und in die gestickte Umsetzung investiert, signalisiert sie einen gründlichen Bewältigungsprozess. Was Jeanne Silverthorne in Bezug auf eine gehäkelte Übersetzung fotografischer Motive durch Elaine Reichek festgestellt hat, gilt äquivalent auch für ihre gestickten Arbeiten: »(...) by doing it herself she earns the right to undo the photographs. Only the investment of time can hope to defray the cost.«23

HELDENTATEN BEI JOCHEN FLINZER Der Hamburger Künstler Jochen Flinzer24 begann in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, Sticken zur Herstellung abstrakter Zeichnungen zu nutzen. Dabei fertigt er auf unterschiedlichen Trägern mehrseitige Kunstwerke an, von denen eine Seite den Regeln eines vorgegebenen Zeichensystems (Schrift, figürliche Darstellung) gehorcht. Auf diesen figurativen Seiten inszeniert sich Jochen Flinzer als Privatperson. So ›dokumentierte‹ er 1984 seine Versuche, im Lotto zu gewinnen (53 Wochen Pech) oder seine Liebhaber des Jahres 1994 (53 Wochen Glück). Anfänglich versuchte Jochen Flinzer die Rückseite von Stickereien als zufällige quasi automatische Bildgenerierung zu betrachten: »Zeichnung war der Ausgangspunkt für meine Stickarbeiten. Ungegenständliche Zeichnung, Zeichnung als Ergebnis von Prozessen. Das Subjektive, das Handschriftliche möglichst weitgehend ausgeschaltet. Auch die Motive, Vorlagen, die – ob Schrift, ob Bild – ja auch in der Regel lineare Zeichnungen sind, sind nicht eigene Handzeichnungen, sondern Übernahme, Kopien von Vorgefundenem.«25

23 Silverthorne, Jeanne, in: Elaine Reichek. Home Rule (Ausst.-Kat.), Irish Museum of Modern Art, Dublin 1993, S. 16 24 Jochen Flinzer studierte in den Jahren 1977-82 an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Zu seinen Ausstellungsbeteiligungen gehören: Thread 2007 (Ausst.-Begleith.). Achte Feld 2006 (Ausst.-Kat.). Hand-Arbeit 2000-01 (Ausst.-Kat.). Loose Threads 1998 (Ausst.- Kat.). Views from Abroad. European Perspectives on American Art 2 (Ausst.-Kat.), Whitney Museum of American Art, New York 1996

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Die ›Rückseite‹ stand also im Mittelpunkt seines Interesses. Durch die dauerhafte Beschäftigung mit Stickerei wurde jedoch auch diese zweite Seite für Jochen Flinzer immer berechenbarer, auch hier lässt sich mit einiger Übung die Fadenführung vorhersehen und planen, so dass er den Anspruch aufgab, objektive, von Handschriftlichkeit weitgehend befreite, Zeichnungen zu schaffen und dazu überging, die Stickerei einem Konzept unterzuordnen. Jochen Flinzer legt vor Beginn der Arbeit eine Regel fest, die die Fadenführung bestimmt.26 In vielen Arbeiten besteht diese Regel darin, vertikal zu sticken. Untereinander liegende Punkte werden nacheinander ausgeführt, so dass die andere Seite aus senkrechten Fadenlinien generiert wird, die in gezielter Farbumkehr eine Art Gegenbild entstehen lassen. Stickend produziert Jochen Flinzer stets zwei Oberflächen, die er in Ausstellungen auch ›losgelöst‹ voneinander präsentiert, indem die Hängung nur jeweils eine Seite ansichtig macht. »Jochen Flinzer ist ein Handarbeiter im wahrsten Sinne des Wortes. Ob es um Namen seiner wechselnden Liebhaber, den Kontaktanzeigen eines Pornomagazins, Zusammenfassungen von Fernsehserien oder angekreuzte Lottoscheine geht – Flinzer stickt sie auf Stoff oder Papier und vollzieht damit mehr oder weniger Alltägliches in einer langwierigen, gleichsam meditativen Tätigkeit noch einmal nach.«27

In der Kunstkritik werden die Themen der Arbeiten wiederholt als alltäglich, banal oder kleinbürgerlich beschrieben. Dieser Eindruck lässt sich auf zwei Umstände zurückführen. Zum einen betonen die Titel eine persönliche Emotionalität, die Jochen Flinzer auch in Interviews als ausschlaggebend für die Wahl der Motive anführt. Zum anderen verleitet offenbar gerade dieser Aspekt der privaten Berührtheit dazu, die traditionellen Konnotationen der Sticktechnik bestätigt zu finden. Dies erleichtert es, Jochen Flinzers Verstoß im Hinblick auf die Geschlechterordnung zu verarbeiten. Denn obwohl die Tatsache, dass ein Mann stickt vor allem in den 1990er Jahren zentral in den Kritiken platziert wurde, 25 Jochen Flinzer interviewt von Stephan Trescher, Himmel Arsch und Zwirn, in: Jahrbuch ’96. Institut für Moderne Kunst Nürnberg, Nürnberg 1996, S. 6-16, hier S. 10 26 Vgl. Flinzer Interview 1996, S. 9 27 Danicke, Sandra, Von Zehnkämpfern und nationalen Heiligtümern. Ein Gang durch den Szenenwechsel XVII im Museum für Moderne Kunst, in: ARTkaleidoscope. Kunstmagazin für Frankfurt und Rhein-Main, Nr. 2, Juni-Sept. 2000, S. 12-15, hier S. 13

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diente sie nicht als Anlass, überholte Zuschreibungen zu thematisieren. Geschlechtsspezifische Ressentiments gegen die Technik finden sich in nahezu jeder Besprechung.28 Zugleich werden aber auch ›Erklärungen‹ offeriert. So wird die homosexuelle Orientierung des Künstlers herangezogen, um den Einsatz der Stickereien zu legitimieren. Dadurch gelingt es, die herkömmliche Kategorisierung als ›feminine‹ Arbeitsweise aufrechtzuerhalten. Andererseits lässt sich beobachten, dass die Technik bei männlichen Produzenten häufig einen meditativen Charakter erhält, oder andere Arbeitsweisen – wie das Tätowieren – zur Aufwertung bemüht werden.29 Durch diese neuen, aber anhaltend geschlechtlich strukturierten Verknüpfungen lassen sich negative Assoziationen von mühseliger und zeitaufwendiger Fleißarbeit abwenden.

Teppich von Atlanta Der Teppich von Atlanta30 besteht aus 24 Leinwänden, die, in Holzrahmen eingespannt, von beiden Seiten ansichtig präsentiert werden können (Abb. 9). Die mimetischen Seiten der Leinwände tragen die FernsehBerichterstattung der Olympischen Spiele 1996 aus Atlanta. Mit Hilfe einer Videoaufzeichnung der Zehnkampfübertragung stickte Jochen Flinzer Auszüge aus den Kommentaren der Sportreporter, beginnend mit der Begrüßung (Abb. 10): »Guten Morgen von uns au / s, meine Damen und Herren, / einen schönen Nachmittag / bei Ihnen – ich hoffe er ist / vom Wetter her schön – hi / er ist das so.«

28 Vgl. Wolff, Thomas A., Strickmuster – Rückseiten. Jochen Flinzers Negativformen des Banalen, in: Frankfurter Rundschau, 17.03.1992. Danicke, Sandra, Der Zufall als Gestalter, in: Frankfurter Rundschau, 10.04.1996. Fischer, Oliver, Der mit den Fäden spielt. Stick-Künstler Jochen Flinzer erhält heute den Ernst-Barlach-Preis, in: Hamburger Morgenpost, 31.08.1996. Erlenwein, Katharina, Jochen Flinzer. ›Grüße aus Moriya‹, in: Nürnberger Nachrichten, 13.2.1998. Danicke 2000, S. 13 29 »Jeder Einstich ist wie ein Schmerz, dessen Vervielfachung Lust erzeugt (...)« Ammann, Jean-Christophe, Jochen Flinzer. 53 Wochen Glück, in: Jochen Flinzer, Museum für Moderne Kunst (Hg.), Frankfurt a.M. 1996, S. 38-41, hier S. 41 30 Jochen Flinzer, Teppich von Atlanta, 1997-99, Stickerei auf Leinwand, Holzrahmen, 2 Podeste, 24teilig, jeweils 60 x 100 cm, im Besitz des Künstlers

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Abb. 9: Flinzer, Teppich von Atlanta, 1997-99

und endend mit den Zeilen: »Und Goldmedaille – wir wollen’s bi / tteschön nicht vergessen – für / Dan O’Brien. Sein 1. Gold nach 3 / Weltmeisterschaften. Und jetzt / geht die Stimmung hoch! Standin / g ovation!«

Bei der Präsentation des Werks im Museum für Moderne Kunst standen sich die Berichte der zwei Wettkampftage auf zwei Sockeln gegenüber.31 Gemäß der Leserichtung beginnt der Sportkommentar auf der linken Leinwand des linken Sockels. Insgesamt elf Leinwände dokumentieren den ersten Wettkampftag mit den ersten fünf Disziplinen.32 Der zweite 31 Szenenwechsel XVII, Frankfurt a.M. 2000 32 Der Wettkampf wurde von vier Sprechern kommentiert. Der erste Wettkampftag wurde von der ARD übertragen und von Gerd Rubenbauer und Dieter Adler moderiert, der zweite wurde vom ZDF ausgestrahlt und von Wolf-Dieter Poschmann und Peter Leissl begleitet. An dieser Stelle möchte ich Franz Josef Busemann, dem Vater von Frank Busemann, danken, der mir freundlicherweise die Videoaufzeichnung der Olympischen Spiele zur Verfügung stellte. Weder die Sender noch die unterschiedlichen Sprecher werden von Jochen Flinzer in der Stickerei gekennzeichnet. Der Text erweckt vielmehr den Eindruck eines einheitlichen Kommentars. Die erste Leinwand widmet sich dem 100-Meter-Lauf, die Leinwände 2-4 dem Weitsprung, 4-6 dem Kugelstoßen, 7-9 dem Hochsprung und 10-11 dem 400-Meter-Lauf.

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Abb. 10: Flinzer, Teppich von Atlanta 1/24, 1997-99

Tag wird auf dreizehn Leinwänden des rechten Sockels kommentiert,33 wiederum in der Leserichtung von links nach rechts, so dass sich Begrüßung und Standing Ovations frontal gegenüberstanden. Jede Leinwand ist aufgeteilt in vier Spalten mit maximal 22 Zeilen Text.34 Jochen Flinzer stickte nicht den gesamten Kommentar, sondern übernahm nur die Passagen, in denen Dan O’Brien erwähnt wird und kennzeichnete die Kürzungen durch Auslassungspunkte. Überhaupt versucht Jochen Flinzer durch Satzzeichen die oft spontanen Einschübe und mancherorts grammatikalisch fehlerhaften Ausführungen der Reporter in eine strukturierte Form zu bringen. Allerdings ignoriert er Regeln der Worttrennung. Zeilenenden, Spalten- und Leinwandwechsel unterbrechen die textuale Zeichenfolge unwillkürlich, ohne dass die Einheit der Sprechsilben berücksichtigt wird oder Trennstriche den Fortgang andeuten. Dieses Erscheinungsbild erschwert einerseits das Lesen, trägt aber andererseits dem Redefluss der Berichterstatter Rechnung. Auch in anderer Beziehung stellt Jochen Flinzers Bearbeitung eine Symbiose aus Jeder Wechsel von einer Disziplin zur nächsten wurde mit einem Spaltenwechsel honoriert. 33 Hier finden sich auf den Leinwänden 12-14 das Diskuswerfen, 15-16 der Stabhochsprung, 17-18 der 100-Meter Hürdenlauf, 19-21 der Speerwurf und 21-24 der 1500-Meter Lauf. 34 Allerdings variiert die Schriftgröße. Sie wird zum Ende hin wesentlich kleiner, was besonders durch den direkten Vergleich der sich gegenüberstehenden ersten und letzten Leinwand auffällt.

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Abb. 11: Flinzer, Teppich von Atlanta 1/24, 1997-99

gesprochener Rede und geschriebenem Text dar. Auf Letzteres verweisen die ergänzten Satzzeichen und die Gliederung in jeweils vier Spalten, die Assoziationen zu einem Zeitungsartikel wecken. Aspekte des spontanen Kommentars bleiben durch die Zeilensprünge und die Beibehaltung von Grammatikfehlern erhalten. Weiters suggerieren Ausrufe und Einschübe einen fortlaufenden Redefluss mit seinen spezifischen Gedankensprüngen und eingeschobenen Ergänzungen. Und schließlich unterstreicht Jochen Flinzer die direkte Ansprache des Fernsehpublikums mit dem großgeschriebenen ›Sie‹ der Höflichkeitsanrede. Auf den abstrahierenden Seiten der Leinwände wird der Faden auf zwei unterschiedliche Arten geführt. Zum einen gibt es hier Rechtecke aus sternförmig zulaufenden Linien (Abb. 11). Andere Partien lassen aus horizontalen und diagonalen Linien ein ›geordnetes‹ Chaos entstehen. Bei diesen Abschnitten bediente sich Jochen Flinzer einer strengen Systematik. Sie bestand darin, die Buchstaben in der Reihenfolge des Alphabets zu sticken. Mit ›A‹ beginnend stickt er zunächst den ersten Strich jeden gleichen Buchstabens in einer Spalte von oben nach unten, um anschließend wieder beim ersten ›A‹ den zweiten Strich auszuführen und so weiter.35 35 Mail-Auskunft von Jochen Flinzer an die Verfasserin, 31.05.2008. Jede Spalte wurde von Jochen Flinzer als einzelne Einheit betrachtet. Es gibt auf keiner Leinwand einen Fadensprung von einer Spalte zur nächsten. Jochen Flinzer zeichnete den Text mit Bleistift vor. Diese Unterzeichnungen sind an vielen Stellen zu sehen. In diesem Zusammenhang aufschlussreich ist ein Aussetzen des Textfluß auf der siebten Leinwand. Die Stickerei weist in der ersten Zeile

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Das Muster der Felder wird determiniert von dem Text der mimetischen Seite. Immer, wenn hier von dem US-amerikanischen Zehnkämpfer Dan O’Brien die Rede ist, setzt die sternförmige Struktur ein, wechselt das Thema wieder, verfallen die Linien in das geordnete Durcheinander.36 Da die Leinwände aneinanderhängend aufgestellt sind, lässt sich dieser inhaltliche Bezug nur bei dem jeweils ersten und letzten Holzrahmen eines Sockels herstellen. Hier ermöglicht das Umschreiten der Leinwände einen unmittelbaren Vergleich der beiden Seiten. Viel offensichtlicher wird der Zusammenhang von Muster und Text durch eine leichte Transparenz des bestickten Leinen. Beim Lesen des Sportkommentars wird – abhängig von den Lichtverhältnissen des Ausstellungsraumes – die konzentrische Ausrichtung der Fäden auf der mimetischen Seite erkennbar. Das macht die direkte Verbindung zwischen den Passagen, die sich mit Dan O’Brien beschäftigen und dem sternförmigen Muster sichtbar. Und so wird auch deutlich, wem die Aufmerksamkeit des Künstlers bei diesen Olympischen Spielen gegolten hat. Dan O’Brien spielt auf diesem 24 m langen Teppich die Hauptrolle. Jochen Flinzer weicht damit vom hohen Interesse der Reporter ab, die vorrangig von den Erfolgen des Deutschen Frank Busemann berichteten, der während der zwei Tage mit Dan O’Brien in einer Athletengruppe war und die Silbermedaille errang. Von Disziplin zu Disziplin führen die überraschenden Leistungen Frank Busemanns zu einer stetig wachsenden Begeisterung der Kommentatoren, die immer euphorischer auf die Ergebnisse des Deutschen hinweisen. Während sich also textimmanent die Aufmerksamkeit auf Frank Busemann konzentriert, zeichnet Jochen Flinzer die Auftritte von Dan O’Brien mit ›Sternchen‹ aus und lenkt damit das Interesse von der hegemonialen Erzählung der deutschen Reporter ab. Ein drittes Heldenepos ruft der Titel der Arbeit in Erinnerung.

eine Lücke auf, in der ein vorgeschriebenes Wort (und) zu erkennen ist, das allerdings nicht in den Textzusammenhang passt. Offenbar ist Jochen Flinzer hier während der Transkription ein Fehler unterlaufen. Dass er diesen Fehler nicht während der Arbeit korrigieren konnte, gibt Aufschluss über die engen Grenzen, die ihm seine festgelegten Systematiken setzen. 36 Dies gilt für alle Stellen, die über die bloße Namensnennung – zum Beispiel innerhalb einer Aufzählung der Teilnehmer – hinausgehen. Nur der Name Dan O’Brien provoziert noch keinen Musterwechsel auf der anderen Seite.

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Abb. 12: Teppich von Bayeux (Detail), ca. 1070-1082

Exkurs: Teppich von Bayeux Die Parallelen zum Teppich von Bayeux liegen nicht nur in formalen Analogien wie Maße und Technik. Dieser Wandbehang ist ein sehr gut erhaltenes Exemplar profaner Kunst Ende des 11. Jahrhunderts. Auf acht ungebleichten Leinentüchern werden hier in 58 Szenen die Ereignisse rund um die Thronnachfolge des englischen Königs Edward des Bekenners in Wollfäden gestickt (Abb. 12).37 Es wird geschildert, wie Edward einen Gesandten zu seinem Neffen Wilhelm, Herzog der Normandie, schickt, um ihm die Regentschaft anzutragen. Auf dieser Reise gerät der Bote Harold von Wessex in Gefangenschaft, wird von Wilhelm befreit und nimmt unter ihm an einem Feldzug teil. Zum Dank wird Harold zum Ritter geschlagen und schwört Wilhelm Gefolgschaft. An diesen Eid fühlt er sich allerdings nach seiner Rückkehr in England und dem Tod Edwards nicht mehr gebunden und tritt selbst dessen Nachfolge an. Daraufhin entschließt sich Wilhelm, sein vermeintliches Recht kriegerisch durchzusetzen und siegt in der Schlacht bei Hastings 1066. Da der Wandbehang 1476 in einem Inventar der Kathedrale von Bayeux beschrieben wird und die Darstellungen Erfolge des Herzogs der Normandie zum Inhalt haben, ist zunächst davon ausgegangen 37 Teppich von Bayeux , ca. 1070-1082, Wollstickerei auf Leinen, 68,38 x 0,53m, Musée de la Tapisserie de Bayeux. Der Behang ist an einigen Stellen beschädigt, vor allem fehlt das Ende der Bilderzählung. Hier dürfte ursprünglich die Krönung Wilhelms in Winchester dargestellt worden sein. Trotz dieser Lücke und einigen nachträglichen Ausbesserungen ist der Verlauf der historischen Ereignisse in den Jahren 1064-1066 gut nachvollziehbar.

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worden, der Teppich müsse auch in der Normandie gefertigt worden sein. Offenbar naheliegend war es daher, die Arbeit Herzogin Mathilde, der Ehefrau Wilhelms, zuzuschreiben. Die Annahme, dass die Herzogin diese Stickereien ausführte, war eine Konsequenz aus dem lokalen Namen des Wandbehangs, der in der Normandie als La Tapisserie de la Reine Mathilde bekannt ist. »(...) since the Tapestry commemorates the Norman Conquest it must have seemed self-evident that it had been made in Normandy, and that Matilda spent her lonely hours like a medieval Penelope, embroidering this memorial to her husband’s heroic deeds. This tradition proved so tenacious that only recently has the title ›The Bayeux Tapestry‹ superseded, and then not always, the traditional designation ›La Tapisserie de la Reine Mathilde‹.«38

Die im 18. Jahrhundert einsetzende wissenschaftliche Debatte übernahm diese Namensgebung als Autorinnenschaft. Nur aufgrund der damit verbundenen frühen Datierung kamen vereinzelt Zweifel an dieser Zuschreibung auf, die dazu führten, nach anderen Frauen dieses Namens in der englischen Königsfamilie zu suchen.39 Noch heute stehen der Fertigungsort und der Auftraggeber immer wieder zur Diskussion, allerdings steht inzwischen fest, dass die Herzogin nicht die Produzentin des ca. 7 m langen Wandbehangs gewesen ist. Es gibt überzeugende Gründe, von einer englischen Werkstatt auszugehen und Bischof Odo als Initiator zu betrachten.40 In den Schilderungen des Wandbehangs werden nicht nur die Höhepunkte der Ereignisse illustriert, 38 Bernstein, David J., The mystery of the Bayeux Tapestry, London 1986, S. 28. Frédéric Pluquet stellte hingegen schon 1829 fest, dass der Wandbehang mit Bischof Odo und nicht mit Königin Mathilde in Verbindung gebracht werden muss. Vgl. Freeman, Edward, The authority of the Bayeux Tapestry, in: The study of the Bayeux Tapestry, Richard Gameson (Hg.), Woodbridge 1997, S. 7-15 39 Vgl. Kuder, Ulrich, Der Teppich von Bayeux. Oder: Wer hatte die Fäden in der Hand?, Frankfurt a.M. 1994 40 Für eine englische Werkstatt spricht, dass die Orts- und Eigennamen der lateinischen Inschrift in englischer Schreibweise ausgeführt sind. Zudem sind Buchmalereien aus der Abtei St. Augustinus (Canterbury) erhalten, die einen verwandten Figurenstil aufweisen. Diese Abtei gehörte zu der Grafschaft Kent, die Odo nach der Eroberung Englands als königliches Lehn erhielt. Vgl. Bernstein 1986, S. 60-81. Freeman 1997, S. 7-15

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sondern auch organisatorische Herausforderungen von Kriegszügen – wie den Transport von Kettenrüstungen – dargestellt. Dies lässt es naheliegend erscheinen, dass ein Augenzeuge an dem Entwurf der Stickereien beteiligt war und der Auftrag kurz nach der Schlacht 1066 erfolgte. Als Halbbruder des Königs begleitete Bischof Odo von Bayeux Wilhelm auf seinem Feldzug und spielt im Gegensatz zu Königin Mathilde in den Darstellungen des Teppichs wiederholt eine exponierte Rolle.41 Ungeachtet dieser kunsthistorischen Diskussionen blieb die Anekdote der stickenden Königin lebendig.42 »Nevertheless, the French continued to call it ›Queen Mathilda’s Tapestry‹ and images of the stitching queen still cling to it, so powerful was the nineteenthcentury presentation of its history. They wrote of it as an individual effort rather than a workshop production, as an aristocratic activity rather than a professional art work, as an all-female undertaking rather than the creation of men and women. They neither could nor would disentangle the work’s history from the way the art was practised by nineteenth-century upper- and middleclass women.« 43

Das Bild des 19. Jahrhunderts von der Lebensrealität des Mittelalters resultierte vornehmlich aus den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umbrüchen der Industrialisierung. Quasi als Gegengewicht zu den Umbrüchen des eigenen Jahrhunderts entwarf der Historismus eine romantisch verklärte Version des gotischen Alltags.44 In elegischem Tonfall beschrieb beispielsweise Charles Henry Hartshorne 1848 die Arbeitsbedingungen stickender Frauen des Mittelalters: »Shut up in her lofty chamber. Within the massive walls of a castle or immured in the restricted walls of a convent, the needle alone supplied an unceasing source of amusement; with this she might enliven her tedious hours, and 41 Wenn Bischof Odo den Wandbehang bestellte, muss er vor 1082 fertiggestellt worden sein, da Odo in diesem Jahr in Ungnade fiel und von seinem Bruder in Kerkerhaft genommen wurde. 42 Die anekdotische Autorinnenschaft findet sich nicht nur in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Vgl. Jaques, Renate, Deutsche Textilkunst. In ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart, Berlin 1942, S. 35. Auch ein Faltblatt der Kathedrale von Bayeux aus dem Jahr 2001 trägt den Titel Tapisserie de Reine Mathilde. 43 Parker 1984, S. 27 44 Vgl. Wilckens 1997, S. 148-150

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depicting the heroic deeds of her absent lord, as it were visibly hastening his return; or on the other hand, softened by the influence of pious contemplation, she might use this pliant instrument to bring vividly before her mind the mysteries of that faith to which she clung.« 45

Dass diese Rollenzuweisung offenbar von hohem symbolischen Wert war, lässt sich an der Regelmäßigkeit erkennen, in der sie Verwendung fand. Die Kunstgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts erklärte auch Kaiserin Kunigunde, Gemahlin Kaiser Heinrichs II., zur Stickerin des so genannten Kunigundenmantels, Königin Gisela von Ungarn, Gattin des Hl. Stephan von Ungarn, wurde zur Herstellerin des ungarischen Krönungsmantels oder Königin Mathilde zur Produzentin des Teppichs von Bayeux.46 Die idealisierte Fiktion von adeligen Frauen (oder Nonnen), die in Einsamkeit stickten, während sie auf die Rückkehr des ›Lords‹ hofften, diente im 19. Jahrhundert vor allem bürgerlichen Frauen zum Vorbild. Sticken wurde zum Synonym traditioneller, selbstversunkener Beschäftigung, die vom Alltag im häuslichen Bereich ablenkte und gleichzeitig Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit signalisierte. Diese inzwischen zum Klischee geronnene Szenerie, erfährt in Jochen Flinzers Teppich eine humoristische Neuauflage. Während Wilhelm sich in der Politik als erfolgreicher Herrscher und Eroberer gegen seinen Widersacher durchsetzt, und seine Frau im häuslichen Rahmen um die gestickte Tradierung der Heldentaten ihres Gatten bemüht ist, präsentiert der Teppich von Atlanta Dan O’Brien in der Heldenrolle, der sich im Wettkampf behaupten muss. Jochen Flinzer übernimmt den Part des stickenden Rezipienten, der zu Hause vor seinem Fernsehbildschirm die Erfolge des »überragenden Zehnkämpfers der neunziger Jahre«47 in der Königsdisziplin der Olympischen Spiele verewigt. Mit dem Teppich von Bayeux, der Sportreportage und dem Teppich von Atlanta werden drei Aufzeichnungen historischer Ereignisse verknüpft, die trotz zeitlicher Entfernung interessante Parallelen in der medialen Inszenierung aufweisen.

45 Hartshorne, Charles Henry, English mediaeval embroidery, London 1848, zitiert nach Parker 1984, S. 24 46 Vgl. Parker 1984, S. 26-28. Grönwoldt 1993, S. 12 47 Ohne AutorIn, Die ganz persönliche Tragik des Dan O’Brien, in: Frankfurter Rundschau, 20.07.2000

KONVERSATIONEN. DAS COME-BACK HISTORISCHER STICKEREIEN

Gestickte Telekommunikation Auf unterschiedlichen Ebenen bemüht sich der Teppich von Bayeux in direkter Adressierung um eine anschauliche Schilderung der politischen Krise. Dabei erfordert der Umfang des Wandbehangs gewisse Markierungen, die bedeutsame Vorfälle und Personen akzentuieren. Hierzu werden neben kompositorischen Akzenten, überdeutlich gestikulierenden Figuren und Fabelszenen in den Bordüren vor allem die lateinischen Inschriften genutzt. In ihnen überlieferten sich die Namen der Orte und Hauptpersonen sowie eine stichwortartige Schilderung der Abläufe. So wird beispielsweise das Begräbnis des englischen König Edwards von der Inschrift: ›Hic portatur corpus Eadwardi regis ad ecclesiam sancti Petri Apostoli‹48 begleitet und der Kommentar zur Krönung Harolds lautet: ›Hic dederunt Haroldo coronam regis. Hic residet Harold rex anglorum‹.49 Richard Brilliant hat in diesem Zusammenhang die Häufigkeit und die Bedeutung des Wortes ›hic‹ in dem mittelalterlichen Wandbehang herausgearbeitet: »HIC engages the viewer, shortening the distance between past and present time, and thereby functions as a linguistic device to focus the mental participation of the spectator. But in the visual context of the Tapestry HIC is also powerfully demonstrative, drawing the spectator’s eye to the place indicated, especially if the interlocutor pointed directly at the Tapestry.«50

Unterstrichen durch die Fingerzeige der Figuren (Abb. 12) funktioniert das Adverb ›hic‹ als Zeigegestus und dient den Betrachtenden als Hilfsmittel, wesentliche Szenen zu erkennen.51 Entsprechende Hinweise geben auch die Sportberichtserstatter der Fernsehübertragungen, die die Kamerabilder erklären: »Und da ist er der Frank Busemann / am frühen Morgen in Atlanta am / Start seines bisher größten Zehn / kampfes bei 48 Hier wird der Leichnam König Edwards zur Kirche des Apostels St. Peter getragen. 49 Hier haben sie Harold die Königskrone gegeben. Hier thront Harold, König der Engländer. 50 Brilliant, Richard, The Bayeux Tapestry. A Stripped Narrative for their Eyes and ears, in: Word & Image, Bd. 7, 1991, S. 98-126, hier S. 113 51 Vgl. Teubner-Schöbel, Sabine, Das Zusammenwirken von Schrift und Bild auf dem Teppich von Bayeux, in: Vinculum Societatis. Joachim Wollasch zum 60. Geburtstag, Franz Neiske, Dietrich Poeck und Mechthild Sandmann (Hg.), Sigmaringendorf 1991, S. 317-323

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den Olympischen / Spielen.« (Abb. 10). Auch hier wird der Handlungsort beschrieben, die Beteiligten vorgestellt und die Aufmerksamkeit des Publikums auf bestimmte Vorfälle des Wettbewerbs gelenkt. Die bei Jochen Flinzer fehlende Bildnarration bleibt der Einbildungskraft der Ausstellungsbesucherinnen und -besucher überlassen, wobei sie vom spezifischen Fernsehjargon unterstützt werden. Beispielsweise endet die letzte Leinwand des linken Sockels zum 400-Meter-Lauf mit den Worten: »(...) dass wir uns auf einen spannend / en weiteren Verlauf dieses / Zehnkampfes freuen dürfe / n und damit wieder zurück / zum Waldi.« Derartige Bemerkungen zum Sendeablauf markieren Situationen, die jeden Sportbericht begleiten. Obwohl sie keinerlei ereignisrelevante Informationen transportieren, beschwören gerade diese Überbrückungsfloskeln die dazugehörigen Bilder herauf. Neben dem Adverb ›hic‹ wertet Richard Brilliant die Dichte der Buchstaben und Wörter als optisches Signal.52 Er schlägt vor, Szenen, die in der Inschrift mit vielen Worten und einer engen Buchstabenstellung versehen sind, als gewichtiger zu betrachten. Der Text mache es notwendig, sich mit diesen Stellen länger zu beschäftigen und akzentuiere sie somit. Diese größere Wortdichte findet in der stellenweise beschleunigten Sprache der Sportreporter eine zeitgenössische Analogie. Bei entscheidenden Situationen werden sie unwillkürlich lauter und schlagen ein dramatisches Tempo ein. In Jochen Flinzers textualer Umsetzung wirken sich Spannungsmomente und Höhepunkte grammatikalisch durch kurze oder unvollständige Sätze und hinzugefügten Ausrufezeichen auf das Schriftbild aus. So transportiert auch die schriftliche Schilderung die einschlägige Aufregung der Sprecher, macht die Bilder der Television lebendig und lässt beim Lesen an manchen Stellen eine innere Tonspur einsetzen (Abb. 13): »Frank Buse / mann erfreut hier 2 Tage in Atla / nta und schauen Sie sich das an! / Schauen Sie sich das an! Was für / eine Frechheit, was für eine ment / ale Stärke, was für Reserven der / der Bursche hat! Er wird hier dies / es Rennen gewinnen. Das letzte / – egal – zweiter! Medaille!«

Umstandslos rufen solche Passagen Vorstellungsbilder von Zielläufen auf. Allerdings entschleunigt Jochen Flinzer in der rein textualen Fassung die Ereignisse. Durch Zeilensprünge und Satzbaufehler aufgehalten, muss das Tempo gedrosselt werden, um nicht zu überlesen, dass Frank Busemann 52 Vgl. Brilliant 1991, S. 108

KONVERSATIONEN. DAS COME-BACK HISTORISCHER STICKEREIEN

Abb. 13: Flinzer, Teppich von Atlanta 24/24 (Detail), 1997-99

auf den letzten Metern überholt wurde. Die Verlangsamung insistiert auf den Anteil des Künstlers. Sie erschwert eine empathische Rezeption und sorgt dafür, dass Jochen Flinzer als Autor stets präsent bleibt. Womit schließlich die Frage der Sprechposition aufkommt. Denn alle drei ›Berichte‹ benutzen die Sprache als Kommunikationsmittel. Dies gilt für die Sportreportage ebenso wie für den mittelalterlichen Wandbehang, der sein hohes repräsentatives Potential erst durch die Berücksichtigung der lateinischen Inschriften entfalten konnte. Bei der Untersuchung dieser ›Kommentare‹ stellte Suzanne Lewis fest: »Despite the ongoing presence of an insistent textuality in the inscriptions, the designer aimed not at the production of a fixed text, but at the creation of a narrative that lifes and endures in flux from performance to performance within a quasi-oral tradition.«53

Und Richard Brilliant geht davon aus, dass bei öffentlichen Präsentationen des Teppichs ein Sprecher die Vermittlung übernommen haben muss, da lateinische Sprachkenntnisse nicht vorauszusetzen waren. Ohne die Informationen der Inschriften sind jedoch die szenischen Darstellungen nicht eindeutig.

53 Vgl. Brilliant 1991, S. 108

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»(...) then, ›seeing and reading‹ by a mixed audience would have needed at least one literate, well-spoken interlocutor who could have bridged the gap between the literate and the illiterate, between those who already knew and those who wanted to know the story, between the brief Latin keys to a complicated history and the presentation of an extended narrative in the vernacular language that seemed most appropriate for the occasion.«54

Dieses Setting – eine Reihe von hintereinander geschnittenen Szenen, die von einem Kommentar erklärt und interpretiert werden – macht die Parallele zum zeitgenössischen Sportbericht evident. Die vergleichende Analyse der zwei ›Teppiche‹ lässt die individuellen Protagonisten zunehmend in den Hintergrund rücken, während sich offensichtlich ein Wettkampf der Medien um eine ereignisnahe und lebendige Berichterstattung entwickelt. Der Sportkommentar ist eine Live-Sendung, die sich an ein Publikum richtet, das dem Ereignis zum selben Zeitpunkt an unterschiedlichen Orten beiwohnt. Es geht also um eine zeitgleiche – wenn auch delozierte – Rezeption. Die Sprache ist in der Tendenz spontan und ereignisnahe. Sie wird zwar aufgezeichnet, ist aber nicht zur Tradierung bestimmt und geeignet. Dagegen sind Textilien Medien der dauerhaften und anhaltenden Übermittlung. So gilt der Teppich von Bayeux auch der Geschichtswissenschaft als ausführlichste und verlässliche Quelle, was die englische Thronnachfolge Ende des 11. Jahrhunderts anbetrifft. Zweifellos ist es also eine Würdigung, wenn Jochen Flinzer die Ausführungen der Reporter in eine textile Fassung bringt. Er setzt dabei auch den Unterschied zwischen der mündlichen Rede und dem geschriebenen Wort ins Bild. Ähnlich wie Christina von Braun das Aufkommen der Alphabetschrift mit einer Verdrängung des rezipierenden Körpers verbindet,55 hat auch Jacques Derrida die Abwesenheit zum eigentümlichen Merkmal der Schrift erklärt. Gemeint ist das Fehlen des Senders, bei der Rezeption des Zeichens. Aus dieser Distanz schließt Jacques Derrida, dass es der Schrift weniger um Kommunikation, denn um die Sicherung eines bestimmten historischen Diskurses geht. »Damit ein Geschriebenes ein Geschriebenes sei, muß es weiterhin ›wirken‹ und lesbar sein, selbst wenn der sogenannte Autor des Geschriebenen nicht einsteht für das, was er geschrieben hat, was er gezeichnet zu haben scheint, sei es, daß er vorläufig abwesend ist, daß er tot ist, oder, allgemein, daß er, 54 Brilliant 1991, S. 109 55 Vgl. hier das Kapitel Mustergültigkeiten bei Elaine Reichek. Das kleine ABC

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was scheinbar ›in seinem Namen‹ geschrieben wurde, nicht mit seiner ganzen augenblicklichen und gegenwärtigen Intention oder Aufmerksamkeit, mit der Fülle seines Meinens unterstützt.«56

Die Schrift ist also als autoritätssicherndes Medium zu verstehen, das unabhängig von historischen Wechseln oder Meinungsänderungen Beständigkeit garantiert. In Jochen Flinzers Bearbeitung wird die Suche nach einem eineindeutigen Autor und Text allerdings erschwert. Die Nutznießer des Textes auf dem Teppich von Atlanta sind zunächst die Athleten, deren Leistungen beschrieben und deren Interessen damit vertreten werden. Als Urheber ließe sich der Vater von Frank Busemann, der die Reporter im Vorfeld mit Informationen ausgestattet hat und von ihnen wiederholt als Quelle zitiert wird, verstehen. Selbstverständlich könnten auch die Reporter, deren Rede aufgezeichnet wurde, das Copyright beanspruchen. Allerdings steht zu fürchten, dass all diese Akteure den Text nicht gegenzeichnen würden, da er entweder nicht von ihnen ist, vermutlich eine Menge Detailfehler aufweist oder einfach nicht zur dauerhaften Vermittlung intendiert war. Jochen Flinzer als Autor zu installieren, scheint genauso schwierig, da er sich um eine wortwörtliche Transkription bemüht, die auch Satzbildungsfehler und gestotterte Wortwiederholungen aufzeichnet. Dies betrifft zumindest eine Seite seiner Arbeit. Auf der anderen Seite schreibt sich der Künstler offensichtlicher in die Narration ein. Den schwer zu autorisierenden aber dennoch offiziellen Text souffliert Jochen Flinzer mit den Hervorhebungen der abstrakten Seite, die eine andere Erzählung aufzeichnen. Mit der gestickten Aufforderung: ›Schauen Sie sich das an‹ – bei gleichzeitigem Entzug der Fernsehbilder – leitet der Künstler den Blick auf seinen Anteil an der Narration. Im Vergleich zur Liveübertragung verfügen die Stickereien über eine Gegenwärtigkeit, die durch die Präsenz des Materials hergestellt wird. Es vergegenwärtigt weniger das Sportereignis denn seine Rezeption. Das hic et nunc der Sticktechnik repräsentiert den Nachvollzug des Künstlers und kann den Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern ihre eigene Rezeptionsposition vor Augen führen. Das materielle Supplement der Stickereien demonstriert damit die subjektive Nachträglichkeit der aneignenden Darstellung.

56 Derrida, Jacques, Signatur Ereignis Kontext, in: Jacques Derrida. Randgänge der Philosophie, Peter Engelmann (Hg.), Wien 1988, S. 291-314, hier S. 299

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Zusammenfassung

ZUSAMMENFASSUNG Sowohl Elaine Reichek als auch Jochen Flinzer thematisieren historische Inszenierungen und Instrumentalisierungen der Sticktechnik. Sie bedienen sich des traditionellen Image, wobei ihre künstlerischen Positionen zugleich die Überholtheit der ›bürgerlichen Stickerin‹ demonstrieren. Als Bestandteil des kollektiven Imaginären werden die herkömmlichen Geschlechterrollen in ihrer Konstruiertheit lesbar gemacht und variiert. Das Image der Sticktechnik und der Stickerin lässt sich so modifizieren. Dieser Prozess kann mit Judith Butler als performativer Akt beschrieben werden, in dem repetitive Aneignungen, ergänzt durch markante Abweichungen, die hegemonialen Festschreibungen resignifizieren.57 Elaine Reichek nutzt das ästhetische Vokabular von Mustertüchern des 18. und 19. Jahrhunderts, um den Anteil des Stickens als alltägliche, performative Praxis bei der Konstruktion von Wissen, Geschichte und (Geschlechter-)Identität zu exponieren. Mit dieser Zusammenstellung suggeriert Elaine Reichek eine Traditionslinie zwischen den Mustertüchern des 18. Jahrhunderts und der künstlerischen Praxis von Frauen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Indem sie Bezüge zu Arbeiten von Jenny Holzer und Barbara Kruger herstellt, befragt sie unterschiedliche Medien (Schrift, Textilien, Plakate etc.) und Rezeptionsräume hinsichtlich ihrer Bedingungen und Möglichkeiten. Jochen Flinzer rekurriert auf die Rezeptionsgeschichte des Teppichs von Bayeux, die geprägt ist von den geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen des 19. Jahrhunderts. Der von ihm vorgenommene Rollentausch, in dem der Part der Stickerin von einem männlichen Akteur eingenommen und der siegreiche Feldherr durch einen athletischen Sportler ersetzt wird, verfügt über parodistische Züge. In der Verschränkung seiner Arbeit mit dem mittelalterlichen Wandbehang gelingt es ihm, Überlegungen zu Vermittlungsmedien anzustoßen und die aneignende Rezeption nicht nur der sportlichen, sondern im übertragenen Sinn auch der geschlechtsspezifischen Darstellungskonventionen zu thematisieren. Beide Arbeiten inszenieren eine subjektive Form der Auseinandersetzung mit Geschichten, in die sie ihre Subtexte einschreiben: Elaine Reichek durch ergänzende Zitate, Jochen Flinzer durch die kommentierende Funktion seiner B-Seiten.

57 Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, S. 196-216

DOING AND UNDOING. DAS GESTICKTE KUNSTWERK ALS UNGLAUBWÜRDIGE FETISCHISIERUNG1 Neben den historischen Konnotationen verfügt die Sticktechnik über Eigenheiten, die aus dem konkreten Arbeitsprozess und dem Fadenverlauf resultieren. Was bereits unter den Stichworten Materialpräsenz und Zeitaufwand zur Sprache kam, lässt sich als ein Effekt der Intensivierung umschreiben und durch den Fetisch-Begriff konkretisieren. Denn Bilder und Texte erhalten durch die gestickte Umsetzung eine nachdrückliche Relevanz. Ähnlich wie ein handgeschriebener Brief heutzutage seinem Inhalt Gewicht verleiht, stattet die Sticktechnik ihre Vorbilder mit Bedeutsamkeit aus. Als zeitaufwendige und körpernahe Arbeitsweise war sie beispielsweise prädestiniert auf Armbändern oder Geldbörsen Freundschafts- und Liebesbezeugungen zu übermitteln. Nicht selten wurde zu diesem Zweck das eigene Haar verwendet.2 Der Fetisch Begriff drängt sich nicht nur aufgrund solcher materiellen, haptisch erfahrbaren Parallelen auf, sondern ist auch in struktureller Hinsicht geeignet, diesen Auratisierungs-Prozesse zu konkretisieren, wie ich im Folgenden an Arbeiten von Ghada Amer und Francesco Vezzoli demonstrieren möchte.

PIN-UP-GIRLS BEI GHADA AMER Ghada Amer3 benutzt anonymisierte bzw. fiktive Frauenbilder als Vorlagen für Stickereien. Mit Anleihen aus Werbung, Märchentexten, Spiel1

Vgl. Eine erste Fassung dieses Kapitels wurde bereits veröffentlicht: Felix, Matilda, doing and undoing. Das gestickte Kunstwerk als unglaubwürdiger Fetisch, in: Modelle künstlerischer Produktion, Amrei Volkmann und Friedrich Weltzien (Hg.), Berlin 2003, S. 153-164.

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Eine Geste, die auch in der Gegenwartskunst wieder aufgegriffen wird, wie bei der documenta 12 an den Haarstickereien der chinesischen Künstlerin Hu Xiaoyuan zu sehen war. Vgl. URL: http://www.documenta12blog.de/?cat=97, 18.04.2010

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Ghada Amer, studierte Malerei in Nizza, Boston und Paris. Zu ihren Einzelausstellungen gehören: Ghada Amer. Love Has No End, Brooklyn Museum of

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zeugfiguren, Mode- und Pornomagazinen verarbeitet sie klischeehafte Weiblichkeiten.4 Seit 1988 ist Sticken ihr zentrales künstlerisches Ausdrucksmittel. Ausschlaggebend für ihre Hinwendung zu dieser Technik waren – ihren eigenen Ausführungen folgend – Fotografien westlicher Models in ägyptischen Modemagazinen, die derart retouchiert wurden, dass sie islamischen Kleiderregeln entsprachen.5 Durch den Widerspruch in diesen Bildern angeregt, folgte sie der Aufforderung der ägyptischen Zeitschrift, die dargestellten Modelle nachzuschneidern. Schablonen, Muster, Stereotype und Klischees wurden zum übergeordneten Thema ihrer Kunstwerke. Seit 1992 verwendet Ghada Amer überwiegend Bilder aus Pornoheften als Vorlage, die sie in unzähligen Wiederholungen und Modifikationen dekonstruiert. Einzelne Pin-Up-Girls werden aus den Fotografien extrahiert, kopiert und in ihren Konturen nachgestickt. Trotz dieser Separierung erschließt sich die Herkunft der Motive zumeist aus den Blick-Perspektiven: Oft werden die Frauen in leichter Auf- oder Untersicht gezeigt, mit ihrem direkten Kamera-Blick adressieren sie eine Modern Art, New York 2008. Ghada Amer (Ausst.-Kat.), MACRO. Museo d’arte contemporanea Roma, Rom 2007. Ghada Amer (Ausst.-Kat.), Institut Valencià d’Art Modern, Valencia 2004. ghada amer. reading between the threads (Ausst.Kat.), Henie-Onstad Kunstsenter, Oslo 2001/ Bildmuseet, Umeå/ Kunst Palast, Düsseldorf 2001-02. Ghada Amer. Intimate Confessions (Ausst.-Kat.), Deitch Projects, New York/ Museum of Art, Tel Aviv 2000. Ausstellungsbeteiligungen: Global Feminisms. New directions in contemporary art (Ausst.-Kat.), Brooklyn Museum, New York 2007. Africa Remix (Ausst.-Kat.), Museum Kunst Palast, Düsseldorf/ Hayward Gallery London/ Centre Pompidou, Paris/ Mori Art Museum, Tokio/ Moderna Museet Stockholm 2004-07. Embroidered Action, Herzliya Museum of Contemporary Art, Herzliya 2004. Racconto del Filo 2003 (Ausst.Kat.). The Short Century (Ausst.-Kat.), Museum Village Stuck, München/ Martin Gropius Bau, Berlin 2001. Greater New York. New Art in New York Now, P.S.1 Contemporary Art Center, New York 2000. Echolot oder 9 Fragen an die Peripherie (Ausst.-Kat.), Kunsthalle Fridericianum, Kassel 1998. Vraiment Feminisme et Art (Ausst.-Kat.), Le Magasin Centre National d’Art Contemporain, Grenoble 1997. Teilnahme an Biennalen: Istanbul 1995. Johannesburg 1997. Kwangju 2000. Lyon 2000. Moskau 2009. New York 2000. Santa Fe 1999. Sydney 2006. Venedig 2005 und 1999. Vgl. Felix, Matilda, Ghada Amer, in: Allgemeines Künstler Lexikon, Nachtrag Bd. 1, München/ Leipzig 2005, S. 294-295 4

Vgl. Amer 2001-02 (Ausst.-Kat.)

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Vgl. Ghada Amer interviewt von Xavier Franceschi, in: Ghada Amer (Ausst.Kat.), Espace Jules Verne, Brétigny-sur-Orge 1994, ohne Seitenangabe

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Abb. 14: Amer, Red Diagonals, 2000

imaginierte Betrachterin, einen imaginierten Betrachter. Vagina und Brüste werden exponiert, und häufig tragen die Protagonistinnen Fetischverdächtige Kleidungsstücke wie hochhackige Schuhe oder Strapse.

Red Diagonals Bei der Arbeit Red Diagonals aus dem Jahr 2000 diente eine ca. 2 m im Quadrat große Leinwand als Träger für Acrylfarbe und Stickerei (Abb. 14).6 Die stark verdünnte Farbe wurde ausgehend von der oberen Kante ungleichmäßig mit einem Spachtel aufgetragen, so dass die untere Hälfte von starken Verläufen dominiert wird. Eine etwa V-förmige Rotfläche beherrscht die obere Leinwandpartie. Beidseitig flankiert wird das Rot von sparsam eingesetzten, aber markanten schwarzen Flächen. Angesichts dieser Farbakzente verschwinden vereinzelte weiße und blaue Farbstreifen in der linken oberen Ecke. Der gespachtelte Farbauftrag kontrastiert mit den filigranen Fließ- und Tropfspuren in der unteren Bildhälfte.7 Auf 6

Ghada Amer, Red Diagonals, 2000, Acryl und Stickerei auf Leinwand, 182 x 182 cm, Sammlung Yoko Ono, New York

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Die starken Farbverläufe erklären sich unter anderem aus dem Umstand, dass Ghada Amer die Leinwände zum Besticken vom Rahmen nehmen

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Pin-up-Girls bei Ghada Amer

die so grundierte Leinwand stickte Ghada Amer in zahlreicher Wiederholung das Motiv zweier Frauen beim sexuellen Akt (Abb. 15). Eine Frau liegt, den Kopf nach rechts den Betrachtenden zugewendet, mit geschlossenen Augen bäuchlings auf einem Kissen. Sie hat ihre Beine soweit angewinkelt, dass ihr Gesäß in die Höhe ragt und ihre Vagina zu sehen ist, der sich die zweite Frau zum Cunnilingus nähert. Von ihr sind nur Profilansicht des nach vorne gereckten Kopfes und ihre Hände erkennbar. Fragmente dieser Figurengruppe werden mit gelbem, rotem, schwarzem, hellblauem und violettem Faden nachgestickt. Wie in anderen Arbeiten ordnet Ghada Amer diese Fragmente in geometrischen Formen an. Hier entstehen die titelgebenden diagonalen Streifen, die von der oberen und unteren Leinwandkante ausgehen und sich im parallelen Verlauf in der Mitte des Bildes treffen. Diese Diagonalen korrespondieren mit dem V-förmigen Verlauf der roten Farbfläche. Während sich allerdings diese Fläche von oben nach unten entwickelt, entsteht das V der gestickten Partien in einer Seitwärtsbewegung von rechts nach links. Jede Diagonale ist durchgängig in einem Farbton gestickt. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass diese Figurenstreifen zusammengeschoben die Figurengruppe komplettieren würden. Ohne die Unterbrechungen durch die unbestickten Leinwandfelder ergäbe die gleichmäßige Verteilung des Motivs auf der Leinwandoberfläche ein Netz aus zahlreichen Kopien der Frauenkörper.

Farbkonkurrenzen Noch bevor Ghada Amer dazu über ging, ihre Leinwände mit Acrylfarbe zu grundieren, ist ihr Fadenarrangement oft mit der Malweise Jackson Pollocks verglichen worden.8 Tatsächlich erinnern die bestickten Flächen an die Farbeffekte der Drip-Paintings. Auf ihnen wird das Farbmaterial muss. Um jede Stelle der zum Teil wandfüllenden Arbeiten zu erreichen, rollt sie die Leinwand am oberen und unteren Ende ein (Abb. 16). Sie ist also um eine dünnhäutige Farbschicht bemüht, die beim Besticken keine Krakeleen bildet oder absplittert. 8

Vgl. Nahas, Dominique, Ghada Amer, in: New York Review, 01.05.1998. Guralnik, Nehama, An accomplice despite himself. On works of Ghada Amer, in: Amer 2000 (Ausst.-Kat.), S. 90-85 (absteigende Seitenzählung). Ausschließend: Breitz, Candice, Ghada Amer. The modelling of desire, in: NKA. Journal of Contemporary African Art, Herbst-Winter 1996, S. 15-19. Die Auseinandersetzung mit Jackson Pollock ist bei Arbeiten, die ab 1999

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Abb. 15: Amer, Red Diagonals (Detail), 2000

derart zur Geltung gebracht, dass Regine Prange Farbe und Bildträger bei Jackson Pollock als gleichberechtigte stoffliche Materie auffasst. »Dort, wo der Lack von Nessel aufgesogen wurde, erscheint er grauschwarz eingesunken, fast als Vertiefung. Die Zentren der Farbverdickungen zeigen hingegen eine tiefschwarz glänzende, wellig getrocknete Oberfläche.«9 Dieses Überdecken und Einsinken führen die Stickereien konsequenter fort, wodurch sich die Symbiose mit der Leinwand verdichtet. Darüber hinaus erinnert vor allem die verklebte Schicht der Restfäden an den Farbauftrag der Drip-Technik. Im Gegensatz zu den gestickt befestigten Fadenpartien scheinen die geklebten Fäden in einer impulsiven und fließend modellierenden Geste angebracht. Neben diesen Parallelen von Farb- und Fadenverlauf gibt es ebenso aufschlussreiche Unterschiede (Abb. 16). Die Drip-Technik Jackson Pollocks zeichnet sich durch den fehlenden Kontakt zwischen Malgerät und Bildträger sowie einen ausschweifenden Körpereinsatz aus, der eine – inzwischen mythische – Geste der Aktion, der Dynamik und der Bewegung erzeugt.10 In dieser Hinsicht ist das Garn – gestickt oder geklebt – geradezu als Antipode anzusehen, entstehen, offensichtlich und von Ghada Amer initiiert. Darauf verweisen neben dem Farbauftrag auch die Titel der Arbeiten, beispielsweise Colored Drips / Figures en zig zag, 2000. Vgl. Amer 2000 (Ausst.-Kat.) 9

Prange, Regine, Jackson Pollock Number 32. 1950: die Malerei als Gegenwart, Frankfurt a.M. 1996, S. 26f.

10 Vgl. Prange 1996, 29-36

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was ein kurzer Blick auf die Rezeptionen Clement Greenbergs zeigt. Der einflussreiche US-amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg war ein entschlossener Verfechter des abstrakten Expressionismus und favorisierte Jackson Pollock als den maßgeblichen Vertreter dieser Richtung.11 Nach seinem Verständnis sollten sich alle Gattungen in erster Linie mit den spezifischen Eigenschaften ihrer Medien beschäftigen. Möglichkeiten und Grenzen der Materialien und Arbeitsweisen seien als positive Faktoren zu verstehen und zu unterstreichen. Für die Malerei bedeute das eine Konzentration auf die Eigenschaften des Pigments, die Form des Bildträgers (Rahmen als Begrenzung) sowie die zweidimensionale Bildfläche. »Because flatness was the only condition painting shared with no other art, modernist painting oriented itself to flatness as it did to nothing else.«12 Aus seinen Überlegungen heraus bestand Clement Greenberg auf die Abstraktion als eigentlichen Gegenstand der Malerei. Diesen Regelkanon beantwortet Ghada Amer mit Überschreitungen. Der gestickte Farbauftrag kümmert sich nicht um die Eigenschaften des Pigments bei herkömmlichen Öl- oder Acrylfarben, die Clement Greenberg für maßgeblich hielt. Die Fäden erweitern die ›Malerei‹ in den dreidimensionalen Raum und folgen zumeist einer Stick-Vorlage, die Clement Greenbergs Abstraktionssehnsucht geradezu parodiert. 11 Jackson Pollock war für Clement Greenberg »the most important so far of the younger generation of American painters«. Greenberg, Clement, Review of exhibitions of Jean Dubuffet and Jackson Pollock [1947], in: Clement Greenberg. The collected essays and criticism, Bd. 2: Arrogant Purpose. 1945-1949, John O’Brian (Hg.), Chicago/ London 1988, S. 122-125. Clement Greenberg bezeichnete den Maler wiederholt auch als »cultural hero«. Greenberg, Clement, The Jackson Pollock Market Soars [1961], in: Clement Greenberg. The collected essays and criticism, Bd. 4: Modernism with a vengeance 1957-1969, John O’Brian (Hg.), Chicago/ London 1995, S. 107-114, hier S. 108. Greenberg, Clement, Where is the Avant-Garde? [1967], in: Clement Greenberg. The collected essays and criticism, Bd. 4: Modernism with a vengeance 1957-1969, John O’Brian (Hg.), Chicago/ London 1995, S. 259-265, hier S. 261. Die besondere Unterstützung, die Jackson Pollock durch den Kritiker erfahren hat, wird in dem Katalog der retrospektiven Werkschau 1998 thematisiert. Vgl. Jackson Pollock (Ausst.-Kat.), The Museum of Modern Art, New York/ Tate Gallery, London 1998-99, S. 42-47. 12 Greenberg, Clement, Modernist painting [1960], in: Clement Greenberg. The collected essays and criticism, Bd. 4: Modernism with a vengeance 1957-1969, John O’Brian (Hg.), Chicago/ London 1995, S. 85-93, hier S. 87

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Abb. 16: Amer, Atelier New York

Interessanterweise kontrastiert Ghada Amer die Stickereien zwar kompositorisch zu den unterliegenden Farbflächen, erzielt allerdings einen ästhetischen Gleichklang, der zwischen diesen Ausdrucksweisen vermittelt. Die geometrische Anordnung der Stickereien auf der Leinwand, der fragmentierende und ornamentierende Umgang mit dem Motiv und das Arrangement der Restfäden überführen den figurativen Anteil in eine abstrakte Ordnung, die jedoch nicht verhindern kann, dass ›Reste‹ der Vorlage zuweilen hervortreten. Generell besteht Ghada Amers Arbeit aus vielfältigen Wiederholungen. Sie werden geradezu als Strukturmerkmal von Stickerei vorgestellt. Das beginnt mit der Wahl einer Stickvorlage, eines Vor-Bilds, das aus seinem Zusammenhang separiert und in unterschiedlicher Form auf einen Träger kopiert wird. Anschließend generiert sich ein Stickbild aus der repetitiven Addition eines Grundmotivs: Zwei Einstichstellen, durch einen Fadenlauf verbunden, bilden das Basiselement, aus dem eine bestickte Fläche oder eine Linie entsteht. Einer oft repetierten Beschwörungsformel ähnelnd, erzeugt die kleinteilige und körperliche Nähe erfordernde Arbeitsweise eine Bedeutungsaufladung der verwendeten Bilder und Texte, die ich als diskursive Fetischisierung verstehe. Wobei zu betonen ist, dass es hier um die Adaption eines diskursiven Begriffs geht, der mir hilfreich erscheint, den Auratisierungsprozess zu bezeichnen, der mit dem gestickten Nachvollzug einhergeht. Ich möchte bereits vorwegnehmen, dass dieser Prozess im Kunstkontext häufig als karikative Über-Zeichnung realisiert wird, die letztlich zu einer Unglaubwürdigkeit des Fetischs führt.

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Separierung. Wiederholung. Verehrung Der Fetischbegriff ist aus drei unterschiedlichen Diskurszusammenhängen geläufig. Zunächst wurde damit in der Anthropologie ein religiöser Gegenstand bezeichnet.13 Als ›Warenfetisch‹ erhielt er in der Kapitalismuskritik durch Karl Marx einen erweiterten Rahmen.14 Schließlich beschrieb Sigmund Freud in der Psychoanalyse die zur sexuellen Befriedigung eingesetzten Fetische.15 Gemeinsam ist diesen drei Ausformungen des Fetischismus ein Aspekt der Separierung und nachfolgend der Leugnung. Gegenstände oder Handlungen werden dabei aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst und mit ihnen wesensfremden Bedeutungen verknüpft, für die sie anschließend stellvertretend eingesetzt werden. Dabei kann der ursprüngliche Sinnzusammenhang verloren gehen bzw. geleugnet werden.16 Dieser Prozess lässt sich beispielsweise in der christlichen Reliquienverehrung beobachten. Ein winziges Stück Stoff, einige Tropfen roter Flüssigkeit oder ein Holzsplitter können zu magischen, scheinbar Wunder bewirkenden Gegenständen transzendieren.17 Dieser Wandlung vorgängig ist die Separierung und Neukontextualisierung der Materialien. Die anschließend einsetzende religiöse Praxis der Verehrung bewirkt, dass ihre originäre Funktion zunehmend in den Hintergrund gerät. Die Initialisierung eines Fetischobjekts besteht aus dem Dreischritt: Separierung, umwertende Wiederholung und Verehrung. Da aber der Fetisch ein Platzhalter ist, verdrängt er das Wissen um die ursprünglichen 13 Vgl. Brosses, Charles de, Du cult des dieux fetiches, ou parallèle de l’ancienne religion actuelle de Nigritie [1760], in: Objekte des Fetischismus, Jean-Baptiste Pontalis (Hg.), Frankfurt a.M. 1972, S. 189-191 14 Vgl. Marx, Karl, Der Fetischcharakter der Ware, in: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie [1867], Berlin 1993, Bd. 1, 85-98 15 Vgl. Freud, Sigmund, Fetischismus [1927], in: Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1976, S. 309-317. Zur Popularität des Terminus ›Fetischismus‹ im 19. Jahrhundert: Böhme, Hartmut, Fetischismus im 19. Jahrhundert. Wissenschaftshistorische Analysen zur Karriere eines Konzeptes, in: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Festschrift Eda Sagarra, Jürgen Barckhoff, Gilbert Carr und Roger Paulin (Hg.), Tübingen 2000, S. 445-467 16 Vgl. Gamman, Lorraine und Merja Makinen, female Fetishism, New York 1995, S. 44 17 Vgl. Angenendt, Arnold, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1997. Cordez, Philippe, Die Reliquien. Ein Forschungsfeld. Traditionslinien und neue Erkundungen, in: Kunstchronik, 2007, Bd. 60, H. 7, S. 271-282

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Zusammenhänge nicht vollständig. Vielmehr tritt das Fetischobjekt als Surrogat auf, um bestimmte Erkenntnisse oder Zusammenhänge zu leugnen – die allerdings so nachdrücklich erfahren wurden, dass ihre Verdrängung dieser aufwendigen Ritualisierung bedarf.

Fragmentierte Akte Auch Ghada Amer initiiert die Verdrängung ihrer Vorbilder. Sie verstellt den Blick durch eine Reihe von Gestaltungsmaßnahmen, die ich im einzelnen hervorheben möchte. Zunächst sind die gestickten Partien auf dem Hintergrund der Acryl-Farbe mitunter getarnt. Während sich das blaue und das schwarze Garn in der oberen Hälfte deutlich von der roten Grundierung abhebt, gehen die roten Fäden in ihrem Hintergrund auf. In der unteren Leinwandhälfte sorgen die Farb- und Garnverläufe für so viel Unruhe, dass sich die Figurengruppe nur noch mühsam heraus destillieren lässt. Aber nicht nur der Untergrund, sondern auch die mitunter langen Restfäden erweisen sich als Hindernisse im Erkennen der Figuren. Ghada Amer belässt sie auf der Leinwandoberfläche, wo sie arrangiert und mittels einer Emulsion fixiert werden. Mit einer Ausnahme in der linken unteren Leinwandecke, wo das Garn aufsteigt, verlaufen die verklebten Fäden wie die Farbspuren senkrecht nach unten und verdecken das Motiv zusätzlich. Dieses wiederum existiert nur parzelliert. An einer Stelle ist das Gesicht einer Frau nachgestickt, während Partien des Körpers fehlen, die dafür an anderer Stelle auftauchen. Diese Parzellierung wiederholt den Aufbau der gestickten Linien, die bei Ghada Amer stets aus einer Reihe von Vorstichen zusammengesetzt sind. Durch diese Maßnahmen versetzt Ghada Amer die dargestellten Körper in einen stetigen Auflösungs- und Konstruktionsprozess. Lediglich durch nahes Herantreten und konzentriertes Fixieren lässt sich die sexuelle Szene erkennen. Die Betrachterin, der Betrachter ist wie bei einem Puzzle herausgefordert, die verfügbaren Teile zusammenzusetzen, was allerdings durch die zahlreichen Wiederholungen, die mitunter auch Überlagerungen bedeuten, nicht immer gelingt. Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Auflösung des Motivs in erster Linie durch seine fortgesetzte Wiederholung initiiert wird. Ghada Amer überführt so die aus der Pornografie entlehnten Frauenbilder in einen Zustand der simultanen An- und Abwesenheit. Dabei werden die Vorlagen zugleich zitiert und in verunklärender Vervielfältigung (de-)konstruiert. Eine solche Wirkung wird im Fetischismusdiskurs als oszillierendes ›doing and undoing‹ beschrieben.18 18 Vgl. Gamman/Makinen 1995, S. 8, 45f

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Affirmative Dekonstruktion Wie Lorraine Gamman und Merja Makinen gezeigt haben, können die unterschiedlichen Fetischformen unter Zuhilfenahme rhetorischer Figuren anschaulich gemacht werden.19 Dabei bedienen sie sich der Untergruppe der Tropen, die Formen uneigentlichen und indirekten Sprechens zusammenfassen.20 Metapher und Metonymie begleiten in ihrem Verständnis den Warenfetischismus, bei dem das Wesen der Ware als Produkt menschlicher Arbeit verschleiert wird und der Warentausch an die Stelle menschlicher Beziehungen tritt.21 Dagegen können der sexuelle wie der anthropologische Fetischismus als synekdochisch beschrieben werden – eine Ausdrucksweise, die sich auf ein Verwandtschafts- oder Zugehörigkeitsverhältnis gründet. Diese Formen der bildhaften Rede eignen sich zur Veranschaulichung des Fetisch, da auch sie Stellvertreter für das gebrauchen, das sie zu benennen versuchen. Schließlich ist auch der Fetisch ein Ersatz, der in einem Täuschungsmanöver versucht, etwas zu verbergen, das sich leider nicht simpel ignorieren lässt. Der Fetisch verstellt den Blick, lehnt das Begehrte aber nicht vollständig ab, sondern hält es in einem Stadium der simultanen An- und Abwesenheit. »Disavowal, unlike displacement or sublimation, is not a total denial of the desire experienced, which is subsequently repressed into another sphere. Instead, through the mechanism of disavowal, the desire is granted a ›safe‹ expression and satiation in the external world, without having to accept the ›threatening‹ knowledge involved. Through the use of fetish, the practitioner is able to continue to believe the false, while also knowing that it can not be true, since it does require a substitution.«22

In diesem doppeldeutigen Charakter liegt das kritische Potential des Fetischbegriffs. Als Stellvertreter verdeckt der Fetisch etwas ihm Vorgängiges. Wird er skeptisch betrachtet, rückt das ›Original‹ zwangsläufig in den Vordergrund. Eine solche Perspektive bietet bei Ghada Amer 19 Vgl. Gamman/ Makinen 1995, S. 45 20 Vgl. Nöth, Winfried, Handbuch der Semiotik, Stuttgart/ Weimar 2000. Göttert, Karl-Heinz, Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe. Geschichte. Rezeption, München 1994 21 Vgl. Godelier, Maurice, Warenwirtschaft, Fetischismus, Magie und Wissenschaft im Marxschen Kapital, in: Objekte des Fetischismus, Jean-Baptiste Pontalis (Hg.), Frankfurt a.M. 1972, S. 293-312 22 Gamman/Makinen 1995, S. 45f

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allerdings kein originäres Bild, sondern nur eine Leerstelle. Unter ihren Vervielfältigungen kann keine erste oder vollständige Version ausgemacht werden. Und selbst gäbe es sie, wäre sie stets eine Kopie des pornografischen Bildes, das entsprechend der Auflagenzahl des Pornohefts in zahlreichen Versionen zirkuliert und darüber hinaus nur als eine variierte Reproduktion bekannter Stereotype zu betrachten ist. Dennoch wohnt diesen Bildern ein Lustfaktor inne. Auch in diesem Punkt hält Ghada Amer die Motive in einem unentscheidbaren Status von De- und Rekonstruktion. Als endlose Wiederholung monotoner Stereotype werden sie zerlegt, während einzelne Fragmente immer wieder als Stimuli aus dem Fadengewirr auftauchen und dazu anregen, einen ›vollständigen‹ Körper zumindest zu imaginieren. Hierin sehe ich eine paradoxe Strategie der affirmativen Dekonstruktion, die als kritische Fetischisierung auftritt.

STARS BEI FRANCESCO VEZZOLI Mit Starfotografien der 1950er, 1960er und 1970er Jahre widmet sich Francesco Vezzoli anderen Darstellungskonventionen stilisierter ›Weiblichkeit‹.23 Er benutzt Fotografien von Sängerinnen, Schauspielerinnen oder weiblichen Models als Ausgangspunkt für Stickereien.24 23 Francesco Vezzoli, studierte von 1992 bis 1995 am Central St. Martins College of Art & Design in London. Zu seinen repräsentativen Soloausstellungen zählen: Dalí Dalí featuring Francesco Vezzoli (Ausst.-Kat.), Moderna Museet, Stockholm 2009-10. Francesco Vezzoli. A true Hollywood story! (Ausst.-Kat.), The Power Plant Contemporary Art Gallery, Toronto 2007. Francesco Vezzoli, Pinakothek der Moderne, München 2007-08. Francesco Vezzoli. Trilogia della Morte (Ausst.-Kat.), Fondazione Prada, Mailand 2004. The needleworks of Francesco Vezzoli (Ausst.-Kat.), Galerie für zeitgenössische Kunst, Leipzig 2002-03. The films of Francesco Vezzoli, New Museum of Contemporary Art, New York 2002. Francesco Vezzoli (Ausst.-Kat.), Museo d’Arte Contemporanea, Rivoli 2002. Auswahl an Gruppenausstellungen: BoysCraft (Ausst.-Kat.), Haifa Museum of Art, Haifa 2007-08. The future has a Silver lining. Genealogies of Glamour (Ausst.-Kat.), migros museum für Gegenwartskunst, Zürich 2004. Racconto del Filo 2003 (Ausst.-Kat.). Teilnahme an Biennalen: Istanbul 1999. Liverpool 2002. Ljubljana 2001. New York 2006. São Paulo 2004. Shanghai 2006. Taipei 2006. Tirana 2001. Venedig 2007, 2005 und 2001. 2007 gestaltete er das Magazin der Süddeutschen Zeitung, Nr. 46. 24 Vgl. Vezzoli 2002-03 (Ausst.-Kat.)

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Abb. 17: Vezzoli, Maria Callas spielte ›La Traviata‹ 63 Mal, 1999

Die Auswahl der Stars unterliegt wechselnden Kriterien. Schönheit und große Berühmtheit sind dabei wiederkehrende Motive, deren Vergänglichkeit Francesco Vezzoli thematisiert. Dass die Frauen bereits gestorben (z.B. Edith Piaf oder Audrey Hepburn), zumindest aber deutlich gealtert sind (z.B. Franca Valeri, Valentina Cortese, Bianca Jagger), verleiht den Arbeiten häufig die Bedeutung eines Memento mori.

Maria Callas spielte ›La Traviata‹ 63 Mal Als Andachtshalle der Maria Callas, verstanden in der doppelten Funktion eines Gebets- und Erinnerungsraums, beschreibt der Kunstkritiker Peter Guth eine Arbeit, die der Opernsängerin Maria Callas gewidmet ist (Abb. 17, 18).25 Den Grund für die sakrale Assoziation lieferte ein raumumgreifender – lediglich durch Fenster und Türen unterbrochener – Fries von Porträtfotografien der Diva. Die Installation Maria Callas spielte ›La Traviata‹ 63 Mal umfasst 63 gerahmte Einzelteile.26 Alle zentrieren in einem kreisrunden Passepartout Nahaufnahmen der Sängerin. Francesco Vezzoli griff auf eine Reihe von Fotografien zurück, von denen er Details schwarz-weiß im Laserdruckverfahren auf Stramin übertrug. 25 Vgl. Guth 2002 26 Francesco Vezzoli, Maria Callas spielte ›La Traviata‹ 63 Mal, 1999, Laserdruck und Metallfadenstickerei auf Stramin, gerahmt, 63 Teile je 33 x 43,5 cm, Privatsammlung Italien

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Abb. 18: Vezzoli, Maria Callas spielte ›La Traviata‹ 63 Mal, 1999

Informationen, zu welcher Gelegenheit die Fotografien entstanden sind, gehen dadurch weitestgehend verloren. Sie können mitunter aus dem Minenspiel der Sängerin geschlossen werden, erklären sich teilweise durch Kopfbedeckung, Schmuck und aufwendiges Bühnen-Make-Up. Die Fotografien zeigen Maria Callas in unterschiedlichen Altersstufen, auf der Bühne und im Backstagebereich, bei Fotoshootings, Filmpremieren oder anderen Abendveranstaltungen. Für den überwiegenden Teil der Aufnahmen posierte die Sängerin vor der Kamera, lediglich wenige Ausnahmen lichten eine überraschte und unvorteilhaft getroffene Maria Callas ab oder sind Paparazzi-Fotos, auf denen sie eine abwehrende Haltung einnimmt. Diese Fotos übertrug Francesco Vezzoli auf Stramin und stickte jeweils den oberen Lidstrich der Diva nach. Die quasi als Markenzeichen geltende schwarze Akzentuierung der Augen ersetzt er durch einen blauen Glitzerfaden und betont so eine Konstante der Fotografien.27 Das Alter der Porträtierten, der Anlass der Aufnahme, die Mimik der Sängerin sind Variablen, nur der blaue Lidstrich zieht sich als verbindendes Element durch die Einzelteile. Der gestickte Kajalstrich vermittelt aber nicht nur motivisch zwischen den Fotografien. Er verbindet auch de facto zwei übereinander liegende Bilder der Sängerin. Denn im jedem Rahmen 27 Von den 63 Teilen waren in Leipzig aus Platzgründen nur 54 ausgestellt. Unter ihnen war nur ein Motiv, bei dem das Gesicht der Sängerin nur auf dem unterliegenden Bild präsent war und nicht der Lidstrich nachgestickt wurde.

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Abb. 19: Vezzoli, Maria Callas spielte ›La Traviata‹ 63 Mal (Detail), 1999

befinden sich zwei Reproduktionen, von denen auch die untere durch die gitterförmige Bindung des Gewebes sichtbar wird (Abb. 19, 20, 21). Straminstoff ist ein gängiger Träger für Stickereien, da seine lose Webart das Abzählen der Stiche erleichtert. Francesco Vezzoli wählt allerdings keinen differenzierbaren Stich, stattdessen dient ihm das lichte Gewebe dazu, das unterlegte Bild durchscheinen zu lassen. So kommen – mit unterschiedlicher Intensität – immer zwei Bilder an die Oberfläche, die nicht immer das gleiche Motiv aufweisen. Bei der Verdoppelung eines identischen Motivs fällt es zunächst schwer, beide Abzüge zu unterscheiden. Allerdings sprechen die gedoppelten Konturen für die Anwesenheit einer zweiten Version. Mitunter orientiert sich Francesco Vezzoli beim gestickten Lidstrich an der unterlegten Abbildung und unterstreicht durch die Abweichung von den vordergründigen Gesichtszügen das durchschimmernde Bild. Indem das gleiche Motiv leicht versetzt gedoppelt wird, erreicht Francesco Vezzoli stellenweise den Eindruck von Bewegung und einen WeichzeichnerEffekt. Sehr viel direkter springt die Bildschichtung ins Auge, sobald zwei abweichende Motive kombiniert wurden. Hier entsteht der Eindruck einer Filmüberblendung, bei der im Übergang von einer Einstellung zur nächsten kurzzeitig zwei Bilder zu sehen sind. In dieser Bearbeitung lässt Francesco Vezzoli stets zwei ›Versionen‹ der Sängerin ineinander aufgehen. Zusammengehalten werden die unterschiedlichen Stofflagen durch die gestickte Einschreibung des Künstlers.

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Abb. 20: M. Callas als Iphegenie in ihrer Garderobe, 1957 Abb. 21: M. Callas mit dem Scala-Intendanten A. Ghiringhelli bei einer Filmpremiere in Mailand, 1960

Fanatische Simulakren Wie im Titel angedeutet, spielte Maria Callas die tragische Rolle der Violetta in Giuseppe Verdis Oper La Traviata tatsächlich 63 Mal. Durch die entsprechende Anzahl an Einzelobjekten legt Francesco Vezzoli eine analoge Beziehung zwischen der Bühnenrolle und den Fotografien nahe. Der Fundus, aus dem Francesco Vezzoli die Bilder bezieht, umfasst allerdings auch andere Figuren, die Maria Callas auf der Bühne und extradiegetisch inszenierte. Typische Momente des öffentlichen Lebens eines Stars wie die Flucht vor der Presse oder die Ankunft bei einer Gala-Veranstaltung sind hier ebenso in die Fotoreihe integriert wie diverse Bühnenrollen, nicht nur die titelgebende. Dennoch wird in diesem ›Andachtsraum‹ die Violetta als Leitmotiv interpretiert, das sich offenbar auch auf andere Lebensbereiche der Sängerin übertragen lässt. Da in Opern mit dramatischen Frauenfiguren nicht gespart wird und das Auf und Ab der Beziehung zwischen Maria Callas und Aristoteles Onassis in der Boulevardpresse auf großes Interesse stieß, war es naheliegend, das Liebesleben der Sängerin mit ihren Bühnenrollen zu überblenden. Als ›verwandte‹ Rollen boten sich Medea, Violetta und Norma an, die Maria Callas alle sehr häufig interpretierte. Alle drei Figuren werden von ihren Liebhabern verlassen und können nur im Tod die Erfüllung ihrer Gefühle erwarten. Violetta, eine Prostituierte, die aus Selbstlosigkeit auf ihren Geliebten verzichtet, um seine Familie nicht zu kompromittieren und erst aufgrund ihres absehbaren Todes in ihrem Großmut rehabilitiert wird, hat Maria Callas offenbar zu ihrer Lieblings-

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rolle erklärt.28 Die Überblendung von öffentlicher und privater Person hat die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen als wesentlich zur Etablierung einer Diva herausgestellt. »Bei ihr [Maria Callas] verwischt der Unterschied zwischen Bühne und Privatraum, weil ihre Opernauftritte immer real und ihr Privatleben immer opernhaft wirkten, aber auch weil sie es verstand, den Eindruck zu vermitteln, dass jeder Raum mit ihrem Eintreten zur Bühne für ihr Diva-Dasein wurde, und sie deshalb überall – im Theater, im Atelier, im Tonstudio, auf Flughäfen, in prunkvollen Villen oder einfachen Cafés – zu Hause war.«29

Während also Maria Callas zu ganz verschiedenen Gelegenheiten als Bühnenfigur vorgestellt wird, übernimmt Francesco Vezzoli den Part eines Fans, der die Bilder der Sängerin sammelt und exponiert. Und zur Rolle des Fans bemerkt Elisabeth Bronfen: »Die Wirkungskraft der Stars wie der Diven besteht (…) darin, dass die Fans sich auf die dargebotenen Phantasiewelten einspielen und die medialen Starkörper in die intimsten Räume der eigenen psychischen Realität mit einbeziehen. Gleichzeitig geht die Sogkraft der Stars wie der Diven aber auch davon aus, dass man sich als Fan zumindest das Bild dieser Medienwesen auf ganz intime Weise zu eigen macht.«30

Die Aneignung des Idols geht bei Francesco Vezzoli über das Sammeln hinaus. Er gleicht die Vorlagen im Format an, extrahiert das Gesicht der Diva und kennzeichnet es durch die gestickte Markierung. Vor allem mit den traditionellen Konnotationen der Sticktechnik im Hinterkopf übernimmt Francesco Vezzoli die Rolle des treuen Verehrers, der die schillernden Auftritte der Diva im Privaten nachvollzieht. Damit vervollständigt er quasi die Stardiegese um den Anteil der rezipierenden Bewunderung. Wie in einem Vexierbild gelingt es Francesco Vezzoli stickend, die imitierende Aneignung des Fans mit der glamourösen Welt der Stars zu verbinden.

28 Vgl. Bronfen, Elisabeth, Zwischen Himmel und Hölle. Maria Callas und Marilyn Monroe, in: Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, Elisabeth Bronfen und Barbara Straumann (Hg.), München 2002, S. 43-67, hier S. 53 29 Bronfen 2002, S. 52 30 Bronfen 2002, S. 47

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Die bewundernde Haltung eines Fans wurde von Lorraine Gamman und Merja Makinen zum anthropologischen – dem religiös motivierten – Fetischismus gerechnet.31 Vor allem das obsessive Sammeln von Bildern oder Gegenständen, die der Star berührt, signiert oder benutzt hat, und die wie Reliquien verehrt werden, macht eine solche Einordnung plausibel. Durch diese Behandlung können auch Bilder angebeteter Persönlichkeiten einen Fetischcharakter erhalten. In Francesco Vezzolis Bildergalerie vermittelt der gestickte Lidstrich eine haptische Qualität, die der Erinnerungsfunktion einer Haarsträhne ähnelt und sich durch die materielle Präsenz als fetischiertes Surrogat anbietet. Obwohl Francesco Vezzoli keine klassischen Körper- oder Kontaktreliquien verwendet, lässt sich die Inszenierung des Lidstrichs durchaus mit den Wirkungserwartungen solcher Körperfragmente vergleichen. »Körperreliquien sind keine Körperteile, sondern Teilkörper, in deren geringster Einzelheit der Heilige noch ungeteilt anwesend ist.«32 Im Lidstrich erkennt Francesco Vezzoli offenbar die Essenz der Diva. Das stets aus dem Kontext herausgelöste Gesicht der Maria Callas – und noch akzentuierter ihr Lidstrich als Pars pro Toto – wird zum Ersatz für die reale Person, die hinter den zahlreichen Reproduktionen verschwindet. In der seriellen Präsentation wird ihr Porträt zu einem Idol. Denn mit jeder Fotografie der Diva wird klarer, dass hier ein Image zirkuliert, das den Blick hinter die Fassade verstellt. Auf dieser Gratwanderung zwischen Vergewisserung und Verdrängung, Demystifizierung und Täuschung bewegt sich auch ein Fetisch: »The fetishist manages to hold the simulated original in a state of ironic suspension adjacent to the real and the facsimile. (…) In this way, fetishism emerges as an ever-shifting form of specular mimesis, an ambiguous state that demystifies and falsifies at the same time, or that reveals its own techniques of masquerade while putting into doubt any fixed referent.«33

Ähnliches gelingt Francesco Vezzoli, wenn er Maria Callas durch die enorme Präsenz ihres Gesichts zum Verschwinden bringt. Den Referenten hinter dem Image löst der Künstler auf, indem er die Opernsängerin 31 Vgl. Gamman/Makinen 1995, S. 18-27 32 Endres, Johannes, Knochenreste. Versuch einer begrifflichen Differenzierung (im Anschluss an Goethe), in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, H. 3, Jg. 36, 2008, S. 7-18, hier S. 10f 33 Apter, Emily, Feminizing the Fetish. Psychoanalysis and Narrative Obsession in Turn-of-the-Century France, Ithaca/ London 1991, S. 14

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in ihrem Rollenrepertoire aufgehen lässt. So werden alle veröffentlichten Erscheinungen der Sängerin als Erweiterung der dramatischen Narration vorgestellt. Das Verhältnis von Diva und Bild vergleicht Elisabeth Bronfen mit einem Spiegelkabinett, in dem »ein Bild endlos reproduziert wird und der Körper, der diesen Spiegelungen als Ausgangspunkt dient, von seinen Reproduktionen nicht mehr unterscheidbar ist.«34 Diese Wirkung fördert Francesco Vezzoli, indem er den Bildausschnitt angleicht und alle Motive in Schwarz-Weiß-Version umsetzt. Mögliche Differenzen der fotografischen Vorlagen werden so geglättet. Wie Lichtspots verwehren die runden Passepartouts aufschlussreiche Einblicke in die jeweiligen Kontexte der Aufnahmen. Der Fokus ist beharrlich auf das Gesicht und den Lidstrich der Diva gerichtet. Durch die Verdoppelungen und Überlagerungen verunklärt Francesco Vezzoli die Konturen zusätzlich und führt den vergeblichen Versuch vor, aus dem bereitgestellten Fundus ein authentisches Bild der Sängerin zu fixieren. Die Starfotografien entpuppen sich hier im Sinne Jean Baudrillards als Simulakren, die trotz zahlreicher Realisationen über kein Original verfügen. Vielmehr wird das Starprinzip zur Vorlage der öffentlichen Figur ›Maria Callas‹. Francesco Vezzolis Reproduktionspraktiken veranschaulichen, dass die zur Inszenierung einer Diva eingesetzten Kult-Bilder, eine reale Person nur simulieren. Die Reproduktionen setzten mit dem Rückgriff auf fotografische Vorlagen ein, die ihrerseits stets Abzüge von etwas sind und zahlreich vervielfältigt wurden. Auch Francesco Vezzoli fertigt erneute Abdrucke auf Stramin an, die er schichtet und partiell bestickt, d.h. nachahmt. Nicht zuletzt durch das serielle Arrangement erreichen die Bilder der Sängerin den Status der ›Hyperrealität‹. Mit diesem Begriff erklärt Jean Baudrillard den realitätsbegründenden Effekt adaptierter und endlos zirkulierender Bilder. Durch ihre Vervielfältigung werden sie »zum Realen schlechthin; Fetischismus des verlorenen Objekts – nicht mehr Objekt der Repräsentation, sondern ekstatische Verleugnung und rituelle Austreibung seiner selbst: hyperreal.«35 Bekanntermaßen erklärt Jean Baudrillard jedes Aufbegehren gegen diese ›Hyperrealität‹ für nutzlos. Jeder Versuch, die Täuschungen der Simulationen zu entlarven, müsse scheitern:

34 Bronfen 2002, S. 49 35 Baudrillard, Jean, Der symbolische Tausch und der Tod [1976], München 1982, S. 113

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»Es lohnt nicht seine Energie zu verschwenden, nur um auf eine letzte Wahrheit zu stoßen oder um die Zentren des Widerstandes zu finden, (...) denn alles (be)findet sich schon in der verschwenderischen Fülle der Zeichen und der Simulation, in der unheilvollen Umkehrung des Scheinhaften: es ist die Unmöglichkeit für jedes System, sich auf Wahrheit zu gründen; die Unmöglichkeit irgendein Geheimnis zu lüften bzw. zu enthüllen.«36

Als einzige ›Überlebensstrategie‹ empfiehlt er, in verführerischer Tarnung die unbegrenzte Verbreitung von Trugbildern zu fördern, um damit die Ordnung der Dinge zu verwirren.37 Diese Taktik wendet Francesco Vezzoli mit seinen modifizierten Vervielfältigungen an. In imitierender Verehrung reproduziert er die Simulationen der Opernsängerin. Vordergründig auf der Suche nach einem originären Bild der authentischen Person, demonstrieren Francesco Vezzolis Bildarrangements letztlich nur die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens.

ZUSAMMENFASSUNG In der Stickpraxis der Gegenwartskunst lassen sich sowohl auf formaler wie auch auf inhaltlicher Ebene fetischisierende Elemente ausmachen. Formal beinhaltet bereits der Arbeitsprozess Fragmentierungen, hervorgerufen einerseits durch die Verwendung einer Vorlage, die notwendigerweise bruchstückhaft aus einem anderen Kontext entnommen wird, ebenso wie durch das Zerfallen der gestickten Linie, des gestickten Feldes in einzelne Stiche. Beides unterstreicht die repetierende Struktur der Technik, die einen rituellen oder obsessiven Charakter annehmen kann. Dieser Prozess wurde hier mit der Initiierung eines Fetischs verglichen. Besonders deutlich wird diese Parallele, wenn bereits durch das Vor-Bild auf markante Darstellungen der Alltagskultur zurückgegriffen wird, die ihrerseits einen Fetischcharakter aufweisen. Mit der gestickten Umsetzung lässt sich dieser gesellschaftliche Fetischismus thematisieren, der die kursierenden (Körper-)Bilder und vorgeführten Inszenierungen begleitet. Dass die nachahmende Aneignung stereotyper Geschlechterbilder eine effektive Strategie zur Verwirrung des bipolaren Geschlechtermodells sein kann, gesteht auch Jean Baudrillard ein, wenn er – nicht ohne Bedauern über das Verschwinden der heterosexuell 36 Baudrillard, Jean, Laßt euch nicht verführen!, Berlin 1983, S. 50 37 Vgl. Baudrillard 1983, S. 47-52

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Zusammenfassung

normierten Geschlechtermatrix – die wechselnden Performanzen der Sängerin Madonna analysiert: »Es geht gar nicht mehr um Verführung, wie bei den früheren Frauenstars. Sondern sie zeigt uns eine Welt ohne mögliche Antwort eines sexuellen Gegenüber. Deshalb kann sie auch nach und nach alle Möglichkeiten der Geschlechter und der Sexualität verkörpern. (…) Wenn alle geschlechtlichen und sexuellen Prototypen einer nach dem anderen vorgeführt werden, bestehen sie zwar nebeneinander, verlieren aber ihre Intensität.«38

Geschlechtliche und sexuelle Prototypen werden in Bildern ›weiblichen‹ Startums ebenso verhandelt wie in pornografischen Darstellungen. Die Sticktechnik erweitert diese Auseinandersetzung, indem die traditionellen Konnotationen ihrerseits ein häusliches Weiblichkeitsstereotyp aufrufen. Aber auch die reputierliche Technik erfährt in der Gegenüberstellung mit Sex & Glamour einen Imagewandel. Sie wird zum Ausdruck von leidenschaftlichem Engagement. Wie in der rhetorischen Gruppe der Tropen kann mittels gestickter Elemente das Eigentliche durch das Uneigentliche ausgedrückt werden. Das doing and undoing von Ghada Amer und Francesco Vezzoli besteht darin, eine respektierliche Ausdrucksweise zu benutzen, um begehrliche Projektionen zu inszenieren. Dabei werden letztlich beide Seiten einem kritischen Blick ausgesetzt: Die Sticktechnik verliert ihr braves Ansehen und erweist sich als fetischisierender Gestus, der zirkulierende ›Idole‹ in der Steigerungsform als Simulationen hervortreten lässt. Hinter den reproduzierten Bildern Ghada Amers und Francesco Vezzolis verbirgt sich kein authentischer Ursprung. Vielmehr wird offensichtlich, dass sie durch ihren Gebrauch generiert werden. Die Betonung ihres Herstellungsprozesses thematisiert dabei zugleich ihre Fragwürdigkeit.

38 Baudrillard, Jean, The Madonna Deconnection, in: Kunstforum International, Bd. 134, Mai-Sept. 1996, S. 104-105

AUSSCHWEIFUNGEN IN DEN RAUM. VERSTÖSSE GEGEN DIE MATERIALGERECHTIGKEIT Von dem gut-bürgerlichen Image der Stickpraxis entfernen sich zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler nicht nur mittels opponierender Inhalte. Auch durch den Einsatz von unadäquaten Trägermaterialien lassen sich Formkonstanten aufbrechen und Wahrnehmungsgewohnheiten verändern. »Ein möglicher Weg, Material zur Erscheinung zu bringen, besteht (…) darin, Erwartungen zu durchbrechen und Gegenstände aus ›falschen‹ Materialien herzustellen. Bestehen Objekte einmal nicht aus den für sie prototypischen Materialien, so sorgt dies für Irritation, die künstlerisch genutzt werden kann.«1

Wird von dem textilen Grund Abstand genommen und beispielsweise Erde oder Beton großformatig und im Außenraum mit Garn bearbeitet, müssen sich die traditionellen Konnotationen der Technik vor einem völlig neuen Hintergrund behaupten. Die sich großzügig auf der Fläche ausbreitenden Stickereien erzeugen durch ihre offensichtliche Überwindung von erwarteten Materialeigenschaften eine gewisse Beunruhigung. Ganz spontan werden sie als materialungerechte Verfahrensweise empfunden. Diese Brüskierung dient als Anlass, die Aufmerksamkeit gezielt auf den Arbeitsprozess zu lenken. Die Frage, wie sich Pflanzen, Erde, Beton oder Wasser ›besticken‹ lassen, berührt die Dreidimensionalität als spezifische Eigenschaft der Technik. In den Fokus rückt nicht nur die Oberfläche, sondern auch das ›Innenleben‹ oder die ›Rückseite‹ der durchstochenen Materie. Die internen Fadenverläufe können sichtbar gemacht werden.2 1

Schawelka, Karl, ›More matter with less art?‹ Zur Wahrnehmung von Material, in: Material in Kunst und Alltag, Monika Wagner und Dietmar Rübel (Hg.), Berlin 2002, S. 13-32, hier S. 19

2

Wie beispielsweise bei einer Arbeit von Jochen Flinzer, der Buchattrappen, die üblicherweise in Möbelgeschäften zur Dekoration eingesetzt werden,

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Versteinerte Fäden bei Mariann Imre

Sie sind aber ebenso räumlich exponiert, wenn sie – visuell nicht wahrnehmbar – in Beton oder Erde versinken. Solche Materialkombinationen betonen den skulpturalen und installativen Charakter von Stickereien.

VERSTEINERTE FÄDEN BEI MARIANN IMRE Mariann Imre3 beschäftigt sich in erster Linie mit Installationen. Viele ihrer Arbeiten, die sie als Arrangements bezeichnet,4 thematisieren Prozesse der Transformation. Dabei kombiniert sie kontrastreiche Materialien wie Garn, Beton, Glas, Licht, Eis oder Papier und initiiert Veränderungen von Aggregatzuständen. Eine zweite Konstante bildet die Beschäftigung mit Raumgrenzen. Mariann Imres Objekte gehen symbiotische Beziehungen mit der architektonischen Umgebung ein, indem beispielsweise Wände perforiert, Decke und Fußboden durch Fäden verbunden oder in den Raum fallende Lichtstrahlen verfolgt werden. Durch diese Markierungen macht sie die Ambivalenz von Architektur als raumschaffende und raumbegrenzende Konstruktion erlebbar, wobei stets ›jenseitige‹ Fortsetzungen angedeutet sind. In den Werken, die Bezüge zu Stickereien herstellen, überrascht Mariann Imre durch unerwartete Stickträger wie Flüssigkeit oder Stein. Scheint Wasser aufgrund seiner amorphen Struktur zum Besticken ungeeignet, so ist es Beton aufgrund seiner Festigkeit.5 Diese Unvereinbarkeit überwindet Mariann Imre, ohne allerdings Hinweise auf die Verfahrensweisen zu geben. durchstickte, wodurch auch der Fadenlauf im Inneren der Kartons zu sehen war. Bücherporträts, 1999, Stickerei auf Buchattrappen, 24 Teile unterschiedlicher Formate, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a.M. 3

Mariann Imre studierte Malerei an der Hungarian Arts School in Budapest. Als prominente Einzelausstellung ist zu nennen: In-Between. Mariann Imre, Gynaika, Antwerpen 2006. Sie war beteiligt an den Gruppenausstellungen: Gender Check. Rollenbilder in der Kunst Osteuropas (Ausst.-Kat.), Museum Moderner Kunst, Wien 2009-10. Works on the Edge No. 2, Lumú. Ludwig Múzeum, Budapest 2006. Soap Opera, Mûcsarnok Kunsthalle, Budapest 2004. Racconto del Filo 2003 (Ausst.-Kat.). Biennale: Venedig 1999

4

Vgl. Páldi, Livia, Mariann Imre (Ausst.-Begleith.), Saarländisches Künstlerhaus, Saarbrücken 1997, S. 4

5

Scheinbar in Wasser ausgeführte Stickereien präsentierte sie bei der Installation: Érintõ vonalak, 1998, Wasser und Faden. Vgl. L’assunzione della techné.

AUSSCHWEIFUNGEN IN DEN RAUM

Abb. 22: Imre, Cím nélkül (Detail), 1999

Cím nélkül (Ohne Titel) 1999 bildete eine große Bodenplastik ihren Beitrag zur Venedig Biennale.6 Mariann Imre legte das Foyer des ungarischen Pavillons mit gewöhnlichen Betonplatten aus (Abb. 22, 23). Im Zentrum einer etwa 2 m2 großen Fläche stickte sie mit grünem Zwirn einen menschlichen Blutkreislauf nach. Die Venen und Arterien des zentralen Motivs gingen auf den umliegenden Platten in stilisierte Zweige und Blätter über, die sich rhizomartig auf dem Beton ausbreiteten. Um den ungarischen Pavillon zu erreichen, mussten die Stickereien betreten werden. Aufgrund der Platzierung direkt vor dem Eingang gab es keinerlei Ausweichmöglichkeiten. Das initiierte nicht nur eine klare Übertretung des Verhaltenskodex im Umgang mit Kunstwerken, sondern verursachte auch eine kontinuierliche Auflösung der Fäden (Abb. 24). Die Besucherinnen und Besucher wurden geradezu genötigt, physischen Kontakt mit der Bodeninstallation aufzunehmen, und dadurch ihre Zerstörung voranzutreiben. Entgegen der langläufigen Übereinkunft, Stickereien als empfindliche und schonungsbedürftige Objekte zu betrachten, galt es hier, ihre Belastbarkeit zu erproben und ihren Verschleiß zu verursachen. Dabei verschwand das Motiv nicht gleichförmig. Wo sich die Tackling techné (Ausst.-Kat.), Ungarischer Pavillon der 48. Biennale, Venedig 1999, S. 234f 6

Mariann Imre, Cím nélkül [Ohne Titel], 1999, Faden und Betonplatten, 400 x 400 x 3 cm, im Besitz der Künstlerin

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Versteinerte Fäden bei Mariann Imre

Abb. 23: Imre, Cím nélkül (Detail), 1999

Fäden entlang von Betonfurchen ausbreiteten, waren sie länger vor den äußeren Einwirkungen geschützt. Mit wachsender Abnutzung dienten nur noch Faserreste und die Einstiche im Beton als Anhaltspunkte zur Rekonstruktion der Stickereien. In der Regel wird die Arbeitsweise der Künstlerin nicht erläutert, sondern schlicht als Stickerei ausgegeben, deren Realisierung im Dunkeln bleibt.7 Tatsächlich ›bestickt‹ Mariann Imre den noch feuchten Kunststein, indem sie den aufliegenden Faden lediglich vertieft, anstatt ihn durch das Trägermaterial hindurchzuführen. Diese Praxis garantiert die größtmögliche Analogie zu Stickereien auf textilem Grund. Durch das punktuelle Versenken des Fadens behält die Oberfläche ihre Gleichmäßigkeit, und das sichtbare Garn wird vor Verunreinigungen bewahrt. Aufgrund der Ähnlichkeit zu herkömmlichen Stickereien, rufen Mariann Imres Installationen zunächst Irritationen hervor. Der Antagonismus von Faden und Stein spielt erwartete Materialeigenschaften gegeneinander aus.

Materialungerecht? Mit der Forderung nach Materialgerechtigkeit entwickelte sich seit dem 18. Jahrhundert eine lebhafte Diskussion um spezifische Eigenschaften von Baustoffen, die ihren Einsatz und ihre Verarbeitung bestimmen 7

Vgl. Hübl, Michael, Ungarn, in: Kunstforum International, Bd. 147, 1999, S. 68

AUSSCHWEIFUNGEN IN DEN RAUM

Abb. 24: Imre, Cím nélkül (Detail), 1999

sollten.8 Gepriesen wurden vor allem Naturstoffe, die materialsichtig zu nutzen seien und mit moralischer Unterfütterung als ehrlich, wahrhaftig, edel und anständig attributiert wurden.9 Diese Argumentationen setzten sich auch in den Debatten um neu entwickelte Baustoffe wie Stahlbeton durch. Von großem Nutzen, aber im 19. und 20. Jahrhundert auch heftig umstritten, war die Anpassungsfähigkeit von Beton. Aus ihm lassen sich Bauelemente in jeder beliebigen Form und Größe gießen. Während die Gegner von einem charakterlosen Material sprachen, das keine Traditionslinien aufweisen kann und als Ersatzstoff eine Entfremdung von der Natur einleite, sahen die Befürworter in Beton, Eisen und Glas moderne, kostengünstige und flexible Baumaterialien, die prädestiniert seien, die industrialisierte Gesellschaft zu verkörpern.10 Der sich im 20. Jahrhundert durchsetzende Baustil war denn auch von funktionsorientierten Bauten geprägt, die auf einfachen geometrischen Grundformen basieren und puristische Fassaden aufweisen. 8

Für eine Zusammenfassung der Diskussion vgl. Raff, Thomas, Die Sprache der

9

Vgl. Raff 2008, S. 42

Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, Münster 2008, S. 39-44 10 Vorzüge und Vorbehalte gegenüber dem neuen Baustoffe lassen sich an Texten von Hugo Hillig, Walter Gropius, Siegfried Giedion, Naum Gabo und Le Corbusier nachvollziehen, allesamt Befürworter der modernen Materialien. Eine repräsentative Zusammenstellung liefert die Publikation Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Dietmar Rübel,

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Versteinerte Fäden bei Mariann Imre

Mariann Imre greift mit der quadratischen Ordnung der Betonplatten das Raster des ›Neuen Bauens‹ auf und ergänzt textile Blutbahnen. Auf den ersten Blick wiederholt sie damit eine Legitimationsstrategie der BetonBefürworter, indem sie das leblose Material durch Naturmetaphoriken nobilitiert. So spricht etwa Hugo Hillig von den »eisernen Sehnen«11 des Stahlbetons, Adolf Loos fordert dazu auf, in ihnen die ›natürlichen produkte unserer kultur‹ zu erkennen und Le Corbusier sieht in den Furchen der Betonverschalung pflanzliche Pseudo-Reliefs: »Aus dem rohen Beton sieht man die kleinsten Zufälligkeiten der Schalung: die Fugen der Bretter, die Holzfibern, die Astansätze usw. Nun gut, diese Dinge sind herrlich anzusehen. Sie sind interessant und bereichern die, die ein wenig Phantasie haben.«12

Auch Mariann Imre widmet sich den Spuren der Verschalung, wobei die Betonplatten ebenso wie die Fadenapplikationen vor Ort und in Handarbeit angefertigt werden. Entlang der beim Guss entstandenen Furchen befestigt sie die Fäden und imitiert damit natürlichen Wachstum. Trotz metaphorischer Parallelen hätte eine solche Bearbeitung der Oberfläche kaum Le Corbusiers Unterstützung gefunden. Unbekümmert riskiert Mariann Imre mit dem textilen Vegetationssurrogat in die Nähe des ›verbrecherischen Ornaments‹ zu rücken, das vor allem Adolf Loos Anfang des 20. Jahrhunderts gründlich in Misskredit brachte.13 Bekanntermaßen war der ›Ornamentiker‹ in seinen Augen entweder ein Krimineller, ein Nachzügler oder ein pathologischer Fall.14 Dabei bemängelte er nicht nur den schlechten Geschmack, der auf mangelnde Entwicklung zurückzuführen sei, sondern vor allem die völlig unökonomische Arbeitsweise: Monika Wagner und Vera Wolff (Hg.), Frankfurt a.M. 2005, S. 58-93. Zusammenfassend auch: Fuhrmeister, Christian, Beton, in: Lexikon des Künstlerischen Materials. Werkstoffe der Modernen Kunst von Abfall bis Zinn, Monika Wagner, Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt (Hg.), München 2002, S. 36-40 11 Hillig, Hugo, Der Betonbau und die Dekorationsmalerei, in: Kunstgewerbeblatt, H. 4, Bd. 25, Jan. 1914, S. 65-68, hier S. 66 12 Le Corbusier, L’Unité d’Habitation in Marseille [1952], in: Le Corbusier Œuvre compète 1946-1952, Willi Boesinger (Hg.), Zürich 1966, S. 192-193, hier S. 192 13 Loos, Adolf, Ornament und Verbrechen [1908], in: Trotzdem. Gesammelte Schriften 1900-1930, Adolf Opel (Hg.), Wien 1982, S. 78-88 14 Loos 1908, S. 83

AUSSCHWEIFUNGEN IN DEN RAUM

»Noch viel größer ist der schaden, den das produzierende volk durch das ornament erleidet. Da das ornament nicht mehr ein natürliches produkt unserer kultur ist, also entweder eine rückständigkeit oder eine degenerationserscheinung darstellt, wird die arbeit des ornamentikers nicht mehr nach gebühr bezahlt. Die verhältnisse in den gewerben der holzbildhauer und drechsler, die verbrecherisch niedrigen preise, die den stickerinnen und spitzenklöpplerinnen bezahlt werden, sind bekannt.«15

Mariann Imre begibt sich also auf ein schwieriges Terrain. Sowohl der prominente Einsatz von Beton als künstlerisches Material als auch die Sticktechnik sind mit historischen Ressentiments behaftet und vor allem in der Kombination mehr als ungewöhnlich. Dieses historisch umkämpfte Gebiet bleibt auch in der Neuauflage brisant. Allzu leicht lässt sich die Materialkonfrontation als Gegenüberstellung von ›weiblich‹ und ›männlich‹ konnotierten Stoffen und Arbeitsweisen interpretieren. So verweist beispielsweise der Kunsthistoriker János Sturcz in der Analyse von Mariann Imres Arbeitsweise auf geschlechtsspezifische Festschreibungen: »In a paradoxical manner, Mariann Imre creates a clash of simple manual work techniques, ›women’s‹ and ›man’s‹ work: she embroiders concrete. Her flat works, lacking plastic details, hover on the borderline between sculpture and object; she fills them not with wax, plaster or bronze but with concrete, and adds to the simple cast an embroidery of primitive beauty that describes the interior forms. Thus she creates her work by reuniting activities that society has traditionally separated along gender lines.«16

Obwohl den Arbeiten der Künstlerin hier eine vermittelnde Wirkung attestiert wird, hält eine solche Interpretation im Grunde an überlieferten geschlechterpolaren Attribuierungen, mit denen Arbeitsweisen und Materialien historisch belegt sind, fest. Faden und Beton müssen aber nicht zwingend als Gegensatzpaar betrachtet werden. Neben den traditionellen Zuschreibungen liefert vor allem ihre Flexibilität einen Ausgangspunkt, die Parallelen dieser Materialien zu bedenken.

15 Loos 1908, S. 82f 16 Sturcz, János, Tackling Techné. Postconceptual Object and Installation Art in Hungary, in: Assunzione della techné 1999 (Ausst.-Kat.), S. 12-42, hier S. 16

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Versteinerte Fäden bei Mariann Imre

Metamorphes Material Kathrin Bonacker beschreibt Beton als »ein festes, graues, in der Konsistenz Stein ähnelndes Material, das in beliebig großen Einzelteilen und verschiedensten Formen auftaucht und seine äußere Struktur durch nachträgliche Bearbeitung erhält.«17 Ein ähnliches Gestaltungspotential garantiert der textile Faden, mit dem diverse Flächen und Linien realisierbar sind. Mariann Imre verwendet die Betonplatten durch die horizontale Platzierung in ihrer gewohnten Einsatzform. Üblicherweise dienen solche Bodenplatten zur Befestigung von Wegen und Plätzen, auf denen sie Pflanzenwachstum verhindern. Diese Versiegelung des Erdreichs kehrt Mariann Imre in einem quasi reparativen Akt um. Mit grünem, gleichsam ›rankendem‹ Garn distinguiert sie die Motive farblich vom Grau des anorganischen Kunststeins. Ein Blutkreislauf und stilisierte Zweige wirken als Symbole für Leben und zirkulären Wachstum auf dem erstarrten Untergrund unangebracht. Der metaphorische Einsatz von Blut- und Baummotiven ruft zahlreiche Assoziationen aus der christlichen Ikonographie und der antiken Mythologie hervor.18 Die in diesen Erzählungen entscheidende Idee der Verwandlung wiederholt Mariann Imre in der dargestellten Transformation von menschlichen Blutadern zur umgebenden Vegetation. Auch der Beton unterstützt die Idee der Metamorphose. Er nimmt im Trocknungsprozess seine manifeste Form an, der jedoch durch die perforierende Bearbeitung bereits Angriffspunkte 17 Bonacker, Kathrin, Beton. Ein Baustoff wird Schlagwort. Geschichte eines Imagewandels von 1945 his heute, Marburg 1996, S. 7f 18 Vgl. die Artikel Baum, Blut, Christus im Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1, Rom/ Freiburg/ Basel/ Wien 1994, Sp. 258-268, 309-312, 355-454. Ein in der Kunst oft zitiertes Motiv ist die Metamorphose der Daphne, die bei Ovid ihren Vater – einen Flussgott – darum bittet, sie in einen Baum zu verwandeln, um den Nachstellungen Apolls zu entkommen. Sie wird daraufhin zu einem immergrünen Lorbeerbaum. Vgl. Ovidius Naso, Publius, Metamorphosen [ca. 1 n.d.Z], Michael von Albrecht (Hg.), Stuttgart 1997, Buch I, Zeile 452-568. Eine andere Metamorphose beschreibt Ovid im vierten Buch: Leucothoe, von Apoll verführt, wird von ihrem Vater zur Strafe lebendig begraben. In dem Versuch, ihr Schicksal zu mildern, gelingt es dem Sonnengott nur noch, einen Rest Leben zu retten, indem er den Boden, der ihren blutleeren Leichnam birgt, schwängert. Bald darauf durchziehen die Wurzeln einer Weihrauchpflanze den Boden und ein Spross stößt schließlich – im Sinne einer Wiedergeburt Leucothoes – ans Licht. Ovid 1, Buch IV, Zeile 190-255

AUSSCHWEIFUNGEN IN DEN RAUM

für zukünftige Zersetzung beigefügt sind. »The product of the cement embroidery is ambivalent: it underlines the strong bonding in the cement as if the design revealed lines of strength, but it also shows the possibility to demolish the cement (…).«19 Obwohl in der Materialkonfrontation die Stickereien den graziösen und empfindlichen Part einnehmen, sind es die Einstichstellen, die im Stein eine poröse Oberfläche hinterlassen, und damit seine drohende Erosion befördern. Als letzte und vordergründig degenerative Wandlung verschwindet das Garn durch das intendierte Betreten der Arbeit. »Mariann Imre [makes] the viewer take away her work.«20 Allerdings lässt sich diese Dekomposition, in Verlängerung der Pflanzenmotivik, auch als kreative Verbreitung betrachten. So kann die Delozierung der Fäden als nützlicher Effekt der pflanzlichen Vermehrung durch die Streuung von Sporen, Samen oder Ablegern verstanden werden. Dabei begibt sich Mariann Imre in Bereiche der mythischen Verklärung von Kreationsprozessen. Ihr anatomischer Blutkreislauf, der sich in Blättern und Zweigen auflöst, erinnert an medizinische Illustrationen, die häufig eine vergleichbare Mixtur aus seziertem Körper und allegorischer Figur präsentieren.21 Es sind bei genauer Betrachtung die Materialien, die dieser Mystifizierung Grenzen setzen. So ist ein Kunststein kaum zur Repräsentation ›natürlicher‹ Schöpfung geeignet. Wie der Beton einen Naturstein lediglich nachahmt, bilden auch die Stickereien nur einen Ersatz von Lebenszeichen. In der Materialkombination verliert selbst die Sticktechnik ihre fürsorglichen Imageanteile und entfaltet mit der inszenierten Durchdringung des steinigen Untergrunds ein gewisses Aggressionspotential. Dass die Darstellung darüber hinaus betreten und abgenutzt wird, stört den kontemplativen Genuss und sabotiert eine essentialisierende Betrachtung.

Fossile Spuren Verglichen mit Kreidebildern, die in den 1980er Jahren noch häufiger in Einkaufszonen den Asphalt zierten und ebenfalls unter dem Einfluss von Mensch und Wetter verblassten, erzeugt Mariann Imre eine intensivere 19 Tatai, Erzésebet, Tempting the impossible. About the work of Mariann Imre, in: Assunzione della techné 1999 (Ausst.-Kat.), S. 199-241, hier S. 236 20 Sturcz 1999, S. 23 21 Vgl. Frübis, Hildegard, Geschlecht und Medium. Natur, Körper und Entdeckerphantasien, in: Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Anja Zimmermann (Hg.), Berlin 2006, S. 331-346

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Versteinerte Fäden bei Mariann Imre

Bindung zwischen farbgebendem Material und Träger. Dadurch kann sich der Faden nicht spurlos auflösen. In den gehärteten Einstichstellen bleiben Garnreste erhalten, die das oberflächliche Verschwinden der textilen Anteile dokumentieren und den vom Beton eingeschlossenen, quasi konservierten Fadenlauf vergegenwärtigen. Dadurch lenkt sie das Interesse auf den verborgenen ›subkutanen‹ Zustand und zitiert mit der Figur im Stein einen Topos der Bildhauerei. Die Vorstellung, der Naturstein berge ein Bildnis in sich, das lediglich durch die Entfernung der überflüssigen Substanz freigelegt werden müsse, weist Analogien zur Paläontologie und ihrer Beschäftigung mit fossilen Spuren von Lebewesen auf. Die Künstlerin initiiert im Produktionsprozess eine beschleunigte Versteinerung. Aber selbst in diesem ›Schnelldurchlauf‹ thematisieren die Materialien und die Arbeitsweise Zeiterfahrungen. Zeit lässt sich – wie Arnulf Rohsmann herausgestellt hat – sowohl motivisch als auch vermittelt durch den Arbeits- und Kreationsprozess darstellen: »Vermittlung und/oder Konstitution von Zeit bedarf in den Künsten eines ikonographischen, prozessualen oder konzeptuellen Trägermediums, das seinerseits in den Zeitkontext überführt wird. Diese Konstellation bedingt die Doppelnatur von Zeit in den Künsten als Thema und Methode.«22

Diese doppelte Inszenierung von Zeit kann an der Bodenplastik nachvollzogen werden. Motivisch ruft Mariann Imre organische Prozesse des Stoffwechsels, des Wachstums, der Ausbreitung und Vernichtung auf. Methodisch unterliegt sie mit der Wahl des Trägermaterials temporalen Vorgaben, da der Stein während der Trocknung nur ein gewisses Zeitfenster zur Bearbeitung eröffnet. Danach verliert er diese Transformierbarkeit und suggeriert Dauerhaftigkeit. Der folgende zerstörerische Eingriff der Besucherinnen und Besucher ist ein letzter, allmählich fortschreitender Prozess der De-Kreation. Die Vergegenwärtigung von diesen Zeiträumen wird vornehmlich durch die Sticktechnik induziert. Erst die unwahrscheinliche Anbringung der Fäden lenkt die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Aggregatzustände des Betons und installiert die zeitbasierte Metamorphose als übergeordnetes Thema der Arbeit. Neben dem Materialarrangement eignet sich auch der redundante und kleinteilige Arbeitsvorgang der Nadelarbeit selbst zur Repräsentation von Zeit. Einförmige und wiederkehrende Zeichen sind nach Arnulf 22 Rohsmann, Arnulf, Zeit in der Moderne, in: Zeit – Los. Zur Kunstgeschichte der Zeit (Ausst.-Kat.), Kunsthalle, Krems 1999, S. 387-403, hier S. 387

AUSSCHWEIFUNGEN IN DEN RAUM

Rohsmann prädestiniert, zur Inszenierung von Dauer. Als Beispiele nennt er fortlaufende Zahlenreihen, mehrfache Übermalungsprozesse und die dadurch entstehenden ›Zeitschichten‹ oder flächendeckende, linear angebrachte Schraffuren: »Der geringe Differenzierungsgrad der Zeichen und die variierte Wiederkehr des Gleichen vermittelt den Eindruck gedehnter Zeit.«23 In diesem Sinne verfügt die Sticktechnik zweifellos über das Potential, Zeiträume sicht- und spürbar zu machen. Stickereien entstehen in immer gleichen Bewegungsabläufen aus der Aneinanderreihung zahlreicher Stiche und entfalten ihre Bedeutsamkeit als Hinzufügungen, Verdrängungen und Materialschichtungen.

GARTENARBEIT BEI BARBARA NEMITZ Barbara Nemitz24 begann 1994 auf Erde und Pflanzen zu sticken. Anfänglich experimentierte sie mit nasser Bastseide, die sie mit einer gebogenen Nadel durch den Erdboden zu ziehen versuchte.25 Diese Verfahrensweise bot allerdings nicht das von ihr intendierte Ergebnis von dichten, glänzenden Fadenpartien, die an vergrößerte Plattstichstickereien erinnern sollten. Ein solcher Effekt stellte sich erst durch die Verwendung von Polyamidfäden und einer modifizierten Arbeitsweise ein. Ebenso wie Mariann Imre vertieft auch Barbara Nemitz den fortlaufenden Faden lediglich an den Eintrittsstellen in den Untergrund. »Die Stickerei ist eine ganz enge Beschäftigung mit Landschaft. Während man stickt, ist man wirklich in der Landschaft, betrachtet sie, faßt sie an. Durch die Stickerei habe ich einen völlig anderen Zugang zur Natur bekommen, quasi 23 Rohsmann 1999, S. 400 24 Barbara Nemitz studierte von 1968 bis 1973 an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Seit 1993 ist sie Professorin für Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar, seit 1995 Initiatorin der KünstlerGärten, Parkanlage Villa Haar, Weimar. Vgl. URL: http://www.barbaranemitz.de/ kuenstlergaerten/, 18.04.2010. Als Einzelausstellung hervorzuheben ist: das Schöne leben. Barbara Nemitz (Ausst.-Kat.), Kunstverein, Heidelberg 1997. Ausstellungsbeteiligungen: La Ville, le Jardin, la Mémoire, Villa Medici – Accademia di Francia, Rom 2000. Privatgrün 2004. Kunst im privaten Raum: 55 Interventionen/Hausgarten (Ausst.-Kat.), Fuhrwerkswaage Kunstraum e.V., Köln Sürth 2004 25 Barbara Nemitz in einem Gespräch mit der Verfasserin, Weimar 15.12.2004

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Gartenarbeit bei Barbara Nemitz

einen wissenschaftlichen Blick, der sich auf die Mikroorganismen, Bakterien richtet und Erde als lebendes Material versteht, in dem Kompostierung, Vorgänge der Umwandlung stattfinden.«26

Die Sticktechnik erzwingt eine körperliche Annährung, die Barbara Nemitz mit einem nahezu mikroskopischen Blick vergleicht. Dabei versteht sie das Sticken als ›merkwürdige‹ und ›absurde‹ Tätigkeit, die letztlich ein konzentriertes Versenken in die vegetative Umgebung symbolisiert. Die Polyamidfäden, die aufgrund ihrer synthetischen Beschaffenheit nicht den Zersetzungs-, Verwertungs- und Wachstumsprozessen des Trägermaterials unterliegen, zeichnen den menschlichen Eingriff nach, dokumentieren und konservieren ihn. In Rezensionen wird diese Auslegung aufgegriffen und von einer ›formalisierten Zuwendung‹ gesprochen. Nikola Doll beschreibt das Sticken »metaphorisch [als] das menschliche Eindringen in das ihm Fremde, das Bestreben des Kultivierens und In-Form-Bringens.«27 Durch diesen Umgang mit belebter Natur intendiere Barbara Nemitz eine »partielle materiale Identität mit einem lebendigen Organismus.«28 Für Hans Gercke ist die Technik eine ›anachronistische Aktion‹. Das Entscheidende sei die: »Intensität einer absurd erscheinenden Hinwendung, einer geradezu erotischen Zuwendung, die meditativen Charakter hat, große Sorgfalt und Konzentration voraussetzt, größtmögliche Nähe sucht, innige Berührung, Eindringen in das Fremde, Andere, die in der Verletzung Bindung ermöglicht.«29

Zugunsten der Akzentuierung auf die Konfrontation mit der ›fremden‹ Natur läuft die Attributierung der Sticktechnik als ›absurde‹ Arbeitsweise Gefahr, ein pejoratives Label zu wiederholen. Es stellt sich die Frage, was hier als absurd empfunden wird. Befremdlich wirkt die großformatige Übertragung der Stickereien in einen neuen Kontext. Infolge der überdimensionalen Ausführung und der unkonventionellen Materialien bleiben die im Zusammenhang mit Stickereien gewohnten Wahrnehmungscodes unbefriedigt. Traditionelle Form- und Bedeutungskons26 Barbara Nemitz in einem Gespräch mit der Verfasserin, Weimar 15.12.2004 27 Privatgrün 2004 (Ausst.-Kat.), S. 85 28 Privatgrün 2004 (Ausst.-Kat.), S. 85 29 Gercke, Hans, Barbara Nemitz, in: Kunstforum International, Bd. 146, Juli-Aug. 1999, S. 95-96, hier S. 96. Vgl. auch den Text von Hans Gercke in: Nemitz 1997 (Ausst.-Kat.), S. 5–20, hier S. 20

AUSSCHWEIFUNGEN IN DEN RAUM

tanten werden aufgehoben und erschweren die Rezeption. Auch eine zweite Rezeptionskonstante muss hier problematisiert werden. Bei der Kombination von Polyamidfäden und pflanzlichem Material ist häufig von einer Natur/Kunst-Dichotomisierung die Rede. So heißt es etwa bei Nikola Doll: »Nemitz verbindet zwei divergierende Systeme miteinander: Eine Ordnung des Gestaltenden, des Kultivierenden und eine Ordnung der Natur, des Wildwachsenden.«30 Zweifellos bildet die unorganische und statische Materialität der Fäden einen Konterpart zu der belebten Vegetation. Ihr Wachstum kann als Gegenbewegung zum Eindringen der Fäden gelesen werden. Neben dieser Entgegensetzung entstehen aber auch eine Reihe von Entsprechungen. So fällt es schwer, die Einschreibungen Barbara Nemitz als rein kulturelle Verformungen zu interpretieren, denen eine bislang unberührte Natur gegenübersteht. Bei dem gegenwärtigen Stand der Industrialisierung und Technologisierung ist nicht davon auszugehen, dass eine erste, von menschlichem Einfluss unberührte Natur überhaupt existiert, vor allem nicht in Garten- und Parkanlagen, die hier zum Ausstellungsort werden.31 Zudem ignoriert diese Kontrastierung die Interdependenz von Mensch und Natur. Die Gegenüberstellung Natur versus Kultur wird obsolet, sobald auch die Künstlerin als lebender Organismus verstanden wird, der mit pflanzlichen Lebensformen, die ihrerseits kulturellen Verformungen unterliegen, in Auseinandersetzung tritt. Diese Haltung klingt auch in Äußerungen von Barbara Nemitz zu Pflanzenkunstwerken an: »Dem Ego des Künstlers steht ein lebender Organismus gegenüber. Das heißt, die Form des künstlerischen Werkes wird nicht nur von der Konzeption und Ausführung des Künstlers bestimmt, sondern auch von den genetischen Anlagen der Pflanze und den multifaktoriellen Bedingungen des Standortes. (…) So ist mit der Erstellung des Werkes auch eine ›Lebensplanung‹ für die verwendete Vegetation verbunden. Zuwendung in Form von Pflege muß sichergestellt werden. Die Arbeit mit Vegetation besitzt Merkmale eines kommunikativen Prozesses.«32 30 Privatgrün 2004 (Ausst.-Kat.), S. 84 31 Vgl. Bartelsheim, Sabine, Pflanzenkunstwerke. Lebende Pflanzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München 2001, S. 8f. Zum Begriff der ersten Natur: Franzen, Brigitte, Die vierte Natur. Gärten in der zeitgenössischen Kunst, Köln 2000, S. 10 32 Nemitz, Barbara, Medium Vegetation, in: :gewachsen. Führer durch die KünstlerGärten Weimar, Weimar 2002, o. S.. Wieder abgedruckt in: Nemitz, Barbara, Der Garten ist der Ort der Handlung, in: Kunstforum International, Bd. 146, Juli-Aug. 1999, S. 207-212, hier S. 209

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Gartenarbeit bei Barbara Nemitz

Die Stick-Installationen realisierte Barbara Nemitz sowohl in Innenräumen als auch in öffentlichen Grünanlagen, privaten Gärten und auf Waldboden mit unterschiedlichen Vegetationen.33 Motivisch wählte sie dabei stets ornamentale Formen, die sie großzügig auf dem Untergrund verteilt. Die runden und linearen Elemente, Tropfen- und Muschelformen wirken wie zufällig zerstreut. Vereinzelt lassen sich Ansätze von klassischen Ornamentmotiven wie Palmetten, Lotusblumen oder Lilien ausmachen. Die Wahl der Zierformen resultiert in erster Linie aus den Vorgaben der Austragungsorte.

Broderie-parterre So war die Installation Broderie-parterre/Embroideried in soil Teil einer trimeren Ausstellung, die sich Privatgärten im urbanen Raum widmete (Abb. 25).34 Während der ersten Etappe wurden 18 Hausgärten im Kölner Stadtteil Sürth als Austragungsort für künstlerische Interventionen genutzt. Anschließend rückten Schrebergärten und schließlich Dachterrassen in den Fokus. »Der Garten heute ist repräsentativer Erholungsort, nicht Versorgungsgrundlage – je größer er ist, umso deutlicher verweist er – wie schon eh und je – auf wohlhabende Verhältnisse. Die Beziehung zur Natur wird, für den Großstädter zumal, auf ein erträgliches und berechenbares Maß gebracht und funktioniert dennoch als Gegenwelt zum ›Draußen‹, das von zugeparkten Großstadtstrassen kündet.«35 33 Im Außenraum: Stickerei in Laub, 1996, Buchsbaum, Eiche, Eukalyptus, Zypresse, Polyamidfäden, Biot. In den Schwarzwald gestickt, 1999, moosbewachsener Waldboden, Polyamidfäden, Schwarzwald. In die Landschaft gestickt, 1996, Parkanlage, Polyamidfäden, Berlin. Atelierarbeit: In Moos gestickt, 1996-97, torfhaltige Erde, Moos, Polyamidfäden, 12 x 200 x 130 cm. Ausstellungsraum: In Erde gestickt, 1997, Erde, Polyamidfäden, ca. 7 x 18 m, Heidelberg (Abb. 28). Vgl. Terra. Das dritte Element (Ausst.-Kat.), Gerhard Marcks-Haus, Bremen 2001 34 Barbara Nemitz, Broderie-parterre/Embroideried in soil, 2004, unter Mitarbeit von Björn Denkewitz, Luise Charlotte Hoffmann, Anne Rauch, Susanne Waldau, Polyamidfäden und Rasen, 6,50 x 6,50 m, Köln-Sürth, Wesselinger Straße, Gartenbesitzer: Dennis Hallermeier 35 Franzen, Brigitte, Privat – Grün – Öffentlich, in: Privatgrün 2004 (Ausst.-Kat.), S. 19-27, hier S. 20

AUSSCHWEIFUNGEN IN DEN RAUM

Abb. 25: Nemitz, Broderie-parterre/Embroideried in soil, 2004

Der Einladung, in diesem semi-privaten Raum zu agieren, folgte Barbara Nemitz, indem sie die Rasenfläche eines Einfamilienhauses im Kölner Stadtteil Sürth bestickte. Großflächig bildete sie aus geschwungenen Linien mit blauen, gelben, orange- und apricotfarbenen Polyamidfäden ein kompaktes Ornament, das an eine überdimensionale Initiale oder ein Monogramm erinnert. Auf der zu bearbeitenden Partie wurde der Rasen zunächst stark zurückgeschnitten. Anschließend markierte sie mit weißem Garn im ›Vorstich‹ die Umrisslinien der rhythmisch verschlungenen Formen, die anschließend im ›Plattstich‹ ausgefüllt wurden. Während des gesamten Arbeitsprozesses, der hier etwa zehn Tage in Anspruch nahm, mussten die Pflanzen immer wieder nachgeschnitten und die Halme mit einem Staubsauger entfernt werden, um Verunreinigungen im Garn zu vermeiden. Dagegen sind die folgenden Loslösungen und Verwachsungen integrativer Teil des Kunstwerks, die über die Ausstellungsdauer hinaus fortschreiten (Abb. 26). Wie bei jeder ihrer gestickten Arbeiten, in denen sie wachsendes Trägermaterial benutzte, wurden auch hier die Stickereien von den Pflanzen überwuchert. In einem Umkehrungsprozess der zuvor geleisteten Anbringungsarbeit durchdringen die Pflanzen die Garnpartien. Die Demontage erfolgt dabei nicht durch Zersetzung, sondern vielmehr durch Verdrängung. Dabei werden die Farbfelder aus der Form gebracht und schließlich vom Trägermaterial umschlossen, ohne dass sich die synthetischen Fäden auflösen.

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Gartenarbeit bei Barbara Nemitz

Vergleichbar mit dem ambivalenten Auflösungsprozess, dem Mariann Imres Fäden unterliegen, erzeugen auch die Überwucherungen einen zweideutigen Effekt, indem sie zugleich als Zerstörung und Konservierung begriffen werden können. Wiederum unterstreicht die Transformation die Dreidimensionalität der Stickereien, bei der oberflächlich aufliegende Fäden nur einen, zudem lediglich temporär einsehbaren Teil bilden. Die subterrane Existenz bleibt der Imagination vorbehalten. Sobald sich die textilen Akkumulationen im Erdreich befinden, lässt sich die Dimension der Arbeit nicht sinnvoll beschränken. Denn der unterirdische Raum wird nicht von den Zäunen der Grundstücksgrenze parzelliert. Dieser Umstand verleiht den Broderie-parterre einen potentiell unbegrenzten Charakter.

Expandierende Raum-Zeit Der Stellenwert, den Barbara Nemitz der intrinsischen Existenz der Fäden beimisst, kommuniziert sich durch eine andere Arbeit, bei der sie botanische Bestimmungsschilder auf einem Rasen vor Laubbäumen und Gebüsch installierte. Auf diesen Schildern befand sich neben der schematischen Zeichnung eines Baumes, dessen Krone spiegelbildlich verkehrt dem Wurzelwerk entsprach, der Satz: Was oben ist, ist auch unten.36 Im begleitenden Katalogtext erläutert Barbara Nemitz diese Feststellung folgendermaßen: »I often remember this sentence during my work with vegetation: What is on top, is also underneath. Gardeners used it when talking to me. Since then I have imagined the subterranean images of garden. A feeling of strangeness emerges. What does the sentence mean? What is not underneath cannot be on top, either? Do I have to start underneath if I want to change something at the top? What is underneath? How extensive is it? And is this also meant the other way around? What is not on top, cannot be underneath? ›Underneath‹ disappears from my view.«37

Diese Konzentration auf die unterirdischen Entsprechungen der oberirdischen Erscheinungen kann als Aufforderung an die Rezipierenden 36 Barbara Nemitz, Was oben ist, ist auch unten, 2003, gravierte Metallplatten, je 15 x 20 cm. green.space2_light/shadow (Ausst.-Kat.), Bauhaus-Universität, Weimar/ Tokyo National University of Fine Arts and Music, Tokio 2003, S. 68 37 green.space 2003 (Ausst.-Kat.), S. 68

AUSSCHWEIFUNGEN IN DEN RAUM

Abb. 26: Nemitz, Broderie-parterre/Embroideried in soil, 2004

betrachtet werden, die visuell wahrnehmbare Oberfläche imaginär um weitere Ebenen zu ergänzen. Mit der Reflexion zur räumlichen Expansion, stellt sich auch die Frage nach dem zeitlichen Ausmaß der Werke. Ihre Realisierung erfolgt durch eine Anbringungsphase, eine Wachstumsphase und eine unsichtbare und andauernde Transformationsphase.38 Die über den konkreten Arbeitsprozess der Künstlerin hinausgehenden Vorgänge der Kreation bildet ein Realzeitsystem, in dem Werkzeit und Rezeptionszeit simultan verlaufen.39 Dauer kann hier sowohl durch den mehrtägigen Arbeitsaufwand beim Anbringen der Fäden als auch durch die anschließende sukzessive Überwachsung der oktroyierten Farbfelder nachvollzogen werden. Die sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten realisierenden Materialbewegungen ermöglichen es, Wachstumsparallelen zwischen Fäden und Pflanzen zu sehen. Die Stickereien erscheinen hier nicht als fixierte Zeichen, sondern sind in räumlicher und zeitlicher Varianz zu betrachten.

38 Während Arbeiten in Galerien und Museen im Anschluss an die Ausstellung abgebaut und wieder in ihre Bestandteile zerlegt werden, verblieben die Installationen Broderie-parterre/Embroideried in soil und In die Landschaft gestickt (1996) an Ort und Stelle. Die Schwarzwaldstickereien dagegen wurden von der Künstlerin entfernt. 39 Vgl. Rohsmann 1999, S. 401

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Gartenarbeit bei Barbara Nemitz

Barocke Parzelle Eine zeitlich weiter ausgreifende Analogie, inszeniert Barbara Nemitz mit dem titelgebenden Verweis auf französische Gartengestaltung des Barocks (Abb. 27). Das Broderie-Parterre entstand als Parterreform Ende des 16. Jahrhunderts und bildete vor allem im 17. Jahrhundert ein wichtiges Gestaltungselement des architektonischen Gartens. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde es zunehmend von den weniger pflegeaufwendigen, reinen Rasenparterres verdrängt. Aus Rasenpartien, Sand, Ziegelsplitt oder Kohle wurden symmetrisch geschwungene Ornamente gebildet, die von Buchsbäumen eingefasst wurden. Ihren Namen erhielten sie aufgrund der pittoresken Muster in Anlehnung an Stickereimotive. »Les parterres de broderie, qu’on appelle ainsi, parce que les buis, dont ils sont plantés, imitent sur terre la broderie. Comme ce sont les plus beaux et les plus riches de tous, on les met le plus proche du bâtiment: on les accompagne quelquefois de massifs et d’enroulemens de gazon.« 40

Wie der hier zitierte Louis Liger klassifizierten auch die Gartenkünstler Augustin-Charles d’Aviler und Antoine-Joseph Dézallier d’Argenville die ›Parterres de broiderie‹ als vornehmste Parterreform, die in der Nähe des Hauptgebäudes anzulegen sei, um sie vom Schloss aus angenehm betrachten zu können.41 Die wortgetreue Ausführung eines Broderie-Parterre durch Barbara Nemitz unterstreicht den relationalen Zusammenhang zwischen formalen Entwürfen in der Stickereigeschichte und historischen Gärten. Ebenso wie bestickte Kleider, Möbel oder Wandbehänge wurden überbordende Ornamente und kostbare Materialien auch in der gartenkünstlerischen Gestaltung zur Statusrepräsentation eingesetzt. Vor allem die barocke Gartenanlage, die eine streng geometrische Gliederung und zentralisierte Ausrichtung auf die Schlossarchitektur aufweist, war geeignet, die absolutistische Gesellschaftsordnung zu vermitteln.

40 Liger, Louis, La Nouvelle Maison rustique ou économie générale de tous les biens de campagne; la manière de les entretenir et de les multiplier [1775], zitiert nach: Conan, Michel, Dictionnaire Historique de l’Art des Jardins, Paris 1997, S. 47 41 Vgl. Hansmann, Wilfried, Gartenkunst der Renaissance und des Barock, Köln 1983, S. 114 und 168

AUSSCHWEIFUNGEN IN DEN RAUM

Abb. 27: S. Godeau und R. Dahurons, Berlin Charlottenburg, um 1700

»Zu den Gestaltungselementen [des Barockgartens] gehören die strahlenförmigen bzw. achsensymmetrische Anordnung von Wegen sowie die damit gegebenen Parkabschnitte, kanalisierten Wasserläufe, Wasserbecken und Wasserspiele, optischen Inszenierungen mittels spiegelnder Wasserflächen und bewußt aufgebauter Geländepartien, Terrassierungen und Schauarchitekturen. Vasen und Gartenskulpturen, die eine auf den Herrschenden zugeschnittene Mythologie thematisieren, steigern eindringlich den Geltungsanspruch hierarchischer Ordnung.« 42

Die hier genannten zentralen Gestaltungselemente finden sich ebenso in der von Barbara Nemitz bearbeiteten Gartenanlage. Das Kölner Einfamilienhaus verfügt über einen terrassierten Übergang von Architektur zum Gartenbereich (Abb. 25). Die sich am Haus orientierenden Wege erschließen zugleich den künstlich angelegten Teich, der umgeben von Edelstahl-Halogen-Leuchten zusätzlich illuminiert werden kann. Auch die Praxis der saisonabhängigen Aufstellung von Kübelpflanzen ist in barocken Gärten geläufig, wo sie zum Bau von Orangerien führte, in denen die frostempfindlichen Pflanzen überwinterten. Barbara Nemitz Broiderie macht diese und andere Details der Gartengestaltung, wie die zur Grundstücksbegrenzung und als Sichtschutzelemente verwendeten Flechtzäune oder die durch Palisaden gebildeten Beetumrandungen, sichtbar. »Jeder Garten steht im Zeichen einer Häufung höchst indivi42 Kalusok, Michaela und Gabriele Uerscheln, Gartenstile Europas, in: Kleines Wörterbuch der europäischen Gartenkunst, Stuttgart 2003, S. 9-34, hier S. 25

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dueller Konventionalität, ein Refugium des kleinen Gestaltungswillens«43 konstatiert Manfred Schneckenburger im Ausstellungskatalog. Gerade diese zeitgenössische Hortikultur exponiert Barbara Nemitz durch ihren Rekurs auf barocke Traditionen. Die Pflanzenwelt ist hier nicht als selbstreferenzielles Zeichen zu verstehen, das Natur verkörpert. Vielmehr wird die gesamte Umgebung inklusive der Bepflanzung als künstlerisches Arbeitsmaterial inszeniert und durch historische Bezugsräume erweitert.

Relationale Stickerei Abhängig von der situativen Inszenierung verändern sich in den Installationen von Barbara Nemitz das Verhältnis zwischen Stickerei und Pflanzen. Bei Arbeiten, die im Außenraum umgesetzt wurden, befinden sich Erde, Laub, Rasen oder Moos in ihrer natürlichen Umgebung, und das Garn tritt als Fremdkörper auf. Im Museums- oder Galerieraum kehrt sich diese Relation um (Abb. 28). Hier sind die artifiziellen Ornamente in ihrem gewohnten Umfeld, während Erde und Pflanzen transplantiert wirken. »Die Natur erscheint künstlich und die Werke im Kontext Kunst werden mit Natur angereichert. Sie erhalten dadurch etwas, das sie ohne die Verwendung der lebenden Organismen nicht hätten: etwas Wesenhaftes.«44 Ob das organische Material die Stickereien tatsächlich beseelt, sei dahingestellt. Zweifellos aber kultiviert Barbara Nemitz die unterschiedlichen (Lebens-)Formen in jeweils neuer Umgebung. Während die Stickereien mit dem Boden zu verwachsen scheinen, kann der getrimmte Rasen oder eine angelegte Moosinsel als eine Art NaturSpolie betrachtet werden, die nicht erst durch die gestickte Bearbeitung kulturellen Überformungen unterliegt.

ZUSAMMENFASSUNG Mit Verweis auf die Sticktechnik realisieren die Künstlerinnen Mariann Imre und Barbara Nemitz skulpturale Installationen. Nicht länger als reputierliche Betätigung, geeignet Innenräume zu dekorieren, sondern als Bestandteil großflächig ambitionierter Arrangements im Außenraum, wird die Sticktechnik in ihrer Mehrdimensionalität inszeniert. Die 43 Schneckenburger, Manfred, Gesamtkunstwerk und Hobbygarten, in: Privatgrün 2004 (Ausst.-Kat.), S. 11-16, hier S. 16 44 Nemitz 1999, S. 210

AUSSCHWEIFUNGEN IN DEN RAUM

Abb. 28: Nemitz, In Erde gestickt, 1997

Erweiterung erfolgt zunächst in die Tiefe. Stickereien auf Beton oder Erde werfen zuallererst die Frage nach dem Innenleben auf. Es liegt nahe, im Erdboden von den gewohnten Fadenverläufen auszugehen. Aber unabhängig davon, ob sich die Rezipierenden Garnschlaufen vorstellen, oder über den tatsächlichen Arbeitsprozess informiert sind, in jedem Fall werden die sichtbaren Farbflächen um dreidimensionale Fortsetzungen im Untergrund ergänzt. Eine zweite Erweiterung erstreckt sich in die zeitliche Dimension. Durch das große Format und die resistiven Trägermaterialien wächst zwar nicht zwingend der Arbeitsaufwand, dennoch wird der zeitintensive Produktionsakt hierdurch unterstrichen. Die Investition von Zeit manifestiert sich in den Transformationsprozessen des Betons, der Pflanzen und der Fäden. Ihr Derangement bildet einen zweiten, vom direkten Einfluss der Künstlerin abgekoppelten, Kreationsprozess. Die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher können diese Entwicklung ›live‹ verfolgen. Sie erleben und verursachen mit der kontinuierlichen Abnutzung bzw. Verwachsung das Zusammenfallen von Werkzeit und Rezeptionszeit. Nicht zuletzt durch diese Involvierung werden die Besucherinnen und Besucher dazu angehalten, im perzeptiven Erfassen ihr Verständnis von Stickereien zu revidieren. Die Produktionskonventionen, nach denen ein textiler Untergrund und ein zierliches Format als quasi wesensgemäße Konstanten der Sticktechnik gelten, sind mit dem

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Zusammenfassung

Erscheinungsbild dieser Arbeiten nicht in Übereinstimmung zu bringen. Auch werden Haltungsregeln verletzen, indem die Künstlerinnen während der Realisierung eine kauernde Position einnehmen oder durch die Platzierung der Arbeiten zum Betreten anstiften. In diesem inakkuraten Umgang mit Stickereien liegen weitere Konventionsbrüche, bei denen die Rezipierenden als Komplizen auftreten. Schließlich thematisieren Barbara Nemitz und Mariann Imre das Ansehen von Stickereien mittels Referenzen zur Kunsthistoriografie, seien dies barocke Gartenanlagen oder Materialdebatten. In beiden Fällen ergeben sich Reflexionsräume über hierarchische Ordnungen der Gattungen und Materialien. Sie wählen damit Bezugspunkte, die außerhalb abrufbarer Stickereitraditionen liegen und eröffnen auch hier ein erweitertes Relationsfeld.

MEDIALE INTERFERENZEN Alle bisher besprochenen Kunstwerke haben eines gemeinsam: Nadel und Faden waren als Instrument und Material an ihrer Produktion beteiligt und ein bestickter Träger das Resultat. Dies ist nicht mehr garantiert, sobald die Sticktechnik mit neueren Medien kombiniert wird. Während bei bestickten Fotografien noch ein haptisch zu erfahrendes Objekt entsteht, inszenieren Videos den Gestus der Handarbeit und die damit in Verbindung gebrachten Stimmungsräume. Computergenerierte Grafiken weisen dagegen weder im Material noch in der Herstellung Parallelen zu ihren textilen Vorbildern auf, reproduzieren aber mitunter eine spezifische Ästhetik, die an Stickereien angelehnt ist und mit ihrer Rhetorik argumentiert. Wiewohl die Sticktechnik ihr spezifisches Bedeutungsagglomerat aus dem zeitintensiven und körpernahen Herstellungsprozess gewinnt, finden sich interessante Parallelen zur Bildgenese der automatischen und elektronischen Apparate. Dies ist ein Fokus des folgenden Kapitels. Der zweite liegt in der Beantwortung der Frage: Welche Funktion übernehmen Stickereizitate in anderen Medien und den dort entwickelten Narrationen?

FOTOGRAFISCHES GEDÄCHTNIS BEI MARION STRUNK Die Arbeiten der Künstlerin und Kulturwissenschaftlerin Marion Strunk kreisen um Erinnerungen und Wiederholungen.1 Das betrifft sowohl ihre textuelle als auch ihre visuelle Produktion. Entlang der Begriffe Wiederholung und Schichtung stellen sie enge Verbindungen zwischen theoretischer und künstlerischer Arbeit her. Beispielsweise beschäftigt 1

Marion Strunk studierte Bildende Kunst an der Hochschule der Künste in Berlin, Kunstgeschichte und politische Wissenschaften an der Freien Universität in Berlin sowie Psychoanalyse in Zürich. Sie ist Professorin der Zürcher Hochschule der Künste. Zu ihren Ausstellungstätigkeiten gehören:

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Fotografisches Gedächtnis bei Marion Strunk

Abb. 29: Bildergedächtnis/Gedächtnisbilder, 1998, S. 12f

sich der von Marion Strunk herausgegebene Sammelband: Bildergedächtnis/Gedächtnisbilder text- und materialimmanent mit Wiederholungen und Überlagerungen (Abb. 29, 30).2 Die Publikation ist auf Matrizenpapier gedruckt und nutzt seine gedächtnismetaphorischen Qualitäten. Vergleichbar mit der Sticktechnik entwickelt sich hier eine materielle Kommunikation, die Gedächtnis, den Diskursgegenstand der Beiträge, auch auf einer visuellen und haptischen Erfahrungsebene reflektiert. Die Duplikationsfähigkeit des Papiers führt nämlich dazu, dass immer nur eine Seite bedruckbar ist und sich die Schrift auf der Rückseite abzeichnet. Entsprechend befindet sich der Fließtext nur jeweils auf der linken Seite, während die rechte Seite für Notizen bereitsteht. Dass neben den AutorInnen auch die LeserInnen zur schriftlichen Fixierung ihrer Kommentare eingeladen sind, bekräftigt die Kopfzeile. In ihr ist das Wort Notizen spiegelbildlich in der rechten Ecke platziert, im Durchschlag links oben lesbar. Insgesamt nutzt das Layout die Fähigkeiten des Materials, Spuren zu hinterlassen. Spiegelbildlich gesetzte Aufsatztitel oder Texte Schaurausch (Ausst.-Kat.), O.K Centrum der Gegenwartskunst, Linz 2007. Missing Link, Kunstmuseum Bern 1999. Embroidered Images, Georges Condor Kitchen, New York 1998. 2

Strunk, Marion (Hg.), Bildergedächtnis/Gedächtnisbilder, Zürich 1998

MEDIALE INTERFERENZEN

Abb. 30: Bildergedächtnis/Gedächtnisbilder, 1998, S. 14f

und Bilder, die aus mehreren (Seiten-)Schichten entstehen, übersetzen die in den Texten behandelte Erinnerungs- und Gedächtnisarbeit. Ebenfalls bedingt durch das Papier, gefährden kleinste Spuren der Lektüre, jede Form von Kratzer, Markierung und Hinzufügung die Lesbarkeit der Schrift, da sie sich auf die unterliegenden Seiten auswirken, einzelne Passagen überdecken und unkenntlich machen. Offenbar sind auch die veröffentlichten Textbeiträge als Kopien und Durchschriften zu verstehen, die als Palimpseste Grundlagen für Anderes bereitstellen. Es überrascht nicht, dass auch die Sticktechnik für Marion Strunk eine Praxis ist, die durch überlagernde Hinzufügungen Erinnerungsarbeit zugleich leistet und ins Bild setzt.

Embroidered Images In ihrer Monografie Wolle 2 dreht sich alles um Phänomene der Doppelungen.3 Das leitet der Titel ein, dessen beigefügte Zahl nicht als Nummerierung zu lesen ist, die eine Publikationsreihe anzeigt. Es gibt weder Wolle 1 noch Wolle 3. Vielmehr liefert die Ziffer einen Hinweis sowohl auf den Gegenstand des Interesses (Reproduktionen und Duplikate) als auch auf 3

Strunk, Marion (Hg.), Wolle 2. embroidered images, Zürich 1999

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die Techniken der Befragung (fotografieren und sticken). Bereits auf der Innenseite des Bucheinbands wird der Reigen von Wiederholungen als bestimmendes Prinzip eröffnet. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie von zwei Dackeln auf einem Polstermöbel bestimmt das Vor- und Hintersatzpapier, wobei das Tierporträt jeweils dreißig Mal kopiert wurde und dadurch ornamentale Qualitäten bekommt.4 Auf den folgenden Seiten thematisieren zunächst eine Reihe von Schwarz-Weiß-Fotografien motivisch Phänomene der Doppelungen oder Spiegelungen. Anschließend folgen acht Farbfotografien touristischer Motive, die Marion Strunk während eines New York Aufenthalts aufgenommen hat.5 Partiell bestickte sie diese Fotografien, auf denen ebenfalls Stapelungen (Etagen) und Reihungen (Fensterfronten) oder Motive der Häufungen (Vogelschwarm, Luftballons) auszumachen sind. Dabei ahmen die gestickten Partien Einzelheiten der Bilder nach, verändern die Vorlage aber auch.

Bild mit gestickten schwarzen Figuren im Spiegelraum 6 Wer schon einmal im New Yorker Solomon R. Guggenheim war, wird in dieser Fotografie die spiralförmig aufsteigende Ausstellungsrampe im Innern des Gebäudes erkennen (Abb. 31). Und wer 1998 das Guggenheim Museum besuchte, wird mit den verspiegelten Brüstungen das Design der Ausstellung The Art of Motorcycle verbinden.7 Gleichwohl dürfte es für alle, die dieses Gebäude nicht kennen, schwierig sein, den architektonischen Raum zu rekonstruieren. Bildausschnitt und Spiegelreflexionen erschweren den Nachvollzug. Die Fotografie zeigt vier Levels des weiß ausgemalten Umlaufgangs, dessen Brüstung für die Ausstellung 4

Diese Hunde rahmen die Publikation ein, indem sie ihren Blick zu Beginn in Leserichtung nach rechts und auf dem Hintersatzblatt spiegelbildlich nach links richten. Darüber hinaus ist das Motiv im Visitenkartenformat auch lose der Publikation beigefügt, prädestiniert, aus dem Buch herauszufallen, verloren zu gehen und in anderen Kontexten wieder aufzutauchen.

5

So zum Beispiel ein neugotisches Schulgebäude der Grace Church (4th Avenue at East 11th Street, Greenwich Village), die Christopher Street und das Solomon R. Guggenheim Museum.

6

Marion Strunk, Embroidered Images (Bild mit gestickten schwarzen Figuren im Spiegelraum), 1997 - 99, Farbfotografie mit Faden, 100 x 70 cm, Sammlung Seedamm, Pfäffikon

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Vgl. The Art of Motorcycle (Ausst.-Kat.), Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1998

MEDIALE INTERFERENZEN

Abb. 31: Strunk, Embroidered Images (Bild mit gestickten schwarzen Figuren im Spiegelraum), 1997-99

vollständig verspiegelt wurde. Daraus ergibt sich eine Abfolge von etwa gleich breiten Streifen Spiegelfläche und Ausstellungsraum. Die Froschperspektive der Fotografie gibt von den oberen zwei Gängen jeweils nur die Decke zu sehen. Nach unten nehmen die Informationen über die Architektur zu. Lüftungsöffnungen, Lichtquellen, Wand und Stützen komplettieren Etage für Etage die dreidimensionalen Aussparungen zwischen den zweidimensionalen Spiegelflächen. Mit dem Bildausschnitt und der Perspektivwahl nimmt Marion Strunk eine rigide Selektion vor. Von den zahlreichen Motorrädern, die in dieser Ausstellung präsentiert wurden, und die sich auf anderen Abbildungen vielfach spiegeln, kann eins im untersten Spiegelstreifen mit etwas gutem Willen erahnt werden. Auch enthält die Fotografie die obere und untere Begrenzung des Raums vor. Die Glaskuppel des Gebäudes ist aus den Spiegelbildern zu rekonstruieren, die die Lichtsituation reflektieren: gleißendes Tageslicht in den oberen Registern, nach unten hin zunehmende Dunkelheit, der auch die künstlichen Lichtquellen nicht viel entgegensetzen. Die vier Etagen

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Fotografisches Gedächtnis bei Marion Strunk

ergeben einen rhythmischen Wechsel, wobei räumliche Tiefe des Umlaufgangs und Flächigkeit der verspiegelten Brüstungen, die an dieser Stelle konvexe Wölbung des Raums und seine konkaven Spiegelungen einander ablösen. Diese abwechselnde Stapelung von Tiefe und Fläche lässt dem ›realen Raum des Bildes‹ (den Gängen) jeweils ein ›virtuelles Doppel im Spiegelbild‹ folgen.8 Würden die Spiegelstreifen ausgeschnitten und von den Unterbrechungen des ›realen Raums‹ bereinigt aneinandergefügt, würde dieses gespiegelte Doppel der Architektur ein zwar verzerrtes, aber dennoch vollständiges Bild des Raums ergeben. Interessanterweise könnte der umgekehrte Fall, also fehlende Spiegelpartien, keinen dreidimensionalen Eindruck vermitteln.

Gespiegelte Realitäten Obwohl die Spiegelflächen tatsächlich die Hälfte der abgebildeten Architektur verdecken und den Raum lediglich verzerrt reflektieren, sind sie die eigentlichen Informationsübermittler. Craig Owens hat aufgezeigt, wie Spiegel en abyme in einer Fotografie erzählen, was eine Fotografie ausmacht: »Der Spiegel dient nicht nur dazu, das Subjekt zu reflektieren; er veranschaulicht auch jene Metapher, mit der die Fotografie als Spiegelbild definiert wird. Der Spiegel liest sich als ein Bild en abyme. Durch das Beschneiden des Abzugs, indem die Kontur des Spiegels wiederholt wird, wird diese Intention bestätigt. Diese sichtbare Identifizierung von Spiegel und Fotografie erzeugt ein komplexes Spiel zwischen Subjekt, Spiegel und Kamera: Nicht nur wird das Subjekt zweimal verdoppelt (von Spiegel und Kamera), sondern auch das Spiegelbild, selbst ein Doppel, wird wiederum vom Foto verdoppelt.«9

Diese Vervielfältigungen ergänzt Marion Strunk durch Stickereien. Auf den Emporen – in den räumlichen Unterbrechungen der Spiegelflächen – wurden die Besucherinnen und Besucher bzw. ihre über die Brüstung hinausragenden Oberkörper mit schwarzem Faden überstickt. Während verzerrte Miniaturgestalten in den Spiegelbildern der gegenüberliegenden 8

Diese Begrifflichkeit entlehne ich von Craig Owens, der die Funktion von Spiegeln als Metapher der Fotografie am Beispiel von Brassaï untersuchte. Vgl. Owens, Craig, Fotografie En Abyme [1978], in: Theorie der Fotografie IV. 1980-1995, Hubertus v. Amelunxen (Hg.), München 2000, S. 64-80, hier S. 64

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Owens 1978, S. 72

MEDIALE INTERFERENZEN

Gänge entdeckt werden können, sind die diesseitigen Personen durch schwarze Stickerei auf ihre Silhouetten reduziert. Sie erinnern an ein Theaterpublikum, das in abgedunkelten Logen unerkannt einer Vorstellung beiwohnt. Da die Fäden Physiognomie und Kleidung gänzlich verdecken, versagen selbst oberflächliche Taxierungen hinsichtlich Alter und Geschlecht. In dieser Art anonymisiert und in Schattenrisse verwandelt entsprechen sie der Beschreibung, die Craig Owens von fotografierten Spiegelbildern lieferte. Für ihn erscheinen Menschen, die auf Fotografien nur im Spiegelbild, »nur in der Reflexion anwesend sind [,] verdoppelt und dennoch auf paradoxe Weise nur einmal repräsentiert (...) als seien sie ihrer körperlichen Wesenheit beraubt.«10 Der Spiegel zeigt eine Kopie, deren Referent das Foto vorenthält. Damit wiederholt der Spiegel eine Eigenheit der Fotografie. Und dennoch entstehen Irritationen, wenn fotoimmanent ein Spiegelbild auftaucht, in dem ein Ausblick gewährt wird, der über den ›realen‹ Raum des Fotos hinausgeht. Entsprechendes erreicht Marion Strunk durch die Stickereien. Sie verdoppelt die Figuren, anonymisiert sie zugleich im schwarzen Umriss und entfremdet sie sowohl ihrer ›Wesenheiten‹ als auch dem ›realen‹ Raum der vorliegenden Fotografie. Bloß als Silhouetten anwesend und collageartig appliziert, können sie als Entgegensetzungen zu dem Umlaufgang verstanden werden, in dem sie sich aufhalten. Im Grunde lässt sich nicht einmal verifizieren, ob die gestickten Partien tatsächlich fotografierte Personen überdecken oder Anwesende lediglich vortäuschen. Die bereits durch die Spiegelflächen hervorgerufenen Überlegungen zum Medium der Fotografie erfahren so in der Sticktechnik eine interessante Fortführung. Auch sie doppelt ein Motiv, entzieht sich allerdings durch Abstraktion dem fotografischen Illusionismus und desavouiert die Fotografie als Beweismedium. »Aufgrund der Wolle entpuppt sich der abgebildete Raum als echte Simulation, setzt also das Illusionsspiel der Abbildung in Gang und entzieht sich ihm zugleich.«11 In erster Linie sind es die gestickten Ergänzungen, die das Image der Objektivität, von dem Fotografien bedingt durch ihr apparatives Aufzeichnungsverfahren begleitet werden, negieren. Zugleich bezeugen sie aber auch die Aufmerksamkeit und intensive Vertiefung, mit der sich Marion Strunk den fotografischen Vorbildern gewidmet hat. 10 Owens 1978, S. 64 11 Bronfen, Elisabeth, Verstrickungen anderer Art, in: Wolle 2. Embroidered Images, Zürich 1999, S. 35-37, hier S. 36

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Roland Barthes begründet seine Faszination für das Medium Fotografie mit dem engen Bezug der Abbildung zu ihrem Referenten. Hierin liegt für ihn das ›Noema‹ der Fotografie, die Behauptung ›Es-ist-so-gewesen‹.12 »Die Photographie rechtfertigt [den] Wunsch, auch wenn sie ihn nie erfüllt: diese närrische Hoffnung, die Wahrheit zu enthüllen, kann ich nur haben, weil der Sinngehalt des Photos genau in diesem ›Es-ist-so-gewesen‹ liegt und weil ich in der Illusion lebe, es genüge, die Oberfläche des Bildes zu reinigen, um zu dem zu gelangen, was dahinter ist: auf das Photo eingehen heißt, es umdrehen, ins Papier eindringen, auf seine Rückseite gelangen (das Verborgene ist für das westliche Denken ›wahrer‹ als das Sichtbare).«13

Paradoxerweise stellen die Stickereien gerade durch die wörtliche Umsetzung der hier beschriebenen Auseinandersetzung – durch das Wenden und Eindringen – das Noema der Fotografie in Frage. Da sie Partien der Aufnahme überlagern, versperren sie den Blick und enthalten Informationen vor. Es kann auch ganz anders gewesen sein. Wenn Fotografie aber nicht als »Duplikation der Realität, sondern [als] die Verkörperung der gänzlichen Unmöglichkeit ihrer Duplikation«14 verstanden wird, wie Massimo Cacciari vorschlägt, dann ist das Foto gleichermaßen nicht authentisch und Abzug der Realität. Über diese Ambivalenz verfügen die Spiegelbilder auf Marion Strunks Fotografie: Sie verdecken die Architektur, die sie gleichwohl abbilden. Die gestickten Partien treiben diese Dialektik weiter, indem sie die Vorlagen nachbilden und zugleich auslöschen. Sie lenken den Blick auf Details des Abzugs und verstellen die Sicht auf die Fotografie. Denn der Faden bedeckt das Bild ebenso wie die Spiegelflächen die Architektur und die Fotografie den Raum, der zu gleichen Teilen repräsentiert wird und verschwindet. Durch diese Überlagerungen lassen sich im ›Spiegelraum‹ drei Ebenen unterscheiden, die zwar kombiniert sind, jedoch nicht miteinander verschmelzen. Architektur, Spiegelflächen und Stickerei nehmen, indem sie das Bild zwischen Fläche und Raum oszillieren lassen, Bezug aufeinander, bleiben jedoch separiert und fordern dazu auf, die Arbeit in Schichten zu betrachten: entweder die 12 Vgl. Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie [1980], Frankfurt a.M. 1985, S. 86f 13 Barthes 1980, S. 110f 14 Cacciari, Massimo S., Das ›Fotografische‹ und das Problem der Repräsentation [1987], in: Theorie der Fotografie IV. 1980-1995, Hubertus v. Amelunxen (Hg.), München 2000, S. 324-329, hier S. 324

MEDIALE INTERFERENZEN

Abb. 32: Strunk, Embroidered Images (Bild mit der gestickten Frau), 1997-99

Spiegelflächen oder die Laufgänge oder die gestickten Figuren. Diese drei Ebenen vertreten jeweils unterschiedliche Perspektiven. Sie können als Totale (der Überblick der Spiegelfläche), Halbnahe (der einzelne Gang) und Nahaufnahme (gestickte Oberkörper) verstanden werden und beschreiben eine fokussierende Bewegung. Vor allem die Sticktechnik provoziert dieses Nähertreten und verleitet zur taktilen Kontaktaufnahme.

Bild mit der gestickten Frau Offensichtlich retuschierend eingesetzt wird die Sticktechnik in dem Bild mit der gestickten Frau (Abb. 32).15 Die Fotografie zeigt einen sonnigen, für New York typischen Straßenzug mit mehrgeschossigen, roten Backsteingebäuden, Feuertreppen und vor den Fenstern montierten 15 Marion Strunk, Embroidered Images (Bild mit der gestickten Frau), 1997-99, Farbfotografie mit Faden, 100 x 70 cm, Sammlung Seedamm, Pfäffikon

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Fotografisches Gedächtnis bei Marion Strunk

Klimaanlagen. Lediglich die Begrünung der Straße verrät den konkreten Ort. Der Fotoausschnitt gibt drei Bäume zu sehen, die jeweils von einem Basaltstein begleitet werden und in Erweiterung der ›7000 Eichen‹ Aktion von Joseph Beuys in New York gepflanzt wurden.16 Auf dem Gehweg, etwas links der Mitte, ist eine gestickte Spaziergängerin platziert. Schulterlanges Haar und Handtasche deuten eine Frau an, deren Konturen in Rückansicht mit weißem Garn flächig ausgestickt sind, und die sich – dem diagonalen Straßenverlauf des fotografierten Ausschnitts folgend – nach links zu entfernen scheint. Dass diese Person dem Bild hinzugefügt wurde und sich unter der textilen Fläche keine entsprechende Figur befindet, wird aus dem fehlenden Schatten und den Proportionen evident. Im Vergleich zu dem am Straßenrand parkenden Wagen erscheint die gestickte Gestalt verkleinert.

Individuelle Erinnerungsarbeit Fotografisch hat Marion Strunk eine menschenleere Straßenszene festgehalten. Der nachträglich bestickte Abzug des Negativs macht diese Fotografie zu einem Unikat, geeignet, ein individuelles Erinnerungsbild zu repräsentieren. Wie die eingangs beschriebenen Matrizen erweist sich auch das Sticken als Mnemotechnik. Mit den gestickten Einschreibungen ergänzt Marion Strunk die Fotografien um persönliche Anteile. Ihre Hervorhebungen und Hinzufügungen sind Markierungen, die offenbar das eigene Erleben vor Ort abrufbar halten. Diese durchaus belanglosen Details fallen nur (oder existieren nur) durch den gestickten Hinweis ins Auge. Ganz ähnlich umschreibt Aleida Assmann die Erscheinungsweisen von Erinnerungen: 16 Joseph Beuys Projekt Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung für die documenta 7 (1982) bestand darin, die Pflanzung von 7000 Eichen in Kassel und Umgebung zu initiieren. 7000 Basaltsäulen aus der Landburg wurden vor dem Fridericianum angehäuft und demonstrierten das Stadium der Realisierung. Denn jeder gepflanzte Baum erhielt einen von diesen steinernen Konterparten. Der letzte Baum wurde 1987 gepflanzt. Die Dia Art Foundation (inzwischen: Dia Center for the Arts), eine New Yorker Kunstinstitution, die sich seit 1974 im Schwerpunkt mit ortsspezifischen Arbeiten beschäftigt, hat sich 1988 dieser Aktion angeschlossen und vor ihrem Ausstellungsgebäude fünf Bäume pflanzen lassen. 1996 wurde die Begrünung auf den gesamten Straßenverlauf (West 22nd Street) ausgeweitet. Vgl. URL: http:// www.diacenter.org/ltproj/7000/, 18.04.2010

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»Was als Erinnerung aufblitzt, sind in der Regel bloße Ausschnitte, unverbundene Momente ohne Vorher und Nachher. Erst durch die Erzählungen erhalten sie eine Form und Struktur, durch die sie zugleich ergänzt und stabilisiert werden. (…) Manche Erinnerungen ändern sich im Laufe der Zeit mit der Person und ihren Lebensumständen, andere verblassen oder gehen ganz verloren.«17

Das Matrizenpapier, die Sticktechnik und die Fotografie verfügen alle über indexikalische Qualitäten mit besonderem Potential zur Vervielfältigung und zur Ergänzung. Durch das Besticken von Fotografien visualisiert Marion Strunk Prozesse der Schichtung, die ihre Vorbilder wiederholen aber auch überlagern und verdrängen. »Als eine der bekanntesten Metaphern [für Erinnerung] gilt (…) die Schichtung: Die zeitliche Sukzessivität von Eindrücken erscheint als sich einander überlagernde Schichten, eine über der anderen, ohne verlässlichen Ursprung. Ein solcher Ursprung kann nicht repräsentiert werden, nur supplementiert. Den Supplementen sind mit den Erinnerungsspuren immer auch Spuren des Vergessens eingeschrieben, das von Vergangenem lösen, es aber auch verdrängen kann.«18

Es ist offensichtlich, dass Marion Strunk Stickereien als ein solches Supplement versteht. In ihrer repetitiven und verdeckenden Struktur entspricht die Handarbeit den produktiven Reproduktionen von Erinnerungen. Durch die Kooperation von Fotografie und Stickerei bildet sich so ein intermedialer Erinnerungsort, vergleichbar mit der Intertextualität, die Gerald Siegmund als ein ästhetisches Gedächtnisverfahren beschrieben hat: »Die Intertextualität produziert einen Gedächtnisraum zwischen Texten, die sich ineinander verschieben und umschreiben. Ihr Referent entstellt und verliert sich dabei in Spuren anderer Texte. Die Allegorie als Textprinzip fungiert als Vexierbild zwischen zwei diskontinuierlichen Erfahrungen, wobei die eine nachträglich und damit immer uneigentlich durch die andere mit Bedeutung belegt wird.«19 17 Assmann, Aleida, Individuelles und kollektives Gedächtnis – Formen, Funktionen und Medien, in: Das Gedächtnis der Kunst. Geschichte und Erinnerung in der Kunst der Gegenwart (Ausst.-Kat.), Historisches Museum/ Schirn Kunsthalle, Frankfurt a.M. 2000, S. 21-27, hier S. 21 18 Strunk 1998, S. 18 19 Siegmund, Gerald, Gedächtnis/Erinnerung, in: Ästhetische Grundbegriffe, Karlheinz Barck (Hg.), Bd. 2, Stuttgart 2001, S. 609-628, hier S. 610

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Die Stickereien lassen sich als eine Neuauflage der Erinnerung beschreiben. Als retrospektive Bearbeitung der Fotografien dokumentieren sie den wiederholten Verlust des Referenten, den sie zu verhindern versuchen. Mehr noch als die touristische Fotografie der kunstwissenschaftlich bedeutsamen Straßensituation ermöglichen es die Stickereien, persönliche Erlebnisse zu lagern und abrufbar zu halten. Diese bildimmanenten Einlagerungen lassen an eine Mnemotechnik der antiken Rhetorik denken, die darin bestand, Fragmente einer Rede an imaginierten Orten zu deponieren. Das gedankliche Abschreiten der Depots sollte die Rekonstruktion des Verlaufs der Rede erleichtern. Marion Strunk nennt solche Depots ›Bilder-Orte‹.20 »Die Verräumlichung – der Erinnerung einen Ort geben – das könnte ein Bild für Gedächtnis werden. Die Bilder als Ort des Sichtbaren. Und mit den Bildern könnte daran erinnert werden, am Sichtbaren das Unsichtbare nicht zu vergessen.«21

Die gestickten Supplemente, mit denen Marion Strunk ihre Fotografien ausstattet, sind solche Markierungen des erinnerten Unsichtbaren.

Foto + Faden Fotografien dienen Marion Strunk im doppelten Wortsinn als Grund für Stickerei. Dabei nutzt sie sowohl Vorlagen, deren Bildausschnitt das Dargestellte verunklärt, als auch eindeutige und alltägliche Szenen. So erfordert das Bild mit den gestickten schwarzen Figuren im Spiegelraum die Kenntnis der architektonischen Gestaltung des Guggenheim Museums, um die sich abwechselnden Streifen von Spiegelflächen und Wandpartien mit den spiralförmig aufstrebenden Umläufen des Ausstellungsgebäudes in Verbindung zu bringen. Dagegen erschließt sich die räumliche Situation der Straßenszene unmittelbar, deren einzige Verunsicherung in der hinzugefügten Stickerei liegt. Die gestickt amplizierten Fäden überdecken Bereiche der Fotografien und lassen daher offen, ob sie etwas Abgebildetes nachahmen oder etwas Abwesendes hinzufügen. Mit der Retusche ist eine nachträgliche Bildbearbeitung angesprochen, die ihre Spuren bewusst zu verwischen sucht. Die Stickereien fügen sich aber nicht illusionistisch in die Abbildung ein. Im Gegensatz zu fotogra20 Strunk 1998, S. 20 21 Strunk 1998, S. 20

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fischen Retuschen unternimmt Marion Strunk mit ihren Veränderungen keinen Täuschungsversuch. Vielmehr gilt das Gegenteil: Die gestickten Partien akzentuieren das Überdeckte, sie markieren die Manipulation. Wie bei einem ›Hingucker‹ rücken sie ins Zentrum des Interesses, dienen als Einstieg und als Schlüssel zur Fotografie. Neben den bereits geschilderten Parallelen zwischen Stick- und Fototechnik liegt eine weitere Entsprechung in der fixierenden Wirkung. Wo die Fotografie Bewegungen erstarren lässt und Momentaufnahmen festhält, scheint das Garn die Bindung der Motive an ihre Unterlage noch zu verstärken. Dies sticht bei Marion Strunks Arbeiten umso mehr hervor, da sie bewegliche Elemente wie Vögel, Luftballons oder Menschen bestickt und damit jede weitere Bewegung unterbindet. Obwohl mit dem retuschierenden und fixierenden Charakter der Stickereien Verfahrensweisen der Fotografie unterstrichen werden, wirken die Medien in erster Linie als Antipode. Die zeitintensive Handarbeit, die jeden Zufall beseitigt, bildet einen Kontrast zu der Geschwindigkeit, in der ein Fotoapparat Bilder erzeugt, die für Marion Strunk als Schnappschüsse nicht selten Zufallsergebnisse sind.22 Auch die perspektivische und illusionistische Abbildung der Fotografien unterscheidet sich deutlich von den monochrom ausgestickten Flächen. Die Stickereien entlarven den zweidimensionalen Charakter der Aufnahmen, da sie stets auf die Rückseite rekurrieren. Beim Besticken müssen die Vorbilder gedreht und gewendet werden. Sie büßen damit ihren Tiefenraum und ihre glatte Oberfläche ein. Denn die Stickereien greifen das Trägermaterial im wörtlichen Sinne an. Die Fadenflächen bedeuten zunächst einmal einen Verlust durch Überlagerung, eine Verletzung durch die Einstiche und könnten sogar zu einer Ablösung der Figuren führen, wenn die Nähnadel ihre Silhouetten allzu gründlich perforiert. In eklatanter Weise übersetzt Marion Strunk Überlegungen, die Roland Barthes In der hellen Kammer anstellt.23 Er unterscheidet zwei Motivationen, sich mit Fotografie zu beschäftigen. Das studium, ein durchschnittlicher Affekt, bedeutet für ihn die Hingabe an eine Sache ohne besondere Heftigkeit. Dieses Interesse wird kulturell vermittelt, Roland Barthes versteht es auch als Dressur, und betrifft eine Vielzahl an Fotografien.24 Der zweite Beweggrund resultiert aus einer persönlichen Ansprache: 22 Marion Strunk in einem Gespräch mit der Verfasserin, Linz 04.05.2007 23 Barthes 1980 24 Vgl. Barthes 1980, S. 35

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»Das zweite Element durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. Ein Wort gibt es im Lateinischen, um diese Verletzung, diesen Stich, dieses Mal zu bezeichnen, das ein spitzes Instrument hinterläßt; dieses Wort entspricht meiner Vorstellung umso besser, als es auch die Idee der Punktierung reflektiert und die Photographien, von denen ich hier spreche, in der Tat wie punktiert, manchmal geradezu übersät sind von diesen empfindlichen Stellen; und genaugenommen sind diese Male, diese Verletzungen Punkte. Dies zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).«25

Dieses punctum ist häufig eine Kleinigkeit im Bild, Details, die neben dem eigentlichen Sujet der Fotografien auftauchen.26 Die wörtliche Umsetzung, die diese Metapher der punktierenden Verletzung in den bestickten Fotografien erfährt, betont die individuelle Auseinandersetzung mit der Vorlage. Als würde Marion Strunk ihr persönliches punctum in die Fotografie einarbeiten und damit ein Erinnerungs- oder ein Wunschbild festhalten. Dabei kommt es unter den Medien, was ihre Glaubwürdigkeit anbetrifft, zu einer Patt-Situation: »Die Sehbewegung pendelt sowohl zwischen dem Bild (als Fakt) und dem Faden (als Fiktion) als auch zwischen dem Faden (als Fakt) und dem Bild (als Fiktion).«27 Da die Stickereien artifizielle Hinzufügungen sind, die offensichtlich nicht der ursprünglichen Szenerie entsprechen, werden sie unmittelbar als nicht authentisch eingestuft. Allerdings erhebt der Faden durch seine materialisierte Präsenz faktisch mehr Anspruch auf Realität und verweist die fotografierte Reproduktion 25 Barthes 1980, S. 35f 26 Als Beispiel erwähnt Roland Barthes das Porträt einer schwarzen, USamerikanischen Familie von James van der Zee (1926), bei dem zunächst die Inszenierung einer als unpassend empfundenen bürgerlichen Ordnung auffällt. Dieses Thema weckte Roland Barthes Interesse, ›bestochen‹ und fasziniert wurde er dagegen von einem zu weiten Gürtel und den altmodischen Spangenschuhen einer der porträtierten Frauen. Vgl. Barthes 1980, S. 53 27 Bianchi, Paolo, Das Selbst als Fakt + Fiktion, in: Kunstforum International, Bd. 181, Juli-Sept. 2006, S. 148-151, hier S. 148

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auf ihren ausschnitthaften und manipulierbaren Charakter. Mit den Stichen verleiht Marion Strunk der Fotografie Exklusivität und unterbricht die serielle Reproduzierbarkeit des Mediums. »Fotografien sind nur ein Glied in einer potentiell unendlichen Kette der Reduplikation; selbst Duplikate (sowohl ihrer Objekte als auch in einem gewissen Sinn ihrer Negative), sind sie auch Objekte weiterer Verdoppelung, entweder durch Abzüge oder als Gegenstand weiterer Fotografien (…).«28

Durch die Stickereien werden die Fotografien zu Unikaten, zumindest so lange sie nicht abfotografiert und mit neuerlich glatter Oberfläche publiziert werden. Zugleich taucht in dem Künstlerinnenbuch Wolle 2 ein neuer Faden in Realpräsenz auf, der die Narration zusammenhält: Das blaue Garn der Buchbindung.

MELODRAMEN-ON-DEMAND BEI FRANCESCO VEZZOLI Francesco Vezzolis bestickte Starfotografien habe ich bereits als Reproduktionen einer verblichenen Bilderwelt des Glamours vorgestellt. Mit seiner Verfahrensweise, Star-Imagines zu sammeln und in Serien zu präsentieren, tritt Francesco Vezzoli – wie gezeigt – als Fan auf, der durch seine gestickten Hinzufügungen den Fetisch-Charakter der Vorlagen exploriert. In Videoarbeiten erfährt diese Auseinandersetzung eine konsequente Fortführung, indem sich der Künstler als Protagonist in die Welt des Glamours integriert. Dabei animiert Francesco Vezzoli die Stars zur Mitarbeit an kurzen Videoclips. In An embroidered Trilogy29 inszenieren Iva Zanicchi, Franca Valeri und Valentina Cortese jeweils in programmatischer Umgebung ein Musikstück. Francesco Vezzoli tritt als Komparse auf, derart in Stickereien vertieft, dass er keine Notiz von seiner Umgebung zu nehmen scheint. Wie zu zeigen sein wird, zieht aber gerade diese versunkene Randfigur die Aufmerksamkeit auf sich, zumal sie die einzige Konstante in dem sich ausbreitenden Referenzgeflecht darstellt. Die restliche Besetzung vor und hinter der Kamera wechselt mit jedem Clip. Francesco Vezzoli delegiert Funktionen wie Regie, Kamera, Maske 28 Owens 1978, S. 76

29 An embroidered Trilogy, bestehend aus den drei Clips: OK, the Praz is right! Il sogno di Venere. The End (teleteatro), 1997-99, Video auf DVD, 13 Min, mit Ton, Courtesy Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea, Rivoli

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ect. an anerkannte Personen aus dem Filmbusiness und konstruiert so eine eigene Mixtur aus filmhistorischen Bezugspunkten.

Erster Akt: OK, the Praz is right! Eröffnet wird die Trilogie mit dem Clip: OK, the Praz is right! (1997), bei dem John Maybury Regie führte (Abb. 33).30 Als Drehort diente das ehemalige Wohnhaus des Literaturprofessors Mario Praz in Rom, heute eine Zweigstelle der Galleria Nazionale d’Arte Moderna, in dem die Antiquitäten- und Gemäldesammlung des Wissenschaftlers ausgestellt wird. Iva Zanicchi, früher Moderatorin der kommerziellen Rateshow Ok! The price is right! singt in diesem Interieur Playback einen ihrer früheren Hits: La riva bianca la riva nera, während Francesco Vezzoli auf einem Sofa, an einem Porträt von Mario Praz arbeitet. In einer Einleitungssequenz wird der Drehort zunächst durch eine Reihe von Standbildern vorgestellt. Musikalisch unterlegt tauchen Details der Inneneinrichtung auf: zwei Ölgemälde, einzelne Möbelstücke, eine Skulptur, der Kamin und der Durchgang zum anschließenden Raum. Der musealen Umgebung angemessen präsentiert diese Bildfolge ein historisches Environment, das die Abwesenheit des ehemaligen Bewohners und Sammlers Mario Praz unterstreicht. Zwei auf einem Tisch liegen gelassene Gegenstände – ein bespannter Stickrahmen und ein aufgeschlagenes Buch – suggerieren die andauernde Nutzung des Raumes und sind als Überbrückungselemente anzusehen. Francesco Vezzoli geht es offenbar darum, historische Bezugslinien herzustellen und Räume und Relikte vergangener Epochen zu reaktivieren. Der Stickrahmen unterstreicht, dass Mario Praz ein Faible für diese Handarbeit besaß. Offenbar hat er auch den Bezug des beigestellten Sofas selbst bestickt. Vor allem aber ist der Stickrahmen bespannt mit seinem Porträt und dient anschließend als Requisite der Videoarbeit.31 Das Buch projiziert einen Gedächtnisraum 30 Francesco Vezzoli, OK, the Praz is right!, 1997, Video auf DVD, 5 Min, mit Ton, Courtesy Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea, Rivoli. John Maybury dreht in erster Linie Musikvideos. Mit dem Film Love is the devil legte er 1997 seinen ersten Spielfilm vor, eine Porträtstudie zu Francis Bacon, wie es im Untertitel heißt. Francesco Vezzoli spielte in dieser Produktion eine Nebenrolle. 31 Ricamo Praz (Praz Embroidery), 1997, Baumwollfaden, Perlstich, 29,7 x 28,2 cm. Obwohl die Stickerei offensichtlich bereits fertiggestellt ist, arbeitet Francesco Vezzoli in dem Video mit Nadel und Faden an dem Stickrahmen.

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Abb. 33: Vezzoli, OK, the Praz is right!, 1997

in die filmische Gegenwart. Es ist eine Publikation des Museums, bei der die aufgeschlagene Seite ein Bild des Galerieraums zeigt, in dem sich das Buch befindet und das Video gedreht wird. Die Einleitungssequenz endet mit einem Ölgemälde von Carlo de Falco, das Königin Isabella lesend in ihrem Neapolitaner Apartment zeigt (Abb. 34, 35).32 In auffälliger Weise korrespondiert der Innenraum des Gemäldes mit dem musealen Drehort.33 Die räumlichen Parallelen werden offensichtlich, sobald der gemalte Salon durch eine Überblendung im Museumsraum aufgeht. Den Sofaplatz am rechten Bildrand, den Maria Isabella mit einem Buch in den Händen auf dem Porträtbildnis einnimmt, besetzt in der Videoarbeit der stickende Francesco Vezzoli. Wie aus dem Nichts taucht Iva Zanicchi mit dem Einsetzen des Playback-Gesangs auf und beginnt eine getragen-pathetische Interpretation eines Anti-Kriegs-Liedes, in dem zwei gegnerische Soldaten angesichts ihrer hoffnungslosen Lage die Kriegshandlungen aussetzen.34 32 Carlo de Falco, La regina Maria Isabella di Napoli nel suo appartamento nella reggia di Capodimonte, um 1831-1832, Öl auf Leinwand, 59,5 x 79cm, Sammlung Mario Praz 33 Der gemalte Raum verfügt beispielsweise über den gleichen Lüster wie der Drehort. Vgl. Susinno, Stefano, Le Stanze della memoria. Vedute di ambienti, ritratti in interni e scene di conversazione della collezione Praz, Mailand 1988, S. 41 34 »Signor capitano si fermi qui, / sono tanto stanco, mi fermo sì, / attento sparano, si butti giù... / Sto attento, ma riparati anche tu. / Dimmi un po’

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Abb. 34: Falco, La regina Maria Isabella di Napoli nel suo appartamento nella reggia di Capodimonte, um 1831-32

Mit langsam schweifenden Armbewegungen und bewegtem Gesichtsausdruck interpretiert Iva Zanicchi das von Resignation bestimmte Lied. Sie adressiert ihre Darbietung an die Kamera und dadurch an ein abwesendes Publikum, was den Musikclip-Charakter des Videos unterstreicht. Die gesamte Ästhetik wird von Überblendungen bestimmt, durch die Iva Zanicchi immer wieder in unterschiedlicher Entfernung zur Kamera und an wechselnden Positionen im Raum auftaucht und verschwindet (Abb. 36). Neben ihrem luftig langen, in hellen Tönen gehaltenen Kleid soldato, di dove sei? / Sono di un paese vicino a lei, / però sul fiume passa la frontiera, / la riva bianca, la riva nera, / e sopra il ponte vedo una bandiera,/ ma non è quella che c’è dentro il mio cuor. / Tu soldato, allora, non sei dei miei? / Ho un’altra divisa lo sa anche lei. / No, non lo so perché non vedo più, / mi han colpito e forse sei stato tu. / Signor capitano, che ci vuol far? / Questa qui è la guerra, non può cambiar. / Sulla collina canta la mitraglia / e l’erba verde diventa paglia, / e lungo il fiume continua la battaglia, / ma per noi due è già finita ormai. / Signor capitano io devo andar. / Vengo anch’io che te non mi puoi lasciar. / No, non ti lascerò, io lo so già, / starò vicino a te per l’eternità. / Tutto è finito, tace la frontiera, / la riva bianca la riva nera, / mentre una donna piange nella sera / e chiama un nome che non risponderà. / Signor capitano si fermi qui. / Sono tanto stanco, mi fermo sì.« Zanicchi, Iva, La riva bianca la riva nera, Single, Label: RIFI 1971

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Abb. 35: Vezzoli, OK, the Praz is right!, 1997

und einem großzügig eingesetzten Weichzeichner verleihen ihr diese zahlreichen Überblendungen eine gewisse Transparenz, die an eine ›Erscheinung‹ der Sängerin denken lässt. Wie die umgebenden musealen Objekte wird auch sie zu einer Figur der Erinnerung, deren gleichzeitige An- und Abwesenheit sich durch die Überblendungen kommuniziert. Joachim Paech beschreibt dieses videotechnische Verfahren als kurzzeitige Verdoppelung und gleichzeitigen Verlust: »Gerade weil auf der Leinwand das Verschwinden des vorangehenden das Erscheinen des nachfolgenden Bildes im Fluß des Bewegungsbildes ermöglicht, kann das Verschwinden als Verlust empfunden werden, der durch die doppelte Anwesenheit in der Überblendung kompensiert wird. In dieser Funktion ist die Überblendung nicht nur eine syntaktische Figur (Metz), sondern vor allem eine Figur des Erinnerns, also der Überbrückung zu Abwesenheiten, die in Flashbacks re/präsentiert werden.«35

Die gealterte Sängerin ist in einem ständigen Auflösungsprozess begriffen, der mit der statischen Gegenwart Francesco Vezzolis konfrontiert wird. Während sie den Raum durchquert, am Fenster, neben dem Künstler 35 Paech, Joachim, Der Bewegung einer Linie folgen... . Schriften zum Film, Berlin 2002, S. 127

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Abb. 36: Vezzoli, OK, the Praz is right!, 1997

oder auf der oberen Galerie auftaucht, bleibt Francecso Vezzoli für die gesamte Dauer des Videos auf dem Sofa. Sein Aktionsradius reduziert sich auf den Stickgestus und sparsame Kopfbewegungen. Der Rhythmus der Einblendungen und die Wechsel der Kameraperspektiven orientieren sich an der Musik. Zu dieser Harmonie zwischen Musikstück, Interpretin und Schnitttechnik bildet Francesco Vezzoli einen Konterpart. Er arbeitet in gekrümmter Haltung, einen Stickrahmen auf den Knien haltend, in kurzen diskordanten Bewegungen, ohne Takt oder Höhepunkte der Musik zu beachten. Ein einzelner kurzer Blick auf die Sängerin verrät, dass sie sich tatsächlich im gleichen Raum aufhalten. Ansonsten ignoriert er Iva Zanicchi, auch wenn sie unmittelbar neben seinem Sofa in Erscheinung tritt. Dies ändert sich erst während der Schlussakkorde. Nachdem der Gesang beendet und der Stickrahmen beiseite gelegt wurde, nehmen beide eine porträthafte Haltung ein. Wie in einem Tableau vivant steht Iva Zanicchi am Sofa mit einem Arm auf der Rückenlehne, während der Künstler zu ihr aufblickt. Mit dieser Pose ergänzen sie die in der Einführungssequenz vorgestellte Geschichte des Raums um ein weiteres Motiv. Die letzte Einstellung in musikalischer Unterlegung zeigt den auf dem Sofa liegen gelassenen Stickrahmen mit dem Porträt von Mario Praz, ein weiterer Rückbezug zu der Bilderreihe der Einleitung. Obwohl die Musik ausgeblendet ist, der motivische Zirkelschluss vollzogen wurde und das Video damit beendet scheint, ist noch eine

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Einstellung angefügt, bei der die unbearbeitete Tonspur mit der Raumatmosphäre des Drehorts zu hören ist. Die Kamera fokussiert in einem extremen Close-up die Hände des Künstlers und den sich noch/wieder in Bearbeitung befindenden Stickrahmen. Dabei unterläuft Francesco Vezzoli eine Art metaphorischer Arbeitsunfall, der wohl auch die Verwendung dieser Sequenz begründet. Beim Durchziehen des Fadens auf die Unterseite hält der Künstler in der Arbeit inne und erklärt auf Nachfrage: ›The needle is broken‹. Als Schlussstatement bekommt dieser Satz besonderes Gewicht. Francesco Vezzoli, der hier aus seiner Randposition heraustritt und sich verbal artikuliert, versteht Nadel und Faden offenbar als Werkzeug und Symbol für die Kontinuität des Erzählflusses, geeignet, Bilder verschiedener Epochen miteinander zu verbinden.

Zweiter Akt: Il sogno di Venere In dem zweiten Teil der Trilogie avanciert Francesco Vezzoli zum Statisten in einem Traum Franca Valeris.36 Wie bereits vermutet, wird die Rolle des Künstlers als träumerischer Visionär von der Einblendung des Titels bestätigt. Auf schwarzem Untergrund ist hier Il sogno di Venere di Francesco Vezzoli zu lesen, offenbar träumt der Künstler diesen Traum der Venus. Der Clip wurde in dem Privathaus von Suso Cecchi D’Amico37 und dem römischen Nightclub Officina gedreht. Regie führte Lina Wertmüller. Die Handlung setzt mit einem Close-up auf das Gesicht Franca Valeris ein, die im Begriff ist, auf einem Sofa einzuschlafen. Auch dieses Möbelstück gewinnt durch Stickereien an Bedeutung. Es wurde von Silvana Mangano38 mit herbstlichen Laubmotiven bestickt. Ein langsamer Ran-Zoom visualisiert den Übergang in die folgende Traumerzählung. 36 Francesco Vezzoli, Il sogno di Venere (The Dream of Venus), 1998, Video auf DVD, 4 Min, mit Ton, Courtesy Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea, Rivoli. Franca Valeri war Co-Autorin und Hauptdarstellerin in dem Film: Il segno di Venere (Italien 1955, dt. Im Zeichen der Venus. Männer mögen’s so, Regie: Dino Risi), auf den der Titel dieser Sequenz rekurriert. 37 Sie arbeitete als Drehbuchautorin eng mit Luchino Visconti zusammen, unter anderem auch bei Gewalt und Leidenschaft. Die diversen Bezüge, die Francesco Vezzoli zu diesem Film herstellt, werden im Abschnitt Gruppo di famiglia in un interno. Francesco Vezzolis Wahlverwandtschaften zusammengefasst. 38 Auch Silvana Mangano war an dem Film Conversation piece. Gruppo di famiglia in un interno beteiligt (vgl. hier Fn. 64) und gehört zu der Riege von Stars, die

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Abb. 37: Vezzoli, Il sogno di Venere (The Dream of Venus), 1998

Franca Valeri sieht sich als Modell in einer leeren Diskothek (Abb. 37). Eingekleidet in extravagante Garderobe39 posiert sie, von Spiegeln und herabfallenden Seifenblasen umgeben, auf einem bühnenartigen Podest.40 Im Gegensatz zu der Kamera, die mit zahlreichen Fahrten, Zooms, vertikalen und horizontalen Schwenks ständig in Bewegung ist, besteht der Auftritt Franca Valeris lediglich aus steif wirkenden Armbewegungen und Kopfdrehungen, wobei sie stets einen Augenblick in einer Position verharrt, als wolle sie einem imaginierten Fotografen Gelegenheit zum Francesco Vezzoli zur Untermauerung seiner These, Sticken sei eine dezidiert von Stars genutzte Technik, herangezogen werden: »Needlepoint Needlepoint is a technique for the divas to remove themselves from the public, to escape their audiences, their fame, and their public persona.« Francesco Vezzoli interviewt von Barbara Steiner, in: Vezzoli 2002-03 (Ausst.-Kat.), S. 10-12, hier S. 12. Das hier verwendete Sofa ist offensichtlich ein Geschenk der Schauspielerin an Suso Cecchi D’Amico. Vgl. Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 32 39 Das Kleid ist ein Modell von Roberto Capucci, der auch die Garderobe für Silvana Mangano in Pier Paolo Pasolinis Film Teorema (Italien 1968, dt. Teorema – Geometrie der Liebe) entwarf. 40 Zur Wahl des Drehortes erklärte Francesco Vezzoli in einem Interview: »(…) it was decided to shoot the film in a discotheque for travestites on the outskirts of Rome, a place where people display not what they are, but what they would like to be, which is just what my video is about.« Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 63

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Abb. 38: Vezzoli, Il sogno di Venere (The Dream of Venus), 1998

Auslösen geben. Eine Windmaschine unterstützt den Eindruck eines Fotoshootings. Auch das unterlegte Lied Das Model der Gruppe Kraftwerk nimmt dieses Motiv auf: beschrieben wird die zwar käufliche, aber dennoch unnahbare und exklusive Schönheit eines Mannequins.41 Ein Motorrad dient Francesco Vezzoli als Sitzgelegenheit, auf dem er an einem Porträt der Schauspielerin Silvana Mangano arbeitet (Abb. 38).42 Erneut widmet der Künstler seine Aufmerksamkeit ausschließlich dieser Stickerei, ohne Notiz vom Auftritt des Models zu nehmen. Nähe wird lediglich durch die Kamera hergestellt, die sich zwischen Darstellerin, 41 »Sie ist ein Model und sie sieht gut aus / ich nähm’ sie heut gerne mit zu mir nach Haus. / Sie wirkt so kühl, an sie kommt niemand ran, / doch vor der Kamera, da zeigt sie was sie kann. / Sie trinkt im Nachtklub immer Sekt (korrekt), / und hat hier alle Männer abgecheckt. / Im Scheinwerferlicht ihr junges Lächeln strahlt, / sie sieht gut aus, und Schönheit wird bezahlt./ Sie stellt sich zur Schau für das Konsumprodukt / und wird von Millionen Augen angeguckt. / Ihr neues Titelbild ist einfach fabelhaft, / ich muss sie wiedersehen, ich glaub, sie hat’s geschafft.« Kraftwerk, Model, Album: Die Menschen-Maschine, Label: Kling Klang 1978 42 Gloria!, 1998, Laserdruck auf Stramin, Metallfaden, 33 x 43,5 cm, Privatsammlung London. Die fotografische Vorlage seiner Stickerei wurde dem Film: Le Streghe (Italien 1966, dt. Hexen von heute, Regie: Franco Rossi, Luchino Visconti, Pier Paolo Pasolini, Mauro Bolognini und Vittorio de Sica) entnommen.

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Abb. 39: Vezzoli, The End (Teleteatro), 1999

ihren Spiegelbildern und Francesco Vezzoli als einzigem Zeugen der Darbietung hin und her bewegt. Trotz dieser Vermittlung wirkt der Künstler fehl am Platz. Seine versunkene Beschäftigung mit dem Stickrahmen opponiert gegen die räumliche Umgebung und das Mobilitätsversprechen der Straßenmaschine. Wiederholt werden Sequenzen eingefügt, die in schneller Folge Plakate von Stars43 und andere Bestandteile der Diskoausstattung zeigen, die teilweise den Liedtext illustrieren. Beispielsweise begleitet das Comicbild eines Geldnoten rauchenden Gigolos die Textpassage: ›Und hat hier alle Männer abgecheckt‹. Der im Schwarzlicht strahlende Stickrahmen mit dem Porträt Silvana Manganos erscheint zu der Zeile: ›Im Scheinwerferlicht ihr junges Lächeln strahlt‹ und ein extremes Close-up von Francesco Vezzolis Auge visualisiert den Text: ›Und wird von Millionen Augen angeguckt‹. Der fluoreszierende Stoff in den Händen Francesco Vezzolis ist immer wieder Zielpunkt der Kamerabewegungen und lässt das Konterfei Silvana Manganos gleich einer mystisch verklärten Ikone erstrahlen. Ebenso wie die Kamera immer neue Perspektiven auf das Gesicht Franca Valeris eröffnet, umfährt sie auch Francesco Vezzoli. Abwechslungsreiche Perspektiven dramatisieren die Stickarbeit, indem etwa der nach oben gezogene Faden das Gesicht des Künstlers symmetrisch 43 Unter ihnen sind Marilyn Monroe, Madonna, Sophia Loren, Liza Mannelli und Liz Taylor.

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zerteilt. Bemerkenswert erscheint vor allem der Versuch, die Züge Silvana Manganos mit denen des Künstlers zu verschmelzen, indem die Kamera aus der Froschperspektive durch den transparenten Straminstoff hindurch filmt. Die effektvollen Kameraperspektiven und Kamerafahrten wirken allerdings – angesichts der reduzierten Bewegungen Francesco Vezzolis und der an sich unspektakulären Stickarbeit – ähnlich bemüht wie der Auftritt Franca Valeris. Der ›Traum der Venus‹ endet erneut auf dem Sofa der ersten Einstellung und zeigt das von einem kurzen Schrecken begleitete Erwachen Franca Valeris, gefolgt von einem Gesichtsausdruck süßer Verzückung, das sich in ein Schwarzbild auflöst.

Dritter Akt: The End (Teleteatro) Dieser für die Protagonistin offensichtlich behaglichen Traumerzählung setzt der dritte Teil – wie der Titel The End (Teleteatro) ankündigt – ein abruptes Ende.44 Regie führte Carlo di Palma,45 die Hauptrolle übernahm Valentina Cortese,46 die auch ihr Privathaus als Drehort zur Verfügung stellte. Wie bereits bei den vorangegangenen Episoden betont Francesco Vezzoli, dass Valentina Cortese einige der Einrichtungsgegenstände selbst bestickt hat. Den visuellen Einstieg liefert erneut ein Ölgemälde, auf dem schemenhaft eine liegende, weibliche Figur zu erkennen ist, die mit der schlafenden Franca Valeri des vorangegangenen ›Aktes‹ korrespondiert. Mit einem ersten dramatischen Schrei nach Hilfe stört Valentina Cortese diese Ruhe. In den folgenden Minuten rezitiert sie ohne musikalische 44 Francesco Vezzoli, The End (Teleteatro), 1999, Video auf DVD, 4 Min, mit Ton, Courtesy Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea, Rivoli 45 Er arbeitete als Kameramann bei einigen Filmen Michelangelo Antonionis (z.B.: Blow up, Großbritannien 1966) und bei den meisten Filmen Woody Allans. 46 Auch Valentina Cortese spielte bereits bei Michelangelo Antonioni, Lina Wertmüller und Suso Cecchi d’Amico. Diese Überschneidungen zu vergangenen Filmprojekten fallen ins Auge, lassen jedoch keine Systematik – auch nicht hinsichtlich des Genres – erkennen. Als größte Parallele lässt sich allenfalls feststellen, dass die meisten an der Videoproduktion Beteiligten den Höhepunkt ihres Ruhms bereits hinter sich gelassen haben. Erwähnt sei außerdem, dass vor allem durch den Auftritt Valentina Corteses starke Parallelen zu den Videoarbeiten Rebecca Horns augenfällig werden, die allerdings hier unberücksichtigt bleiben, da sie von meinem Interesse an der Sticktechnik wegführen. Vgl. hier Fn. 75 und Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 103

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Abb. 40: Vezzoli, The End (Teleteatro), 1999

Begleitung den Songtext des Liedes Help! der Beatles.47 Mit jeder Strophe befindet sich die Schauspielerin in einem anderen Raum. Während ihre aufwendige Ballgarderobe eine große Festgesellschaft erwarten lässt, bleibt Francesco Vezzoli wiederum der einzige Statist, der zudem nur im ersten Raum anwesend ist, Valentina Cortese beim folgenden Streifzug durch die Villa nicht begleitet. In dem bisher von Distanz geprägten Verhältnis zwischen Künstler und Protagonistinnen kommt es zu einer körperlichen Konfrontation (Abb. 39). Nachdem die Schauspielerin Francesco Vezzoli bemerkt hat, adressiert sie ihren Hilfeappell direkt an ihn und attackiert – nach ausbleibender Reaktion – seine Schulter

47 »Help! / I need somebody / Help! / Not just anybody / Help! / You know I need someone / Help! / When I was younger, so much younger than today, / I never needed anybody’s help in any way. / But now these days are gone and I’m not so self assured. / Now I find I’ve changed my mind / I’ve opened up the doors. / Help me if you can, I’m feeling down. / And I do appreciate you being around. / Help me get my feet back on the ground. / Won’t you please please help me? / And now my life has changed in oh so many ways. / My independence seems to vanish in the haze. / But ev’ry now and then I feel so insecure. / I know that I just need you like I’ve never done before. / Help me if you can, I’m feeling down. / And I do appreciate you being around. / Help me get my feet back on the ground. / Won’t you please please help me?« John Lennon und Paul McCartney, Help!, Album: Help!, Label: Parlophone 1965

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Abb. 41: Vezzoli, The End (Teleteatro), 1999

mit theatralisch inszenierten Faustschlägen.48 Diesen Angriff lässt er unbeeindruckt vorüberziehen, quittiert sie lediglich mit einem kühlen Blick, um sich sogleich wieder seiner Stickerei – ein Porträt des Regisseurs Douglas Sirk – zu widmen.49 In den nachfolgenden vier Räumen ist die Schauspielerin mit der Dekoration allein. Sie stürzt zumeist von links ins Bild, richtet ihren Hilferuf entweder an Einrichtungsgegenstände oder an ein imaginiertes Publikum, bewegt sich, an unterschiedlichen Möbelstücken Halt suchend, durch die Zimmer oder sinniert auf ihrem Bett angesichts ihres ausgebreiteten Schmucks, bevor sie jeweils auf die ein oder andere Weise in sich zusammensinkt (Abb. 40). Der rezitierte Text der Beatles kreist um altersbedingten Verlust von Unabhängigkeit und Selbstsicherheit, der mit dem Wunsch nach anteilnehmender Unterstützung verbunden wird. Die pathetische Interpretation Valentina Corteses steigert die beschriebene Hilflosigkeit. Als gealterte und anscheinend vereinsamte Diva performt sie ihren Auftritt immer noch in prächtiger Maskerade, allerdings überwiegend ohne Publikum. Ihr Hilfeappell, bereits im ersten Raum von Francesco Vezzoli ignoriert, bleibt auch in den folgenden leeren Zimmern ihres Privathauses ungehört. 48 Zumindest das ›Veilchen‹, das der Künstler in dieser Szene hat, stammt nicht von den eher symbolisch zu nennenden Schlägen Valentina Corteses. 49 Douglas Sirk war in Deutschland Theaterintendant, bevor er 1937 das Land verließ und in den 1950er Jahren vor allem durch US-Melodramen als Regisseur hervortrat.

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Die dramatische Rezitation findet ihre Entsprechung in der Einrichtung der Räumlichkeiten. Fensterlos und künstlich beleuchtet zeichnen sich die Wohnräume durch beklemmenden Luxus und symbolträchtige Ausstattung aus. Dabei wird auf ikonografische Standardmotive wie skelettierte Tiergeweihe, brennende Kerzen, Vogelkäfig oder Spieluhren zurückgegriffen, um ostentativ die Ausweglosigkeit, die Vergänglichkeit von Jugend und Schönheit vorzuführen und so ein Memento mori anzumahnen. Diese Insistenz erhält spätestens im dritten Raum karikative Züge, wenn sich pinke Reflexlichter einer Diskokugel zunächst über ein Altarbild des 15. Jahrhunderts bewegen, das die Verkündigung des Erzengel Gabriels an Maria zeigt, und schließlich die gesamte Szenerie bestimmen (Abb. 41). Die keusche und demütige Reinheit der Maria wird mit dem übertrieben emotionalen Ausdruck und der festlichen Garderobe der Protagonistin kontrastiert. Beides erscheint in der Disko-Beleuchtung in einem schrägen Licht. Symbolträchtig endet dieser Clip nach dem letzten Vers: ›Won’t you please, please help me. Please!‹ mit einem langsamen Schwenk von der am Fußteil eines bronzenen Himmelbettes festgekrallten Schauspielerin auf eine anhaltend musizierende Aufziehpuppe – Schlussbild der Trilogie, das sich ins Schwarzbild auflöst.

Das melodramatische Dekorum Dass Francesco Vezzoli mit diesem Clip eine Inszenierung »à la Douglas Sirk«50 intendierte, zeigt nicht nur durch das gestickte Porträt des Regisseurs. Gegenstandsübergreifende Reflexlichter, wie sie beispielsweise die Diskokugel hervorruft, hat Martin Deppner als ein Markenzeichen der Farbdramaturgie Douglas Sirks beschrieben.51 Auch für die Rauminszenierung finden sich Entsprechungen in den Filmen des deutschen Regisseurs: »Wohnungen sind bei ihm [Douglas Sirk] nicht Lebens-, sondern Ausstellungsraum. Es sind die Wohnungen derer, die gar keine Zeit haben zu leben, weil sie unablässig damit beschäftigt sind, ihre Wirkung auf andere zu inszenieren. Die Repräsentationsfähigkeit der Dinge steht über ihrem Nutzwert.«52 50 Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 102 51 Vgl. Deppner, Martin Roman, Zur Farbdramaturgie Douglas Sirks. Kunstrezeption im Spielfilm zwischen Farbautonomie und Farbbedeutung, in: Who’s afraid of. Zum Stand der Farbforschung, Anne Hoormann und Karl Schawelka (Hg.), Weimar 1998, S. 302-334, hier S. 311 52 Sterneborg, Anke, Douglas Sirk, in: Filmregisseure. Biographien. Werkbeschreibungen. Filmographien, Thomas Koebner (Hg.), Stuttgart 2002, S. 638-641, hier S. 639

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Gleiches gilt für die Innenräume, in die Francesco Vezzolis Video Einblick gibt. Damit wird eine Strategie des melodramatischen Filmgenres wiederholt, die Thomas Elsaesser als »Sublimierung des dramatischen Konflikts ins Dekor«53 genannt hat: »Sirks Spiegel und spiegelnde Oberflächen, die Farblichter, Glasfassaden und ›goldenen Käfige‹ lösen (…) Bilder und Normen auf, wollen in Sehnsucht und Ausweglosigkeit verstrickte Personen mit jenem Spiegelbild konfrontieren, das sozusagen neben beziehungsweise vor das Leben getreten ist.«54

In dem orientierungslosen Streifzug Valentina Corteses durch die theatral dekorierten Privaträume spiegelt das Dekor den Konflikt einer mit der Einsamkeit konfrontierten, gealterten Diva. Ihre Hilferufe verebben in den fensterlosen Zimmern und dem überbordenden Luxus. »Je mehr sich das Setting mit Objekten füllt, denen der Plot symbolische Signifikanz zuweist, desto stärker sind die Figuren in schier unentrinnbaren Situationen verstrickt. Die Figuren stehen unter dem Druck der sie bedrängenden Dinge, ihr Leben wird immer schwieriger, weil es verbaut wird mit Hindernissen und Objekten, die in ihre Persönlichkeit eindringen, sich ihrer bemächtigen, sie ersetzen, die wirklicher werden als die menschlichen Beziehungen, die sie nur symbolisieren sollen.«55

Mit der melodramatischen Inszenierungsweise wählt Francesco Vezzoli »ein Etikett mit schlechtem Ruf«.56 Bezeichnungen wie ›weepie‹ oder ›Hausfrauengenre‹ machen deutlich, worin sich die Pejoration begründet. Die allzu emotionale Aufladung der Figuren, die überwiegend im Familienleben situierten Konflikte und die häufig nonverbale Ausdrucksweise57 des Melodrams wurden vorwiegend als übertrieben exaltiert 53 Elsaesser, Thomas, Tales of sound and fury. Anmerkungen zum Familienmelodram [1972], in: Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film, Christian Cargnelli und Michael Palm (Hg.), Wien 1994, S. 93-128, hier S. 105 54 Deppner 1998, S. 319 55 Elsaesser 1972, S. 119 56 Brooks, Peter, Die Melodramatische Imagination [1976], in: Cargnelli/Palm 1994, S. 35-63, hier S. 47 57 »Sämtliche Folgen ideologischer, gesellschaftlicher oder familiärer Repression können/dürfen sich nicht über die gesprochene Sprache oder den Plot

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Abb. 42: Visconti, Il Gattopardo, 1962

wahrgenommen und dem ›weiblichen‹ Aktionsradius zugewiesen. »Melodrama’s over-investment in the symbol, combined with the impossibility of actually living it, produced a complex, highly ambivalent field for women.«58 Die Parallelen dieses Genres zum traditionellen Image der Sticktechnik sind augenfällig. Ihre lang anhaltende Fixierung auf den privaten Raum, ihr Status als repetitiver und manierlicher Zeitvertreib für Frauen verortet sie in eben der von Melodramen häufig fokussierten gutbürgerlichen Idylle bzw. Enge, zu deren Inszenierung sie auch im Film eingesetzt wird. So nutzt beispielsweise Luchino Visconti in Il Gattopardo textile Handarbeiten zur Repräsentation traditioneller Werte in Zeiten revolutionärer Veränderungen, indem er bei abendlichen Familienszenen alle Frauen mit Nadelarbeiten ausstattet (Abb. 42).59 Ein Beispiel, bei dem Sticken als Symbol häuslicher Einengung und beklemmender Tugendhaftigkeit dient, liefert Luis Buñuels Belle de Jour.60 Während sich die Arztgattin Séverine (Catherine Deneuve) bei den abendlichen Zusammenkünften mit ihrem Ehemann Stickereien zuwendet, beginnt Gehör verschaffen, sondern verschieben sich in den diskursiven Filmkörper und verdichten sich dort als Symptom in mise en scène, überfetteter Farbgebung und Musik.« Palm, Michael, Was das Melos mit dem Drama macht. Ein musikalisches Kino, in: Cargnelli/Palm 1994, S. 211-232, hier S. 212 58 Gledhill, Christine, The melodramatic field. An investigation, in: Home is where the heart is. Studies in melodrama and the woman’s field, Christine Gledhill (Hg.), London 1994, S. 5-39, hier S. 35 59 Il Gattopardo (Italien/ Frankreich 1962, dt. Der Leopard, Regie Luchino Visconti) 60 Belle de Jour (Frankreich/ Italien 1966-67, dt. Belle de Jour – Schöne des Tages, Regie: Luis Buñuel)

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Abb. 43: Buñuel, Belle de Jour, 1966-1967

sie tagsüber ihre masochistischen Fantasien rauchend in einem Bordell auszuleben (Abb. 43). Bezeichnenderweise legt sie den Stickrahmen aus der Hand, um ihren Mann nach seinen Erfahrungen mit Prostituierten zu befragen und wendet sich am Ende des Films wieder den Stickereien zu, als sie nach der Enthüllung ihres Doppellebens die häusliche Ordnung wieder herzustellen versucht. Dieses Rollenrepertoire der Sticktechnik, einerseits Ausdruck der sittsamen Ordnung und andererseits Symbol für einschränkende Strukturen, ist konventionell an eine weibliche Darstellerin gebunden. In The End (Teleteatro) teilen sich Francesco Vezzoli und Valentina Cortese diese zwei Fassungen untereinander auf. Der Künstler übernimmt den genügsamen Part. »The artist [Francesco Vezzoli] in the act of embroidering reflects two topoi, typical to the melodrama, that of the iconic waiting and that of muteness, a misfortune befalling the melodramatic victim till the phase of recognition saves him.« 61

Wenngleich ich Doreet LeVitte Harten zustimme, was die passive und verharrende Haltung Francesco Vezzolis anbetrifft, weicht seine Besetzung in einem zentralen Punkt von den Gepflogenheiten des Melodrams ab. Ein männlicher Akteur stört die Szenerie und verhindert die gewohnte Lesart. Es ist vor allem dieser unpassende Statist, der einen empathischen Nachvollzug der Trilogie sabotiert. Ebenso wenig bietet der dramaturgische Verlauf der Episoden eine Erkenntnis, die zu einer Konfliktbewältigung 61 Il Gattopardo (Italien/ Frankreich 1962, dt. Der Leopard, Regie Luchino Visconti)

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führt. In Francesco Vezzolis Video reproduziert sich vielmehr das Melodram selbst in einer historistischen Realität. Das Changieren zwischen den Lebens- und Arbeitswelten von Mario Praz und Iva Zanicchi, Silvana Mangano und Franca Valeri, Douglas Sirk und Valentina Cortese, die zahlreichen Verweise durch Drehorte, Ausstattungsgegenstände, involvierte Personen und Musikstücke und der Stickmythos, alles zusammen genommen amalgamiert zum Porträt eines Filmgenres.

Gruppo di famiglia in un interno. Francesco Vezzolis Wahlverwandtschaften Die Auswahl der Stars, Drehorte und Ausstattung begründet Francesco Vezzoli in Interviews mit persönlichen Obsessionen und autobiografischen Motiven. So erklärt er die Referenzmischung für den ersten Teil der Trilogie folgendermaßen: »I wanted to make a video that contained all the obsessions that animated me, including my dichotomy. Praz and Zanicchi had to be present (this is already a dichotomy in terms), and then the embroidery. Moreover, I decided that all this should be shot by John Maybury, the director of Boy George‹s and Sinéad O’Connor’s videos. It’s like putting together my father, my mother, my grandmother, the high school, London, myself: John Maybury is London; Visconti is a little my mother, a little my grandmother; I linked Praz to Visconti; Zanicchi is, to a certain extent, Mina, but less glamorous.«62

Aus diesem Potpourri an Bezügen lassen sich drei Stränge extrahieren, die auch in anderen Videos eine Rolle spielen. Zum einen bemüht sich Francesco Vezzoli um eine Kombination von so genannter ›high & low culture‹. Musikschlager, Fernsehserien, Rateshows oder Diskokultur werden mit dem Autorenkino und kunsthistorischen Zitationen verknüpft. Zum anderen ist männliche Homosexualität ein Ausgangspunkt, der die Auswahl determiniert und in nachfolgenden Produktionen auch inszeniert wird.63 Und schließlich gelten Francesco Vezzolis Recherchen 62 Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 33 63 Beispielsweise: The kiss (let’s play Dynasty!), 2000, mit Helmut Berger, Video auf DVD, 6 Min. Vgl. Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 156-176. Trailer for a Remake of Gore Vidal’s ›Caligula‹, 2005 Video auf DVD, 5 Min. Vgl. URL: http://www. veoh.com/browse/videos/category/entertainment/watch/v336120kqxq5xRN, 18.04.2010

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stickenden Persönlichkeiten, die er in seinen Videos auftreten oder durch Stickereien vertreten lässt. In dem Videoclip OK, the Praz is right! fungiert Mario Praz als Aufhänger. Der Literaturprofessor, in dessen ehemaligem Wohnhaus gedreht wurde, diente bereits Luchino Visconti als Vorbild für die männliche Hauptfigur in dem Spielfilm Gruppo di famiglia in un interno.64 Burt Lancaster spielte hier einen zurückgezogen lebenden Professor, der viktorianische Familienporträts sammelt. Er wird in seiner Ruhe gestört, nachdem eine Marchesa beschließt, die obere Etage seines Hauses zu mieten, um eine Wohnung für ihren jugendlichen Liebhaber einzurichten. Luchino Visconti hat der Figur des Professors autobiografische Züge verliehen. Sein Sympathisieren mit der Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg, die Leidenschaft für Musik und Kunst kombiniert mit einer aufrechten Zuneigung gegenüber dem jugendlichem Leichtsinn seiner Untermieter, finden in der Biografie des Regisseurs ihre Entsprechungen. Dieser Film nutzt Francesco Vezzolis als Anregungspool. Die Rolle der Marchesa spielte bei Luchino Visconti Silvana Mangano, deren Porträt Francesco Vezzoli im zweiten Teil der Trilogie bearbeitet. Außerdem wählt der Künstler mit der ersten Interpretin Iva Zanicchi eine Sängerin, die bereits an der Filmmusik von Gruppo di famiglia in un interno beteiligt war. Allerdings entschied sich Francesco Vezzoli nicht für das von Luchino Visconti präferierte Lied Testarda io (La mia solitudine). Der Künstler wählte einen anderen Hit, um – wie er andeutet – eine deutliche homoerotische Komponente zu integrieren.65 Durch solche Bezüge entwirft Francesco Vezzoli ein wahlverwandtschaftliches Familienporträt. Er re-arrangiert vergangene Filmprojekte und integriert seine eigene Figur. Seine Rolle in dieser Familienaufstellung ist einerseits die eines Bewunderers und andererseits die des Produzenten. Mit seinem organisatorischen Talent und den individuellen Plots verspricht er den 64 Gruppo di famiglia in un interno (Italien/ Frankreich 1974, dt. Gewalt und Leidenschaft). In den Hauptrollen Burt Lancaster, Silvana Mangano, Helmut Berger. Der italienische und amerikanische Filmtitel Conversation piece ist angelehnt an eine Publikation von Mario Praz zu Gruppenbildnissen: Conversation Pieces. A survey of the informal group portrait in Europe and America, London 1971. 65 »I believe (…) that the two soldiers in the song are slightly in love: ›Signor capitano, si fermi qui. Sono tanto stanco, mi fermo si.‹ It’s the story of two soldiers on opposite sides at the front who lie down by the river. We don’t know what happens next…« Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 35

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Stars eine ungewöhnliche Zusammenarbeit und erwartet für sich intime Einblicke in den Lifestyle der Berühmtheiten, an dem er partizipieren möchte. »They [die Stars] seem to know that they have really unveiled a private part of themselves. So there is some kind of embarrassment, but they know that they have done something very special and that they were revealing an intimate side of themselves to me. They realize that they give me something that they don’t give to anyone else. It’s like we have given each other a very private moment.«66

Trotzdem bleibt der Künstler in dem glamourösen Referenzsystem ein Fremdkörper. Obwohl physisch anwesend, verfolgt er weder die Darbietung der Darstellerinnen, noch scheint er die Umgebung zu registrieren. Seine Aufmerksamkeit beschränkt sich auf den Stickrahmen. Während des ersten Clips wirft er zuweilen auch ein Blick in das aufgeschlagen vor ihm liegende Buch, als würde es eine Anleitung für seine Stickarbeit enthalten. Tatsächlich ist dort der Galerieraum des Mario Praz Museums abgebildet, in dem gedreht wird. Anstatt also seine Anwesenheit zu nutzen und die Umgebung direkt zu inspizieren, bedient sich Francesco Vezzoli des Printmediums. Ebenso wie seine augenscheinliche Nichtbeachtung der Stars legt die Notwendigkeit einer medialen Vermittlung den Schluss nahe, dass sich der stickende Statist offenbar an einem ganz anderen Ort aufhält. Damit wird eine Ortlosigkeit ins Bild gesetzt, die Hans Belting als signifikant für das Raum/Zeit Verhältnis einer Kinovorstellung beschrieben hat: »Im Kinosaal lebt die bürgerliche Kultur des Theaters weiter, aber der Film bringt durch Techniken wie die Großaufnahme den gemeinsamen Raum, in dem sich ein aktives Publikum artikuliert, zum Verschwinden und vernichtet jede analogische Beziehung (Bühne und Zuschauerraum) durch die Fiktion eines Ortes oder einer Ortlosigkeit, durch welche der Betrachter auf sich selbst und seine Bilder zurückgeworfen wird. Er erlebt an einem öffentlichen Ort eine Art von Halluzination oder Traum, in dem die übliche Erfahrung von Zeit und Raum aufgehoben ist, und erfährt sich dabei trotz der öffentlichen Umgebung allein als Ort der Bilder.« 67

66 Francesco Vezzoli interviewt von Jan Winkelmann, in: Vezzoli 2002-03 (Ausst.-Kat.), S. 63-67, hier S. 66 67 Belting, Hans, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 76

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Diese Situation des Kinopublikums entspricht der Lage, in der sich Francesco Vezzoli befindet. Der ins Bild geratene Künstler mimt nicht die Rolle des Betrachters – hierzu wäre eine aktive Anteilnahme an der Performanz der Sängerin notwendig. Er beansprucht quasi einen extradiegetischen Raum, in dem ein Fan durch die Medien am Leben seiner Idole teilnimmt. Auf dieser Ebene sind die (öffentlichen) Auftritte der Stars von der (privaten) Rezeption des Künstlers zu trennen. Zugleich eröffnet das Video eine neue Filmerzählung und erzeugt einen imaginären Raum, in dem sich Francesco Vezzoli mit ›seinen‹ Stars umgibt. In Anlehnung an Michel Foucault kann hier von der Inszenierung eines heterotopen Raumes gesprochen werden. »Die Heterotopie vermag an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Plazierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind. So läßt das Theater auf dem Viereck der Bühne eine ganze Reihe von einander fremden Orten aufeinander folgen; so ist das Kino ein merkwürdiger viereckiger Saal, in dessen Hintergrund man einen zweidimensionalen Schirm einen dreidimensionalen Raum sich projizieren sieht.« 68

In diese zweidimensionale Projektion eines dreidimensionalen Raums integriert Francesco Vezzoli durch zahlreiche Referenzen weitere, auch zeitlich auseinanderliegende Orte. Bezugnahmen auf andere Filme, historische Persönlichkeiten oder Gemälde eröffnen immer neue Nebenschauplätze. Diese Erweiterungen werden in Ausstellungen fortgeführt. So wurde das Video in Leipzig in einem Raum, der mit einer Diskokugel ausgestattet war, auf einem Fernsehgerät gezeigt.69 Der Rezeptionskontext wurde durch diese Lichtinszenierung zur Erweiterung einer Szene des dritten Teils, die Austellungsbesucherinnen und -besucher räumlich in die Videoarbeit integriert. Bei anderer Gelegenheit wurde in der ›black box‹ auf Großleinwand projiziert und Erinnerungen an einen Kinoraum aufrufen.70 In Francesco Vezzolis Figur des rezipierenden Initiators lassen sich diese unterschiedlichen Bezugssysteme zusammenfügen. Obwohl er in der Arbeitsteilung viele Entscheidungen delegiert, rückt er als Arrangeur letztlich doch ins autorisierende Zentrum. Denn letztlich 68 Foucault, Michel, Andere Räume, in: Botschaften der Macht. Der FoucaultReader, Jan Engelmann (Hg.), Stuttgart 1999, S. 145-157, hier S. 153, 69 Vgl. Vezzoli 2002-03 (Ausst.-Kat.) 70 Vgl. The future has a silver lining. Genealogies of Glamour (Ausst.-Kat.), MigrosMuseum für Gegenwartskunst, Zürich 2004

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verbindet die Figur, die Francesco Vezzoli in dem Video verkörpert, die unterschiedlichen Erfahrungswelten in einer Person. Er ist der Autor und zugleich eine Celebrity-Figur. Er mimt eine Staffagefigur, die außerhalb der Handlung zu stehen scheint, als Fan jedoch zugleich Kulminationspunkt der Begehrlichkeiten der berühmten Protagonistinnen ist. Einen solchen zwischen passiver und aktiver Beteiligung changierenden Zustand hat Hans Belting in Bezug auf ein Kinopublikum folgendermaßen beschrieben: »Das Paradox des Kinobesuchs liegt darin, daß ›man noch einmal halluziniert, was gleichwohl dort wirklich zu sehen ist‹. So ähnelt die filmische Erfahrung, auch wenn sie die Suggestion von Realerfahrung weitertreibt, dem Zustand im Traum und der Auslieferung an Bilder, die man nicht kontrollieren kann, auch wenn man sie selbst zu produzieren scheint.«71

Der Fan Francesco Vezzoli richtet seinen Blick von außen auf die filmische Erfahrung, wobei diese für ihn – als Schauspieler – zugleich zur Realerfahrung wird. Er lässt sich als ein Kinobesucher begreifen, der halluziniert, was sich vor ihm abspielt, und zu gleichen Teilen als Rezipient und Initiator firmiert. Obgleich er durch Gesten wie das Delegieren der Regieführung, die zitierende und repetitive Arbeitsweise sowie das Auftreten als unbeteiligte Randfigur eine rezessive Haltung einnimmt, ist er als Organisator quasi raison d’être der Starauftritte und in seiner Rolle als Fan das zentrale Element der Stargenese.

Wirklich dramatisch. Stars in ihrem Element Wie Christine Gledhill herausgestellt hat, ist die Diskrepanz zwischen äußerer Erscheinung und innerer Frustration nicht nur der zentrale Konflikt in Melodramen. Die spannungsreiche Trennung von privatem und öffentlichem Leben kann ebenso als strukturelles Problem von Stars angesehen werden, deren Leben auch off-screen als Melodram inszeniert ist.72 Christine Gledhill sieht darin eine Übertragung des melodramatischen Prinzips auf die Star-Persona außerhalb der filmischen Realität:

71 Belting 2001, S. 75 72 Vgl. Gledhill, Christine, Zeichen des Melodrams [1991], in: Cargnelli/Palm 1994, S. 191-209, hier S. 196

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»Die melodramatische Forderung nach einer eindeutig definierten Identität richtet sich nicht mehr an die fiktionale Persona, sondern an die Star-Persona; diese bietet den Vorteil, dem moralischen Drama durch den Bezug auf eine wirkliche Person außerhalb der Fiktion Authentizität zu verleihen.«73

Diese Eigenheit von Melodramen, die Grenzen zwischen Star und Rolle zu verwischen, potenziert sich in der Trilogie. Francesco Vezzoli authentifiziert seine Videoclips, indem Rollen mit ›wirklichen‹ Stars besetzt werden und eine Übertragung der inszenierten Konflikte um Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit und Alter auf die Protagonistinnen außerhalb der fiktionalen Narration angeboten wird. Dabei steigert sich dieses Oszillieren zwischen Fiktion und Realität, indem an ›Originalschauplätzen‹ (zum Teil in den Privatwohnungen der Involvierten), mit ›Originalrequisiten‹ und den ursprünglichen Set-Mitgliedern gedreht wurde.74 Damit avanciert die Filmografie der Stars zum eigentlichen Plot der Videos. Die intra-diegetischen Personen verschmelzen mit ihrem extra-diegetischen Image. Ob Valentina Cortese sich selber in ihrer Privatwohnung darstellt oder eine Rolle inszeniert, die sie bereits wiederholt verkörperte, lässt sich kaum noch trennen.75 Diese Verschmelzung der Charaktere trifft selbst für Francesco Vezzoli zu, auf den die Rolle der Randfigur abfärbt. Auch die Kunstkritik stilisiert ihn zu einem ›stillen Beobachter‹. So beschreibt Caroline Corbetta Francesco Vezzoli als schüchternen Jungen, der in der Sticktechnik eine Kommunikationsform findet, mit deren Hilfe er seine Isolation überwindet. »[Francesco Vezzoli is] still a small town boy (…) who, as a sort of contemporary observer à la Proust, apparently cool, if not indifferent, but rather 73 Gledhill 1991, S. 200 74 Nicht nur die Regie und die Akteure vor der Kamera, sondern auch Arbeitsbereiche wie Maske und Ausstattung delegiert Francesco Vezzoli an ›Professionelle‹. Alle Beteiligten üben ihren Beruf aus, sie nehmen ihre ›originären‹ Aufgaben und Rollen ein, als würden sie eine Filmproduktion rekonstruieren. 75 Diven, die unter schwindendem Ruhm leiden und ihr privates Umfeld zur Bühne umfunktionieren, spielte Valentina Cortese bereits in La nuit américaine (Frankreich/ Italien 1972/73, dt. Die amerikanische Nacht, Regie: François Truffaut), La Ferdinanda. Sonate für eine Medici-Villa (BRD 1981, Regie: Rebecca Horn) und in Buster’s Bedroom (BRD/ Kanada/ Portugal 1990, Regie: Rebecca Horn). Vgl. Rebecca Horn. Filme 1978-1990 (Ausst.-Kat.), Kestner-Gesellschaft Hannover, 1991

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uncomfortable in reality, remains removed from the sparkling world that he is charmed by and afraid of at the same time.«76

Diese Übertragung, von Francesco Vezzoli durchaus unterstützt,77 führte zu seinem Image als »Hofsticker der Berühmten«,78 der privaten Obsessionen nachgeht und mittels der Sticktechnik versucht, Kontakt zu seinen Vorbildern aufzunehmen: »Needlepoint is a metaphor for all of my obsessions. My real obsession is to get closer to my icons, to appropriate them, to remake them.«79 Nicht zuletzt durch diese Nähe wird er inzwischen selber als Star oder ›Supernova‹ beschrieben, und inszeniert filmisch seine eigene (zukünftige) Biografie.80 Auch hierin folgt ihm die Kunstkritik, indem sie den melodramatischen Entwurf kurzerhand auf Francesco Vezzoli anwendet. So prophezeit beispielsweise Oliver Koerner von Gustorf: »Wenn Vezzoli nicht doch noch nach einer Orgie tot im Swimmingpool gefunden werden sollte, dürfte sein Lebensabend vorbestimmt sein. Er wird ihn wie Joan Crawford, Silvana Mangano und Edith Piaf verbringen: stickend.«81 Ich möchte neben dieser affirmativen Sicht auf einen reinszenierten Glamour, eine weitere Lesart vorschlagen, die Momente der Distanzierung fokussiert. Denn die Trilogie liefert eine Reihe von Enttäuschungen, die eine emotionale Beteiligung an der Filmhandlung desavouieren.

76 Corbetta, Caroline, Embroidered divas, in: nu: The Nordic Art Review, Nr. 6, Jg. 2, 2000, S. 50-54, hier S. 54 77 »I am present as a voyeur, like a little boy watching film history through movies featuring Iva Zanicchi, Franca Valeri, Helmut Berger, Marisa Berenson, Valentina Cortese, and Bianca Jagger (…).« Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 208 78 Musall 2006, S. 22 79 Vezzoli Interview 2003, S. 12 80 Francesco Vezzoli, Marlene Redux: A true Hollywood Story! (Part One), 2006, Video 15 Min, mit Ton, Sammlung Francois Pinault. Vgl. Francesco Vezzoli. A true Hollywood story! (Ausst.-Kat.), The Power Plant, Toronto 2007. Gustorf, Oliver Koerner von, ›Ich liebe es zu verführen‹. Diven am Rande des Nervenzusammenbruchs, in: monopol. Magazin für Kunst und Leben, Nr. 2, Jg. 3, Feb. 2007, S. 24-37 81 Gustorf, Oliver Koerner von, Die bitteren Tränen des Francesco V., in: Welt am Sonntag, 11.06.2006

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Ent-Täuschungen der Sehgewohnheiten Eine der häufigsten Methoden, intime Gefühle und Nähe zu vermitteln, bildet das Close-up. Wenn aber – wie im ersten Teil der Trilogie – der Abstand zur Kamera offensichtlich falsch gewählt, und nur die untere Gesichtshälfte der Sängerin im Bild ist, verhindert das nicht nur eine Identifizierung, sondern lässt die pathetische Darbietung lächerlich erscheinen. Auch die Totale schneidet teilweise den Kopf Iva Zanicchis ab. Die irritierenden Bildausschnitte dominieren den Beginn der Gesang-Performance, werden aber auf den Abbildungen der Ausstellungskataloge nicht dokumentiert. Nach etwa einer Minute wird der Versuch unternommen, die feste Kameraposition auf der Galerie des Salons zu verändern. Schließlich erhält Iva Zanicchi offensichtlich aus dem Off die Anweisung, ein Paar Schritte zurückzuweichen, was den Bildausschnitt korrigiert. Diese Aktionen können an Kamerawacklern, verunsicherten Blicken der Darstellerin und etwas unbeholfener Rückwärtsbewegung abgelesen werden, führten interessanterweise aber nicht zu einer Wiederholung der Einstellung. Bilder, die das Gesicht der Sängerin in Augenhöhe abschneiden, hinterlassen einen absurden Eindruck und verstärken das Scheitern der bemühten Inszenierung. Der Körper der Sängerin wird irritierend fragmentiert, in den zahlreichen Überblendungen löst er sich zudem immer wieder auf (Abb. 36). Franca Valeri ereilt durch diverse Spiegelbilder und hektischen Kamerafahrten im zweiten Teil der Trilogie ein ähnliches Schicksal. Diese Vervielfältigungen erschweren emotionale Anteilnahme, die die Wahrnehmung eines homogenen und intakten Körpers erfordert. »Der Körper im Kino ist immer der Körper, den das Kino produziert. Erst durch den kinematographischen Apparat wird der Leinwandkörper generiert; (…) Der Leinwandkörper ist zugleich einer (derjenige, den der einzelne Zuschauer sieht) und viele (es gibt ihn so zahlreich, wie es Filmkopien gibt); er ist zweidimensional (als Bild auf der Leinwand), erscheint aber dreidimensional; er hat eine Präsenz des unmittelbaren Hic et Nunc, doch diese ist im Prinzip jederzeit und an jedem Ort wiederholbar, so dass der Leinwandkörper nicht den Zwängen der materiellen Verortung eines Leibes unterliegt.« 82

Um diese illusionistische Wirkung von Unität und Präsenz zu erzielen, muss der kinematografische Apparat als Werkzeug unsichtbar bleiben. Die Trilogie dagegen inszeniert mit abrupten Kamerabewegungen, unge82 Weingarten, Susanne, Bodies of Evidence, Geschlechtsrepräsentationen von Hollywood-Stars, Marburg 2004, S. 51

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wohnten Einstellungen und Bildausschnitten einen aufgezeichneten, zweidimensionalen Körper. Zudem besteht das Video aus destillierten Darstellungskonventionen, die kaum in eine sich entwickelnde Narration eingefügt werden können. Entgegen der emotionalen Überwältigungsstrategien des melodramatischen Filmgenres verhindert die Trilogie jeden Versuch, in die Filmhandlung einzusteigen. Sie bietet keinen entsprechenden Plot an. Die einzige konstante Figur ist der Künstler, der wiederum durch seine versunkene Selbstbezogenheit nicht zur Identifikation einlädt. Der szenische Zusammenhang wird durch die Integration einer Randfigur, die sich offensichtlich in einer anderen räumlichen und zeitlichen Situation befindet, aufgehoben. Zugleich wird die Identifizierung mit den übrigen Leinwandkörpern erschwert, denn die Anwesenheit eines (wenn auch passiven) Zuschauers verweist die Ausstellungsbesucherinnen und –besucher auf ihre eigene Publikums-Funktion. Die videoimmanente Randposition Francesco Vezzolis sabotiert ein imaginäres Eintauchen in die Handlung. Während Hans Belting den Traumcharakter der Kinovorführung betont, bei der sich der ›Betrachter mit einer imaginären Situation identifiziert, als sei er selbst ins Bild geraten,‹83 verhindert in der Trilogie die tatsächliche Anwesenheit ›des Betrachters‹ diese identifikatorische Versenkung. Auch der Rückgriff auf antiquierte Stars und Darstellungskonventionen befördert eine distanzierte Haltung gegenüber den Protagonistinnen. Die zumindest aus heutiger Sicht überzeichneten Auftritte und das überladene Dekor lassen keine Illusion über die Glaubwürdigkeit der emotionalen Konflikte aufkommen. Vor allem durch historisch wechselnde Typen-Darstellungen84 wirken melodramatische Formen der Mimesis phrasenhaft. »(…) yesterday’s markers of sincerity and authenticity are 83 Vgl. Belting 2001, S. 75 84 So beschreibt beispielsweise Susanne Weingarten ein Paradigmenwechsel im Starentwurf, der Ende der 1970er Jahren einsetzte und eine Ablösung der ›idealen‹ durch die ›natürlichen‹ Stars des New Hollywood einleitete: »Hatte im klassischen Studio-System eine hermetische, gleichsam überzeitliche Inszenierung der Stars als ›Leinwandgötter‹ dafür gesorgt, dass diese jenseits gesellschaftlicher Entwicklungen zu stehen schienen, so umfasste die veränderte Definition der Stars im New Hollywood eben ihre Fähigkeit, diese Entwicklungen zu repräsentieren: sie mussten nun ›zeitgemäß‹ sein. Anders ausgedrückt: Stars wurden nicht mehr darüber definiert, dass sie ›ideal‹, sondern darüber, dass sie ›typisch‹ waren.« Weingarten 2004, S. 15f.

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Abb. 44: Deutschlandweiten Plakataktion der Wohlfahrtsverbände, 2004

today’s signs of hype and artifice. Nevertheless it is a powerful rhetoric so long as it is not perceived as a rhetoric.«85

Die Rhetorik der Sticktechnik 2004 appellierten die Wohlfahrtsverbände in einer deutschlandweiten Plakataktion für eine aktive Teilnahme an den Debatten um eine Neustrukturierung der Altersversorgung. Das eindringliche Motiv der Plakate zeigte einen Stickrahmen, auf dem zwei deutlich gealterte Hände in unsicherem Kreuzstich das Wort HILFE stickten (Abb. 44). Der darunter gedruckte Satz begann mit der Aufforderung: ›Schweigen Sie nicht (…)‹. Vor allem die unbeholfene Art dieser stummen und darin bewegenden Artikulation sollte die mangelnde Präsenz des Themas Altenpflege in der öffentlichen Debatte visualisieren. Dass hierfür die Sticktechnik als geeignetes Sujet erschien, lässt Rückschlüsse auf ihr Image zu. Als altmodische Tätigkeit suggeriert sie eine stille, weltabgewandte Haltung und dient dazu, einen – nicht immer freiwilligen – Rückzug ins Private in Szene zu setzen. Die motivischen Entsprechungen in der Trilogie, das Alter und die kommunikative Unsicherheit der Protagonistinnen sowie die Sticktechnik als medialer Vermittler, lassen anschaulich werden, welche Rolle Dagegen greift Francesco Vezzoli mit der Auswahl der Interpretinnen auf den ›idealen‹ Starentwurf zurück. 85 Dyer, Richard, A star is born and the construction of authenticity, in: Stardom. Industry of desire, Christine Gledhill (Hg.), London 2003, S. 132-140, hier S. 137

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der Technik in Francesco Vezzolis Video zukommt. Weitgehend im Sinne der traditionellen Konnotationen nutzt er die Arbeitsweise zu Memorialzwecken, zur Herstellung von Devotionalien und zur Kennzeichnung des privaten Rückzugsraums. Der repetitive Gestus erweist sich als geeignet, die wiederholende Vergegenwärtigung von Vergangenem zu symbolisieren. Dabei werden nicht nur die Erinnerung verfestigt, der hinterlassene Eindruck vertieft, sondern auch verschiedene Raum-Zeit-Konstellationen miteinander verbunden. »So, if I really have to find a definition for myself, I want to be a directorembroiderer, especially because in the history of the cinema everything has already been done: embroidery serves to pick up the threads of what has already been done in order to keep different images and personalities together and give them a new form.« 86

Neben diesem Berufswunsch als Regie-Sticker versteht sich Francesco Vezzoli auch als Cutter.87 Die Bildmontage bietet sich als formale Parallele zwischen seiner künstlerischen Praxis und der Filmgenese an. Die Bearbeitung der aufgenommenen Szenen, ihre Sortierung und Arrangierung erfolgt beim Film bekanntlich im Anschluss an die Dreharbeiten im Schnittraum. Francesco Vezzoli greift ebenfalls auf ein Konglomerat von Szenen und Fotografien zurück, die er reinszeniert und neuarrangiert. Die Sticktechnik ermöglicht intradiegetisch die simultane Inszenierung von öffentlichem Bühnenraum und privatem Rückzugsort. Francesco Vezzoli wird zum Mediator zwischen der glamourösen Filmwelt und ihrer Rezeption. Darüber hinaus behauptet er einen extradiegetischen Zusammenhang von Stickereien und Startum. Er versucht, die introvertierte Handarbeit als strukturelle Begleiterscheinung des Starprinzips zu installieren. »I read up about this secret practice of the actresses in the handbooks (…).«88 Wie in einer Enthüllungsgeschichte scheint der Künstler einem 86 Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 183 87 »I feel as if I’m the editor of the visual language. In my opinion, the editor today has a precise role: he has the mixer and he mixes. I feel as if I’m a remixer, a masterizer of languages.« Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 104 88 Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 30. Publikationen, auf die sich Francesco Vezzoli in seinen Recherchen stützt und aus denen u.a. die Beispiele für berühmte StickerInnen entnommen wurden, sind: Scobey, Joan und Lee Parr McGrath, Celebrity Needlepoint, New York 1972. Grier, Rosey, Needlepoint for men, 1973.

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heimlichen Hobby der Stars auf die Spur gekommen zu sein. Vielleicht ist es sogar diese Beschäftigung – so wird suggeriert – die die Existenz im Rampenlicht nicht nur begleitet, sondern überhaupt erst ermöglicht, da sie Phasen der Regeneration bereitstellt. »When I met [Brigid] Berlin, and she said that if she didn’t embroider twelve hours a day she went crazy, I realized my theory had been confirmed.«89 Sticken bildet hier geradezu die Kehrseite der Glamourwelt. Die Videoarbeit An embroidered Trilogy präsentiert Mario Praz, Silvana Mangano und Valentina Cortese als begeisterte Stickerinnen und Sticker, die in dieser Beschäftigung einen meditativen Ausgleich zu ihrem Berufsleben sahen. »The relationship between cinema and embroidery is perhaps the most fascination thing that I discovered in my work. My videos are sort of parallel encyclopaedia of the history of the cinema: it’s sufficient to do a bit of research into the private lives of the actors and stars and you immediately realize that embroidery is the private counterpart of the star system. Many stars have found an opportunity for privacy and meditation in embroidery.«90

Dass sich diese Entdeckung des Künstlers kaum verifizieren lassen dürfte, ist nicht die einzige Enttäuschung, die sich hier einstellt. Auch die Sehnsucht, über den Umweg der Sticktechnik einen tieferen Einblick in das Privatleben der Stars zu erhalten, bleibt ungestillt, handelt es sich doch offensichtlich um eine wirksame Zur-Schaustellung von Privatheit und damit um eine weitere Facette des Starentwurfs. Ein zentrales Problem bei der medialen Repräsentation von Stars liegt in dem Spannungsfeld zwischen der Vermittlung von Glaubwürdigkeit bei permanenter Inszenierung. Die Sticktechnik befindet sich in einem vergleichbaren Dilemma. Als langsame und intensivierende Arbeitsweise transportiert sie Authentizität. Dieses Image ist in der Trilogie ebenso leicht zu ›durchschauen‹ wie die Showeinlagen der Protagonistinnen. Der Grund für die aufkommenden Zweifel liegt – neben den geschilderten irritierenden Aspekten der filmischen Umsetzung – in der Besetzung der Rolle der Stickerin. Während eine handarbeitende Frau auf einem Sofa lediglich die Neuauflage eines vertrauten Motivs bedeuten würde, stört ein männlicher Akteur die Homogenität der Inszenierung. Er demonstriert in seiner nachlässigen Körperhaltung – noch dazu, wenn er ein Motorrad als Sitzgelegenheit wählt – einen despektierlichen Umgang mit den tra89 Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 31 90 Vezzoli 2004 (Ausst.-Kat.), S. 57

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ditionellen Konventionen von Handarbeit. Zahlreiche Unterweisungen in textilen Techniken betonen die körperdisziplinierende Akkuratesse, auf die bei den Arbeiten zu achten sei. Thérèse de Dillmont empfiehlt zu diesem Thema: »Welcher Art die Arbeit auch sei, achte man sorgsamst auf gerade Haltung des Oberkörpers. Langjährige Erfahrung ermächtigt mich zu behaupten, dass es keine Näherei, Stickerei oder Strickerei giebt, welche eine schiefe oder gar krumme Haltung des Oberkörpers bedingt. Um solche Fehler zu vermeiden, müssen Stuhl und Tisch im richtigen Höhenverhältnis sein: die Hände hingegen haben die Arbeit genügend zu heben, dass der Kopf in gerader Lage bleibt oder sich höchstens leicht nach vorne neigt. Niemals aber hefte man den Stoff an das Knie, es ist ebenso unschön als ungesund.«91

Solche Arbeitsanweisungen ignorierend verleiht sich Francesco Vezzoli einen ironisch provokativen Duktus. Er wählt mit dem Stickrahmen ein häuslich-biederes Requisit und erklärt ihn zur glamourösen Standardausstattung in der Welt der Stars.

DISKRETE CODES BEI DELAWARE Gewebemetaphoriken sind in poststrukturalistischen Literaturtheorien ein beliebtes Motiv zur Veranschaulichung einer veränderten Haltung gegenüber der Produktion und Reproduktion von Texten und Diskursformationen. Die Strukturen des Webens scheinen geeignet, eine nicht-lineare, flexible und räumliche Ausbreitung der Narration zu umschreiben, bei der verschiedene, sich vielfach kreuzende und verzweigende Erzählstränge diverse Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten in die Diskurse bereitstellen. Die Vorstellung, dass »die Produktion des Textes ein perpetueller Prozess [ist], in dem sich das traditionelle Verhältnis von produzierendem Autor und konsumierendem Leser auflöst«,92 war prädestiniert, nachfolgend auch Funktionsweisen des Hypertextes zu erklären. Mit der Instanz der Userin bzw. des Users verflüchtigt sich allmählich die Differenz zwischen Produktion und Konsum, zwischen Sendung und Empfang von Informationen. Die Tendenz des Hypertextes

91 Dillmont, Thérèse de, Enzyklopädie der weiblichen Handarbeiten [1893], Holzminden 1996, S. 1f

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zur Entlinearisierung, sein Potential zur Infinität und sein synästhetischer und variabler Charakter bieten weitere Anknüpfungspunkte für poststrukturalistische Analysemodelle. Olaf Eigenbrodt hat in diesem Zusammenhang einschränkend hervorgehoben, dass Hypertext und Literaturtheorie in einem modellhaften Ähnlichkeitsverhältnis stehen, wobei neben vergleichbaren Strukturen auch Grenzen benannt werden müssen. So könne der elektronische Text nicht als eine Verwirklichung der Forderung nach Dekonstruktion der Autorität von Text und Autor betrachtet werden. »Die Konvergenzthese wird (...) dahingehend modifiziert, dass poststrukturalistische Theoriebildung für eine Theorie des Hypertextes ein Modell bilden kann, im elektronischen Text jedoch nicht abgebildet wird. Das Netz des elektronischen Textes entspricht eben nicht dem Textgewebe. Beide textilen Metaphern werden aber in der Hypertextualität einander angenähert.«93

Interessanterweise beschränken sich Gewebemetaphoriken nicht nur auf den Bereich des Hypertextes. Sie werden seit den 1990er Jahren zunehmend in der Beschreibung feministischer Aneignungsstrategien genutzt94 und sind inzwischen fester Bestandteil der digitalen Ursprungsmythologie.95 So beschreibt Birgit Schneider eine ganz Reihe von Ähnlichkeitsstrukturen zwischen textilen und digitalen Medien: 92 Eigenbrodt, Olaf, Textnetze – Netztexte. Zur Gewebemetaphorik in poststrukturalistischer Literaturtheorie und Hypertexttheorie, in: Bewegung – Sprache – Materialität. Kulturelle Manifestationen des Textilen, Gabriele Mentges und Heide Nixdorff (Hg.), Dortmund 2003, S. 89-183, hier S. 110 93 Eigenbrodt 2003, S. 165 94 Vgl. Wakeford, Nina, Networking Women and d Grrrls with Information/Communication Technology: Surfing Tales of the World Wide Web, in: Processed Lives. Gender and Technology in Everyday Life, Jennifer Terry und Melodie Calvert (Hg.), London 1997, S. 51-66. Armstrong, Jayne, Web Grrrls, Guerilla Taktiken. Junge Feminismen im Web [2004], in: Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation, Karin Bruns und Ramón Reichert (Hg.), Bielefeld 2007, S. 371-383. Craftista Crafting Circle (Hg.), Craftista! Handarbeit als Aktivismus, erscheint August 2010 im Ventil Verlag, Mainz 95 Die zu dieser Thematik hervorstechende Publikation Sadie Plants, Nullen + Einsen. Digitale Frauen und die Kultur der neuen Technologien, Berlin 1998 sei an dieser Stelle erwähnt. Ich werde mich allerdings nicht auf sie beziehen, da die Autorin auf eine stringente Argumentationsweise verzichtet und im wesentlichen eine Anekdotensammlung mit beliebig erscheinendem

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»Das Textile findet sich im Digitalen wieder, in seinen Konzepten ebenso wie in seinen Techniken. Die Materialität der Speicher war lange von gewebeartigem Aufbau gekennzeichnet, im Chipdesign sowie in der Hardware der Speicherstrukturen setzt sich die Konnotation der Linie fort. Dass tabellarische Anordnungen durch Maschinen in der modernen Auffassung von ›Programm‹ verarbeitet werden können, war mit dem Einsatz von Lochkarten in Musterwebstühlen sowie von Stiftwalzen in Glockenspielen und Musikautomaten spätestens seit dem 18. Jahrhundert umgesetzt. Auch in der theoretischen Konzeption der universellen Maschine durch Alan Turing spielte die zeilenund spaltenweise Ordnung des Textilen die Schlüsselrolle.« 96

In solchen durchaus plausiblen Parallelisierungen von Gewebestrukturen und digitalen Ordnungen finden sich häufig verallgemeinernde Sprechweisen hinsichtlich der textilen Techniken. Wenn über ›textile Ordnungen‹ oder die ›Gewebemetaphorik‹ gesprochen wird, ist in erster Linie die Webtechnik gemeint. Die Analogien von Webstuhl/Gewebe und Computer/Netzwerk/Internet liegen auf der Hand,97 betreffen aber nicht automatisch auch das Nähen, Stricken oder Sticken. So stellt die Sticktechnik entgegen der meisten textilen Produktionsweisen kein Gewebe her, das sich flächig ausbreitet und ›vernetzt‹. Vielmehr bildet ein solches Gewebe zumeist den Träger für Stickereien, durch die Farbe und Formen in das Textil eingearbeitet werden. Trotzdem finden sich auch bezogen auf die Sticktechnik interessante Korrelationen von analogen und digitalen Zeichen, sobald über die Codierung und den diskreten Charakter digitaler Bilder nachgedacht wird: Arrangement liefert. In diesem Zusammenhang treffende Rezensionen wurden verfasst von Heide Palmer und agent 1. Palmer, Heide, Vom Webstuhl zum World Wide Web, in: Querelles-Net. Rezensionszeitschrift für Frauen- und Geschlechterforschung, Nr. 9, März 2003, URL: http://www.querelles-net. de/2003-9/text02.htm, 18.04.2010. agent 1, Vorsprung durch Technik. Oder warum Sadie Plants postfeministischer Social-Fiction ›Nullen und Einsen‹ trotz des hübschen Covers schwer zu ertragen ist, in: blau. Femzine aus Berlin, Nr. 19, URL: http://www.txt.de/blau/blau19/plant.htm, 18.04.2010 96 Schneider, Birgit, Diagramme und bildtextile Ordnung, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Diagramme und bildtextile Ordnungen, Bd. 3.1, Birgit Schneider (Hg.), Berlin 2005, S. 9-19, hier S. 19 97 Vgl. Bergermann, Ulrike, Nach Strich und Faden. Frauen, Weben, Computer und Jhane Barnes, in: Um-Ordnung. Angewandte Künste und Geschlecht in der Moderne, Bischoff, Cordula und Christina Threuter (Hg.), Marburg 1999, S. 118-130

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»Mit dem digitalen Bild verbinden wir die Vorstellung eines gefärbten regelmäßigen Rasters wie beim Fernsehbildschirm. Sehr kleine Rechtecke – vielleicht nur Bruchteile eines Millimeters groß und technisch weiter schrumpfend bis hin zum Verschwinden der sichtbaren Körnigkeit – werden beim Rasterbild zu Trägern des Farbauftrages. Innerhalb eines solchen gefärbten RasterRechtecks (›Pixel‹ genannt) kann sich, technisch bedingt, der Farbauftrag nicht ändern. Die Farben sind durch Zahlen codiert, ebenso wie die Positionen der Pixel. In solcher Codierung entdecken wir den Kern der Digitalität.« 98

Die diskrete Anordnung von Punkten bildet eine Analogie in der Generierung von digitalen und gestickten Bildern.99 Denn das diskrete Raster ist auch logische Struktur von Stickereien. Vor allem die weit verbreitete Kreuzstichstickerei ist ebenso wie die Rastergrafik in Spalten und Reihen organisiert. Es überrascht daher nicht, dass traditionelle Kreuzstichmotive in die grafische Gestaltung überführt werden. »When I saw the cross-stitch for the first time, I thought it is a no-digital bitmap graphic. They are the same in the point of showing image as enumeration of dots.«100 Dieses Ähnlichkeitsverhältnis, das zu dem ›Versehen‹ des Grafikers und Musikers Masato Samata führte, resultiert aus Bildaufbau und Farbeinsatz. Wie beim digitalen Bild setzen sich auch Figuren und Ornamente der Kreuzstichstickerei aus quadratischen Grundflächen zusammen. Die richtige Fadenstärke sorgt dafür, dass ein Fadenkreuz jeweils ein Stoffquadrat gänzlich mit Farbe überdeckt. Dieser Bildaufbau ist Ausgangspunkt für einen spezifischen Grafikstil, mit dem Delaware, eine von Masato Samata gegründete KünstlerInnengruppe,

98 Grabowski, Susanne und Frieder Nake, Zwei Weisen, das Computerbild zu betrachten. Ansicht des Analogen und Digitalen, in: Hyperkult II. Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen und Martin Warnke (Hg.), Bielefeld 2005, S. 123-149, hier S. 126 99 Interessanter Weise deutet das polyseme Adjektiv ›diskret‹ hier auch eine symbolische Verbindung zwischen digitalem Bildaufbau und der Sticktechnik an. Das Sticken wurde – wie bereits ausgeführt – seit der Moderne als angemessene und ›diskrete‹ Beschäftigung für Frauen angesehen, die ihre Handarbeit als Rückzugsmöglichkeit in Gesellschaft nutzen sollten. Vgl. hier das Kapitel Die Stickerin als Leitbild des bürgerlichen Interieurs. Ferner: LadjTeichmann 1983, S. 209f 100 Mail-Auskunft von Masato Samata an die Verfasserin, 20.09.2006

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nicht nur im Designfeld Aufmerksamkeit erzeugt,101 sondern auch im Kunstbetrieb auftritt.102 In ihren Bitmap-Grafiken werden Figuren, Gegenstände und Wörter aus diversen, rasterförmig sortierten Zeichen generiert. Sie erinnern damit vor allem an Stickmustervorlagen, bei denen zumeist liegende Kreuze auf kariertem Papier die Position einzelner Stiche markieren. Weitere geometrische Formen oder Buchstaben übernehmen die Darstellung unterschiedlicher Farben. In diesen Zeichenakkumulationen liegt die Parallele zu den Grafiken Delawares.103 Unabhängig von Materialität, Arbeitsinstrument und Produktionsprozess zitiert die Gruppe Stickerei-Sampler und stellt dadurch ein Brückenschlag zu ihrer Musik her, die ebenfalls aus elektronischen Sampling- und Montageverfahren komponiert und synästhetisch präsentiert wird. Ich werde im Folgenden zunächst diese Arbeitsweise detaillierter vorstellen, um anschließend die diskrete Struktur ihrer digitalen Grafiken und das sich hierin ausdrückende Verwandtschaftsverhältnis zu Stickereien zu analysieren.

Delaware_4_designs-rocks_and_rocks-designs Musikalben, Konzerte, Ausstellungen, Lectures, Werbegrafiken oder Bitmap-Grafiken für Mobiltelefone sind Beispiele der künstlerischen Produktpalette Delawares. Dabei inszeniert die Gruppe vor allem Überschneidungen und Kompilationen ihrer zentralen Ausdrucksfelder Grafikdesign und Musik. So sind Ausstellungen ihrer Grafiken häufig von Live-Auftritten begleitet, bei denen wiederum großflächige Projektionen ihrer Visuals den Bühnenraum bestimmen. In Publikationen und bei Interviews zitieren sie fast ausschließlich eigene Liedtexte, um ihre Bilder zu erläutern, und umgekehrt werden

101 Vgl. O’Donnell, Timothy, Sketch Book. Conceptual drawings from the world’s most influential designers, Rockport 2009, S. 128f 102 Sie waren unter anderem beteiligt an den Ausstellungen: Buzz Club. News from Japan, P.S.1/ MoMA, New York 2001. Virtual Frame by 3 (Ausst.-Kat.), Kunsthalle, Wien 2004. D-Day. Modern-Day Design (Ausst.-Kat.), Centre Georges Pompidou, Paris 2005 103 Vgl. Wagner, Wieland, Schöner Schonen. Kreuzstich, Flachstich, Kettstich – der Japaner Masato Samata stickt Bilder fürs Mobiltelefon, in: Spiegel, Nr. 11, 2002, S. 12-15

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Musikstücke mit Grafiken verlinkt.104 Mobiltelefone avancieren zu Ausstellungsflächen105 und aus Handy-Ruftönen werden Musikstücke komponiert.106 Verschiedentlich hat Delaware die synästhetische und korporative Praxis zur Grundlage ihres Kreationsprozesses erklärt: »Aya Honda, Morhiro +ajiri, Yoshiki Wa+anabe, Masa+o Sama+a, all four persons compose music, and sings. Gra phic design is also rela+ed for all four persons in a cer+ain form. Four persons’ feeling, +echnology, humor, ego, condi+ion/feeling a+ +ha+ +ime, e+c... were blended in various forms, and Delaware is ma+erialized.«107

Gefühl und Technologie, Humor und Individualität aus diesen Zutaten materialisiert sich – laut Eigendarstellung – die japanische KünstlerInnengruppe Delaware.108 Mit ihrer breiten und sich verzweigenden künstlerischen Praxis bewegt sich Delaware querfeldein

104 Vgl. Designin’ in the rain. Delaware (Ausst.-Kat.), RAS Gallery, Barcelona 2004. Dieser Publikation ist eine CD beigefügt, die jedes Lied in einer ShockwaveDatei visualisiert. Auch auf ihrer Website werden Musik und Bilder häufig in Shockwave-Dateien zusammengefasst präsentiert. 105 Vgl. URL: http://www.delaware.gr.jp/contents/expo/3gsm/3gsm.html, 18.04.2010 106 Vgl. Album: AMEN (2004), Label: Actar 107 URL: http://www.delaware.gr.jp/TEXT/txt_area_interview.html, 17.11.2009. Bei diesem und allen folgenden Textzitaten der Webpräsenz Delawares übernehme ich ihre Typografie, der ein ikonisches Zeichenverständnis zugrunde liegt, das vielfach Bezüge zum digitalen Raster und zum digitalen Code herstellt. Für eine ausführliche Beschreibung dieser Typografie vgl. hier das Kapitel Diskrete Codes bei Delaware. Wenn das Zeichen Programm wird. Um das Lesen der Zitate und Grafiktitel zu erleichtern, sei vorab darauf hingewiesen, dass Delaware den Buchstaben t durch das Additionszeichen + ersetzt und den Vokal o häufig mit der Ziffer 0 vertauscht. 108 Unter den Gruppenmitgliedern werden funktionale Differenzierungen vermieden. Ich spreche daher im Folgenden von Delaware, ohne individuelle Autorschaften zu benennen. Erwähnt sei allerdings, dass die Gruppe 1993 von Masato Samata initiiert wurde, Aya Honda und Morihiro Tajiri 1995, Hiroshi Okamura 2007 hinzu kamen. Außerdem gehörten Ten (1997-2001) und Yoshiki Watanabe (2002-2007) zu den Gruppenmitgliedern. Vgl. URL: http://www.delaware.gr.jp/profile/profile.html, 18.04.2010

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zwischen »Software-Nippes« produzierenden »Datendandies«109 und den selbst-unternehmerischen Kreativsubjekten, die Andreas Reckwitz als wesentliche Subjektform der Postmoderne beschreibt.110 In engerer Fokussierung des Kunstbetriebs spricht Stefan Römer bei vergleichbaren KünstlerInnengruppen von korporativen Künstlersubjekten, die keine politisch-kritische Zielrichtung verfolgen, sondern einen individuellen Lifestyle herzustellen versuchen. In einer Reihe von Künstlermodellen hebt er diejenigen Praktiken hervor, »die sich personell und situativ überschneiden: die (Daten-)Dandies als durch persönlichen Stil und irrationales Geschmacksurteil differenzierte SubjektproduzentInnen, Culturepreneurs als KulturproduzentInnen oder KulturmanagerInnen, DJs als diejenigen, die Mixturen von kulturellen Fragmenten anfertigen, die PolitaktivistInnen, die versuchen, politische Inhalte mit variablen Taktiken oder Strategien zu veröffentlichen; die HackerInnen und DecoderInnen, die mit einem bestimmten informatischen Wissen versuchen, die Strukturen der Computernetzwerke zu recodieren; dazu kommen noch die Kollektive, die ihre Prozesse der gemeinschaftlichen Produktion selbst als Inhalt von kultureller Arbeit begreifen.«111

Die Computertechnologie verbindet diese unterschiedlichen Positionen. Sie wird zum ersten Arbeitsinstrument und befördert synästhetische Resultate. Denn die Bearbeitung von Text, Bild und Ton in einem Gerät begünstigt künstlerische Praktiken, die diese Bereiche miteinander verknüpfen. Stefan Römer beobachtet durch die Expansionen in Musik- und Designfelder auch die Entstehung eines spezifisches Imagemodells, bei dem künstlerische Produktion und Distribution im ›computerorientierten Team‹, in ›schönem und intelligentem Ambiente‹ organisiert sei.112 Diese Analyse 109 Agentur Bilwet, Der Datendandy [1995], in: Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation, Karin Bruns und Ramón Reichert (Hg.), Bielefeld 2007, S. 345-349, hier S. 346 110 Vgl. Reckwitz, Andreas, Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 248-251 und 254-257 111 Römer, Stefan, Natürlich wollen wir alle reich, schön und berühmt sein. Vom Originalgenie und der Legende des Künstlers über die Kritik der Autorschaft zum kulturellen coding, in: Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, Martin Hellmold, Sabine Kampmann, Ralph Lindner und Katharina Sykora (Hg.), München 2003, S. 243-272, hier S. 270 112 Vgl. Römer 2003, S. 243f

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Abb. 45: Delaware, weeKLy_c0veR#174/o7o2o5, 07.02.2005

entspringt nicht zuletzt seiner Eigenwahrnehmung. Er beansprucht für sich selbst durchaus diverse Profile, die er in wechselnden Zusammenhängen variabel in den Vordergrund rückt. Wahlweise stellt sich Stefan Römer als Künstler, Entertainer oder Theoretiker vor und entwickelt eine kitschig überzeichnete Vision idealer Arbeitszusammenhänge in der visuellen Industrie:113 »Ich stelle mir vor, dass meine Fans nur in einem Servicecenter anzurufen brauchen: Nette junge Damen nehmen die Wünsche entgegen und veranlassen, dass meine neuesten Veröffentlichungen unverzüglich zugesandt werden – aufwendig produzierte Katalogbücher, vierfarbige Leporellos, Videos und CDs werden von einem privaten Zustellservice an jeden Ort gebracht.«114

In dieser Darstellung ›phantastischer‹ Arbeitsbedingungen sehe ich eine aktuelle Variante des begehrenswerten Sonderstatus, der seit der Moderne stets für das Role-Model ›Künstler‹ eingeräumt wurde. Die Website der Gruppe Delaware zeigt einen realen Ausschnitt dieses Entwurfs. Ähnlich dem von Stefan Römer imaginierten ›Servicecenter‹ ist der Internet-Auftritt die zentrale Präsentations-, Dokumentations- und Distributionsplattform der Gruppe. Zudem bestehen hier ideale Bedin113 Vgl. Graw, Isabelle, Kunst, Mark, Mode. Prinzip celebrity. Porträt des Künstlers in der visuellen Industrie, in: Lettre International, 2006, Nr. 74, S. 44-49 114 Römer 2003, S. 244

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gungen zur synästhetischen Rezeption der audio-visuellen Arbeiten. Die Intermedialität des Internets gestattet es, Musik zu hören und sich gleichzeitig durch Delawares Profil, Interviews, Liedtexte, Grafiken, Visuals oder Live-Mitschnitte der Konzerte zu klicken. Ihre Website ist in Form eines Archivs aufgebaut, das Events, Ausstellungen, Konzerte und Publikationen erfasst und ihre neuesten Aktivitäten auf dem ›Cover‹ hervorhebt (Abb. 45). Die Seite gliedert sich in verschiedene Verzeichnisse, die in Reaktion auf neue Produkte und Präsentationsforen laufend aktualisiert werden. Bis 2009 ordneten sie ihre Produktpalette in folgende Sparten: »s0uNd * viSi0N * s0UNdviSi0N * +EX+ * SUº/H  GL6FJU$SK