Theater als Zeitmaschine: Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven [1. Aufl.] 9783839419762

Das Theater ist eine Zeitmaschine, durch die Gegenwart und Vergangenheit miteinander in Beziehung treten. Seit der Jahrt

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German Pages 264 Year 2014

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Inhalt
Nicht hier, nicht jetzt. Einleitung
Die Wiederholung als Ereignis. Reenactment als Aneignung von Geschichte
Geschichte wird nachgemacht. Serie Deutschland von Hofmann&Lindholm und Deutschland 2 von Rimini Protokoll als künstlerische Reenactments
Die seltsame Kraft der Wiederholung. Zur Ästhetik des Reenactments
Mythos Ereignis – Mythos Aufführung. Künstlerische Reenactments als Entmythisierungsverfahren
Seven Easy Pieces, oder von der Kunst, die Geschichte der Performance Art zu schreiben
Bilder in Bewegung bringen. Zum Reenactment als politischer und choreographischer Praxis
Reenactment als dokumentarisches Narrativ. Hybride Darstellungsverfahren im Dokumentarfilm der 30er und 40er Jahre
Revision und Reenactment. In the King of Prussia (1983)
Suspendierte Historizität. Zum filmischen Wiederholen von Geschichte in S-21, La machine de mort Khmère rouge und Hamburger Lektionen
Reenactments als Freilufttheater und Gedenkort
Reenactment und Ritualisierung. Formen der Wiederholung in politischen Bewegungen
Re: Enactment. Geschichtstheater in Zeiten der Geschichtslosigkeit
Autorinnen und Autoren
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Theater als Zeitmaschine: Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven [1. Aufl.]
 9783839419762

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Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.) Theater als Zeitmaschine

Theater | Band 45

Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.)

Theater als Zeitmaschine Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Andreas Hartmann Lektorat: Jens Roselt, Ulf Otto Satz: Felix Worpenberg, Marten Flegel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1976-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Nicht hier, nicht jetzt. Einleitung

Jens Roselt / Ulf Otto | 7 Die Wiederholung als Ereignis. Reenactment als Aneignung von Geschichte

Erika Fischer-Lichte | 13 Geschichte wird nachgemacht. Serie Deutschland von Hofmann&Lindholm und Deutschland 2 von Rimini Protokoll als künstlerische Reenactments

Jens Roselt | 53 Die seltsame Kraft der Wiederholung. Zur Ästhetik des Reenactments

Milo Rau | 71 Mythos Ereignis – Mythos Aufführung. Künstlerische Reenactments als Entmythisierungsverfahren

Nina Tecklenburg | 79 Seven Easy Pieces, oder von der Kunst, die Geschichte der Performance Art zu schreiben

Sandra Umathum | 101 Bilder in Bewegung bringen. Zum Reenactment als politischer und choreographischer Praxis

Annemarie Matzke | 125

Reenactment als dokumentarisches Narrativ. Hybride Darstellungsverfahren im Dokumentarfilm der 30er und 40er Jahre

Volker Wortmann | 139 Revision und Reenactment. In the King of Prussia (1983)

Stefanie Diekmann | 155 Suspendierte Historizität. Zum filmischen Wiederholen von Geschichte in S-21, La machine de mort Khmère rouge und Hamburger Lektionen

Simon Rothöhler | 175 Reenactments als Freilufttheater und Gedenkort

Wolfgang Hochbruck | 189 Reenactment und Ritualisierung. Formen der Wiederholung in politischen Bewegungen

Matthias Warstat | 213 Re: Enactment. Geschichtstheater in Zeiten der Geschichtslosigkeit

Ulf Otto | 229 Autorinnen und Autoren | 255

Nicht hier, nicht jetzt Einleitung J ENS R OSELT / U LF O TTO

Als 2001 in Orgreave, Süd-Yorkshire, streikende Bergarbeiter noch einmal auf berittene Polizei trafen, wurde Geschichte nicht nur wiederholt, sondern auch neu geschrieben. Das Nachstellen des gewaltsamen Konfliktes mit hunderten Statisten am Originalschauplatz bezog sich nicht nur auf die Berichterstattung von damals, sondern wurde selbst zu einem Medienereignis, das den Blick auf die Geschehnisse aus dem Jahr 1984 neu geprägt hat. Dieses als Reenactment bezeichnete Nachstellen historischer Ereignisse durch Laiendarsteller an historischen Schauplätzen, das der britische Künstler Jeremy Deller für seine Auseinandersetzung mit der britischen Geschichte einsetzte, war aber 2001 nichts Neues. Ausgehend von der Hundertjahrfeier des amerikanischen Bürgerkriegs hat sich das Nachspielen historischer Schlachten vor Ort und in Originalkostümen in den 1960er Jahren als Hobby etabliert. Die Wurzeln dieses Vergnügens lassen sich einerseits in die Vereinskultur des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen, und führen andererseits zu den machtpolitischen Spektakeln der kollektiven Reinszenierung gewaltsamer Konflikte zurück, wie sie vor allen Dingen in und zwischen den beiden großen Revolutionen von 1789 und 1905 kultiviert wurden. Aber auch jenseits dieser Linien lassen sich in vielen kulturellen Feldern und historischen Epochen inszenatorische Strategien des Reenactments aufspüren, die historische Ereignisse in ästhetische verwandeln, und dabei zwischen der Einmaligkeit der Aufführungssituation und ihrer medialen Reinszenierung eine eigentümliche Spannung entstehen lassen. Jeremy Dellers The Battle of Orgreave steht in dieser Tradition und markiert zugleich eine neue Tendenz, das Volksvergnügen als künstlerische

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Aktion zu begreifen, die seit Anfang des Jahrtausends das Reenactment immer häufiger als Thema und Topos in den Künsten auftauchen lässt. So wiederholte Marina Abramoviü 2005 mit Seven Easy Pieces Klassiker der Performance-Art, das Living Theatre nahm 2007 mit The Brig seine legendäre Inszenierung aus dem Jahr 1963 wieder auf, die Wooster Group brachte im gleichen Jahr mit Hamlet die Aufzeichnung einer Inszenierung aus dem Jahr 1964 auf die Bühne und die Performancegruppe Gob Squad reinszenierte mit Kitchen 2008 an der Volksbühne die frühen Filme Andy Warhols – um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Aktionen haben sich selbst als Reenactment annonciert oder sind von Interpreten als solche tituliert worden. Der Begriff Reenactment wurde auf vielfältige Weise aufgegriffen, gewendet und weitergereicht. Seine Kontur ist dadurch nicht eben schärfer geworden. Eine ausschließliche verbindliche Definition gibt es nicht und der vorliegende Band strebt auch nicht an eine solche zu formulieren. Vielmehr wird die besondere Leistung des Begriffs gerade darin gesehen, bestehende hegemoniale kunst- und kulturwissenschaftliche Diskurse zu enthierarchisieren und dabei sowohl kategoriale als auch disziplinäre Grenzen munter zu ignorieren. Denn, wie immer sich das Reenactment auf den Begriff bringen lässt, es vollführt meist einen Kurzschluss von populärer Volkskultur und avancierter Kunstpraxis. Es gibt sich als Spektakel zu erkennen, das sich der affirmativen Teilhabe von Dilettanten öffnet, und zugleich als verfremdetes Geschehen erfahren werden kann, dass eine distanzierte und reflektierte Rezeption provoziert. Es erscheint deshalb sinnvoll, das Reenactment als künstlerisches Verfahren gerade von seiner Fragwürdigkeit her zu entwickeln und der Versuchung vorschneller Genre-Definitionen zu widerstehen. Der Band versammelt daher ein auf den ersten Blick disparates Feld von Aufführungsformaten, die unterschiedlichen historischen Phasen entstammen, diverse ästhetische Kontexte aufrufen und durch vielfältige soziale und mediale Praktiken hervorgebracht wurden. Erika Fischer-Lichte skizziert in ihrem Beitrag die Traditionslinien der verkörpernden Vergegenwärtigung des Vergangenen anhand von vier historischen Beispielen aus dem Kontext von Heilsgeschichte, National- und Revolutionsgeschichte sowie Kunstgeschichte. Daran anschließend umreißt Jens Roselts Beitrag die Ambivalenz, Reflexivität und Sinnlichkeit des Nachstellens deutscher Geschichte, wenn er die Arbeiten Serie Deutschland von Hofmann&Lindholm

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(2008-10) und Deutschland 2 von Rimini Protokoll (2002) auf ihre performative Aneignung der Medien hin untersucht. Milo Rau reflektiert aus der Regieposition (Die letzten Tage der Ceausescus, Hate Radio) den veränderten Maßstab eines an Recherche und Reinszenierung orientierten Produk– tionsprozesses, der es darauf anlegt, dass die Inszenierung nicht nur stimmig ist, sondern auch stimmt. Nina Tecklenburg untersucht anhand von Gob Squads Kitchen (2007) und Boryana Rossas The Vitruvian Body (2009) die Spannungen zwischen Ereignishaftigkeit und medialer Reproduktion in Kunst und Theoriebildung. Sandra Umathum verortet die Auseinandersetzung mit Marina Abramoviüs Seven Easy Pieces (2005) im Kontext von Peggy Phelans Ontologie der Performance und der Geschichtsschreibung der Performance Art. Mit Annemarie Matzkes Beitrag, der die Tradition der Rekonstruktion im Tanz nachverfolgt und die Arbeit 50 ans de danse von Boris Charmatz (2009) bespricht, wird diese Diskussion der Historizität der performativen Künste um die Frage nach dem Körper als Archiv erweitert und abermals die Frage nach den Trennlinien zwischen restaurativer und kritischer Wiederaneignung des Vergangenen aufgeworfen. Die Beiträge von Volker Wortmann, Stefanie Diekmann und Simon Rothöhler wenden sich dem Film zu. Volker Wortmann beschreibt die Praxis, Bilder zu schaffen, wo keine Bilder sind, als Grundstrategie des dokumentarischen Films bis zurück zu Joris Ivens Misère au Borinage (1933) und skizziert anhand der Filme Fires were started (1943) und The Bells go down (1943) die differenten Genre-Merkmale von Fictionfilm und Reenactment. Stefanie Diekmann untersucht anhand von Emile de Antonios In the King of Prussia (1983) die Logik der Revision in der filmischen Rekonstruktion eines Prozesses gegen die Friedensaktivisten der Plowshares Eight. Und Simon Rothöhler stellt mit Rithy Panhs S-21, La machine de mort Khmère Rouge (2003) und Romuald Karmakars Hamburger Lektionen (2006) zwei sehr unterschiedliche filmische Verfahren des Umgangs mit Gewalt und historischer Wirklichkeit gegeneinander. Nachfolgend geht Wolfgang Hochbrucks Beitrag noch einmal zur Tradition des Hobbys zurück und skizziert die Herausbildung des Reenactments in Amerika im Kontext von Museumskultur und Freizeitkultur als Freilufttheater und Gedenkort. Die anschließenden Beiträge von Matthias Warstat und Ulf Otto nehmen die Popularität künstlerischer Reenactments aus einer breiteren kul-

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turwissenschaftlichen Perspektive in den Blick. In Bezug auf die Inszenierungen politischer Bewegungen und anknüpfend an Caroline Humphreys und James Laidlaws Ritualtheorie differenziert Matthias Warstat zwischen Ritual und Reenactment in Hinblick auf die auktoriale Handlungsposition und die Verbindlichkeit des Vorgeschriebenen. Ausgehend von der medialen Rhetorik des Reenactments und den Erlebnisberichten der Hobbykultur skizziert Ulf Otto abschließend den kulturhistorischen Ort des Reenactments und bezieht künstlerische und hobbykulturelle Reenactments auf eine gemeinsame kulturelle Geste. Betrachtet man dieses Set der diskutierten Phänomene und theoretischen Perspektiven wird eine Reihe von Gemeinsamkeiten auffällig. Einerseits zeigen Reenactments eine deutliche Affinität für die Arbeit mit nichtprofessionellen Darstellern. Sie stellen eine starre Unterscheidung von aktiven Darstellern und passiven Zuschauern in Frage, stiften dabei individualisierte Formen von Gemeinschaft und entwickeln nicht-psychologische Darstellungsstrategien. Andererseits verkoppeln Reenactments in eigentümlicher Weise Gegenwart und Vergangenheit, heben die Distanz zur Geschichte scheinbar auf und lassen zugleich vielfältige Differenzen hervortreten. Die Abwendung von linearen Geschichtsmodellen wird begleitet von einer Suche nach historischen Räumen unter freiem Himmel oder an öffentlichen Orten, die häufig eng mit Gemeinschaftsbildung und Identitätskonstruktion verbunden sind. Das auffallendste Merkmal künstlerischer Reenactments ist jedoch die Thematisierung ihrer eigenen medialen Verfasstheit. Viele der Reenactments, auf die im vorliegenden Band Bezug genommen wird, arbeiten mit Medienwechseln. Es sind historische Materialien im doppelten Sinne, die als Grundlage einer körperlichen Aneignung dienen, die meist wieder in Aufzeichnungen und Installationen ihren Ausdruckt findet. Nicht zuletzt durch diesen zu beobachtenden Medienwechsel wird damit in Reenactments immer auch die Frage nach dem Original virulent. Damit trifft die Praxis des Reenactments zugleich einen Nerv des Theaters und der neueren theaterwissenschaftlichen Theoriebildung. Theater war immer schon eine Zeitmaschine, durch die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in eigentümlicher Weise miteinander in Beziehung treten. Als Aufführung ist Theater an die Gegenwart des aktuellen Ereignisses gebunden, und zugleich verhandelt Theater Stoffe, Themen und Texte, die auf jahr-

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hundertealtes Wissen und eine weitverzweigte Praxis verweisen, deren aktuelle Transformationen immer auch das Theater der Zukunft hervorbringen. Im Unterschied zur Tradition des Regietheaters handeln Reenactments dabei nicht mit der Geste des Aneignens, Neu-Interpretierens oder Umsetzens: Sie stellen Geschichte nach, statt sie darzustellen, und zwar möglichst vor Ort, historisch korrekt und detailgetreu. Es geht ihnen um einen historistischen und zugleich animistischen Umgang mit Geschichte, der ein parasitäres Verhältnis mit den Bildern eingeht und Darstellung als teilnehmendes Erleben praktiziert. Im Gegensatz zum Remake, das eine neue Variante eines älteren Stoffes liefert, oder der Neuinszenierung, die nach einer zeitgenössischen Entsprechung trachtet, versuchen Reenactments, das Vergangene nicht zu aktualisieren, sondern zu revitalisieren. Statt neuen Stücken, frischen Lesarten und unverbrauchten Regisseuren zelebrieren sie gerade das Gewesene. Und ausgerechnet dort, wo die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Augenblicks vehement gefeiert wurde, kehrt die Wiederholung ein, und macht aus der Performance, was sie nie sein wollte: Theater. Der sich in den letzten Jahren unter dem Stichwort der Performativität im Theoriediskurs durchsetzende Common sense, der sich Ereignishaftigkeit, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit auf die Fahnen geschrieben hat, wird durch die szenische Praxis des Reenactments in eigentümlicher Weise verschoben. Insofern stellen Reenactments eine Provokation für transdisziplinäre Kulturforschung dar. Die Herausgeber freuen sich, dass die Beiträgerinnen und Beiträger dieses Bandes im Rahmen einer Tagung des Herder-Kollegs für transdisziplinäre Kulturforschung der Universität Hildesheim diese Herausforderung angenommen haben, um das Forschungsfeld des Reenactments gemeinsam zu sondieren. Der Dank schließt Felix Worpenberg und Marten Flegel für die sorgfältige Einrichtung des Manuskripts mit ein. Hildesheim im Sommer 2012, Jens Roselt und Ulf Otto

Die Wiederholung als Ereignis Reenactment als Aneignung von Geschichte E RIKA F ISCHER -L ICHTE

Da der Begriff des Reenactments gegenwärtig eine Inflation erlebt, sei einleitend kurz skizziert, mit welcher Semantik er in diesem Essay verwendet wird. Mit ihm werden verkörperte Vergegenwärtigungen vergangener Ereignisse bezeichnet, die hier und jetzt vollzogen werden, ein je spezifisches Verhältnis zur Vergangenheit herstellen und damit zugleich ein je besonderes Verständnis von Geschichte implizieren oder auch deutlich artikulieren. Reenactments werden in diesem Sinne als Wiederholungen verstanden, die niemals mit dem identisch sind, was sie wieder holen, d.h. leiblich ins Gedächtnis zurückholen. Sie tragen sich vielmehr selbst als Ereignisse hier und heute zu. Insofern es sich bei ihnen um Aufführungen handelt, sind sie gar nicht anders denn als einmalige Ereignisse im Hier und Jetzt zu konzeptualisieren. Nachfolgend sollen Reenactments auf den je spezifischen Modus hin untersucht werden, in dem sie sich Geschichte aneignen. Die Gegenstände der Untersuchung entstammen drei unterschiedlichen kulturellen Feldern ebenso wie Epochen. Es sind: (1) geistliche Spiele des 15./16. Jahrhunderts; (2) britische und amerikanische Pageants sowie sowjetische Massenspiele in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts und (3) Reenactments künstlerischer Performances zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die ausgewählten Beispiele beziehen sich entsprechend auf die Heilsgeschichte, auf politische Geschichte und auf die Geschichte der Kunst.

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R EENACTMENTS

HEILSGESCHICHTLICHER E REIGNISSE IN MITTELALTERLICHEN GEISTLICHEN S PIELEN In religiösen Kontexten sind in vielen Kulturen rituelle Aufführungen gebräuchlich, in denen Geburt, Leben, Taten und Leiden eines Gottes, Religionsstifters oder Märtyrers vergegenwärtigt werden, wie das indische Ramlila, das persische Ta’ziyeh oder die geistlichen Spiele des europäischen Mittelalters. Als rituelle Aufführungen fanden/finden sie stets zu bestimmten Zeiten bzw. Daten statt, die mit jenen identisch sind, zu denen sich die zu vergegenwärtigenden Ereignisse zugetragen haben. Häufig bilde(te)n sie den Höhepunkt des Festes, das diesem Gott, Religionsstifter, Märtyrer geweiht war/ist. Die Trägerschaft für solche Feste und damit auch für die in sie eingelagerten Aufführungen lag im Mittelalter bei der Stadt. Da es keine berufsmäßigen Spezialisten gab, die man mit der Ausrichtung der Feste und speziell mit der Einstudierung der Aufführungen hätte beauftragen können, waren die Bewohner der Stadt selbst dafür zuständig. Bei den geistlichen Spielen wurde die Spielleitung häufig von Geistlichen oder vom Stadtschreiber übernommen. Die 100 bis 300 ausschließlich männlichen Darsteller, die für diese Spiele benötigt wurden, entstammten sämtlichen in der Stadt vertretenen gesellschaftlichen Schichten: Es beteiligten sich Handwerksgesellen, bürgerliche und adlige Patrizier ebenso wie Kleriker verschiedenen Ranges. Besonders hoch war bei den geistlichen Spielen allerdings der Anteil der akademisch Gebildeten und der Stadt-, Landes- und Reichsbeamten: Deutsch- und Lateinschulmeister, Schultheißen und Schöffen, Richter und Bürgermeister, Stadt- und Gerichtsschreiber. Dennoch stellten auch hier die Spieler im Wesentlichen einen repräsentativen Querschnitt aus der Gesamtbevölkerung der Stadt dar. Jeder war als Darsteller zugelassen, der als ehrbar und angesehen galt. Dies betraf in besonderem Maße natürlich die Darsteller der »heiligen« Rollen. Aber auch die Teufel wurden von honorigen Stadtbürgern gespielt und nicht, wie verschiedentlich behauptet, von Vaganten und reisenden Gauklern. Lediglich die Musikanten wurden von außerhalb gegen Bezahlung engagiert. Während die Darsteller sich »nur« aus allen städtischen Bevölkerungsschichten rekrutierten, repräsentierte das Publikum sämtliche Schichten und Ränge der Gesellschaft: den Klerus vom Leutpriester über Abt und Erzbischof bis zum Konzilsvater und zum päpstlichen Kardinallegaten; die Bau-

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ern; die Bürger, und zwar vom plebejischen bis zum patrizischen Bürger; den Kleinadel; ausländische Diplomaten und sogar regierende Fürsten wie den Markgrafen von Brandenburg, den Herzog von Sachsen, den Fürsten von Anhalt und Ferdinand von Österreich, den Bruder Karls V. und späteren deutschen Kaiser. Das städtische Fest und speziell die Aufführungen waren, wie damit eindrucksvoll belegt ist, nicht Angelegenheit einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht oder Gruppe, sondern betrafen vielmehr alle sozialen Milieus, die sich aus diesem Anlass in den Straßen und auf dem Marktplatz der Stadt zusammenfanden. Die Stadt verwandelte sich für die Dauer des Spiels in Jerusalem, die Zuschauenden in die Bürger Jerusalems. Am Montag nach Pfingsten des Jahres 1467 begann auf dem Frankfurter Römer ein viertägiges Reenactment von Jesu wundertätigem Wirken, seinem Leiden, Tod, Höllenfahrt, Auferstehung und Himmelfahrt bis hin zur Ausgießung des Heiligen Geistes. Ein solches Reenactment wurde nachweislich in der Woche nach Pfingsten der Jahre 1492, 1498 und 1506 wiederholt – vielleicht fand es auch öfter statt. Am ersten Tag wurde das Wirken Jesu vergegenwärtigt, am zweiten Abendmahl, Gefangennahme, Verhör vor Annas, Caiphas und Pilatus, am dritten die Kreuzigung und am vierten die Auferstehung, Himmelfahrt und Ausgießung des Heiligen Geistes. Das öffentliche Wirken konzentrierte sich auf Jesu Wundertätigkeit beim Heilen von Kranken. Im Frankfurter Passionsspiel heilte Jesus nacheinander einen »siechen und lamen«1 (V. 489-512), die Tochter des kanaanäischen Weibes von ihrer Besessenheit (V. 545-629), einen vom Teufel besessenen Taubstummen (V. 630-647), einen Blindgeborenen (V. 683923), einen Lahmen (V. 986-1007), einen Wassersüchtigen (V. 1008-1019), einen Aussätzigen (V. 1114-1127) und den todkranken Sohn eines Königlichen (V. 1373-1406). Den Höhepunkt dieser Serie von Heilungswundern stellte die anschließende Auferweckung des Lazarus vom Tode dar (V. 1407-1561). Dabei wendet Jesus Heilungsmethoden an, die sich nicht wesentlich von den magischen Praktiken eines Wunderdoktors oder einer weisen Frau

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Frankfurter Passionsspiel, in: R. Froning (Hg.), Das Drama des Mittelalters, 2. Teil, Passionsspiele, Stuttgart o.J., S. 375-532.

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aus dem Volke unterscheiden. Den Stummen heilt er durch eine Geister bannende Zauberformel: Ich besweren dich, du boser geist, diewil das du wol weist, das din boßheit lange gehuset hat in diser menschlichen wat: darum gebudet dir Jhesus Crist, das du rumest zu dieser frist! (V. 636-641) Den Aussätzigen heilt Jesus durch Berührung (tangit leprosum), den Lahmen durch Handauflegen (inponat manum claudo). Dem Blinden bestreicht er die Augen mit Erde, die er vorher mit seinem Speichel vermischt hat. Allein die Anwendung von Magie vermag den kranken, verkrüppelten oder gar schon verwesten Körper in seiner Ganzheit wiederherzustellen und so die Angst, mit der er seiner Gefährdetheit und Gebrechlichkeit halber ständig besetzt ist, wirkungsvoll zu bannen. Jesus erscheint hier als eine Art magischer Wunderheiler und Schamane, der jedoch von Augustinus, der als Spielleiter auftritt, ausdrücklich als Heiland und Erlöser der christlichen Religion eingeführt wird. Die Juden dagegen sind es, die ihn wegen seiner Wundertätigkeit als »Zauberer« (V. 1153) verunglimpfen. Die Brandmarkung Jesu als »eines Zauberers« durch die Juden bezieht deutlich die beiden Szenenkomplexe des öffentlichen Wirkens und der Passion aufeinander. Vor Pilatus verklagen Caiphas, Annas und andere Juden Jesus als einen »Zauberer« (V. 2804-2810, 3195-3200) und führen seine Wundertätigkeit ausdrücklich als Beweis an (V. 2957-2966, 2973-2974). Sogar als Jesus bereits am Kreuz hängt, wird auf seine Wundertätigeit als »Zauberer« Bezug genommen: Hangestu nu wol, du zauberer? ist dir nu lichte oder swere? andern luden, du boser gauch, hulffe du, nu hilffe dir auch

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und gang von dem galgen breit: so thun wir dir nummer leit! (V. 3859-3864) Gefangennahme, Verhör und Kreuzigung werden als ein grausames Ritual vollzogen. Jesus wurde beschimpft (V. 2426ff.), angespuckt (V. 2714ff.) und geschlagen (V. 2463, 2544, 2596, 2629, 2913). Mit ihm wurde wiederholt ein »Spiel« gespielt: ihm wurde das Haupt verhüllt und er sollte raten, wer ihn geschlagen (V. 2544-2631) oder ihm Haar und Bart gerauft hatte (V. 3560-3564). Diese Spiele wurden deutlich in Ritualform vollzogen: sie wurden mit lateinischen Formeln eingeleitet (»Prophetiza nobis, Criste: quis est, qui te percussit«), jede Handlung (Schlag, Haarausreißen) wurde dreimal ausgeführt, wobei das Opfer beharrlich schwieg. Immer wieder hieß es: »Salvator tacet« (V. 2756, 2760, 2856, 2864, 2868, 2884, 3253). Der nächste Höhepunkt wurde mit der Geißelung erreicht, die Pilatus’ »Ritter« durchführten: Primus miles Schintekrae: […] mit gisseln und ruden woln wir in slagen, das er mocht schir verczagen! […] wir wullen dich alle treffen und mit slegen dir thun so heis, das du switzest bludigen sweis! Secundus miles Rackenbein: Kome here, Jhesu, mit mir: wir wullen zuslagen dir dinen lip zu dieser frist! we dir, das du ye geborn bist! auch gelebte ich nie liebern tag, dan daz mir so manchin slag eme geben umb sin boßheit groß! zuch uß den rocke und mach en los! Et sic exuunt sibi tunicam et ligant Jhesum ad statuam, et dicit tercius miles Ribenbart habens virgas in brachio:

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Sehe hin, gesel Ruckenbein: der besten ruden ein! und du, Schintekrae, habe dir der ruden zwo. nu dar, lieben gesellen gut, wir wollen nach der Iudden mut Ihesum slagen umb die suele, das he sich strubt als ein ule. ab dir der ruden ein zubricht, das du darumb fierst nicht. wan ir dan mude sijt, so helffen mir uch an der zijt! Quartus miles Springendantz: Eya, wie slahet ir so boßlich: ir kunt nit recht strichen! gee abe, du Ruck- und -bein: ich wil en baß allein behauwen sin rutmeisel! helffent die ruden nicht, so neme ich aber geissel. Et percucient flagellis. (V. 3424-3457) Zum Abschluss pressten die vier ihrem Opfer mit aller Kraft die Dornenkrone auf’s Haupt. Weil Jesus jetzt kaum mehr »einem Menschen gleich« sah, unterbrach Pilatus die Folterung: Ecce homo! Ir ludden, sehet: ist er eynem menschen glich? Nu last yn geen, das bitten ich! (V. 3521-3522) Synagoge aber bestand darauf: »Crucifige, crucifige eum« (V. 3526). Den letzten Höhepunkt an Grausamkeit stellte endlich die Kreuzigung dar. Die »Ritter« haben die Löcher für die Nägel zu weit auseinanderstehend eingeschlagen. Mit Stricken reißen sie nun Jesu Glieder auseinander, um die Nägel einpassen zu können:

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tercius miles: […] reich mir her ein stumpen nagel: den wil ich im in sin hant slagen! secundus miles: Sehet her wol an der zijt diß loch ist vil zu wijt! die hant will nit daran: ich muß verware ein strang han! den arm muß ich ime recken! kumme, geselle, und helffe mir strecken! Quartus miles capit funem et dicit: Gerne, lieber geselle myn: ich helff dir nach dem willen din sin hut ziehen ußeinander, das sin odern krachen mit einander! nu zug, nu zug enwenig baß! haha, welch ein zug was das! Et percuciatur secundus clavis. (V. 3699-3712) Nachdem alle »Ritter« sich mit einem kräftigen Schluck aus der Flasche nach dieser Anstrengung gestärkt hatten, wiederholte sich die gleiche Prozedur an den Füßen. […] quartus miles dicit: Habt ir alle gedruncken schone, so arbeit hinwidder und kompt darvon! seht, da han ich ein strang, ist nit zu clein, den werffet eme an sin schendbeyn! zijhet eme die glidder biß an daz loch! also, also! das was ein zoch! Secundus dicit et habet clavum et mallium in manu: Nu zijhet en wenig mehe!

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die fuß werden schir erzu gen: so will ich den nagel inslagen, das der gleuckeler muß verzagen! (V. 3729-3738) Anschließend wurde das Kreuz aufgestellt und die Ritter würfelten johlend und fluchend um Jesu Rock. Die Kreuzigung war wie ein Sündenbockritual am »Zauberer« Jesus vollzogen. Es sollte imstande sein, die Angst der Zuschauer vor der Gewalt, die auf den eigenen Leib gerichtet werden könnte, wirkungsvoll zu bannen. So konnte nun zum Abschluß der Passionsszene mit der Klage Marias um das schwere Leid, das ihrem Sohn zugefügt wurde, die christliche compassio zu ihrem Recht kommen. Die Strategien des Frankfurter Passionsspiels – ebenso wie der anderen Passionsspiele – bestanden vor allem darin, sich diejenigen Aspekte aus der Lebensgeschichte Jesu anzueignen, die auf den menschlichen Leib gerichtet waren, seine Versehrung und Wiederherstellung. Dies waren zum einen die Wunderheilungen, die restitutio in integrum des kranken, defekten, sogar schon toten Leibes und zum anderen die Grausamkeit, mit der die Folter und Hinrichtung an Jesus vollzogen wurden. Das Reenactment dieser Ereignisse zielte darauf, die Angst der Zuschauer vor Krankheit, Gebrechlichkeit, Gewalt und Tod zu überwinden. Dies war nur möglich, weil das Reenactment ein spezifisches Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern herstellte. Dabei gilt es zu bedenken, dass es keine professionellen Darsteller gab und die Zuschauer der einen Aufführung in der nächsten als Spieler auftreten konnten und umgekehrt. Die Begriffe Spieler/Darsteller und Zuschauer bezeichnen lediglich Rollen, die einerseits nur für kurze Zeit – nämlich für die Dauer der Aufführung – übernommen wurden und andererseits austauschbar waren. Daraus folgte eine bestimmte Haltung, die der Zuschauer während der Aufführung einnehmen sollte. Eine ästhetisch-wertende Haltung wurde ausdrücklich abgelehnt. So ermahnt der Precursor des Sterzinger Passionsspiels die Zuschauer: Darumb seydt petrüebt hewt in got / Und treybt daraus nit schimph noch spot / Als man manigen groben menschen vindt: / Alspald er enphindt, / Das ainer in ainem reim misredt, / So treybt er dar aus sein gespött / Und lacht der figur gar. / Des man nich tuen solt fürwar; / Wan es doch zw eren Jhesu Christ / Gäntzlich an gefangen

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ist / Und nit aus gespötterey, / Noch in sölicher pueberey, / Als ims offt ainer fürnympt, / Dem es nit wol tzimpt. / Und doch durch got an gefangen ist / Und tzw bedencken das leiden Jhesu Christ, / das durch sölichs spill, / Der es sunst petrachten wil, / Vil mer zw andacht wirt bebegt; / Wan so man es mit wortten redt. (Darum betrübt euch heute in Gott und treibt damit nicht Scherz und Spott, so wie man es bei manchem ungehobelten Menschen sieht: Sobald er merkt, daß jemand sich in seinem Text verspricht, spottet er darüber und verlacht die Darstellung. Das sollte man aber wirklich nicht tun; denn man hat sie doch ausschließlich zu Ehren Jesu Christi unternommen, nicht zum Gaudium und schon gar nicht zu bübischem Mutwillen, den oft einer treibt, dem das gar nicht ansteht. Vielmehr spielt man um Gottes und des Leidens Jesu Christi willen, damit durch dieses Spiel jeder, er sich auf solche Wiese darein versenkt, viel stärker zur Andacht bewegt werde, als wenn man es nur mit Worten erzählte.)2

Zuschauer und Spieler waren vielmehr als Gemeinde »im dienst Gotts bsamlett«3; entsprechend begann die Aufführung – entweder morgens um 6 Uhr wie in Alsfeld und Luzern oder mittags um 12 Uhr wie in Frankfurt – mit gemeinsamen Gebeten und Gesängen und endete ähnlich mit dem gemeinsamen Schlussgesang »Christ ist erstanden«. Folglich ist auch die Wirkung der Aufführung auf Spieler und Zuschauer dieselbe. Der zweite Engel des Redentiner Osterspiels beschreibt sie in seiner Ankündigung des Spiels mit den Worten: Settet ju nedder unde vrowet ju, De hyr sint ghesammelt nu! Vrowet ju an desser tid: Gy moghen werden van sunden quyt. Got de will in desser tyt losen De dar laten van dem bosen. De dar huten myt gade upstan, De scholen vrig van sunden gan. Up dat ju dat allent sche, En jewelt hore unde se.

2

Sterzinger Passionsspiel, V. 1223-1242, Joseph Eduart Wackernell, Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, Graz 1897.

3

Wyss, Heinz (Hg.): Das Luzerner Osterspiel, Bern: Francke 1967, V. 106.

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(Setzt euch nieder und freuet euch, die ihr hier versammelt seid. Freuet euch in dieser Zeit: ihr könnt frei von Sünden werden. Gott will in dieser Zeit die erlösen, die von dem Bösen ablassen. Die heute mit Gott aufstehen, die werden frei von Sünden weggehen. Damit euch das alles geschehe, ein jeder höre und sehe!)4 Die Aufführung erscheint hier als eine Art Sakrament. Teilnahme übt daher auf alle Beteiligten eine geradezu magische Wirkung aus: sie erscheint »als ein ›gutes Werk‹, mit dem gleichsam automatisch eine innere Gnadenwirksamkeit verbunden ist«5. Die Kirche erkannte ihrerseits die Teilnahme an geistlichen Spielen als ein gutes Werk an und gewährte Spielern wie Zuschauern häufig Ablass; für gewöhnlich im Ausmaß einer Quadragene (einer vierzigtägigen Kirchenstrafe bei Wasser und Brot), manchmal allerdings auch bedeutend höher: in Luzern wurden 1556 sieben Jahre und sieben Quadragenen gewährt und in Calw im Jahre 1502 sogar 240 Jahre.6 Die Wirkung der Teilnahme am Reenactment, ganz gleich ob als Spieler oder als Zuschauer, war also enorm. Die Vergangenheit, auf die sich die geistlichen Spiele bezogen, war »illud tempus«, jene mythische Zeit, in der die Urspungsakte zu lokalisieren sind, auf die sich die versammelte Gemeinschaft zurückbezog, in denen sie ihre Beglaubigung als Gemeinschaft erfuhr: die Geburt des Erlösers in den

4

Das Redentiner Osterspiel, Mittelniederdeutsch und neuhochdeutsch, übers. u. komment. v. Brigitta Schottman, Stuttgart: Reclam 1975, V. 9-18.

5

Nowé, Johan: »Kult oder Drama? Zur Struktur einiger Osterspiele des deutschen Mittelalters«, in: Hermann Braet/Johan Nowé/Gilbert Tournay (Hg.), The Theatre in the Middle Ages, Leuven: Leuven Univ. Press 1985, S. 269-313, hier S. 307f.

6

Vgl. hierzu Neumann, Bernd: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit, 2 Bde., München/ Zürich: Artemis 1987, vor allem die Belege Nr. 32-34, 1055, 1944, 1946, 1969, 2106 und 2258.

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Weihnachtsspielen, das Leben, Leiden und Sterben Jesu in den Passionsspielen, die Auferstehung in den Osterspielen. Mit der leiblichen Vergegenwärtigung der Lebensgeschichte Jesu oder einzelner ihrer Stationen im Spiel wurde die Gründungszeit wieder erinnert und der Gegenwart eingeschrieben. Dabei ist es nun in der Tat nicht besonders relevant, ob jedes einzelne Element der Darstellung ästhetischen Ansprüchen zu genügen vermochte oder einer der Darsteller sich ungeschickt verhielt oder gar einen Reim vergaß. Derartige »Defekte« taten dem Akt des mnemonischen Gedenkens, der mit dem Spiel vollzogen wurde, keinen Abbruch. Wichtig ist vielmehr, dass der versammelten Gemeinschaft in jeder Aufführung noch einmal sinnfällig vor Augen geführt wurde, welches die Ereignisse, Handlungen und Taten waren, auf die sie ihren Ursprung zurückführte – die sie befähigten, sich als eine christliche Gemeinschaft zu begreifen. Die im Laufe der Zeit immer weiter ausufernde Darstellung des Lebens Jesu, der immer neue Episoden hinzugefügt wurden, erfüllte vor allem diese Funktion des mnemonischen Gedenkens. Im Mittelpunkt des Interesses stand die Wiederholung jenes Geschehens, das sich in »illo tempore« zugetragen hat und den Ursprung und die Identität der Gemeinschaft verbürgt, in der sie vollzogen wurde. Indem in diesem Reenactment jene Werte verhandelt wurden, die für die Gemeinschaft Gültigkeit besaßen, indem sie durch verkörperte Vergegenwärtigung reflektiert und bestärkt wurden, wandelte sich der Raum in einen liminalen Raum, in dem für alle Teilnehmer Transformationen – wie die Freisprechung von Sünden, die Erlösung – möglich und zugleich communitas in besonderer Weise erfahren und erlebt wurde. Bei dieser Gemeinschaft handelte es sich nicht nur um die Stadt, auch wenn diese durch besonders gelungene Aufführungen und einen möglichst gewaltfreien Festverlauf sich selbst zur Darstellung brachte. Sie bestand vielmehr, jenseits aller sozialen Unterschiede, die im Alltagsleben eine große Rolle spielten, aus der gesamten christlichen Gemeinde – zunächst der, die sich aus Anlaß des Festes versammelt hatte, darüber hinaus jedoch letztlich der gesamten Christenheit. Diese fand ihre Identität vor allem darin, dass sie in performativen Akten der Wiederholung der Lebensgeschichte ihres Gründers ihres gemeinsamen Ursprungs eingedenk war. In den geistlichen Spielen als Reenactments des Lebens, Leidens, Sterbens und der Auferstehung Jesu, die durch die Bibel authentifiziert wurden, artikulierte sich Geschichte als Heilsgeschichte. In der Befreiung von Sün-

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den, die sie bewirkten, antizipierten sie die Erlösung am Jüngsten Tag. Auch wenn die Zeit der Heilsgeschichte teleologische Zeit ist, war die Zeit des Reenactments der linearen Zeit enthoben: sie schloss die Ereignisse der Vergangenheit – Jesu Leben, Sterben und Auferstehung – mit der Zukunft zusammen: der Zeit der Erlösung. Heilsgeschichte ereignete sich insofern im und als Reenactment, sie ereignete sich im Hier und Jetzt. Es war die Ritualität des Reenactments, welche die teleologische Zeit in eine zyklische Zeit zu überführen vermochte und so die Wiederholung der Antizipation von Erlösung jedes Mal auf’s Neue hier und heute ermöglichte.

R EENACTMENTS POLITISCHER E REIGNISSE ZU B EGINN DES 20. J AHRHUNDERTS Das Nachspielen wichtiger politischer Ereignisse als eine spezifische Form kultureller Erinnerung nahm von der Französischen Revolution ihren Ausgang, »the first great European upheaval that its creators immediately perceived as a spectacle to be enacted and reenacted«7. Die großen Ereignisse der Revolution, beginnend mit dem Sturm auf die Bastille, wurden immer wieder nachgespielt und so ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt. Nach dem französisch-preußischen Krieg und der anschließenden Reichsgründung wurde diese Tradition in Deutschland aufgegriffen. Militärische und politische Ereignisse aus der deutschen Geschichte wurden im Rahmen von nationalen Festen durch Nachspielen vergegenwärtigt, wobei häufig Figuren der Geschichte von mythischen und allegorischen Gestalten begleitet wurden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte auf diese Tradition zurückgegriffen werden. Die Pageant-Bewegung entstand in England als Antwort auf gesellschaftliche Krisen, die durch radikale Modernisierungsprozesse verursacht waren. Ihre antimodernistische Stoßrichtung ist nicht zu übersehen. Pageants waren konzipiert und intendiert als ein Bollwerk gegen die negativen Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung wie Verlust von Solidarität, Bindungslosigkeit, Zerfall der Gesellschaft und ›Unordnung‹.

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Gerould, Daniel: »Historical Simulation and Popular Entertainment«, in: The Drama Review 32.2 (1989), S. 162.

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Ein »properly conducted pageant (should be designed) to kill the modernizing spirit«, wie der Initiator der Pageant-Bewegung, Louis Napoleon Parker es ausdrückte.8 Es ging also um die Überwindung einer Krise, die der Soziologe Émile Durkheim bereits gut zehn Jahre früher diagnostiziert hatte. Für ihn bestand das Problem gerade darin, wie sich zwischen den konkurrierenden Mitgliedern arbeitsteiliger Gesellschaften so etwas wie ein moralisches Band herausbilden kann.9 Während auf der einen Seite der Individualismus so weit vorangetrieben wurde, dass, wie Durkheim sich ausdrückte, »das Individuum der Gegenstand einer Art von Religion«10 wurde, bildeten sich auf der anderen Seite in den Städten als Folge von Industrialisierung und Urbanisierung immer stärker anonyme Massen heraus. Der sich ständig vergrößernde Gegensatz zwischen Individuen, die eine Art Kult um ihre Persönlichkeit trieben, und den Massen drohte die Gesellschaft auseinanderzusprengen. Auf diese Krisensituation reagierte die Pageant-Bewegung. Ihr Ziel war es, unter Berufung auf die Geschichte der Stadt, des Dorfes oder der Gemeinde aus ihren Bewohnern eine Gemeinschaft herzustellen und eine entsprechende kollektive Identität zu ermöglichen. Interessanterweise führt Parker in seiner Autobiographie Wagners Bayreuther Festspiele und die Tradition der bayerischen Volksschauspiele als wichtigste Anregung und Inspirationsquelle auf. Es ist durchaus davon auszugehen, daß ihm auch die im Rahmen nationaler Feste stattfindenden Reenactments von Schlachten und politischen Ereignissen aus der deutschen Geschichte bekannt waren. Denn wie bei den Festen am Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald wurde auch bei den Pageants auf die entsprechenden historischen Räume, an denen sie sich seinerzeit zugetragen hatten, als Authentifizierungsstrategie zurückgegriffen. Pageants sind in diesem Sinne als site-spezifische Aufführungen zu verstehen. Wie in dem ersten, von Parker initiierten Pageant – The Pageant of Sherbourne (1905) zur Zwölfhundertjahrfeier der Stadt – fanden Pageants daher im offenen Gelände und in unmittelbarer Nähe his-

8

Zit. nach Withington, Robert: English Pageantry: A Historical Outline, 2 vols.,

9

Vgl. Durkheims Habilitationsschrift: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über

New York: Hewlett Press 1963, vol. 2, S. 195. die Organisation höherer Gesellschaften (1893, 2. Aufl. 1902), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. 10 Ebd., S. 227.

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torischer Monumente statt. Sie benötigten eine große Anzahl von Amateurschauspielern sowie eine Reihe lokaler Künstler (Schriftsteller, Komponisten, Musiker, Architekten, Maler etc.). Ihre Struktur ähnelte der von Heiligenspielen. Allerdings figurierte als Held des Spiels nicht ein Heiliger oder eine andere bedeutende Persönlichkeit, sondern die Stadt selbst. Ein Pageant bestand aus einer Reihe historischer Episoden, die durch Prologe und Epiloge miteinander verbunden waren, narrativen und dramatischen Chören, musikalischen Zwischenspielen und langen Paraden. Typischerweise begann er mit der römischen Periode der Stadt und endete mit dem Bürgerkrieg; wobei er seinen Höhepunkt und sozusagen die Apotheose mit dem Widerstand der belagerten Bevölkerung gegen die Cromwellschen Usurpatoren erreichte. Parker dekretierte geradezu, dass keine Episode gezeigt werden dürfe, welche jenseits der Mitte des 17. Jahrhunderts lag. Die Moderne mit ihren Klassenkämpfen, politischen Auseinandersetzungen und Konfrontationen war ausgeschlossen. Parker behauptete entsprechend als soziales Ziel der Pageants, sie sollten ein »festival of brotherhood in which all distinctions of whatever kind were sunk in common effort« sein, »reawaken civic pride (and) increase self-respect«11. Außerdem betonte er das religiöse Wesen der Pageants. Er behauptete, dass »a pageant is a part of the great Festival of Thanksgiving to Almighty God for the past glory of a city and for its present prosperity«12. Daher begannen und endeten seine Pageants stets mit einem Gedenkgottesdienst. Der rituelle Charakter der Pageants ist nicht zu übersehen. Das Nachspielen der gemeinsamen Geschichte sollte zweifellos den Sinn für communitas stärken. Es sind vor allem zwei Charakteristika, die für Pageants typisch sind. Das ist zum einen das »communitarian ethos«13. Pageants eigneten sich einen für die Stadtgeschichte zentralen Raum an und ermöglichten, ja verlangten damit geradezu die Teilnahme einer großen Anzahl von Menschen. Die ganze Stadt war beteiligt – entweder an der Vorbereitung des Pageant

11 Parker, Louis N,: Several of My Lives, London: Chapman and Hall 1928, S. 285f. 12 Parker, Louis N.: »What Is a Pageant?«, in: New Boston vom 1.11.1910, S. 296. 13 Esty, Joshua D.»Amnesia in the Fields, Late Modernism, Late Imperialism and the English Pageantry-Play«, in: ELH 69 (2002), S. 245-76, hier S. 248.

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und/oder als Darsteller oder Zuschauer. Tausende von Menschen nahmen teil. Pageants wurden verstanden als eine Aufführung, geschaffen vom Volk für das Volk – eine Aufführung, die ein Gemeinschaftserlebnis – durchaus auch als ein quasi-religiöses Erlebnis – ermöglichte. Das zweite konstitutive Merkmal bestand im Anspruch der Pageants auf Authentizität. »Scenes in a Pageant convey a thrill no stage can provide when they are represented on the very ground where they took place in real life; especially when they are played, as often happens, by descendants of the historical protagonists, speaking a verbatim reproduction of the actual words used by them.«14

Die Authentizität des Raumes schien die Kontinuität der Geschichte hervorzubringen und zu garantieren. Deswegen war die wichtigste Voraussetzung für den Pageant die Aneignung eines solchen Raumes mit Strategien, die immer wieder auf diese Authentizität verwiesen. Alle Ereignisse, die nachgespielt wurden, hatten sich an diesem Ort zugetragen. Dieser Ort garantierte nicht nur die Authentizität des Nachgespielten. Er rückte es zugleich in eine spezifische zeitliche Perspektive. Dem typischen Pageant gelang es, Hunderte von Jahren englischer Geschichte so darzustellen, dass es den Anschein hatte, als wenn alles Wesentliche gleich geblieben wäre. Er löste die lineare Zeit auf »into the seductive continuity of national tradition«15 und verschob so die Grenze zwischen dem Nachspielen politischer Ereignisse und Politik, aber auch zwischen dem Politischen und dem Religiösen. Pageants sollten also die Krise, welche der Modernisierungsprozess ausgelöst hatte, durch den Entwurf einer rückwärtsgewandten utopischen Vision bewältigen. Diese Vision war allerdings in sich widersprüchlich. Von Anfang an verschmolzen die Pageants Fortschrittsglauben und Antimodernismus, traditionelle zivile und religiöse Rituale mit dem Versprechen künstlerischer Innovation. Einerseits wurde eine Art partizipatorischer Demokratie verkündet, an der jeder Teil hat, in der alle gleich sind. Andererseits lieferten die Pageants die beruhigende Versicherung, dass selbst in Zeiten von Aufruhr und Veränderung Geschichte stets als ein Kontinuum

14 L.N. Parker: Several of my lives, S. 280. 15 J.D: Esty: Amnesia in the Fields, S. 24.

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verlaufen wird, und sie allein durch diesen Verlauf die kollektive Identität der Gemeinschaft bestätigt, da diese eben durch ihre Geschichte garantiert ist. Die Pageants erklärten jeden, der an ihnen teilnahm, zum Künstler, der zu künstlerischer Innovation imstande ist, und ermöglichten gleichzeitig ein Gemeinschaftserlebnis. Die Ansprüche von Individuum und Gemeinschaft schienen hier aufs schönste miteinander versöhnt. Dies verführte die Teilnehmer dazu, an die Möglichkeit zu glauben, Pageants nutzen zu können, um die Krise zu bewältigen, d.h. die ›Krankheiten‹ zu heilen, welche der Industrialisierungsprozess verursacht hatte. Die Reenactments erfüllten entsprechend die Funktion, die Kontinuität von Geschichte her- und sicherzustellen. Sie substantiierten die Behauptung, dass es in der englischen Geschichte keine Brüche, Umschwünge, Revolutionen gebe – dass sie sich immer gleich bleibe. Das Reenactment bettete entsprechend das Hier und Jetzt in ein Kontinuum ein – alle Ereignisse der englischen Geschichte erschienen in diesem Licht als eine Folge von Ereignissen, die sich quasi mit Notwendigkeit auseinander ergaben und in diesem Sinne als eine wohlgeordnete Abfolge, die auf immer gültigen Prinzipien beruhte und sich als solche in der Zukunft fortsetzen würde. Als aus Anlass der Zweihundertfünfzigjahrfeier von Philadelphia im Jahr 1908 die Pageant-Bewegung in die Vereinigten Staaten von Amerika eingeführt wurde, war der für die Gattung kennzeichnende Widerspruch zwar auch hier virulent, wurde allerdings dadurch abgemildert, dass sie nicht länger mehr als Bollwerk gegen die Modernisierung verstanden wurde. In der sogenannten ›Progressive Era‹ des Fortschrittsglaubens überwogen zukunftsgerichtete Tendenzen. Nun gründeten die Pageants hauptsächlich in dem Glauben, »that history could be made into a dramatic public ritual through which the residents of a town, by acting out the right version of their past, could bring about some kind of future social and political transformation«16. Hier lag also – wie bei einem rite de passage – die Betonung auf der Transformation, die durch die Teilnahme an einem Pageant in den Beteiligten herbeigeführt wird. Percy MacKaye, einer der bedeutendsten Förderer der Pageant-Bewegung, erläuterte diese Transformation als »the conscious awakening of a

16 Glassberg, David: American Historical Pageantry. The Uses of Tradition in Early Twentieth Century, Chapel Hill/London: Univ. of North Carolina Press 1990, S. 283.

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people to self-government« 17 . Unter derselben Voraussetzung bezeichnet der Historiker Glassberg die historischen Pageants als »a public ritual of communal self-discovery«, das letztlich führen würde zu »the integration of the town's various peoples and point to the reforms necessary for their continued future progress«18. Während die englische Pageantbewegung dazu tendierte, die Vergangenheit zu verherrlichen und zu feiern, waren die amerikanischen Pageants zukunftsorientiert. Sie stellten ein ganz besonderes Amalgam von einerseits frühen Formen der Darstellung von Geschichte wie öffentlichen Prozessionen, tableaux vivants oder Reenactments in historischen Kostümen und andererseits neuen Elementen wie modernem Tanz, Reenactments von Szenen aus dem sozialen, häuslichen und politischen Leben und einem großartigen Finale im Volksfestcharakter dar. Ihr Inhalt bestand in »the theme of community development, the importance of townspeople keeping pace with modernity while retaining a particular version of their traditions, the rite-of-passage format signifying the town in graceful transition«19. Die Förderer der Pageant-Bewegung gingen davon aus, dass die unmittelbare Empfindung einer ausdrucksvollen, spielerischen sozialen Interaktion ein emotionales Band zwischen den Teilnehmern zu knüpfen vermöchte und so imstande wäre, die sozialen und kulturellen Schranken zwischen den Einwohnern niederzureißen und, vor allem, die Immigranten zu integrieren. Auf diese Weise würden die Immigranten mit der Geschichte ihrer Stadt und der Nation vertraut gemacht, so dass zwischen allen Bürgern erneut ein Sinn von Zugehörigkeit und eine länger andauernde Bereitschaft zu kommunalem Engagement im Sinne einer Zivilgesellschaft entstehen könne. Auf diese Weise würden Pageants ihren Beitrag dazu leisten, aus einer Gesellschaft, die Percy MacKaye noch 1914 als »a formless void«20 charakterisierte – also als einen Mischmasch aus verschiedenen sozialen Klassen und Schichten, Interessen- und Immigrantengruppen – eine kohärente Öffentlichkeit zu schaffen, indem sie aus einer Abfolge jüngerer sozialer und technologischer Veränderungen eine zusammenhängende Geschichte konstruierten. Die

17 MacKaye, Paul: The Civic Theatre in Relation to the Redemption of Leisure. A Book of Suggestions, New York/London: Kennerly 1912, S. 15. 18 D. Glassberg: American Historical Pageantry, S. 283. 19 D. Glassberg: American Historical Pageantry, S. 285. 20 Zit. nach D. Glassberg: American Historical Pageantry, S. 284.

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Konflikte allerdings, die solche Veränderungen begleiteten, und insbesondere der Widerstand gegen die Ausweitung des Industriekapitalismus, blieben aus der Geschichte des unaufhaltsamen Fortschritts, welche die Pageants erzählten, ausgeklammert – ebenso wie die Afro-Amerikaner und die Gewerkschaften ausgeschlossen blieben. Gleichwohl eigneten sich auch einige von ihnen das neue Genre an und assimilierten es ihren Bedürfnissen. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür stellt der berühmte Paterson Strike Pageant dar, der 1913 im Madison Square Garden in New York von den streikenden Arbeitern und sie unterstützenden Künstlern aufgeführt wurde.21 Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die historischen Pageants bald von den neuesten Trends der Populärkultur eingeholt. Als Medium für eine soziale, ästhetische und moralische Erneuerung einer Stadt zu fungieren und ein entsprechendes Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln, waren sie nicht mehr imstande. Spätestens 1917 war der Optimismus, die treibende Kraft der sogenannten Progressive Era, verflogen. Nach dem Ende des Krieges brachen die Widersprüche, welche die Pageants noch zu versöhnen, zumindest zu verschleiern vermocht hatten, in aller Schroffheit auf. Das bedeutete jedoch keineswegs das Ende von Reenactments wichtiger militärischer und politischer Ereignisse aus der amerikanischen Geschichte. Living History stellt vielmehr bis heute ein bevorzugtes Aufführungsgenre dar – vom »living history museum« in Colonial Williamsbury, das bereits 1927 gegründet wurde, oder der Plimoth Plantation bis hin zu den Reenactments von Ereignissen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Auch ihre Funktion bestand in der Aneignung der eigenen Geschichte durch eine »kinesthetic imagination« 22 , die eine enge Beziehung zwischen der historischen Erinnerung und dem eigenen, sie verkörpernden Leib suggeriert. Sie »inhabits the realm of the virtual. Its truth is the truth of simulation, of fantasy, or day dreaming (where) imagination and memory converge«23. Die Reenactments wurden so zu Trägern der kulturellen Erinnerung, die im-

21 Vgl. dazu Green, Martin: New York 1913. The Armory Show and the Paterson Strike Pageant, New York: Scribner 1988. 22 Roach, John: Cities of the Dead, New York: Columbia Univ. Press 1996, S. 26. 23 Ebd., S. 27.

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stande sein sollten, politische Ereignisse der Vergangenheit durch die individuelle Verkörperung im Gedächtnis lebendig zu halten.24 Diese Funktion erfüllte eines der in der Theatergeschichte bekanntesten und meistzitierten Reenactments auf eine ganz besondere Weise – die Erstürmung des Winterpalais in Petrograd. Es kam am 7. November 1920, dem Jahrestag der Oktoberrevolution (am 25. Oktober 1917 nach dem alten Kalender) auf dem Platz vor dem Winterpalais unter der Leitung von Nikolai Evreinov, Nikolai Petrov, Jurij Annenkov und Alexander Kugel zur Aufführung. Die Authentifizierungsstrategien betrafen in diesem Fall nicht nur den Raum und die Zeit – an der Aufführung waren auch Soldaten beteiligt, die seinerzeit bei der Erstürmung mitgewirkt hatten. Trotz dieser mehrfachen Authentifizierung wich das Reenactment in vielen Punkten von dem »Originalereignis« ab – wie es generell für Reenactments üblich ist. Ganz offensichtlich folgte die Aufführung einem mythischen Schema. Sie begann um 22 Uhr in völliger Dunkelheit – auch die Lichter im Winterpalais waren erloschen – und endete eineinviertel Stunden später mit einem Feuerwerk, das mit roten Sternen und Lichtbündeln den nächtlichen Himmel strahlend erleuchtete. Die Scheinwerfer des Schlachtschiffes Aurora, das wie vor drei Jahren hinter dem Palast auf der Newa vor Anker lag, beleuchtete ihn von hinten, so dass er durchsichtig zu werden, ja geradezu in Licht sich aufzulösen schien. Dann schwenkten die Scheinwerfer zusammen mit denen auf dem Platz auf einen Punkt über dem Palast, wo eine riesige rote Fahne gehisst wurde, die sie in Licht tauchten, und in den Fenstern des Palastes flammte das Licht auf. Mit dem Erfolg der Revolution hatte das Licht endgültig die Dunkelheit besiegt – was jeder Teilnehmer leiblich erspüren und erfahren konnte. Diesem mythischen Muster folgte die gesamte Aufführung. Auf dem Platz waren vor der Fassade des Generalstabs, der den Platz zu der dem Winterpalast gegenüberliegenden Seite abschloss, zwei Plattformen errichtet – eine weiße und eine rote Bühne. Jede der beiden wies unterschiedliche Spielebenen auf. Auf der roten Bühne befanden sich Gebäude aus roten Ziegelsteinen, Fabriken, ein großer Platz und ein Gedenkobelisk. Die beiden Bühnen waren mit einer Brücke verbunden, die den Bogen des Gene-

24 Vgl. Carlson, Marvin: »Performing the Past: Living History and Cultural Memory«, in: Erika Fischer-Lichte/Gertrud Lehnert (Hg.), Inszenierungen des Erinnerns, Paragrana, 8.2 (2000) (2), S. 237-248.

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ralstabs dahinter nachvollzog. Auf dieser Brücke trafen sich die Bewohner der beiden Welten und kämpften gegeneinander. Das Orchester, das aus 500 Musikern bestand und unter der Leitung von Hugo Varlich spielte, saß hinter der Brücke unter dem Bogen des Generalstabs. An der Aufführung waren ca. 8.000 Darsteller beteiligt, überwiegend Amateure, und mehr als 100.000 Zuschauer. Sie standen in zwei Blöcken in der Mitte des Platzes, durch einen breiten Korridor voneinander getrennt, der vom Eingang des Generalstabs bis zum Winterpalast reichte und ebenfalls als Spielfläche verwendet wurde. Darüber hinaus war auf der linken Seite des Platzes (vom Palast aus gesehen) eine Zuschauertribüne für VIPs errichtet, die so auf die Ereignisse auf den Spielfeldern und in den Zuschauerblöcken herabblicken konnten. In der Mitte des Platzes war um die hier aufragende Alexandersäule eine Plattform aufgebaut, auf der sich die Regisseure befanden, die mit Hilfe von Feldradios, Lichtsignalen und Motorradkurieren den Gang der Aufführung orchestrierten. Militäreinheiten, Lastwagen, und Automobile parkten in den Seitenstraßen, die zum Platz führten, wo sie auf ihren »Auftritt« warteten, der ihnen vom Leiter angezeigt werden würde. »Gegen zehn Uhr war ein gedämpfter Kanonendonner zu hören und das Brückenkommando, das um die Alexandersäule errichtet war, gab das Signal zum Beginn. Die Bogenbrücke wurde erleuchtet und acht Fanfaren erklangen mit einem schallenden durchdringenden Ton. Als der Laut verklungen war, verschwanden sie wieder in der Dunkelheit. Die Stille, die folgte, wurde von Litoffs mächtigem Robespierre gebrochen, gespielt vom Petrograder Militärsymphonieorchester. Und die Aufführung begann«.25

Im selben Moment wurden die 150 Scheinwerfer eingeschaltet, die auf die Dächer der umliegenden Gebäude montiert waren. Sie warfen ihr Licht auf die Darsteller auf der Seite der weißen Bühne, welche die Handlung eröffneten.

25 N. Šubskij: ›Na plošþadi Uritskogo (Vpeþatleniia moskviþa) (Auf dem UritzkiPlatz (Eindrücke eines Moskauers))‹, in: Vestnik teatra (Theatre Messenger) 75, 1920, S. 4-5, hier S. 4.

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»Die Hauptfiguren auf der Bühne waren Kerenskij, die provisorische Regierung, hohe Beamte und wichtige Finanzleute des alten Regimes, das Frauenbataillon, Landbesitzer, Banker und Kaufleute, Frontkämpfer, Krüppel und Invaliden, begeisterte Männer und Frauen, zum Kompromiss bereit [...]. Das erste Licht, das auf sie fiel, zeigte ihren Sieg als Karikatur. Kerenskij erschien vor der wartenden Menge, begleitet von den Klängen der Marseillaise, die als Polonaise arrangiert war. Der Schauspieler, der ihn gab, ahmte die Bewegungen des Ex-Premiers nach und zog, wie er so in seiner Khaki-Hose dastand, die Aufmerksamkeit der Menge auf sich.«26

Von der dunklen Bühne der Roten erhob sich ein unartikuliertes Gemurmel, während auf der Bühne der Weißen die Fortsetzung des Krieges beschlossen wurde. Jetzt wechselten die Scheinwerfer zu den Roten und ließen Arbeiter, Frauen, Kinder erscheinen, wie sie erschöpft aus den Fabriken herauswankten. Verstümmelte Soldaten schleppten sich auf die Brücke, weil neue Truppen gebraucht wurden. »Die Ereignisse auf der Bühne der Roten schienen eher ›unpersönlich‹ zu sein. Die Massen waren zunächst grau, geschlossen, unorganisiert. Gleichwohl wurden sie zunehmend aktiver, besser organisiert und mächtiger. Von der ›Miliz‹ bedrängt, verwandelten sie sich in die Rote Gnade, die mit flammend roten Bannern Gestalt annahm.«27

Die Handlung wechselte dergestalt zwischen den Weißen und den Roten hin und her, bis die Menschen von der roten Bühne auf die Brücke marschierten – in eine Schlacht mit den Weißen. Wie als Folge des Sieges der Roten brach die Bank mit den Staatssekretären zusammen. Zwei Automobile fuhren schleunigst zu den Treppen der weißen Bühne und die Sekretäre verschwanden in ihnen zusammen mit Kerenskij, der mit einem Salto mortale herunterkam. Die Autos rasten über den Korridor hinein in das Tor des Winterpalastes. Von diesem Moment an bildete der Winterpalast die Hauptbühne. Auf der Bühne der Weißen spielten 2685 Darsteller einschließlich 125 Balletttänzern, 100 Zirkusartisten und 1750 Statisten. 600 von ihnen waren geschminkt – diejenigen nämlich, welche die Politiker, Banker, Fabrik- und

26 Ebd. 27 Ebd.

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Landbesitzer sowie deren Entourage darstellten. (Schminke zeigt in der orthodoxen Tradition die Verfallenheit an den Teufel an.) Kerenskij und die Staatssekretäre wurden von professionellen Schauspielern und Zirkusartisten gespielt. Auf dieser Bühne herrschten Farce und Slapstick vor. Die Bühne der Roten war von noch mehr Mitspielern bevölkert. Unter ihnen befand sich eine große Anzahl von denen, die an der wirklichen Erstürmung des Winterpalastes vor drei Jahren beteiligt waren. Alle Spieler trugen Alltagskleidung und waren nicht geschminkt. Sie spielten in einem heroischen Stil. Als sie begannen, ihre Bewegungen und Gesten zu koordinieren und zu synchronisieren, fingen sie an, sich allmählich selbst zu organisieren. Nicht ein einzelner Spieler überragte die anderen und zog die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf seine individuelle Darstellung, wie es bei den professionellen Schauspielern auf der Bühne der Weißen der Fall war. Dies lag nicht an ihrem Unvermögen, sondern folgte den Anweisungen des Regisseurs: »Das Zeitalter der Statistenrollen ist vorbei. Ihr seid möglicherweise wichtiger als die Schauspieler der alten Schule. Ihr seid Teil eines kollektiven Schauspielers. Aus der Form und der Breite dessen, was ihr erlebt habt, aus Euren Leiden ist eine neue Wertung einer neuen Handlung entstanden.« 28

Im Libretto wird betont, dass in der Inszenierung nicht »gedrillte Künstler« auftreten, sondern »ein kollektiver Schauspieler, ein Virtuose in dieser Kunst« 29 . Es ist sogar von einem »mythischen Schauspieler-Riesen« die Rede, »dem Träger neuer, monumentaler Theaterformen. Unterstützt vom Rhythmus der Massenbewegung, folgt er nicht länger irgendwelchen kalkulierten Berechnungen; seine Quantität ist längst in eine neue Qualität umgeschlagen und verströmt sich wie jeder individuelle Schauspieler als eine

28 Zit. nach O.A. »Chronika. Truppa improvizatorov« (Eine Chronik. Eine Gruppe von Improvisatoren), in: Žizn Iskusstva 110, 3. April 1919, S. 3. 29 O.A., »Libretto instsenirovki ›Vzjatie Zimnego dvortsa‹« (Libretto der Inszenierung »Erstürmung des Winterpalais«), in: A.Z. Iufit (Hg.), Russkij sovetskij teatr 1917-1921, Dokumenty i materialy, Leningrad: Iskusstvo, S. 272-273, hier S. 272.

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Quelle neuer Ausdrucksformen«30. Ein anderer Berichterstatter dagegen kritisierte, dass der Chor in »eine Menge von Statisten«31 zerfiel. Der Gegensatz zwischen den beiden Bühnen und Schauspielstilen erinnert an den Gegensatz zwischen der derben Possenreißerei und dem zeremoniellen Schauspielstil, den Evreinov in seinen Aufführungen mittelalterlicher geistlicher Spiele vor dem Krieg entwickelt hatte. In diesen Spielen stach eine Szene ganz besonders hervor – Christi Höllenfahrt zur Befreiung der gequälten Seelen. Während die Teufel derbe Possen rissen, waren Christus und die armen gemarterten Seelen, die sich nach der Ankunft des Heilands sehnten, durch einen eher zeremoniellen Stil gekennzeichnet. Christi Höllenfahrt stellte auch in der orthodoxen Ikonographie einen besonders beliebten Gegenstand dar. Es liegt nahe, dass viele Zuschauer die Szene des ersten Teils zu Christi Höllenfahrt in Verbindung brachten, die der Auferstehung voranging. Die Darsteller auf der weißen Bühne und vor allem jene, die geschminkt waren, ließen sich mit den Teufeln identifizieren. Die Arbeiter, Soldaten, Frauen und Kinder auf der roten Bühne dagegen ähnelten den gemarterten Seelen. Und so wie in den geistlichen Spielen die Menge nach Jesus rief, sie zu befreien, riefen die Menschen auf der roten Bühne nach Lenin: »Zaghaft erklang die ›Internationale‹ und Rufe ›Lenin! Lenin‹ erhoben sich über die Musik, zuerst vereinzelt und dann von hunderten von Stimmen«32. Ein Mann im Mantel mit Kappe erschien auf einer der höheren Plattformen. Aller Augen richteten sich wie gebannt auf ihn. Er rief die Arbeiter zu einer bewaffneten Revolution auf. Damit war ein deutlicher Unterschied markiert. Während in der christlichen Mytholo-

30 N. Šubskij: ›Na plošþadi Uritskogo (Vpeþatleniia moskviþa) (Auf dem UritzkiPlatz (Eindrücke eines Moskauers))‹, S. 5. 31 Piotrovskij, A.: »Chronika Leningradskich prazdnestv 1919-1922« (Chronik der Leningrader Feste 1919-1922), in: A. Gvozdev, A. Piotrovskij und N.P. Izvekov (Hg.), Massovye prazdnestva (Massenfeste), Leningrad: Gosudarstvennyi Institut Istorij iskusstv 1926, S. 53-84, S. 16/17. 32 N. Evreinov: »Vzjatie Zimnego dvortsa« (Erstürmung des Winterpalais), in V.E. Rafaloviþ, E.M. Kuznecov, A.A. Gvozdev und A.I. Piotrovskij (Hg.), Istoriia sovetskogo teatra. Tom pervyj. Petrogradskie teatry na poroge Oktiabria i v epoku Voennogo kommunizma 1917-1921 (Geschichte des Sowjettheaters, Band 1, Die Petrograder Theater am Vorabend des Oktobers und zur Zeit des Kriegskommunismus 1917-1921), Leningrad 1933, S. 279.

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gie Christus die Tore zur Hölle aufreißt und die Seelen befreit, forderte Lenin hier die Massen auf, sich selbst zu befreien. Im Vergleich zu vorhergehenden Massenspektakeln 33 war die aktive Beteiligung der Zuschauer eingeschränkter. Sie bestand lediglich im Gelächter über Kerenskij und seine Leute, in Kommentaren zu ihrem späteren, wohlverdienten Schicksal, im Einstimmen in die »Hurra«-Rufe der Soldaten und Arbeiter, als Kerenskij in Frauenkleidern vom Winterpalast entkam, nachdem die Proletarier die Schlacht gewonnen hatten. Es gab keinen gemeinsamen Gesang wie sonst üblich. Die Internationale wurde lediglich vom Orchester gespielt, ohne dass die Zuschauer einstimmten. Lediglich ein einziges Mal sang ein gewaltiger Chor sie mit – beim Erscheinen Lenins. Das heißt allerdings nicht, dass es keine Interaktion zwischen Spielern und Zuschauern gab: »Im Zuge des wachsenden revolutionären Impetus stieg die Stimmung innerhalb der dichten Masse von Arbeitern und Soldaten, die weiterhin herbeiströmten, aber ebenso im Publikum [...]. Es gab ganz sicher Momente, in denen die Leute ihre Emotion abreagierten, indem sie elektrische Wellen von Nervenkitzel und Aufregung aussandten und zuletzt zu zwei Pupillen und einem weit offenen Mund verschmolzen, wie angenagelt in Aufmerksamkeit.« 34

Als der Angriff auf den Winterpalast begann, »waren die Zuschauer elektrifiziert, die Leute waren nahe daran, im nächsten Augenblick die Barrieren niederzureißen und zusammen mit den Arbeitern und den Soldaten vorwärts zu stürmen, um die verhasste Kerenskij Meute und ihre Gemütsruhe aufzubrechen«35. Ein solcher Augenblick trat allerdings erst kurz vor dem Ende der Aufführung ein, als Kerenskij entkommen war und die »Aurora«, die 1917 den Winterpalast bombardiert hatte, ihre Kanonen feuerte. Jetzt vereinigten sich die Zuschauer mit den Spielern, um die Revolution zu fei-

33 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: »Times of revolution – times of festival. The Soviet mass spectacles 1917-1920«, in: Dies., Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre, London/New York: Routledge 2005, S. 97-121 34 N. Šubskij: ›Na plošþadi Uritskogo (Vpeþatleniia moskviþa) (Auf dem UritzkiPlatz (Eindrücke eines Moskauers))‹, S. 4. 35 Ebd.

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ern. Die Scheinwerfer der Aurora und vom Platz vor dem Winterpalast richteten sich auf die rote Fahne, die über ihnen flatterte, und das Feuerwerk sprühte rote Sterne. Die Aufführung endete mit »einem gemeinsamen Chor und einer festlichen Prozession, der sich die Zuschauer anschlossen«36. In der Schlussapotheose waren endlich Spieler und Zuschauer vereinigt, um den Sieg der Revolution als ihre Erlösung gemeinsam zu feiern. Vergleicht man das Reenactment mit Dokumenten zur Erstürmung des Winterpalastes, springen die Unterschiede sofort ins Auge. Das historische Ereignis lief als ein eher chaotisches Getümmel ab. Außerdem ergaben sich alle Regierenden mit Ausnahme des Frauenbataillons. Das Reenactment, das mit so auffälligen Authentifizierungsstrategien arbeitete, hatte gleichwohl nicht die Funktion, das historische Ereignis so zu wiederholen, wie es sich tatsächlich zugetragen hatte. Vielmehr war es seine Aufgabe, einen Ursprungsmythos zu schaffen – den Mythos der Revolution – wie er wenig später von anderen aufgegriffen und weiter ausgearbeitet wurde, ganz besonders prominent von Sergej Eisenstein in seinem Film Zehn Tage, die die Welt erschütterten. Nicht umsonst wurde in der Aufführung nicht nur auf den mythischen Kampf zwischen den Kräften des Lichts und denen der Finsternis angespielt, der mit dem endgültigen Sieg des Lichtes endet, sondern auch deutlich auf die allen bekannte Geschichte von Christi Höllenfahrt, der Erlösung der gemarterten Seelen und seiner Auferstehung, mit der eine neue Zeitrechnung begann. Der Mythos der Revolution, wie er vom Reenactment der Erstürmung des Winterpalastes geschaffen und artikuliert wurde, beinhaltete das Ende der Geschichte durch die Revolution. Geschichte erschien hier als Heilsgeschichte, die Revolution als Befreiung der in der Hölle gemarterten Seelen – als Antizipation der Erlösung am Jüngsten Tag. Das historische politische Ereignis der Revolution wurde im und durch sein Reenactment in ein mythisches Ereignis verwandelt, das sich nicht in geschichtlicher, sondern in heilsgeschichtlicher Zeit zugetragen hat. Das Reenactment, das eine Nähe suggerierte, da es sich hier und jetzt ereignete, entzog damit das in ihm wiederholte Geschehen sowohl der Geschichte als auch der Kritik. Es transformierte es in einen Mythos: ein geschichtliches Ereignis wurde so als ein Mythos angeeignet.

36 Gregor, Joseph/Fülöp-Miller, Rene: The Russian Theatre, its Character and History with Especial Reference to the Revolutionary Period, Philadelphia: Lippincott Williams&Wilkins 1928, S. 104.

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Vergangenheit und Zukunft waren im Hier und Jetzt des aufgeführten Mythos unmittelbar aufeinander bezogen: die Vergangenheit ist endgültig vorbei, die Gegenwart ist die Zukunft. Von nun an gibt es nur noch das Hier und Jetzt als Rückbezug auf den Ursprungsmythos.

R EENACTMENTS KÜNSTLERISCHER P ERFORMANCES ZU B EGINN DES NEUEN M ILLENNIUMS Die bisher besprochenen Reenactments fanden zu bestimmten Zeiten statt, die als Feier eben jenes Ereignisses, das nachgespielt wurde, dem linearen Verlauf der historischen Zeit enthoben waren, und wenn möglich, an eben jenen Orten, an denen es sich zugetragen hatte. Bei den Spielern handelte es sich überwiegend nicht um professionelle Künstler, sondern um Laien. Die Geschichte, die sie sich mit dem Reenactment aneigneten, war die ihrer eigenen – religiösen, nationalen, klassenspezifischen – Gemeinschaft, die durch die verkörperte Vergegenwärtigung eben dieser Geschichte als Gemeinschaft bestätigt wurde. Alle diese Bedingungen gelten nicht für die Reenactments künstlerischer Performances, die abschließend diskutiert werden sollen. Aus Anlass der ersten Performance Art Biennale Performa 05, die im New Yorker Guggenheim Museum vom 6. bis 21. November 2005 stattfand, führte Marina Abramoviü Seven Easy Pieces auf. Bei diesen Performances, die an sieben aufeinander folgenden Tagen, vom 9. bis 15. November, jeweils sieben Stunden lang von 17 Uhr bis Mitternacht gezeigt wurden, handelte es sich um Reenactments von sechs Aktionen und Performances der ausgehenden 1960er und frühen 1970er Jahre – von Bruce Naumans Body Pressure (4. Februar bis 6. März 1974 in der Galerie Konrad Fischer, Düsseldorf), Vito Acconcis Seedbed (15. bis 29. Januar 1972, zweimal die Woche für jeweils sechs Stunden in der Sonnabend Gallery, New York), VALIE EXPORTs Aktionshose Genitalpanik (22. April 1969 in den Augusta Lichtspielen München, mit einer Dauer von ungefähr 10 Minuten), Gina Panes The Conditioning, first action of self-portrait(s) (1973, in der Galerie Stadler, Paris, mit einer Dauer von 30 Minuten), Joseph Beuys’ Aktion Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt (26. November bis 31. Dezember 1965, am Eröffnungsabend für drei Stunden in der Galerie Schmela, Düsseldorf) sowie Abramoviüs eigener Performance

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Lips of Thomas (14. November 1975 in der Galerie Krinzinger, Innsbruck, mit einer Dauer von zwei Stunden). Am siebenten Abend führte die Künstlerin eine neue eigene Performance mit dem Titel Entering the Other Side auf. Die zehn Jahre zwischen 1965 und 1975, denen die sechs Aktionen und Performances entstammten, können in gewisser Weise als Gründungszeit von Aktions- und Performance-Kunst gelten. Mit ›Vorläufern‹ wie John Cage bereits in den 1950er Jahren oder den Wiener Aktionisten, die seit den ausgehenden fünfziger, frühen sechziger Jahren ihre Aktionen durchführten, fällt in das von Beuys’ Aktion Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt und Abramoviü’ Lips of Thomas markierte Jahrzehnt die Entstehung und Durchsetzung der neuen Kunstformen, die ganz dezidiert aus Protest gegen den zeitgenössischen Kunstmarkt ebenso wie gegen das zeitgenössische Theater proklamiert und erprobt wurden. Anstelle von Werken, die als käufliche Waren auf dem Kunstmarkt zirkulieren, schufen die Künstler ephemere Aufführungen, die ihr Ende nicht überdauern. Einige in dieser Hinsicht besonders radikale Künstler/innen wie Maria Abramoviü ließen nicht einmal Fotografieren und Filmen während der Performance zu und vernichteten nach ihrem Ende die in ihr verwendeten Gegenstände. Andere, wie zum Beispiel Joseph Beuys, arbeiteten mit Fotografen und Filmemachern zusammen, um eine Dokumentation der Aktion zu sichern, verwendeten manche Gegenstände – wie den Eurasienstab – in verschiedenen Aktionen und überließen sie später einem Museum. Ein großer Teil der zwischen 1965 und 1975 entstandenen Aktionen und Performances sind nur schlecht dokumentiert. Angesichts dieser Situation kann es durchaus verwundern, dass Marina Abramoviü bei der Performa 05 ausgerechnet Aktionen und Performances aus dem Jahrzehnt zwischen 1965 und 1975 wieder aufführen wollte. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass es eben darum ging, die schlecht dokumentierten Kunstereignisse der Gefahr des Vergessens zu entreißen. Die Künstlerin eignete sich ihre Geschichte an, um ihre Überlieferung sicherzustellen. Dafür spricht auch, dass sie ihre Wiederaufführungen sorgfältig dokumentieren ließ. Für dies Vorhaben kam dem Aufführungsort der Seven Easy Pieces eine wichtige Bedeutung zu – dem Solomon R. Guggenheim Museum in New York, einem der berühmtesten Museen für die Geschichte der Modernen Kunst. Hier handelt es sich um einen Ort, der nicht nur ausdrücklich der

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Kunst geweiht ist, sondern auch einen repräsentativen Überblick über die Geschichte der modernen Kunst verspricht. Das Museum erfüllt seine Mission, indem es Werke der Avantgarde ausstellt, die es den Besuchern in einer Weise und spezifischen Regeln folgend präsentiert, die eine bestimmte Perspektive auf die und Version von der Geschichte der modernen Kunst suggerieren, welche die Besucher nacherzählen und verstehen lernen, indem sie der vorgegebenen Route folgen. Wenn an diesem Ort im Rahmen der ersten Performance Art Biennale Abramoviü’ Seven Easy Pieces als Wiederaufführungen von Aktionen und Performances aus den Jahren zwischen 1965 und 1975 angekündigt wurden, dann lassen sie sich als ein Phänomen bewerten, das einerseits einen Beitrag zur Biennale darstellte – also als zeitgenössische Kunst zu verstehen ist –, andererseits aber damit zugleich die Geschichte der Performance-Kunst aus den Jahren 1965-1975 auf eine ganz besondere Weise erzählte und so ein spezifisches Wissen über sie generierte. Das Material, das der Künstlerin in den meisten Fällen zur Verfügung stand, war – nicht zuletzt wegen der eingangs skizzierten Auffassung der Aktions- und Performance-Künstler über die Einzigartigkeit und NichtWiederholbarkeit ihres Tuns – spärlich. Es bestand aus Fotografien, einem unbearbeiteten Filmmitschnitt (im Falle Beuys) und Berichten von Zeitgenossen. Einem derartigen Material lässt sich wohl kaum der Status einer belastbaren Dokumentation oder einer klaren Handlungsanweisung zusprechen. Abramoviüs Reenactments beanspruchten wohl, Wiederaufführungen der genannten Aktionen und Performances zu sein, die jedoch in keinem Fall mit dem Original identisch waren oder sein sollten. Um herauszufinden, was für ein Wissen mit Seven Easy Pieces über die Geschichte der Aktions- und Performance-Kunst der Zeit zwischen 1965 und 1975 generiert wurde, muss zunächst ihr Rahmen berücksichtigt werden, d.h. Zeit und Raum der Aufführungen, ehe auf einzelne Aufführungen genauer eingegangen werden kann. Die Aufführungen fanden an sieben aufeinanderfolgenden Tagen statt und dauerten jeweils sieben Stunden. Abramoviü performte in der Mitte der Rotunde des Guggenheim auf einer hölzernen Rundbühne von ca. vier bis fünf Meter Durchmesser und einer Höhe von ca. einem Meter. Rund um die Bühne wand sich die berühmte Spirale der Rotunde hoch, die den Zuschauern die Möglichkeit bot, die Aufführungen von allen Seiten und verschiedenen Ebenen zu verfolgen: am Boden kauernd und zur Bühne hochbli-

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ckend, ungefähr auf derselben Höhe wie die Künstlerin sowie von weiteren jeweils höher gelegenen Ebenen auf sie hinunterschauend. Sowohl die Zeit als auch der Ort legten spezifische Assoziationen nahe. Die sieben Tage erschienen wie eine ironische Anspielung auf die Schöpfungsgeschichte, wie sie in der Bibel erzählt wird (Moses 1 und 2, 1-4). So wie Gott die Welt in sechs Tagen schuf und am siebten ruhte, wobei er sein Werk betrachtete und sah, dass es gut war, schuf Marina Abramoviü an sechs Tagen Performances der Vergangenheit neu, um dann allerdings am siebten eine ganz neue Performance zu schaffen – Entering the Other Side: Aus einem riesigen blauen Festtagskleid, das nicht nur ihren Körper bedeckte, sondern die ganze Bühne – die Welt, auf der sie die letzten Tage agiert und gelitten hatte –, erhob sich die Künstlerin, nun sorgfältig frisiert und geschminkt, hoch über die Bühne und betrachtete von da freundlich lächelnd die Rotunde und die Zuschauer, sich leicht hin und her bewegend und ihnen mit zwischenzeitlich wie zum Segen ausgebreiteten Armen zugewandt, um so mit ihnen gemeinsam die Vollendung ihres Werkes zu feiern. Indem die Künstlerin die Geschichte der Genesis zitierte und auf spezifische Art transformierte, schien sie die Vorstellung vom – männlichen – Künstler als einem Gott gleichen Schöpfer zu ironisieren. Hier handelte es sich nicht um Werke, die als solche fixier- und tradierbar sind – und eine ewige Wahrheit enthalten –, sondern um flüchtige, vergängliche Aufführungen, die an den Leib der Künstlerin gebunden waren und unfähig, ihr Ende zu überdauern – auch wenn sie andere vergängliche Aufführungen wieder ins Leben zurückzurufen suchte. Die sieben Tage dieser Schöpfung, die sieben Stunden, die jede dauerte, markierten so die Zeitspanne ihrer vorübergehenden Existenz. Wenn wir davon ausgehen, dass in Seven Easy Pieces eine spezifische Geschichte der Performance-Kunst erzählt wurde, gilt es daher zu bedenken, dass ihre ›Geschichtsschreibung‹ ebenso flüchtig war wie die Aufführungen, auf die sie sich bezog; und dass sie eingestandenermaßen aus einer subjektiven Perspektive und unter ganz subjektiven Bedingungen vollzogen wurde – darunter den Bedingungen, die durch Abramoviü’ leibliches In-der-Welt-Sein und die Dauer von sieben Stunden, die länger war als jede der wiederaufgeführten Performances, gesetzt waren. Der Aufführungsort, die Rotunde mit ihrer Spirale, ließ die Assoziation eines Theatrum anatomicum aufkommen. Die Zuschauer konnten von ver-

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schiedenen Ebenen aus auf das Geschehen in der Mitte hinunter- oder zu ihm hinaufschauen, ohne dass für sie hier die Möglichkeit einzugreifen bestanden hätte. Wann immer ein Zuschauer sich der Bühne näherte, wurde er von einem Museumswächter an weiteren Schritten gehindert. Wo im Theatrum anatomicum der Seziertisch stand, an dem der Anatom wirkte, befand sich hier die Rundbühne, auf der Abramoviü agierte. Und während der Anatom mit dem Messer bisher unbekannte Schichten und Teile des toten Körpers freilegte und damit neues Wissen über den menschlichen Körper generierte, ›sezierte‹ Marina Abramoviü Aufführungen der Vergangenheit, um ein spezifisches Wissen über sie zu generieren und zugleich sie im Hier und Jetzt wieder zum Leben zu erwecken. Sie wirkte also nicht nur wie ein Anatom, sondern auch wie eine Schamanin, die, mit besonderen Kräften begabt, vergangenes Leben in ihrem und durch ihren Leib wieder heraufzubeschwören vermag. Wie geschah nun die ›Sektion‹, durch die zugleich eine ›Auferstehung‹ sich ereignen sollte? Dies soll kurz an zwei Beispielen erörtert werden – an den Wiederaufführungen von VALIE EXPORTs Aktionshose Genitalpanik und Gina Panes The Conditioning, first action of Self-portrait(s).37 Am dritten Abend führte Abramoviü VALIE EXPORTs Aktionshose Genitalpanik auf. Von der Aktion selbst gibt es keine Aufzeichnung. Abramoviü lag lediglich die Beschreibung vor, die VALIE EXPORT 2005 der Kuratorin Nancy Spector gegenüber lieferte, sowie ein Foto, das vor oder nach der Aktion geschossen wurde. Beides ist in Abramoviü’ Band abgedruckt. 38 Die Aktion, die ca. 10 Minuten dauerte, bestand darin, dass die Künstlerin vor der Vorführung ihrer Filme im Münchner Augusta Kino erschien, mit einer Jacke und einer Hose bekleidet, die im Schritt ausgeschnitten war, so dass ihre Scham deutlich zu sehen war. In dieser Aufmachung ging VALIE EXPORT langsam an den Reihen vorbei, nachdem sie die Zuschauer darauf aufmerksam gemacht hatte, dass das, was sie gleich

37 Zu diesen Performances vgl. die Beschreibungen bei Umathum, die auch die unterschiedlichen Atmosphären der einzelnen Abende treffend wiedergeben: Umathum, Sandra: »Beyond Documentation, or, The Adventure of Shared Time and Place. Experiences of a Viewer«, in: Marina Abramoviü: Seven Easy Pieces, Mailand: Charta 2007, S. 47-55, hier S. 49. Ich zitiere hier wie im Folgenden nach dem deutschen Manuskript. 38 Marina Abramoviü, Seven Easy Pieces, Mailand: Charta 2007.

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sehen würden, real sei und nicht auf der Leinwand und dass jeder die Zuschauer sehen würde, während sie dies betrachteten. Die meisten Zuschauer standen schweigend auf und verließen das Kino. Das Foto zeigt die Künstlerin in derselben Aufmachung breitbeinig auf einem Stuhl sitzend, den linken Fuß auf einen zweiten etwas entfernter platzierten gestützt und mit beiden Händen rechts senkrecht nach oben ein Gewehr haltend – ein Foto, das seinerzeit durch alle Zeitungen ging, das »Skandalöse« der Aktion, bei der es gar nicht aufgenommen war, für ein Millionenpublikum illustrierend. Interessanterweise ließ Abramoviü die Beschreibung gänzlich unberücksichtigt. Ihre Performance bestand im Wesentlichen darin, dass sie das Foto nachstellte. In eine schwarze Lederjacke und schwarze Jeans gekleidet, die im Schritt ausgeschnitten waren, saß sie in derselben Pose wie VALIE EXPORT auf dem Foto auf einem Stuhl, den linken Fuß auf einen anderen Stuhl gestützt, das Gewehr – hier deutlich eine Kalaschnikow – allerdings mit beiden Händen waagerecht auf den Knien haltend, den Finger der rechten Hand unübersehbar am Abzug, als wolle sie rundherum in die Menge feuern. Erst nach ca. zwei Stunden erhob sie sich – jedoch nicht, um durch die sitzenden und stehenden Zuschauer hindurch zu gehen. Vielmehr blieb sie auf der Bühne breitbeinig stehen, ließ ihren Blick durch die Rotunde schweifen und fixierte ihn dann – ob auf einen Punkt im Raum oder einen bestimmten Zuschauer, ließ sich nicht erkennen. Nach ca. einer Stunde nahm sie wieder ihre Ausgangsposition auf dem Stuhl ein. Auch die zweite Pose rief die Erinnerung an ein Foto wach. Es zeigt VALIE EXPORT in derselben Aufmachung wie auf dem ersten barfüßig vor einer Hütte stehend. Es war also weniger VALIE EXPORTs Aktion, die hier wieder aufgeführt wurde; vielmehr handelte es sich um einen Versuch, ein Foto in einer Art lang andauerndem tableau vivant zu vergegenwärtigen, das zur Skandalisierung der Aktion ebenso beigetragen hat wie zu ihrem Eingang ins kollektive Gedächtnis, welches die Aktion als konstitutiven Bestandteil der Geschichte von Aktions- und Performance-Kunst, ja geradezu als geschichtsträchtig und Geschichte schreibend bis heute aufbewahrt. Die sogenannte re-performance entpuppt sich in diesem Fall also als eine Reflexion auf die Bedingungen der Geschichtsschreibung und damit auf die Rolle von Mediatisierungen wie in diesem Falle Fotografien: Sie bedarf spezifischer

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dauerhafter Dokumente, um ihren Platz im kollektiven Gedächtnis er- und behalten zu können. Von Gina Panes Aktion The Conditioning, first action of Self-por– trait(s), gibt es ein Foto, das die Künstlerin, mit einer Bluse, langen Hose und Schuhen bekleidet, auf einem Grillrost ähnlichen Eisenbett liegend zeigt, unter dem sechs Reihen von je drei 25 cm langen brennenden Kerzen stehen. Die Flammen züngeln nur wenige Zentimeter von dem Körper der Künstlerin entfernt. Sie konnte die Hitze dreißig Minuten ertragen – dann verließ sie das Bettgestell. Abramoviü lag auf einem Eisengestell, das demjenigen auf dem Bild glich. Auch hier waren die 25 cm langen Kerzen in sechs Reihen von je drei angeordnet. Da Abramoviü sich der Hitze der Kerzen sieben Stunden lang aussetzen wollte, trug sie einen feuerfesten grauen Overall. Immer wenn die Kerzen fast heruntergebrannt waren, rollte sich die Künstlerin vom Eisengestell, holte neue Kerzen aus einem neben dem Bett platzierten Kasten, trank einen Schluck Wasser und machte sich daran, die Reste der Kerzen mit einem Messer zu entfernen, neue anzuzünden und einzusetzen. Für die Arbeit band sie ihr Haar mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen, das sie wieder entfernte, ehe sie sich erneut aufs Gestell legte, das Haar vom Gestell bis auf den Boden hängend. Dieser Vorgang wiederholte sich alle 40 bis 50 Minuten. Die dreißigminütige Performance von Gina Pane wurde hier zu einer vierzig- bis fünfzigminütigen Performance gedehnt und diese gedehnte Performance im Laufe des Abends in ständigen Wiederholungen wieder aufgeführt. Es waren diese Wiederholungen, mit denen auf das Problem der Wiederholbarkeit von Performances reflektiert wurde. Denn keineswegs handelte es sich hier um Wiederholungen des immer Gleichen. Schon nach zwei Stunden machten sich die ersten Veränderungen bemerkbar, die anfangs nur minimal waren, im weiteren Verlauf des Abends jedoch immer deutlicher hervortraten. Abramoviü’ Gesicht wurde immer bleicher, die Bewegungen, mit denen sie sich vom Bett rollte und die Vorbereitung für die nächste Runde traf, immer kraftloser und langsamer. Die Wiederholungen erschienen nicht mehr als genaue Kopie des Vorhergehenden, sondern als seine Veränderung, die von Mal zu Mal signifikanter wurde. Der Abfolge der Wiederholungen wuchs so eine ganz neue Qualität zu. Dies zeigte sich auch in den Zuschauerreaktionen. Als nach fast fünf Stunden Abramoviü sich wieder vom Bett rollte, erhoben sich alle Zuschauer wie auf ein

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geheimes Zeichen. Sie ließen sich erst wieder nieder, nachdem die Künstlerin auf dem Bett lag. Wie Umathum es beschreibt, verwandelte sich die Atmosphäre im Verrinnen der Zeit in eine feierliche und sakrale, die das Gefühl vermittelte, eine Totenwache zu halten, »bei der die Tote wieder zum Leben erwacht, sobald die Kerzen auszugehen drohen, und bei der es der Respekt verbietet, ihr in der kurzen Zeit ihrer Lebendigkeit nicht sitzend, sondern stehend zu begegnen«.39 Es war eine völlig neue, ganz eigenartige Performance entstanden. Sie lässt sich in gewisser Weise als Allegorie des Tuns der Künstlerin an diesen sechs Tagen verstehen – als Allegorie des ›Todes‹ jeder einzelnen Performance mit ihrem Ende und einer ›Auferstehung‹ in veränderter und verändernder Gestalt bei jeder Wiederaufführung. Auch diese Allegorie reflektierte auf die Bedingungen der Möglichkeit nicht nur von Reenactments von Performances, sondern auch ihrer Geschichtsschreibung. Eine ›Auferstehung‹ von Performances ist nur um den Preis ihrer Veränderung zu haben. In ihrer ursprünglichen Gestalt bleiben sie den Nachgeborenen unzugänglich. Mit ihren Seven Easy Pieces reflektierte Abramoviü auf unterschiedliche Möglichkeiten, die Geschichte von Aktions- und Performance-Kunst mit den Mitteln der Performance-Kunst zu ›schreiben‹. Ganz gleich, welches konkrete Wissen über Performances der Vergangenheit auf diese Weise erzeugt wurde, es unterschied sich in jedem Fall von dem, das ein Teilnehmer an der jeweiligen Performance der Vergangenheit durch seine Teilnahme erworben hatte. Das Faszinierende an dieser Art der Geschichtsschreibung war, dass sie sich als Akt der »Schöpfung«, der Hervorbringung neuer Performances, ja letztlich eines ganz neuen Genres von Performance vollzog. Die Seven Easy Pieces stellten einen originellen und innovativen Beitrag zur ersten Performance Art Biennale dar – einen Beitrag, der als aktuelles Kunstereignis zugleich auf die Geschichte der Gattung und die Möglichkeiten, sie zu schreiben, reflektierte. Um dies zu realisieren, erschien es unabdingbar, eine ganze Sequenz von Performances durchzuführen, an denen sich jeweils eine andere Art und Möglichkeit der Geschichtsschreibung realisieren und demonstrieren ließ. Entsprechend wurden die Aufführungen an den verschiedenen Abenden von denjenigen, die an allen teilnehmen konnten,

39 Umathum, Sandra: Beyond Documentation, S. 52

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auch nicht als einzelne Performances verstanden und erfahren, sondern zunehmend als einzelne ›Akte‹ eines großen sieben Tage umfassenden Experiments40, bei dem die Zeit selbst eine prominente Rolle spielte. Sie forderte nicht nur wichtige Eingriffe in die wieder aufzuführenden Performances, sondern übte auch eine spezifische Wirkung auf die Zuschauer aus. Beim ›Design‹ des Experiments hatte die Künstlerin offensichtlich dafür Sorge getragen, dass die Zuschauer mit seiner in sich widersprüchlichen, wenn nicht gar paradoxen Struktur auf eine Weise umgehen konnten, die scheinbar Widersprüchliches zu vereinen vermochte. Zum einen waren sie als Zuschauer bei einer Art wissenschaftlichen Experiments adressiert. Dies geschah vor allem durch das räumliche Arrangement, das an ein Theatrum anatomicum gemahnte. Es wurde weiter verstärkt, indem jeder Versuch, in den Ablauf der Performance einzugreifen, sofort unterbunden wurde. Als ein Zuschauer bei der Wiederaufführung von Seedbed wiederholt mit der Faust auf den Bühnenboden schlug, um eine Reaktion von Abramoviü zu provozieren, forderte ein Museumswächter ihn auf, sofort damit aufzuhören. Und als zwei Abende später eine Zuschauerin an die Bühne herantrat und die Künstlerin, die auf dem Eisenbett lag, berühren wollte, wurde sie umgehend von einem Wächter ermahnt, Abstand zu halten. Bei der Wiederaufführung von Lips of Thomas, das zum Teil wegen des Eingreifens von Zuschauern Berühmtheit erlangt hatte – sie setzten der Performance ein Ende, indem sie die Künstlerin in einen Mantel hüllten und von den Eisblöcken herunterholten –, war unübersehbar rund um die Bühne auf dem Boden ein Kreis gezogen, der jeden davon abhalten sollte, hier Ähnliches zu versuchen. Die Zuschauer sollten das sorgfältig ausgeklügelte Experiment lediglich beobachten, ohne es durch ihre Interventionen zu verändern und zu ›verfälschen‹. Ihnen wurde damit eine Art wissenschaftliches Interesse abverlangt. Andererseits aber führte die Künstlerin die Performances auf eine Weise durch, die den Zuschauern eine ästhetische Erfahrung ermöglichte, ja, sie vollkommen in ihren Bann schlug. Dies zeigte sich zum Beispiel an den bereits geschilderten Zuschauerreaktionen bei der Wiederaufführung von Gina Panes The Conditioning oder auch an der Zuschauerreaktion bei Lips of Thomas. Je länger die Performance dauerte, umso stiller wurde es im

40 Vgl. Umathum, Sandra: Beyond Documentation.

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Raum. Als Abramoviü die sechste Rasierklinge aus der Packung nahm, war nur das Metronom auf dem Tisch zu hören. »Jede Linie des fünfzackigen Sterns wurde bereits einmal eingeritzt, und kurz bevor sie ansetzt, um zum zweiten Mal in eine der schon vorhandenen Wunden zu ritzen, schreit eine Besucherin aus dem ersten Stockwerk herunter: ›Please stop! You don‘t have to do it!‹ Abramoviü lässt sich nicht beirren und scheint die einzige im Raum zu sein, die sich von dem Schrei nicht affizieren lässt.«41

Kein Zweifel, es waren auch hier die Zuschauer, welche die Performance mitkonstituierten. Nach dem Ende jeder Aufführung wurden sie regelmäßig von einem Museumswächter aufgefordert, unverzüglich das Museum zu verlassen, da die Künstlerin auf der Bühne blieb, bis der letzte gegangen war. An diesem Abend war auch dies anders. Die Zuschauer brachten der Künstlerin standing ovations. Sie erlebten die Reenactments offensichtlich weniger als eine kunsthistorische Demonstration denn als eine Aufführung, die sich hier und heute ereignete und sie zu involvieren und zu affizieren vermochte. Sie löste in ihnen physiologische, affektive, energetische und motorische Reaktionen aus und setzte zugleich Prozesse der Reflexion in Gang. Wenn es im Faltblatt zur Information über die letzte Aufführung, die neue Performance Entering the Other Side, hieß, »The artist is present, here and now«, so kann das nur als Ironie begriffen werden. Denn der Zuschauer reagierte auf die sogenannten Wiederaufführungen nur deswegen in der oben geschilderten Weise, weil »die Künstlerin anwesend war, hier und jetzt«, und mit ihren Performances auf sie einwirkte. Alle sogenannten Reenactments ereigneten sich als Aufführungen hier und jetzt, in die die Zuschauer auf unterschiedliche Weise involviert waren, auch und gerade, wenn sie sie dazu veranlassten, über den Status von Aufführungen, ihre Einmaligkeit oder Wiederholbarkeit und damit über die Möglichkeit von Reenactments als einen spezifischen Modus der Geschichtsschreibung nachzudenken. Die Generierung von Wissen geschah durch Teilnahme an einem Ereignis, dessen rituelle Züge nicht zu übersehen sind. Nachdem die Künstlerin sechs Tage lang nicht nur sich selbst, sondern auch die Zuschauer den

41 Umathum, Sandra: Beyond Documentation, S. 54.

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unterschiedlichsten Situationen ausgesetzt hatte, die irritierende, zum Teil sogar verstörende Erfahrungen auszulösen vermochten, und in diesem Sinne alle Beteiligten sechs Tage sieben Stunden lang auf der Schwelle, in einem liminalen Zustand festgehalten hatte, erschien der siebente Tag mit seiner gelösten Festtagsstimmung wie eine Art Inkorporationsritus, der die Zugehörigkeit aller, die sich sieben Tage lang diesen Erfahrungen ausgesetzt hatten, zu einer neuen, durch diese Erfahrungen entstandenen Gemeinschaft bestätigte und feierte –, die sie zugleich in Frage stellte. Denn diese festliche Bestätigung geschah zugleich als ihre endgültige Auflösung und wies sie so als eine lediglich »ästhetische Gemeinschaft« (Vattimo) aus. Während Geschichtsschreibung häufig dazu dient, Gemeinschaften zu bestätigen oder »imagined communities« (Anderson) überhaupt erst zu etablieren, gelang es dieser Geschichtsschreibung, die im ästhetischen Modus von Reenactments vollzogen wurde, zwar auch, eine Gemeinschaft hervorzubringen; sie erklärte sie jedoch selbst zu einer ästhetischen Gemeinschaft, die per definitionem immer nur temporär ist, weil sie die Zeit der ästhetischen Erfahrung – also der Aufführung – nicht zu überdauern vermag.

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VON

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Die Aneignung von Geschichte, die in den besprochenen Reenactments von den Teilnehmern vollzogen wurde, unterscheidet sich hinsichtlich des Verhältnisses zur Vergangenheit sowie des Verständnisses von Geschichte. Zwar behaupten alle implizit, dass sich das vergangene Ereignis genau so zugetragen habe, wie es hier nachgespielt wird, auch wenn dies bereits als bloße Möglichkeit prinzipiell ausgeschlossen ist. Ihre »Wahrheit« ist insofern mit Roach eher als »the truth of simulation, of fantasy, or day dreams (where imagination and memory converge)« 42 zu begreifen. Trotz dieser prinzipiellen Gemeinsamkeit weisen sie hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Vergangenheit und des von ihnen implizierten Geschichtsverständnisses wichtige Unterschiede auf. Die mittelalterlichen geistlichen Spiele beziehen sich auf die Vergangenheit wie Geburt, Wirken, Tod und Auferstehung Jesu, um das von ihnen abgegebene Versprechen einer Erlösung am Tag des Jüngsten Gerichts

42 Roach, John: Cities of the Dead, S. 27.

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teilweise schon hier und heute einzulösen. Die teleologisch ausgerichtete Heilsgeschichte wird in ihnen einerseits als teleologisch dargestellt, andererseits jedoch durch diese ihre Wiederholung in eine zyklische Zeit verwandelt. Das Reenactment ist imstande, die Zukunft der Erlösung bereits heute zu antizipieren. Die Teilnehmer an den englischen Pageants eigneten sich ihre Geschichte als ein geordnetes, auf den Prinzipien von Vernunft beruhendes Kontinuum an. Mit dem Reenactment einzelner Episoden dieser Geschichte versicherten sie sich zugleich der Möglichkeit, die durch die Modernisierung ausgelöste Krise zu überwinden und auch in der Zukunft sich sinnvoll an dieses Kontinuum anzuschließen und es weiterzuführen. In den US-amerikanischen Pageants dient der Rückbezug auf die Vergangenheit dagegen dazu, den Fortschrittsglauben der Teilnehmer zu stärken, indem die Reenactments von Episoden der lokalen Geschichte sie leiblich erfahren ließen, dass diese Geschichte zum immer Vernünftigeren, Größeren, Besseren – schlechthin: Vollkommenen voranschreite, und sie so in der Überzeugung stärkten, dass dies auch in der Zukunft seine Gültigkeit haben würde. Die Erstürmung des Winterpalais dagegen stellte das vergangene Ereignis als totalen Bruch mit der ihm vorausgehenden Vergangenheit dar. Dies Ereignis war als Ende der bisherigen Geschichte zu begreifen, die sich als mythischer Kampf der Kräfte des Lichtes mit denen der Dunkelheit vollzogen hatte und nun mit dem endgültigen und unwiderruflichen Sieg der Kräfte des Lichtes für immer abgeschlossen wäre. Das Reenactment mythisiert das Ereignis als Beginn einer neuen Zeit und Zeitrechnung. Es wies durchaus Spuren eines heilsgeschichtlichen Verständnisses auf. Es antizipierte nicht nur den Tag der Erlösung, das Jüngste Gericht, sondern deklarierte die Revolution zum Tag des Jüngsten Gerichts und der Erlösung der bisher Erniedrigten und Beleidigten. In Abramoviü’ Seven Easy Pieces dagegen wurde mit theatralen Mitteln darauf reflektiert, warum die vergangenen Kunstereignisse nicht genau so wieder belebt werden können, wie sie sich zugetragen haben, und damit zugleich auf die prinzipiellen Schwierigkeiten, eine Geschichte der Aktions- und Performance-Kunst zu schreiben. Die in und mit den Reenactments vorgenommene Geschichtsschreibung verwies selbst auf die Problematik von Auswahl, Kanonbildung und Darstellung. Der Akt der Aneignung von Geschichte vollzog sich hier als seine eigene Problematisierung.

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Nicht ein bestimmtes Geschichtsverständnis wurde artikuliert, sondern das Bewusstsein von der prinzipiellen Schwierigkeit, sich Geschichte anzueignen, von der Notwendigkeit der subjektiven Haltung und der Bedingungen, unter denen die Aneignung geschieht, und ihrer Bedeutung für die gegenwärtige aktuelle Situation. Trotz dieser zum Teil gravierenden Unterschiede ist nicht zu übersehen, dass allen hier besprochenen Reenactments eine gewisse Ritualität eignete. Mit ihnen wurde für alle Teilnehmer eine liminale Situation hergestellt, in der sich ihr transformatives Potential entfalten konnte. Darüber hinaus vermochten sie eine bestehende religiöse oder politische Gemeinschaft zu bekräftigen und den Sinn für Zugehörigkeit zu stärken oder – wie bei Abramoviü – für die Dauer der Aufführung eine ästhetische Gemeinschaft zu stiften. Während in den ersten Fällen es immer auch um das Angebot einer gemeinsamen Identität ging, entfiel diese Möglichkeit bei den Seven Easy Pieces. Zuletzt sei noch einmal betont, dass Reenactments sich grundsätzlich im Hier und Jetzt ereignen, auf das sie in erster Linie bezogen sind. Ein Ereignis wird nur deshalb wiederholt, weil es in dem Verständnis, das seinem Reenactment zugrunde liegt, für die Teilnehmer eine für sie hier und heute wichtige Funktion erfüllt. Wo immer ein geschichtliches Bewusstsein besteht, wo immer ein Wissen über die Vergangenheit vorhanden ist, wird sich Geschichte durch den Rückgriff auf spezifische Ereignisse der Vergangenheit angeeignet, um sie für die Zukunft fruchtbar zu machen, seien dies nun religiöse, politische oder künstlerische Ereignisse. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Reenactments bereits eine lange Geschichte haben – die ganz sicher mit ihrem Boom in den beiden ersten Dekaden des neuen Millenniums nicht an ihr Ende gekommen sein wird.

L ITERATUR Frankfurter Passionsspiel, in: R. Froning (Hg.), Das Drama des Mittelalters, 2. Teil, Passionsspiele, Stuttgart o.J. Sterzinger Passionsspiel, in: J. E. Wackernell (Hg.), Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, Graz: Universitätsbuchdruckerei und Verlagsbuchhandlung Styria 1897.

D IE W IEDERHOLUNG

ALS

E REIGNIS | 51

Das Redentiner Osterspiel, Mittelniederdeutsch und neuhochdeutsch, übers. u. komment. v. Brigitta Schottman, Stuttgart: Reclam 1975. Abramoviü, Marina: Seven Easy Pieces, Mailand: Charta 2007. Carlson, Marvin: »Performing the Past: Living History and Cultural Memory«, in: Erika Fischer-Lichte/Gertrud Lehnert (Hg.), Inszenierungen des Erinnerns, Paragrana 8.2 (2000), S. 237-248. Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung: Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1893, 2. Aufl. 1902), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. Esty, Joshua D.: »Amnesia in the Fields, Late Modernism, Late Imperialism and the English Pageantry-Play«, in: ELH 69.1 (2002), S. 245-76. Evreinov, Nikolai: »Vzjatie Zimnego dvortsa« (Erstürmung des Winterpalais), in V.E. Rafaloviþ, E.M. Kuznecov, A.A. Gvozdev und A.I. Piotrovskij (Hg.), Istoriia sovetskogo teatra. Tom pervyj. Petrogradskie teatry na poroge Oktiabria i v epoku Voennogo kommunizma 19171921 (Geschichte des Sowjettheaters, Band 1, Die Petrograder Theater am Vorabend des Oktobers und zur Zeit des Kriegskommunismus 1917-1921), Leningrad 1933. Fischer-Lichte, Erika: »Times of revolution – times of festival. The Soviet mass spectacles 1917-1920«, in: Dies., Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre, London/New York: Routledge 2005, S. 97-121. Gerould, Daniel: »Historical Simulation and Popular Entertainment«, in: The Drama Review 32.2 (1989), S. 161-184. Glassberg, David: American Historical Pageantry. The Uses of Tradition in Early Twentieth Century, Chapel Hill/London: Univ. of North Carolina Press 1990. Green, Martin: New York 1913. The Armory Show and the Paterson Strike Pageant, New York: Scribner 1988. Gregor, Joseph/Fülöp-Miller, Rene: The Russian Theatre, its Character and History with Especial Reference to the Revolutionary Period, Philadelphia: Lippincott Williams&Wilkins 1928. MacKaye, Percy: The Civic Theatre in Relation to the Redemption of Leisure. A Book of Suggestions, New York/London: Kennerly 1912. Neumann, Bernd: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit, 2 Bde., München/ Zürich: Artemis 1987.

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Nowé, Johan: »Kult oder Drama? Zur Struktur einiger Osterspiele des deutschen Mittelalters«, in: Hermann Braet/Johan Nowé/Gilbert Tournay (Hg.), The Theatre in the Middle Ages, Leuven: Leuven Univ. Press 1985, S. 269-313. O.A.: »Chronika. Truppa improvizatorov« (Eine Chronik. Eine Gruppe von Improvisatoren), in: Žizn Iskusstva 110 vom 3. April 1919, S. 3. O.A.: »Libretto instsenirovki ›Vzjatie Zimnego dvortsa‹« (Libretto der Inszenierung »Erstürmung des Winterpalais«), in: A.Z. Iufit (Hg.), Russkij sovetskij teatr 1917-1921, Dokumenty i materialy, Leningrad: Iskusstvo, S. 272-273. Parker, Louis N.: Several of My Lives, London: Chapman and Hall 1928. Parker, Louis N.: »What Is a Pageant?«, in: New Boston vom 1.11.1910. A. Piotrovskij, »Chronika Leningradskich prazdnestv 1919-1922« (Chronik der Leningrader Feste 1919-1922), in: A. Gvozdev, A. Piotrovskij und N.P. Izvekov (Hg.), Massovye prazdnestva (Massenfeste), Leningrad: Gosudarstvennyi Institut Istorij iskusstv 1926, S. 53-84. Roach, John: Cities of the Dead, New York: Columbia Univ. Press 1996. Šubskij; N., ›Na plošþadi Uritskogo (Vpeþatleniia moskviþa) (Auf dem Uritzki-Platz (Eindrücke eines Moskauers))‹, in: Vestnik teatra (Theatre Messenger) 75 (1920), S. 4-5. Umathum, Sandra: »Beyond Documentation, or, The Adventure of Shared Time and Place. Experiences of a Viewer«, in: Marina Abramoviü: Seven Easy Pieces, Mailand: Charta 2007, S. 47-55. Wackernell, Joseph Eduart: Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, Graz: Universitätsbuchdruckerei und Verlagsbuchhandlung Styria 1897. Withington, Robert: English Pageantry: A Historical Outline, 2 vols., New York: Hewlett Press 1963, vol. 2. Wyss, Heinz (Hg.): Das Luzerner Osterspiel, Bern: Francke 1967.

Geschichte wird nachgemacht Serie Deutschland von Hofmann&Lindholm und Deutschland 2 von Rimini Protokoll als künstlerische Reenactments J ENS R OSELT

W IEDERHOLUNGEN

VON

G ESCHICHTE

»Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. Es geht voran«. Das sang die deutsche Band Fehlfarben zu Beginn der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und dichtete so die Undergroundhymne der beginnenden Ära Helmut Kohls. Als der neue Bundeskanzler der Bundesrepublik 1982 einen Zipfel vom »Mantel der Geschichte«1 in Reichweite bekam, zeigte ihm seine Kollegin in Großbritannien schon, wie man in Zeiten des Kalten Krieges überhaupt noch Geschichte machen konnte. Seit Margaret Thatcher 1979 britische Premierministerin geworden war, hatte die Eiserne Lady gegenüber den Gewerkschaften einen harten Konfrontationskurs gefahren, der nicht nur zu Rededuellen im Unterhaus führte, sondern auch gewaltsame Ausschreitungen auf den Straßen provozierte. Die Bilder streikender Bergarbeiter, die Steine werfend von berittener Polizei niedergeknüppelt werden, sind in das Nachrichtengedächtnis der 80er eingegangen. So rückte

1

Vgl. Stamm-Kuhlmann, Thomas: »Der Mantel der Geschichte. Die Karriere eines unmöglichen Zitats«, in: Ders. et al. (Hg.), Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, S.212-222, hier S. 218.

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auch die mittelenglische Ortschaft Orgreave am 18. Juni 1984 in den Fokus der Teleobjektive von Fernsehkameras und der ersten Generation von Amateurvideofilmern, als es auf einem Kornfeld vor der Stadt nahe einer Brücke zu einer gewaltsamen Konfrontation zwischen Tausenden von Polizisten und Streikenden kam. Lange schien das Geschehen unentschieden. Erst nach mehreren Stunden blutigen Kampfes konnte die Staatsmacht am Ende des Tages das Feld behaupten. An die achtzig Bergarbeiter wurden verhaftet. Auf beiden Seiten mussten Verwundete versorgt werden. Die Brücke und das Feld hatten keinerlei strategische Bedeutung. Die gewaltsame Eskalation des Konflikts übernahm vielmehr eine symbolische Funktion in der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Gewerkschaften. Die Bilder der blutenden Köpfe und am Boden liegender verwundeter Männer – so real ihre Verletzungen auch waren – wurden in erster Linie als bedeutsamer Teil einer medialen Inszenierung relevant. Allerdings ist auch heute nicht ganz klar, wer am Abend des 18. Juni als Sieger vom Feld ging. Denn in den folgenden Wochen, Monaten und im Grunde sogar Jahren setzte der Diskurs um die Interpretationshoheit des Geschehens erst ein. Der Begriff »battle« wurde schnell populär und mit dem Einzug militärischer Rhetorik konnte die blutige Prügelei nachträglich als eine Art Entscheidungsschlacht in einem Krieg stilisiert werden, der Orgreave wie Trafalgar als Schauplatz britischer Geschichte erscheinen ließ. Ablauf und Ausgang der Schlacht erfahren dabei unterschiedliche Lesarten. Bis heute gibt es divergierende Angaben dazu, wie viele Kämpfer auf beiden Seiten gestritten haben bzw. wer die meisten Verletzten aufzubieten hat. Auch die Frage nach dem eigentlichen Sieger des Geschehens erfährt auf dem Schlachtfeld der Interpretationen unterschiedliche Auslegungen. Hat die Staatsmacht nicht nur de facto, sondern auch symbolisch gesiegt, da sie ihre kompromisslose Stellung behauptet und so die Macht der Gewerkschaften für alle (Fernsehzuschauer) sichtbar gebrochen hatte? Oder sind die unterlegenen Bergarbeiter die moralischen Sieger des Kampfes, weil sie für ihre Überzeugung eingetreten sind und im Gefängnis wie Märtyrer verehrt werden konnten? Diese Schlacht um die Macht der Interpretation tobte nicht mehr auf einem realen Kornfeld, sondern fand in den Weiten der Medien statt. Konnten die Kameras und Journalisten in Orgreave nur als Beobachter, quasi Kriegsberichterstatter, gelten, sind sie nun Teil des Geschehens geworden. Das historische Ereignis ist einer nachträglichen Prozedur konfligierender medialer Inszenierungen geschuldet. So wird Geschichte ge-

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macht. Und wenn davon gesprochen werden kann, dass 1984 auf einem unbedeutenden Feld vor einer unbedeutenden Stadt Geschichte geschrieben wurde, macht die mediale Resonanz des Ereignisses zugleich sinnfällig, dass Geschichte eben nicht nur geschrieben, sondern auch gefilmt, fotografiert und bebildert wird. Die Idee einer Poetik der Geschichte (Hayden White) wäre entsprechend durch eine Ikonografie der Geschichtsbilder zu ergänzen. Hier nun treten die Künste auf den Plan. Wer heute nach Zeugnissen der Battle of Orgreave sucht, wird im Internet zahlreiches Bildmaterial finden und erst auf den zweiten Blick erkennen, dass viele der Aufnahmen gar nicht Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gemacht wurden, sondern zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Denn siebzehn Jahre nach der Schlacht tummelten sich in Orgreave wiederum Heerscharen von Uniformierten, um aufgebrachte Zivilisten von der Einnahme der Brücke abzuhalten. Und wiederum standen Kameras bereit, um das Geschehen zu dokumentieren. Diesmal stand der Ausgang der Schlacht allerdings von vorneherein fest. Der britische Konzeptkünstler Jeremy Deller ließ die Schlacht von dem Reenactment-Experten Howard Gilles möglichst originalgetreu nachstellen und dies von dem Regisseur Mike Figgis filmen. Deller konnte zahlreiche Darsteller verpflichten, die bereits seinerzeit an der Schlacht teilgenommen hatten. Aus dem Krieg ist Konzeptkunst geworden. Das historische Ereignis wird in ein ästhetisches Ereignis transformiert, das nun seinerseits Teil der nachträglichen medialen Inszenierung von Geschichte wird. Und wer heute, wiederum zehn Jahre später, den Film von Dellers Reenactment sieht und sich so die Vorgänge von 1984 vor Augen führt, könnte meinen, dass auch der Slogan von Fehlfarben transformiert zurück in der Zukunft ist: »Durchatmen. Geschichte wird nachgemacht. Es geht zurück«. Dabei kann die Deutung des Films ebenso widersprüchlich ausfallen wie die der realen Schlacht. Ist Dellers Reenactment eine affirmative Referenz auf ein angeblich geschichtsträchtiges Datum? Oder wird der Mythos der Battle of Orgreave durch die ästhetische Perspektive in kritische Distanz gerückt? In dieser Ambivalenz, die bei Zuschauern eine durchaus widersprüchliche Rezeption hervorrufen kann, soll nun ein bezeichnendes Merkmal der künstlerischen Aneignung des populärkulturellen Verfahrens des Reenactments erkannt werden. Im Folgenden wird es genauer um die Frage gehen, was passiert, wenn Reenactments als ästhetische Strategien in den Künsten

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Aneignung finden. Dabei werden drei Thesen verfolgt, welche die Stichworte Ambivalenz, Reflexivität und Sinnlichkeit aufrufen. 1. Künstlerische Reenactments produzieren Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten, welche tradierte Darstellungen und Auslegungen historischer Vorgänge bzw. Ereignisse in andere, quere Perspektiven rücken und dabei vertraute Interpretationsmuster bzw. Sichtweisen auf Geschichte verrücken. 2. Künstlerische Reenactments sind reflexiv, insofern die mediale Konstruiertheit von Geschichte thematisch wird und insbesondere die Bildmächtigkeit von Erinnerungsprozessen ausgestellt wird. Insofern sie häufig Medienwechsel vorsehen, verweisen künstlerische Reenactments selbstreferentiell auf ihre eigene mediale Verfassung und Bedingtheit. 3. Künstlerische Reenactments sind in erster Linie ein sinnliches Verfahren, das in Hinblick auf die Aufführungsdimension als Praxis der Teilhabe und der Verkörperung vollzogen wird. Anders als die intellektuelle Prozedur der Metahistory (Hayden White) wird die Analyse und Kritik als ein sinnlicher Prozess zelebriert, der spezifische Wahrnehmungen und Erfahrungen stimuliert. Um diese Thesen zu entfalten sollen zwei künstlerische Arbeiten eingehender untersucht werden. Es handelt sich um die Videoinstallation Serie Deutschland von Hofmann&Lindholm sowie die Inszenierung Deutschland 2 der Gruppe Rimini Protokoll. Obwohl die Künstler ihre Arbeiten nicht als Reenactments annoncieren, sollen sie im Folgenden als solche beschrieben und untersucht werden, um die Leistungsfähigkeit des Begriffs zu prüfen und zu fragen, inwiefern mit ihm eine instruktive Perspektive auf die aktuelle ästhetische Praxis geworfen werden kann.

M AKING OF M EMORIES : S ERIE D EUTSCHLAND H OFMANN &L INDHOLM ALS R EENACTMENT

VON

Ein Mann in einem beigen Trenchcoat stellt sich vor eine Kamera, durch deren Objektiv die Betrachter das Folgende zu beobachten scheinen: Der Mann baut sich vor der Kamera auf. Er justiert seinen Stand und kontrolliert mit einem kurzen Blick zum Boden die Position seiner Füße. Routi-

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niert winkelt er den linken Arm leicht an, während die gespreizten Finger seiner Hand einen dunklen Hut umfassen. Diese eigentümliche Art, seine Kopfbedeckung zu halten, wirkt aufgesetzt. Die banale Handlung macht einen stilisierten Eindruck. Überhaupt scheint dieser Mann eine ganz bestimmte Pose einzunehmen, ohne dass man recht eigentlich sagen könnte, um welche Pose es sich denn handelt. Diese Wahrnehmungssituation der Betrachter wird im Bildausschnitt gespiegelt. Denn die Person mit dem Hut hatte sich zunächst unvermittelt aus einer Gruppe sechs Wartender gelöst, die im Bildhintergrund verharrt und nun ihrerseits beiläufig das Geschehen beobachtet. Manche blicken dem Mann nach, andere von ihnen richten ihre Aufmerksamkeit in die Ferne. Vielleicht wissen sie gar nicht, dass sie schon im Bilde sind, und warten noch auf ihren Auftritt vor der Kamera. Der Mann im Trenchcoat jedenfalls zeigt, dass er sich vor einer Kamera in Szene setzt, indem er seinen Körper entsprechend frontal ausrichtet. Die doppelte Beobachtungsposition, durch die er fixiert wird, greift er jedoch nicht explizit auf. Er reagiert nicht auf die Wartenden im Hintergrund und blickt so gut wie nie in die Kamera vor ihm. Nichtsdestotrotz macht die Konzentration und Routine, mit der er sich in Stellung bringt, deutlich, dass hier nicht eine beliebige Situation beiläufig geschieht und zufällig gefilmt wird, sondern dass hier ein explizites Arrangement geschaffen wird, das einer bestimmten Absicht folgt. Der Auftritt des Mannes vor der Kamera ist ein szenischer Vorgang. Diese Szene scheint sich auf einer Art Terrasse abzuspielen. Hinter einer Betonbrüstung sind Düsenflugzeuge zu erkennen. Es könnte sich also um einen Flughafen handeln. Der Mann mit dem Hut im Vordergrund prüft und korrigiert immer wieder die Haltung seiner Arme und die Stellung seines Kopfes. Obwohl man keinen Ton hört, kann man vermuten, dass der Mann vielleicht Anweisungen bekommt von jemandem, der hinter der Kamera stehen müsste. Demnach würde der Mann einen Auftrag ausführen, der nicht von ihm kommt. Er setzt nicht sich, sondern irgendetwas anderes in Szene. Jemand scheint nicht nur ihn, sondern auch die übrigen Personen im Bildausschnitt zu steuern. Die Wartenden im Hintergrund setzen sich nämlich unvermittelt in Bewegung, als hätte sie jemand zum Auftritt gerufen. Routiniert ordnen sie sich im Halbkreis um den Mann im Trenchcoat und bilden mit ihm eine Gruppe. Eine Frau zeigt ein Blatt Papier in die Kamera. Eine andere faltet die Hände. Jemand hält die Hand in die Luft, als würde er nach etwas grei-

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fen. Ein anderer baut sich hinter der Schulter des Mannes mit dem Trenchcoat auf. Auch diese Handlungen wirken kontrolliert und ruhig. Es entsteht der mitunter unheimliche Eindruck, dass die Personen durch einen unbekannten Plan gesteuert werden, der ihre Position im Raum und jede einzelne Pose regelt. Es scheint eine Art Vorbild zu geben, das hier nicht nachgespielt, sondern eher nachgestellt wird. Auffällig werden so gerade jene Vorgänge, die ausfallen oder nicht geschehen – als würde die Inszenierung bewusst auf sie verzichten. Die Menschen begrüßen einander nicht. Obwohl sie sich zu kennen scheinen, würdigen sie sich keines Blickes. Sie sind nicht beieinander, sondern in der Pose ist jeder bei sich. Es entsteht keine dramatische Situation zwischen ihnen, da jegliche Interaktion ausfällt. Die Menschen vor der Kamera scheinen weder sich noch den Betrachtern etwas vorzuspielen. Sie führen vielmehr bestimmte Handlungen aus. Schließlich tritt von der Seite eine einzelne bisher ungesehene Frau zu der Gruppe. In devoter Haltung verbeugt sie sich vor dem Mann mit dem Trenchcoat. Die Bewegungen der Personen frieren ein und während das Ladegerät eines Blitzlichtes ertönt, entsteht ein veritables Tableau vivant. Der hier beschriebene Auftritt des Mannes mit dem Trenchcoat ist Teil der 4-Kanal-Videoinstallation Serie Deutschland von Hofmann&Lindholm.2 In der Installation steht bzw. sitzt der Betrachter vor vier (ca. 2 mal 3 Meter) großen Leinwänden. Jede Leinwand zeigt denselben Bildausschnitt. Und auf jeder Leinwand wird dieselbe Konstellation nachgestellt, allerdings von unterschiedlichen Personen und in unterschiedlicher Reihenfolge. Während auf einer Projektion der Mann mit dem Trenchcoat als erster im Bildaufbau erscheint, stößt er in einer anderen als letzter zu der bereits fixierten Gruppe. Die Betrachter der Installation beobachten so, wie verschiedene Personen denselben Moment nachstellen. Was für ein Moment das ist, bleibt zunächst unklar. Die Gruppe bildet etwas ab, dessen Vorbild nicht bekannt ist. Und auch wenn manche Geste beiläufig aussieht (wie die zwei Finger am Hut), wird sie allein dadurch zur stilisierten Pose, dass sie – früher oder später – parallel auf vier Leinwänden von unter-

2

Unter dem Label Büro für Angewandte Kulturvermittlung produzieren Hannah Hofmann und Sven Lindholm seit 1999 Theaterprojekte, Installationen, Videoarbeiten und Hörspiele. Die Serie Deutschland wurde 2008 begonnen und wird seither fortlaufend fortgesetzt und variiert.

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schiedlichen Personen exakt wiederholt wird. Offenbar soll hier nichts dem Zufall überlassen bleiben. Obwohl auf der Ebene des Dargestellten keine dramatische Situation etabliert wird, erzeugt der allmähliche Aufbau der Szenen in der Wahrnehmung der Betrachter Spannung. Man beobachtet den Prozess der Inszenierung durch den permanenten Abgleich der einzelnen Projektionsflächen. Dabei wird kenntlich, dass der szenische Aufbau der Bildkomposition zielgerichtet ist. Denn wenn das Arrangement auf allen vier Flächen angeglichen ist, ertönt besagtes Ladegeräusch des Blitzlichts und kündigt den vermeintlichen Höhepunkt der Szene akustisch an. Sodann stellt ein Schnappschuss das Geschehen auf sämtlichen Projektionsflächen als Schwarzweißaufnahme still. Doch mit der Fixierung der Szene als Bild ist die szenische Komposition nicht abgeschlossen, denn nach wenigen Sekunden kommt wieder Bewegung ins Spiel und Farbe ins Bild. Die Darsteller lösen ihre Posen auf oder verlassen den Schauplatz. Es scheint, als würden sie die Anweisung bekommen, dass die Szene nun perfekt und das Bild »im Kasten« sei. Vielleicht wissen manche Darsteller gar nicht, dass sie weiterhin gefilmt werden. Die Konzentration und Anspannung fällt jedenfalls deutlich erkennbar von ihren Gesichtern, manche müssen grinsen, einige sprechen Kommentare. Und vor der Kamera stellt sich so jene situative Selbstverständlichkeit her, welche die Inszenierung gerade noch vermissen ließ. Was die Betrachter hier sehen, ist die Nachstellung eines historischen Fotos, das am 7. Oktober 1955 auf dem Flughafen Köln/Bonn gemacht wurde. Das Foto zeigt Konrad Adenauer inmitten seines Stabes als er von Verhandlungen aus Moskau zurückkehrt und sich die Mutter eines deutschen Soldaten für seine Bemühungen um die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen bedankt. Die Installation umfasst das Nachstellen von insgesamt zehn Fotos, die auf historische Ereignisse verweisen. Es handelt sich außerdem um die Unterzeichnung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949, den Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt am Mahnmal des Warschauer Ghettos am 7. Dezember 1970, den Abgang des Liedermachers Wolf Biermann nach einem Konzert in Köln am 13. November 1976, das Attentat der RAF auf Hans Martin Schleyer am 5. September 1977, das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt am 1. Oktober 1982, das Gladbecker Geiseldrama vom 18. August 1988, den Staatsbesuch Michail Gorbatschows in Bonn am 16. Juni 1989, die Unterzeichnung des Koalitionsvertrags von Gerhard Schröder, Joschka

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Fischer und Oskar Lafontaine am 20. Oktober 1998 in Bonn und den vereitelten Anschlag mit einer Kofferbombe am 31. Juli 2006 im Kölner Hauptbahnhof. Jedes Foto hat ein Datum, das heißt es verweist räumlich und zeitlich eindeutig auf einen bestimmten Moment. Die Installation im Ausstellungsraum zeigt die einzelnen Aufnahmen hintereinander in einem ca. 45 minütigem Loop. Die historischen Aufnahmen kommen in der Installation nicht zur Anschauung. Es bleibt den Betrachtern oder dem Zufall überlassen, ob man sich vorab durch bereitliegende Programmzettel über die historischen Referenzbilder informiert, ob man eine Art Ratespiel betreibt oder ob man verhältnismäßig unbedarft zunächst nur die Projektionen beobachtet und den allmählichen Aufbau der Bildkomposition verfolgt. Früher oder später dürften einem zumindest einige der nachgestellten Szenen bekannt vorkommen. Der Vorgang der Wahrnehmung der Installation vermag zugleich einen Prozess der Erinnerung auszulösen. Doch woran erinnert man sich dabei eigentlich? An das historische Ereignis, auf das die Szene verweist, möchte man zunächst meinen. Doch an die Rückkehr Adenauers dürften sich die wenigsten tatsächlich erinnern, insofern viele der Besucher damals noch gar nicht geboren waren. Wenn einem die gezeigte Szene trotzdem bekannt vorkommt, erinnert man sich nicht an die historische Situation, sondern an das Bild, das auf diese verweist. Das Foto selbst ist historisch geworden, ohne dass man freilich genau sagen könnte, wann und wo man es das erste oder letzte Mal gesehen hat. Das eigene Gedächtnis scheint wie ein unsystematisch geordnetes Archiv historischer Aufnahmen zu funktionieren. Das gilt selbst für jene Ereignisse, die man – rein biografisch – selbst erlebt hat bzw. selbst hätte erleben können. Dass auch diese durch Fotos oder Filmaufnahmen nicht lediglich in Erinnerung bleiben, sondern womöglich erst durch ihre mediale Referenz und deren nachträgliche Betrachtung in die Erinnerung geraten, ist eine besondere Pointe, derer man in der Serie Deutschland gewahr werden kann. Schließlich wird sinnlich erfahrbar, wie sehr ereignishafte historische Momente selbst schon medial strukturiert sein können und in Hinblick auf ihre Weitergabe oder Archivierung als Bild verfasst werden. Die Begrüßung Konrad Adenauers am Flughafen war keine spontane Zusammenrottung von Journalisten, die einen heimkehrenden

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Politiker zufällig bei der Begrüßung fotografierten.3 Die Frage, ob, wann und von wem der Kniefall Willy Brandts geplant war, ist inzwischen Legende zahlreicher Biografien. Und selbst das scheinbar zufällige Defilee der sogenannten »Kofferbomber« an den Überwachungskameras des Kölner Hauptbahnhofs vorbei, bekommt retrospektiv eine szenische Dimension. Lassen sich die Attentäter bewusst filmen, um nach dem Anschlag medial distribuierbar zu sein? Jeder Schnappschuss kann so dem Verdacht ausgesetzt werden, letztlich ein Coup-de-théâtre zu sein. Die Konstruiertheit der Erinnerung an historische Ereignisse wird nicht zuletzt durch die spezifische Wahrnehmungssituation kenntlich, durch die der Betrachter der Installation im Ausstellungsraum die eigentümliche Bildwerdung verfolgt. Die Pupillen der Betrachter springen hin und her, um zwischen den Projektionen einen Abgleich herzustellen. Dabei wird man zugleich vielfältiger Differenzen gewahr, die dem Betrachter der Installation im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen führen, dass der Eindruck, den er sich macht, in sich gebrochen, überlagert oder verschoben ist. Man wird des eigenen Eindrucks nicht recht Herr, wobei die performative Dimension der Installation darin besteht, dass sie im Ausstellungsraum eine Art Aufführungssituation schafft, die den Betrachter die Prozessualität der eigenen Wahrnehmung und Aufmerksamkeitslenkung erfahren lässt. Und auch die Fixierung des Bildes als Fotografie stiftet nur kurzzeitig Gewissheit, insofern die Bildkomposition rasch wieder ins Fließen gerät. Bei der Beschreibung dieses Settings kann man schnell versucht sein, den Begriff des Originals zu verwenden. Doch was wäre hier als Original anzusprechen? Das historische Ereignis, das seinerseits schon durch Inszenierungs- und Vermittlungsstrategien durchzogen ist? Das Foto, das auf ein Ereignis verweist und das selbst ubiquitär verwendet wird? Oder die Aufführungssituation in der Installation, die die Wahrnehmung als ästhetisches Ereignis modelliert? Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten: In Analogie zur Bewegung der Pupillen ließe sich auch die Wahrnehmung eines historischen Ereignisses beschreiben. Hierin zeigt die Serie Deutsch-

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Längst haben Historiker eine weitere Inszenierungsebene des historischen Vorgangs ermittelt. Denn der Verhandlungserfolg des deutschen Bundeskanzlers erwies sich im Nachhinein als Inszenierung der sowjetischen Führung, die die Freilassung der Kriegsgefangenen schon beschlossen hatte, bevor Adenauer in Moskau eintraf.

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land eine Tendenz künstlerischer Reenactments: Sie verlebendigen nicht historische Ereignisse, sondern reflektieren die medialen Bedingungen der Konstruktion historischer Ereignisse und ihrer Erinnerung, indem sie Beziehungen, Differenzen und Verweise herstellen. Es gilt deshalb genauer zu fragen, welche ästhetischen Mittel und Verfahren dabei verwendet werden und zu klären, inwiefern hier überhaupt von einem Reenactment gesprochen werden kann. Hofmann&Lindholm bezeichnen ihre Installationen auch als mise-enscène, also als Inszenierung. Darunter kann man die strukturierte Anordnung von Personen, Objekten und Räumen verstehen, die eine bestimmte intendierte Wahrnehmungswirkung hervorrufen, welche nicht mehr auf die Summe der einzelnen Elemente reduziert werden kann. Es wird gewissermaßen ein szenisches Surplus kreiert. In Hinblick auf die Serie Deutschland ist dies plausibel, weil ein bestimmter Moment reinszeniert und zugleich ein spezifisches Wahrnehmungsarrangement im Ausstellungsraum geschaffen wird, das den Betrachter zum konstitutiven Teil der Installation werden lässt. Der szenische Mehrwert besteht darin – so könnte man sagen – dass eine eigentümliche Verschränkung von Verfremdung und Vertrautheit hervorgerufen wird. Man erkennt etwas wieder, dessen Referenz unklar bleiben kann. Diese Form der distanzierten Teilhabe in der Beobachtungssituation wird von Hofmann&Lindholm als eine Art Zeugenschaft verstanden: »Der Betrachter wird Zeuge, wie historische Referenzbilder vor laufender Kamera an Originalschauplätzen nachgestellt werden. Dabei handelt es sich um fotografische Momentaufnahmen, die aufgrund des geschichtlichen Zusammenhangs, der ihnen anhaftet (oder auch angeheftet wurde), nachhaltig das Geschichtsbild der Deutschen oder die Sicht auf Deutsche geprägt haben.«4 Zugleich weist die Arbeit auch entscheidende Merkmale von Reenactments auf: Es geht um die Nachstellung historischen Materials mit (nichtprofessionellen) Darstellern an Originalschauplätzen als einer körperlichen Praxis. Nachgestellt wird dabei nicht das historische Ereignis, sondern ein Foto, das seinerseits auf ein Ereignis verweist, welches womöglich erst durch seine fotografische Aufnahme als historisch gebrandmarkt werden

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Das Zitat entnehme ich einer Programmankündigung der Serie Deutschland, die mir Hofmann&Lindholm zur Verfügung gestellt haben. Hierfür und für die Bereitstellung von Bildmaterial bedanke ich mich bei den Künstlern.

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konnte. Man würde die Ästhetik der Installation allerdings verkennen, wenn man diese auf die Dokumentation eines Reenactments reduzierte. Denn der Betrachter der Installation beobachtet das Making-of des Fotos als eigene Form der Inszenierung, die spezifische filmische und theatrale Mittel einsetzt. Hierzu zählt die statische Einstellung der Kamera, die die Perspektive justiert und auf Gegenschnitte oder Schwenks verzichtet. Das Reenactment findet so weit wie möglich an historischen Schauplätzen statt, die vor allem dadurch auffallen, dass sie nicht mehr so aussehen wie auf den historischen Aufnahmen. Auch ist der Ort nicht lediglich der selbstverständliche oder zufällige Hintergrund der Szene; der Schauplatz wirkt eigentümlich deplatziert, wird auffällig und ist als szenisches Mittel den Personen gleichgestellt. Die historischen Aufnahmen zeichnen sich durch einen Effekt der Dramatisierung aus. Sie zeigen einen bestimmten Moment, der eine historische Veränderung oder einen Einschnitt vollzieht, anbahnt oder sichtbar macht. Diese dramaturgische Qualität von Bildern, den entscheidenden Moment eines dynamischen Prozesses sinnfällig zum Ausdruck zu bringen, wird in medialen populären Darstellungen historischer Abläufe gerne benutzt, um den Leser oder Fernsehzuschauer Geschichte miterleben zu lassen. Der Betrachter der Installation hingegen erlebt eher einen Vorgang der Distanzierung. Eine Dramaturgie des Spektakulären verweigert die Installation ostentativ und schafft so eine Form der Distanz. So dramatisch die Situation, auf die das Foto verweist, auch erscheinen mag, so ruhig und fast meditativ wirkt ihre Wiederholung im Reenactment durch den gleichmäßigen und ruhigen Bildaufbau und die leichte Verlangsamung der gezeigten Aufnahmen. Die zeitliche Struktur wirkt einer Dramaturgie der Spannungssteigerung entgegen. Hierzu trägt nicht zuletzt auch die zirkuläre Form der gesamten Installation im Loop bei. Die historischen Fotos sind auf eine oder mehrere Figuren zentriert, die nicht nur zum Zentrum der Bildkomposition werden, sondern auch Helden des historischen Vorgangs sind. Sie betonen die menschliche Dimension historischer Ereignisse, die durch individuelle Gesten und Mimiken anschaulich und verstehbar wird und mithin zur Identifikation des Betrachters mit den gezeigten Personen aufruft. Die Komposition des Arrangements beim Reenactment und seinem Making-of verfolgt eine entgegengesetzte Strategie. Es gibt keinen Mittelpunkt. Der Bildaufbau erfolgt dehierarchisiert. Es gibt keine Hauptdarsteller, die Hauptfiguren verkörpern würden.

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Jeder Darsteller der Gruppe erscheint gleichwertig, unabhängig davon welche Person er im Bild darstellen wird. Die historisch zentrale Person wird nicht hervorgehoben. Die vier Leinwände machen deutlich, wie austauschbar die Personen auch bezüglich ihres individuellen Geschlechts sind. Die historische Aufnahme, ihr Reenactment vor Ort und dessen Making-of als Projektion bilden somit drei Ebenen der Installation, die in der Wahrnehmung des Betrachters aufeinander verweisen und es fragwürdig machen zwischen dem Ereignis, dem Foto, dem Reenactment oder dem filmischen Making-of auf den Leinwänden und dessen Wahrnehmung in der Installation zu unterscheiden. Die verschiedenen Ebenen werden in der Wahrnehmung der Betrachter nicht zum ultimativen historischen Moment amalgamiert, vielmehr wird eine Struktur des permanenten Verweises kreiert. Der Blick auf scheinbar bekannte Aufnahmen stiftet subtile Differenzen: Während das allmähliche Erkennen der historischen Aufnahmen eine Form von Vertrautheit herstellt, als sei man damals dabei gewesen, als Willy auf die Knie ging, evoziert die Installation zugleich vielfältige Verfremdungen. Inke Arns hat dieses Merkmal als ein Paradox beschrieben, das künstlerische Reenactments generell kennzeichnet: »Löschung und gleichzeitige Herstellung von Distanz sind zwei zentrale Mechanismen in der gegenwärtigen Praxis künstlerischen Reenactments.«5 Für diesen Effekt dürfte aber nicht nur die mediale Konstruktion der Installation verantwortlich sein, sondern vor allem auch der Status und das Tun der Darsteller, also die Praxis der Verkörperung. Denn auch die Haltung der nicht-professionellen Darsteller gegenüber ihrer Darstellung bzw. ihrem Darstellungsauftrag wirkt distanziert. Man bemerkt die Konzentration, mit der sie körperliche Handlungen ausführen, um bestimmte Haltungen und Gesten einzunehmen. Die Motivation für dieses Tun bleibt völlig unklar. Ein innerer Impuls, der die Handlungen motivieren und dadurch selbstverständlich machen könnte, ist nicht erkennbar. Die Inkongruenz äußerer körperlicher Handlungen zu entsprechenden inneren psychischen Prozessen kann als generelles Kennzeichen der Darstellungspraxis nicht-

5

Arns, Inke: »Strategien des Reenactment«, in: Dies./Gabriele Horn (Hg.), History will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt a.M.: Revolver 2007, S. 37-63, hier S. 58.

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professioneller Darsteller bzw. Laienspieler gelten. 6 Die Arbeiten von Hofmann&Lindholm versuchen nicht, dieses vermeintliche Unvermögen zu kaschieren, sondern sie stellen es aus bzw. versuchen es erst herbeizuführen, um es zeigen zu können. Dieses Interesse an der Arbeit mit nichtprofessionellen Darstellern zeichnet gegenwärtig eine Vielzahl avancierter Theater- und Performanceproduktionen aus und bildet damit eine interessante Schnittstelle zur populärkulturellen Praxis des Reenactments. Gleichwohl lässt sich in Hinblick auf die Darstellung auch eine entscheidende Differenz zwischen dem Reenactment als populäres Vergnügen und als künstlerisches Verfahren markieren. Denn die Arbeit mit nichtprofessionellen Darstellern im Kontext von Theater- und Performancekunst hat sich nicht die affirmative Teilhabe von Laien auf die Fahnen geschrieben, die mit Emphase über Bühnen wie über Schlachtfelder stürmen. Das »enactment«, also die Praxis der Verkörperung und Darstellung, findet hier vielmehr eine paradigmatische Umformulierung. Um genauer danach zu fragen, welche Darstellungsverfahren für künstlerische Reenactments kennzeichnend sind, soll daher ein zweites Beispiel Erwähnung finden.

R EPRÄSENTIERT E UCH ! D EUTSCHLAND 2 VON R IMINI P ROTOKOLL Das Regiekollektiv Rimini Protokoll7 hat in den letzten Jahren durch seine Arbeit mit nicht-professionellen Darstellern Furore gemacht. Die Gruppe spricht allerdings nicht von Laien, sondern von »Experten des Alltags«. Unter dem Stichwort »Expertentheater«8 ist diese Form vielfältig aufgegriffen und variiert worden. 2002 hat Rimini Protokoll in Bonn im Rahmen des Festivals Theater der Welt die Produktion Deutschland 2 herausgebracht. Unter dem Motto »Repräsentiert Eure Repräsentanten« lag dem Projekt die

6

Hierzu: Roselt, Jens: »An den Rändern der Darstellung – Ein Aspekt von Schauspielkunst heute«, in: Ders. (Hg.), Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock- bis zum postdramatischen Theater, Berlin 2005, S. 376ff.

7

Hinter dem Produktionslabel stehen die Theater- und Performancekünstler Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel.

8

Vgl. Dreysse, Miriam/Malzacher, Florian (Hg.): Rimini Protokoll, Berlin 2007.

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Frage zugrunde, was passiert, wenn die Wähler einmal ihre Politiker vertreten. Hierzu wurde folgende szenische Versuchsanordnung geschaffen: Rimini Protokoll hatte Bonner Bürger gecastet, um in Bonn eine Bundestagsdebatte nachzustellen, die zeitgleich in Berlin ablief. Das Konzept sah ursprünglich vor, die Marathonsitzung, die am 27. Juni 2002 ab 9.00 Uhr im Reichstagsgebäude stattfand und über zwölf Stunden dauerte, im ausgedienten Bonner Plenarsaal des Bundestags durchzuführen. Doch der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse verbot die Kunstaktion aus Sorge um die Würde des Parlaments, so dass die Inszenierung schließlich in einem nachgebauten, improvisiert anmutenden Plenarsaal in der Bonner Theaterhalle stattfand. Die einzelnen Darsteller treten jeweils an das Pult vor das Bundestagspräsidium und sprechen den Text der Rede nach, die ein Bundestagsabgeordneter gerade in Berlin im Bundestag hält. Dabei liegt den Bonner Repräsentanten das Manuskript der Volksvertreter in Berlin nicht in Schriftform vor. Der Text wird ihnen vielmehr live über einen Kopfhörer zugespielt. Sie stehen also vor der Aufgabe, zuzuhören und das Gehörte unmittelbar laut auszusprechen. Es handelt sich gewissermaßen um das Reenactment eines historischen Vorgangs, der nicht Jahrhunderte, sondern eine Hundertstelsekunde zurückliegt. Rimini Protokoll bezeichnet dies als LiveKopie. Auch wenn mancher Darsteller an sich den Anspruch stellen mag, die Rede »seines Politikers« überzeugend wiederzugeben, scheitert dieses Unterfangen nicht nur am darstellerischen Unvermögen, sondern auch dadurch, dass die szenische Konstruktion eine Identifikation von Darsteller und Rolle bzw. eine gestaltete Haltung des (Nach-)Redners zu seinem Text unmöglich macht. Die Sprecher sind in erster Linie bemüht, den Kopfhörertext akustisch zu verstehen, um ihn unverzüglich auszusprechen. Stets bleibt hörbar, dass der Text den Sprechern nicht gehört, sondern von woanders kommt. Der Beginn der Sätze wird in Bonn schon ausgesprochen, während deren Ende in Berlin noch gar nicht formuliert ist, so dass es zu abrupten oder widersinnigen Betonungen kommt. Der Gestus des Nachsprechens ist immer offenbar. Mancher Redner in Bonn kann die Sprechgeschwindigkeit seines Vorsprechers in Berlin nicht halten, muss deshalb einzelne Wörter oder ganze Sätze auslassen und so entstehende Lücken überspringen. Die leichte Verzögerung zwischen Hören und Sprechen lässt auch manche Bewegung deplatziert erscheinen. Der Versuch, möglichst überzeugend zu erscheinen, wirkt mitunter hohl, hat aber auch immer wieder

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kurzzeitig die verblüffende Wirkung, dass Mimik, Gestik und Sprache eine Einheit bilden und damit einen überzeugenden Eindruck machen. Umso grotesker wirkt allerdings der Bruch, wenn die perfekte Kopie unvermittelt ins Straucheln gerät, die Rhetorik aussetzt, Wörter fehlen und Satzteile übersprungen werden. In der Emphase, mit der die auf einmal sinnlos gewordene Formulierungen vorgetragen werden, entlarvt sich die politische Rede als Produkt einer Art Sprechmaschine Doch die Maschinenmetapher ist zumindest für die Bonner Repräsentanten unzulänglich. Denn gerade im Scheitern der Nachahmung, das sich im aparten Lächeln oder kommentierenden Kopfschütteln der Darsteller zeigt, wird eine Form von Persönlichkeit offenbar, die den Berliner Vorbilder versagt bleibt. Denn in der Performance erscheinen letztere nicht mehr als Akteure, sondern nur noch als Souffleure der politischen Rede. Nicht immer ist so zu entscheiden, ob die Hohlheit der Rhetorik, der Charakter des Aufsagens und Wiederholens stereotyper Floskeln, der dilettantischen Überforderung der Bonner Kopisten oder der professionellen Einfalt der Berliner Originale geschuldet ist. Der Gedanke, dass nicht nur die Kopie, sondern unter Umständen auch das Original beliebig austauschbar ist, wird nicht zuletzt dadurch hervorgerufen, dass die Bonner Redner im Fünfminutentakt ans Pult treten, unabhängig davon, ob die Dramaturgie in Berlin einen Rednerwechsel vorsieht. Auch das Geschlecht der Redner an beiden Orten muss sich nicht notwendig entsprechen. So können Reenactments eine eigene Art des Schauspielens kreieren, welche tradierte Darstellungskonventionen ästhetisch, methodisch und theoretisch empfindlich tangiert. Seit dem 18. Jahrhundert wird Schauspielen als Kunst und als Profession durch das spezifische Verhältnis gerechtfertigt, welches der Schauspieler zu seiner Rolle einnimmt. Dabei hat der Schauspieler oder die Schauspielerin die Identität zwischen sich und der Rolle darzustellen oder gar herzustellen, um in der Perspektive der Zuschauer als homogene Figur erkannt werden zu können. Der Akt der Nachahmung ist zugleich ein Vorgang der Täuschung. Dieses Paradigma einer psychologisch-realistischen Darstellungsweise, das Anfang des 20. Jahrhunderts noch einmal durch Konstantin Stanislawski theoretisch-methodisch kodifiziert wurde, ist in der Moderne vielfältig kritisiert und variiert worden. Der Auftritt der nicht-professionellen Darsteller in künstlerischen Formen des Reenactments aber kann nun als eine eigenartige, mithin performative oder aufgeführte Kritik am Akt des (professionellen) Schauspielens aufgefasst werden.

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Sowohl in der Serie Deutschland als auch in Deutschland 2 kann man den Darstellungsakt der Performer als Nachahmung begreifen. Sie ahmen die Haltung einer Person auf einem Foto bzw. den Sprachfluss eines Bundestagsredners nach. Doch diese Form der Nachahmung ist nicht mehr an den Vorgang der Täuschung gekoppelt. Ganz im Gegenteil wird in beiden Arbeiten durch je spezifische Kunstgriffe der Vorgang des Nachahmens selbst ausgestellt und zum Thema gemacht. Die Differenz zwischen dem Darsteller und seinem Darstellungsauftrag, der Rolle gewissermaßen, wird willkürlich oder unwillkürlich gezeigt und sinnlich erfahrbar gemacht. Anders als in Brechts Modell des epischen Theaters wird dabei jedoch keine gestische Spielweise praktiziert, die eine mehr oder weniger eindeutige Haltung des Darstellers zu seiner Rolle kenntlich machen würde. Eine solche Haltung bleibt in der Serie Deutschland ja gerade diffus. Als Betrachter der Installation ist man im Unklaren, wie und warum die Akteure handeln bzw. ob sie selbst durchschauen, in welchem Rahmen sie schließlich wahrgenommen werden. In Deutschland 2 hingegen darf man dem einen oder anderen Redner sehr wohl unterstellen, dass er die Kopie schauspielerisch überzeugend darbieten will, doch dieses Ziel wird durch das dilettantische Unvermögen bzw. die sportliche Dimension des Darstellungsauftrags (gleichzeitige Koordination von Hören, Sprechen, Mimik und Gestik unter hohem Zeitdruck) durchkreuzt. Es kann aber auch nicht davon die Rede sein, dass die Darsteller eine inzwischen klassisch zu nennende Performerhaltung einnehmen würden, welche nicht in erster Linie Bedeutung hervorbringt und vermittelt, sondern Präsenzeffekte erzeugt, indem die Performer auf ihren eigenen Körper bzw. ihre individuellen Handlungen verwiesen. Ganz im Gegensatz zu dieser Selbstreferentialität der Performancekunst zeichnet sich der Darstellungsvorgang in Reenactments ja gerade durch eine Art Hyperreferentialität aus. Die Darsteller der Serie Deutschland stellen nicht sich selbst aus, sondern sie stellen ihren Körper als ein Vehikel zur Verfügung, das eine bestimmte Körperhaltung auf einem Foto vermittelt. In Deutschland 2 wird dieser pure Repräsentationsauftrag nicht nur programmatisch formuliert (»Repräsentiert Eure Repräsentanten«), sondern in jeder Sekunde der Performance durch den steten Verweis darauf erfahrbar, dass der Redner am Pult für jemanden anders steht und einen Text spricht, der von anderswo herkommt und von außen übertragen wird. In beiden Fällen können die Betrachter den Impuls entbehren, der bei psychologisch-realistischer Spielweise innere psychische Vorgänge und äußere

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körperliche Handlungen verlötet und wechselseitig begründet. Die Praxis der Verkörperung ist explizit aber nicht expressiv. Der innere Impuls wird vielmehr durch einen ästhetischen Rahmen ersetzt, den die Künstler (und nicht die Darsteller!) konstruieren und setzen. Lediglich durch Seitenblicke, das Lächeln und Räuspern oder das diskrete Scheitern der Darsteller wird ihre Persönlichkeit durch eine Art Dreckeffekt der Darstellung erfahrbar. Man kann es durchaus als Qualität dieser Arbeiten ansehen, diese Widerständigkeit zu provozieren. Die Praxis der Verkörperung und der Teilhabe dient dabei nicht dazu, die historische Distanz imaginär zu kitten und Geschichte lebendig zu machen, sondern den Blick zu brechen und ein Vexierspiel zu generieren. Nicht für das Erleben, sondern für das Beobachten eines historischen Vorgangs und dessen mediales Zustandekommen erzeugen beide Arbeiten – auf ihre eigene Art – Aufmerksamkeit. So verschieden ihre Inszenierungsstrategien auch sind, zeigen doch beide ein nachhaltiges Interesse an der Thematisierung und Reflexion der eigenen Herstellungsbedingungen und lassen Betrachter bzw. Zuschauer damit zu einem Teil der Installation bzw. Aufführung werden. Dass beide Arbeiten den Begriff Deutschland im Schilde führen, deutet nicht zuletzt eine Verschiebung der künstlerischen Neugier an, welche der Praxis des Reenactments zukünftig neue und veränderte Optionen eröffnen dürfte.

L ITERATUR Arns, Inke: »Strategien des Reenactment«, in: Dies./Gabriele Horn (Hg.), History will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt a.M.: Revolver 2007, S. 37-63. Dreysse, Miriam/Malzacher, Florian (Hg.): Rimini Protokoll, Berlin 2007 Roselt, Jens: »An den Rändern der Darstellung – Ein Aspekt von Schauspielkunst heute«, in: Ders. (Hg.), Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock- bis zum postdramatischen Theater, Berlin 2005, S. 376ff. Stamm-Kuhlmann, Thomas: »Der Mantel der Geschichte. Die Karriere eines unmöglichen Zitats«, in: Ders. et al. (Hg.), Geschichtsbilder. Fest-

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schrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, S. 212-222.

Die seltsame Kraft der Wiederholung Zur Ästhetik des Reenactments M ILO R AU

Es gibt Kunstwerke, die ihrem Betrachter keine Chance lassen. Sie funktionieren ohne Umwege und bewusstlos wie Maschinen, jenseits von jeder erkennbaren Absicht und scheinbar zu niemandes Nutzen. Als hätte es die postmodernen Ekstasen des augenzwinkernden Als-Ob nie gegeben, ziehen sie den Betrachter hypnotisch in ihren Bann. Zitadellen ihrer Eigengesetzlichkeit, nehmen sie den Blick des Betrachters wie den eines Mittäters in sich auf – nur um ihn ratlos zurückzulassen. Zu diesen Kunstwerken gehört die Arbeit 80064 (2004)1 des polnischen Künstlers Artur Zmijewski. Es ist ein 11minütiger dokumentarischer Videofilm, in dem ein Holocaust-Überlebender überredet wird, die in Auschwitz auf seinen Unterarm tätowierte Nummer »auffrischen« zu lassen. In einem einleitenden Interview erzählt er von seinen Erlebnissen im Konzentrationslager, gleichsam unbeteiligt und ohne viele Details, als sei dies alles ohnehin bereits bekannt. Man versteht die eigentliche Absicht des Films erst, als der Mann gegen Ende des Interviews versucht, das Experiment abzubrechen. Doch Zmijewski, der bisher nur als Interviewer in Erscheinung getreten ist, erinnert ihn daran, dass sie es so ausgemacht hätten – und mit Erschrecken erkennt der Zuschauer nun, dass die beiden sich in einem Tätowierstudio befinden. Mit dem konzentrierten Stoizismus des Erniedrigten

1

Zmijewski, Artur: 80064, Erstvorführung 2004. Alle folgenden Zitate aus 80064 sind Übersetzungen des Autors.

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lässt sich der Auschwitz-Überlebende seine Nummer vor der Kamera noch einmal stechen: es ist die »80064«. »Sie ist jetzt deutlicher«, sagt er am Ende. Eine andere Arbeit, The Milgram Re-enactment (2002)2 des englischen Installationskünstlers Rod Dickinson, treibt dieses grausame Spiel der Wiederholung noch weiter. Schauspieler führen darin eine mehrstündige Performance auf, bei der in einem spartanisch, leicht verschmockt eingerichteten Universitätslabor Menschen zu Tode gefoltert werden. Dickinsons Milgram Re-enactment beruht auf einem Experiment des amerikanischen Soziologen Stanley Milgram, der damit in den 60er Jahren den Gehorsam Einzelner gegenüber Autoritätspersonen testen wollte. Unter dem Vorwand, Material über den Zusammenhang von Lernerfolg und Strafe zu sammeln, forderte er seine Probanden auf, dem »Schüler« (natürlich einem Schauspieler) bei jeder falschen Antwort Elektroschocks zu geben. Was dann geschah, überraschte selbst Milgram, dessen Experiment zu einem Klassiker der Sozialwissenschaften wurde. Denn trotz der Bitten und Schmerzensschreie der auf einem Stuhl festgeschnallten Opfer waren zwei Drittel der Probanden bereit, auf Befehl des Versuchsleiters Stromschläge bis zum tödlichen Schock von 450 Volt zu verabreichen. Rod Dickinsons »Reenactment« besteht nun in nichts anderem, als in einer präzisen Rekonstruktion von Milgrams Transkripten. Die Räume, die Kleider, die knappen Fragen und Anweisungen, die Schreie der Gepeinigten und die stumme Verzweiflung ihrer Peiniger, alles ist da, unkommentiert und auf die Dauer sogar langweilig – und bestätigt gerade in dieser völlig unkommentierten Wiederholung Hannah Arendts berühmte These von der ›Banalität des Bösen‹. »Nur ein paar Situationen in der modernen Gesellschaft scheinen ausreichend extrem und unkommunikativ, um eine Chance zu haben, der Vereinnahmung zu entgehen«, schrieb Susan Sontag in ihrer »Annäherung an Artaud«. Und sie fügte hinzu: »Eine davon ist der Wahnsinn. Was die Grenze des Leidens überschreitet (wie der Holocaust) ist eine andere. Eine dritte besteht natürlich im Schweigen.«3

2

Rod Dickinson: The Milgram Re-enactment. Erstaufführung Centre for Contemporary Art, Glasgow, 17. Februar 2002.

3

Sontag, Susan: »Annäherungen an Artaud«, in: Susan Sontag, Im Zeichen des Saturn, Fischer: Frankfurt am Main 1983, S. 43-96, hier S.77.

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Nicht verstanden zu werden, den Zuschauer vor den Kopf zu stoßen und sich an seinem Unverständnis zu delektieren, sich selbst zu verletzen oder in vieldeutiges Schweigen zu verfallen: von den Provokations-Orgien der Futuristen bis zu den pathetischen Schweigsamkeiten des Arthousemovies ist die moderne Kunst immer auch der Versuch gewesen, »der Vereinnahmung zu entgehen«. Sogar noch die Postmoderne, die die Jagd nach dem genialischen Pollock-Moment distanziert und leicht amüsiert betrachtete, war nicht ganz unanfällig für die im modernen Authentizitätskult verborgenen Energien. Warhols Siebdruckserien oder später dann Tarantinos Revival des Low-Budget-Kinos der 70er steckten voll kühler, glamouröser Ironie – Restspuren jener »extremen« Haltung, von der Sontag spricht. Ganz anders Zmijewski und Dickinson. Sie wiederholen ihr Original scheinbar ohne jede ästhetische Haltung, in einem betont passiven Bemühen um Vollständigkeit. Kein Versuch zur Abstraktion ist in den beiden Werken, kein avantgardistisches Statement über die Rolle des Autors oder des Zuschauers, kein Gefühls-Extremismus, kein Sarkasmus und auch kein ironisches Dandytum – nichts, was der Kunst in den hundert Jahren seit Marinettis »Manifest des Futurismus« so lieb gewesen ist. Es wird getan, was bereits einmal getan wurde, nicht mehr und vor allem nicht weniger. Dass Dickinsons Darsteller das moralische Scheitern von Milgrams Probanden nachspielen, bis in ihr Zögern und ihren Abscheu vor sich selbst hinein, weist keinen Ausweg aus der schrecklichen Experimentalsituation und verharrt auch nicht in der Provokation – es verdichtet die Vorlage zu einem traumatischen und überzeitlichen Theater menschlichen Versagens. Sogar das Interview, das in Zmijewskis 80064 der Tätowierung Tarnawas vorausgeht, ist auf unheimliche Weise unpersönlich. Es wirkt wie das Ready-Made eines der zahllosen Interviews, die mit Holocaust-Überlebenden geführt wurden. Nichts vom »Leiden« Tarnawas ist in ihm spürbar oder gar verarbeitet, und nur ein einziges Mal zeigt der Film so etwas wie Engagement in den elf Minuten seiner Dauer – als es so aussieht, also wolle Tarnawa das Experiment abbrechen. Solche kalten, labormäßigen Wiederholungen sind seit einiger Zeit in der Performance-Kunst populär geworden. Als wären die Künstler ihres modernen Auftrags zur Genialität und zur Überschreitung endgültig müde geworden, wenden diese Re-Inszenierungen medialer oder historischer Ereignisse – sogenannte ›Reenactments‹ – jedem Anspruch auf Innovation entschieden den Rücken zu. Ähnlich wie in den populären ›Battle Ree-

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nactments‹, in denen von Laien alljährlich die blutigen Schlachten des amerikanischen Bürgerkriegs oder die Landung der alliierten Truppen in der Normandie 1944 nachgestellt werden, ist alles an diesen Kunstwerken bereits bekannt, scheinbar bloß kopiert und gerade deshalb auf umso zwingendere Weise präsent: eben »deutlicher«, wie Tarnawa im Hinblick auf seine Tätowierung sagt. Weit entfernt von der spielerischen Ausweidung des symbolischen Materials westlicher Konsumgesellschaften, an der sich die Postmoderne ergötzte, beschäftigen sie sich mit der trancehaften Eigengesetzlichkeit kultureller Bilder und Szenen – mit ihrer gespenstischen Kraft, sich uns unauslöschlich einzuprägen und jenseits aller Verarbeitung weiterzuleben. »History will repeat itself«4 lautete deshalb vor drei Jahren der sinnfällige Titel einer in Berlin und Dortmund präsentierten Gruppenausstellung, die einen Überblick über (mehr oder weniger) aktuelle Strategien von künstlerischen Reenactments bot. Was hier präsentiert wurde wie auf Freuds Couch die sexuellen Neurosen des Kleinbürgertums, waren ReInszenierungen medialer Bilder und sozialer Verhaltensweisen, die nur eines gemeinsam hatten: dass sie umso unheimlicher und undurchdringlicher sind, je besser man sie zu kennen glaubt. Neben Dickinsons und Zmijewskis Arbeiten waren unter anderem eine Re-Inszenierung der Ermordung Kennedys (The Eternal Frame, Ant Farm 1975) oder Fotos von Nikolai Evreinovs legendärer »Erstürmung des Winterpalasts« zu sehen – jenem propagandistischen Proletkunstfestival, das 1920 zum dreijährigen Jubiläum der Oktoberrevolution die eigentlich völlig unspektakuläre Erstürmung des Petersburger Winterpalasts derart wirksam »wiederholte«, dass es sein Original problemlos einkassierte und bis heute in Geschichtsbüchern und Zeitungen als authentische Aufnahme Verwendung findet. Das vielleicht zwingendste Reenactment der Ausstellung aber steuerte der polnische Konzeptkünstler Zbigniew Libera bei. Seine Fotografie Nepal (2003) inszeniert eine Gruppe fröhlicher Touristen, die auf den Betrachter zugehen – angeführt von einer lachenden nackten Frau. Das Bild spielt bis in die Positionen seiner Figuren auf das berühmte World Press Foto von 1972 an, auf

4

Die Gruppenausstellung »History will repeat itself. Strategien des Reenactments in der zeitgenössischen Kunst« wurde kuratiert von Inke Arns, Gabriele Horn und Katharina Fichtner. Stationen: HMKV Dortmund (2007), Kunstwerke Berlin (2007/8), Centre vor Contemporary Art Warschau (2008).

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dem ein vietnamesisches Kind vor einem Napalmangriff flieht, geleitet von amerikanischen GIs. Was Freud die »Unheimlichkeit des Gewöhnlichen«5 nannte, wird hier zur inszenatorischen Methode: Als hätten diese Bilder, diese Erzählungen von Mord, Krieg, Aufstand, hoher und niederer Politik ein Eigenleben entwickelt, erinnern sie den Betrachter gerade in der Wiederholung an die von der eigenen Verbreitung verschütteten Urszenen ihrer Entstehung. Denn was verdrängt war, ist nicht vergessen. Es war nur zu gewöhnlich und zu bekannt geworden, um noch wahrgenommen zu werden. »Mönchische Gesänge« seien solche Reenactments, wie ein Kritiker Rod Dickinsons schrieb, »aber in einer Welt ohne Gott«.6 Denn jenseits jeder philosophischen oder dramatischen Legitimation eröffnen solche Reinszenierungen einen Blick in jenen tiefsten Resonanzraum kultureller Bilder und Erzählungen, in dem sich Geschichte gleichsam hinter dem Rücken ihrer Akteure und wie in einem Wachtraum vollzieht – als gottlose, blinde Macht, die nicht verstanden, nicht auf irgendeine Nacherzählung verkürzt, sondern nur re-inszeniert und »gesehen« werden kann. Was mit Josef Tarnawa in 80064 geschieht, was er hypnotisiert von Zmijewskis teuflischer Spielanleitung an seinem Körper geschehen lässt, ist höchstens in zweiter Instanz eine Reflexion über den Holocaust oder die Tatsache, dass Menschen in den KZs zu Nummern gemacht wurden. Es sind auch nicht die Gefühle Tarnawas, ja: es ist nicht einmal der Zynismus Zmijewskis, der den Zuschauer lähmt. Es ist das grässliche Gesellschaftsspiel »Holocaust« selbst, das hier »gezeigt« wird, unter dessen Bann dieses kurze Video steht, so wie Dickinsons Milgram Reenactment unter dem Bann seiner erschütternden Vorlage, diesem endgültigen, bewiesenen moralischen Scheitern des Durchschnittsmenschen. Und so ist es auch gleichgültig, ob die Vorlage ein historisches, ein wissenschaftsgeschichtliches oder ein künstlerisches Ereignis ist – so etwa in der Performance-Reihe Seven Easy Pieces (2005), in der Marina Abramovic sieben legendäre Performances wiederholte. Die

5

Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke, Werke aus den Jahren 1917-1920, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2005, S. 227-268, hier S. 244.

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McCarthy, Tom: Evoking the Invocation, Begleittext zu Rod Dickinsons The Milgram Re-Enactment, unpubliziertes Manuskript, geschrieben anlässlich der Erstaufführung 2002.

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klaustrophobischen Symbol- und Handlungswelten totalitärer oder wissenschaftlicher Systeme, die statuarischen Gesten der Avantgarde und die selbstverliebten Ekstasen der Popkultur wenden dem Betrachter in Reenactments ihre abgewandte, ihre mechanische und inhumane Seite zu - eigensinnig und dicht wie die Rituale einer vorgeschichtlichen Gemeinschaft, die kein Verstehen und kein avantgardistischer Überschwang jemals heilen kann. »Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken! Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!«, forderte im Jahr 1909 Marinetti in seinem Manifest des Futurismus 7 , dem Urschrei aller Avantgarden, der noch heute in jedem Popsong, jedem Pamphlet nachklingt wie ein fernes Echo. Was es bedeutet, dass nun ein künstlerisches Format auftritt, das die ehrwürdigen Städte der Vergangenheit nicht niederreißt, sondern sie aufbaut, in einem fast autistischen Bemühen um Vollständigkeit: Es ist schwer zu sagen. Die alte platonische Frage nach dem Sinn der Nachahmung kehrt hier völlig blank und unverstellt wieder. Dass Josef Tarnawa am Ende von Zmijewskis Video seine Nummer »auffrischen« lässt, bestätigt nur seine Erniedrigung, und wie in einem Alptraum ist in seiner Miene weder Auflehnung noch Ironie, es ist schlicht gar nichts darin zu lesen. Und auch Dickinson bearbeitet seine Vorlage nur insofern, als er sie – wie einst Marcel Duchamp sein Urinal – dem Betrachter völlig entkleidet von allen kontextuellen Wucherungen präsentiert: im ›White Cube‹ des Museums, gleichsam unter Laborbedingungen und in Echtzeit. Er errichtet ihr ein Monument, ein pedantisches Tableau Vivant, den Nullpunkt aller Dramatik. Aber »wenn einem zeitgenössischen Publikum Leute präsentiert werden, die auf Stühlen festgeschnallt sind und sich in gespieltem Schmerz krümmen«, so noch einmal Dickinsons Kritiker, »wenn sie dies stundenlang tun, sieht dieses Publikum dann nicht in Wirklichkeit die reductio ad absurdum aller christlichen Kunst, aller von Euripides und Shakespeare ausgehenden Tragödien«?8

7

Marinetti, Filippe Tomaso: »Manifest des Futurismus«, in: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Band 1 (1895-1941), Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2003, S. 185-187, hier S. 187.

8

T. McCarthy: Evoking the Invocation, S. 2.

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Natürlich: Das ›Ende der Kunst‹ ist öfters schon verkündet worden, es ist die Fahne, unter der die Avantgarden seit Marinetti in die Zukunft reiten. Euripides, Shakespeare, die »christliche Kunst«: Kaum ein Künstler hat in den letzten hundert Jahren an ihnen nicht seine Spitzhacke ausprobiert. Doch noch nie ist diese Aufgabe derart konsequent, derart banal zu Ende exerziert worden. Der eigentliche »Sinn« dieses seltsamen Formats, das sich »Reenactment« nennt, ist deshalb vielleicht schlicht und einfach folgender: Den alten avantgardistischen Traum - die Kunst mit dem Leben zu versöhnen – völlig ernst genommen und das »Leben« mit seinen Konvulsionen, seiner destruktiven Ziellosigkeit, seinem stupiden Materialismus und seiner unauflösbaren Vieldeutigkeit in einer reductio ad absurdum ins Zentrum aller künstlerischen Überlegungen gestellt zu haben. Als hätte es Shakespeare und Euripides, diese Ekstasen des Humanen, nie gegeben, markieren Dickinsons oder Zmijewskis Werke so kein weiteres ›Ende der Kunst‹, keine weitere Neu-Interpretation der Tradition, sondern einen fundamentalen Neubeginn - einen Neubeginn im Namen eines extremen Realismus, der keinen Unterschied mehr macht zwischen Dingen und Menschen, zwischen Zufall und Geschichte, zwischen Freiheit und Zwang, sondern sie blind für alle dramatischen Hierarchien auf einer gemeinsamen Ebene anordnet. Was getan wurde, wird wieder getan, und wie bei einer Ausgrabung erscheint der Mensch so gleichsam in einem geschichtsphilosophischen Holozän: Ding unter Dingen, Geräusch unter Geräuschen, Bewegung unter Bewegungen, ein Kreuzungspunkt von Motivationen, Zwängen und Ritualen, gefangen in der verfließenden Zeit. Schaut her, sagen Dickinson und Zmijewski in aller Schlichtheit: Dies ist geschehen. In diesem Raum und zu dieser Zeit. Dies ist ›der Mensch‹. Genauer, grausamer kann Darstellung nicht sein. Was danach kommen mag: wer weiß?

L ITERATUR Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke, Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 227-268.

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McCarthy, Tom: Evoking the Invocation, Begleittext zu Rod Dickinsons »Milgram Re-Enactment«, unpubliziertes Manuskript, geschrieben anlässlich der Erstaufführung 2002. Marinetti, Filippe Tomaso: »Manifest des Futurismus«, in: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Band 1 (18951941), Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2003, S. 185-187. Sontag, Susan: »Annäherungen an Artaud«, in: Susan Sontag, Im Zeichen des Saturn, Frankfurt am Main: Fischer 1983, S. 43-96.

Mythos Ereignis – Mythos Aufführung Künstlerische Reenactments als Entmythisierungsverfahren N INA T ECKLENBURG »If tomorrow I find somebody who is pretty much like me and I put her here to sing, she can be Nico while I go and do something else.« NICO

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NACH DEM

O RIGINAL

ÜBER DIE

K OPIE

Was heißt es, in der Performance Gob Squad’s Kitchen (Berlin, 2007) Andy Warhols Film Kitchen 1 nachzuspielen? Für die Produktion Gob Squad’s Kitchen. You’ve Never Had It So Good hatten mich Gob Squad eingeladen als Gastperformerin im Probenprozess und später in einigen der Aufführungen mitzuwirken. Wie immer in den Performances des Künstlerkollektivs Gob Squad übernimmt man als Performerin keine Rolle im herkömmlichen Sinne, sondern man stellt sich eine Aufgabe, die man im Rahmen eines Versuchsaufbaus auszutesten und zu erfüllen versucht.2 Unsere selbstgestellte Aufgabe in Gob Squad’s Kitchen lautete: Sei Du selbst

1

Kitchen (USA 1965, R: Andy Warhol)

2

Vgl. Gob Squad: Lesebuch. Und der unmögliche Versuch draus klug zu werden, Berlin: Eigendruck gefördert durch die Berliner Kulturverwaltung, 2010, S. 53.

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in New York im Jahr 1965. Sei Du selbst in der Factory von Andy Warhol. Sei Du selbst als eine Darstellerin Deiner selbst im Filmset von Andy Warhols und Ron Tavels Film Kitchen.3 Anstatt also einfach den Film-Part von Warhols Superstar Edie Sedgwick nachzuspielen, besteht meine Aufgabe in jeder Aufführung von Gob Squad’s Kitchen darin, mich selbst als Nina Tecklenburg in die wilden Zeiten der 60er Jahre in Downtown Manhattan imaginär zurückzuversetzen und mithilfe unseres nachgebauten Filmsets, in welches das Publikum via Kameraübertragung blickt, möglichst viele Facetten dieses neuen Selbst spielend zu entdecken und auszutesten. Gob Squad, die eingefleischten Experten der Selbstinszenierung, haben in Warhols Superstars ihre Vorgänger und Originale entdeckt. Warhols Kitchen nämlich, so die Behauptung zu Beginn von Gob Squad’s Kitchen, war revolutionär: ein Film, in dem keiner das Script auswendig gelernt hatte, in dem improvisiert wurde und in dem eigentlich nichts passierte: »It was very simple. It was just people in a kitchen doing things.« »All you have to do is: just be yourself.«4 Bereits in seinen ersten Filmen aus den frühen 60er Jahren hatte sich Andy Warhol einer ähnlichen, konzeptuellen Einfachheit bedient. In dem Film Eat wurde gegessen, in Sleep wurde geschlafen, in Hair Cut wurden Haare geschnitten, in Blow Job wurde geblasen und in Kiss wurde geküsst. Für uns Darsteller in Gob Squad’s Kitchen ergibt sich jedoch im Gegensatz zu Warhols Superstars wie Edie Sedgwick, Roger Trudeau oder Lyon Elecktrah ein grundlegendes Problem. Denn wie kann ich ganz ich selbst sein, wenn ich zugleich in eine andere Zeit schlüpfen soll, die ich selbst nicht erlebt habe? Was heißt das für mich: Nina in den 60ern, in Downtown Manhattan? Welche attitude hatten die Leute damals, wenn sie ›einfach nur

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Ron Tavel schrieb das Drehbuch von Kitchen. Die Zitate aus Gob Squad’s Kitchen in diesem Beitrag stammen aus der Videoaufzeichnung einer Aufführung in Nottingham, Playhouse 2007. Da die Performance zu einem Anteil improvisiert ist und der Cast für jede Aufführung wechselt (Es gibt mehr Performer als Parts; außerdem beherrschen die Performer mehrere Parts und wechseln sich untereinander ab), variiert das Gesprochene von Aufführung zu Aufführung. Gob Squad verwenden entsprechend kein Wort für Wort festgelegtes Skript, sondern die Improvisationen erfolgen entlang eines während der Proben gemeinsam erarbeiteten Ablaufplans. Für den Ablaufplan von Gob Squad’s Kitchen siehe Gob Squad: Lesebuch, S. 138ff.

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in einer Küche rumhingen‹? Und wie hätte ich das wohl gemacht? Wäre ich anders gewesen? Irgendwie cooler oder mutiger oder revolutionärer? Was wäre aus mir geworden, wenn ich Partys in der Silver Factory besucht hätte, mit Velvet Underground Amphetamine geschmissen oder mit Valerie Solanas Pläne zur Vernichtung der Männer geschmiedet hätte? Abbildung 1: Gob Squad’s Kitchen

Quelle: David Baltzer

Die Spannungen zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, zwischen dem Original und unserem live-remake werden zum zentralen Thema von Gob Squad’s Kitchen. Anstatt den ursprünglichen Film originalgetreu zu ›reenacten‹, geht es uns um ein während der Aufführung immer wieder thematisiertes, unvermeidliches Scheitern an der Aufgabe, ganz und gar in der Gegenwart der Vergangenheit aufzugehen. Und weil uns dies nicht gelingt, holen wir uns Hilfe beim Publikum. Wir suchen uns Doppelgänger aus dem Zuschauerraum jenseits unserer Leinwand. Als hoffentlich bessere 60er-Jahre-Version unseres Selbst schlüpfen die Mitspieler in unser Set und übernehmen vor laufender Kamera unsere Aufgabe, während wir Performer uns zu den übrigen Zuschauern auf die andere Seite der Leinwand setzen. Der Effekt ist verblüffend: Was wir Performer vergeblich versucht haben durch ungewollt übertriebene Selbstinszenierungen zu erreichen – nämlich ebenso wie unsere historischen Vorbilder ›einfach nur in einer Küche zu seinǸ – scheint unseren Mitspielern aus dem Publikum viel besser zu gelingen – und das, obwohl bzw. gerade weil unsere Doppelgänger durch die

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Technik des remote-acting agieren. Beim remote-acting, wie Gob Squad es nennen, bekommen die mitspielenden Zuschauer von den im Zuschauerraum sitzenden Performern Handlungs- und Sprechanweisungen über Kopfhörer eingeflüstert. 5 Durch die ständige Versorgung mit Aufgaben durch die Performer werden die Mitspielenden derartig in die Ausführung von Handlungsanweisungen eingespannt, dass ihnen keine Zeit bleibt, über das Wie oder Was ihrer Handlungen und Sätze nachzudenken. Ihr Agieren wirkt dadurch überraschend ›echt‹, obgleich der technisch-mediale Apparat, mittels dessen jene Authentizität produziert wird, für jeden offensichtlich bleibt. Umso mehr Medien und Barrieren zwischen Filmset und Zuschauerraum geschaltet werden, desto stärker ist der Effekt von Authentizität. Die Suche nach dem Original gelingt nur über die Kopie der Kopie, die sich immer weiter durch eine weitere sichtbare mediale Schicht vom Original zu entfernen scheint. Die Technik des remote-acting, die einen zeitlichen, modalen und medialen Abstand zwischen originaler, eingeflüsterter Rede und dem Nachsprechen exponiert, entfaltet dabei beispielhaft den Effekt jener Ursprungs-konstitutiven Wiederholungsästhetik, der die gesamte Performance unterliegt: Das Original ist ein Mythos, eine Projektion – auch das zeigte schon Andy Warhol in seiner kopierfreundlichen, (post-)fordistischen Kunstreproduktionsfabrik. Für unser Stück war es zentral, nicht das Original von Kitchen nachzuspielen, sondern ein ›image‹ zu (re-)produzieren, das wir selbst von Warhols Film und, darin stellvertretend, von der Mythos beladenen Ära der 60er Jahre hatten. Zu Beginn des Probenprozesses kannte keiner von uns den Film Kitchen und unser spielerisches Ausprobieren und unsere Mutmaßungen darüber, wie der Film und seine Darsteller gewesen sein könnten, wurden der Ausgangspunkt für unsere Selbstinszenierungen und Selbstprojektionen, oder wie Gob Squad es formuliert haben: »Wir waren inspiriert von [...] einer Zeit, die wir zwar aus Büchern, Filmen und Legenden kannten, aber selbst nie erlebt hatten. Und gerade darin schien auch der Reiz des Rekonstruktionsversuchs zu bestehen: sich an einem Material abzuarbeiten, des-

5

Vgl. Gob Squad: Lesebuch, S. 76-79. Eine ähnliche Einflüster-Technik als zentrales ästhetisches Mittel findet sich in Arbeiten von The Nature Theatre of Oklahoma, Rotozaza und Dries Verhoeven.

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sen wahre Beschaffenheit nur mit unseren Projektionen, Wünschen und Vorstellungen erahnt und gefüllt werden kann. [...] Den Originalfilm »Kitchen« sahen wir erst, als der Probenprozess nahezu abgeschlossen war. [...] Erstaunlicherweise blieb das 6

Projekt von der Kenntnis der Originalvorlage aber fast unberührt.«

Das künstlerische Reenactment von Gob Squad stellt das Verhältnis von Original und Kopie, von Aufführungen und ihren Wiederholungen bzw. Dokumentationen auf den Kopf. Damit treffen Gob Squad einen nicht unempfindlichen Nerv der Theaterwissenschaft, für die das Verhältnis zwischen Aufführungen und ihren Wiederholungen nicht nur auf einer thematischen, sondern ebenso auf einer methodologischen und epistemologischen Ebene relevant und problematisch ist. Denn die Wissensproduktion in der Theaterwissenschaft beruht zu einem Großteil auf Aufführungswiederholungen in unterschiedlichsten Medien. Die Aufführungsanalyse kann streng genommen niemals auf das Original ›an sich‹ zurückgreifen, da dies immer schon vorbei ist. Untersuchen wir zum Beispiel die Wirkungen von Aufführungen, wie dies gerade in phänomenologischen Analyseansätzen der Fall ist, so gelingt dies nur über den Umweg einer Wiederholung dieser Wirkung mittels bspw. Sprache oder Bildern. Ich möchte im Folgenden das Eingangsbeispiel von Gob Squad als Anlass dafür nehmen, gängige theaterwissenschaftliche Herangehensweisen an Aufführungen selbstkritisch zu beleuchten. Denn gerade selbstreflexive Reenactments wie Gob Squad’s Kitchen führen das epistemologische ›Dilemma‹ der Theaterwissenschaft inhaltlich und strukturell deutlich vor Augen. Reenactments, so wird hier gezeigt, sind immer beides zugleich: Aufführung und Wiederholung. Reenactments verweisen darauf, dass die Wirkung einer Aufführung zu einem Anteil immer schon die Wirkung einer Wiederholung einer Aufführung ist. Genau dieser Umstand jedoch droht in der Theaterwissenschaft immer wieder aus dem Blick zu geraten. Gehört einerseits die mediale und zeitliche Differenzierung zwischen Aufführungen und ihren Dokumentationen zum Disziplin-konstitutiven Grundlagenwissen der Wissenschaft von Aufführungen (wir untersuchen Aufführungen und keine schriftsprachlichen Texte, Bilder usw.), läuft man andererseits immer wieder Gefahr zu übersehen, dass sich jene Differenzierung auf der Ebene der Wirkung nicht auf-

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Gob Squad: Lesebuch, S. 44f.

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rechterhalten lässt. Aufführung und Dokumentation sind ihrer Wirkung nach konstitutiv ineinander verschachtelt. Trotz einer methodologischen Selbstreflexivität droht allzu schnell der Umstand in Vergessenheit zu geraten, dass die Wirkung der eigenen Rede und Bebilderung von Aufführungen nachträglich die Aufführung mitgestaltet. Was in Gob Squads Reenactment offensichtlich wird – die nachträgliche Gemachtheit des Originals – vermag in so mancher Aufführungsanalyse unsichtbar zu werden, oder wie Derrida es formuliert hat: »Stillschweigend und ohne es zuzugeben lässt man ein Sprechen, das das Ereignis macht, als simple Mitteilung des Ereignisses durchgehen.«7 Künstlerische Reenactments der Gegenwart, so meine Ausgangsthese für das Folgende, vermögen einem mitunter die Bedingungen und blinden Flecken des eigenen theoretischen Diskurses und Handelns über Aufführungen aufzuzeigen.

D IE G EBURT DES AUFFÜHRUNGSEREIGNISSES DEM G EISTE DER P ERFORMANCEKUNST

AUS

Wie Rebecca Schneider gezeigt hat, würfeln Reenactments die Logik des Archivs durcheinander, die auf der Grundlage des Gegensatzes von Aufbewahrung, Dokumentation und Speicherung einerseits und Flüchtigkeit, Ereignishaftigkeit und Unwiederbringlichkeit andererseits operiert. 8 Anstelle dieses Binarismus provozieren Reenactments die Annahme einer alternativen Logik, innerhalb derer Ereignisse selbst als Aufbewahrungsform sowie umgekehrt das Archivieren und Wiederholen selbst als ein Ereignis erscheinen. Jegliches Wiederholen eines Ereignisses – ob als Reenactment, als mündliche oder schriftliche Nacherzählung, als Video- oder Fotodokumentation – unterliegt selbst einer wirkungsvollen Flüchtigkeit, die sich freilich nicht mit derjenigen des Ereignisses deckt, welches es wiederholt, die jedoch eine eigene Energie entfaltet, welche die Differenz zum ursprünglichen Ereignis zu verwischen droht.

7

Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve Verlag 2003, S. 23.

8

Vgl. Schneider, Rebecca: »Archives. Performance Remains«, in: Performance Research. On Maps and Mapping, Band 6, Nr. 2 (2001), S. 100-108, hier S. 100f.

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Schneider zufolge stellt diese alternative Logik, die das Reenactment provoziert, die Performance Studies und Theaterwissenschaft vor ein Problem, da der Topos der Flüchtigkeit deren Markenzeichen, und mehr noch, deren epistemologisches Steckenpferd darstellt.9 So ermöglichte die konsequente Fokussierung auf Performance und im deutschsprachigen Raum auf Aufführungen, eine zuvor in semiotischer Perspektive vernachlässigte Dimension von Aufführungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen, d.h. die Betrachter für ephemere Präsenzphänomene zu sensibilisieren und die Flüchtigkeit von Aufführungen nicht als Verhängnis zu betrachten, sondern im Gegenteil als zentrale Eigenschaft stark zu machen.10 Der Blick auf Aufführungen verschärfte dabei die Einsicht, dass Untersuchungsgegenstände allgemein niemals feststehende, wirkungslose Objekte darstellen, sondern stets unter dem direkten Einfluss seiner Betrachterinnen stehen. Gerade die künstlerische Aufführung avancierte dabei als ›flüchtigste aller KunstformenǸ zum paradigmatischen Gegenstand, welcher die Paradoxien eines flüchtigen Untersuchungs-›Objekts‹ allgemein zu exponieren vermag. Als besonders repräsentatives Material gelten dabei bis heute Aufführungen der klassischen Performancekunst beziehungsweise der frühen Body Art. In ihren Aufführungen forcierten die Pioniere dieser Kunstrichtung beispielhaft das Erscheinen von unvorhersehbaren Momenten und betonten dabei eine nachträgliche Unfassbarkeit ihrer flüchtigen Handlungsvollzüge. Obgleich uns Theaterwissenschaftlerinnen und Theaterwissenschaftlern freilich bewusst ist, dass Aufführungsereignisse, gerade weil sie flüchtig

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Wie Rebecca Schneider in Rekurs auf eine Konversation mit Richard Schechner betont hat, stellt »[t]he approach to performance as an ›ephemeral event‹« ein grundlegendes Disziplin konstitutives Merkmal der Performancetheorie dar: »[it] has been evident as basic to performance theory since the 1960s«, R. Schneider: »Archives«, S. 106.

10 Eine derartige epistemologische Sensibilisierung für das Aufführungsereignis und dessen Wirkungen waren zum Beispiel zentrales Thema der Arbeit des DFG-geförderten Forschungsprojektes »Ästhetik des Performativen« im Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen«, in dem ich selbst mitgearbeitet habe. Einschlägige Arbeiten, die daraus hervorgingen, sind u.a.: FischerLichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004; Roselt, Jens: Phänomenologie des Theaters, München: Fink 2008.

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sind, niemals in Reinform zu haben sind,11 schwingt dennoch in dem Vokabular, das wir gerade in Bezug auf die Charakterisierung von Aufführungsereignissen verwenden, nicht selten eine Art unbeabsichtigter Essentialismus mit. Irgendwie scheint es sie doch zu geben: eine referenzlose, pure Berührung durch die sich ereignende Flüchtigkeit einer Aufführung. Dabei werden die Performances von Chris Burden, Terry Fox, Marina Abramoviü und vielen anderen für die Theaterwissenschaft – ebenso wie Warhols Film Kitchen für Gob Squad – zur Projektionsfläche von Präsenz und sinnlicher Unmittelbarkeit: Wir reproduzieren und produzieren einen Mythos. Zwar ›reenacten‹ wir jene Aufführungen nicht, wir legen uns nicht auf Eisblöcke oder lassen uns eine Kugel in den Arm schießen, um den Studierenden die präsent-affektiven Kräfte jener schmerzlichen Ereignisse näher zu bringen; aber wir wiederholen sie auf andere Weise, zum Beispiel mittels Videos, Fotos und teilweise hochdramatischen Nacherzählungen. Nichts scheint sich besser für die Komposition eines ergreifenden Heldenmythos zu eignen als besonders ereignishafte Performances, in denen die Protagonisten gerade noch mal ganz knapp dem Tod entronnen sind: Und wenn nicht ein Zuschauer herbeigeeilt wäre, wenn die Kugel aus der Pistole danebengegangen wäre, wenn die Hand gezittert und der Bogenpfeil sich gelöst hätte – dann wären all jene Performanceheldinnen und -helden gestorben. Diese Wiederholungen, auf die wir angewiesen sind, pflanzen sich nicht selten nach hinten fort d.h. sie beruhen ihrerseits auf vorherigen Wiederholungen, denn wer von uns hat schon die Pionierarbeiten der 70er Jahre live gesehen? Es geht den Theaterwissenschaftlern also wie Gob Squad im Reenactment von Kitchen: Wir alle kennen das Original nicht und (re-) produzieren die den Performances immer wieder attestierte Energie durch Wiederholungen.12 Wir operieren immer schon außerhalb der dichotomischen

11 Vgl. u.a. Gronau, Barbara/Roselt, Jens: »Diskursivierung des Performativen«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 13, (2004), S. 112-127, hier S. 119. 12 Im Kontext der Performancekunst wurde der Begriff ›Energie‹ vor allem in Bezug auf die Wirkung von während der Aufführung stattfindenden Austauschprozessen zwischen Darstellern und Zuschauern virulent. Hierzu vgl. zusammenfassend: Schrödl, Jenny: »Energie«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 87-90, hier S. 89.

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Logik des Archivs und machen die ursprünglichen Ereignisse – im Sinne Jaques Derridas – nachträglich zu dem, was sie vermeintlich waren.13 Inwiefern hat in der Theaterwissenschaft jenes auf Wiederholungen beruhende Wissen schließlich eine Auswirkung auf die Wahrnehmung von Aufführungen im Moment ihres unwiederholbaren Vollzugs, insofern es auf die Aufführung zurückwirkt, sich in die Wahrnehmung einschreibt, die Wahrnehmung in actu strukturiert, diese bedingt? Zur Klärung dieser Frage werde ich im Folgenden eine Dimensionen in den Blick nehmen, die in der Debatte rund um die Wirkungsmacht von Aufführungsdokumentationen bislang nur am Rande Erwähnung fand und die sich jedoch gerade im Hinblick auf viele derzeitige künstlerische Reenactments aufzudrängen scheint: Zu fragen ist nach einer mythischen Dimension von Aufführungsdokumenten und ihrer quasi-sakralen Wirkung, welche die Aufführung, auf die sie sich bezieht, nachträglich als unwiederbringlichen Ursprung erscheinen lässt. 14 – Eine mythische Dimension, die zudem von der theaterwissenschaftlichen Rede über Aufführungen verstanden als flüchtige, als immer im Verlust begriffene Phänomene reproduziert wird. Ich werde dabei auf ein weiteres, künstlerisches Reenactment zu sprechen kommen, das nicht nur die mythisch-sakrale Wirkung von Aufführungsdokumenten im Vollzug des Reenactments erfahrbar macht, sondern auch die mythischen Qualitäten unseres eigenen aufführungstheoretischen Diskurses aufdeckt.15

M YTHOS E REIGNIS – M YTHOS AUFFÜHRUNG Was genau ist mit der mythischen Dimension von Aufführungsdokumenten gemeint? Mythisch wirken jene Dokumente insofern, als sie einen Moment

13 Vgl. J. Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 23. 14 Barbara Clausen z.B. bezeichnet Performancekunst-Dokumentationen als »Träger des Mythos eines verlorenen Moments«. Clausen, Barbara (Hg.): After the Act – The (Re)Presentation of Performance Art, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst Nürnberg 2005, S. 7. 15 Folgende Überlegungen finden sich in erweitertem Umfang in: Tecklenburg, Nina: »Telling Performance. Zur (Ent-)Mythisierung der Aufführung«, in: Adam Czirak/Erika Ficher-Lichte/Torsten Jost/Frank Richarz/Nina Tecklenburg (Hg.), Die Aufführung, München: Fink, im Druck.

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– das Aufführungsereignis – annehmbar und erklärbar machen, der sich selbst jeder Erklärung entzieht und der dieser Erklärung, so suggeriert der Mythos, zeitlich vorausgeht. Die Dokumentation beziehungsweise die Wiederholung einer Aufführung ist Arbeit am unwiederbringlichen Ursprung.16 Dies freilich setzt voraus, dass die Aufführung als Ursprung erachtet wird. Genau diese Annahme ist jedoch dem Verständnis von Aufführungen als Ereignis paradoxerweise zumindest anteilig implizit. Wenn zum Beispiel nach Peggy Phelan die Performance aufgrund ihrer Uneinholbarkeit ein subversives Phänomen markiert, welches dem System des Warentauschs und der Reproduktion durch sein Immer-schon-entzogen-Sein Widerstand leistet, scheint diese Rede insofern anfällig für Mythisierung, als hier die Möglichkeit vorstellig wird, die Welt ließe sich in zwei Teile teilen:17 in eine ursprüngliche, subversive (heilige) Welt der Performance als sich entziehendes Ereignis und eine jetzige (profane) Welt, von der aus die Aufführung immer nur als unzulänglich Reproduziertes betrachtet werden kann. Wie Maurice Godelier gezeigt hat, ist es gerade das »dem Tauschprinzip Entzogene«, welches in Ursprungsmythen für die heilige Welt kennzeichnend ist.18 Obgleich sich Phelans Überlegungen einer solchen vereinfachenden Opposition freilich widersetzen, da Performance hier gerade nicht als essentialistisch-transzendentes, sondern als ein immer schon strukturimmanent, subversives Moment gedacht wird, muss jedoch berücksichtigt wer-

16 Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 18. »Die Grenzlinie zwischen Mythos und Logos ist imaginär [...]. Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos«. Vgl. auch Christoph Jamme: »Der Ursprung ist präsent, so lange an ihm gearbeitet wird, der Mythos ist mithin nicht vorweltlich, sondern gehört zu unserer Welt«, Jamme, Christoph: Geschichten und Geschichte. Mythos in mythenloser Gesellschaft, Erlangen/Jena: Palm & Enke 1997, S. 16. 17 »Performance refuses this system of exchange and resists the circulatory economy fundamental to it. [...] Performance’s independence from mass reproduction, technologically, economically, and linguistically, is its greatest strength.« Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London/New York: Routledge 1993, S. 149. 18 Maurice Godelier zitiert nach Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien/New York: Springer-Verlag 2002, S. 113.

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den, dass die Rede vom subversiven Potential des Performance-Ereignisses ihrer Wirkung nach zumindest anteilig ins Fahrwasser des Mythischen zu geraten droht. Eine ähnliche mythische Wirkung haben viele Beschreibungen des Ereignisses aus dekonstruktivistischer und phänomenologischer Perspektive, auf die sich bekanntlich viele aufführungs- und performancetheoretische Überlegungen beziehen. Obgleich in jenen postmetaphysischen Denktraditionen stets eine unumgängliche, nachträgliche Konstruktion des Ereignisses betont wird, suggerieren dessen Charakterisierungen paradoxerweise eine Unabhängigkeit des Ereignisses von seinen Wiederholungen, wenn zum Beispiel das Ereignis beschrieben wird als »absolute Ankunft«19, »als Quelle«20, als ein an »Glauben« gekoppeltes »[J]enseits des Wissens«, als »Messianische[s]«21, als Vertikales oder als Prädiskursives. Zugespitzt formuliert, lässt sich hier von einer ungewollten ›EssentialisierungǸ des Ereignisses sprechen. Und genauso droht auch Peggy Phelans diskursive Markierung von Performance als »unmarked« unbeabsichtigt in ein mythisches Objekt verwandelt zu werden, welches »das Unsagbare sagt, [und] das Unvorstellbare vorstellt«.22 Erst vor Kurzen hat Gianluca

19 J. Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 60. 20 Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink 2002, S. 20. 21 J. Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 60. Obgleich Derrida seine Überlegungen zum Ereignis zunächst von konkret religiösen Implikationen losgelöst wissen will, zieht er einen religiösen Diskurs schließlich doch wieder heran: »So, wie ich ihn verwende, hat der Begriff der Vertikalität aber nicht mehr notwendig die religiöse oder theologische Bedeutung, die zum Allerhöchsten emporhebt. Vielleicht fängt die Religion hier an. Man kann den Diskurs, den ich über die Vertikalität, über die absolute Ankunft halte, nicht halten, ohne dass der Akt des Glaubens schon begonnen hätte – wobei der Akt des Glaubens nicht unbedingt mit der Religion, mit dieser oder jener Religion identisch ist –, ohne einen gewissen Raum des Glaubens ohne Wissen, jenseits des Wissens. Ich würde es also akzeptieren, dass man hier von Glauben spricht.« Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 60. 22 Godelier, Maurice: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München: Beck 1999, S. 242.

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Solla auf eine solche »unbewusste [...] theologische Dimension der heutigen ›VergötterungǸ des Ereignisses« aufmerksam gemacht.23 Wenn nun die klassische Performancekunst Aufführungsereignisse exemplarisch in Szene setzt, dann werden spätestens bei ihrer Kanonisierung ihre spezifischen Darstellungstechniken – wie zum Beispiel die Verwendung des Körpers als Material oder die Herstellung von Momenten der Potentialität (z.B. von Gefahrensituationen) – zu ebenso exemplarischen Signifikanten des Ereignisses. Die Darstellungstechniken der klassischen Performancekunst signifizieren Ereignishaftigkeit. Und genau hier droht die Verwandlung jener Techniken in mythisch aufgeladene Objekte. Sie werden – wie man mit Roland Barthes sagen könnte – mit einem metasprachlichen Wahrheitsgehalt versehen, indem sie zu Trägern eines für immer schon verlorenen, immer nur unzulänglich beschreibbaren Augenblicks werden.24 Die mythische Wirkung dieser Signifikanten realisiert sich dabei nicht nur in einer mündlichen und schriftlichen Rede über sie, nicht nur in Videos oder Fotografien, sondern sie zeigt sich schließlich auch in der Performancekunst selbst, sofern diese immer auch einen Wiederholungs-, einen Dokumentationsakt d.h. ein Reenactment ihres eigenen Genres darstellen. Genau dies wird zum Thema in Boryana Rossas Performance The Vitruvian Body. Ihre Performance performed ihre eigene mythische Qualität.

ANTI -P ERFORMANCEART Die Fotografie auf der nachfolgenden Seite stellt ein relativ repräsentatives Abbild dessen dar, was die Künstlerin während ihrer Performance mit einem Augenzwinkern als das bezeichnete, »what really happened«.25 »What

23 Vgl. Solla, Gianluca: »›Alles, was der Fall ist‹«, Zitat von: Nikolaus MüllerSchöll in seiner Einführung in den Beitrag von Solla: Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld: transcript 2003, S. 14. 24 Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, S. 92ff. 25 Die Performance The Vitruvian Body wurde im Rahmen der Tagung »re.act.feminism – Performancekunst der 1960er & 70er Jahre heute« am 24.

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really happened« meint Folgendes: Rossa stellt sich unbekleidet in eine der Darstellung des vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci nachgebauten, kreisförmigen Stahlkonstruktion, durch deren vier Löcher sie Arme und Beine ähnlich der von da Vinci dargestellten männlichen Figur von sich spreizt, um sich im Folgenden die Extremitäten von ihrem Arbeitspartner Oleg Mavromatti mit Nadel und Faden an die Stahlkonstruktion annähen und anschließend ihren Mund zunähen zu lassen. Laut Programmheft geht es in ihrer Performance um eine Kritik an einem idealisierten und damit normierenden Körperbild, das sich auf das frühneuzeitliche Ideal des vitruvianischen Menschen zurückführen lässt und von dem ein machtvoller Imperativ zur körperlichen und damit letztlich zur schmerzlichen Anpassung ausgeht. Abbildung 2: Boryana Rossa – The Vitruvian Body

Quelle: Jan Stradtmann

Dass Rossa während dieser Operation tatsächlich Schmerzen empfindet, dass sie an den Einstichstellen der Nadel heftig zu bluten beginnt, dass ihr Körper sich mit einer Gänsehaut überzieht – all dies scheint sich zunächst geradezu nebenbei zu vollziehen. Die am Material des real schmerzenden

Januar 2009 in der Berliner Akademie der Künste aufgeführt. Beschreibungen der Performance ebenso wie Zitate der Performerin entnehme ich meinen Mitschriften während der Aufführung sowie dem privaten Videomitschnitt von Boryana Rossa.

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Körpers zur Aufführung gebrachten, affektiven und potentiell liminalen Qualitäten bleiben zunächst vollkommen unauffällig. Das, was gemeinhin als das spezifisch Ereignishafte einer Body Art-Performance deklariert wird, fällt hier nicht auf und taugt damit nicht zum Ereignis.26 Auffällig werden stattdessen die verbalen Äußerungen der Künstlerin, mit denen sie den Body Art-Anteil ihrer Performance buchstäblich überspielt: Unablässig kommuniziert sie mit dem Publikum und kommentiert selbstreflexiv ihre künstlerische Absicht. Sie berichtet über ihre vergangenen Arbeiten und liefert Nacherzählungen berühmter Performances. Rossa nimmt damit die Haltung nicht nur einer Performancekünstlerin ein, sondern sie erscheint immer schon als ihre eigene Beobachterin, Kommentatorin und Theoretikerin. Darüber hinaus lädt die Künstlerin ihr Publikum dazu ein – entgegen des zu Beginn der Performance seitens der Kuratorinnen ausgesprochenen Fotografierverbots – das Geschehen auf der Bühne mittels allen, den Zuschauern zur Verfügung stehenden, visuellen Speichermedien festzuhalten und dafür möglichst nah an die Performerin heranzutreten. Die Performance wird dominiert von Erklärungen, von Erzählungen vergangener Performances und vom Akt des live-Dokumentierens. Ihr Effekt ist entsprechend ein gänzlich anderer als der, den die während Rossas Performance entstehenden Bilder zu suggerieren – oder sagen wir: zu zitie-

26 Auf die verunsichernde, liminale und transformative Kraft von Aufführungen haben Peggy Phelan und Erika Fischer-Lichte in Rekurs auf Arbeiten von Marina Abramoviü immer wieder hingewiesen. So schreibt Peggy Phelan: »What distinguishes performance art from other arts, both mediated and live, is precisely the promise of this possibility of mutual transformation during the enactment of the event.« Phelan, Peggy: »On Seeing the Invisible: Marina Abramoviü’s The House with the Ociean View«, in: Heathfield, Adrian (Hg.), Live. Art and Performance, London/New York: Routledge 2004, S. 17-27, hier S. 19. Und Erika Fischer-Lichte schreibt: »The experience that the spectators underwent was a liminal experience. It was aroused by the sense of being transferred between different, even opposite frames, rules, norms, and patterns of behaviour, between aesthetic and ethical demands. It is, in fact, the concept of liminality that becomes crucial here.«, Fischer-Lichte, Erika: »Performance Art – Experiencing Liminality«, in: Marina Abramoviü: Seven Easy Pieces, Mailand: Charta 2007, S. 33-45, hier S. 37.

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ren – vermögen. The Vitruvian Body ist eine Anti-Body-Art-Performance: kein Energie geladener, intensiver Blickaustausch, keine mit Tränen gefüllten, geröteten Augen, kein Schock, kein Begehren, kein Ekel, keine Scham, kein moralisches Bedürfnis zum Einschreiten oder zum Unterbrechen transgressiver Handlungen auf der Bühne, keine spannungsgeladene, fokussierte Konzentration auf das, »what really happened«. Rossas amüsiert-unangespannte Haltung hingegen, ihr unablässiges Erklären, Witzeln, Dozieren und Erzählen erinnern eher an eine anspruchsvolle Stand-up-Comedy-Show als an eine Body Art-Performance. Ex negativo wird hier das Fehlen einer für Body Art bekannten Atmosphäre deutlich. Anstelle dieser dominiert eine andere Atmosphäre: Statt Konzentration, Intensität und Fokussierung macht sich Diffusion breit. Statt stiller Andacht in einer Performance, von der man sich laut Kuratorinnen kein Bildnis machen soll, wandern Zuschauer unruhig umher und lassen unentwegt ihre Handykameras aufblitzen. Deren fetischisierende, durch die Kamera herangezoomte close-ups von Rossas Körperteilen schließlich – und nur diese – werden die zukünftige Wirkung dessen verbürgen, »what really happened«. Vornehmlich durch die Handydisplays wird während der Aufführung sozusagen vorträglich das erkennbar, was den meisten Anwesenden über Body Art bekannt sein dürfte: die Inszenierungen des Schmerzes, das Blut, der Schock, d.h. die Mythen der Body Art, die das Unfassbare fassen. Das Zentrum von Rossas Arbeit bildet weniger, wie das Programmheft verspricht, die immer noch wirksame Macht des vitruvianischen Körperbildes, sondern die Macht der Mythen der Performancekunst. Dementsprechend fordert Rossa ihr Publikum während der Aufführung auf: »Think about what kind of mythology you are creating with your cameras right now or what kind of myth I am creating by telling you all these stories.« Die meisten Fotos werden am Ende von Rossas Performance geschossen; dann, wenn Rossas Mund zugenäht ist und ihre Erzählungen und Kommentare verstummen. Der ereignisreichste Augenblick der Performance, geboren durch die digitalen Speichermedien der Besucher, und jetzt hier, als fotografische Reliquie abgedruckt in diesem Text erfahrbar gemacht als das, »what really happened«. Bevor Rossa gezwungenermaßen zu reden aufhörte, gab sie ihrem Publikum noch einen kleinen Ratschlag fürs Fotografieren mit: »One last thing«, sagte sie, »it is important that the pictures that you make, that they portrait the action in one, that you have at least one picture that really shows what happened: that I am stitched up to

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this construction here.« Die produzierten Bilder wiederholen den für immer verlorenen Moment körperlicher Versehrtheit und rufen eine vielen Zuschauern vertraute, Ereignis-konstituierende Ikonographie kanonisierter Performancefotografien auf. Abbildung 3: The Vitruvian Body

Quelle: Jan Stradtmann

Die Body Art-Praktiken der 1970er Jahre erscheinen im Kontext von Rossas Performance als eine zum transzendentalen Signifikat stilisierte Darstellungstechnik, die es in Zeiten einer spezifischen, (medien-)historischen Konstellation vermochte, als Erschütterung des Ablaufs, als Unterbrechung des Gewohnten wahrgenommen zu werden.27 Die Tatsache, dass Merkmale

27 Philip Auslander hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Behauptung, die Aufführung sei ein von ›Medialisierungen‹ unabhängiges Phänomen, medienhistorisch betrachtet selbst als Resultat einer Medialisierung von Gesellschaft verstanden werden muss. Entsprechend ist nach Auslander der Diskurs über sowie die Wahrnehmung von Aufführung auch auf einer aufführungsstrukturellen Ebene immer schon von technisch-medialen Konfigurationen und damit von einem ›image about liveness‹ durchzogen. In der Performancekunst realisiert sich damit die Vereinigung zweier für die westliche Gesellschaft gegenwärtig gülti-

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wie Nacktheit, Blut und Schmerz zu Trägern von schockanten, liminalen Erfahrungen werden konnten, wird erst jetzt mittels Rossas formaler Distanzierung zum prototypischen Body Art-Format deutlich. Jene Distanzierung lässt einen zeitlichen Abstand sichtbar werden, der nicht zuletzt zum Erzählen einer Geschichte der Performancekunst auffordert. Rossas Performance stellt als Reenactment eine historische Studie as performance dar, insofern Rossa Spuren des Vergangenen freilegt, die erst aus der Gegenwart ihrer Reenactment-Performance nachträglich lesbar werden.28 Und die infolgedessen das, was gemeinhin unter der Ereignishaftigkeit einer Aufführung verstanden wird, als ein zutiefst von konventionalisierten Inszenierungstechniken durchzogenes Phänomen sichtbar machen. Jede heutige Body Art-Performance entpuppt sich in und durch Rossas Negativ-Performance als ein Reenactment ihrer selbst, d.h. als ein Reenactment ihrer eigenen, von mythischen Implikationen durchzogenen Konventionen, die der in Performance Studies geschulten Wahrnehmung und Rede über Aufführungen immer schon eingeschrieben sind. Die Aufführung selbst ist hier Wiederholungsakt. Sie ist das Speichermedium ihrer eigenen Techniken, Diskurse und Wirkungen. Ein radikales Konzept von Aufführungen verstanden als ephemere Ereignisse kann es folglich nicht geben ohne einen Rückfall ins Mythische. Um der Wirkung von Aufführungen und ihren Dokumenten gerecht zu werden – so mein Vorschlag –, gilt es diesen Umschlag ins Mythische folglich nicht zu leugnen, sondern diesen als Qualität und aporetische Bedingung von Aufführungen selbst anzunehmen und zum zentralen Bestandteil von Aufführungsanalysen zu machen. Wenn Aufführungsanalyse bedeutet, nicht nur die Bedeutungen einer Aufführung, sondern – wie in aufführungsphänomenologischer Perspektive – deren Wirkungen zu untersuchen, dann muss bedacht werden, dass sich ein nicht zu verachtender Anteil jener Wirkungen nicht an der wechselseitig aufeinander einwirkenden Präsenz von Darstellern und Zuschauern entzündet. Dieser nicht-ko-präsentische

ger, widersprüchlicher und dennoch reziproker Faktoren: das mediale Spektakel sowie die Sehnsucht nach dem Unmittelbaren. Vgl. Auslander, Philip: Liveness – Performance in a Mediatized Culture, London/New York: Routledge, 1999. 28 Zum Spurbegriff als Epistem und Phänomen sowie zur Spurensuche als theaterhistoriographischer Methode, vgl. Tkaczyk, Viktoria: Himmels-Falten. Zur Theatralität des Fliegens in der Frühen Neuzeit, München: Fink 2011, S. 14-21.

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Anteil beruht dabei auf teilweise unbewusst internalisierten Diskursen, Bildern, Narrativen und wiedererkennbaren Techniken, d.h. auf einer Art abgespeichertem Archiv, das im Vollzug von Aufführungen abgerufen wird und damit nicht nur ein Konstitutionsmerkmal von Aufführungen darstellt, sondern darüber hinaus einen fundamentalen Teil ihrer Erfahrungsqualität ausmacht.29 Aufführungen sind in der Tat ephemer, aber so sind es auch ihre Wiederholungen. Ihre Wiederholungen sind in der Tat sekundär, aber so sind es auch immer schon Aufführungen, sofern diese selbst immer auch Akte des Wiederholens darstellen. Jede Aufführung ist zu einem Anteil immer schon Reenactment. In Rossas Performance spiegeln sich die eingrenzenden, mythisch aufgeladenen Strukturen unseres theoretischen Handelns, Redens und Reflektierens, die sich im Zuge einer radikalen Abgrenzung von einst vorherrschenden semiotischen Analyseansätzen in der Theaterwissenschaft unvermeidlich und teilweise unbewusst eingeschlichen haben. Die Dekonstruktion mythischer Wirkungen von Aufführungen als Dokumente, wie sie bei Gob Squad und Rossa und überhaupt in einer Vielzahl gegenwärtiger künstlerischer Reenactments virulent werden, untergräbt die Annahme eines kausalen, chronologischen, ontologischen und hierarchischen Verhältnisses zwischen Aufführung und Wiederholung. Zum Akteur werden hier die Aporien der Aufführung selbst und die konstitutive Macht unumgänglicher Wiederholungsprozesse als Bedingung unseres Untersuchungsgegenstandes und damit einer Wissenschaft von Aufführungen.

P REENACTMENT : DIE GEGENWART ALS MYTHOS VON MORGEN Für den Schluss springe ich an den Schluss von Gob Squad’s Kitchen. Zur Erinnerung: Die Performer verschaffen sich Doppelgänger aus dem Publikum, die an ihrer Stelle ins Set gehen und dort mittels Kopfhöreransagen vor der Kamera sprechen und agieren. Der letzte der vier Zuschauer, der

29 Vgl. dazu auch Eiermann, André: Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld: transcript 2009; Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006.

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gegen einen Performer eingewechselt wird, bekommt einen Monolog per Kopfhörer eingeflüstert, der nicht nur eine verkürzte Reprise des Anfangs der Performance darstellt, sondern einen fünfzig Jahre alten, mythisierenden Kommentar des Schriftstellers Norman Mailer über Warhols Kitchen zitiert: »Here we are«, wiederholt der Mitspieler direkt in die Kamera, »here we are at the beginning of everything. We are the essence of our times. And in one hundred yearsǯ time people will look at us and they will say: that’s why.«30 Und was dann folgt, ist einer der berühmten Gob Squadschen ›magic moments‹, der die Perspektive des Vorherigen auf den Kopf stellt. Hierfür werden die mitspielenden Zuschauer von den Performern angewiesen, die mediale Verbindung zu den Performern zu kappen d.h. die Kopfhörer abzunehmen und sich ohne die Hilfe ihrer Zuflüsterer für die letzten Minuten der Performance frei im Set zu bewegen. Von einem Moment auf den anderen und zum ersten Mal an diesem Abend wechselt der Schwarz-Weiß-Film unerwartet auf Farbe und für einen kurzen Moment stellt sich der magische Effekt von Unmittelbarkeit ein: Dies sind »people in a kitchen doing things« – nicht damals in den 60ern, sondern heute, hier und jetzt in der Performance. Diese Leute dort hinter der Kamera, so denke ich jedes Mal an diesem Punkt in der Aufführung, sind tatsächlich die Essenz unserer Zeit. Und sie sind dies für mich nur deshalb, weil ich sie sogleich mit einem Mythos auflade, nämlich mit der Idee, dass sich in hundert Jahren irgendjemand diesen soeben gedrehten Film anschauen wird und hierin nachträglich seine eigene Gegenwart erklärt findet. Der Effekt

30 Norman Mailer schrieb seinerzeit über Warhols Kitchen: »I think Warhol's films are historical documents. One hundred years from now they will look at Kitchen and see that incredibly cramped little set, which was indeed a kitchen [...]. The dialogue was dull and bounced off the enamel and plastic surfaces. It was a horror to watch. It captured the essence of every boring, dead day one's ever had in a city, a time when everything is imbued with the odor of damp washcloths and old drains. I suspect that a hundred years from now people will look at Kitchen and say, ›Yes, that is the way it was in the late Fifties, early Sixties in America. That's why they had the war in Vietnam. That's why the rivers were getting polluted. That's why there was typological glut. That's why the horror came down. That's why the plague was on its way.‹ Kitchen shows that better than any other work of that time.« Mailer, Norman: Kitchen, http://www.warholstars.org/ filmch/warhol/kitchen.html vom 30.03.2012.

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von Unmittelbarkeit wird auch hier ermöglicht durch die simultane vorwegnehmende Mythisierung des zauberhaften Augenblicks – eine Mythisierung in Form eines Preenactments, das die Gegenwart der Aufführung zum unwiederholbaren, erklärenden Ursprung für eine mögliche Zukunft macht, wie es im letzten Satz von Gob Squad’s Kitchen heißt: »and they will say: that’s why.« Abb. 4: Die Kopien der Kopien: Mitspielende Zuschauer in Gob Squad’s Kitchen. You’ve Never Had It So Good.

Quelle: Malle Madsen

L ITERATUR Auslander, Philip: Liveness – Performance in a Mediatized Culture, London/New York: Routledge 1999. Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. Clausen, Barbara (Hg.): After the Act – The (Re)Presentation of Performance Art, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst Nürnberg 2005. Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve Verlag 2003. Eiermann, André: Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld: transcript 2009. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.

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Seven Easy Pieces oder von der Kunst, die Geschichte der Performance Art zu schreiben S ANDRA U MATHUM

M ARINA ABRAMOVIû UND P EGGY P HELAN : O NTOLOGIE DER P ERFORMANCE Im November 2005 trat Marina Abramoviü an sieben aufeinanderfolgenden Tagen von 17 Uhr bis Mitternacht auf einer Rundbühne in der Eingangshalle des New Yorker Guggenheim Museums auf, um dort, so hieß es in der Ankündigung, an den ersten sechs Abenden ein Reenactment je einer Performance aus den 1960er oder 70er Jahren zu präsentieren und diese als Seven Easy Pieces betitelte Veranstaltungsreihe am letzten Abend mit einer neuen Produktion abzuschließen. Neben fünf Reenactments der Performances von Bruce Nauman, Vito Acconci, VALIE EXPORT, Gina Pane und Joseph Beuys stand auch das Reenactment einer ihrer eigenen Performances – Lips of Thomas (1975) – auf dem Programm. Wie der Pressemitteilung zu entnehmen war, ging es Abramoviü mit diesem Projekt zum einen um die erneute Realisierung von einigen wegweisenden Arbeiten aus der Geschichte der Performance Art und zum anderen um die gleichzeitige mediale Dokumentation dieser Realisierungen. Die Idee, Performances erneut aufzuführen, taucht in Abramoviüs Werk seit längerem auf. Schon in Biography (seit 1992) hat sie Elemente und Topoi ihrer früheren Arbeiten aufgegriffen, verknüpft und neu kontextualisiert. Mit der Interpretation von Performances anderer Künstlerinnen und Künstler begab sie sich nun allerdings auf persönliches Neuland.

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Bereits vor ihrem Beginn lösten die Seven Easy Pieces rege Diskussionen aus. Noch bevor Abramoviü die Bühne zum ersten Mal betrat, hatten sich zahlreiche Künstler und Kritiker zu Wort gemeldet und die Performance-Theoretikerin Peggy Phelan hatte einen Beitrag verfasst, in dem sie die Seven Easy Pieces noch unbesehen als »seven not so easy pieces« bezeichnete.1 »Performance’s only life is in the present«2, schreibt Phelan Anfang der 1990er Jahre und pointiert damit ein der radikalen Präsenz verpflichtetes Performance-Verständnis. Der zentrale Wesenszug der Performance bestehe in ihrem unmittelbaren und ständigen Verschwinden, in einem Verschwinden, das indes nicht nur die Singularität, das »›one time only‹ life«3 einer Performance verantworte. Phelan zufolge verdankt sich diesem Verschwinden zugleich die Unmöglichkeit von Wiederholung und Reproduktion. »Performance in a strict ontological sense is non-reproductive«4, konstatiert sie und erkennt im Nicht-Reproduzierbaren nicht lediglich eine Qualität unter anderen. Für Phelan ist die Widerständigkeit der Performance gegen jegliche Form der Wiederholung und Reproduktion deren größte Stärke (»its greatest strength«), weil sie es vermöge, diese Kunstform in die Unabhängigkeit »from mass reproduction, technologically, economically, and linguistically«5 zu entlassen. Nur allzu konsequent ist vor dem Hintergrund dieser Perspektive, dass Phelan den Eintritt in die Ökonomie der Wiederholung und Reproduktion bzw. der Speicherung und Repräsentation gleichsetzt mit dem Verrat der Performance an sich selbst: »To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction it betrays and lessens the promise of its own ontology.«6 In den vergangenen Jahren ist Phelans Performance-Bestimmung immer wieder in die Kritik geraten, und nicht nur in den Schriften von The-

1

Im Rahmen eines Workshops, den das Guggenheim Museum den Seven Easy Pieces voranstellte, präsentierte Peggy Phelan ein Paper, in dem sie das Problematische an dieser Performance-Serie diskutierte.

2

Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London/New York:

3

Ebd., S. 146.

4

Ebd., S. 148.

5

Ebd., S. 149.

6

Ebd.

Routledge 1993, S. 147.

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oretikern wie Philip Auslander 7 , Rebecca Schneider 8 oder Gerald Siegmund 9 finden sich basale Einwände gegen Phelans Ontologie der Performance. Auch die Arbeiten vieler Künstlerinnen und Künstler lassen sich mit ihrem Ansatz kaum zur Deckung bringen. Nur die wenigsten unter ihnen haben sich der Ökonomie der Reproduktion und Repräsentation strikt verweigert. Die meisten nutzten diese Ökonomie, bemühten sich, sie produktiv zu machen, und entdeckten insbesondere in der Wiederholung oder medialen Vervielfältigung ein Mittel zur Resignifikation der Diskurse im Sinne Judith Butlers oder zu einer anderen als der bestehenden Aufteilung des Sinnlichen im Sinne Jacques Rancières.10 Insofern steht Phelans Ontologie der Performance quer zu den Werken vieler Künstlerinnen und Künstler. Sie übergeht und exkludiert wesentliche Aspekte ihrer Vorgehensweisen und markiert eine Position, deren Strittigkeit sich zwar bereits in dieser Exklusion Geltung verschafft, mit ihr jedoch noch keineswegs zum Ende gekommen ist. Gerald Siegmund gehört zu denjenigen, die auf die blinden Flecken in Phelans Theorie aufmerksam gemacht und etwa die Anfechtbarkeit ihrer Ansicht benannt haben, Performances seien spurlose Ereignisse – Ereignisse, die keine materiellen Objekte zurücklassen (»there are no left-overs«11), keine Reste, die konsumierbar und auf dem Markt zu zirkulieren imstande seien. Wie Siegmund richtig erwähnt, hat die Geschichte der Performance Art das genaue Gegenteil unter Beweis gestellt, und die Beispiele, die er hierfür heranzieht, Yves Kleins Anthropometrien und Chris Burdens Re-

7

Vgl. Auslander, Philip: Liveness. Performance in a mediatized culture, New York/London: Routledge 1999.

8

Vgl. Schneider, Rebecca: »Archives. Performance Remains«, in: Performance Research. On Maps and Mapping 6.2 (2001), S. 100-108.

9

Vgl. Siegmund, Gerald: »Abwesenheit: Eine performative Ästhetik des Tanzes«, in: Krassimira Kruschkova (Hg.), OB?SCENE. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film: Wien 2005, S. 71–83.

10 Vgl. hierzu etwa Eckhard Schuhmacher, der sich kritisch mit Phelans Ansicht auseinandersetzt, Verfahrensweisen der Zitation oder die Sichtbarmachung marginalisierter Positionen stabilisierten tradierte Machtstrukturen. Schuhmacher, Eckhard: »Passepartout. Zu Performativität, Performance, Präsenz«, in: Texte zur Kunst 10 (2000), S. 95-103. 11 P. Phelan: Unmarked, S. 148.

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lics,12 sind nur zwei der zahlreichen Arbeiten, die verdeutlichen, dass es immer schon Performances gegeben hat, die nach ihrem Verschwinden Objekte hinterließen oder überhaupt nur mit dem Ziel der Herstellung eines konsumier- und erwerbbaren Produkts durchgeführt wurden. Siegmunds Haupteinwand gegen Phelans Ontologie der Performance setzt genau an dieser Stelle ein, verweilt allerdings nicht bei der Widersprüchlichkeit zwischen theoretischer Behauptung und historischer Evidenz, sondern zielt auf eine grundsätzliche Problematik an Phelans Definition vom singulären, nicht-reproduzierbaren Ereignis als Waffe und Widerstand gegen den Markt. Ausgehend von der These, dass »mit dem Postulat der reinen Präsenz eine Kritik an der herrschenden Ökonomie nicht zu formulieren ist«13, erklärt Siegmund gerade die »Nicht(re)produktivität, die für Phelan das stärkste Argument für die Widerständigkeit der Performance ist«14, zum heiklen Punkt. Denn statt die herrschende Ökonomie zu unterwandern, trägt sie, so Siegmund, dazu bei, diese zu stützen, »[…] durch hemmungslosen Konsum von immer Neuem, weil das Alte keinen Bestand hat. Der wiederum führt zu einer Geschichte, die sich ständig selbst auslöscht und möglichst keine Spuren hinterlässt, um den reibungslosen Neukonsum nicht zu behindern.«15

Die von Siegmund diagnostizierte Korrespondenz zwischen Phelans Ontologie der Performance und der Kultur des Spektakels ist nur einer jener kritischen Einsprüche, die bislang gegen diese Ontologie erhoben wurden. Er unterstreicht ihre Fragwürdigkeiten im selben Maß wie es all jene künstlerischen Arbeiten tun, die seit den 1960er Jahren ihre Unvereinbarkeit mit ihr unter Beweis stellen. Zu diesen Arbeiten gehören auch die Seven Easy Pieces. Dass sie aus Phelans Blickwinkel als »not so easy«, um nicht zu sagen: als hochproblematisch erscheinen, dürfte nicht erstaunen. Denn was ausgerechnet Abramoviü, eine der zentralen Protagonistinnen und Mitbegründerinnen der Performance Art, mit den Seven Easy Pieces empfindlich berührt oder sogar über Bord wirft, ist das Bekenntnis zum singulären, zum

12 G. Siegmund: Abwesenheit, S. 77. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 78. 15 Ebd.

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nicht zu reproduzierenden Live-Ereignis, mit dem die Performance Art in enger Verbindung stand, als sie in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts als theatrale Gattung aus der bildenden Kunst hervorging, um gegen den vorherrschenden Werkbegriff, die musealen Ausstellungsbedingungen oder das auf konservier- und vermarktbare Produkte ausgerichtete Kunstsystem Stellung zu beziehen. Eben diesem Bekenntnis hatte sich einst aber nicht nur Abramoviü selbst an vorderster Front verschrieben, sondern in gewisser Hinsicht auch Phelan, indem sie es zum Angelpunkt ihrer Theorie erhob. Prekär wird mit den Seven Easy Pieces somit beides: das ursprüngliche Selbstverständnis Abramoviüs bzw. der frühen Performance Art sowie die theoretische Fundierung, die Phelan an dieses – von Abramoviü nun in seinem Historischgewordensein ausgestellten – Selbstverständnis knüpfte.

D ER E INSATZPUNKT

DER

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Wenn Abramoviü mit der Praxis des Reenactments von ihrem eigenen Bekenntnis abrückt, so lässt sich fragen, was es mit dieser Motivation auf sich hat. Weshalb entscheidet sie sich zu diesem Schritt? Und welches Ziel verfolgt sie damit? Zur Klärung dieser Fragen ist es nötig, den Konflikt in Augenschein zu nehmen, welcher der Performance Art von Anfang an eingeschrieben war oder den sie genauer gesagt von Anfang an selbst mit hervorgebracht hat. Als sich die Performance Art in den 1960er Jahren als theatrale Gattung etablierte, glaubte sie, mit der Hervorbringung singulärer Ereignisse eine geeignete Maßnahme gefunden zu haben, sich dem Dispositiv der bildenden Kunst, d.h. deren Logiken der Produktion, Präsentation, Rezeption und Archivierung, erfolgreich entziehen zu können. Sie glaubte mit anderen Worten, eine Maßnahme gefunden zu haben, die ihr den erfolgreichen Ausbruch aus den marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Kunstbetriebs ermöglichte. Wie sich eine Kunst im Ereignis, eine flüchtige und ephemere Kunst aber über die Gegenwart hinaus in die Zukunft retten, wie sie überdauern und trotz ihrer Ästhetik des Verschwindens einem Verschwinden entgehen kann, das im Vergessenwerden resultiert – dies sind Fragen, die die Performance Art im Zuge ihrer Abgrenzungsbestrebungen in ihren Arbeiten zunächst weder reflektierte noch überhaupt streifte.

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»Ereigniskunst ist eigentlich geschichtslose Kunst – sie lässt sich nicht tradieren«16, schreibt Dieter Mersch, und mit Recht ist einzuwenden, dass diese Nicht-Tradierbarkeit bzw. das Verschwinden und potenzielle Vergessenwerden keineswegs nur die Performance Art anbelangt, sondern im Grunde das Schicksal einer jeden Kunst ist, die sich in Aufführungen hervorbringt. Auch die Inszenierungen des Theaters, die im Gegensatz zur frühen Performance Art zwar auf Wiederholung und Wiederholbarkeit angelegt sind, haben sich mit diesem Schicksal zu konfrontieren. Dass das Vergessenwerden allerdings gerade für die Performance Art zu einem gravierenden Problem avancierte, ist bezeichnend. Genau in dieser Sachlage nämlich kristallisiert sich, dass die Performance Art die bildende Kunst als ihr Bezugssystem nie ganz hinter sich gelassen hat. Im Gegenteil. Trotz aller Ablösungsbemühungen ist sie dem Dispositiv der bildenden Kunst weiterhin verhaftet geblieben und hat sich mehr oder minder freiwillig in die Ökonomie der Reproduktion und Repräsentation und damit in genau jene Strukturen einer materiellen und symbolischen Fixierung eingegliedert, von der sie sich eigentlich emanzipieren wollte. Pragmatische Gründe, wie die Notwendigkeit, Geld verdienen zu müssen, oder kunsthistorische Motive, wie der Wunsch, die eigene Arbeit in die Zukunft retten zu wollen, veranlassten schon in Kürze die Herstellung, Sammlung und Vermarktung der Dokumente und Relikte, die heute in den Museen zu finden sind und dort von den singulären und uneinholbaren Ereignissen künden, denen sie gleichwohl als ein anderes zur Seite stehen: als eigenständige Kunstwerke, substantielle Hinweise oder defizitäre Reste, in jedem Fall aber als gegenständliche und wohl behütete Artefakte. Die Geschichte der Performance Art ist die Geschichte dieses Konflikts zwischen einer Kunst im Modus des Ereignisses, das nicht käuflich und nicht konservierbar sein sollte, und den Dokumenten sowie Relikten, die gehandelt und archiviert werden. Dass diese Dokumente oder Relikte von den Praktiken künden, mit denen sich die Performance Künstler von eben jenem Dispositiv zu verabschieden gedachten, welches nun nicht nur die Aufgabe übernimmt, diese Belege ihrer Abgrenzungsversuche aufzubewahren und auszustellen, sondern welches damit ebenfalls am Vorführen des Gescheitert-

16 Mersch, Dieter: »Ereignis und Aura«, in: Kunstforum International 28 (2000), S. 94-103, hier S. 102f.

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seins dieser Versuche teilhat, bezeugt die paradoxe Verkehrung, die dem Selbstverständnis der Performance Art widerfahren ist. Dieser Konflikt ist der Einsatzpunkt Abramoviüs. Denn was sie in Angriff nimmt, ist der Versuch, mit Hilfe des Reenactments Performances nun in eben jener Institution in ihr Recht als Live-Ereignisse zu setzen, in der mit der Ausstellung, Verwaltung und Archivierung der materiellen Substrate von Live-Ereignissen Überschreibungen stattfinden. Mit Überschreibung ist dabei nicht allein der Sachverhalt gemeint, dass eine Fotografie oder ein Video an die Stelle des Live-Ereignisses tritt, das Live-Ereignis ersetzt oder es vielleicht eher verdunkelt anstatt es zu erhellen. Worauf die Rede von der Überschreibung zielt, ist auch der Umstand, dass Fotografien und Videos Vorstellungen von dem Gewesenen, nicht selbst Miterlebten provozieren und somit in der Lage sind, uns zur imaginären Produktion von Szenen, Abläufen und Geschehnissen zu animieren, die im Foto, im Video nicht zu sehen sind. In diesem Sinne verschwindet das Live-Ereignis nicht einfach. Es bleibt, obwohl oder gerade weil es vorüber ist. »Performance remains«, lässt sich mit einer Wendung Rebecca Schneiders sagen. Die Performance überdauert – jedoch nicht als das, was sie einmal war, sondern als etwas, das sie hinterlässt und das wir auf der Basis dieses Hinterlassenen in unserer Imagination hervorbringen. Bei der Konzeption der Seven Easy Pieces spielt dieser Aspekt für Abramoviü die zweite tragende Rolle. Problematisch ist für sie nämlich nicht allein die Musealisierung und Geschichtsschreibung der Performance Art durch Fotografien und Videos. Problematisch ist für sie vor allem die Verfasstheit der meisten Fotografien und Videos selbst, die mit ihren Unzulänglichkeiten das eigentliche Ereignis entweder positiv oder negativ verfälschen. In einem Interview bemerkt Abramoviü hierzu: »[…] pictures in books are not the real thing. The problem is that, most of the times, this can cause some confusion since a performance is considered great because of a picture, taken from a good angle, but it could be shit. And there’s also terrible records of fantastic work, which weren’t well documented.«17

17 Zit. nach Cypriano, Fabio: »Performance and reenactment: analyzing Marina Abramoviü’s Seven Easy Pieces«, http://idanca.net/lang/en-us/2009/09/02/ performance-e-reencenacao-uma-analise-de-seven-eeasy-pieces-de-marinaabramovic/12156 vom 02.09.2009.

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Abramoviüs Hinwendung zum Reenactment ist demnach von einer doppelten Motivation geprägt: Zum einen möchte sie mit Hilfe des Reenactments die Performance als Live-Ereignis ins Museum, d.h. in eine auf die Historisierung und Kanonisierung von Kunst wesentlichen Einfluss nehmende Institution bringen, um so der hier betriebenen Geschichtsschreibung eine andere Geschichtsschreibung der Performance Art entgegenzusetzen: eine Geschichtsschreibung, die dem Faktum Rechnung zu tragen versucht, dass die Performance Art eine Live-Kunst ist und ihren Sinn nur live entfaltet (»performance only makes sense if it’s live«18). Zum anderen nutzt Abramoviü die Reenactments, um von ihnen ausgehend zu einer anderen Form der Bild- und Videodokumentation zu gelangen, zu einer Dokumentation, die das Live-Ereignis so exakt wie möglich abbilden soll, um der Nachwelt und den nicht Dabeigewesenen ein ›realistisches‹ (im Sinne der exakten Abbildung letztlich aber natürlich nicht minder fragwürdiges) Bild der Geschehnisse im Guggenheim Museum zu hinterlassen. Die Seven Easy Pieces nehmen ihren Ausgang somit bei einer zweifachen Bildkritik: bei der Kritik an einem Bild, das in Ersatz für das Live-Ereignis die Geschichte der Performance Art schreibt, und an einem Bild, das die Live-Ereignisse verzerrt und entstellt. Die Arbeit an den Seven Easy Pieces beginnt für Abramoviü mit der Auswahl von Performances, auf die sie sich beziehen will (oder beziehen darf, denn Chris Burden beispielsweise verweigert ihr die Wiederaufführung seiner Performance Transfixed (1974)) sowie mit der Recherche nach existenten Fotografien oder Videomitschnitten. In den meisten Fällen geht sie mithin von Bildern aus, die selbst wiederum auf vergangene Performances verweisen, ohne von diesen jedoch ein repräsentatives Bild abzugeben. Bei den Seven Easy Pieces werden einige der Arbeiten, die aufgrund ihrer transitorischen Eigengesetzlichkeit ehemals in Speichermedien überführt wurden, nun gewissermaßen wieder zum Leben erweckt und von der medialen Ebene in die Aufführungssituation zurückübersetzt, damit diese Übersetzungen im selben Augenblick erneut in einem Speichermedium fixiert werden können. Ein Bild wird zum Live-Ereignis, das seinerseits wiederum zu einem Bild wird.

18 Zit. nach: »Marina Abramoviü Interviewed by Nancy Spector (May 2006)«, in: Marina Abramoviü, Seven Easy Pieces, Mailand: Charta 2007, S. 13-30, hier S. 19.

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R EENACTMENT

VON WAS ?

Body Pressure Ausgenommen von diesem Prinzip der doppelten Bildwerdung sind zwei Performances: Entering the Other Side, jene Arbeit, die Abramoviü am letzten Abend präsentiert, sowie Body Pressure von Bruce Nauman, das den Auftakt der siebentägigen Performance-Serie bildet. Beide nehmen einen Sonderstatus auch insofern ein, als sie nicht auf Performances zurückgehen, die zuvor von einem anderen Künstlersubjekt realisiert worden sind. Genau genommen ist Naumans Body Pressure überhaupt keine Performance, sondern bloß eine Instruktion, die zu einer Performance einlädt und das Wie dieser Performance vorgibt. Nachdem Nauman 1968 seine Performances vor laufender Kamera beendet hatte, begann ihn die Frage zu interessieren, wie die Erfahrungen, die er bislang für sich selbst entworfen hatte, auf andere Personen zu übertragen wären: »Dann habe ich darüber nachgedacht, wie ich das anstellen kann, ohne eine Performance zu machen, so dass jemand anderes dieselbe Erfahrung machen würde und nicht einfach dabei zusah, wie ich sie machte.«19 Das bekannteste Ergebnis dieser Überlegungen sind Naumans Korridor-Installationen. Jedoch auch die Handlungsanweisung erhält im Kontext der Frage, wie sich bestimmte, in Performances zutage tretende Erfahrungen an Andere delegieren lassen, einen bedeutsamen Stellenwert. Waren in seinen Performances Autor und Ausführender einer Handlungsanweisung bis hierhin noch identisch, so brach Nauman Anfang der 1970er Jahre diese Identität auf und engagierte entweder professionelle Performer für die Umsetzung seiner Instruktionen (wie etwa für die Arbeiten Tony sinking into the floor, Face Up and Face Down; Elke allowing the Floor to rise up over her, Face Up (beide 1973)) oder stellte seine Instruktionen in Galerien aus, damit sie von den Besuchern, d.h. von nicht-professionellen Akteuren realisiert werden konnten. Body Pressure, eine seiner berühmtesten Handlungsanweisungen, wurde erstmals vom 4. Februar bis 6. März 1974 in der Galerie Konrad Fischer in Düsseldorf gezeigt. Angelehnt an Wall-Floor-Positions, eine Performance,

19 Nauman, Bruce: »Von der Malerei zur Skulptur. Ein Interview mit Lorraine Sciarra«, in: Christine Hoffmann (Hg.), Bruce Nauman. Interviews 1967-1988, Dresden: Verlag der Kunst 1996, S. 66-87, hier S. 80.

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die Nauman 1968 durchgeführt und auf Video aufgezeichnet hatte, legt sie den jeweiligen Rezipienten nahe, ihre Körper in unterschiedlichen Weisen an die Wand zu drücken und diesen Vorgang gleichzeitig zu reflektieren: »Press as much of the front surface of your body (palms in or out, left or right cheek) against the wall as possible. / Press very hard and concentrate. / Form an image of yourself (suppose you had just stepped forward) on the opposite side of the wall pressing back against the wall very hard. / Press very hard and concentrate on the image pressing very hard (the image of pressing very hard). / Press your front surface and back surface toward each other and begin to ignore or block the thickness of the wall (remove the wall). / […].«20

Schon in einer der ersten Pressemitteilungen werden die Seven Easy Pieces mit Verfahrensweisen in der Musik verglichen.21 Dort heißt es, Abramoviü werde ehemalige Performances von Kolleginnen und Kollegen so interpretieren, »as one would a musical score«. Indem Abramoviü die Seven Easy Pieces mit dem Rekurs auf einen Text beginnt, der sich an andere als Aufforderung und Anleitung zur realen oder mentalen Durchführung richtet, indem sie also eine schriftliche Notation zu ihrem ersten Bezugspunkt macht, verweist sie gleich am ersten Abend auf die zentrale Idee, die sich für sie mit dem instruktiven Charakter der Partitur verbindet: auf ihre Funktion und ihr Potenzial, mehr oder weniger konkret mitzuteilen, dass und wie etwas zu tun ist. Im Grunde ist Abramoviüs Version von Body Pressure kein Reenactment, zumindest nicht von einer Performance, von der wir mit Sicherheit sagen können, ob sie überhaupt jemals von irgendeiner Person mental oder real realisiert wurde. Dafür ist Body Pressure wiederum die einzige Arbeit der Seven Easy Pieces, bei der Abramoviü genau weiß, wie sie vorzugehen hat, und bei der es nicht von Nachteil ist, dass keine Dokumente existieren, die darüber Aufschluss geben, wie die Realisierung dieser Performance ausgesehen haben mag. Das eigene Tun muss sich hier nicht an Bildern oder Augenzeugenberichten orientieren, weil es ein Script gibt, das jede

20 Dieser Text wurde abgedruckt in: M. Abramoviü: Seven Easy Pieces, S. 59. 21 Außerdem erklärt Abramovic im Anschluss an die Seven Easy Pieces im selben Wortlaut: »My focus was on performances that took place in the late sixties and seventies. I interpreted them as one would a musical score.« Ebd., S. 11.

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einzelne Handlung sowie die Reihenfolge dieser Handlungen festlegt. In einem Interview bemerkt Abramoviü: »It is a very big problem that when certain performance works were made, the artists never left a set of instructions or clues, because they didn’t think it necessary at the time. I think that there is a huge work to be done – it is almost archaeological.«22 In diesem Sinn unterstreicht sie mit Body Pressure die Aufgabe der Instruktion bzw. der Partitur, die Existenz und das Wie einer Performance zu überliefern. Zugleich erinnert sie aber auch an die bedeutsame Rolle, welche die Instruktion bei Nauman und vielen anderen Künstlern in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts spielte, wenn es darum ging, die Generierung von Prozessen gegenüber der Herstellung von Produkten zu fokussieren und diese Prozesse durch die Übertragung an Andere von der eigenen Person abzulösen. Hatte Nauman die Aufspaltung der Personalunion von Autor und Interpret dadurch begünstigt, dass er seine Instruktionen Anderen zur Verfügung stellte, so lässt Abramoviü diese Aufspaltung nun produktiv werden, indem sie sich in die Position der Adressierten begibt und sich, gleich einem ungeübten Besucher, an der Interpretation der Instruktion eines anderen Autors versucht. Abbildung 1: Marina Abramoviü: Body Pressure

Quelle: Marina Abramoviü: Seven Easy Pieces, Mailand 2007.

Diese Aufspaltung von Autor und Interpret wird auch an den folgenden Abenden gelten, erhält fortan aber dadurch eine andere Wendung, dass Abramoviü bei der Inszenierung der Performances Seedbed (1972) von Vito

22 »Marina Abramoviü Interviewed by Nancy Spector«, S. 21.

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Acconci, Action Pants: Genital Panic (1969) von VALIE EXPORT, The Conditioning, first of three phases in Self-Portrait(s) (1973) von Gina Pane und How to Explain Pictures to a Dead Hare (1965) von Joseph Beuys keine Instruktionen zur Verfügung stehen, die ihr vorgeben, was genau zu tun ist. Sie bleibt allein auf die Dokumente dieser Performances verwiesen, und obgleich diese Dokumente nicht als Instruktionen für die Ausführung durch Andere angefertigt worden waren, dienen sie ihr nun als Orientierungen für ihre Reenactments. Welche Gestalt das Verhältnis von Bild und Wiederaufführung dabei annehmen konnte, sei am Beispiel von Action Pants: Genital Panic dargestellt. Action Pants: Genital Panic In dem Faltblatt, das seit dem ersten Tag im Guggenheim Museum ausliegt, wird VALIE EXPORT mit einer Kurzbeschreibung ihrer Performance am 22. April 1969 im Münchner Kino Augusta-Lichtspiele zitiert: »The performance took place in an art cinema in Munich, where I was invited with other filmmakers to show my films. I was dressed in a sweater and pants with the crotch completely cut away. I told the audience, ›What you see now is reality, and it is not on the screen, and everybody sees you watching this now.‹ I moved slowly up the aisle, walking toward the people; they had my exposed crotch in front of their faces. I had no idea what the audience would do. As I moved from row to row, people silently got up and left the theater. Taken out of the film context, this was a totally different way for them to connect with a particular erotic symbol.«23

Dieser Text ist nicht nur rein informativ. Er versorgt seine Leser nicht nur mit Einblicken in die Gegebenheiten und Abläufe von EXPORTS Performance. Er weckt auch Erwartungen oder gibt immerhin Anlass zu der Frage, ob sich Abramoviü ebenfalls unter das Publikum mischen und es mit ihrer Nähe konfrontieren wird. Als sich die Türen des Guggenheim Museums öffnen, befindet sich Abramoviü auf der Rundbühne. Sie trägt eine Lederjacke und schwarze Jeans. Der Schritt ist ausgeschnitten, ihre Vagina entblößt, in den Händen hält sie eine Kalaschnikow. Sie sitzt auf einem

23 VALIE EXPORT im Gespräch mit Nancy Spector, Oktober 2005; der Text wurde abgedruckt in: M. Abramoviü, Seven Easy Pieces, S. 118.

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Stuhl, neben ihr steht ein weiterer Stuhl, auf dessen Sprosse ihr linkes Bein abgestellt ist. Mit dieser Pose bringt Abramoviü eine Fotografie in Erinnerung, die wir aus zahlreichen Ausstellungen und Büchern kennen und auf der VALIE EXPORT mit wilder Haarmähne und in fast exakt derselben Position abgelichtet ist. Nach einer Stunde sitzt Abramoviü noch immer genauso da. Es sieht nicht so aus, als habe sie vor, die Bühne zu verlassen. Abbildung 2: VALIE EXORT

Quelle: www.artnet.de

Was hier zur Aufführung kommt, ist mitnichten ein Reenactment von EXPORTS Performance aus dem Münchner Kino. Es ist die Verlebendigung einer Fotografie, eines ikonisch gewordenen Bildes, das sich seinerseits jedoch kaum als Dokumentation von EXPORTS Kino-Performance bezeichnen lässt, sondern allenfalls auf sie bzw. ihre Thematik verweist. Wie viele andere Fotos oder Filmaufnahmen fungiert auch dieses Bild nicht als Vermittlungsinstanz eines zurückliegenden Ereignisses. Es mag dieses Ereignis in Erinnerung rufen oder als dessen Index lesbar werden; dennoch beansprucht es den Status eines eigenständigen Werks, das trotz seiner fehlenden Dokumentationskraft für die Geschichte, Geschichtsschreibung und Diskursivierung der Performance Art von eminenter Bedeutung ist.

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Abbildung 3: Marina Abramoviü: Action Pants

Quelle: Marina Abramoviü: Seven Easy Pieces, Mailand 2007.

Irgendwann erhebt sich Abramoviü erstmals von ihrem Stuhl. Sie steht jetzt breitbeinig auf der Bühne. Ein weiteres Foto aus der Action Pants-Serie erfährt seine Verlebendigung: EXPORT, die wiederum mit im Schritt ausgeschnittener Jeans, mit Lederjacke, Kalaschnikow und wilder Haarmähne, diesmal jedoch barfüßig vor einer dunklen Holzwand steht. Eine halbe Stunde später nimmt Abramoviü erneut auf ihrem Stuhl Platz. In regelmäßigen Abständen wiederholt sie ihre Positionswechsel und verdeutlicht damit, dass das, was man aufgrund des Ankündigungstextes vielleicht erwartet haben mag, nicht mehr in Erfüllung gehen wird. Abramoviü bleibt auf der Bühne, und je länger der Abend voranschreitet, desto größer wird die Kluft zwischen der Vorlage, für die sie sich entschieden (dem Foto), und der Vorlage, für die sie sich nicht entschieden hat (EXPORTS Kino-Performance).24

D IE U RSACHE

LIEGT IN DER

Z UKUNFT

Wiederholt hat Abramoviü ihr Anliegen formuliert, mit den Seven Easy Pieces Performances erneut auf die Bühne zu bringen, die die meisten von

24 Zur Frage dieser Kluft in den anderen Reperformances siehe Umathum, Sandra: »Beyond Documentation, or The Adventures of Shared Time and Place. Experiences of a Viewer«, in: M. Abramoviü, Seven Easy Pieces (2007), S. 47-55.

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uns und sie selbst nicht miterlebt haben, um so zu ergründen, wie sich eine ephemere Kunstform repräsentieren und bewahren lässt.25 Ein solches Unternehmen, auch dies hat sie mehrfach betont, muss sich der Genauigkeit verpflichten und versuchen, das Original so getreu wie möglich wiederzugeben: »[…] we have to establish some kind of framework about how it [the performance] can be done in a way that’s true to the original work.«26 Abramoviü spricht von Original und von Werktreue und bringt damit zwei Begriffe ins Spiel, deren Gebrauch nicht nur deshalb irritiert, weil er erkennbar werden lässt, inwieweit mit vergangenen Performances zugleich ein Diskurs wiederbelebt wird, dessen Verabschiedung avanciertere Formen des Gegenwartstheaters oder die Theaterwissenschaft längst für sicher befunden haben. Irritierend ist ihr Gebrauch darüber hinaus, weil er jene Widersprüchlichkeiten befördert, die sich zwischen Abramoviüs Anspruch und ihrem Vorgehen, zwischen ihrem Sagen und ihrem Tun zeigen. Abramoviüs Interesse an der Wiederaufführung von wegweisenden Performances aus den 1960er und 70er Jahren gründet in der Feststellung, dass diese Perfomances entweder nur mangelhaft oder gar nicht dokumentiert sind. »The unreliability of the documents and the witnesses led to the total mystification and misrepresentation of the actual events.«27, erklärt sie. Mit ihren Wiederaufführungen geht es ihr, so könnte man also sagen, um eine Korrektur, um die Richtigstellung falscher und verfälschender (medialer) Darstellungen. Doch wie verhalten sich ihre Wiederaufführungen zu diesen Darstellungen? Wie sehen ihre Korrekturen aus? Und inwiefern stellen sich ihre Wiederaufführungen tatsächlich in den Dienst einer Richtigstellung? Diesen Fragen sei im Folgenden in Bezug auf drei Relationen nachgegangen: der Relation von Werktreue und Interpretation, Partitur und Reenactment sowie Live-Ereignis und Dokumentation.

25 »Seven Easy Pieces examines the possibilities of presenting and preserving an art form that is, by nature, ephemeral.« M. Abramoviü: Seven Easy Pieces, S. 11. 26 »Marina Abramoviü Interviewed by Nancy Spector«, S. 19. 27 M. Abramoviü: Seven Easy Pieces, S. 11.

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Werktreue und Interpretation Abweichend von der ursprünglichen Dauer erstreckt sich bei den Seven Easy Pieces jede Performance auf sieben Stunden. Abramoviü tritt an sieben Tagen für jeweils sieben Stunden auf und agiert ausschließlich auf der Rundbühne, die ihren Aktionsradius begrenzt. Sie durchbricht und rekombiniert ehemalige Handlungsverläufe oder fügt ihnen neue Elemente hinzu. Und sie verlegt die Seven Easy Pieces ins New Yorker Guggenheim Museum, in einen der ausgewiesenen Kunsttempel des »High Modernism«. Schon diese Veränderungen haben Diskussionen darüber ausgelöst, ob Abramoviüs Wiederaufführungen überhaupt sinnvoll als Reenactments zu bezeichnen sind. Erika Fischer-Lichte etwa verabschiedet diese Kategorisierung und bevorzugt es, von Zitaten zu sprechen: »So, whatever was done in/by the reenacment, it deviated fundamentally from the performance to which it referred, since only the reenactment lasted seven hours. […] This required that the actions which Abramoviü had selected out of each performance had to be repeated over and over again. They served as quotations from the performance in which they were first carried out. Thus, they were fundamentally transformed. […] So, in the end, it actually makes no sense to talk about reenactments.«28

Sieht man einmal von der Schwierigkeit ab, für diese Wiederaufführungen die angemessene Bezeichnung zu finden (Abramoviü selbst verwendet im Anschluss an die Seven Easy Pieces vorzugsweise die der Reperformance) und wendet stattdessen den Blick auf das Verhältnis von Abramoviüs intendierter Werktreue und ihren jeweiligen Reinterpretationen, so wird nicht allein fraglich, inwiefern es diese Reinterpretationen überhaupt vermögen, die Arbeiten, auf die sie Bezug nehmen, im Sinne des Wieder-Holens in die Gegenwart zu übertragen. Fischer-Lichte äußert hieran berechtigte Zweifel und schlägt vor, Abramoviüs Wiederaufführungen nicht als Wiederbelebungen vergangener Performances zu begreifen, sondern als die Kreation eines ganz neuen künstlerischen Ereignisses, in dem die Vergangenheit le-

28 Fischer-Lichte, Erika: »Performance Art – Experiencing Liminality«, in: M. Abramoviü, Seven Easy Pieces (2007), S. 33-45, hier S. 43.

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diglich ihren Nachhall findet.29 Dass jede in eine andere historische Zeit und einen anderen Kontext verlegte Reperformance eine Reinterpretation bedeutet und notwendig vom Original abweicht, ja sich zwangsläufig dem Original nicht mehr ganz getreu gegenüber verhalten kann, ist ein Tatbestand, der sich auch in den Seven Easy Pices widerspiegelt. Dieser Tatbestand markiert jedoch nur die eine Seite der Widersprüchlichkeit zwischen Abramoviüs Forderung nach Werktreue und ihrem konkreten Vorgehen. Diese Widersprüchlichkeit hat noch eine zweite Seite, die ihre Rolle als Interpretin betrifft. In Abhängigkeit der Dokumentationslage unterscheidet sie zwei Formen der Interpretation: Existiert keine oder so gut wie keine Dokumentation, dann besteht ihr zufolge das Interpretieren vor allem darin, sich ein eigenes Bild von dem vergangenen Ereignis zu machen und auf der Basis dieser Vorstellung dann die eigene Performance zu konzipieren (»One is that documentation is completely not present, so you have to build your own image of the piece.«30). Ist eine Performance hingegen gut dokumentiert, so vollziehe sich die Interpretation eher im Ausführen selbst bzw. durch das, was die Materialität ihres Körpers oder ihrer Stimme an Verschiebungen produziere (»Or, you have enough material, but still it’s your performance. So you add your own individual element. Everyone who performs brings something they have to it.«31). Im Fall mangelhafter oder nicht existenter Dokumente votiert Abramoviü so gesehen für eine Methode, die sich zu weiten Teilen auf die Imagination und mithin auf eben jenen Vorgang verlassen muss, den sie als genauso problematisch erachtet wie die »unreliability of the documents and the witnesses«, die zur »total mystification and misrepresentation of the actual events« beitragen: »This creates a huge space for projection and speculation.«32 Dass Abramoviü letztlich auf dieselben schlechten oder verfälschenden Foto- und Videoaufnahmen verwiesen ist wie alle anderen, die die entsprechenden Performances nicht miterlebt haben, lässt sie unverhandelt. Ohne Reflektion auf diesen Sachverhalt nimmt sie die Position derjenigen ein, die nicht nur entscheidet, wie sie das Verhältnis von Werktreue und Interpretation bestimmt, sondern die auch (besser) zu beurteilen weiß, was das Falsche und Verfälschende in den

29 Ebd. 30 Zit. nach: »Marina Abramoviü Interviewed by Nancy Spector«, S. 23. 31 Ebd. 32 M. Abramoviü: Seven Easy Pieces, S. 10.

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dokumentarischen Bildern ist, was die ursprüngliche Performance auszeichnet und nun in der Reperformance zu tun ist, um das Falsche und Verfälschende in den Bildern sowie den Imaginationen gleichermaßen zu korrigieren. Partitur und Reenactment Was hieran anknüpfend in den Fokus rückt, sind die jeweiligen Materialien, die Abramoviü zur Grundlage ihrer Reperformances macht. Angesprochen ist hiermit nicht bloß die Qualität der Aufnahmen, an denen sie sich (trotz ihrer Zweifel an deren dokumentarischer Kraft) bei der Konzeption ihrer Reperformances orientiert. Angesprochen ist hiermit vor allem die Tatsache, dass sie neben Live-Ereignissen auch Fotografien nachstellt. Abramoviü betreibt Rekonstruktionen nicht allein auf der Basis von Bildern. Sie verwirklicht Rekonstruktionen von Bildern. Im Anschluss an die Seven Easy Pieces hat Philip Auslander die Frage aufgeworfen, ob es überhaupt von Wert sei darüber nachzudenken, »whether performance recreations based on documentation actually recreate the underlying performances or perform the documentation.«33 Entschließt man sich, die Seven Easy Pieces losgelöst von Abramoviüs eigenem Anspruch zu bewerten, dann mag ein Nachdenken über diese Frage überflüssig erscheinen. Vor dem Hintergrund ihres Anspruchs, Performances aus der Vergangenheit wiederaufzuführen, ist es jedoch keineswegs irrelevant, was sie in welcher Weise reinterpretiert. Wie wir bei Action Pants: Genital Panic gesehen haben, findet hier die Verlebendigung einer Fotografie statt. Das originale Werk, dem sich Abramoviüs Umsetzung anzunähern versucht, ist ein ikonisch gewordenes Bild, das nicht das Dokument einer Performance ist, zumindest nicht ein Dokument der Kino-Performance, mit der es durch den Ankündigungstext in Verknüpfung gerät. Allenfalls ist es ein Dokument der Performance, die VALIE EXPORT vor der sie aufzeichnenden Kamera ausgeführt hat, doch ob man dieses Bild tatsächlich angemessen als Dokument bezeichnen kann, bleibt strittig.

33 Philip Auslander, zit. nach Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London/New York: Routledge 2011, S. 132.

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Mit den Seven Easy Pieces ging es Abramoviü nicht zuletzt darum, ein Exempel zu statuieren bzw. ein Modell »for reenacting other artist’s pieces« 34 vorzustellen. Eine der konstitutiven Bedingungen dieses Modells lautet, dass die Künstler, deren Arbeiten reinterpretiert werden sollen, vorher um Erlaubnis gebeten werden müssen. 35 EXPORT hat ihr Einverständnis gegeben und es Abramoviü gestattet, ein Foto nachzustellen, das bislang nicht den Anspruch erhob, als Vorlage für eine Performance zu dienen. Das Bild ändert somit seine Funktion; es wird Script, Partitur, Instruktion. Indem Abramoviü dieses ikonisch gewordene Bild wählt, tut sie zunächst einen interessanten Schritt: Sie nimmt ein Artefakt, das als solches die Geschichte der Performance Art mitgeschrieben hat und verwandelt es in ein Live-Ereignis. Sie setzt der Fotografie deren Verlebendigung an die Seite und vollzieht so zugleich eine, wie Rebecca Schneider schreibt, Geste nach vorn und im selben Augenblick zurück: Ein Bild »that had seemed to indicate only the past, [is] now pitched toward the possibility of a future reenactment as much as toward the event [it] apparently recorded.«36 Mit dieser auch in die Zukunft weisenden Geste, die ein Bild in ein Script, eine Partitur oder Instruktion transformiert, unternimmt Abramoviü eine Kehre und bringt in die Diskussion, wie sich die Geschichte der Performance Art neben der Wiederaufführung von Performances ebenfalls durch die Verlebendigung von visuellen Artefakten neu oder anders schreiben lässt. Live-Ereignis und Dokumentation Wenn man so will, hat Abramoviü mit diesem Schritt einen Vorschlag zur Korrektur der sich in der Hauptsache auf (dokumentarische oder nicht-dokumentarische) Bilder berufenden Historiografie der Performance Art unterbreitet. Paradoxerweise unterwandert sie diesen Schritt aber dadurch, dass sie ein Großereignis kreiert, welches letztlich selbst nur in Bildern überdauern wird. In der Synchronität ihres Werdens und Vergehens stellen die Seven Easy Pieces zum einen nämlich nicht nur ihre Singularität, ihre Nicht-Wiederholbarkeit aus, sondern damit auch einen Widerspruch zu der Bemühung, durch Reenactments die Geschichtsschreibung der Performance

34 M. Abramoviü: Seven Easy Pieces, S. 10. 35 Ebd., S. 11. 36 R. Schneider: Performing Remains, S. 28.

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Art wenn schon nicht einer grundlegenden Reformation zu übereignen, so doch zumindest kritisch zu beleuchten und auf die Probe zu stellen. Um die Weisen der Musealisierung und Archivierung nachhaltig zu verändern, bedarf es jedoch der wiederkehrenden und nicht der einmaligen Ausstellung. Es braucht Arbeiten, die ihre Wiederholbarkeit und ihr Wiederholtwerden vorsehen und begünstigen. Was die Seven Easy Pieces in Gang setzen, ist am Ende nicht viel mehr als eine Fortsetzung der bestehenden Geschichtsschreibung, eine Fortsetzung, die sich zum anderen darin zum Ausdruck bringt, dass Abramoviü nicht auf die Aufzeichnungen ihrer Performances verzichtet. Die ständige Anwesenheit zahlreicher Kameraleute führt stets vor Augen, dass sie um die möglichst genaue Film- und Fotodokumentation dieses ephemeren Ereignisses besorgt ist, welche fortan anstelle des LiveEreignisses Eingang in die Museen und Galerien finden wird. Dieses Dokument soll das Verschwundensein der Seven Easy Pieces bezeugen, soll das nicht mehr Einholbare vor Augen führen und wird es adeln und auratisieren durch den Entzug, den es gleichermaßen zu Protokoll gibt. Wie die meisten Reenactments verhandeln auch die Seven Easy Pieces kaum nur die Vergangenheit. In ihrer Bewegung hin zum Vergangenen verhandeln sie geradewegs das Zukünftige, und wie Rebecca Schneider bemerkt, impliziert dieses Zukünftige das, was nach dem Tod eines Künstlers zurückbleibt: »The tangle in Abramoviü’s thinking in advance of herself as dead underscores that the battle of much reenactment […] is a battle concerning the future of the past.«37 Abramoviüs Beschäftigung mit der Frage, wie sich noch zu Lebzeiten auf die Art Einfluss nehmen lässt, in der ihr Werk nach ihrem Tod über- und weiterleben wird, hat bereits mit Biography ihren Anfang genommen. Sie wurde fortgeführt mit den Seven Easy Pieces, mit The Artist is Present (2010) und jüngst mit The Life and Death of Marina Abramoviü (2011). Das Modell, das sie für die künftige Nachstellung oder Wiederaufführung von Arbeiten anderer Künstler vorschlägt, spricht so gesehen eine doppelte Sprache. Der Anspruch, den dieses Modell erhebt, betrifft nicht allein – oder vielleicht mag man sogar geneigt sein zu sagen: weniger – eine Neuperspektivierung der Geschichtsschreibung der Performance Art. Es betrifft zugleich – oder sogar in erster Linie – die Möglichkeiten der Verewigung ihres eigenen künstlerischen Lebens und Werks.

37 Ebd., S. 4.

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Unter dem selbsterklärenden Titel The Artist is Present hat Abramoviü im April und Mai 2010 drei Monate lang jeden Tag während der Öffnungszeiten des New Yorker Museum of Modern Art an einem Tisch gesessen und die Besucher dazu eingeladen, an der gegenüberliegenden Seite Platz zu nehmen, um mit ihr in einen intensiven Blickkontakt zu treten. – Im Kontext der Überlegung, wie Bilder von Performances ihrerseits an der Mythenbildung oder der Mystifizierung vergangener Ereignisse mitwirken können und sie möglicherweise gezielt zu evozieren versuchen, leisten die Dokumente von The Artist is Present einen übrigens nicht uninteressanten Beitrag. Betrachtet man die Fotos von den Menschen, die sich zu Abramoviü an den Tisch setzten, so sieht man zahlreiche selbstvergessene, hoch konzentrierte oder weinende Gesichter. Man sieht genau das, was Abramoviü sah. Die selektierten und im Internet kursierenden Bilder geben aber nicht nur Zeugnis von den kommunikativen Austauschprozessen zwischen Besuchern und Performerin. Sie suggerieren überdies, dass hier durchweg bewegende emotionale Erfahrungen gemacht wurden und es Abramoviü mit ihrer Anwesenheit und ihren quasi-hypnotischen Blicken vermochte, die Besucher tief zu berühren oder in Rührung zu versetzen. In Ergänzung zu dieser Arbeit zeigt Abramoviü eine Retrospektive von einigen ihrer Performances, indem sie diese von einstudierten Akteuren nachstellen lässt. Anders als bei den Seven Easy Pieces wird das Nachgestellte hier mit ins Bild geholt und somit eine weitere Bedingung erfüllt, die sie im Rahmen ihres Modells einfordert: »Exhibit the original material: photogaphs, video, relics.«38 Genau genommen haben wir es hier also mit der Inszenierung von Relationen zu tun, von Relationen einerseits zwischen Bildern und den Verkörperungen jener Handlungen, Posen oder Aktionen, die auf diesen Fotografien abgebildet sind; andererseits von Relationen zwischen den einzelnen Reperformances. Es wird ein Bezug hergestellt und reflektierbar: Eine Reperformance erscheint im Lichte dieser Abbildungen (und umgekehrt) bzw. im Lichte anderer Reperformances. Alles kommentiert sich gegenseitig. Die Rezipienten werden mit der Trias von Performances, auf sie verweisenden Bildern und mehreren Reperformances konfrontiert. Doch was wird eigentlich wiederbelebt? Die auf der Fotografie abgebildete Performance? Oder die Fotografie? Oder die Reperformances, die der gerade stattfindenden Reperformance in den Tagen und Wochen vo-

38 M. Abramoviü: Seven Easy Pieces, S. 11.

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rausgingen? Oder alles zusammen? Bei den Seven Easy Pieces wurde die Bezüglichkeit zwischen Vorlage und Wiederbelebung allein durch die Ankündigungen auf den Flyern hergestellt. Entgegen Abramoviüs eigener Forderung wurde das »original material« den Besuchern vorenthalten. Indem diese Bezüglichkeit zwischen Vorlage und Wiederbelebung bei The Artist is Present nun, da die Reperformances von Abramoviüs eigenen Arbeiten durch andere Akteure auf dem Programm stehen, zur Ausstellung kommt, bahnt sich die Verpflichtung auf Werktreue ihren demonstrativen Weg. Im Zusammenhang von The Biography Remix (2004-2005) sagte Abramoviü einmal: »There I asked my students to play me. So I would start doing a piece myself – like Rest Energy (1980) – and then in the middle give the bow and arrow to my students to perform it, which is very dangerous. So there I am taking the role of professor, passing on knowledge to someone else to continue the work. I have proposed that I withdraw even more. In the future, I don’t even need to be there for the work anymore.«39

Bei The Artist is Present Vorlage vermittelt sich so eine Vorstellung von der Art, in der Abramoviüs Arbeiten noch in ferner Zukunft weiterleben und überleben könnten – in dem Spannungsverhältnis von »the artist is not present anymore« und »the artist is still ominpresent«. Wie The Artist is Present vorführt, wird nämlich das Bild zu einer Instanz, die nicht eine Freiheit zur Interpretation genehmigt, sondern die – anders als Abramoviü es bei den Seven Easy Pieces für sich selbst in Anspruch nimmt – allererst zur Verantwortung gegenüber der Genauigkeit aufruft und die Überprüfbarkeit dieser Genauigkeit gleichsam gewährleistet. Einher geht damit desgleichen eine Verkomplizierung, die den Status der Reenactments fragwürdig werden lässt. Denn was genau sind diese Reenactments? Sind es Wiederbelebungen? Sind es andere, neue Formen der Dokumentation? Oder sind es selbst Vorlagen für neue Reperformances? Wie immer ihre Arbeiten überdauern werden – was Abramoviü in die Geschichte der Performance Art eingetragen haben wird, ist ihr spezifischer Versuch, mit Hilfe von Reperformances oder Reenactments das Überleben ihres Werks zu sichern. Die Ursache liegt in der Zukunft, könnte man mit

39 »Marina Abramoviü Interviewed by Nancy Spector«, S. 19.

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Beuys sagen. Oder mit Kierkegaard: Die Wiederholung ist Erinnerung nach vorwärts.

L ITERATUR Abramoviü, Marina: Seven Easy Pieces, Mailand: Charta 2007. Auslander, Philip: Liveness. Performance in a Mediatized Culture, New York/London: Routledge 1999. Cypriano, Fabio: Performance and Reenactment: Analyzing Marina Abramoviü’s Seven Easy Pieces, http://idanca.net/lang/en-us/2009/09/ 02/performance-e-reencenacao-uma-analise-de-seven-easy-pieces-demarina-abramovic/12156 vom 02.09.2009. Fischer-Lichte, Erika: »Performance Art – Experiencing Liminality«, in: Marina Abramoviü, Seven Easy Pieces, Mailand: Charta 2007, S. 3345. »Marina Abramoviü Interviewed by Nancy Spector (May 2006)«, in: Marina Abramoviü, Seven Easy Pieces, Mailand: Charta 2007, S. 13-30. Mersch, Dieter: »Ereignis und Aura«, in: Kunstforum International 28 (2000), S. 94-103. Nauman, Bruce: »Von der Malerei zur Skulptur. Ein Interview mit Lorraine Sciarra«, in: Christine Hoffmann (Hg.), Bruce Nauman. Interviews 1967-1988, Dresden: Verlag der Kunst 1996, S. 66-87. Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London/New York: Routledge 1993. Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London/New York: Routledge 2011. Schneider, Rebecca: »Archives. Performance Remains«, in: Performance Research 6.2 (2001), S. 100-108. Schuhmacher, Eckhard: »Passepartout. Zu Performativität, Performance, Präsenz«, in: Texte zur Kunst 10 (2000), S. 95-103. Siegmund, Gerald: Abwesenheit: Eine performative Ästhetik des Tanzes, in: Krassimira Kruschkova (Hg.): OB?SCENE. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film, Wien: transcript 2005, S. 71–83.

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Umathum, Sandra: »Beyond Documentation, or The Adventures of Shared Time and Place. Experiences of a Viewer«, in: Marina Abramoviü, Seven Easy Pieces, Mailand: Charta 2007, S. 47-55.

Bilder in Bewegung bringen Zum Reenactment als politischer und choreographischer Praxis A NNEMARIE M ATZKE

2010 richtete die Bundeskulturstiftung einen Fonds für das kulturelle Erbe des Tanzes unter dem Titel »Tanzfonds Erbe« ein.1 Dort können sich Tänzerinnen und Tänzer, Choreographinnen und Choreographen mit Konzepten und Projektideen bewerben, die an der »Pflege des Repertoires des 20. Jahrhunderts« durch »gezielte Neuaneignung oder Rekonstruktion herausragender historischer Werke« arbeiten. Formuliertes Ziel des Fonds ist es, sich der »systematischen wie exemplarischen Aufarbeitung der Geschichte des modernen Tanzes« zu widmen.2 Dass ein solcher Fonds eingerichtet wird, hat einerseits mit der Flüchtigkeit des Tanzereignisses zu tun. Tanz als performative Kunstform hat anders als die Musik kein verbindliches Notationssystem entwickelt, mit dem Bewegungsabfolgen aufgezeichnet und tradierbar werden. Zwar gibt es im klassischen Ballett durchaus ein Repertoire, das in Form von Neuinszenierungen weitergegeben wird. Choreographien der Tanzmoderne und des Neoklassizismus, die mit der Formensprache des Balletts brachen, sind aber selten notiert oder scheinen nicht tradierbar zu sein, weil sie beispielsweise wie im Ausdruckstanz in besonderer Weise an die Individuali-

1

Vgl. www.tanzfonds.de/de/erbe-info vom 24.11.2011.

2

Vgl. ebd.

126 | A NNEMARIE M ATZKE

tät ihrer Tänzer gebunden sind. Was der Fonds der Bundeskulturstiftung also vorhat, ist eine Arbeit gegen den Verlust und an dem bereits Verlorengegangenem, das nun neu gehoben und erschlossen werden soll: Rekonstruktion als eine Form der Archäologie, wie Gabriele Brandstetter schreibt.3 Aber die Einrichtung des Fonds für das Erbe der Tanzkultur ist noch vor einem anderen geschichtlichen Hintergrund zu lesen. 2009 war ein sehr trauriges Jahr für den Tanz. Mit Pina Bausch und Merce Cunningham sind zwei der wichtigsten Choreographen des 20. Jahrhunderts verstorben. Ihr Tod stellt die Frage ihres Vermächtnisses und dessen Verwaltung und Bewahrung. Ihr Erbe sind Choreographien, die sie mit ihren jeweiligen Compagnien erarbeitet haben. Es ist ein immaterielles Erbe, das an die Körper der Tänzer gebunden ist und das damit in besonderer Weise die Frage von Übertragung und Weitergabe problematisiert. Denn das Verhältnis von Fixierung, Wiederholung und Veränderung zeigt sich anhand des Tanzes in besonderer Weise: Wie können Choreographien tradiert werden, wenn die Bewegung an einen individuellen Körper des Tänzers gebunden ist und damit nicht technisch kopierbar sind? Wie verhält es sich mit dem Copyright in einer Kunstform, in der es keine von den Darstellern unabhängige Form der materiellen Fixierung gibt? Wie verändert sich eine Choreographie bei der Übertragung von einem Tänzerkörper auf einen anderen? Gibt es etwas wie eine Signatur der Autorschaft, die an den Körper des Tänzers gebunden ist? Dies sind Fragen, die schon seit langem hinsichtlich der Arbeiten von Pina Bausch und Merce Cunningham diskutiert wurden. Denn viele ihrer Choreographien touren seit Jahren durch die Welt. Auf der Bühne sind schon lange nicht mehr die Tänzer der Premiere zu sehen, sondern die dritte oder teils vierte Besetzung und damit eine ganz neue Generation von Tänzern. Aber immer waren es die Choreographin und der Choreograph, die mit den Tänzern die Schrittfolgen und Bewegungsmuster einstudierten oder zumindest die Form und Weise der Weitergabe kontrollierten.4 Ihre Namen

3

Brandstetter, Gabriele: »Fundstück Tanz«, in: Johannes Odenthal (Hg.), tanz.de (=Theater der Zeit Arbeitsbuch, Band 14), Berlin: Verlag Theater der Zeit 2005, S. 12-19, hier S. 15.

4

Beispielhaft lässt sich dies anhand der Dokumentation Probe Sacre (D 1992, R: Herbert Rach) nachvollziehen. Für die Wiederaufnahme von Le Sacre du Prin-

B ILDER

IN

B EWEGUNG

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standen für die Position eines Autors der Choreographie. Mit dem Tod der beiden ist jener Platz – die Position des Choreographen, der über die Weitergabe der Choreographie wacht – nicht mehr besetzt. Die Frage der Autorschaft, des Copyrights einer Choreographie wird damit in besonderer Weise virulent. Allerdings haben beide bereits zu Lebzeiten genau über diese Frage nachgedacht und jeweils eigene Vorkehrungen getroffen. 5 Während die Merce Cunningham Dance Company sich nach einer zweijährigen Welttournee auflösen wird und das Copyright seiner Choreographien von einer Stiftung verwaltet wird, die am Aufbau eines eigenen Archivs arbeitet, probt das Tanztheater Wuppertal Neuinszenierungen alter Choreographien unter der Aufsicht früherer Assistentinnen und Assistenten, Tänzerinnen und Tänzer von Pina Bausch. Geplant ist auch alte Inszenierungen wieder aufzunehmen, beispielsweise soll 2016 die Choreographie »Beim Hören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper König Blaubarts Burg« (1997) wieder gezeigt werden, wenn die Rechte Bartóks an der Komposition erlöschen. Es zeigt sich ein kompliziertes Geflecht von Copyright, Autorschaft und Tänzerkörper. Doch nicht nur im konkreten Umgang mit dem »Erbe« der Tanzmoderne, des Tanztheaters oder des Ausdruckstanzes und möglicher Wiederaufführungen prallen verschiedene Interessen aufeinander. Wenn es in der Ausschreibung des »Tanzfonds Erbe« heißt: »Die Offenheit des Projektes – der Art der Annäherung sind kaum Grenzen gesetzt – erleichtert den Zugang zur Moderne und schlägt eine Brücke zum Tanz der Gegenwart«6 , kann dies auch als eine vorweggenommene Antwort auf mögliche Kritiker gelesen werden. Die Reaktionen auf die Ausschreibung der Bundeskulturstiftung waren nämlich nicht nur positiv. Diskutiert wurde, ob eine solche Förderung nicht zu einer Musealisierung des Tanzes führe. Ebenso wurde auf kulturpolitischer Ebene gefragt, wie ein solcher Ansatz gegenüber der mangelnden Finanzierung freier Tanzprojekte zu legitimieren sei: Hier die

temps werden neuen Tänzern die Bewegungsfolgen der ursprünglichen Inszenierung vermittelt. 5

Vgl. dazu die Ausgabe der Zeitschrift ballet-tanz 10/09 mit dem Titel Cunninghams Erbe sowie die Ausgabe von tanz3/2010, die sich mit Fragen von Musealisierung, Archivierung und Reenactment beschäftigt.

6

Ebd.

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unterfinanzierten jungen zeitgenössischen Choreographen und dort die Klassiker des zeitgenössischen Tanzes. Auf der einen Seite wären die um das Überleben kämpfenden Projekte des zeitgenössischen Tanzes zu verorten. Auf der anderen Seite findet sich mit der Idee der Archivierung eine verstärkte Institutionalisierung des Tanzes – wie beispielsweise im Konzept der von Sascha Waltz und ihrem Dramaturg Jochen Sandig geforderten Compagnie als »living archive«, die an der Bewahrung und Weitergabe von Choreographien arbeitet, finanziert aus öffentlichen Geldern, wie andere Archive auch.7 Über die Diskussion um das Erbe und die Form seiner Bewahrung werden letztlich politische Fragen um Sichtbarkeit verhandelt: Wer in das Archiv der Tanzgeschichte eingehen darf, ist die eine Frage und die andere Frage, wem überhaupt die Möglichkeit gegeben wird Tanzgeschichte zu schreiben. Die Praxis der Wiederaufführungen erzählt immer auch eigene Versionen von Tanzgeschichte: je nachdem welche Künstler, welche Choreographien wiederaufgeführt werden. Und sie gibt einen Kommentar zur Situation gegenwärtigen tänzerischen Schaffens. In Zeiten knapper Ressourcen prallen hier unterschiedliche politische Interessen aufeinander.8 Diese Diskussion ist zugleich von einem umfassenden Diskurs über Tanzgeschichtsschreibung, Tradition und Archivierbarkeit in der Tanzwissenschaft flankiert. Die junge Disziplin reflektiert ihre eigenen Methoden und Potentiale für eine Geschichtsschreibung, die sich auf eine performative Kunst bezieht. Wenn die Bundeskulturstiftung die Ziele des Fonds für das Erbe des Tanzes zwischen »gezielter Neu-Aneignung und Rekonstruktion herausragender Werke«9 ansiedelt, dann wird hier auch zugleich auf zwei Ansätze im tanzwissenschaftlichen Diskurs über das Verhältnis zu vergangenen Aufführungen verwiesen. Während in den 80er Jahren vor allem der Begriff der Rekonstruktion geläufig war, versuchen neuere Ansätze mit Begriffen der Re-Invention oder des Reenactment eine andere Perspektive zu markieren.10

7 8

Vgl. tanz 3/2010. Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Anna Volkland und Jochen Sandig »Tradition oder Leben? Lebendige Traditionen!«, in: ballettanz 3 (2010), S. 52.

9

Vgl. www.tanzfonds.de/de/erbe-info vom 24.11.2011.

10 Vgl. dazu Thurner, Christina/Wehren, Julia (Hg.): Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz, Zürich: Chronos 2010.

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Unter Rekonstruktion versteht man gemeinhin, die Re-Inszenierung einer Choreographie auf der Basis unterschiedlicher historischer Dokumente: Aufzeichnungen, Fotos, Notate, aber auch Erinnerungen. Seit den späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wird die Praxis der Rekonstruktion der neoklassischen Ballette der frühen Tanzmoderne zunehmend wichtig und zugleich theoretisch reflektiert. Sei es die berühmte Wiederaufführung von Nijinskys Le Sacre du Printemps 1987 durch Kenneth Archer und Millicent Hodson oder Rekonstruktionen von L’après-midi d’un faune, deren Erarbeitung ebenfalls ausgiebig dokumentiert ist.11 Ausgehend von Bildern und Beschreibungen, wenigen notierten Passagen werden mögliche Bewegungssequenzen abgelesen, durchprobiert und neu-einstudiert. Es ist eine minutiöse Forschungsarbeit von Tanzwissenschaftlern, Choreologen und Tänzern, die darauf zielt dem Original möglichst nahe zu kommen. Auffällig ist, dass meist Choreographien rekonstruiert werden, die selbst zum Mythos wurden und bereits eine eigene Geschichte schreiben. Was für wert befunden wird, rekonstruiert zu werden, ist immer auch ein Kommentar auf bereits geschriebene Tanzgeschichten. In der Tanzwissenschaft entspann sich eine leidenschaftliche Debatte über die Begrifflichkeiten, mit denen Aufführungspraktiken zu beschreiben seien, die sich mit früheren Choreographien beschäftigten. Das Remake oder Revival, Re-Staging wurde von der Rekonstruktion unterschieden, die sich vor allem durch Werktreue auszeichnen sollte und durch wissenschaftliche Genauigkeit im Quellenstudium legitimierte. 12 Der Begriff der ReInvention, so merkt beispielsweise Mark Franko an, verweise kritisch auf das Phantasma der Wiederholbarkeit, das der Idee der Rekonstruktion innewohnt. Die Beschäftigung mit vergangenen Choreographien dürfe nicht aus Nostalgie geschehen und unter dem Postulat der Wiederholung stehen, sondern muss als eine reflexive Arbeit an der Ursprungschoreographie verstanden werden. Es gehe nicht um eine originalgetreue Wiedergabe, son-

11 Vgl. Hodson, Millicent: »Puzzles choréographiques. Reconstitution du Sacre de Nijinsky«, in: Étienne Souriau et. al. (Hg.), Le Sacre du Printemps de Nijinsky, Paris: Éditions Cicero 1990, S. 45-74. 12 Vor diesem Hintergrund widmete sich unter anderem 1984 The Drama Review der Praxis der Rekonstruktion, indem neben Fragen der Performance Art, der Musik auch das Verhältnis von Tanz, Notation und Wiederaufführung diskutiert wurde. Vgl. dazu The Drama Review: TDR, Reconstruction, 28.3 (1984).

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dern um die mimetische Annäherung über historische Quellen als »praktische Kulturkritik«, die eine eigene Form der Theoretisierung von Tanzgeschichte hervorbringe.13 Dies verweist auch auf die Frage nach der Medialität des Quellenmaterials. Was vom Tanz als Dokument übrig geblieben ist, sind oft Fotografien, die im Gegensatz zum beweglichen Tanz mit der Stillstellung von Bewegung arbeiten. Aber auch Videoaufzeichnungen, Notate oder das Körpergedächtnis des Tänzers verweisen immer auf spezifische Aspekte von Choreographien. So muss jede Rekonstruktion notwendigerweise immer Lücken füllen. Rekonstruieren meint damit nicht nur vergangene Bewegungen wiederzufinden, sondern immer auch andere zu finden und hinzuzufügen, anderes auszulassen und zu verschieben und damit die Tanzgeschichte um- und weiterzuschreiben. Ausgehend von den Diskussionen in der bildenden Kunst über die Archivierung von Performance Art wird im Bewusstsein dieser Praxis des Veränderns des historischen Materials ein anderer Begriff in den Ring geworfen: das Reenactment. Anders als die Rekonstruktion, die als Wiederherstellung von einer Choreographie als Werk ausgeht mit all den damit verbundenen problematischen Implikationen, verschiebt der Begriff des Reenactments den Fokus auf eine Darstellungspraxis: den Akt der Verkörperung. Aufgerufen werden damit auch Fragen nach dem Status des Körpers der Tänzer bei der Weitergabe von tanzhistorischem Wissen um Choreographien. Tänzer werden in einer bestimmten Epoche ausgebildet. Tanztechnik und Körperkonzepte sind nicht statisch, sondern in ihrer Historizität zu denken. Jedes Reenactment im Tanz verweist auf einen abwesenden Körper mit seiner Bewegungstechnik und seinem Bewegungsvokabular und wird zugleich von einem anderen Körper im Akt der Aufführung vergegenwärtigt. Dieser problematische Akt des Verkörperns in der Vergegenwärtigung tanzhistorischen Materials wird somit zum Ausgangspunkt zahlreicher Inszenierungen, die gerade die Distanz zum Original nicht zu verleugnen suchen, sondern zum Thema machen. Dies wird beispielsweise dann besonders offensichtlich, wenn das Geschlecht der Tänzer nicht mehr mit der Ursprungsbesetzung übereinstimmt, wie beispielsweise in Martin

13 »[...] I am suggesting that reinvention can practice cultural critique as a form of active theorizing on dance history.« Franko, Mark: »Repeatability, Reconstruction and Beyond«, in: Theatre Journal 11 (1989), S. 56-74, hier S. 74.

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Nachbars viel besprochener Auseinandersetzung mit Dore Hoyer Affectos Humanos (2000) oder Fabián Barbas Mary Wigman Rekonstruktion (2009). Die Materialität des Tänzerkörpers rückt selbst als mobiles Archiv der Tanzgeschichte in den Fokus.14 Nicht mehr die Werkgenauigkeit, sondern die Prozesse der Aneignung und des Distanzierens, Fragen von Mimesis und Mimikry treten in den Vordergrund – auch als Auseinandersetzung darüber, wie die Archive des Tanzes beschaffen sind. Diese Fragen werden vor allem dort virulent, wo das Verhältnis von Tänzerkörper und überlieferten Dokumenten selbst Gegenstand der Darstellung wird. In der gegenwärtigen Tanzpraxis finden sich vermehrt Inszenierungen, die sich nicht nur aus der Beziehung auf vergangene Choreographien konstituieren, sondern im Besonderen auch die von diesen Choreographien überlieferten Dokumente selbst zur Aufführung bringen. Jene Praxis der (Wieder-)Aufführung historischer Dokumente in ihrem Verhältnis zu gegenwärtigen Körpern der Tänzer auf der Bühne möchte ich im Folgenden anhand eines aktuellen Beispiels exemplarisch untersuchen. Ein alter Mann, um die 70, in T-Shirt und einfacher brauner Hose, tritt barfuß auf die leere Bühne. Er stellt sich in eine Pose, die Arme gehoben, angewinkelt, die beiden Hände geschlossen, links und rechts des Gesichts, das Bein leicht ausgedreht. Er hält die Pose, beginnt leicht zu zittern, zu schwanken, langsam kommt er in Bewegung. Die Lichtstimmung ändert sich, andere Tänzer kommen hinzu, nehmen jeder eine Pose ein: im Gegenlicht sind nur noch die Silhouetten zu erkennen. Wer sich in der Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts auskennt, kann jene erste Pose leicht entziffern. Es ist ein Portrait, das Annie Leibovitz vom 75-jährigen Merce Cunningham gemacht hat – die Armhaltung, scheinbar ungezwungen, erzeugt eine Körperspannung, der Kopf leicht gedreht, den Blick außerhalb des Bildes gerichtet – eine Ikone der Tanzgeschichte. Mit der Re-Inszenierung dieser Fotographie beginnt die Inszenierung 50 ans de danse – 50 years of dance von Boris Charmatz. Ausgangspunkt ist die gleichnamige Dokumentation des Cunningham-Archivars Da-

14 Vgl. u.a. Wehren, Julia: »Tradition im Fokus. Choreographie als kritische Reflexion der Tanzgeschichte«, in: Christina Thurner/Dies. (Hg.), Original und Revival, Zürich: Chronos 2010, S. 59-66.

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vid Vaughan15, der den Choreographen und seine Compagnie von 1944 bis 1995 – also über fünfzig Jahre – begleitete und dabei die rund 150 Choreographien Cunninghams, seine Arbeitsweise, die Ensemblemitglieder und Arbeitspartner Cunninghams in Fotos und Texten dokumentierte. Diese Dokumente sind nach Jahrzehnten gegliedert. Chronologisch geordnet präsentiert sich so die Erzählung eines Künstlerlebens von der Kindheit bis zum verdienten Altmeister: ein halbes Jahrhundert Tanzgeschichte versammelt in einem Buch. Boris Charmatz geht nun von den 300 Fotographien des Buches aus, die alle auf der Bühne in Bewegung gebracht werden. Eine Pose nach der anderen wird nachgestellt. Die Choreographie geht von einem Standbild zum nächsten. Die Tänzer haben alle bei Cunningham trainiert und in seiner Company getanzt, jedoch zu ganz verschiedenen Zeiten. Versammelt sind so auf der Bühne auch fünfzig Jahre Tanzgeschichte. Gegliedert wird die Inszenierung durch die Ansage des jeweiligen Jahrzehnts – auch hier übernimmt Charmatz ebenfalls die Struktur von Vaughns Vorlage. Was zu sehen ist, erinnert an eine Choreographie Cunninghams. Für Cunninghams Ästhetik Charakteristisches ist zu erkennen: Drehungen, hohe Sprünge, gekippte Attitüden. Es zeigen sich immer neue Verkettungen von Körpern, immer andere Arrangements von Figuren. Dies wird durch die akustische Ebene unterstützt: zu hören sind Kompositionen von John Cage. Wie bei vielen Choreographien von Cunningham bilden dabei Musik und Tanz keine Einheit. Sie sind nicht aufeinander abgestimmt, sondern stehen nebeneinander. Auch die Bühne – ein leerer Raum mit einem weißen Tanzteppich ausgelegt – und die farbigen Ganzkörperkostüme unterstützen diesen Eindruck. Es ist allerdings nicht einfach die Technik des tableaux vivants, das Nachstellen von Bildern, die hier zur Aufführung kommt, sondern Charmatz verbindet die Bilder miteinander, schafft so einen Bewegungsfluss von Still zu Still. Pose für Pose wird aneinandergereiht, die kaum eingenommen schon wieder aufgelöst wird. Zu sehen ist eine Bewegungsabfolge, die immer wieder vom kurzen Moment der Stillstellung durchbrochen wird. Die Tänzer finden sich zu immer neuen Formationen zusammen. Dieses Spiel mit den Bildern, das Ablaufen und Vorbeilaufen der 300 Fotografien auf der Bühne wird noch durch eine weitere Ebene gerahmt. Vaughans

15 Vaughan, David: Merce Cunningham. Fifty Years, New York: Aperture 1997.

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Dokumentation liegt auf einem Notenpult neben dem im Zuschauerraum installierten Tonpult. Wie die Partitur des Dirigenten ist sie jederzeit für die Zuschauer sichtbar. Und wie ein Dirigent seine Noten oder die Souffleuse den Text des Dramas umblättern, wird das Buch Seite um Seite umgeblättert. Aufgrund der Größe ist jedoch das einzelne Bild nicht identifizierbar. Nicht zu erkennen ist damit das Verhältnis von Buch, Blättern und Bewegungsabfolgen auf der Bühne. Gibt das Blättern den Tänzern ein Metrum oder verfolgt die Lektüre des Buchs die Bewegungen auf der Bühne? Durch diesen Rahmen wird die Betrachtung der Bewegungen auf der Bühne zur Spurensuche nach den Bildern des Archivs, die unaufhaltsam in ihrer Abfolge im Buch vorbeifließen. Als Betrachterin versuche ich, die Fotografien aus dem Fluss der Bewegung heraus zu identifizieren. Dabei verweigert die Inszenierung nicht nur den Abgleich mit dem Dokument selbst, die permanente Auflösung der gerade eingenommen Pose, das permanente Umschlagen von Stillstellen und Bewegen, stasis und kinesis, erschwert jenen zuordnenden Blick. Mit dem Reenactment der Fotografien wird deren Medialität mit zur Aufführung gebracht. Die Fotos verweisen auf einen abwesenden Körper, der in der Aufführung (scheinbar) wieder einen Auftritt bekommt. Die Geste des Archivierens und Dokumentierens von Tanz – als Fixierung der Flüchtigkeit von Bewegung – wird hier selbst in Bewegung überführt. Diese doppelte Form der Übertragung wird damit auch zum Thema der Aufführung. Zugleich aber verweisen die Fotografien – als stillgestellte Bewegung – auch auf die Lücken und Leerstellen jeder choreographischen Rekonstruktionspraxis. Wenn die Praxis der Rekonstruktion von Fotografien ausgeht und versucht die ikonographisch festgehaltene Bewegung von einer zweidimensionalen unbewegten Fläche in einen dreidimensionalen Körperraum zu übertragen und dabei die spezifische Materialität des Ausgangsmaterial gerade vergessen machen will, dann ist Charmatz’ Strategie eine andere: das Verhältnis von Stillstellung und Bewegung. Diese »BildSprünge« lassen sich als ein Verhältnis von (historischem) Bild und (gegenwärtiger) Bewegung fassen: »Dazwischen – die Lücke des Entschwundenen, Nicht-Erinnerbaren.«16

16 Brandstetter, Gabriele: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin: Verlag Theater der Zeit 2005, S. 10.

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Die Identifizierung der Fotos und die damit verbundene wiedererkennende Rezeption des Zuschauers werden dazu noch auf verschiedene Weisen unterlaufen. Erstens verwendet Charmatz unterschiedliche Materialien. Dokumentarische Aufnahmen von Aufführungen stehen neben Zeichnungen, neben Portraitaufnahmen des Künstlers und seiner Mitstreiter oder Bildern von Preisverleihungen. Zweitens wird im Nachstellen auf der Bühne nicht zwischen den unterschiedlichen Perspektiven, aus denen die Fotografien aufgenommen wurden, unterschieden. Es gibt keine Differenzierung zwischen Großaufnahme und Totale. Bilder, die für die Kamera gestellt wurden, stehen neben Schnappschüssen, die jenseits der Bühne entstanden sind. Allen Fotografien wird der gleiche Status zugeschrieben. Was eine Identifizierung der Fotos zudem noch erschwert, ist, dass in der Besetzung nicht auf männliche oder weibliche Vorbilder geachtet wird. Eingenommen wird einfach die Pose. Jede Hierarchisierung der Fotos hinsichtlich der Bedeutung des gezeigten Ereignisses wird unterlaufen. (Wobei dem Titelbild durchaus eine prominente Position in der Aufführung zukommt.) Es mischen sich Störbilder in die vermeintliche CunninghamChoreografie. Im Nachstellen der Fotographien wird teilweise auf den räumlichen Kontext verwiesen. In den Blick rückt damit die Situation, in der das Foto entstanden ist. Ein Tänzer markiert beispielsweise einen Vorhang. An anderer Stelle werden pantomimisch die Bewegungen eines Kameramannes nachgeahmt. Erinnern die Bewegungsabfolgen in vielem an eine Cunningham-Choreographie, werden mit diesen eindeutig zu lesenden Bewegungen wiederum neue Störelemente eingebaut. Es sind pantomimische Nachahmungen, die die Abstraktion des ›scheinbar‹ Choreographierten zu unterlaufen scheinen. Jene Bildstörungen werden noch auf einer anderen Darstellungsebene potenziert: die Besetzung mit Tänzern der Compagnie erscheint auf den ersten Blick als Authentifizierungsstrategie. Der alte Tänzer Gus Solomons, der schon in den sechziger Jahren bei Cunningham tanzte, verweist auf die von ihm verkörperte Tanzgeschichte. In der Akkuratheit der Ausführung der Positionen, bei Sprüngen, Drehungen und Figuren werden allerdings altersbedingte Defizite sichtbar. Der Originalkörper zeigt damit, dass er nicht als stabiler Container zu denken ist, sondern als Archiv, das Veränderungen unterworfen ist, deren Spuren sich in die Choreographie einweben. Zu sehen ist also weder ein Reenactment, noch eine Rekonstruktion oder Wiederaufführung einer Cunningham-Choreographie. Die Inszenie-

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rung verweigert den Bezug auf ein ihr zugrundeliegendes Ereignis. Zugleich verweist sie auf die Sinnlosigkeit der Frage nach dem Original, weil die Fotografien sich auf unendlich viele Ereignisse beziehen. Es wird noch nicht mal der Anspruch erhoben ein Reenactment zu sein: Charmatz spricht von einem »Fake-Cunningham«17, die Kritikerin Sandra Luzina im Tagesspiegel von einer »cleveren Fälschung«18. Ist die Choreographie also ein gefaktes Reenactment, eine Pseudo-Rekonstruktion? Charmatz stellt die Frage nach dem Erbe eines Choreographen auf andere Weise. In der Loslösung von der Choreographie als zu rekonstruierendem Werk verschiebt sich der Fokus auf einen anderen Werkbegriff: das Oeuvre des Choreographen. Was macht ein Werk, einen Künstler, eine spezifische Ästhetik aus und wie werden Vorstellungen davon hergestellt? Dies sind die Fragen, die Charmatz stellt. In diesem Sinne lässt sich seine Arbeitsweise als eine andere Praxis des Reenactments beschreiben. Ausgehend von den Posen auf den Fotografien, die für sich nachgestellt sind, werden Bewegungsabfolgen gefunden. Charmatz nimmt die Arbeitsweise von Cunningham selbst auf, der zuerst die Positionen seiner Tänzer im Raum festlegte und dann getrennt davon die Bewegungen von der einen in die andere Position erarbeitete. Das Abtrennen und Fragmentieren als Arbeitsstrategie wird hier zur Grundlage der Arbeit mit dem Buch. Die Tänzer studierten und kopierten die Bilder und hatten dann eine Form zu finden, um sie miteinander zu verbinden, von einem Bild in das andere zu kommen. Das, was das Bild nicht zeigt und nicht zeigen kann, wird damit auf die Bühne gebracht – und unterläuft zugleich das wiedererkennende und bestätigende Betrachten der Inszenierung als Wiederaufführung. Dieses Vorgehen verweist auf die Frage nach der Autorität, die über den Status einer Inszenierung als Reenactment entscheidet. Auf den ersten Blick werden hier Bewegungen gezeigt, die sich an kein Dokument zurück binden lassen, sondern von den Tänzern für die Inszenierung gefunden werden. So kommt eine Arbeitsweise zur Aufführung, die für Cunningham charakteristisch war, und zugleich wird damit der Status der Inszenierung als »Cunningham-Choreographie« unterlaufen.

17 So ist es auf dem Programmzettel wie auch auf Charmatz Website zu lesen (www.borischarmatz.org). 18 Luzina, Sandra: »Ein hinreißender Bastard«, in: tagesspiegel vom 26.08.2010.

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Die Frage der Autorisierung von Bewegung stellt sich noch auf einer anderen Ebene. Die Inszenierung ist zugleich eine Auseinandersetzung mit der Position des Chronisten und dessen Praktiken des Archivierens, Sammelns und Re-Präsentierens. Indem die Inszenierung die Momente, die der Fotograf fixiert hat und damit für die Nachwelt stillgestellt hat, zum Ausgangspunkt nimmt, reflektiert sie den Status des Aufführungsereignisses und fragt nach der Dokumentierbarkeit künstlerischer Prozesse. Die Fotos sollen Einblick in einen vergangenen Prozess geben, aus dem der Zuschauer ausgeschlossen ist. In den Blick rückt das Konzept der Zeugenschaft – hier über fünfzig Jahre –, die die Auswahl des dokumentierenden Archivars legitimieren. Gezeigt wird ein Spiel mit dem »dokumentarischen Gewebe der Tanzgeschichte«19, das Isa Wortelkamp mit Verweis auf Foucault anhand der Fotografien von Adolphe de Meyers zu L’après-midi d’un faune beschrieben hat. Das, was in den Bildern gezeigt wird, entspricht durch den Wechsel von Perspektiven, Portraitaufnahmen und Körperansichten nicht immer »der Folge der Bewegung«: »Die Chronologie der Ereignisse unterlaufend, werden die Momente der Choreographie hier vielmehr zu einer eigenen fotografischen Komposition, die im Blättern der Seiten selbst in Bewegung gerät.«20 Jenes Blättern in der Tanzgeschichte wird in 50 Years of Dance zur choreographischen Praxis, die zugleich die Dokumente über die Bühne hinaus entgrenzt. In den Fokus rückt damit der Kontext, in dem jedes Choreographieren – sei es das des Archivars oder des Choreographen – stattfindet. Charmatz selbst erklärt, dass er beim Lesen des Buches von Vaughan das Gefühl hatte, hier eine Partitur in Händen zu halten, die in der Auseinandersetzung mit den Choreographien entstanden ist und die zugleich die Bewahrung einer Betrachtererfahrung gewähren soll. Es ist die Geste des Bewahrens selbst, die immer etwas anderes hervorbringt, als das, was bewahrt werden soll, die hier zur Aufführung kommt. Die Inszenierung arbeitet damit an den Grenzen einer Praxis des Reenactments. Was hier zur Wiederaufführung kommt, ist letztlich eine Lektüreerfahrung. Die Form des Lesens, die ein Buch provoziert – das Durch-

19 Wortelkamp, Isa: »Bilder in Bewegung/Bewegung in Bildern. Zum dokumentarischen Gewebe der Tanzgeschichte«, in: Christina Thurner/Julia Wehren (Hg.), Original und Revival (2010), S. 155-166, hier S. 164ff. 20 Ebd.

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blättern, die Bewegungen des Lesens und Betrachtens, der umherschweifende Blick –, wird auf die Bühne übertragen. Wenn Charmatz‘ erste Version der Inszenierung den Titel Flip Book – Daumenkino – hatte, dann zielt er damit auf diese Form, mit den Bildern der Tanzgeschichte umzugehen, ab. In der Summe der stillgestellten Bilder, die nacheinander gezeigt werden, entsteht der Eindruck von Bewegung – wie in einem Daumenkino. Eine Arbeit an den Grenzen des Reenactments zeigt sich auch in der Thematisierung von Zeitlichkeit. Wenn jedes Reenactment sich an dem Verlorenen, Vergangenen, Verflüchtigten abarbeitet und einen konkreten Moment herzustellen versucht, dann wird hier mit einer anderen Form von Zeitlichkeit gespielt. Jedes der Bilder zeigt einen stillgestellten Moment, der in Bewegung gebracht wird. Nicht die einzelne Situation, sondern die Idee fünfzig Jahre in ihrer Komplexität zu dokumentieren wird hier vorgeführt. Gefragt wird damit, was bedeutet die Geste Fünfzig Jahre Tanz zeigen zu wollen? Es stellt die Dokumente selbst in einen historischen Zusammenhang, zeigt sie in Serie, zieht Verbindungen und Zeitlinien mit ein. Gearbeitet wird gegen die herkömmlichen Zeitökonomien des Reenactments: In der Suche nach möglichst vielen Dokumenten und Spuren der Aufführung soll die Anzahl der Leerstellen, die zu rekonstruieren sind, immer wieder verkleinert werden und damit auch der Abstand zum ›verlorenenǸ Ereignis. Dagegen steht der unverschämte Anspruch 50 Jahre Tanzgeschichte zu zeigen, der jede Behauptung einer Vollständigkeit von vornherein ironisch unterläuft. Es ist eine Arbeit sowohl mit dem als auch gegen das tanzhistorische Material. Im Mut zur Reibung, zur Verschiebung, zum Fake tritt damit Charmatz als Choreograph das Erbe Cunninghams an – nicht im Sinne einer Denkmalpflege, sondern in der Praxis des Reenactments, das die Bedingungen von Bewegung und Weitergabe, von Erinnern und Finden selbst untersucht: ein Programm, dem sich auch Cunningham verschrieben hatte. Epilog: Charmatz ist Leiter des Centre Choreographique in Rennes, das er kurzerhand in Musée de la Danse umgetauft hat, mit dem Hinweis, anders als Theater würden Museen nicht geschlossen. Ansätze zur Archivierung und zur Institutionalisierung von Tanzgeschichte eröffnen nicht nur neue Perspektiven auf das Verständnis von Choreographie, sondern sie sind immer auch in ihrem politischen und ökonomischen Kontext zu lesen und es bedarf künstlerischer Praktiken, um diese Bedingungen zu analysieren.

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L ITERATUR Probe Sacre (D 1992, R: Herbert Rach) Ballettanz 10/2009. Ballettanz 3/2010. Tagesspiegel vom 26.08.2010. tanz 3/2010. The Drama Review: TDR, Vol. 28, No. 3, Reconstruction (Autumn, 1984). www.borischarmatz.org www.tanzfonds.de/de/erbe-info vom 24.11.2011. Brandstetter, Gabriele: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin: Verlag Theater der Zeit 2005. Brandstetter, Gabriele: Fundstück Tanz, in: Johannes Odenthal (Hg.), tanz.de (=Theater der Zeit Arbeitsbuch, Band 14), Berlin: Verlag Theater der Zeit 2005, S. 12-19. Franko, Mark: »Repeatability, Reconstruction and Beyond«, in: Theatre Journal 11 (1989), S. 56-74. Hodson, Millicent: »Puzzles choréographiques. Reconstitution du Sacre de Nijinsky«, in: Étienne Souriau et. al. (Hg.), Le Sacre du Printemps de Nijinsky, Paris: Éditions Cicero 1990, S. 45-74. Luzina, Sandra: »Ein hinreißender Bastard«, in: tagesspiegel vom 26.08.2010. Thurner, Christina/Wehren, Julia (Hg.): Original und Revival. GeschichtsSchreibung im Tanz, Zürich: Chronos 2010. Vaughan, David: Merce Cunningham. Fifty Years, New York: Aperture 1997. Volkland, Anna/Sandig, Jochen: »Tradition oder Leben? Lebendige Traditionen!«, in: ballettanz 8.3 (2010), S. 52. Wehren, Julia: »Tradition im Fokus. Choreographie als kritische Reflexion der Tanzgeschichte«, in: Christina Thurner/Dies. (Hg.), Original und Revival, Zürich: Chronos 2010, S. 59-66. Wortelkamp, Isa: »Bilder in Bewegung/Bewegung in Bildern. Zum dokumentarischen Gewebe der Tanzgeschichte«, in: Christina Thurner/Julia Wehren (Hg.), Original und Revival (2010), S. 155-166.

Reenactment als dokumentarisches Narrativ Hybride Darstellungsverfahren im Dokumentarfilm der 30er und 40er Jahre V OLKER W ORTMANN

Die Anekdote ist legendär – Joris Ivens erzählt sie in seiner autobiographischen Schrift Die Kamera und ich: Während der Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm Misère au Borinage (1933) 1 habe ihm ein Bergarbeiter von einer Demonstration berichtet, bei der vorneweg ein selbstgemaltes Bild von Karl Marx durch die Straßen getragen worden sei, und zwar genau in der Weise, in der ansonsten Marien- und Heiligenbilder in Bildprozessionen getragen würden. Es war nicht die einzige Besonderheit dieser Proteste: Die Bergarbeiter kämpften seit über einem Jahr gegen miserable Arbeitsbedingungen im Steinkohlerevier und die Repression der Obrigkeit nötigte ihnen immer neue, subversive Formen des Protestes ab – Ivens berichtet u.a. von Sit-ins und Flashmobs. Die Konstellation von politischer Demonstration und religiöser Implikation der Bildprozession muss den zum Kommunisten konvertierten Katholiken allerdings in besonderer Weise affiziert haben. Jedenfalls fragte er nach, ob man die Aktion noch einmal wiederholen könne – nur diesmal als »szenische Rekonstruktion«2 für die

1

Misère au Borinage (BE 1933, R: Henri Storck, Joris Ivens)

2

Ivens, Joris: Die Kamera und ich. Autobiographie eines Filmers, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1974, S. 68.

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Kamera. Da die Beteiligten nichts dagegen einzuwenden hatten, traf man sich gleich am nächsten Morgen, trug das Porträt auf die Straße und begann mit der Prozession. Wie eine »religiöse Reliquie« hätten die Bergarbeiter das Bild den Hügel hinaufgetragen, schreibt Ivens.3 Die Anekdote ist allerdings nicht auf die Ausstellung unvereinbarer kultureller Gesten aus. Ivens erzählt sie vielmehr, um seinen Zeitgenossen eine Lektion im Hinblick auf sein Verfahren der »szenischen Rekonstruktion« zu erteilen: »Die Leute kamen aus ihren Häusern und hoben die Fäuste, schon damals ein Zeichen des Protests in Europa. Kleine Kinder und alte Frauen standen an der Straße mit geballten, erhobenen Fäusten. Es wurde ernst, und die Leute vergaßen, daß sie es für einen Film taten. Spontan kam die gesamte Gemeinde zusammen, und unsere Inszenierung wurde zu einer echten Demonstration. Plötzlich kam eine Gruppe Polizisten auf uns zugeradelt. Augenblicklich zeigten die Arbeiter ihre Solidarität mit Storck und mir. Ein Mann nahm mir die Kamera ab und schickte sie auf den sicheren Weg, so schnell wie ein Eimer Wasser von Feuerwehrleuten in einer Kette von Hand zu Hand gegeben wird. Die Grubenarbeiter wußten, wenn ich mit einer Kamera erwischt würde, hätte man mich zuerst eingesperrt und dann aus Belgien ausgewiesen. Wir alle bezogen Prügel von der Polizei, aber nach einer Stunde oder so war das ganze Schauspiel vorbei.«4

Für seinen Dokumentarfilm hatte Ivens mehrfach auf szenische Rekonstruktion zurückgreifen müssen, wobei es jedoch nur bei dieser Rekonstruktion zu einer doppelten Nobilitierung durch das Umfeld kam – was sicherlich auch damit zu tun hatte, dass die Rekonstruktion für die Kamera und die wie auch immer zu denkende ursprüngliche Inszenierung im Rahmen der Proteste für Beteiligte und Passanten letztlich auf dasselbe hinausliefen: nämlich auf eine ›echte Demonstration‹. Als zuletzt dann die Polizisten ihre Prügel zogen, um die Demonstranten und/oder szenischen Akteure zu vertreiben, war die Differenz von Ursprungsereignis und Rekonstruktion gänzlich zum Verschwinden gebracht, und zwar durch die Sanktionierung durch die Staatsmacht. Die Anekdote wurde mit Ivens Autobiographie in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts veröffentlicht und sie traf zu dieser Zeit auf einen Doku-

3

Ebd., S. 70.

4

Ebd.

R EENACTMENT

ALS DOKUMENTARISCHES

N ARRATIV | 141

mentarfilmdiskurs, dem ihre Pointe in hohem Maße suspekt erscheinen musste. Seinerzeit arbeitete man sich noch immer am dogmatischen Purismus des direct cinemas und seiner Epigonen ab und damit an einem Authentizitätsideal, das die teilnahmslose Beobachtung und den Verzicht auf jede Form der Intervention favorisierte. Davon kann bei Ivens natürlich keine Rede sein. Allerdings berichtet er von einer Realitätserfahrung, die weit über das Authentizitätsideal des direct cinemas hinausgeht. Immerhin gelang es ihm nicht nur, Wirklichkeit authentisch wiederzugeben, sondern authentische Wirklichkeit zu erzeugen. Die Pointe der Bildprozession war also geradezu prädestiniert, die Gewissheiten des Diskurses und seiner Protagonisten zu destabilisieren. Aus dem gleichen Grund erscheint sie mir wiederum prädestiniert, sich mit ihrer Hilfe dem Reenactment als konstitutive Praxis und Genre des Dokumentarfilms analytisch zu nähern. Wobei gleich die erste Frage, ob es sich hierbei denn überhaupt um ein Reenactment handelt, nicht ohne Weiteres zu klären ist – oder nur insofern, als dass alle Begriffe, die die Filmwissenschaft ansonsten zu ihrer Beschreibung zur Verfügung stellt, nicht greifen: Die entsprechenden Szenen im Films lassen sich weder als Dokudrama, als Dramadoku, als Doku-Fiction oder Faction, noch als Fake oder Mockumentary klassifizieren.5 Und natürlich auch nicht einfach als einfaches Dokument, es sei denn, als Dokumentation eines Reenactments, bei dessen Durchführung die Beteiligten sich derart emotional involvieren lassen, dass sie sich von ihrer primären Darstellungsaufgabe suspendieren und die Inszenierung als unmittelbaren Ausdruck ihrer Interessen nehmen. Aber genauso wenig wie die Polizei sich von der spitzfindigen Unterscheidung von Demonstration und dessen Reenactment hätte beindrucken lassen, nimmt der Film hier eine Unterscheidung vor: Nichts an dem Material weist auf seine Entstehung hin. Im Folgenden wird es also darum gehen, mit Hilfe der Anekdote und der frühen Dokumentarfilmgeschichte zu klären, was genau man in diesem Kontext unter einem Reenactment verstehen kann, welche Funktion das Reenactment im Dokumentarfilm übernimmt und schließlich, in welcher

5

Vgl. dazu Lipkin, Steven N./Paget, Derek/Roscoe, Jane: »Docudrama and Mock-Documentary: Defining Terms, Proposing Canons«, in: Gary D. Rhodes/John Parris Springer (Hg.), Docufictions. Essays on the Intersection of Documentary and Fictional Filmmaking, Jefferson: McFarland 2006; S. 15ff.

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Relation es zu anderen Formen des Reenactments als soziale und künstlerische Praxis steht.

R EENACTMENT ALS KONSTITUTIVE P RAXIS DER ›AKTUALITÄTEN ‹ DES FRÜHEN F ILMS Die Tatsache, dass Joris Ivens und sein Co-Regisseur Henri Storck bei den Dreharbeiten zu Misère au Borinage auf szenische Rekonstruktionen zurückgreifen mussten, hatte einen guten Grund: Beide hatten gehofft, einen Film über den Bergarbeiterstreik aus dem Jahr 1932 drehen zu können. Als sie jedoch im belgischen Steinkohlrevier ankamen und unter erschwerten Bedingungen mit den Dreharbeiten begannen, war der Streik längst niedergeschlagen; kurz: Sie kamen zu spät.6 Das war allerdings keinem Versäumnis der Produktion zuzuschreiben, sondern spiegelt tatsächlich ein grundlegendes Problem des Dokumentarfilms wider. Informationstheoretisch gesprochen haben Ereignisse nur dann einen Nachrichtenwert, wenn ihr SichEreignen eher unwahrscheinlich ist. Und da sich das Unwahrscheinliche (anders als z.B. die Neujahrsansprache des Bundespräsidenten) bekanntlich nicht antizipieren lässt, ist es auch für eine Dokumentarfilmproduktion nicht kalkulierbar. Zwar finden sich mittlerweile überall auf der Welt Handy- und Überwachungskameras, die Tsunamis, Erdbeben, Demonstrationen und Amokläufe in unzähligen Variationen dokumentieren, aber sie produzieren damit lediglich Nachrichtenbilder im Sinne von kontingenten Darstellungen kontingenter Ereignisse, mit deren Hilfe sich die Komplexität und Unüberschaubarkeit von Geschehen bestenfalls markieren, nicht aber reduzieren lässt – oder, um mit Friedrich Kittler zu sprechen: Diese Dokumente verbleiben »im Rauschen des Realen«.7 Der Schritt zur Dokumentation, die durch Anordnung, Formatvorgaben und Gattungskonventionen das Dokument in einen ästhetischen Kontext überführt, ist damit nicht getan.

6

Vgl. Winston, Brian: »Honest, Straightforward Re-enactment: The Staging of Reality«, in: Kees Bakker (Hg.), Joris Ivens and the documentary context, Amsterdam: Amsterdam University Press 1999, S. 160ff.

7

Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann und Bose 1986, S. 26.

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Es ist eher die Ausnahme, wenn sich ein Dokumentarfilmteam zur rechten Zeit am rechten Ort befindet, im Zentrum eines kontingenten Geschehens, so wie die beiden französischen Dokumentarfilmer Jules und Gedeon Naudet, die eigentlich nur einen Film über das New Yorker FireDepartment drehen wollten und ganz arglos in die Löschfahrzeuge stiegen, als die Feuerwehr am 11. September 2001 zum World Trade Center gerufen wurde (und die dann aus der Lobby heraus filmten, wie der Turm einstürzte, in dem sie sich gerade befanden).8 Eher die Regel ist es, dass man im Nachhinein den Ort des Geschehens aufsucht, oder vergeblich auf ein Sich-Ereignen hofft, so wie Werner Herzog in La Soufrière, der mit seinem Team im Jahr 1977 den gleichnamigen Vulkan bestieg und vergeblich auf den prognostizierten Ausbruch wartete.9 Das Dilemma (und damit zugleich die Unvermeidlichkeit filmischer Reenactments) besteht eben darin, dass Ereignisse – wie gesagt – nur dann einen dokumentarischen Wert haben, wenn ihre Dokumentation eher unwahrscheinlich ist, sie zum anderen aber ihren ereignishaften Charakter nur dann entfalten können, wenn es Bilder von ihnen gibt, sie sich also massenmedial kommunizieren lassen. Das ist zunächst sicherlich nicht mehr als eine mediale Binsenweisheit, aber immerhin eine, von der man schon im Jahr 1898 wusste. In dem Jahr ereignete sich im Hafen von Havanna auf dem amerikanischen Kriegsschiff USS Maine eine Explosion, die schließlich zum Auslöser (oder Vorwand) für den Spanisch-Amerikanischen Krieg wurde. Damit aber solch ein Ereignis zum Vorwand für einen Krieg werden konnte, an dessen Durchführung Amerika offensichtlich großes Interesse hatte, brauchte es Bilder, die das Ereignis manifestierten und kommunikabel machten. Die Yellow-Press war sehr darum bemüht, diese Lücke zu schließen, aber eben erstmals auch amerikanischen Kinematographenbetreiber, Filmverleiher und Produzenten. Kurz nach der Explosion jedenfalls beorderte die amerikanische Produktionsgesellschaft Biograph eine Reihe Ka-

8

New York: 11 Septembre (USA/Fr. 2002, R: James Hanlon, Rob Klug, Gédéon Naudet, Jules Naudet).

9

La Soufrière– Warten auf eineunausweichliche Katastrophe (D 1977, R: Werner Herzog).

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meramänner nach Kuba, die Filmaufnahmen von dem Wrack nach Hause schicken sollten.10 Die meisten Aufnahmen von dem Spanisch-Amerikanischen-Krieg wurden allerdings nicht vor Ort, sondern in New Jersey gedreht, als Reenactments.11 So z.B. die Invasion Kubas im Juni 1898, von der nur wenig später ein Single-Shot-Film in den Kinematographen-Programmen lief. Oder die Seeschlacht vor Santiago de Cuba, die man in einem New Yorker Büro drehte. Von den Filmen sind nur die wenigsten erhalten, aber von der gerade erwähnten Seeschlacht gibt es glücklicher Weise eine ausführliche Beschreibung der Produktionsverhältnisse, die Stuart J. Blackton verfasste, der Produzenten des Films und zugleich Inhaber der Produktionsgesellschaft Vitagraph: »At this time vendors in New York were selling large sturdy photographs of ships of the American and Spanish fleets. We bought a set of each and cut out the battleships. On a table, topside down, we placed one of Blackton’s large canvas covered frames and filled it with water an inch deep. In order to stand the cutouts of the ships in the water, we nailed them to lengths of wood about an inch square. In this way a little ›shelf‹ was provided behind each ship, and on this shelf we placed pinches of gunpowder – three pinches for each ship – not too many, we felt for a major sea engagement of this sort. For a background, Blackton daubed a few white clouds on a blue-tinted cardboard. To each of the ships, now sitting placidly in our shallow ›Bay‹, we attached a fine thread to enable us to pull the ships past the camera at the proper moment and in the correct order. […] A piece of cotton was dipped in alcohol and attached to a wire slender enough to escape the eye of the camera. Blackton, concealed behind the side of the table farthermost from the camera, touched off the mounds of gunpowder with his wire taper – and the battle was on.«12

The Battle of Santiago Bay soll nicht mehr als zwei Dollar gekostet haben, und trotzdem mehrere Wochen lang in verschiedenen New Yorker Filmthe-

10 Vgl. Musser, Charles: The Emergence of Cinema: The American Screen to 1907. History of the American Cinema I, New York: Charles Scribner's Sons 1990, S. 226. 11 Mould, David H.: American Newsfilm 1914-1919. The Underexposed War, New York/London: Garland Publishing 1983, S 10. 12 Ebd., S. 12f.

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atern zugleich vor einem begeisterten Publikum gelaufen sein. Die Produktionsverhältnisse mögen lächerlich klingen, aber wenn man genauer hinschaut, wird auch klar, dass die Verhältnisse des aktuellen Fernsehalltags keine signifikant anderen sind. Was wiederum auch verdeutlicht, dass es (zumindest bei diesem Reenactment aus dem Jahr 1898) in keiner Weise um Kategorien wie historische oder referentielle Authentizität ging. Das Einzige, was das Publikum erwartete, war, dass die Information der Filmhandlung sich anschlussfähig an die Informationen aus anderen Medien zeigte. Damit war die Darstellung schon hinreichend plausibilisiert. Eigentlich ging es zunächst wohl um nicht mehr als um die filmische Visualisierung des Ereignisses. So gesehen könnte man das Reenactment der Seeschlacht vor Santiago de Cuba auch als Illustration bekannter Informationen bezeichnen – und das ist bemerkenswerter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn mit der Illustration als etabliertes Darstellungsformat der Tagespresse und der illustrierten Zeitschriften haben wir einen Gegenstand, der sich vergleichen lässt, vor allem im Hinblick auf die mediale Differenzerfahrung, die der historische Betrachter seinerzeit mit Illustrationen verbinden konnte. Die Illustration wurde bekanntlich seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts sukzessive durch die Fotografie ersetzt. Nur dass die Fotografie, also das originale Bilddokument, gegenüber der Illustration zunächst vor allem als ästhetisch defizitäre Darstellungsform wahrgenommen wurde. Im Vergleich zur Fotografie waren Illustrationen bis dahin weitaus ausdrucksstärker, dramatischer, phantasievoller. Die Authentizität des Bilddokuments zeichnete sich dementsprechend primär ästhetisch aus, und zwar als Mangel an bildrhetorischer Ausdruckskraft: Fotografien waren eindeutig distanzierter, zeigten weniger emotionale Eigenschaften und waren im Verhältnis zu Illustrationen ungefähr so aufregend wie die Originalaufnahmen des Wracks der USS Maine zu den Bildern der Seeschlacht vor Santiago de Cuba. 13 Und andersherum: Die Reenactments der ersten Filmjahre verhielten sich von ihrer ästhetischen Konzeption bezüglich Dramatisierung und Emotionalisierung zu Filmaufnahmen vor Ort wie Illustrationen im Verhältnis zu Fotografien. Es scheint auch eher die Vertrautheit mit dieser

13 Vgl. Lenk, Sabine: »Der Aktualitätenfilm vor dem Ersten Weltkrieg in Frankreich«, in: KINtop 6: Aktualitäten, Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1997, S. 51.

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medialen Differenz zu sein (nicht die Naivität des Publikums), die dazu geführt hat, dass man in den ersten Jahren das Film-Reenactment als filmische Illustration kritiklos akzeptierte.14

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Die klassische Periode des Reenactments findet allerdings erst zwei Dekaden später statt und fällt mit der Einführung des Tonfilms zusammen, was primär mit der Immobilität der seinerzeit noch äußerst sperrigen Tonfilmapparatur zu tun hatte. Filme wie Misère au Borinage wurden zwar im belgischen Kohlerevier, also vor Ort gedreht, das aber nur, weil man – - in den 30er Jahren nicht ungewöhnlich – auf Originalton verzichtete. Hätte man vor Ort mit Ton drehen wollen, hätte man einen logistischen und technischen Aufwand wie bei einem konventionellen Fictionfilm betreiben müssen. Aus pragmatischen Gründen verzichtete man also entweder auf Originalton (und ließ die Filme nachsynchronisieren), oder aber auf vor Ort gedrehtes Filmmaterial. Tatsächlich entschied man sich nicht selten für die zweite Variante, so dass in den 30er und 40er Jahren nicht wenige Dokumentarfilme gleich in den Studios als Reenactments entstanden, was wiederum zu der Frage führt, inwieweit sich diese dokumentarischen Reenact-

14 Natürlich gab es auch seinerzeit Reenactments, die sich als solche zu erkennen gaben. Im Jahr 1902 z.B. bemühte sich Georges Méliès für seinen Film Le couronnement du roi Edouard VII um eine authentische Rekonstruktion der Krönung Edward VII.: »every detail as to Costumes, Robes, Regalia, Coronation Chairs, Chairs of States, Abbey Arrangements &c., being as faithfully reproduced as possible in order to convey the scene to the millions who are not privileged to witness the actual proceedings«, notiert die Warwick Trading Co. in ihrer Anzeige des Krönungsfilms [zitiert nach S. Lenk: »Der Aktualitätenfilm vor dem Ersten Weltkrieg in Frankreich«, in: KINtop 6, 1997, S. 53]. Auch der im November 1901 von Edwin S. Porter und George S. Fleming gedrehte Film Execution of Czolgosz wird im Katalog der Produktionsgesellschaft mit vergleichbarem Versprechen angekündigt: »A detailed reproduction of the execution of the assassin of President McKinley faithfully carried out from the description of an eyewitness.« [zitiert nach Michael Punt: »Die Panorama-Ansichten in Execution of Czolgosz«, in: KINtop 6, 1997, S. 89].

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ments von den fiktionalen Studiofilmen der Zeit unterschieden? Oder anders gefragt: Welche ästhetischen Differenzsignale wurden gesetzt, um dem Publikum die konstitutive Unterscheidung von Reenactment und Fictionfilm zu ermöglichen? Der Filmwissenschaftler Brian Winston weist diesbezüglich darauf hin, dass in den 30er und 40er Jahren in den britischen Filmstudios nicht nur zahlreiche Dokumentarfilme entstanden, sondern komplementär dazu auch Fictionfilme, die das gleiche Sujet behandelten15 – was den direkten Vergleich naheliegend erscheinen lässt. Nimmt man zum Beispiel den Klassiker Fires were started16 von Humphrey Jennings aus dem Jahr 1943, indem es um die aufopfernden Einsätze der Feuerwehrleute in den Londoner Docks während der deutschen Luftangriffe aus dem Jahr 1941 geht, dann findet man komplementär dazu den Film The Bells go down17 von Basil Dearden aus dem gleichen Jahr, der das gleichen Sujet behandelt: die Einsätze der Feuerwehrleute in den Londoner Docks während der deutschen Luftangriffe – nur mit dem Unterschied, dass der erste Film ein Reenactment ist und der zweite ein klassischer Fictionfilm mit James Mason als Star. Beide Filme spielen, wie gesagt, in den Londoner Docks. In beiden Filmen gibt es eine Stellvertreterfigur für den Zuschauer, den Neuling, mit dem zusammen in die Abläufe der Feuerstation eingeführt wird. Beide Filme finden ihren Höhepunkt in Löscharbeiten in einer Nacht, wobei es jedes Mal um die Rettung eines Lagerhauses geht und in beiden Fällen mindestens einer der Feuerwehrmänner in den Flammen umkommt. Natürlich gibt es bezüglich der Grundanlage beider Filme auch markante Unterscheide, die von Brian Winston entsprechend beschrieben werden: »Compared to [The Bells go down], Fires were started offers only one plot line and one fire; and we learn very little of the firemen's backgrounds. Jennings’ actors exist only in the civil sphere; their personal lives are unexamined. There are, thus, elements in The Bells go down which have no place in Fires were started–they are not, therefore, pertinent to the documentary essence. They include personal relationships

15 Vgl. B. Winston: »Honest, Straightforward Re-enactment: The Staging of Reality«. 16 Fires were started (UK 1943, R: Humphrey Jennings) 17 The Bells go down (UK 1943, R: Basil Dearden)

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of all kinds, including romantic entanglements (still an area largely untouched by the observational documentary mainstream, even in its most popular docu-soap form). So, in defiance of a documentary’s normal tone as [...] a discourse of sobriety, the fiction film goes in for comic relief. [...] [Beyond that], there is far more specialized language in the documentary. Hoses are ›branches‹; the area the fire station is responsible for is its ›ground‹, and so on. There are more references to detailed procedures such as emergency water supplies or trivial facts such as hatchet handles being painted different colours according to the owner’s rank in the service. [...It] is this patina of detail which nevertheless, gives Fires were started its documentary value.«18

Trotz dieser deutlichen Unterschiede in der Makrostruktur lohnt durchaus ein zweiter Blick auf vergleichbare Sequenzen, also eine genauere Analyse, mithilfe derer versucht wird, die ästhetischen Differenzen beider Darstellungsmodi präziser zu fassen. Zu dieser Analyse eignet sich eine nicht ganz so spektakuläre Sequenz, die zeigt, wie die Feuerwehrleute sich auf die Nacht vorbereiten, wie sie im Aufenthaltsraum auf ihre Einsätze warten und sich ihre Zeit damit vertreiben, Billard zu spielen. In beiden Filmen ist die Sequenz in die Spannungsdramaturgie als hinführendes Element eingebettet. Auch hier bestätigt sich zunächst einmal das Offensichtliche: Im Fictionfilm wird mit Hilfe der Dialoge die Innenperspektive der Figuren expliziert, während das Reenactment sich diese Perspektive versagt, sozusagen von außen auf die Figuren schaut. Dieser Eindruck wird durch den Erzählrhythmus verstärkt, insofern es im Fictionfilm eine unmittelbare Abfolge von Fliegeralarm, Bombeneinschlägen und Feueralarm gibt, wohingegen sich das Reenactment diesbezüglich deutlich mehr Zeit lässt: Der Fliegeralarm geht der Sequenz voran, die ersten Bombeneinschläge werden erst später zu hören sein. Die geringere Handlungsdichte korrespondiert allerdings mit einem größeren Detailreichtum: Die Figuren spielen nicht nur Billard, sondern Darrt und Tischtennis, trinken Bier, setzen die Verdunkelung vor die Fenster usw. Natürlich gibt es unübersehbar auch Unterschiede bezüglich der Besetzung, die im Reenactment, anders als im Fictionfilm, keine so deutliche

18 B. Winston: »Honest, Straightforward Re-enactment: The Staging of Reality«, S. 167f.

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Typisierung aufweist, das Reenactment also die ›markanteren Gesichter‹ aufweisen kann, was aber schon dadurch zu erklären ist, dass hier tatsächlich mit ehemaligen Feuerwehrleuten und nicht mit Schauspielern gearbeitet wird. Schaut man darüber hinaus aber noch einmal auf die Struktur der Sequenzen, die Kamerainszenierung und den Schnittrhythmus, gibt es einen weiteren, diesmal nicht ganz so offensichtlichen Befund: Obwohl man bei geringerer Handlungsdichte der Reenactment-Sequenz eigentlich von vergleichsweise längeren Einstellungen ausgehen könnte, beträgt die durchschnittliche Einstellungslänge der Sequenz im Fictionfilm ca. 9 Sekunden, die durchschnittliche Einstellungslänge im Reenactment allerdings nur ca. 4 Sekunden. Das ist nicht notwendig ein signifikanter Befund, insofern die Inszenierung im Fictionfilm natürlich auf die Mise-en-scène ausgerichtet ist, die Dialoge nicht im Schuss-Gegenschuss-Verfahren aufgelöst sind, es dafür aber Schwenks und Kamerafahrten gibt. Trotzdem scheint mir mit diesem Befund zumindest ein Irrtum ausgeschlossen werden zu können, nämlich der, dass die basale Differenz von Reenactment und Fictionfilm darin läge, dass in der dokumentarischen Variante einfach nur weniger geschehen würde. Das stimmt im Hinblick auf Erzählrhythmus und Handlungsdichte, nicht aber im Hinblick auf die Inszenierung, die im Reenactment einen zumindest gleichwertigen Elaborierungsgrad aufweisen kann: Bei geringerer Handlungsdichte findet sich eine erhöhte Schnittfrequenz, die feinere filmische Auflösung, die der Szene einen formalen Rhythmus verleiht und damit den fehlenden Rhythmus der Handlung kompensiert. Schlussfolgernd könnte man sagen, dass in den 30er und 40er Jahren das Reenactment als Verfahren im Dokumentarfilm eine ganz und gar eigenständige ästhetische Form abseits aller wie auch immer gedachten Realitätsbezüge ausbildet, die sich als ästhetische Differenz gegenüber den Formen des Fictionfilms zu erkennen gibt und als solche auch vom einem zeitgenössischem Kinogänger erkannt wird. Beim Reenactment haben wir es also formal mit einer ästhetischen Distinktionsgeste zu tun, die in zwei Richtungen weist: zum einen – wie gerade gesehen – in Richtung des Fictionfilms, zum anderen – wie am Beispiel der Aktualitäten gezeigt – auch in Richtung der reinen dokumentarischen Aufnahme, dem authentischen Footage, das zwar unbezweifelbar echt, dafür aber dramaturgisch und bildrhetorisch unterbelichtet war. Das filmische

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Reenactment behauptet demzufolge eine selbstständige dokumentarische Form, ein dokumentarisches Narrativ, das seinen dokumentarischen Wert nicht aufgrund irgendeiner Produktionslogik oder irgendwelcher Entstehungsbedingungen erlangt, sondern als eigenständige Darstellungsform, die offensichtlich eine ganz besondere Art der Rezeption ermöglicht: Es ist eben nicht einfach nur Fiktion, aber auch kein bloßes Dokument.

M ISÈRE

AU

B ORINAGE

Kommen wir noch einmal auf das eingangs genannte Beispiel von Joris Ivens zurück, das Reenactment der marxistisch gedeuteten Bildprozession aus Misère au Borinage. Auch wenn das Filmbeispiel Ausgangspunkt der bisherigen Überlegungen war, nimmt es im Kreis der genannten Beispiele eine Sonderstellung ein – allein schon deshalb, weil es sich bei dem Film ausnahmslos um vor Ort gedrehtes Material handelt, die Reenactments also in Belgien entstehen und das Personal der Szenen auch am Ursprungsereignis schon maßgeblich beteiligt war. Um die ganze Sache noch zu erschweren, macht der Film keinerlei Anstalten, die unterschiedliche Entstehung des Materials transparent zu gestalten, also Reenactment und nicht inszeniertes Material ästhetisch voneinander zu trennen. Die Bildprozession selbst besteht dabei lediglich aus sieben unspektakulären Einstellungen, die kaum etwas von der Dramatik der Ereignisse erahnen lassen. Allein der Umstand, dass die Ordnungshüter auf dem Fahrrad angeradelt kommen, um die spontane Demonstration aufzulösen, entschärft jede dramaturgische Zuspitzung. In gewisser Hinsicht weist diese Sequenz damit alle Eigenschaften eines kontingent entstandenen Materials auf, vor allem in Hinblick auf die Tatsache, dass die Einstellungen erklärungsbedürftig bleiben und ihre Anordnung keine eindeutig zu lesende Narration erkennen lässt. Genau das aber hätte man von einem Reenactment erwarten dürfen. Eigentlich müsste man im Hinblick auf die bisherige Argumentation konstatieren, dass es sich aus ästhetischer Perspektive hierbei gar nicht um ein Reenactment handelt. Tatsächlich ist es in Misère au Borinage äußerst schwierig, klare Unterscheidungen zu treffen: Die inszenierte und die nicht inszenierte Demonstration jedenfalls unterschieden sich weder im Hinblick auf den Ort, noch im Hinblick auf die Zeit. Ereignis und Reenactment finden beide im glei-

R EENACTMENT

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chen historisch-sozialen und topographischen Bedeutungsraum statt – es gibt keine Verschiebung, keine erkennbare Differenz. Diese wird eigentlich erst durch die Anekdote behauptet, also durch den kolportierten Entstehungsbericht, dort aber auch nur, um diese Differenz mit der Pointe gleich wieder aufzulösen. Eine Verschiebung findet allerdings auf einer ganz anderen Ebene statt, nämlich in dem Sinne, dass wir in der Sequenz nicht nur eine Demonstration, sondern mit der Demonstration zugleich auch das ›Nachleben‹ einer kultischen Bildprozession vorgeführt bekommen – wobei der Terminus ›Nachleben‹ durchaus im warburg’schen Sinne verstanden werden soll: Warburg hatte sich bekanntlich mit der Wanderungen von Symbolen und Pathosformeln durch die Bildgeschichte beschäftigt und war mit dem ›Nachleben‹ auf eine Form der Wiederholung gestoßen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Ausdrucksbewegungen auch in Bedeutungsgefügen wieder auftauchen können, die mit dem ursprünglich intendierten nichts mehr zu tun hat – Warburg spricht in diesem Zusammenhang von einer »gegenstrebige[n] Verwirklichung«19 Was bleibt ist die Pathosformel, die wie ein Symptom an die Oberfläche dringt, ohne dabei den Bedeutungskontext seiner Entstehung zu vermitteln. Man könnte also im Hinblick auf das Filmbeispiel sagen, dass mit der marxistischen Bildprozession zunächst einmal ein soziales Ereignis (nämlich die Demonstration) wiederholt wird, zugleich aber auch die kultische Praxis der Bildprozession eine gegenstrebige Verwirklichung erfährt. Sie wiederholt sich ja als bloße Formel, und nicht als kultische Praxis. Diese Verschiebung ist signifikant. Zugespitzt könnte man sagen: Was hier eigentlich reenacted wird, ist nicht die Demonstration, die Ivens verpasst hatte, sondern die in diesem Ort tradierte religiöse Praxis, ein Bild als Monstranz durch die Stadt zu tragen. Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass das Warburgsche Konzept vom Nachleben der Pathosformeln einem gleich zwischen den Fingern zerrinnen würde, wollte man es auf die Problemkonstellation des Reenactments anzuwenden suchen. Mir ist zudem klar, dass das Beispiel aus Misère au Borinage aus den oben genannten Gründen sich nur sehr bedingt dazu

19 Vgl. Didi-Huberman, Georges: »Dialektik des Monstrums«, in: Barbara Naumann/Edgar Pankow (Hg.), Bilder-Denken. Bildlichkeit und Argumentation, München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 209.

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eignet, allgemeingültige Aussagen zu treffen. Das Beispiel weist andererseits aber gerade durch seine bemerkenswerte Konstellation auch darauf hin, dass es wenig sinnvoll erscheint, sich (1) bei der Analyse filmischer Reenactments nur auf den medienspezifischen Kontext zu beschränken, und (2) das Reenactment nur unter dem Aspekt der Wiederholung zu betrachten, wo seine eigentliche Qualität doch in der Verwirklichung signifikanter Verschiebungen bestehen könnte. In der Hinsicht könnte Warburg für weitere Forschungen tatsächlich wegweisend sein, insofern man versuchen könnte, das Reenactment in einem weiter gefassten soziokulturellen Kontext als »soziales Erinnerungsorgan« 20 zu verstehen, das sich nicht durch bloße Wiederholung auszeichnet, sondern durch ein komplexes Verhältnis von Ereignis, Erinnerung und symptomatischem Erscheinen.

L ITERATUR Fires were started (UK 1943, R: Humphrey Jennings) La Soufrière – Warten auf eine unausweichliche Katastrophe (D 1977, R: Werner Herzog). Misère au Borinage (BE 1933, R: Henri Storck, Joris Ivens) New York: 11 Septembre (USA/FR 2002, R: James Hanlon, Rob Klug, Gédéon Naudet, Jules Naudet). The Bells go down (UK 1943, R: Basil Dearden) Didi-Huberman, Georges: »Dialektik des Monstrums«, in: Barbara Naumann/Edgar Pankow (Hg.), Bilder-Denken. Bildlichkeit und Argumentation, München: Wilhelm Fink Verlag 2004. Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992. Ivens, Joris: Die Kamera und ich. Autobiographie eines Filmers, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1974. Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann und Bose 1986.

20 Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992, S. 326.

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Lenk, Sabine: »Der Aktualitätenfilm vor dem Ersten Weltkrieg in Frankreich«, in: KINtop 6: Aktualitäten, Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1997. Lipkin, Steven N./Paget, Derek/Roscoe, Jane: »Docudrama and MockDocumentary: Defining Terms, Proposing Canons«, in: Gary D. Rhodes/John Parris Springer (Hg.), Docufictions. Essays on the Intersection of Documentary and Fictional Filmmaking, Jefferson: McFarland 2006. Mould, David H.: American Newsfilm 1914-1919. The Underexposed War, New York/London: Garland Publishing 1983. Musser, Charles: The Emergence of Cinema: The American Screen to 1907. History of the American Cinema I, New York: Charles Scribner's Sons 1990. Punt, Michael: »Die Panorama-Ansichten in Execution of Czolgosz. EineNeubetrachtung«, in: KINtop 6: Aktualitäten, Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1997. Winston, Brian: »Honest, Straightforward Re-enactment: The Staging of Reality«, in: Kees Bakker (Hg.), Joris Ivens and the documentary context, Amsterdam: Amsterdam Univ. Press 1999.

Revision und Reenactment In the King of Prussia (1983) S TEFANIE D IEKMANN

D ER F ALL Der Angeklagte (John Schuchardt): Members of the jury, the government has presented thirteen witnesses that have testified that they don’t know what these exhibits are. In our defense we will be calling eight expert witnesses who will testify particularly as to the fact that these are thermonuclear warheads. Der Staatsanwalt: Objection, your honor. Der Angeklagte: Robert Aldridge […] Der Staatsanwalt: Objection, your honor. Der Angeklagte: […] an engineer with Lockheed for 16 years will specify that these are first-strike nuclear weapons […] Der Staatsanwalt: Objection, your honor. Der Angeklagte: […] capable of 25 or 30 times the destructive capacity of Hiroshima. Der Staatsanwalt: Objection, your honor. Der Richter: Objection sustained. Will you outline your defense, Mr. Schuchardt? Not what your expert witnesses have to show. We just want to know what your defense is. Der Angeklagte: What is the difference? Der Richter: The difference is that nuclear warfare is not on trial here. You are. 1

1

In the King of Prussia (USA 1983, R: Emile de Antonio), DVD, Minute 43-44.

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Der Fall ist ziemlich einfach, der Fall ist ziemlich kompliziert. Einfach, weil es sich bei der Strafsache, die im Februar 1981 im Montgomery County Court vor den Richter Samuel W. Salus II gebracht wird, juristisch um eine klare Angelegenheit handelt. Kompliziert, weil bei aller Einfachheit der Strafsache keineswegs Einigkeit darüber herrscht, was hier eigentlich zur Verhandlung steht, gegen wen Anklage zu erheben wäre und wie unter solchen Umständen ein angemessener Verlauf des Verfahrens auszusehen hätte. Die Parteien werden sich darüber auch nicht einig. Nicht 1981, während des Verfahrens, und auch danach eine ganze Weile nicht, weshalb der Fall, der eine einfache Strafsache ist, so bald zu keinem Abschluss gebracht werden kann. Aber noch als einige Jahre später etwas wie ein Abschluss hergestellt wird, eignet diesem etwas auffallend Vorbehaltliches: eine Ambivalenz, in der die latente Gewaltsamkeit der Schließung ebenso sichtbar wird wie die Perspektive, sie zu negieren und den Fall offen zu halten, indem wiederholt wird, was sich nach dem Willen des Gerichts auf keinen Fall mehr wiederholen soll.

D ER

SUSPENDIERTE

ABSCHLUSS

Ich beginne mit dem Abschluss des Falls, so wie er in einer Notiz der New York Times vom 10. April 1990 kommentiert worden ist: »Norristown, Pa., April 10 – In a case that seems to bridge the years between the antiwar turmoil of the 1960's and the current easing of the cold war, eight peace advocates were sentenced today for a 1980 protest in which they poured their blood on blueprints at a nuclear weapons plant. The sentencing was the latest, although perhaps not the last, chapter in the case of the group that calls itself the Plowshares Eight, after the reference in the Bible to the beating of swords into plowshares.«2

»The latest, although perhaps not the last«. Was sich in dieser Wendung wie nebenbei ausbuchstabiert findet, ist ein Vorbehalt, der die ganze Meldung relativiert und stattdessen andeutet, dass sich etwas über den Abschluss hinaus fortsetzen oder wiederholen könnte, vielleicht schon bald,

2

DeCourcy Hinds, Michael: »Eight Sentenced In 1980 Protest At Nuclear Unit«, in: The New York Times vom 11. April 1990.

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und wer weiß zum wievielten Mal. Wie wahrscheinlich dies ist, wie sehr oder wie wenig mit einer Fortsetzung gerechnet werden muss, wird in der Notiz nicht weiter ausgeführt; aber wer immer in diesem Fall ein Ende setzt und über Schließung, Einstellung oder Wiederholung verfügt: Die Gerichte von Pennsylvania sind es nicht unbedingt. Dabei kann man sagen, dass sie diesbezüglich einige Anstrengungen unternommen haben. Allen voran jener Richter Samuel W. Salus II, vor dem im Februar 1981 über eine Protestaktion im September 1980 verhandelt wird, und der am Ende der Verhandlung eine Gruppe katholischer Friedenaktivisten mit dem Namen »The Plowshares Eight« wegen Einbruchs, Verschwörung und der Zerstörung privaten Eigentums zu drei bis zehn Jahren bzw. eineinhalb bis fünf Jahren Haft verurteilt. Gegen dieses Urteil des Richters Salus beantragen die Plowshares Revision; der Pennsylvania Superior Court hebt es im Februar 1984 auf. Darauf erfolgt eine Berufung gegen das Urteil des Superior Court durch den Staat Pennsylvania, dem der Pennsylvania Supreme Court im Herbst 1985 teilweise recht gibt; darauf eine Rückverweisung des Falls an das Superior Court Appeals Panel; darauf weitere Anträge, weitere Abweisungen, ein Hin und Her, das sich nur auf den ersten Blick als eine Serie von gegensätzlichen Urteilen darstellt und auf den zweiten als etwas anderes: eine Serie gescheiterter Bemühungen um Prüfung und Revision eines Verfahrens, mit dessen Verlauf einige der Beteiligten nicht einverstanden sind. Was sie stattdessen bekommen, ist das zweite Urteil vom April 1990 und die sehr viel moderateren Strafen, die allesamt auf Bewährung ausgesetzt werden.3 Sie wollten eine Revision, es hat keine Revision gegeben. Nicht vor Gericht jedenfalls, wo die Macht der Setzung und Schließung vielmehr deutlich und geradezu seriell demonstriert wird. Die relative Milde des zweiten Urteils ändert daran nicht viel, und so könnte man den Fall als erledigt betrachten, wäre in der Notiz der New York Times nicht auch ein Verweis darauf enthalten, wie die Angeklagten dem Urteilsspruch respondieren.

3

Zur Geschichte und Nachgeschichte des Prozesses vgl. die Website der Plowshares Disarmament Movement; http://www.craftech.com/~dcpledge/brandywine/plow/Chronology.html vom 10. Mai 2011.

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»The defendants were told today that they would have to serve 23 months in county jail if they are convicted of any more antiwar activity in the next 23 months, a condition that the defendants said they might not be able to fulfill.«4

»They might not«. Im Spektrum berühmt gewordener Negationsformeln von ›I would prefer not to‹ bis ›Say No To War‹ gehört diese eher in die Kategorie der zurückhaltenden Unverbindlichkeit. Sie könnten, sie könnten nicht; kann sein, dass, aber damit ist noch nichts Eindeutiges gesagt … – Die Plowshares haben sich mit ihrer Stellungnahme nicht festgelegt, doch lässt sich ohne Weiteres feststellen, dass die Auflage, »es nicht wieder zu tun«, mit Blick auf die Geschichte dieser Aktivisten nur als sehr optimistisch bezeichnet werden kann.

D IE W IEDERHOLUNGSTÄTER Tatsächlich haben sie es ›wieder getan‹ (wenngleich nicht über einen so langen Zeitraum hinweg und unter so großer Beteiligung wie manche andere Vertreter aus dem großen Spektrum US-amerikanischer ReenactmentBewegungen)5. Auf der Website der Plowshares findet sich, unter dem Titel The Plowshares Disarmament Chronology 1980-2003, eine Übersicht von antimilitaristischen Aktivitäten. Diese listet über siebzig Interventionen für den dokumentierten Zeitraum von 1980 bis 2003, etwa vierzig allein für die Jahre von 1980 bis 1990 (die letzte davon nicht einmal eine Woche vor dem zweiten Urteil des Montgomery County Court)6, und wie sich aus der Beschreibung der Interventionen erkennen lässt, folgen die meisten davon einem erkennbaren Muster. Wenn es als erstes Kennzeichen der Plowshares gelten kann, dass sie seit ihrem ersten Auftritt 1980 in einer Fertigungsstätte von General Electrics in einer Stadt mit dem seltsamen Namen King of Prussia immer wieder

4

M. DeCourcy Hinds: »Eight Sentenced In 1980 Protest At Nuclear Unit«.

5

Zur longue durée des Reenactments vgl. Jones, Gordon L.: ›Gut history‹: Civil War Reenacting and the Making of an American Past, Atlanta, GE: Emory University 2007.

6

http://www.craftech.com/~dcpledge/brandywine/plow/Chronology.html vom 10. Mai 2011.

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und immer öfter, in wechselnden Formationen, aber mit gleich bleibender Hartnäckigkeit tätig geworden sind, so wäre das zweite Kennzeichen, dass die Interventionen, die seit dem Vorfall in King of Prussia stattgefunden haben, der allerersten hinsichtlich der strafbaren Handlungen (unerlaubtes Betreten einer Fertigungs- oder Lagerungsstätte, symbolische und reale Zerstörungsakte), des Ablaufs (Attacken gegen Rüstungsgüter, Ausschüttung von Blut, gemeinsames Friedensgebet, Gesang, Festsetzung durch den Sicherheitsdienst, Verhaftung durch die Polizei) sowie der verwendeten Objekte und Substanzen (Hämmer, Phiolen mit Eigenblut) auffallend ähnlich sind.7 Dies ist eine Geschichte von Wiederholungstätern, auch: eine Geschichte von Reenactments, die diesmal nicht durch einen fest stehenden Ort und ein fest stehendes Datum definiert sind, sondern vor allem durch den insistenten Rekurs auf das Protokoll jener Aktion, von der die Plowshares ihre Geschichte her schreiben, und die in ihrer Chronik als mythischer Anfang und zugleich als Blaupause (fast) aller weiteren Aktionen figuriert. Sie haben ihr Skript,8 sie haben ihre Gründe; eine gewisse Übung haben sie inzwischen auch, gerade was den Umgang mit Festsetzungen und Verurteilungen angeht; die Verfolgung gehört gewissermaßen zum Skript, und es ist nicht einzusehen, warum man deshalb auf ein weiteres Reenactment verzichten sollte. »Die Angeklagten haben erklärt, dass es ihnen vielleicht nicht möglich sein wird, die Auflage des Gerichts zu erfüllen.«

7

Grundmuster einer Intervention: »Pushing aside the lone guard at the door of the building identified only as ›Re-Entry Systems Division Operational Manufacturing Center‹ the activists […] ran to the room where the nose cones [dt. Bugkonus, Konusverkleidung; sd] for the Mark 12 A were tested, pulled hammers from beneath their coats, and struck the protective shell of the unarmed missiles. They poured vials of their own blood across secret documents and ripped blueprints to shreds; then the eight chanted prayers and waited for the police to arrest them.« Lewis, Randolph: Emile de Antonio. Radical Filmmaker in Cold War America, Madison, WI: University of Wisconsin Press 2000, S. 212.

8

»We had rehearsed everything carefully«, sagt die Aktivistin Molly Rush während eines anderen Reenactments zu Beginn des Films In the King of Prussia (USA 1983), als de Antonios Filmteam und einige der Plowshares die Fahrt zur Fertigungsstätte von GE und den Gang über den Parkplatz zum Eingang der Fertigungsstätte wiederholen.

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So betrachtet, stellt sich der einfache, komplizierte Fall als eine Kontroverse dar, die zwei verschiedene Modelle der Wiederaufnahme und zwei konfligierende Ordnungen involviert. Auf der einen Seite ein weltliches Recht (konkret: das US-amerikanische Strafrecht), nach dem die Plowshares für ihre Aktion verurteilt werden und verurteilt bleiben, auch wenn sie, als eine Option dieses Rechts, die Möglichkeit der Revision einfordern. Auf der anderen ein göttliches Gebot, das die imitatio Christi einfordert und bisweilen weitere Spielarten der imitatio in Gang zu setzen vermag, darunter das wiederholte Enactment einer alttestamentarischen Formel (»Schwerter zu Pflugscharen«9), deren Mise-en-scène von den Aktivisten über ein Vierteljahrhundert hinweg nur sehr geringfügig variiert worden ist.10 Es ist das Ausbleiben der Revision, das aus der Sicht der Plowshares die Differenz zwischen den beiden Ordnungen markiert. Und es sind die Reenactments, in denen diese Differenz memoriert wird, indem man ein um das andere Mal gegen weltliches Recht und im Sinne des göttlichen Gebotes handelt. Was letztlich bedeutet, dass die Reenactments der Intervention vom September 1980 als ein performatives Postulat zu betrachten sind, weltliche und göttliche Ordnung doch noch zur Deckung kommen zu lassen.

D ER F ILM In Emile de Antonios Film In the King of Prussia (1983) finden sich keine Aufzeichnungen der vielen Interventionen aus der späteren Geschichte der

9

Jesaja, 2.4: »And he shall judge among the nations, and shall rebuke many people: and they shall beat their swords into plowshares and their spears into pruninghooks: nation shall not lift up sword against nation, neither shall they learn war any more.« The Bible. Authorized King James Version, hg. v. Robert Carroll und Stephen Prickett, Oxford, New York: Oxford University Press 1997, S. 766.

10 Ein Verweis auf den Reenactment-Charakter christlicher Rituale und christlich motivierter, ritualisierter Handlungen findet sich bei John Brewer: »Reenactment and Neo-Realism«, in: Ian McCalman/Paul A. Pickering (Hg.), Historical Reenactment. From Realism to the Affective Turn, New York: Palgrave Macmillan 2010, S. 79-89, hier S. 79.

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Plowshares. Ebenso wenig enthält der Film Aufzeichnungen der mythischen Aktion vom September 1980 (der de Antonio nicht beigewohnt hat) oder Aufzeichnungen der folgenden Verhaftung und des Prozesses (den zu filmen de Antonio untersagt wurde)11. Was er stattdessen zeigt, außer einigen Außenaufnahmen aus dem Umfeld des Gerichtsgebäudes in Norristown und einigen weiteren vom Parkplatz und dem Firmengelände von General Electrics in King of Prussia, sind Aufzeichnungen eines Reenactments des Prozesses, das einige Monate später, im Juli 1981, in einem New Yorker Theatersaal in einer umgebauten Kirche stattfindet. In the King of Prussia ist mithin ein irreführender Titel, da von »in« mit Bezug auf die Stadt mit dem seltsamen Namen eigentlich keine Rede sein kann. Die hier agieren, filmen, repetieren, sind nicht »drin«, sie sind vielmehr, für die meiste Zeit des Films, konstitutiv und unverkennbar anderswo. Nicht in den Fabrikgebäuden von General Electrics, nicht im Gerichtssaal, auch nicht in King of Prussia oder Norristown, mithin: durchaus nicht an einem jener Orte, die gerne mit dem Begriff des »Originalschauplatzes« bezeichnet werden und für die Konzeption und Definition von Reenactments eine zentrale Rolle spielen.12 Kein Originalschauplatz, keine Originalbedingungen. In de Antonios Film über den Prozess gegen die Plowshares hat man sich anders eingerichtet und wenig Mühe darauf verwendet, die Brüche zwischen da und dort, zwischen zwei Orten, zwei Zeiten, zwei Szenerien zu kaschieren. Unter diesen Brüchen gehören die Temperaturunterschiede (minus 20 Grad im winterlichen Pennsylvania, das heißt: Anoraks, Atemwolken, Schneeschau-

11 Vgl. dazu Gallagher, Sharon: »On the Making of In The King of Prussia. An Interview with Emile de Antonio«, in: Douglas Kellner/Dan Streible (Hg.), Emile de Antonio. A Reader, Minneapolis, London: Univ. of Minnesota Press 2000, S. 309-314, hier S. 310. 12 Vgl. Arns, Inke: »Strategien des Reenactment«, in: Dies./Gabriele Horn (Hg.), History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt/Main: Revolver 2007, S. 38-63: »Als Reenactment betrachtet man ganz allgemein die historisch korrekte Nachstellung vergangener gesellschaftlich relevanter Ereignisse […]. Es handelt sich dabei um die ›bestmögliche, detailgetreue Wiedergabe einer Begebenheit in ihren Abläufen, historisch oder modern, möglichst am Originalschauplatz‹« (S. 38).

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feln, plus 40 Grad im sommerlichen New York, das heißt: kurze Ärmel, Schweißtropfen, Ventilatoren) zu den auffälligeren; ebenso verändert sich im Wechsel von Norristown nach New York die Zusammensetzung der dramatis personae; darüber hinaus hat de Antonio für die beiden Schauplätze unterschiedliches Filmmaterial verwendet: 35 mm für Pennsylvania, Video für New York (zum ersten Mal in seiner Filmkarriere; danach erklärt er, nie wieder mit einer Videoaufzeichnung arbeiten zu wollen)13. Dass die Brüche so wenig kaschiert sind, mag ein besonderes Kennzeichen dieses Films sein. Dass er sich zu dokumentarischen Zwecken an einem Reenactment versucht, ist hingegen keineswegs neu. Tatsächlich ist das Reenactment für den Dokumentarfilm ein altes Verfahren, bereits zu Zeiten von Méliès & Co. erprobt und seither immer wieder eingesetzt, auch und gerade unter Drehbedingungen, die sich in der Formel des »problem of access« (»Problem des Zugangs«) resümieren lassen.14 Wo man nicht reinkommt: in Gerichtsgebäude, Fabriken, Verhandlungszimmer etc., werden die entsprechenden Szenen nachgestellt;15 das gilt für einige der bekanntesten Filme von Flaherty, Grierson, Hurwitz, Strand – und diesmal eben auch für den Filmemacher de Antonio, dem der Pennsylvania Supreme Court untersagt, während des Prozesses irgendwelche andere Aufzeichnungen anzufertigen als ein handschriftliches Transkript der Reden vor Gericht. Er ist darüber ziemlich wütend. Aber während er sich in den Interviews zu In King Of Prussia über die Nachteile der Video-Technik recht häufig und recht ausführlich äußert, spricht de Antonio über das Verfahren des Reenactment nicht viel. Als sei ihm die Sache selbst nicht ganz geheuer. Oder als wollte er gar nicht erst in die Gefahr kommen, eine Erklärung abzugeben: Über das Verhältnis seines Films zu jenen Dokudramen und Historien-Features, die um 1980 bereits ein beliebtes, etabliertes Genre im USamerikanischen Fernsehen sind und eine kleine Memorialkultur für sich

13 »Never. I don’t like the image. Never, never.« Susan Linfield: »Irrepressible Emile de Antonio Speaks (1982)«, in: Kellner/Streible (Hg.): Emile de Antonio. A Reader, S. 113-123, hier S. 120. 14 R. Lewis: Emile de Antonio, S. 217. 15 »Long before the Pennsylvania Supreme Court turned down de Antonio’s request to film the trial of the Plowshares Eight, political filmmakers had turned to docudrama when they were shut out of courtrooms and factory floors as events unfolded.« R. Lewis: Emile de Antonio, S. 217.

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bilden. Sein Werkbiograf nennt dergleichen »slick dramatization«,16 gewiss kein freundlicher Begriff, aber das ändert nichts daran, dass auch in In the King of Prussia der Zugang zum vergangenen Geschehen, der zugleich als »Zugang zur Geschichte« verstanden wird,17 über das Moment der Wiederaufführung organisiert ist. Die Differenz zwischen der »affirmativen« und der »kritischen«, auch: der »affirmativen« und der »emanzipatorischen« oder der »aufklärerischen« Darstellung ist hier keine Sache des Verfahrens.18 Eher macht sie sich kenntlich im Verzicht auf Angleichung des Materials, an deren Stelle der Ausweis der unvermeidlichen Heterogenität tritt. Das betrifft die Schauplätze ebenso wie das Material, die Jahreszeiten ebenso wie die Temperaturen, die Architekturen und Ausstattungen und vor allem die Akteure.

D IE AKTEURE Dies ist kein illusionistisches Reenactment, weder hinsichtlich des Settings (in New York: eine sehr provisorische Installation aus Klappstühlen und Pulten auf blauem Teppich vor Ziegelwänden und Spitzbogenfenstern) noch hinsichtlich des Ensembles. Denn wenn auf der einen Seite die Plowshares Eight in de Antonios Film auftreten, ist auf der anderen keiner von den Akteuren zu sehen, die sich bei dem Prozess im Montgomery County Court auf der Gegenseite befanden: der Staatsanwalt unter anderem, die Zeugen der Anklage und nicht zuletzt der Richter, der ebenfalls kein Interesse zeigt, in dem New Yorker Reenactment aufzutreten. Also arbeitet man mit einem gemischten Ensemble. Die Plowshares Eight in den Rollen der Plowshares Eight (»Himself« / »Herself« ist die Kategorie, die die Internet Movie Data Base für dergleichen Auftritte bereit hält); ein paar Dutzend

16 R. Lewis: Emile de Antonio, S. 218. 17 Vgl. Pleitner, Berit: »Erlebnis- und erfahrungsorientierte Zugänge zur Geschichte. Living History und Reenactment«, in: Sabine Horn/Michael Sauer (Hg.), Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 40-47. 18 Zum Konzept »affirmatives« versus »emanzipatorisches« oder »aufklärerisches« Reenactment vgl. I. Arns: »Strategien des Reenactment«, S. 42 und S. 48.

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Laien in den Rollen der Jury und der Prozessbesucher; einige weniger bekannte Theater- und Filmschauspieler in der Rolle des Anklägers, der Zeugen etc., und in der Rolle des Richters Salus ein sehr bekannter Hollywoodstar, dessen Beteiligung das Projekt aus dem Register der simplen DokuFiktion hinaus und in ein anderes hinein befördert, in dem es zunächst um nichts anderes geht als darum, dass alle Rollen irgendwie besetzt sind. Indes produziert die gemischte Besetzung auch eine gewisse Durchmischung und Ambivalenz der Auftrittsformen. Und es ist nicht so, dass sich diese Mixtur einfach entlang der Differenz von ›professionell‹ und ›nicht professionell‹ oder ›dokumentarisch‹ und ›nicht dokumentarisch‹ erfassen ließe. »It’s a trial film, basically«, 19 sagt de Antonio in einem Interview über sein Projekt, was auch bedeuten könnte: ein Film, in dem die Grenzen zur Fiktionalisierung von Anfang an nicht allzu fest gezogen sind. Entsprechend wird mindestens eine Rezension darauf hinweisen, dass Martin Sheen in der Rolle des Richters Salus nicht nur im Modus des anhaltenden Over-Acting performiert, sondern auch nach dem Muster des »villain«,20 mithin in gewisser Nähe zu bestimmten Genres und Typen des kommerziellen Kinos. Und es ist mehr als eine Rezension, in der darauf hingewiesen wird, dass Daniel Berrigan, Gründungsmitglied und spiritus rector der Plowshares, seine Auftritte vor der Kamera auf eine Weise gestaltet, die einige Routine und ein nicht unerhebliches Talent erkennen lässt. (Nicht lange darauf wird er dann von Roland Joffe für den Film The Mission gecastet, in dem er die Nebenfigur eines Jesuitenpriesters spielt.) Zwischen Sheen und Berrigan teilt der Film seine Screen Time. Nicht die ganze natürlich, aber genug, um im Zuge des New Yorker Reenactments, das eine große Anzahl von Akteuren involviert, zwei Protagonisten zu etablieren, zwei Talente mit unterschiedlichen Auftrittsroutinen und Zuständigkeiten. Sheen für die kurzen Ausbrüche, die Herrschaftsgesten, die Zurechtweisungen und die Performanz von Gestaltungsmacht. Berrigan für den Appell, das emotionale Plädoyer und einen konfligierenden Anspruch auf Gestaltung, bei dem Redezeiten okkupiert und Statements in die Länge gezogen werden. Zuständigkeit, so wie sie in diesem Film wahrgenommen wird, ist nicht allein Zuständigkeit für eine Figur oder eine Position; sie ist

19 S. Linfield: »Irrepressible Emile de Antonio Speaks«, S. 121. 20 Vgl. Machlowitz, David L.: »Antinuclear Narcissism (1983)«, in: Kellner/ Streible (Hg.), Emile de Antonio. A Reader, S. 323-325, hier S. 323.

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zugleich eine für bestimmte Funktionen und Zäsuren innerhalb der Partitur, die dem Sprachhandeln der Akteure eine Form gibt, strukturiert von Rhythmen, Unterbrechungen, Zwangspausen (Sheens Job), ebenso wie von Monologen und einer großen Rede vor Gericht (Berrigans Job), die de Antonio ziemlich genau in die Mitte des Films verschoben hat. Davor, danach, in den Intervallen, finden die Auftritte der anderen Akteure statt, aber selbst wenn einige davon sich vor der Kamera mit gewisser Insistenz behaupten, kann man sagen, dass die Aufteilung des Ensembles in In the King of Prussia von zwei grundsätzlichen Unterscheidungen bestimmt ist. Der zwischen den Vertretern der guten und der schlechten Seite. Und der zwischen den versierten Darstellern und den anderen, die auch zu sehen sind, ohne dass ihnen eine besondere Funktion, oder besonders viel Text, Screen Time etc. zugebilligt würden. »There are no actors employed«,21 hat de Antonio in einem Interview von 1973 über seine Arbeitsprinzipien gesagt. In einem anderen, das er zehn Jahre später gibt, sagt er: »I’ve always regarded all the people in my films as actors.«22 In bestimmten Sinne sind das zwei aufschlussreiche Aussagen; nicht weil sie die Beziehung des Filmemachers zu den Konzepten des »acting« und des »non-acting« vereindeutigen, sondern weil sie der großen Verwirrung, die In the King of Prussia anstiftet, einen Rahmen setzen. Dieser Film enthält Auftritte, in denen Personen andere Personen spielen und sich dabei an durchaus konventionellen Darstellungsmustern orientieren (Sheen: der autoritäre Richter, John Randolph Jones: der tumbe Security Guard etc.). Andere Personen spielen ebenfalls andere Personen und entsprechen diesen Konventionen nicht. Wieder andere spielen sich selbst, dies jedoch, wie an den Auftritten der Plowshares Eight zu verfolgen, teils mit sehr viel, teils mit weniger, teils mit überhaupt keinem Talent, während eine ganze Gruppe (die Darsteller der Jury) nichts weiter tut, als herum zu sitzen, dabei aber eindeutiger im Register des ›Als-Ob‹ agiert als sämtliche protagonistischen Akteure und eine weitere Gruppe (die Darsteller der Prozessbesucher) ebenfalls herum sitzt, ohne dass ihr Auftritt gleichermaßen eindeutig klassifizierbar wäre, da die Reihen der Besucher beim Reenact-

21 Neufeld, Tanya: »An Interview with Emile de Antonio (1973)«, in: Kellner/ Streible (Hg.), Emile de Antonio. A Reader, S. 102-112, hier S. 112. 22 S. Linfield: »Irrepressible de Antonio«, S. 122.

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ment in New York wie bei der Verhandlung in Norristown vor allem mit Aktivisten aus dem Umfeld der Friedensbewegung besetzt sind. Bei seinen Planungen hat de Antonio es nicht darauf angelegt,23 aber die Irritation zwischen den Kategorien, Akteuren, Auftritten, die sich mit Hilfe dieser CastList erzeugen lässt, ist tatsächlich maximal. Dabei ging es zunächst nur darum, genug Leute zusammen zu bekommen, um den Prozess noch einmal für die Kamera ablaufen zu lassen.

D IE AGENDA Warum man ihn noch einmal ablaufen lassen sollte, ist keine uninteressante Frage. Es gibt mehr als eine Agenda, die das Projekt vom Juli 1981 motiviert, diese merkwürdige Kooperation zwischen einem marxistischen Filmemacher und einem Häuflein erzkatholischer Aktivisten, die mindestens ebenso viel trennt wie verbindet, und den verschiedenen Gruppen von Unterstützern, die gleichfalls nicht viel miteinander zu tun haben: »[N]one of these people had ever met until they walked on that set, July 17, 1981«24. Eine Agenda, von de Antonios in den Stellungnahmen zu seinem vorletzten Film immer wieder akzentuiert, ist die Herstellung von Öffentlich-

23 Die folgende Darstellung von 1982 ist übersichtlicher, als sich die Verhältnisse in dem Film In the King of Prussia tatsächlich gestalten: »[T]he Plowshares Eight will play themselves; actors will play the judge, the prosecuting attorney, the witnesses, the police, and jurors. Real people will be playing themselves in the documentary segments; at the same time, real people will be playing themselves as actors in the reconstruction; and actors will be playing real people.« Emile de Antonio: »In the King of Prussia: Emile de Antonio Interviews himself (1982)«, in: Kellner/Streible (Hg.): Emile de Antonio. A Reader, S. 301-308, hier S. 301. 24 S. Gallagher: »The Making of In the King of Prussia«, S. 310. Es wird eine relativ kurzfristige Zusammenarbeit: drei Tage, was für einen Film, der am Ende 92 Minuten lang sein wird, nicht viel ist. Es ist sogar (für einen Film gleich welcher Länge) sehr, sehr wenig, aber alles, was noch an Zeit zur Verfügung bleibt, nachdem wieder einmal ein Revisionsantrag von den Gerichten abgewiesen wurde und einige der Plowshares unmittelbar vor dem Antritt ihrer Haftstrafen stehen.

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keit: Zeigen, was zuvor nicht (oder viel zu wenig) gezeigt worden ist; zeigen, was nicht aufgezeichnet werden konnte, und auch: zeigen, was durchaus aufgezeichnet, dann aber nicht gesendet wurde, denn auch wenn der Gerichtssaal von Norristown für die Kameras off limits gewesen ist, ist in seinem Umfeld sehr viel gefilmt worden: Kundgebungen, Interviews, Übergriffe, die aber, sagt der Filmemacher, niemals im US-Fernsehen zu sehen waren.25 (Was, ganz nebenbei, auch eine kleine Mediomachie zwischen Kino und TV oder zwischen dem US-amerikanischen und dem europäischen Fernsehen eröffnet; »[a]lready, we have a European audience of probably 15 to 20 million people«26). Also macht er sich das Zeigen zur Aufgabe, zur erklärten Aufgabe, die wiederum viel mit erklärter Sympathie für die Sache der Plowshares zu tun hat, weshalb In the King of Prussia in den Jahren nach seiner Fertigstellung immer wieder auch als PR-Film, als »one-sided«,27 als propagandistisch oder als »publicity stunt«28 bezeichnet worden ist. Und tatsächlich ist ›Publicity‹ kein ungeeignetes Stichwort, um die intendierte Verschränkung von Aufmerksamkeit und Zustimmung zu bezeichnen, die hier mit der Herstellung von Öffentlichkeit einhergeht. Damit, und mit der Wiederherstellung auktorialer Positionen. Unter den Verbindungen, die zwischen den Plowshares Eight und dem Filmemacher de Antonio existieren und die Kooperation auf der Szene des Reenactments ermöglichen, ist die eigentlich interessante nicht die politische Orientierung (die im Übrigen nur bedingt kompatibel ist und an verschiedenen Stellen

25 Drehbericht, mit einigen paranoiden Untertönen: »I saw the TV trucks there, the days and nights I taped, the night the sheriffs went crazy and roughed up the spectators right outside the court. The trucks were there, the cables were there, and the one-inch equipment was there, and they filmed it. But they didn’t televise it. They shot interviews, they shot all kinds of stuff, it’s all there, somewhere, on videotape, unless the tapes have been wiped, which is also possible. But it simply wasn’t broadcast.« David Segal, »De Antonio and the Plowshares Eight«, in: Ders./Keller (Hg.): Emile de Antonio. A Reader, S. 315-318, hier S. 316. Vgl. auch Gallagher, »The Making of In the King of Prussia«, S. 310. 26 S. Linfield: »Irrepressible de Antonio«, S. 119. 27 R. Lewis: Emile de Antonio, S. 220. 28 D.L. Machlowitz: »Antinuclear Narcissism«, S. 325.

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sogar dramatisch inkongruent 29), sondern die Tatsache, dass es sich hier wie dort um Akteure handelt, die ihre Agenda bei dem Prozess vor dem Montgomery County Court nicht durchzusetzen vermochten. Die Plowshares durften nicht, wie geplant, eine Reihe von prominenten Rüstungskritikern als Zeugen der Verteidigung vernehmen lassen; de Antonio durfte nicht, wie geplant, bei der Verhandlung filmen. Sie hatten ihre Argumente, Experten, Stellungnahmen, die vom Gericht nicht zugelassen wurden; er hatte seine Kameraleute und bekam nicht die Erlaubnis, sie einzusetzen. Für beide hat das Gericht verfügt, was sie in das Verfahren einbringen können und was nicht; beide sind nicht bereit, das auf sich beruhen zu lassen, und so liegt es nahe, die Allianz vom Sommer 1981 auch als eine auktoriale Allianz zu betrachten: Restitution einer Gestaltungsmacht, die den Beteiligten vorübergehend abhandengekommen war, und die für diesen Prozess nur auf dem Umweg der Wiederaufführung etabliert werden kann. Diese auktoriale Allianz produziert eine andere Darstellung des Prozessgeschehens. Keinen anderen Ablauf, auch keinen anderen Ausgang, aber in Ablauf und Ausgang eine Refokussierung, die sowohl das Detail als auch das Geschehen als Ganzes (die Intervention, den Prozess) betrifft. Nicht unähnlich dem sehr bekannten Reenactment-Projekt The Battle of Orgreave (2001), in dem ein agonales Szenario anderer Art vor der Kamera eines anderen Filmemachers rekonstruiert worden ist,30 ist In the King of Prussia als konkurrierende Version zu einer offiziellen Narration konzipiert, in der die Verteilung von Positionen, Rollen, Schuldzuweisungen noch einmal zur Disposition gestellt wird. Um eine korrigierende Version handelt es sich außerdem, mehr oder weniger entsprechend der Orgreave-

29 Zu den Schwierigkeiten der Filmfinanzierung, die sich aus den politischen Allianzen der Plowshares und de Antonios ergeben, vgl. R. Lewis: Emile de Antonio, S. 214. 30 The Battle of Orgreave (2001) von Jeremy Deller und Mike Figgis ist das Reenactment einer Straßenschlacht zwischen streikenden Bergarbeitern und Polizeieinheiten, die 1983 stattgefunden hat. Bei Deller/Figgis erfolgt die Rekonstruktion auf der Grundlage von individuellen Berichten der damals Beteiligten, deren Auskünfte als Gegenerzählung zur damaligen Berichterstattung in Presse und Fernsehen verstanden werden. Zur genaueren Konzeption von Battle of Orgreave vgl. I. Arns: »Strategien des Reenactment«, S. 46-48.

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Agenda, »Vergangenes Unrecht wieder gut zu machen«31, nur dass es nicht um eine Korrektur des Ausgangs geht, sondern um eine der Perspektive. (So betrachtet, hat man es mit einem Projekt zu tun, in dem das agonale Szenario systematisch verdoppelt wird: innerhalb des Reenactments die Aushandlung zwischen zwei streitenden Parteien; außerhalb davon die Konkurrenz der Versionen.) Wollte man den Moment benennen, in dem dieser Film seine mehrstellige Agenda – der Komplizenschaft, der (Re)Markierung auktorialer Ansprüche, der konkurrierenden Stellungnahme – besonders deutlich macht, so wäre er, hier wie in anderen Fällen, im Vorspann zu finden. In the King of Prussia macht keine Ausnahme von der Regel, dass die »Eingangstitelsequenz als ein ›Double des Films‹ paradigmatisch dessen Programm vorwegstellt, welches die folgende Erzählung [oder: Rekonstruktion, oder: Wiederaufführung; S.D.] syntagmatisch ausführen wird.« 32 Der Vorspann als Schauplatz der Selbstverständigung zeigt dabei kaum mehr als die Anbringung des Filmtitels in Gestalt eines Graffiti auf einer Häuserwand: eine simple Performance, aber auch eine, in der fast alle Parameter aufeinander treffen, die für diesen Film kennzeichnend sein werden: das Moment der Intervention, die kriminalisierte Position, die Markierung und Signatur (auf den Filmtitel folgt der Name des Filmemachers), die Idee von Gegenöffentlichkeit, die sich mit dem Phänomen der Street Art und des Graffiti verbindet; weiter: der Zeitdruck, unter dem die paradigmatische wie die syntagmatische Szene entfaltet werden (ein paar Minuten für den Sprayer; drei Tage, bevor die Plowshares Eight ihre Haftstrafen anzutreten haben); und nicht zuletzt: die Rückeroberung eines abgeschlossenen Raumes (im Vorspann ein ummauertes Geviert, in der Geschichte des Films jener unzugängliche Gerichtssaal, in den die Zeugen und Kameras nicht vorgelassen wurden).

31 Im Original: »[E]ffectively righting old wrongs«. Robert Blackson: »Once More … With Feeling: Re-enactment in contemporary art and culture«, in: Art Journal, New York: College Art Association, April 2007 [ohne Seitenangabe]. Zitiert nach: I. Arns: »Strategien des Reenactment«, S. 48. 32 Stanitzek, Georg: »Vorspann (titles / credits, générique)«, in: Ders./Alexander Böhnke/Rembert Hüser: Das Buch zum Vorspann. »The Title is a Shot«, Berlin: Vorwerk8 2006, S. 8-20, hier S. 16.

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D IE R EVISIONEN Wie gestaltet sich die Wiederherstellung auktorialer Positionen? Offensichtlich nicht als restaurative Praxis, denn In the King of Prussia zeigt sich kaum bemüht um die Rekonstruktion eines ›Originalschauplatzes‹, die Anpassung an ›Originalbedingungen‹, die Wiederherstellung der Originalbesetzung. Ebenso wenig ist die Praxis imitativ oder illusionistisch; das verhindert die Heterogenität der Auftrittsformen und -routinen, aber auch der Zeitdruck, unter dem dieses Reenactment abläuft, und der, für die Dauer der drei Drehtage in New York, seine eigenen Bedingungen etabliert: »The nonactors, who comprised the majority of the cast, were not expected to memorize their lines flawlessly, only to show up on time and speak in the proper sequence.«33 Rechtzeitig und in der richtigen Reihenfolge. In bestimmtem Sinne ist das die Minimalformel einer performativen Praxis, bei der es zuallererst auf den Vollzug ankommt, womit sowohl der Vollzug der Dreharbeiten gemeint ist als auch der erneute Vollzug der Sprachhandlungen, wie sie in de Antonios Transkript der Verhandlung festgehalten sind. Dabei, und es ist nicht unwichtig, das zu betonen, stimmt weder das Transkript vollständig mit dem offiziellen Verhandlungsprotokoll überein noch die Drehfassung mit dem Transkript. Vielmehr unternimmt dieser Film den Versuch, das Sprachhandeln über ein verändertes Skript zu organisieren, das indes keineswegs »jenseits des historischen Drehbuchs«34 (i.e. des amtlichen Protokolls, der hegemonialen Version) zu verorten ist, sondern vielmehr in das historische Drehbuch inseriert wird. Das betrifft zuallererst diejenigen Passagen, die im historischen Drehbuch fehlen. Wenn de Antonios Filmskript, wie er selbst erklärt, als eine redigierte, komprimierte Fassung des Prozess-Transkripts zu betrachten ist, so ist es zugleich um eine Reihe von Äußerungen ergänzt, die aus dem amtlichen Protokoll gestrichen worden sind, ebenso wie um jene Einsprüche und Verfügungen, die zur Streichung aus dem Protokoll geführt haben. Unter den Formen des Sprachhandelns, die von den Akteuren von In the King of Prussia performiert werden, ist das Schauspiel der verhinderten, abgeschnittenen Rede eines der eindrücklichsten, zumal die Unterbindung mit

33 R. Lewis: Emile de Antonio, S. 218. 34 I. Arns, »Strategien des Reenactment«, S. 48.

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einiger Ausführlichkeit wiederholt (»Objection, your honor« – »Objection sustained«) und von den Darstellern ihrer selbst nicht ohne Pathos kommentiert wird. (»She is forbidden the human language«, sagt Daniel Berrigan an einer Stelle, nachdem der Richter ein Statement von Molly Rush unterbrochen hat.) Gleichfalls inseriert sind einige der Stellungnahmen, die nach dem Willen der Plowshares Eight zu einem Teil des Protokolls werden sollten, in das Protokoll jedoch keinen Eingang gefunden haben, da sie gar nicht erst zugelassen worden sind. Für die Anwälte, Wissenschaftler, Politiker, Rechtsexperten, die vor Gericht für die Sache der Plowshares gesprochen hätten, hat der Richter verfügt, dass sie dort nicht angehört werden. Also holen sie den Auftritt vor der Kamera von Emile de Antonio und Judy Irola nach, post scriptum, wenn man so will, dabei aber auffallend oft im unmittelbaren Umfeld des Gerichtsgebäudes, als gelte es, den Abstand zwischen den Schauplätzen der Stellungnahme möglichst gering zu halten, nicht anders als den Zeitabstand, der zwischen die verschiedenen Handlungen gesetzt ist.35 Interessanter als der Repressionsdiskurs, der die Einfügung der verhinderten wie auch die der ausgeschlossenen Rede grundiert (sagen lassen, was andernorts nicht gesagt werden durfte, eine Stimme geben etc.), ist der Umstand, dass die Verfahren der Inserierung und Emendierung (dazu die Kürzungen, die ihnen vorausgehen) in sehr buchstäblichem Sinne ein revidiertes Skript produzieren, das anteilig Züge des Protokolls und des Drehbuchs, der Aufzeichnung und der Montage enthält. Dieser Revision des Skripts korrespondiert im kinematografischen Register die Revision der Auftritte, die de facto nicht länger unter dem Blick des Richters oder der Jury stattfinden, sondern, in Anwesenheit der Stellvertreter von Richter und Jury, zuallererst und sehr betont unter dem Blick der Kamera, die sich an die Gesichter heftet, mimische und gestische Bewegungen einfängt, die sprechenden Figuren kadriert und die Plowshares Eight einem anderen Urteil überantwortet als dem, das im Montgomery County Court verkündet worden ist. Den Filmkritikern hat das nicht besonders gefallen, den späte-

35 Zur Kategorie des Abstand in dokumentarischen Bezugnahmen vgl. Koch, Gertrud: »Nachstellungen – Film und historischer Moment«, in: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit, Berlin: Vorwerk8 2003, S. 216-229, hier S. 219f.

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ren Kommentatoren (unter ihnen: der Verfasser einer Werkbiografie von de Antonio) auch nicht. Indes ließe sich behaupten, dass dergleichen Bewertungen hier eine eher sekundäre Bedeutung haben, da mit der Verfilmung eine andere Agenda durchaus perfekt realisiert wird, i.e. die Revision auf Dauer zu stellen.

L ITERATUR In the King of Prussia (USA 1983, R: Emile De Antonio) Arns, Inke/Horn, Gabriele (Hg.): History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt a.M.: Revolver 2007. Arns, Inke: »Strategien des Reenactment«, in: Dies./Gabriele Horn (Hg.), History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt a.M.: Revolver 2007, S. 38-63. The Bible. Authorized King James Version, hg. v. Robert Carroll und Stephen Prickett, Oxford, New York: Oxford University Press 1997. Brewer, John: »Reenactment and Neo-Realism«, in: Ian McCalman/Paul A. Pickering (Hg.), Historical Reenactment. From Realism to the Affective Turn, New York: Palgrave Macmillan 2010, S. 79-89. Cousins, Mark/Macdonald, Kevin (Hg.): Imagining Reality. The Faber Book of Documentary. Revised edition, London: Faber and Faber 2006. De Antonio, Emile: »In the King of Prussia: Emile de Antonio Interviews himself (1982)«, in: Douglas Kellner/Dan Streible (Hg.), Emile de Antonio. A Reader, Minneapolis, London: University of Minnesota Press 2000, S. 301-308. DeCourcy Hinds, Michael: »Eight Sentenced In 1980 Protest At Nuclear Unit«, in: The New York Times vom 11. April 1990. Hohenberger, Eva/Keilbach, Judith (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit, Berlin: Vorwerk8 2003. Gallagher, Sharon: »On the Making of In The King of Prussia. A Interview with Emile de Antonio«, in: Douglas Kellner/Dan Streible (Hg.), Emile de Antonio. A Reader, Minneapolis, MS, London: University of Minnesota Press 2000, S. 309-314.

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Suspendierte Historizität Zum filmischen Wiederholen von Geschichte in S-21, La machine de mort Khmère rouge und Hamburger Lektionen S IMON R OTHÖHLER

Rithy Panhs S-21, La machine de mort Khmère Rouge (2003) beginnt mit einer knappen historischen Information, einer Schrifteinblendung auf schwarzem Hintergrund: »Before the war, Cambodia was an independent, neutral country with a population of 7.7 million.«1 Die darauf folgende erste Einstellung des Films etabliert jedoch einen anderen zeitlichen Index: Ein Panoramaschwenk von links nach rechts zeigt das heutige Phnom Penh, im Bildvordergrund ist ein dicht besiedeltes Wohnviertel der kambodschanischen Hauptstadt zu sehen. Eine unscheinbare Tonmontage begleitet die bedächtige Schwenkbewegung: In die diegetische Geräuschkulisse eines gewöhnlichen urbanen superchamp (Umgebungston) werden entfernt klingende Explosionsgeräusche eingeblendet, die sich gleichmäßig zu wiederholen beginnen. Die Rhythmisierung bewirkt eine sukzessive Entdiegetisierung der Detonationen, die sich repräsentationslogisch von dem konkret visualisierten Stadtraum entfernen, plötzlich fremd wirken, wie einem anderen Register zugehörig. Tonanalytisch gesprochen entfaltet das superchamp, das in der Regel an der Stiftung räumlicher Kontinuität und Kohä-

1

S-21, La machine de mort Khmère Rouge (KH/FR 2003, R: Rithy Panh).

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renz im Film maßgeblich beteiligt ist, hier seinen »quasi-autonomen« Status, lässt den Raum unvermittelt porös erscheinen. Statt den repräsentierten Raum akustisch mit einem nicht-gezeigten aber hörbaren Umraum zu stabilisieren, wird eine raum-zeitliche Risslinie angesetzt. Die Explosionsgeräusche nehmen eine eigentümliche Zwischenstellung ein, weil sie nicht eindeutig extradiegetisch operieren, sondern aus tieferen Schichten des Sichtbaren hervorzugehen scheinen. Sie haften an den gegenwärtigen Stadtbildern und lassen sich nicht ins absolute Off verdrängen. Am Ende der Schwenkbewegung erscheint eine zweite Schrifttafel: »1970: Coup d’Etat against Prince Sihanouk«. Geradezu programmatisch tritt der Terror der Roten Khmer, zu dessen direkter Vorgeschichte Lon Nols Militärputsch gegen den durch die Ausweitung des Vietnamkriegs innenpolitisch geschwächten Sihanouk gehört, als unsichtbares, gestaltloses und doch im relativen Off lauerndes Wesen in die ästhetische Struktur von S-21 ein. Ein Geräuschkörper, der sich gleichsam aus dem horschamp der jüngeren Geschichte des Landes in das gegenwärtige Phnom Penh einwebt, die Stadt somit in eine volatile akusmatische Zone transformiert.  Die aktuell ortlosen Explosionsgeräusche ent-

2 3

Vgl. Chion, Michel: Audio-Vision. Sound on Screen, New York 1994, S. 150ff. Die akusmatische Analyse ließe sich in diese Richtung weiter vertiefen, weil Chions Thesen zum Akusmeter grundsätzlich als Machtanalytik der Audiovision deutbar sind, wie u.a. Kaja Silverman festgestellt hat, die Chions implizite Machttheorie audiovisueller Kombinatorik aus genderkritischer Perspektive aufschlüsselt (vgl. Silverman, Kaja: The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema, Bloomington, Indianapolis: Indiana Univ. Press 1988). Für Chion reproduziert das akusmatische Wesen im Oszillieren zwischen aktuellem Sichtbarkeitsentzug und potentieller Inkarnation ein induzierbares »panoptisches Phantasma« (Chion, Michel: »Das akusmatische Wesen. Magie und Kraft der Stimme im Kino«, in: Meteor. Texte zum Laufbild 2.6 (1996), S. 54). Zentral für das damit allgemein assoziierte »verallgemeinerungsfähige Funktionsmodell der Macht« (Foucault) ist die Kontrolle eines sichtbaren Feldes durch eine Instanz, die außerhalb und innerhalb dieses Feldes situiert ist. Statt vollkommen abwesend zu sein, muss diese Instanz ein Bewusstsein möglicher Anwesenheit aufrechterhalten, ohne faktisch sichtbar zu werden: Sie ist mithin als Potential objektiviert. Chion überträgt dieses Modell ganz buchstäblich auf die audiovisuelle Architektur des Filmischen, indem er die panoptischen Res-

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stammen dabei nicht nur der Virtualität eines vergangenen historischen Zeitraums, sondern signalisieren zugleich dessen unheimliches Nachwirken. Die Ellipse zwischen der ersten Schrifteinblendung, die ein »vor dem Krieg« markiert und den asignifikanten Bildern der Gegenwart, deutet eine Latenz zwischen Ereignis und Auswirkung an, ein machtvolles Hineinragen der Vergangenheit in eine Gegenwart, die sich noch keinen Abstand zur Geschichte erarbeitet hat. Der Ton sucht hier das Bild heim wie die Vergangenheit eine traumatisierte Gegenwart: ohne ›Körper‹, aber dennoch wirkungsvoll; latent und omnipräsent zugleich. S-21 setzt die erinnerungspolitische Dimension seines historischen Sujets gleich zu Beginn auf die Nahtstelle zwischen Bild- und Tonraum an: Wie einen historischen Zusammenhang sichtbar machen, der in einer gegenwärtigen Gesellschaft fortwirkt, ohne sich offen als Machtfaktor zu artikulieren? »Es fehlen uns die Worte, um es auszudrücken, es fällt uns schwer zu sprechen, es ist, als wären wir gelähmt. Als wäre ein Teil unserer Geschichte in Klammern gesetzt worden, der einen finsteren, steinharten Block bildet«, umschreibt Rityh Panh den (auch nach den ersten Urteilen des UN-Tribunals) blockierten kambodschanischen Erinnerungsdiskurs, dem er ein ästhetisches Modell suspendierter Historizität entgegensetzt. Über eine filmisch-theatrale Wiederaufführung historischer Handlungsvollzüge, eine Performanz gestischer Routinen des Terrors, vergegenwärtig S21 eine Geschichte, die in gewisser Weise als historisches ›Objekt‹ noch gar nicht vorliegt, weshalb Jean-Pierre Rehm zu Recht darauf hinweist, dass Rithy Panh ein »praktisches, für die vernichtete soziale Substanz Kambodschas nützliches Element [hergestellt hat]. Mit Film, Dauer und einer bestimmten Auffassung von Schnitt wird er zum Akteur einer Geschichte, die noch im Gange ist.« Im Fall von S-21 bezeichnet ›Vergegenwärtigung‹ also nicht einfach jenen Effekt, der in der Geschichtstheorie häufig als ästhetischer Moment der (bloßen) Anschaulichkeit des historiographischen Textes beschrieben wird, als Effekt, der sich einer gleichsam

sourcen des horschamp auslotet und die akusmatische Stimme mit einem alles sehenden Blick analogisiert. 4

Panh, Rithy: »Ich bin ein Vermesser der Erinnerung«, in: Stadtkino Zeitung, Nr.

5

Rehm, Jean-Pierre: »Erinnerungsfabrik versus Todesmaschine«, in: Stadtkino

411 (2004). Zeitung Nr. 411 (2004).

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nachträglichen Narrativisierung des Erforschten verdankt. In S-21 geht es nicht in erster Linie um die Darstellung von etwas Vergangenem, sondern um die Sichtbarmachung einer (un-)heimlichen Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart.

W IEDERHOLEN 1 S-21 repräsentiert Geschichte durch Strategien der Re-Inszenierung und performativen Wiederholung, durch Nachstellen und Wiederaufführen bestimmter Handlungsvollzüge zu einem historisch späteren Zeitpunkt. Der Film dokumentiert ein Reenactment im faktischen Raum des Ereignisses, dem Foltergefängnis Tuol Sleng, – mit authentischen Requisiten (Schriftdokumente, Fotografien, eine Schreibmaschine, ein Blechkanister) und ›echten‹, sich selbst spielenden Akteuren, die ihre eigenen historischen Handlungen, Gesten, Bewegungen, Sprechakte aus der Erinnerung und für die Kamera nachstellen. Fast scheint es, als sei diese Erinnerung unwillkürlich, als sei das Körpergedächtnis der Täter, das unter dem Druck des realhistorischen Ortes die kleinen, alltäglichen Gesten des Terrors hervorbrechen lässt, resistent gegen die Bemühungen der Subjekte zu verdrängen und Schuld von sich zu weisen. Je länger sie sich selbst spielen, desto mehr fallen sie in ihre historische Rolle zurück, desto deutlicher manifestieren sich in den nachgespielten Kontrollgängen, dem Öffnen von Türen, den in die gespenstische Leere der Zellen hineingesprochenen Zurechtweisungen die Konturen der »totalen Institution« (Erving Goffman), die Tuol Sleng faktisch war. Der disziplinarische ›Körper‹ der Institution zeigt sich in den von individuellen Körpern wiederaufgeführten und appropriierten Routinen, weil der funktionale Kern von Institutionen, handlungstheoretisch gesprochen, aus auf Dauer gestellter Praxis besteht, aus der Gesamtheit routiniert reproduzierter Handlungsmuster.

6

Die Dreharbeiten erstreckten sich über drei Jahre, wobei Rithy Panh in Interviews zu Protokoll gibt, praktisch kein Material aus dem ersten Jahr verwendet zu haben, weil die Täter erst später zu den Spielhandlungen bereit gewesen seien.

7

Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 13-124.

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Im jüngeren Kunst-Diskurs wird »Reenactment« als Form der Vergegenwärtigung von Geschichte definiert, die den Körper als Medium einer Wiederaufführung einsetzt, um die Differenz zwischen repräsentierter Vergangenheit und Aufführungs-Gegenwart selbst thematisch werden zu lassen, wie Inke Arns mit Blick auf verschiedene Arbeiten aus der Gegenwartskunst schreibt: »Löschung und gleichzeitige Herstellung von Distanz sind zwei zentrale Mechanismen in der gegenwärtigen Praxis künstlerischer Reenactments, die oft in ein und derselben Arbeit ko-präsent sind. Zunächst geht es um die Aufhebung von sicherer Distanz. Betrachter bzw. Leser werden zu unmittelbaren Zeuginnen und Zeugen eines (wiederholten) historischen Geschehens [...].« Arns hat vor allem Live-Performance-Kunst im Blick und entwickelt daraus ein repräsentationskritisches Argument, das der massenmedialen Vermittlung von Geschichte gilt: »Reenactments stellen jedoch auch die Frage danach, was jenseits der medial repräsentierten Geschichte wirklich passiert ist – paradoxerweise geschieht dies über die Wiederholung der Repräsentation von Geschichte (deren ausschließliche mediale Verfasstheit damit betont wird). [...]. Im Unterschied zum Begriff der Simulation, die, ähnlich der Science Fiction, eine Annahme in die Zukunft extrapoliert (=Potentialität), beziehen sich Reenactments immer auf in der Vergangenheit liegende, konkrete Ereignisse (=Aktualität). Und während Simulation (meist) im Virtuellen verbleibt, impliziert ein Reenactment notwendigerweise eine Umsetzung in einen realen Raum mit echten Körpern.«

In Bezug auf Film ist hier generell anzumerken, dass dessen mediale Eigenschaften selbst in Analogie zum Reenactment beschrieben werden können. Film bringt eine Ansicht der Vergangenheit in die Gegenwart einer Aufführung. Insofern vergegenwärtigt er etwas Archiviertes, einen Gedächtnisspeicher, der re-präsentiert wird, und zwar in der Form einer ästhe-

8

Arns, Inke: »Strategien des Reenactment«, in: Dies./Gabriele Horn (Hg.), History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt a.M.: Revolver 2007, S. 38-63, hier S. 58.

9

Arns, Inke/Horn, Gabriele: »Vorwort und Dank«, in: Dies. (Hg.), History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-) Kunst und Performance, S. 8.

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tischen Performanz, die zwischen Effekten der Nähe, Aktualität, Präsenz, Gegenwart einerseits und solchen der Distanz, Virtualität, Absenz, Vergangenheit andererseits oszilliert. Das filmische Medium hebt die Differenz zum historischen Moment, zum Zeitpunkt der Aufzeichnung nicht einfach simulatorisch auf, sondern macht den Abstand ästhetisch erfahrbar. Stanley Cavells Definition, wonach der Film eine »mir gegenwärtige Welt, von der ich abwesend bin« präsentiert, zielt im Kern auf die Deutung dieser Differenz zwischen Bildraum und Zuschauerraum. In seinem filmtheoretischen Hauptwerk The World Viewed entwickelt Cavell seine Position jedoch nicht nur auf der Ebene des Raumes. Dazu zwei Stellen (wobei er zwischen Fotografie und Film zunächst nicht unterscheidet): »Photography maintains the presentness of the world by accepting our absence from it. The reality of a photograph is present to me while I am not present to it; and a world I know, and see, but to which I am nevertheless not present (through no fault of my subjectivity), is a world past [Hervorgebung, S.R.].« »In viewing a movie my helplessness is mechanically assured: I am present not at something happening, which I must confirm, but at something that has happened, which I absorb (like a memory).«

Die Abgetrenntheit des Zuschauers von der filmischen Welt organisiert sich nach Cavell über die filmspezifische Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit und produziert dabei eine Gegenwärtigkeit »haunted by historicity«, die nicht einfach eine unmittelbare Re-Präsentation einer profilmischen Gegebenheit ist, sondern die zeitliche Distanz zur Vergangenheit selbst ästhetisch erfahrbar macht. Für Cavell spiegelt die in der Erfahrung

10 Cavell, Stanley: The World Viewed, Cambridge/Massachusetts, London: Harvard Univ. Press 1979, S. 450. 11 Ebd., S. 23. 12 Ebd., S. 26. 13 Doane, Mary Ann: The Emergence of Cinematic Time. Modernity, Contingency, The Archive, Cambridge, MA, London: Harvard Univ. Press 2002, S. 23. 14 Rodowick hat diesen Gedanken Cavells ausformuliert: »Photographic picturing presents us existences in which we are inclined to believe, but in a temporal distance that is unbridgeable. […] Part of Cavell’s originality, though, is recogniz-

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des Films vermittelte Abgeschirmtheit gegenüber einer Welt, die anwesend und doch vergangen ist, die epistemologische Verunsicherung des modernen Subjekts nach der skeptischen Wende. In den fotografischen Medien objektiviert sich demnach ein Weltverhältnis, in dem die Distanz, die das Subjekt von der Welt fernhält, medial verdoppelt und äußerlich wird: »It is as though the world’s projection explains our forms of unknownness and of our inability to know. The explanation is not so much that the world is passing us by, as that we are displaced from our natural habitation within it, placed at a distance from it. The screen overcomes our fixed distance; it makes displacement appear as our natural condition.«15

Den Unterschied zwischen der epistemologischen Einsicht in die Instabilität und Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens und der Erfahrung dieser »Bedrohung durch Skepsis«  im Ästhetischen des Films markiert Cavell mit der Bemerkung, der Film biete ein »rührendes Bild des Skeptizismus«. Rührung ist hier weniger als psychologischer Effekt eines sentimentalen Eskapismus zu verstehen, nicht als Flucht vor der Einsicht in die relative Nichterkennbarkeit der Welt, die im Film als Unzugänglichkeit einer »world past« reflektiert wird. Eher vermittelt das Kino die Erfahrung, dass diese epistemischen Beschränkungen anerkannt, sublimiert und kulturell bearbeitet werden können. Cavell scheint die Vorstellung zu haben, dass der eingebaute Skeptizismus des Films eine Option darstellt, die epistemischen Konsequenzen einer skeptischen Weltsicht, sofern sie die Psyche des Subjekts betreffen, ästhetisch aufzuheben oder zumindest genießbar zu machen.

ing that not only is the spectator held in a distance from the photographed world, but this world, too, is screened from the viewer. What we feel in a photograph is equally our absence from the view presented, that this view is screened for us, and from us, in time.« Rodowick, D.N.: The Virtual Life of Film, Cambridge, MA, London: Harvard Univ. Press 2007, S. 64f. 15 S. Cavell: The World Viewed, 1979, S. 40f. 16 Cavell, Stanley: »Welt durch die Kamera gesehen«, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 447490, hier S. 448. 17 Ebd., S. 465.

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Wie auch immer man Cavells subjekttheoretische Pointe bewertet: Die fotografischen Bilder des Films arbeiten in ihrem medienspezifischen Kern jedenfalls selbst mit der Ambiguität des Reenactments, also mit einer Logik der »Löschung und gleichzeitigen Wiederherstellung von Distanz« (Arns). Ein Film, der ein profilmisches Reenactment inszeniert und dokumentiert, verdoppelt so gesehen die bereits medial gegebene Konstellation: Er repräsentiert eine Repräsentation von Geschichte. Letztlich trifft das auf jeden gewöhnlichen Historienfilm zu, der mittelalterliche Kulissen einsetzt und Schauspieler in historische Kostüme steckt. Die Kamera dokumentiert auch hier lediglich das Reenactment, das die Dreharbeiten (auch) sind. Der offensichtlichste Unterschied zu einem Film wie S-21 besteht aber darin, dass dort Akteure eine Geschichte nachstellen, die nicht nur nicht-fiktiv ist, sondern ihre eigene. Sie wiederholen keine Repräsentation von Geschichte, sondern eine erinnerte, verdrängte, im Unsichtbaren gehaltene. Als Wiederholungstäter verkörpern und vergegenwärtigen sie die Institution, die sie einst geformt hat (und die sie geformt haben). Die institutionelle Praxis überdauert das Verschwinden der Institution, und zwar in Körpern, die Teil dieser Praxis waren. S-21 dokumentiert Spuren von Praktiken, deren Verschwinden blockiert ist, die ›indexikalisch‹ persistieren und ›vor Ort‹ wiederholt und wiedergeholt werden können. Den Gesten gelingt keine Disjunktion, kein Bruch mit dem Gewesenen, sie legen unweigerlich Verbindungslinien in eine Vergangenheit, die nicht ›absinkt‹, weil Elemente von ihr (noch) zu präsent sind. Das Set des Films, Tuol Sleng, kennt keine Grenzen wie die Kulissenwelt des Historienfilms, sondern verlängert und entgrenzt sich kontinuierlich in die kambodschanische Gegenwart (in eine Gesellschaft, in der sich die Opfer erst seit kurzem trauen, öffentlich zu sprechen und die Täter nur punktuell gezwungen werden, Auskunft zu geben). S-21 evoziert kein ›volles‹ Geschichtsbild im Sinne des klassischen Historienfilms, sondern formatiert die Distanz zur Geschichte erinnerungspolitisch – eine Geschichte, die nicht einfach in der Vergangenheit verborgen ist und historiographisch geborgen werden kann, sondern als Potential im Heute lauert. Den Reenactment-Szenen von S-21 haftet auch deshalb eine irritierende Gegenwärtigkeit, eine Differenz zu einem vollständigen, ›historistischen‹ Modus der Nachstellung an, weil der Film Körper und Gesten des Terrors aufführt, als seien sie weniger vergangen, als aktualisierbar (was sie sind). Insofern rekonstruiert S-21 nicht nur einen historischen Zusammenhang, dessen Historizität suspendiert ist, sondern führt ein

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gestisches Archiv des Terrors als reaktivierbares vor. Das im filmischen Medium enthaltene Versprechen, zeitlich Vergangenes – und insofern Unwiederholbares – mit Sublimation und »Rührung« zu betrachten, verdichtet sich dabei zu beunruhigend zwischen den Zeiten flottierenden Sequenzen, die den Terror als etwas zeigen, das nicht nur nicht vollständig vergangen, sondern auch: wiederholbar ist.

W IEDERHOLEN 2 Zehn Monate nach den Terroranschlägen vom 11. September, im Juli 2002, durchsuchte das Hamburger LKA eine Buchhandlung im Hamburger Stadtteil St. Georg. Beschlagnahmt wurden zum Verkauf angebotene Videos, die »Lektionen« von Mohammed Fazazi enthielten, dem Imam der Al-QudsMoschee, der Deutschland zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen hatte. Auf den Videos sind zwei Lektionen vom 3. und 5. Januar 2000 zu sehen. Romuald Karmakar hat sie ein zweites Mal verfilmt.19 Hamburger Lektionen (2006) ist ein didaktisches Reenactment und ein Remake, die Re-Inszenierung eines Films, der innerhalb einer kleinen radikalen Subkultur weit zirkuliert war; eine Übersetzung für eine andere, breitere Öffentlichkeit, die informiert werden soll über eine spezifische Praxis ideologischer Einübung. Den Aufklärungsgestus des Films bringt Karmakar auf den gegen die medienöffentlichen Topoi der ›Hasspredigt‹ gemünzten Begriff der »Rekonkretisierung«. Fazazis geheimer, nur an Eingeweihte adressierter Diskurs soll als »Text aus Deutschland« (Karmakar) sichtbar gemacht werden. Da die filmisch-konzeptuelle Anordnung, die Karmakar bereits in Das Himmler-Projekt (2000) erprobt hat, wiederholt wird, lässt sich entlang einer auteuristischen Linie durchaus auch die Frage stellen, wie explizit und wie absichtsvoll Karmakar hier den ›Himmler in Fazazi‹ aufrufen möchte, d.h. inwieweit auf dieser Ebene an den problematischen ›Islamfaschismus‹-

18 Ob die Mitglieder der ›Hamburger Zelle‹ Mohammed Atta, Marwan Al-Shehhi und Ziad Jarrah, die regelmäßig in der Moschee verkehrten, an den beiden Sitzungen vom 3. und 5. Januar 2000 teilgenommen haben, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. 19 Hamburger Lektionen (D 2006, R: Romuald Karmakar).

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Diskurs angedockt wird. Manche Interpreten des Films haben sich diesbezüglich zu weit gehenden Analogieschlüssen hinreißen lassen. Wie auch immer man die werkimmanente Remake-Logik beurteilt: Hamburger Lektionen ist weniger interessiert an Geschichtsschreibung (die spekulativste Variante wäre: Fazazis Lektionen als ideologischer 9/11-Prätext), als an einer interventionistischen Geste, die keine These zur Anziehungskraft des radikalen Islam enthält, sondern lediglich ein zeithistorisches Fundstück, eine Quelle präpariert. Die Anordnung ist folgende: Der Schauspieler Manfred Zapatka – Karmakars »Echolot« (Alexander Kluge) – sitzt unkostümiert vor einer neutralen Studiowand und trägt die ins Deutsche übertragenen Lektionen vor. Konzentriertes Sprechen, kunstvolle Artikulation, keine Mimese. Die Einstellungsgrößen wechseln zwischen Halbtotaler und Großaufnahme, zeigen den Schauspieler von vorne oder im Profil. Zapatka sitzt auf einem Hocker, liest von Blättern ab, die hin und wieder von einer Hand (Karmakars Hand) in den Bildausschnitt hineingereicht werden. An einigen Stellen werden Reaktionen des Auditoriums (z.B. Gelächter) durch eingeblendete Inserts mitgeteilt. Die nachgesprochene Rede dissimuliert die Spuren des Übersetzungsvorgangs nicht; die termini technici der arabischen Ausgangssprache werden beibehalten und mit Fußnoten versehen, die von Zapatka demonstrativ mitgesprochen werden; er erläutert sich gewissermaßen selbst und muss dafür noch nicht einmal aus (s)einer Rolle fallen. Die in voller Länge wiedergegebenen Lektionen erfahren keine offensive Verfremdung, werden aber auch nicht einfach wiedergegeben, sondern in einen ästheti-

20 »Bei Himmler sind die Deutschen ›Übermenschen‹, bei Fazazi ›Untermenschen‹ […] Was sind wir für eine Gesellschaft, die sich nicht wehrt, wenn man sie so offen angreift? Die Antwort lautet: eine Gesellschaft, die ob der Erfahrung der Nazizeit, deren Tradierung, nun zögert, gegen Menschen anderer Herkunft, anderen Glaubens vorzugehen. Der Zusammenhang zwischen Hamburger Lektionen und Das Himmler Projekt, deren historische Dimensionen, ist unmittelbarer, als man zuerst vielleicht denkt: Damals hat man sich hier nicht gegen die Hetzer gewehrt, und heute wehrt man sich hier schon wieder nicht gegen die Hetzer, weil man nicht mit den Hetzern von damals verwechselt werden will.« (Möller, Olaf: »The Easy Way is Always Mined«, in: Ders./Michael Omasta (Hg.), Romuald Karmakar (= FilmmuseumSynemaPublikationen, Band 13), Wien 2010, S. 11-130, hier S. 101f.).

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schen Formalismus eingespeist, dessen suggestive Dimension in der Produktion diskursiver Transparenz liegt. Die geübte Artikulation des Schauspielers Zapatka und die Einfachheit der filmischen Mittel re-präsentieren aber nicht einfach eine Rede, sondern verwandeln Fazazis Originallektionen in einen theatralen Monolog, in ein Ein-Personen-Stück; sie werden zum Text, zu etwas, das, bereinigt von allen (nonverbalen) Parametern der Insinuation, der Agitation, der Interaktion wiederholt werden kann. Fazazis reaktionäre Position verbirgt sich in einem Dickicht geschulter Rechtsgelehrsamkeit, das dem Rezipienten einiges an Aufmerksamkeit abverlangt. Im Ergebnis gelangt der Imam jedoch immer wieder zu eindeutigen Festlegungen und unmissverständlichen Handlungsmaximen: Die »deutschen Ungläubigen« dürfen grundsätzlich getötet werden; das Fälschen von Reisepässen ist »halal« (erlaubt), solange es nicht Selbstzweck ist; Frauen ist das Alleinreisen »haram« (verboten) usf. – Fazazis verschlungene Auslegungen der Sharia betreiben an verschiedenen Stellen einen erheblichen argumentativen Aufwand, um die als besonders konservativ geltende salafistische Auslegung der Koranverse mit der mobilen Globalisierungsgegenwart in Einklang zu bringen. Im Vergleich zu S-21 ist Hamburger Lektionen formal gesehen wesentlich näher am Reenactment-Modell der Performance-Kunst; man könnte auch sagen: ›unfilmischer‹, zumindest undynamischer, insofern der ästhetische Abstand zwischen der ›Geschichte‹ und dem Modus ihrer rhetorischen Vergegenwärtigung nicht nur deutlich markiert ist, sondern auch stabil bleibt. Die Differenz wird betont, um eine ›werktreue‹ Vergegenwärtigung der historischen Rede in durchgehaltener Perspektivierung zu ermöglichen. Der historische Raum, dem diese Rede entstammt, findet auf der Bildebene keinerlei Entsprechung, weder metaphorischer noch rekonstruktiver Art; er wird nur vermittelt, gleichsam als raumloses Echo, über die mitverlesenen Reaktionen des damaligen Publikums vergegenwärtigt. Die ›Geschichte‹ muss und soll aus dem performten Text kommen. Eine Markierung außerhalb der Sprache gibt es aber dennoch: Zwischen den beiden Lektionen ist wie zu Beginn des Films eine einzige Einstellung zu sehen, die nicht im Studio gedreht wurde. Sie zeigt die Moschee von außen, von der gegen-

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überliegenden Straßenseite aus und gibt Hamburger Lektionen einen räumlichen und zeitlichen Index: Deutschland, Gegenwart. Der historiographische Ertrag dieser Geschichtswiederholung bleibt auf die Ebene der Materialgewinnung bezogen. In gewisser Weise re-enacted Hamburger Lektionen eine Praxis der Indoktrination im Vertrauen darauf, dass die solchermaßen sichtbar gemachte Quelle ihren Erklärungszusammenhang gleichsam automatisch mit sich führen wird. Die eigentliche Arbeit liegt also jenseits des Films, in der Zukunft: »Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht.«  Hier liegt zugleich die Grenze des reduktionistischen Reenactments, das auf anti-historistische Vergegenwärtigung setzt, im Nachstellen aber vor allem die Distanz zur Geschichte herstellt. In S-21 ist das gegenwärtige historische Wissen filmästhetisch vielschichtig prozessiert, Teil der sichtbaren Blockade der Täter, eine Ursache für die nicht vollständig durchgeführten Erinnerungsperformanzen. Karmakars Bearbeitung der Fazazi-Lektionen reproduziert hingegen eine Rede als Text-Performance, präpariert eine Quelle, die an Sichtbarkeit gewinnt, aber deutungsbedürftig bleibt und erst noch zum Sprechen gebracht werden muss.

L ITERATUR Hamburger Lektionen (D 2006, R: Romuald Karmakar) S-21, La machine de mort Khmère Rouge (KH, FR 2003, R: Rithy Panh) Arns, Inke: »Strategien des Reenactment«, in: Dies./Gabriele Horn (Hg.), History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenös-

21 Bereits in Das Himmler-Projekt taucht das historische Publikum der Posener Rede aus dem Jahr 1943 nur aus dem Off auf – in Form einer namentlichen Auflistung der anwesenden SS-Generäle, inklusive kurzer Vermerke über ihre Karrieren als Anwälte, Ärzte, Bürgermeister etc. in der BRD (beim HimmlerProjekt handele es sich in letzter Konsequenz um einen Film über die »Bonner Republik«, lautet Karmakars dazugehöriger Kommentar). 22 Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 206.

S USPENDIERTE H ISTORIZITÄT | 187

sischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt a.M.: Revolver 2007, S. 38-63. Cavell, Stanley: The World Viewed, Cambridge/Massachusetts, London: Harvard Univ. Press 1979. Cavell, Stanley: »Welt durch die Kamera gesehen«, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992. Chion, Michel: Audio-Vision. Sound on Screen, New York. Columbia Univ. Press 1994. Chion, Michel: »Das akusmatische Wesen. Magie und Kraft der Stimme im Kino«, in: Meteor. Texte zum Laufbild 2. 6 (1996). Doane, Mary Ann: The Emergence of Cinematic Time. Modernity, Contingency, The Archive, Cambridge/Massachusetts, London: Harvard Univ. Press 2002. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Möller, Olaf: »The Easy Way is Always Mined«, in: Ders./Michael Omasta (Hg.), Romuald Karmakar (= FilmmuseumSynemaPublikationen, Band 13), Wien 2010, S. 11-130. Panh, Rithy: »Ich bin ein Vermesser der Erinnerung«, in: Stadtkino Zeitung, Nr. 411 (2004). Rehm, Jean-Pierre: »Erinnerungsfabrik versus Todesmaschine«, in: Stadtkino Zeitung, Nr. 411 (2004). Rodowick, D.N.: The Virtual Life of Film, Cambridge/Massachusetts, London: Harvard Univ. Press 2007. Silverman, Kaja: The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema, Bloomington, Indianapolis: Indiana Univ. Press 1988.

Reenactments als Freilufttheater und Gedenkort W OLFGANG H OCHBRUCK

Der Begriff des Reenactments ist von verschiedenen Medialisierungsinstanzen in z.T. deutlich voneinander abweichenden Formen besetzt. Gemeinsam ist allen lediglich die Übereinstimmung dahingehend, dass es sich um eine Wieder-Aufführung, eine Art der Re-Inszenierung handelt. Im letzteren Sinne wird Reenactment im vorliegenden Band von Seiten der theaterwissenschaftlichen Beiträge verwendet, die Re-Inszenierungsversuche von besonderen Meilensteinen der Aufführungspraxis und der Theatergeschichte behandeln. Bei der Produktion von Fernsehdokumentationen werden als Reenactment jene eingeschnittenen Spielszenen bezeichnet, die als Authentizitätsfiktionen 1 zur bewegten Bebilderung der historischen oder archäologischen Funde und (vermuteten) Sachverhalte dienen.2 Diese Praxis ist in die im Folgenden vorgeschlagene Verwendung von Reenactment in mehrfacher Hinsicht eingebettet.

1

Pirker, Eva Ulrike/Rüdiger, Mark: »Authentizitätsfiktionen in populären Gechichtskulturen: Annäherungen«, in: Eva Ulrike Pirker et al. (Hg.), Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, Bielefeld: transcript 2010, S. 11-30, hier S. 23.

2

Siehe zum Thema: Hochbruck, Wolfgang: »Belebte Geschichte. Delimitationen der Anschaulichkeit«, in: Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hg.), History Goes Pop. Geschichte in populären Medien und Genres, Essen: transcript 2009, S. 215-230.

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Der Begriff des Reenactments hat sich seit seiner Einführung in den wissenschaftlichen Diskurs durch Jay Anderson 1982 weitgehend eingebürgert für Events aus dem Bereich, den eine von mir geleitete Arbeitsgruppe 2007-2010 unter dem Begriff Geschichtstheater untersucht hat. Anders als das Museumstheater, d.h. die Living History Interpretation im Kontext von Museen sind Reenactments nicht an Institutionen oder Körperschaften gebunden (obwohl diese als Veranstalter auftreten können). Der Schauspiel-Anteil des Reenactments hängt unmittelbar damit zusammen, dass es natürlich im eigentlichen Sinne so etwas wie ReInszenierungen von Geschichte aus zwei Gründen nicht geben kann. Zum einen, weil die Vergangenheit selbst unter optimalen Wissensstands- und Ausstattungsbedingungen schlechterdings nicht wiederholbar ist, sondern das Verhältnis des Ereignisses zu seinem Reenactment notwendig immer ironisch bleiben wird, zum zweiten, weil es sich beim ursprünglichen Ereignis ja nicht im Wortsinne um ein Enactment gehandelt hat, sondern um ein zwischen Ablauflogik und Zufällen oszillierendes Amalgam von widerläufigen Intentionalitäten und Unvorhersehbarkeiten. Insofern ist der Begriff des Reenactments für die versuchte Re-Inszenierung von Theaterereignissen um ein Problem leichter – in diesem Fall war das Original ja tatsächlich bereits Inszenierung.3 Bei Reenactments handelt es sich um theatrale Aneignungen von Geschichte. Der Begriff des Theatralen ist hierbei weit gefasst – mit Victor Turner zu sprechen gehören die Reenactments als Role Playing Games im weiteren Sinne unter die Rubrik ›pädagogisches Spiel‹.4 Anders als die Living History Interpretation sind sie nicht in Museen und meistens sogar überhaupt nicht institutionell verortet, sondern ereignisbezogen und insofern punktuell, mit einer Tendenz zur zeiträumlichen Wiederholung -- häu-

3

Allerdings muss sich die Praxis der authentischen Re-Inszenierung fragen lassen, ob sie nicht weniger dem Reenactment als dem Pageant nahe steht, also der (auto-)zelebratorischen Form des Festaufzugs, in dem in der Regel historische oder religiöse Ereignisse wiederaufgeführt werden.

4

Turner, Victor: From Ritual to Theatre: The Human Seriousness of Play, New York: Performing Arts Journal 1982, S. 91f. Siehe auch Choy, Edward: »Tilting at Windmills. The Theatricality of Role-Playing Games«, in: Markus Montola/Jaakko Stenros (Hg.), Beyond Role and Play. Tools, Toys and Theory for Harnessing the Imagination, Helsinki: Ropecon 2004, S. 53-63, hier S. 54, 56.

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fig sind sie auf die Nach-Stellung militärhistorischer Ereignisse konzentriert, wobei diese entweder an einem konkreten Ereignis und am Originalort bzw. einer diesem lokal nahen oder ähnlichen Lokation festgemacht sein können (z.B. Lützen 1632, Waterloo 1815, oder wie im nachstehenden Beispiel Gettysburg 1863), oder generisch auf ein solches Ereignis bezogen sind (wie im nachstehenden Beispiel First Bull Run). Es gibt auch völlig vom konkreten Ereignis gelöste Reenactments, deren Bezug zu den historischen Vorbildern generisch ist und die eigene Traditionslinien entwickeln.5 In jedem Fall liegt dem Reenactment ungleich dem an der Lebensweltlichkeit des Alltags orientierten Museumstheater aber ein Anspruch auf Wieder-Aufführung von etwas historisch Bedeutsamen zugrunde. Insofern sind sie auch anders als die LARP-Cons nicht nur Abenteuerspiel, sondern als zelebratorisches Drama den Festaufzügen und Pageants typologisch verwandt. Vor allem aber sind Reenactments Theater; versuchte Wiederaufführungen historischer Ereignisse mit den Mitteln des Live-Action-Rollenspiels. Als besondere Sprossform organisierten und reglementierten Rollenspiels lassen Reenactments noch die Grundzüge dessen erkennen, was im Kindesalter frei und im fliegenden Wechsel von Rolle zu Rolle und Spiel zu Spiel erwartet und ermutigt wird, und auf der Basis von Phantasiekonstrukten mit einem Minimum an Staffage und Kostümierung auskommt. Reenactors 6 können ihr Hobby natürlich auf einer breiten Skala unterschiedlicher Intensitäten betreiben, vom »farb« über den familienfreundlichen »mainstreamer« bis zum um extreme Isomorphie bemühten »hardco-

5

Vgl. John Cashs Notizen zur Tradition der jährlichen Civil War Reenactments in Billy Creek, Indiana: Cash, John: »The Usable Past Reconsidered: an Ethnography of Civil War Reenactors«, in: Györgyi Csukás u.a. (Hg.), Times. Places, Passages. Ethnological Approaches in the New Millenium, Budapest: Akadémiai Kiado 2004, S. 246-257, hier S. 249.

6

Es begegnen auch die Formen Reenacters sowie Reenactoren als Eindeutschungsversuche; die nahe liegende Übersetzung »historische Rollenspieler« ist zur Selbstbeschreibung anscheinend nie auch nur in Erwägung gezogen worden, wie überhaupt in der Szene der historische Gehalt – die ›Authentizität‹ – in der Regel gegenüber dem Schauspielanteil hervorgehoben wird.

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re«7 – diese Unterschiede beziehen sich im Wesentlichen auf den in den jeweiligen Gruppen verhandelten Standard, bis zu dem die Annäherung an das recherchierte oder jedenfalls rezipierte Geschichtswissen auf der Basis der materiellen Ausstattung der Spieltechnik bzw. des Spielregelwerks getrieben werden soll.8 Seit ca. 1990 ist der so in sich geteilten ReenactmentSzene dabei im LARP eine echte Konkurrenz erwachsen, die vor allem für Jüngere wegen des höheren Anteils an von historischen Prätexten und damit zusammenhängenden Zwängen unabhängiger Fantastik attraktiver zu sein scheint. Der performativ-strukturelle Hauptunterschied zwischen Reenactment und LARP liegt allerdings in der Tatsache, dass der Reenactor (geschätzte 80% der Reenactors sind männlich, insofern wird hier die männliche Form verwendet) in aller Regel als er selbst unterwegs ist, während Larper wie in den Tischrollenspielen, aus denen die Larp-Szene entstanden ist, mit angenommenen Spiel-Identitäten operieren.9 So weit zu beobachten scheint lediglich eine Minderheit auch ihre Teilnahme am Reenactment spieltechnisch gesehen mit einer Rollenspielfigur zu betreiben (wobei die Verwendung des eigenen Namens nicht zwingend auf Distanz schließen lässt; die Verlagerung des ›Selbst‹ in den Spielkontext lässt sich argumentativ als Generation einer Spielfigur interpretieren). Ist damit eine wie auch immer lose Grenzziehung zum LARP-Bereich hin definiert, so funktioniert die Abgrenzung zum Pageant, dem Festaufzug, über die Gradierung der Zeremonialität. Zwar ist auch das BattleReenactment eine Aufführung, deren zeremoniale Abstraktion von der

7

Während sich »mainstream« und »hardcore« selbst erklären, dürfte »farb« auf den deutsch sprechenden Gary Rolph zurückgehen, der inauthentische Uniformen des Bürgerkriegs als »farby« (= farbig, bunt) bezeichnete, vgl. Begone, Jonah: »Who Was the Founding Father of Farb? An Academic Treatise on the Origin of the Word«, in: Camp Chase Gazette vom 10.09.1999, S. 50-52.

8

Versuche von Typologisierungen anhand der verschiedenen Authentizitätsfiktionen gibt es in Hobbyzeitschriften immer wieder, siehe z.B. Kinzer, Cal: »The Three Mindsets of Living History«, in: Camp Chase Gazette vom 26.3.1999, S. 38-43; Harding, Douglas A.: »Expectations and Tolerance«, in: Camp Chase Gazette vom 22.5.1995, S. 40-42. Eine ausführliche Typologie ist in Arbeit (Vf.).

9

Hauenstein, Anna Lena: »Larp and Reenactment: Similarities and Differences«, Wiss. Zulassungsarbeit für das Lehramt an Gymnasien, Freiburg 2008.

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Schlacht selbst schon aus dem Wegfall des tatsächlichen Massenanfalls von Verletzten und Toten ersichtlich ist. Außerdem ist die Teilnahme an einer idealisierten historischen Gemeinschaft, wie sie im Reenactment, entsteht natürlich immer auch zeremoniell.10 Trotzdem ist der Unterschied erkennbar zur Aufführung, in deren Zentrum die Zeremonie steht, wenn etwa fünf Monate vor Beginn der olympischen Sommerspiele 2000 die historisch gewandete Schauspielerin Thalia Prokopiou mit einem Hohlspiegel im Tempel der Hera im antiken Olympia eine Fackel in Brand setzt.11 Die Inszenierung der Entfachung des olympischen Feuers in rezipiert historischen Kostümen ist damit auch insofern näher am Theater, als hier das Reenactment eines historisch zumindest so vermuteten Enactments wiederaufgeführt wurde. Anders als in den unmittelbar interaktiven Festaufzügen, die ›Vergangenheit‹ nur als symbolische Aufführung transportieren, sind Reenactments lebensgroße Re-Konstruktionsversuche, die sich in einer kybernetischen Schleife dem historischen Vor-Bild anzunähern versuchen. Der Begriff des Vor-Bilds ist mit Bedacht gewählt, insofern der Performanz eine bildliche Vorstellung vorausgeht, an die angenähert wird: Gemälde (auch imaginative Rekonstruktionen historischer Ereignisse), Friese, zur Gegenwart hin Fotos und natürlich Filme spielen alle ihre Anschauungsobjekte in den Bereich der Vor-Bilder ein.12 Die Beeinflussung durch den Film ist dabei zwangsläufig besonders für mainstream und farbs bestimmend, insofern das Erlebnis-als-Film ohnedies seit den sechziger Jahren zum Topos des erlebnisweltlichen Berichts wird. Im Reenactment, insbesondere in der militärischen Spielart, kann der »Spect-Actor« ähnlich wie ihn Augusto Boal als ›Mitspieler‹ der theatralen

10 Das umfasst auch vieles, was – m.E. falsch terminologisiert – als Living History verkauft wird, vgl. Philipp J.C. Elliot-Wrights opulenten Bildband Living History, der lediglich nachgestellte Kriegstechnik vorstellt, aber einsetzt mit: »The recreation of historic battles for commemorative purposes has had a long history.« Elliot.Wright, Phillipp J.C.: Living History, London: Brassey's 2000, S. 6. 11 (AP Bericht und Foto) »Götterfunke«, in: Stuttgarter Zeitung vom 26.03.2000, S. 1. 12 Zum Thema immer noch grundlegend: Freedberg, David: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago: Univ. of Chicago Press 1989, S. 429-440.

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Aufführung sah, selbst in das Geschehen hineintreten und in seinem eigenen (Kriegs-)Film mitspielen. 13 Typischerweise gilt es als ›authentisch‹, wenn die vorgeführte Darstellung für die Zuschauer – und für die Darsteller selbst – subjektiv aussieht wie ein Film: wenn also die Reporterin z.B. über eine Gruppe von Amerikanern in deutschen Waffen-SS-Uniformen nicht nur schreibt, dass diese eine »...most vivid and disturbing impression« hinterlassen hätten, sondern auch noch vermerkt: »...they looked as if they'd stepped out of a 1944 newsreel.« 14 Auch insofern eine solche Wochenschau-Aufnahme in Schwarz-Weiß gedreht worden wäre, ist die Aussage offenkundig impressionistisch, und zudem zirkelschlüssig: von einem rezipierten filmischen Bild-Eindruck her über den Versuch der isomorphen Replikation zurück zu einer Rezeption der Replikation als ›filmisch‹. Wenn Filmproduktionsfirmen dann auch noch Reenactors anheuern, um die vorgesehenen Spielszenen in ihren Dokumentationen zu bevölkern (was sowohl in Nordamerika wie Europa gängige Praxis ist), schließt sich der Kreis vollständig. Die etwas weitläufigere Definition von Reenactment im Sinne des Geschichtstheaters und seine typologische Verortung sind nötig, um die Erläuterung der beiden Thesen, die in unmittelbarer Verbindung zum Thema des Bandes im Folgenden im Zentrum des Interesses stehen sollen, nicht wieder in Richtung auf die letztlich unlösbare Frage nach verbindlichen Authentizitätsstandards oder auf die psychosoziale Problematik der Identifikation mit angenommenen Rollen hin abrutschen zu lassen: 1. Es handelt sich bei dem, was wir z.Zt. unter dem Stichwort Reenactment erleben, um eine methodisch neue Ausdrucksform einer in verschiedenen Disziplinen, in diesem Fall in der Geschichtsschreibung, stattfindenden Demokratisierung von Wissenszugängen. 2. Reenactments signalisieren darüber hinaus eine extra-institutionelle Wiederaneignung von Theater als gemeinschaftlicher Aufführungspraxis.

13 Boal, Augusto: The Rainbow of Desire: The Boal Method of Theatre and Therapy, New York: Routledge 1995. Den Transfer dieses Konzepts verdanke ich Choy 2004, S. 57. 14 Thompson, Jenny: Wargames. Inside the World of 20th-Century War Reenactors, Washington: Smithsonian 2004, S. 3.

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D IE D EMOKRATISIERUNG VON W ISSENSZUGÄNGEN Reenactments im Sinne des Geschichtstheaters gehören zum weiteren Feld der intentionalen Geschichtsschreibung. Sie personalisieren Geschichte und sind auf dieser Basis ein bisher wenig beachteter Teil des weitläufigen Prozesses der Geschichtsaneignung ›von unten‹, zu der auch die usergenerated history auf Webplattformen gehört.15 Die sich in diesen Phänomenen ausdrückende zunehmende Demokratisierung von Wissenszugängen ist ein Phänomen der republikanischen Moderne. Weitaus größere Prozentsätze der Bevölkerung als je zuvor in der Geschichte beenden ihre Schulbildung mit dem höchsten vorgesehenen Schulabschluss; in einigen westlichen Demokratien liegt die Zahl der Hochschulabgänger, die wenigstens einen Bachelor/Bakkalaureats-Abschluss erreichen, zwischen einem Viertel und annähernd der Hälfte der entsprechenden Altersgruppe. Unter den mehr symbolischen Landmarken dieser Demokratisierung ist in der jüngeren Vergangenheit die Abkehr von einer theatralen Form der Zelebration von Herrschaft zu vermerken; also z.B. eine Abkehr vom Pageant der universitären Festumzüge, mit denen der ›Normal‹-Bevölkerung immer auch signalisiert wurde, wer das Monopol der Wissensschöpfung hatte. Die Abschaffung der Talare als Habit schlug nicht nur auf die Anzugsordnung durch, sondern auch auf den Habitus (Bourdieu) ganzer Fakultäten, so dass ein weitgehend symbolfreier Raum mit karnevaleskem Potential geschaffen wurde – wovon allerdings in der Praxis wenig Gebrauch gemacht wird. Der Punkt ist die Signalwirkung des Dress Code: Die Authentifizierung der Wissensaneignung ist in den Reihen der Reenactors umgekehrt analog gestaffelt. Während der Professor keinen Talar mehr braucht, um seine Wissensposition zu dokumentieren, das Wissen also zur ›freien‹ Verhandlungsbasis und -masse wird, wird im Reenactment der Grad der Isomorphie in der Ausrüstung häufig mit Wissen gleichgesetzt bzw. aus der ›Authentizität‹ der Darstellung eine Wissenshoheit oder ein Anspruch auf Wissenshoheit auch z.B. auf der Ebene des historischen Daten- und Faktenwissens abgeleitet. Faktisch ist es aber so, dass Reenactments keiner Kontrolle von Fachleuten unterliegen, wie dies etwa im Kontext von Museen für Living History Interpretation-Programme durch Historiker und Museumspädago-

15 Gengenbach, Paul: »User-Generated History. Auf den Spuren einer Erinnerungskultur im web 2.0«, Magisterarbeit, Freiburg, 2011.

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gen gewährleistet ist. Was nicht heißt, dass diese immer dieselbe fachliche Kompetenz wie auf ihren Gebieten hochspezialisierte Reenactors aufwiesen. Worum es geht, ist aber nicht der Einzelfall, sondern die Präsenz bzw. Absenz einer Qualitätskontrolle. Die Geschichtsaneignung unter Reenactors ist nur noch aus der sozialen Gruppe heraus kontrolliert. Daraus entstehen natürlich Möglichkeiten für mehr oder weniger offenen Geschichtsrevisionismus.16 Häufiger ist allerdings, was Gordon L. Jones ein »gut level command of the past«17 genannt hat, die physische Inkorporation von Wissen über die Praxis der Geschichte und über Details, die in Geschichtsbüchern nie und selbst in Kulturgeschichten selten vorkommen, weil sie wegen ihrer fraglosen Selbstverständlichkeit unter den Teilnehmern nicht erwähnt werden brauchten und mit diesen aus der Geschichte verschwanden. 18 Das hier erworbene und z.T. wiederentdeckte Wissen ist häufig fachwissenschaftlich gar nicht zugänglich und nur über Immersion erreichbar – in dieser Hinsicht befinden sich hardcore reenactors im Grenzbereich zur experimentellen Archäologie.19 Im Bereich der Historiographie gibt es schon lange Orts- und Vereinshistoriker mit nicht notwendig akademischer Ausbildung. Schon deshalb wurden diese in den seltensten Fällen von der Wissenschaft ernst genommen, und ähnlich sieht es im Verhältnis zwischen universitärem Geschichtswissenschaftsbetrieb und den ›Hobbyhistorikern‹ der ReenactmentSzene aus. Ausgangspunkt von deren Recherchetätigkeiten sind nach wie vor eindeutig die Handbücher, in zweiter Linie dann die spezialisierte Fachliteratur zum Thema, aber manche, die über den Reenactment-Theaterspaß

16 Allred, Randall: »Catharsis, Revision, and Re-enactment: Negotiating the Meaning of the American Civil War«, in: Journal of American Culture 19.4 (1996), S. 1-13. 17 Jones, Gordon L: »›Gut History‹. Civil War Reenacting and the Making of an American Past«, Ph. D. Diss., Emory Univ., 2007, S. 242. 18 siehe Billings, John D.: Hardtack and Coffee. The Unwritten Story of Army Life, Boston: Smith 1887. 19 Leider sind die wenigsten dieser Experimente so qualitativ gut und methodologisch brauchbar dokumentiert wie der Versuch einer Reihe von Reenactors, Shermans Marsch durch Georgia zu replizieren; siehe Christen, Bill: »99 and 44/100's % Pure…It Floats to the Top.« Camp Chase Gazette vom 23.3.1994, S. 44-48.

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hinaus am Thema interessiert sind und z.B. alte Techniken, Alltagsleben und Sozialverhältnisse sowie Personen recherchieren, erarbeiten sich ein Detailwissen, das für Fachwissenschaftler in dieser Eindringtiefe wg. der Vielfalt ihrer Verpflichtungen nur in Einzelfällen erreichbar ist.20 Von der Fachwissenschaft wird diese parallele Qualifikationsebene wenig zur Kenntnis genommen und in der Regel weder in ihrem Potential noch in ihrer politischen wie wissenschaftspraktischen Trag- und Reichweite akzeptiert. Mit problematischen Folgen in zweierlei Hinsicht: Zum einen verliert der politische Staat in dem Maße, in dem die von ihm zu erheblichen Teilen finanzierte und deshalb quasi als Verbündete geführte Fachwissenschaft die Bewegung zur Aneignung von Geschichte von unten nicht mitvollzieht, seinerseits den Zugriff auf die eigenen Gedenktage und Orte. Zum anderen bedeutet eine Demokratisierung von Wissenszugängen nicht zwangsläufig, dass damit kritischere Meinungen zu Wort kommen oder eine Wendung zu Toleranz, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit erreicht wird. Die Reenactors sind nicht die Nachfahren der ›Barfußhistoriker‹ und der Veranstalter von Geschichtswerkstätten der siebziger Jahre; vielfach gehören sie gerade in den USA eher dem konservativen Lager an, wie ein Blick auf die Reenactments der Schlacht von Gettysburg deutlich macht. Die Übernahme der öffentlichen Gedenkfeiern dieser Schlacht ist ein Beispiel für die Weiterführung von mythographischen Inhalten im Reenactment. Eine der größten und entscheidenden Schlachten des amerikanischen Bürgerkriegs vom 1. bis 3. Juli 1863 im ländlichen Pennsylvanien ausgefochten, war Gettysburg, darin sind sich die Fachhistoriker einig, klassisches Beispiel für eine zufallsgesteuerte Entwicklung: Keine der beiden Seiten hatte hier ein größeres Treffen angestrebt; am zweiten und dritten Tag waren gleichwohl die konföderierte Army of Northern Virginia und die unionsseitige Army of the Potomac mit Masse involviert. Da es sich um die erste große Schlacht auf dem Boden eines Nicht-Sklavenhalterstaats und in relativer Nähe zu den Zentren der politischen Macht handelte, gab es quasi sofort Kommemorationsbestrebungen, und im November war der Präsident selbst anwesend, als ein Nationalfriedhof (der erste in USA) an-

20 Ausführlicher hierzu: Hochbruck, Wolfgang: »Zwischen Ritterspiel und Museumstheater. Performative Aneignung von Geschichte«, in: Wolfgang Hardtwig/Alexander Schug (Hg.), History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart: Steiner 2009, S. 163-173.

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gelegt wurde. In den Folgejahren wurde diese Schlacht zum eminent wichtigen, sogar kriegsentscheidenden Ereignis hochstilisiert, und eine ganze Reihe Veteranentreffen fanden dort statt. Diese hatten prinzipiell bereits Reenactment-Charakter; man bestätigte und bestärkte sich selbst und gegenseitig in einer zunehmend zur Mythologie werdenden Heldenpose. 21 1893 wurde Gettysburg als National Battlefield Park zu einem Gedächtnisort im Sinne Pierre Noras. Im Sinne der Aussöhnungs-Ideologie der alteingesessenen Weißen untereinander und letztlich auf Kosten der Einwanderer und ethnischen Minderheiten wurde der Friedhofshügel von Gettysburg zur ›High Water Mark‹ der Konföderation und in einer Reenactment-ähnlichen Szene 1913 zum Treffpunkt der weißhaarigen Original-Teilnehmer, die sich in einer geplanten Umwidmung vom tödlichen Konflikt zum Teil der Reunion-Mythologie die Hände schüttelten, wie Bilder und Filmszenen am Ende von Ken Burns und Jeffrey Wards neunteiliger PBS The Civil War – Serie zeigen.22 Ohne speziell diese in Bildern festgehaltene Szene mit ihrer offensichtlichen Umwertung des erbitterten Nahkampfs in eine fröhliche Spielszene hätte es sämtliche nachfolgenden Reenactments nicht gegeben. Mit dem »Last Gathering of the Blue and Gray« 1938, zu dem auch Veteranen anreisten, die nie in Gettysburg gewesen waren, endete die Phase, in der die Präsenz von echten Veteranen die Authentizität der Veranstaltung bestätigte.23 Mit dem Misserfolg der offiziell eingesetzten Civil War Centennial Commission brach auch die Authentifizierung durch staatliche Kontrolle zusammen. Waren die Festaufzüge und Reenactments der dreißiger Jahre noch vom National Park Service ausgerichtet worden, so konnte die CWCC, in der Wissenschaftler, Business-Leute und Politiker saßen, zu keiner einheitlichen Position zusammenfinden. Ein Problempunkt war das auf-

21 Siehe Jones 2007; Dunning, Tom: »Civil War Re-Enactments: Performance as a Cultural Practice«, in: Australasian Journal of American Studies 21.1 (2002), S. 63-73, hier S. 63. 22 Zurückgehend auf Siegfried Lubin. prod., »The Fiftieth Anniversary of the Battle of Gettysburg«, Gettysburg, PA: Lubin 1913; Cash, S. 247; Hochbruck, Wolfgang: Die Geschöpfe des Epimetheus. Veteranen, Erinnerung und die Reproduktion des amerikanischen Bürgerkriegs, Trier: wvt 2011, S. 356. 23 Moyer, Anna Jane: Tenting Tonight, Boys! Gettysburg, 1938 – Last Reunion of the Blue & Gray«, in: Blue & Gray Magazine 5.6 (1988), S. 45-49.

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strebende Civil Rights Movement, gegen dessen Positionen und Ansprüche die konservativen Reenactment-Kreise eine Kontinuität der weißen Wiedervereinigungsmythologie setzten. Ausgerechnet jene Professoren, deren Standardwerke seit jeher zur Pflichtlektüre für Civil War Buffs gehören – Bruce Catton, Bill Wiley, James Robertson jr, Allen Nevins – zeigten sich teils aus historischen, teils wohl auch aus politischen Gründen der offensichtlich an Popularität gewinnenden Form der Reenactments abgeneigt.24 Stattfinden konnte 1963 in Gettysburg nur eine relativ begrenzte Festaufzugs-Zeremonie. Die 125-Jahrfeier 1988 dagegen war bereits insofern ein typisches Reenactment, als auf Grund der Erkenntnisse aus dem Centennial der National Park Service nach 1965 Reenactments in Nationalparks bis auf weiteres ausgeschlossen hatte. Seit dem Bicentennial der Vereinigten Staaten 1976 verselbständigen sich diese auch deshalb immer weiter von Fachhistorikern und NPS. Konsequent werden deshalb Reenactments als Derivatformen der ursprünglichen Erinnerungsveranstaltungen in einem dritten Entfernungsschritt vom originalen Gedenkort irgendwohin verlegt, wo es nach Meinung und Maßgabe der selbsternannten Organisatoren ähnlich aussieht. Damit wechselt das Szenario von offiziös organisierten, authentifizierten und reglementierten Erinnerungsveranstaltungen zum demokratisierten Mitmachtheater als Wissensaneignungs- und -vermittlungsform für alle, mit eigenen Regeln und mit eigenem Spiel-Feld. Diese Regeln haben viel mit einem typisch amerikanischen, aber auch in anderen Ländern mit ähnlichen sozialen Gefügen anzutreffenden Habitus im Sinne Bourdieus zu tun, der ländlich-kleinstädtisch und traditionell männlich geprägt ist, dazu von einem konservativen Familienideal geformt, mit der Ideologielinie der National Rifle Association im Einklang und zudem von einer latenten Moderneskepsis geprägt. Konkrete historische Richtlinien sind dem gegenüber sekundär bzw. in so weit von Belang, als

24 Braden, John A.: »The Centennial and Reenactment«, in: Camp Chase Gazette vom 28.4 .2011. Der Artikel belegt die segregationistischen und anti-Civil Rights-Tendenzen der Reenactment-Befürworter, während CWCC und NPS auf Regierungslinie blieben. Die Nachwirkungen dieser Trennung waren bis in die neunziger Jahre zu spüren.

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sie dem Small-Town bzw. Country Male Habitus25 zuarbeiten oder zumindest nicht widersprechen. Künstlerische Richtlinien spielen keine vordringliche Rolle; wenn im weiteren Sinne theatrale Gesichtspunkte ins Spiel kommen, handelt es sich um Kriegsfilmästhetik. Gleichzeitig greifen klassisch demokratisch-republikanische Ideen: In kybernetischen Schleifen bilden sich Gruppen (und lösen sich wieder auf), verbessern Spielweise und Annäherung an qualitative Isomorphie.26 Diese ersetzt die früheren Formen der Authentifizierung. Gelungene Authentifizierung etabliert theatrical correctness – eine Kategorie, um die sich das bürgerliche Theater natürlich nicht zu kümmern braucht. Theatertechnisch gesehen ist dies lediglich eine Fortsetzung der Tradition der Ausstattungsstücke; im Sinne einer demokratischen Wissensaneignung wird über die ›AuthentizitätǸ etwas ganz anderes verhandelt. Dass diese Form des Mitmachtheaters jahrelang sehr populär war, zeigen gerade die Gettysburg-Reenactments 1988 und 1998 zum 125. und 135. Jahrestag. 1998 brachte mit 20.000 Teilnehmenden ein 1:1 Replikat von Pickett‘s Charge am 3. Juli 1963, und das vor über 100.000 Zuschauern.27 Aus dem belächelten Hobby war eine veritable Massenbewegung geworden, wobei die Produktionsmittel in der Hand kleiner und mittelständischer Betriebe blieben. Dass sich politischer Erinnerungsdiskurs und Reenactment allenfalls auf lokaler Ebene treffen, wo die Rollenspieler als theatrales Element irgendwelcher Feiern oder zur Promotion von Wirtschaftsinteressen angeworben werden, hat die Verbindung zwischen Wissenschaftsbetrieb und ›HobbyhistorikernǸ nicht befördert. Trotzdem ist in den letzten Jahrzehnten mit der scheinbaren Neuentwicklung populärer, auf theatrale Formen gestützter Vermittlungsansätze im Geschichtsunterricht den Reenactments quasi durch die Hintertür ein methodisch wirksames Betätigungsfeld bzw. eine Bestätigung zuteil geworden: Living History Interpretation und Ree-

25 hierzu: Desmond, Matthew: On the Fireline. Living and Dying with Wildland Firefighters, Chicago: Univ. of Chicago, 2007. 26 Jones, Gordon L.: »›Little Families‹: The Social Fabric of Civil War Reenacting«, in: Judith Schlehe et al. (Hg.), Staging the Past. Themed Environments in Transcultural Perspectives, Bielefeld: transcript 2010, S. 219-234. 27 Heidorf, Christian J.: Gettysburg: The 125th Anniversary – What They Did Here, 1863-1988, Gansevoort, NY: Harlow & Taylor 1990.

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nactment sind als Spektakel und Dokufiktion Formen massenwirksamer Geschichtsvermittlung, und sind in welch fragwürdiger Form auch immer bereits in die Geschichtsdidaktik eingezogen. 28 Zwangsläufig subjektives und zwangsläufig ego- und gegenwartsbezogenes Erlebnis tritt damit zunehmend auch für Schülerinnen und Schüler an die Stelle einer auf reflektiertes Wissen aufbauenden Kenntnis der Vergangenheit. Was sich anfühlt wie Vertrautheit mit Ereignissen und Menschen der Vergangenheit muss nicht wirklich mehr sein als projektive Selbstbestätigung auf der Basis von als ›GeschichteǸ konstruiertem Psychodrama. Dass dies nicht zwangsläufig zu verlässlicheren Einschätzungen von Geschichte und ihren Bedeutungsebenen führt als die traditionellen Vermittlungsformen, und dass die Demokratisierung von Wissenszugängen nicht notwendig eine Demokratisierung ihrer Nutzer bewirkt, zeigen zahlreiche subjektivistische Fehlgriffe, von denen wenige die Prominenz und Dokumentation erreichten wie der Auftritt des republikanischen Kandidaten Rich Iott in einem Artikel des U.S. Magazins Atlantic 2010, das u.a. ein Foto des Politikers in Waffen-SS Uniform zeigte.29 Iotts Verteidigung, es habe sich um ein gemeinsames Spiel von Vater und Sohn gehandelt, war vielleicht eine familienpolitisch akzeptable Antwort; ließ aber vermuten, dass Iotts geschichtspolitischer Gesichtskreis bestürzend eng sein musste. Er zog – nur knapp unterlegen – bei den Wahlen im November immerhin nicht ins Repräsentantenhaus ein. Für die amerikanischen Republikaner war dies die Niederlage eines ihrer dümmeren Kandidaten, für die vielen (hobby-)historisch hoch qualifizierten und die politisch fortschrittlicheren Reenactors war es eine Katastrophe, die die Hoffnungen auf konstruktive Zusammenarbeit mit Wissenschaftskreisen ähnlich unterlief wie der Fall des »Ulfhednar«-Germanenreenactors, der 2008 in Paderborn im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung einer Völkerwanderungsausstellung eine verbote-

28 Neu, Tim: »Vom Nachstellen zum Nacherleben? Vormoderne Ritualität im Geschichtsunterricht«, in: Eva Ulrike Pirker et al. (Hg.), Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, Bielefeld: transcript 2010, S. 61-73, bes. S. 70. 29 Green, Green: »Why is this GOP House Candidate Dressed as a Nazi?«, in: http://www.theatlantic.com/politics/archive/2010/10/why-is-this-gop-housecandidate-dressed-as-a-nazi/64319 vom 23.10.2010.

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ne »Meine Ehre heißt Treue«-Tätowierung auf seinem Bauch zur Schau stellte.30

W IEDERANEIGNUNG DES T HEATERS Für das etablierte bürgerliche Kunst-Theater müsste die ReenactmentSzene auch deshalb ein Konkurrenzbetrieb sein, weil damit die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum von den eigentlich als Zuschauern Vorgesehenen (die aber in ihrer Mehrheit dem künstlerischen Theaterbetrieb entfremdet sind) überschritten wird, ohne dass ein künstlerischer Einfluss des Gegenwartstheaters stattfände. Anders als im mit Living History Interpretation operierenden Museumstheater,31 in dem das vorgeführte (in der Regel) Alltagsleben dominiert und das Spiel vermittlungszentrierter Zweck ist, ist Reenactment spielerzentriertes Improvisationstheater mit ausgesprochener Rückwärtswendung. Insofern sollte nicht verwundern, dass seine Theaterästhetik am ehesten noch Elemente des Melodrams aufgegriffen hat.32 Obwohl ihr Inszenierungsformat und die je nach Größe des Events zum Teil nach zehntausenden zählenden Zuschauer dies nahe legen, sind Reenactments nicht primär zuschauerorientiert. Die Zuschauer bezahlen Eintritt und sind deshalb für die Veranstalter aus ökonomischen Gründen auf dem Feld; vom Standpunkt vieler Reenactors sind sie häufig nur in Kauf genommenes Beiwerk, nicht (wie bei Living History Interpretation in Museum oder Schule) Klienten eines wahrgenommenen Bildungsauftrags; auch wenn dies auf Nachfrage bei Reenactors häufig behauptet wird und eine Bildungssituation außerhalb der Massenszenen im Kontakt zwischen Zuschauern und Lager- oder sonstiges Alltagsleben simulierenden Reenactors auch entstehen kann.

30 Schwarzenberger, Marcel: »Der Fall Ulfhednar und die Folgen«, in: http:// chronico.de/erleben/menschenorte/0000489 vom 20.4.2011. 31 Zum Thema: Magelssen, Scott: Living History Museums. Undoing History through Performance, Lanham, MD: Scarecrow, 2007. 32 Die unter Civil War Reenactors weithin bekannte »Widow« Barfield z.B. ›verwitwete‹ nur im Spiel als Effekt einer lang herausgespielten Sterbeszene ihres Gatten Brad.

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Für viele Reenactors sind gleichwohl die in der Regel vor Ankunft der Zuschauer stattfindenden freien Manöverspiele (Tacticals) oder andere zuschauerfreie Teile der Inszenierung der Hauptspaß des Event-Wochenendes. Hier findet dann Geschichte als Theater in einer kollektiven, demokratisierten Wieder-Aufführung statt. Auch für diese gilt, dass Fühlen vor Verstehen und Erleben vor Wissen kommt. Selbst wenn es viele und z.T. bewundernswerte Beispiele der Wissensaneignung gibt, gilt für den größeren Prozentsatz, dass Geschichte als Theater praktisch vor der Geschichte als Wissensraum liegt. Das heißt, Reenactments sind eine eklektische Versammlung performativer Techniken, die auf eine ›reale‹ Erfahrung zielen – in einer Variation der Methode Stanislavskijs.33 Im Sinne einer Wieder-Aufführung wichtiger Ereignisse für NichtDabeigewesene können Living Newspapers als historische Vorläuferformen der Reenactments gelten. In römischer Zeit sind in ihren wesentlichen Szenen imaginativ nachgestellte Schlachten ebenso belegt wie im französischen Revolutionstheater und im amerikanischen Bürgerkrieg. Ein großer Unterschied besteht wie schon beim Erwerb des historischen Wissens wiederum in der prinzipiellen Demokratisierung der Teilnahme: Die Teilnahme des Einzelnen entsteht heute nicht mehr auf der Basis einer von oben bestimmten Abordnung, sondern (jenseits eines gewissen Drucks aus der Gruppe) freiwillig, die Anführer der teilnehmenden Gruppen sind selbst gewählt, die Inszenierung mit den Mitgliedern abgestimmt, wo nicht sogar von diesen selbst entworfen. Sogar das Problem, dass die meisten Reenactment-Inszenierungen Brüche und Ungereimtheiten enthalten oder irgendwann von einem am Originalereignis angelehnten Verlauf ins Generische abrutschen,34 hängt mittelbar mit der Kollektivierung und Demokratisierung des Theaterereignisses zusammen: Es gibt zwar Skripte für den Ablauf, aber da zum einen vorher nicht geprobt werden kann, weil die Gemeinde nur für das Wochenende zusammenkommt, und erst recht aufgrund der Eigenwilligkeit von Einzelnen und Gruppen, entwickeln sich die Szena-

33 Schieffelin, Cf. Edward L.: »Performance and the Cultural Construction of Reality«, in: American Ethnologist 12 (1985), S. 707-724, hier S. 709f. 34 Bendix, Regina: »Der gespielte Krieg: zur Leidenschaft des Historic Reenactments«, in: Volkskultur und Moderne: Europäische Ethnologie zur Jahrtausendwende. Festschrift Konrad Köstlin, Wien: Inst. f. Europäische Ethnologie 2000, S. 253-268. Mein Dank an John Cash für den Hinweis auf diesen Text.

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rien oft ziemlich weit weg von den Skripten. Ironischerweise ist das in der Regel auch für das historische Ereignis nachweisbar, welches nachgestellt werden soll, siehe eine Zufallsentwicklung wie Gettysburg. Diese Einlassung, vermischt mit einer gewissen situativen Komik, die aus Abweichungen vom Skript entstehen kann, tendiert allerdings dazu, über die Tatsache hinweg zu täuschen, dass im Reenactment Geschichte kontingent und zwangsläufig, gelegentlich sogar willkürlich umgeschrieben wird. Insofern das Theaterereignis Reenactment aber nicht als Schauspiel angekündigt wird, sondern auf den Programmen ein konkreter Bezug zu einem als historisch bezeichneten Ereignis hergestellt wird, lernen Zuschauer hier Geschichte, die so nie stattgefunden hat. Das ist zum einen dem zwangsläufig ironischen Verhältnis zwischen der Vergangenheit und jeglichem Versuch ihrer Nach-Stellung geschuldet, zum anderen der spezifischen theatralen Form mit mehr oder weniger chaotischen Laiendarstellern. Wo eine Veranstaltung tatsächlich konkret als Aufführung geplant wurde, entstehen neue und andere Verwerfungslinien. Der kohärenten und gestimmten Kriegsfilmästhetik des von Ronald F. Maxwell gedrehten Viereinhalb-Stunden-Films Gettysburg zum Beispiel (1993) ordneten sich die zahlreichen Gruppen und Individuen unter, die daran in den Massenszenen teilnahmen und als selbst-ausgerüstete Statisten diesseits der computergenerierten Vervielfachung von Extras die Monumentalfilme eines Cecil B. De Mille wieder aufleben ließen. Ein anderes theatrales Experiment verlief längst nicht so reibungslos. Auch der britische Aktionskünstler Jeremy Deller warb für sein The Battle of Orgreave – ein mit Theatermitteln in Szene gesetztes Reenactment einer gewaltsamen Auseinandersetzung während des britischen Bergarbeiterstreiks 1984 – Mitglieder von Reenactment-Societies aus dem ganzen Land an. Die Hoffnung war, dass prinzipiell mit der quasi-militärischen Bewegung größerer Gruppen vertraute Akteure für Regie zugänglicher sein würden als zufällig zur Verfügung stehende Statisten. Das Konzept von Orgreave wurde von Katie Kitamura in dem von Iain McCalman und Paul Pickering herausgegebenen Band Historical Reenactment kritisiert, 35 allerdings handelte es sich bei Dellers Inszenierung schon wegen der deutlich

35 Kitamura, Katie: »›Recreating Chaos‹: Jeremy Deller's The Battle of Orgreave«, in: Iain McCalman/Paul A. Pickering (Hg.), Historical Reenactment. From Realism to the Affective Turn, New York: Palgrave Macmillan 2010, S. 39-49.

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präsenten Regie nicht um ein klassisches Reenactment, sondern er konstruierte eher eine Abwandlung des Festaufzugs, ein Pageant. Anders als traditionelle Pageants war dies allerdings keine Huldigungsfeier, sondern die Wieder-Aufführung einer bereits im Original inszenierten brutalen Attacke, mit der die Anliegen und Nöte der Bergarbeiter diskreditiert und diese terrorisiert werden sollten. Dellers Projekt sprengte gleich in mehrfacher Hinsicht die standardisierten Rahmen. Er nutzte Mittel und ästhetische Konzepte einer künstlerischen Aufführung, wie sie im 19. Jahrhundert für die Dokumentation der Revolutionserfolge verwendet worden waren. Wie diese war Orgreave in der Zielrichtung politisch: Dellers Bedürfnis ›to set the record straight‹ traf sich mit den geschichtsrevisionistischen Anliegen vieler KriegsspielReenactments, allerdings aus einer anderen politischen Richtung kommend. Für die Theaterseite seines Projekts war wichtiger, dass den Mitgliedern von Reenactment-Gesellschaften anderer Perioden mit einer Kostümierung der 1980er Jahre eine Form von Cross-Dressing abverlangt wurde. Deller heuerte weiterhin eine Reihe von Bergarbeitern und sogar einige Polizisten an, die an der historischen ›SchlachtǸ 1984 teilgenommen hatten, mit auf dem Set waren und – mit geringerem Abstand – eine (nicht reflektierte) Analogie zur Verwendung von Veteranen in der Bürgerkriegserinnerung herstellten. Schließlich nahm auch noch eine Reihe der BergarbeiterVeteranen am Reenactment als Polizisten verkleidet teil, weil man befürchtete, sie könnten versucht sein, wenigstens die Re-Inszenierung zu gewinnen, was manche anscheinend angekündigt hatten. Dies alles scheint nie wirklich wissenschaftlich aufgearbeitet worden zu sein. Es handelt sich auch insofern bei Orgreave um ein relativ isoliertes wenngleich faszinierendes Projekt, das im Hinblick auf die Reaktionen und Reflektionen von Teilnehmern und Zuschauern, aber auch gerade im Hinblick auf die Verfremdungs- und Lerneffekte besser hätte dokumentiert werden müssen. Denn wie ich schon 1996 in einem Artikel versucht habe darzustellen, sind es gerade die am Rand und an den Schnittflächen zwischen verschiedenen Aufführungsformen und -methoden entstehenden Verwerfungen und Verfremdungseffekte, aus denen aktives und kritisches Lernen wachsen

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kann.36 Als Beleg mögen exemplarisch Beobachtungen zu einem Reenactment einer Schlacht des Amerikanischen Bürgerkriegs dienen, das 2006 unter der Designatur First Bull Run auf einem Truppenübungsplatz in Deutschland mit ca. 250 Teilnehmenden und ohne Zuschauer stattfand – oder jedenfalls ohne nicht-kostümierte Zivilisten als Zuschauer. Als Reenactment war diese Veranstaltung von ›obenǸ organisiert, in ihrer Struktur und Ausrichtung verhielten sich die Beteiligten konform mit der hegemonialen Bewertung des Civil War und insofern affirmativ. Insoweit ähnelt dieses Reenactment den Gettysburgs von 1988 und 1998, wäre da nicht die an den Prolog von Shakespeares Henry V erinnernde Notwendigkeit gewesen, jeden Spieler mal Tausend zu sehen und imaginativ einen Ausgleich für die Unzulänglichkeiten zu schaffen, welche die Präsenz einer Handvoll deutschsprachiger Laiendarsteller an Stelle zehntausender Teilnehmer der Ereignisse von 1861 zwangsläufig deutlich werden lassen musste. Insofern wegen der gleich bleibenden Szenerie und der beschränkten zur Verfügung stehenden Mittel für die meisten der Mit-Spieler die jährlich wechselnden offiziellen Szenarien allerdings ohnedies nur mäßig variierte Oberflächenausprägungen eines gemeinsamen Grundmusters bedeuteten, hätte auch First Bull Run 1996 unter die Generika eingehen können, wenn nicht einige Mitglieder der ursprünglich für die 150-Jahrfeiern der Revolutionen 1848/49 gegründeten Geschichtstheatergesellschaft beschlossen hätten, der Aufführung einige nicht angekündigte Wendungen einzuschreiben. Vor dem Haupttreffen erschienen sie deshalb in Zivilanzügen am Rand der Straße, um den ›Truppen‹ wie historisch verbürgt zuzujubeln und sie mit Rufen wie »On to Richmond!«37 anzufeuern. Der Effekt war nach den Berichten von Augenzeugen im Wortsinne frappierend.38 Einerseits authentifizierte diese Aktion (und andere in den folgenden Tagen) den Moment und die Situation, insofern es sich um ein

36 Hochbruck, Wolfgang: »Between ›Living History‹ and Pageantry: Historical Reenactments in American Culture«, in: Peter-Paul Schnierer (Hg.), Beyond the Mainstream (Contemporary Drama in English 4), Trier: wvt 1997, S. 93-105. 37 Patrick Köstel, Michael und Diana Paulick, Oliver Paulick und Alex Franke. Vgl. Shelby Foote. The Civil War. A Narrative: Vol. 1, New York: Random House 1957, S. 74, 85. 38 So die für ihre Wissenschaftliche Zulassungsarbeit recherchierende teilnehmende Beobachterin Birgit Hofmann, Pers. Kommunikation Mai 2006.

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konkretes Reenactment historisch belegter situativer Szenarien handelte. Andererseits führten diese gespielten Einschübe das Gesamtszenario in einem Moment brillianter ironischer Subversion völlig ad absurdum, insofern das Reenactment von der objektiven relativen Nähe zum Ort und der subjektiven relativen Isomorphie (›AuthentizitätǸ) des Auftritts abhängt, den Akteuren im Taubertal aber klar sein musste, dass Richmond und Nordamerika 8.000 Kilometer entfernt waren und die eigenen Zahlen nur eine verschwindende Teilmenge der ursprünglichen Teilnehmer darstellen konnten. Die so entstandene ›IrritationǸ im Sinne Luhmanns wirkt gleichzeitig als Annäherung an die Möglichkeiten des Lehrstücks und als Übergang vom Hobby Reenactment zur historisches Wissen im Theater-Spiel zugänglich und erfahrbar machenden Living History Interpretation. Die Möglichkeiten des szenischen Spiels von Reenactors und für Reenactors wurden in ihrer Bandbreite in dieser Inszenierung ausgeschöpft; gleichzeitig wird in der Analyse die postmoderne Transgressivität des historischen ›Ereignisses‹ sichtbar. Die Verschiebungen und Verwerfungen, die aus dieser Verortung zwischen Kunst, (Volks-)Theater und Wissenskultur entstehen könnten, sind beträchtlich. Sie müssten allerdings seitens der Kunst und des Theaters bewusst aufgefasst, reflektiert und genutzt werden – was nicht das Gleiche ist wie letztlich bisher immer eher denunzierende Fotoausstellungen.39 Um dies abschließend noch einmal deutlich zu machen: Reenactment ist nicht das Gleiche wie Living History Interpretation, sondern eine nach Zeitbezogenheit (Ereignis eher als Lebensweltlichkeit) Größenordnung (in der Regel, Ausnahmen siehe Orgreave) und didaktischer Intentionalität (der rekreationale Faktor überwiegt bei Teilnehmenden wie Zuschauern) davon verschiedene dramatische Veranstaltungsform. Reenactment demokratisiert den Zugang und das Mitspracherecht bei der ›Präsentation‹ historischer Ereignisse. Demokratisierung heißt dabei aber nicht notwendig, dass progressive Kräfte am Werk sind. Die Aneignung von ›Geschichte‹ verläuft bei Reenactments zunächst einmal über entdifferenzierende und simplifizierende Popularisierungen

39 Siehe z.B. History Will Repeat Itself. Hartware MedienKunstVerein, Dortmund, Juni-September 2007; vgl. von Klot, Kristina: »Aufklärung in Sicht«, mobil 05 (2007), S. 88-91.

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von Wissenskultur. Vertiefte Auseinandersetzungen mit Themen und Spezialisierungen führen aber bei einer Reihe von Reenactors zu kumulativen Wissensbeständen, die Fachwissen ergänzen können. Diese empirisch-praktischen Geschichtsforscher und erst recht progressive Didaktiker stellen unter den Reenactors einen geringen Prozentsatz dar. Lässt man seitens der Fachwissenschaft und der Theaterszene diese Leute aber weiterhin im Stich, bleibt eine große Chance ungenutzt, populäre Vermittlungsformen von Geschichtswissen zur Unterstützung der Weiterentwicklung demokratischer Praxis und gesellschaftlicher Resilienz zu nutzen. Die Alternativen sind nicht wünschenswert: »Der Kommandant des B 29-Bombers Enola Gay, der die Atombombe auf Hiroshima warf, spielte 1976 bei einer 2. Weltkriegs-Show der Confederate Air Force in Texas mit einer Rauchbombe ein Reenactment des Einsatzes vom 6. August 1945 und hätte dies gerne auch wiederholt, wenn das ›SpielǸ nicht wütende Reaktionen in Japan und auch in den USA hervorgerufen hätte.«40

L ITERATUR Allred, Randall: »Catharsis, Revision, and Re-enactment: Negotiating the Meaning of the American Civil War«, in: Journal of American Culture 19.4 (1996), S. 1-13. Bendix, Regina: »Der gespielte Krieg: zur Leidenschaft des Historic Reenactments«, in: Volkskultur und Moderne: Europäische Ethnologie zur

40 Hochbruck, Wolfgang: Geschichtstheater, Remseck: GTG 2006, S. 44f.; siehe Engelhardt, Tom: »The Victors and the Vanquished«, in: Tom Engelhardt/Edward T. Linenthal (Hg.), History Wars. The Enola Gay and Other Battles for the American Past, New York: Metropolitan 1996, S. 233; C.R. Chandler, C.R.: »World War II as Southern Entertainment: The Confederate Air Force and Warfare Re-Enactment Ritual«, in: Ray B. Browne (Hg.), Rituals and Ceremonies in Popular Culture, Bowling Green: Bowling Green Univ. Popular Press 1980, S. 263. Tibbets flog weiterhin die B 29 bei der jährlichen Show, sein ›Einsatz‹ wurde im Programm aber nicht mehr als Hiroshima-Reenactment ausgewiesen.

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Jahrtausendwende. Festschrift Konrad Köstlin, Wien: Institut f. Europäische Ethnologie 2000, S. 253-268. Billings, John D.: Hardtack and Coffee. The Unwritten Story of Army Life, Boston: Smith 1887. Boal, Augusto: The Rainbow of Desire: The Boal Method of Theatre and Therapy, New York: Routledge 1995. Braden, John A.: »The Centennial and Reenactment«, in: Camp Chase Gazette vom 38.4 .2011. Cash, John: »The Usable Past Reconsidered: an Ethnography of Civil War Reenactors«, in: Györgyi Csukás u.a. (Hg.), Times. Places, Passages. Ethnological Approaches in the New Millenium, Budapest: Akadémiai Kiado 2004, S. 246-257. Choy, Edward: »Tilting at Windmills. The Theatricality of Role-Playing Games«, in: Markus Montola/Jaakko Stenros (Hg.), Beyond Role and Play. Tools, Toys and Theory for Harnessing the Imagination, Helsinki: Ropecon 2004, S. 53-63. Chandler, C.R.: »World War II as Southern Entertainment: The Confederate Air Force and Warfare Re-Enactment Ritual«, in: Ray B. Browne (Hg.), Rituals and Ceremonies in Popular Culture, Bowling Green: Bowling Green Univ. Popular Press 1980. Christen, Bill: »99 and 44/100’s % Pure…It Floats to the Top«, in: Camp Chase Gazette 23.3.1994, S. 44-48. Desmond, Matthew: On the Fireline. Living and Dying with Wildland Firefighters, Chicago: Univ. of Chicago 2007. Dunning, Tom: »Civil War Re-Enactments: Performance as a Cultural Practice«, in: Australasian Journal of American Studies 21.1 (2002), S. 63-73. Elliot-Wright, Phillipp J.C.: Living History, London: Brassey’s 2000, S. 6. [AP Bericht und Photo] »Götterfunke«, in: Stuttgarter Zeitung vom 26.03.2000, S. 1. Engelhardt, Tom: »The Victors and the Vanquished«, in: Tom Engelhardt/Edward T. Linenthal (Hg.), History Wars. The Enola Gay and Other Battles for the American Past, New York: Metropolitan 1996. Freedberg, David: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago: Univ. of Chicago Press 1989. Foote, Shelby: The Civil War. A Narrative: Vol. 1, New York: Random House 1957.

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Kinzer, Cal: »The Three Mindsets of Living History«, in: Camp Chase Gazette vom 26.3.1999, S.38-43. Kitamura, Katie: »›Recreating Chaos‹: Jeremy Deller’s The Battle of Orgreave«, in: Iain McCalman/Paul A. Pickering (Hg.), Historical Reenactment. From Realism to the Affective Turn, New York: Palgrave Macmillan 2010, S. 39-49. Magelssen, Scott: Living History Museums. Undoing History through Performance, Lanham, MD: Scarecrow 2007. Moyer, Anna Jane: Tenting Tonight, Boys! Gettysburg, 1938 – Last Reunion of the Blue & Gray«, in: Blue & Gray Magazine 5.6 (1988), S. 4549. Neu, Tim: »Vom Nachstellen zum Nacherleben? Vormoderne Ritualität im Geschichtsunterricht.«, in: Pirker et al. (Hg.), Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen (2010), S. 61-74. Pirker, Eva Ulrike et al. (Hg.), Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, Bielefeld: transcript 2010. Pirker, Eva Ulrike/Rüdiger, Mark: »Authentizitätsfiktionen in populären Gechichtskulturen: Annäherungen«, in: Pirker et al. (Hg.), Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen (2010), S. 11-30. Schieffelin, Cf. Edward L.: »Performance and the Cultural Construction of Reality«, in: American Ethnologist 12.4 (1985), S. 707-724. Schwarzenberger, Marcel: »Der Fall Ulfhednar und die Folgen«, in: http://chronico.de/erleben/menschenorte/0000489 vom 20.4.2011. Thompson, Jenny: Wargames. Inside the World of 20th-Century War Reenactors, Washington: mobil 5 2007. Turner, Victor: From Ritual to Theatre: The Human Seriousness of Play, New York: Performing Arts Journal 1982.

Reenactment und Ritualisierung Formen der Wiederholung in politischen Bewegungen M ATTHIAS W ARSTAT

Die studentischen Proteste der letzten Jahre, die sich gegen die Einführung von Studiengebühren und gegen den so genannten Bologna-Prozess, also die Umstrukturierung und Verkürzung der Studiengänge an europäischen Universitäten richteten, haben sich unterschiedlicher Darstellungsweisen bedient. In der Berichterstattung der Massenmedien fanden vor allem neue und kreative Formen Aufmerksamkeit, darunter Flashmobs, Livekonzerte, Angriffe auf Websites und spektakuläre Aktionen im öffentlichen Raum. Über den farbenfrohen und wohlwollenden Berichten zu solchen neuartigen Aktionen wurde manchmal vergessen, dass die Studierenden teilweise auch recht traditionellen Protestformen folgten. Ein Klassiker des studentischen Protestes ist die sogenannte ›Vollversammlung‹, auf der viel geredet und diskutiert, aber vor allem eine stattliche Menge an komplizierten Anträgen eingebracht wird. Jeder darf zum Beispiel Anträge »zur Geschäftsordnung« stellen, die von einem (oft betont formalistisch agierenden) Präsidium ausgewertet und dem Plenum zur Abstimmung vorgelegt werden. Wer ausführlich zu Wort kommen möchte, muss sich auf das Genre der parlamentarischen Rede einlassen, das dem Redner feierlichen Ernst und einigen rhetorischen Aufwand abverlangt. Im Streiksemester 2008/09 hatte ich gerade eine neue Stelle an der Universität Erlangen-Nürnberg angenommen. Aus Berlin und von der streikerprobten Freien Universität kommend, überraschte es mich, mit welch akribischer Disziplin die Studierenden des eher konservativen, süddeutsch und

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evangelisch geprägten Erlanger Universitätsmilieus parlamentarische Rituale vollzogen. Alles in allem habe ich mittlerweile fünf Streiksemester erlebt, zwei davon als Student, zwei als Dozent an der Freien Universität und eines nun an der Uni Erlangen. Es ist reiner Zufall, dass ich während der letzten beiden Streiks jeweils ein theaterhistorisches Proseminar unter dem Titel »Politische Inszenierungen im 20. Jahrhundert« unterrichtet habe. Im Wintersemester 2008/09 traktierte ich die Erlanger Studierenden mit diesem Thema, das ich Anfang des Jahrzehnts in Berlin schon einmal behandelt hatte. Und nach drei oder vier Seminarsitzungen – wir waren gerade beim Lehrstück angekommen – brach an der Uni Erlangen, genau wie Jahre zuvor an der Freien Universität, ein Streik aus. Wenn man während eines Studierendenstreiks über »politische Inszenierungen« doziert, kommt man nicht umhin, die aktuellen Ereignisse irgendwie einzubeziehen. Man kann schlecht einerseits vom zivilen Ungehorsam des Living Theatres schwärmen, andererseits aber die Seminartür verbarrikadieren, wenn der AStA auf dem Gang steht.1 Also muss der Seminarplan an die Protestaktionen angepasst werden. In Berlin stellte ich mich mit der Seminargruppe in ein bemaltes Bettlaken gehüllt auf den Hackeschen Markt und verteilte die von den Studierenden gestalteten Flugblätter. Ich weiß nicht mehr genau, warum und womit wir die Bettlaken bemalt hatten, aber ich erinnere mich noch gut, wie ich mit einem Kollegen und einem schnell aufgesetzten Kommuniqué, das wir noch anderen Dozenten zur Unterschrift aufgenötigt hatten, durch zwei oder drei studentische Vollversammlungen zogen, zu deren Ritual eben auch Solidaritätsadressen ›aufgeschlossener‹ Lehrender zählten. Jahre später traute ich mich in Erlangen nicht mehr so vorbehaltlos aufs politische Parkett. Mittlerweile saß ich, wie so viele ahnungslose Neulinge des Professorenamtes, im Fakultätsrat und hatte dort die Gesichter der älteren Kollegen gesehen, als das Streikkomitee an die Saaltür klopfte und skandierte: »Kriegt ihr euren Arsch nicht hoch, ist das Studium bald tot.« Anstatt mit den Studierenden auf Vollversammlungen zu ziehen, wollte ich das Programm des Seminars »Politische Inszenierungen im 20. Jahrhundert« auf andere Art dem Streikgeschehen anpassen. Zwar waren die Erlanger Vollversammlungen wunderbar – mit ausgefeilter Geschäftsordnung, langatmigen Reden vom

1

Die politische Arbeit des Living Theatres ist dokumentiert in dem Film Resist! (D/B 2003, R: Dirk Szuszies), erschienen auf DVD 2006 bei Karin Kaper Film.

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RCDS, leidenschaftlichen Wortmeldungen aus dem Publikum, nicht enden wollenden Rednerlisten und wahnwitzig verschlungenen Geschäftsordnungsanträgen –, aber selbst mochte ich dort nun nicht mehr auftreten. Glücklicherweise fiel mir eine DVD mit dem Dokumentarfilm RUHESTÖRUNG aus dem Jahr 1967 in die Hände, in dem Hans Dieter Müller und Günther Hörmann die Vollversammlungen an der Freien Universität nach dem Tod von Benno Ohnesorg dokumentiert haben.2 Mit diesem Film konnte ich zwei Seminarsitzungen ordentlich bestreiten, ohne dass die Teilnehmer sich als Streikbrecher fühlen mussten. Vielmehr teilten sie mit mir ein erstaunliches Déjà-vu-Erlebnis: Die Vollversammlungen, die während der Streikwochen jeden Morgen im Audimax der Uni Erlangen stattfanden, folgten ähnlichen Regularien wie die FU-Versammlungen der beginnenden 68er-Revolte. Auch auf heutigen studentischen Vollversammlungen gibt es ein Sitzungspräsidium, das trotz oft zweifelhafter Legitimation selbstbewusst das Wort erteilt und die Tagesordnung durchzusetzen versucht. Auch heute dominiert am Rednerpult ein spezieller, etwas wichtigtuerischer Studierendentypus, der sich einer mehr oder minder parlamentarischen, in jedem Fall aber sehr ernsthaften Rhetorik bedient. Auch heute pflegen viele Zuhörer eine lässig-distanzierte Haltung, die sich nicht leicht für Forderungen vereinnahmen lässt, sondern jeden Redner kritisch auf Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft prüft. Und so könnte man die einzelnen Elemente weiter durchgehen: die umständlichen und sich ständig ändernden organisatorischen Ankündigungen, die Gründung diverser Kommissionen mit umfänglichen Berichtsrechten, der Streit um den Ausfall von Lehrveranstaltungen, der Appell an die ewig ignoranten Jurastudenten. Kommt uns nicht auch die nervöse Dozentin aus dem Mittelbau bekannt vor, die das Geschehen theoretisch fundiert zu kommentieren versucht? Finden wir in gegenwärtigen Vollversammlungen nicht genau dieselbe gender-Struktur mit einer auffälligen Männer-Dominanz in den Sprecherfunktionen? Irritierenderweise sieht sogar das Ambiente des Erlanger Audimax, Baujahr 1963, der Innenarchitektur des Berliner Henry-Ford-Baus ein wenig ähnlich.

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Produziert vom Institut für Filmgestaltung Ulm 1967 (90 Minuten). Zuletzt erschienen als Beilage zu einem Band aus der Reihe »Suhrkamp 1968«: Jürgen Habermas: Protestbewegung und Hochschulreform. Mit einer Nachbemerkung von Alexander Kluge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008

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Nachdem man sich über diese Ähnlichkeiten eine Zeit lang gewundert hat, fallen nach und nach die Differenzen stärker ins Auge. Darauf kann ich hier nicht näher eingehen, aber die wichtigste und aussagekräftigste Differenz scheint mir darin zu bestehen, dass die Studierenden des Jahres 1968 in einem Maße Vertrauen in die Kraft der Sprache und des Arguments setzten, das mir heute, im Zeichen einer durchgreifenden visuellen Medialisierung, kaum mehr vorstellbar erscheint. Wenden wir uns aber wieder den Kontinuitäten zu, die für das Thema Reenactment von größerer Bedeutung sind. Denn woher rühren die vielen Ähnlichkeiten zwischen heutigen Studierendenprotesten und jenen legendären Aktionen, die nun schon über vierzig Jahre zurückliegen? Sie sind, so möchte ich behaupten, zweifellos Wiederholungen, aber als solche nicht das Ergebnis eines Reenactments, sondern die Folge von Ritualisierung. Im Folgenden soll diese Differenz zwischen Ritualisierung und Reenactment weiter ausbuchstabiert werden. Es geht um die Frage, wie eine Repetition, die auf Ritualisierung beruht, von einer Repetition, der ein Reenactment zugrunde liegt, unterschieden werden kann. Vielleicht kann eine solche Unterscheidung ex negativo dazu beitragen, den Begriff des Reenactments zu präzisieren.

R ITUALISIERUNG Im Jahr 1994 machten Caroline Humphrey und James Laidlaw im ethnologischen Fachdiskurs mit einer neuen Ritualtheorie Furore, die den Begriff der »rituellen Einstellung« bzw. der »rituellen Haltung« (ritual commitment) in den Mittelpunkt stellt. Rituelles Handeln, so die Auffassung der Autoren, ist nicht durch eine bestimmte Form oder Funktion definierbar. An den äußerlichen Verläufen der Handlung ist nach Humphrey und Laidlaw überhaupt nicht zu erkennen, ob man es mit einem Ritual zu tun hat oder nicht. Vielmehr kommt es auf die Haltung an, mit der die Akteure die betreffenden Handlungen ausführen. Dem ritualisierten Handeln liegt eine ganz bestimmte Einstellung zugrunde, die von Humphrey und Laidlaw wie folgt beschrieben wird: »Handeln gilt als ritualisiert, wenn die Handlungen, woraus es besteht, nicht durch die Intentionen der Akteure konstituiert werden, sondern durch eine vorausgehende Festsetzung. Daraus ergibt sich eine Handlungskategorie, bei der die Intentionen, die

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normalerweise Handlungen identifizieren, nicht berücksichtigt werden. Wenn wir vom ›rituellen Engagement‹ sprechen, meinen wir damit nicht, dass der Akteur irgendwelche besonderen Überzeugungen hat, z.B. dass das Ritual heilig ist oder dass es eine reale therapeutische Wirkung hat. Gemeint ist nur, dass der Akteur oder die Akteurin zu einer besonderen Einstellung oder Haltung verpflichtet ist und dass diese Haltung anders ist als diejenige bei normalen Alltagshandlungen (zu denen Akteure auch verpflichtet sind). Eine Reihe konstitutiver Regeln wird als für die Arten von Handlungen, die man ausführt, bestimmend akzeptiert. Wer eine rituelle Haltung einnimmt, akzeptiert, dass er oder sie nicht Autor der eigenen Handlungen ist.«3

Der Handelnde macht sich also bewusst zum Akteur einer Handlung, die er sich in ihren konkreten Schritten und Verläufen nicht selbst ausgedacht hat. Es ist ihm oft nicht klar, was für eine praktische Funktion die einzelnen Handlungsschritte haben. Er könnte zum Beispiel nicht sagen, warum er in einem konkreten Moment eine Kerze anzündet oder seine Körperhaltung ändert. Er weiß nicht genau, warum er einen Geschäftsordnungsantrag nach dem anderen stellt. Er tut das alles einfach deshalb, weil das Ritual es erfordert. Genau darin sehen Humphrey und Laidlaw die alles entscheidende »rituelle Einstellung«: Man stellt persönliche Intentionen zurück zugunsten der einzigen Absicht, den rituellen Regularien Genüge tun zu wollen. Dazu noch einmal Humphrey und Laidlaw: »Aus Sicht des Akteurs erscheint die rituelle Handlung als etwas, das nur darauf wartet, von ihm aufgegriffen zu werden. Der oder die rituell Handelnde ›vollzieht‹ das Ritual. Er oder sie tut nicht einfach irgendetwas wie im alltäglichen Leben (z.B. ›zu Mittag essen‹, ›eine Zeitung austragen‹), rituell Handelnde ahmen vielmehr eine Vorstellung von dem, was zu tun ist, nach.«4

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Humphrey, Caroline/Laidlaw, James: »Die rituelle Einstellung«, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, 2. Auflage, Wiesbaden: Westdt. Verlag 2003, S. 135-156, hier S. 144. Es handelt sich um die deutsche Übersetzung eines Kapitels aus der Monografie: Humphrey, Caroline/Laidlaw, James: The Archetypal Actions of Ritual. A Theory of Ritual Illustrated by the Jain Rite of Worship, Oxford: Clarendon Press 1994, S. 88-110.

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Ebd., S. 149.

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Ritualisiertes Handeln wäre demnach ein besonderer Modus der Nachahmung: Der Akteur realisiert eine konkrete Vorstellung, die er sich von einem Ritual macht. Die Autorität dieser Vorstellung gilt ihm viel – im Grunde hat er das Gefühl, als Handelnder lediglich rituellen Vorschriften zu folgen. Er weiß nicht, wozu die einzelnen Vorschriften dienen und wie es zu ihnen irgendwann einmal gekommen ist. Aber umso genauer weiß er, dass er diese Vorschriften einhalten muss, damit der ›richtige‹, d.h. der vorgeschriebene und autorisierte Handlungsverlauf zustande kommt. Das ist mit der rituellen Einstellung gemeint: eigene, unmittelbare Intentionen zurückstellen und sich ganz einem bestimmten Muster unterwerfen, das man sich nicht selbst ausgedacht hat, von dem man aber annimmt, dass es seine tradierte Richtigkeit hat. Für politische Bewegungen sind Rituale gerade deshalb von Bedeutung, weil sich in ihnen ein – zwar sehr formales, aber politisch belastbares – Einverständnis manifestiert, in das alle Teilnehmer wie selbstverständlich einbezogen sind, oder genauer: schon eingewilligt haben. Rituale werden von Teilnehmern ausgeführt, die zu einer Einwilligung in die Form bereit gewesen sind.5 Der Ausführende einer ritualisierten Handlung ahmt also im Handeln etwas nach, ist aber nicht Autor dieser Nachahmung. Wir haben es mit einer Form von Nachahmung zu tun, die nicht mit Autorschaft einhergeht, sondern mit purer Unterwerfung unter eine Vorschrift. Eben hier liegt die entscheidende Differenz zum Reenactment: Das Reenactment ist zwar im Kern auch Nachahmung von etwas Vorgängigem, kann aber dennoch als Produkt von persönlicher Autorschaft beschrieben werden. Wer ein Reenactment ausführt, weiß genau, warum er es tut und warum er es so tut, wie er es tut. Er hat die einzelnen Handlungsschritte überdacht und sich für oder gegen bestimmte Wendungen der Handlung entschieden. Neben der großen Entscheidung, überhaupt ein bestimmtes Ereignis nachzuahmen, erfordert ein Reenactment viele kleine Entscheidungen, die die einzelnen Handlungssequenzen betreffen. Diese große Zahl an individuell zu treffenden

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Für die Erforschung stark ritualisierter politischer Kulturen ist dieser Charakterzug von einiger Bedeutung. Wenn es einer politischen Bewegung gelingt, eine große Zahl an Ritualen einigermaßen störungsfrei durchzuführen, darf man davon ausgehen, dass innerhalb der Anhängerschaft ein gewisses – politisch instrumentalisierbares – Maß an Einverständnis vorhanden ist. Allerdings bezieht sich dieses Einverständnis zunächst nur auf die Form des Rituals.

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Entscheidungen macht es leicht, den Ausführenden eines Reenactments als Autor zu bezeichnen. Während eine Repetition, die auf rituelles Handeln zurückgeht, mit der Haltung erklärt werden kann, sich in den Dienst eines fraglos akzeptierten Musters zu stellen, liegen einer Repetition, die auf Reenactment zurückgeht, viele individuelle Entscheidungen und Gestaltungsinteressen zugrunde. Das Ergebnis von ritualisierter Handlung und Reenactment ist gleichwohl sehr ähnlich: eine Repetition, ein Déjà-vu, das bestimmte Wirkungen zeitigt.

R EENACTMENT Am frühen Morgen des 12. Januar 1929, einem Sonntag, war der Friedhof von Friedrichsfelde im Osten Berlins ungewöhnlich belebt. In zunächst loser, dann immer dichterer Folge spazierten festtäglich gekleidete Besucher zu einer abgelegenen Grabstätte im nordwestlichen Bereich des weitläufigen Areals. An ihrem Ziel angelangt verharrten sie eine Weile, legten kleine Blumengebinde oder einzelne rote Nelken ab, und die Männer zogen respektvoll ihre Hüte. Diese frühen Friedhofsgänger waren Vorboten eines weit größeren Aufgebots, das für den Mittag angekündigt war. Seit 9 Uhr kamen in den Berliner Arbeitervierteln KPD-Anhänger zusammen, um zu einer Großkundgebung aufzubrechen, die seit neun Jahren am zweiten oder dritten Sonntag im Januar auf dem Festkalender der Partei stand: An diesen meist kalten, unwirtlichen Wintersonntagen gedachten die Berliner Kommunisten ihrer prominentesten Toten, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die am 15. Januar 1919 von Freikorps-Soldaten ermordet worden waren und mit weiteren Opfern des Januaraufstands in Friedrichsfelde begraben lagen.6 In einem Sternmarsch gelangten die Teilnehmer, teils zu Fuß, teils per Fahrrad über die Hauptverkehrsachsen der Stadt zur Frankfurter Allee, die

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Ich habe diese Gedenkfeier aus dem Jahr 1929 ausführlicher beschrieben in: Warstat, Matthias: Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918-33, Tübingen: Franke 2005, S. 175-192. Wichtigste Quellengrundlage war die umfangreiche Berichterstattung in Die Rote Fahne 12.12 (1929); daneben das Bildmaterial bei Heinz Voßke: Geschichte der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde, Berlin: Dietz 1982, S. 27-47.

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alle, die zum Friedhof wollten, passieren mussten, sodass der Eindruck einer imposanten Kundgebung entstand. Besonders zahlreich waren die Belegschaften kommunaler Betriebe vertreten, darunter die Berliner Müllabfuhr, die Gas- und Wasserwerke, der Städtische Viehhof und die Beschäftigten der Hoch- und Untergrundbahn. Gruppen verschiedener Gewerkschaften und Massenorganisationen präsentierten ihre Fahnen und versuchten, einander mit der Größe ihrer Trauerkränze zu übertreffen. Der Bewegungs- und Verhaltensmodus war ein völlig anderer als zum Beispiel auf Maikundgebungen. Während man im Mai lauthals Parolen skandierte, Mützen, Transparente und Plakate schwenkte, wurden im Januar grimmige Gesichter zur Schau getragen oder elegische Lieder gesungen. Man unterhielt sich wohl, aber in gedämpfter Lautstärke. Das Kernprogramm der Gedenkfeier begann um 11 Uhr am Grabfeld der Revolutionsopfer. In den vordersten Reihen um das Grabfeld nahmen mehrere Dutzend Fahnen- und Kranzträger Aufstellung. Auf dem untersten Quader des Denkmals, der unter dem Sowjetstern eine schmale Plattform bildete, waren drei uniformierte Mitglieder des Roten Frontkämpferbundes in steifer Haltung als Totenwache postiert. Auf den Gräbern selbst türmten sich Blumen und Kränze zu einem üppigen Berg. Zu Beginn des Festakts wurde auf dem Denkmalskörper »ein prasselndes Feuer« entzündet. Eine Schalmeien-Kapelle spielte Brüder zur Sonne, zur Freiheit. Da dieser Hymnus seit Jahrzehnten auf einer Vielzahl von Arbeiterfesten als gemeinsames Schlusslied gesungen wurde, fühlten sich die Anwesenden schon durch die ersten Akkorde zum Mitsingen aufgefordert. Dann bestieg Wilhelm Pieck, Mitglied des Reichstages und des Zentralkomitees der KPD, die kleine Plattform unter dem Sowjetstern, um sich mit einer Gedenkrede an die Menge zu wenden. Mit einem neuerlichen gemeinsamen Massengesang, der Internationale, begann der zweite Teil des Programms, der über mehrere Stunden bis in den Spätnachmittag hinein andauerte. Langsam defilierten zunächst die offiziellen Delegationen der Massenorganisationen, dann die meisten übrigen Teilnehmer an den Gräbern vorbei und legten Blumen und Kränze ab, wobei lange Wartezeiten in Kauf genommen werden mussten. Die Kapelle begleitete die Prozedur mit einer Auswahl von Trauermärschen und Hymnen, die viele Male wiederholt wurden, bis das Defilee allmählich ausdünnte. Ältere Berliner Kommunisten, die vor dem Krieg der SPD angehört hatten, mochten ähnliche Trauerzüge in Erinnerung haben, denn seit den frü-

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hen 1870er Jahren veranstaltete die Berliner SPD als Höhepunkt der jährlichen Feier zum Gedenken an die 48er-Revolution eine Massenkundgebung bei den Gräbern der »Märzgefallenen« im Friedrichshain. In den repressiven 1870er Jahren und in der Ära des Sozialistengesetzes hatten Trauermärsche zu den wenigen staatlich tolerierten Massendemonstrationen der Arbeiterbewegung gehört. Leichenbegängnisse fußten auf christlichen, bürgerlichen und nationalen Trauerkonventionen und gewannen daher auch in den Augen bürgerlicher Beobachter Würde und Respektabilität. 7 Mit Blick auf die lange, lückenlose Tradition solcher öffentlicher Akte der Trauer und des Gedenkens steht außer Frage, dass man hier von einem Beispiel für Ritualisierung sprechen kann. Schon die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Sternmärsche formierten oder mit der die bereits damals veraltete Schalmeienmusik akzeptiert wurde, spricht für eine rituelle Einstellung der Teilnehmer, die ihr Handeln offenbar an einem als ›fraglos richtig‹ anerkannten Muster ausrichteten. Ein völlig anderer Fall liegt vor, wenn sich der Marsch zu den Gräbern in Friedrichsfelde noch heute, im beginnenden 21. Jahrhundert, wiederholt. Aus verschiedenen Gründen kann dieser heutige Marsch der Linkspartei und ihrer Anhänger zur Gedenkstätte der Sozialisten nicht umstandslos als Ritual, sondern sollte eher als Reenactment bezeichnet werden. Dafür spricht zuvorderst die Haltung der vielen pelzbemützten älteren Herrschaften, die sich in den Gedenkmarsch einreihen: Was ihnen ins Gesicht geschrieben steht, ist eine Mischung aus Stolz, Trotz und Hartnäckigkeit. Sie scheinen genau zu wissen, dass sie ein Ritual wiederholen – oder genauer: wiederaufleben lassen –, das in eine andere Zeit gehört und in der politischen Alltagskultur des bundesrepublikanisch geprägten Deutschlands eigentlich keinen Platz mehr hat. Es geht ihnen vielmehr darum, unter widri-

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Vgl. zu den proletarischen Trauermärschen des späten 19. Jahrhunderts: Lüdtke, Alf: »Trauerritual und politische Manifestation. Zu den Begräbnisumzügen der deutschen Sozialdemokratie im frühen Kaiserreich«, in: Bernd Jürgen Warneken (Hg.), Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt a.M. und New York: Campus Verlag 1991, S. 120-148; Welskopp, Thomas: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn: Dietz 2000, S. 380-382. Als zeitgenössische Darstellung: Eduard Bernstein: Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung, 3. Teil, Berlin: Buchhandlung Vorwärts 1910, S. 436-438.

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gen Umständen ein Ritual zu re-inszenieren, das in der DDR mit größter Selbstverständlichkeit vollzogen wurde. Aspekte der Re-Inszenierung, also einer Art vergangenheitsorientierter Rekonstruktion, finden sich an vielen einzelnen Punkten des Veranstaltungsablaufs.8 Anrührend anachronistisch und zugleich schräg artifiziell wirkte im Januar 2009 bei eisigen Temperaturen zum Beispiel der Auftritt einer HobbySchalmeienkombo, die ihre (anscheinend eher selten geübten) Instrumente vor dem Auftritt zunächst am Generator des Bockwurstwagens auftauen musste. Um die verlorenen rituellen Abläufe wiederherzustellen, bedurfte es für viele Teilnehmer eigenständiger Recherchen. Gerade die Jüngeren aus Gruppen wie Attac oder Amnesty sah man sich verirren, sich durchfragen und U-Bahn-Pläne zu Hilfe nehmen, weil sie den heute entlegenen Stadtteil Friedrichsfelde nicht mehr auf ihrer inneren Landkarte hatten. Ohne die verteilten Spickzettel hätten sie vermutlich keines der an den Gräbern angestimmten Lieder mitsingen können. Dies gelang der Parteiführung um Gregor Gysi und Lothar Bisky hörbar besser, aber auch die Haltung der Vorstandsprominenz wich von üblichen öffentlichen Auftritten ab: Gregor Gysi, den man sonst kaum mit Kopfbedeckung herumlaufen sieht, hatte sich für diesen Anlass eigens eine schwere Pelzmütze aufgesetzt. In der gemessenen, fast sowjetisch-zeremonialistisch anmutenden Art, mit der die Parteiführung dann in geschlossener, grau-bemäntelter Phalanx, mit übergroßen Trauerkränzen ausgestattet, schweren Schrittes auf die Gräber zuging, glaubte man (zumindest als im Westen aufgewachsener Beobachter) tatsächlich so etwas wie ein bewusstes DDR-Reenactment zu erkennen: ein Reenactment, das mit genauer Reflexion und Kalkulation einherging. Denn während einerseits mit einigem inszenatorischen Aufwand – und wohl mit Blick auf die Wünsche älterer Mitgliedergenerationen – eine versunkene Form bedient wurde, waren die Parteioberen andererseits bemüht, gerade die jüngeren, alternativeren Manifestationen linker Gegenkultur mit großer Geste zu begrüßen und zu integrieren. So schlenderte Petra Pau, kaum dass die Kränze abgelegt waren, zielstrebig zum veganen Suppenstand, um sich vor den Kameras der RBB-Abendschau im Gespräch mit einer jungen Anti-Castor-Gruppe filmen zu lassen. In all dem zeigt sich gerade kein laxer Umgang mit einem im zwanzigsten Jahr der Einheit etwas

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Ich beziehe mich im Folgenden auf meine eigenen Eindrücke bei einem Besuch der Veranstaltung am Sonntag, 11. Januar 2009.

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verlotterten Ritual, sondern ein gezieltes und reflektiertes Reenactment, das eine alte Form aufgreift, re-inszeniert und transformiert, um sie für aktuelle politische Erfordernisse strategisch zu nutzen. Das Reenactment der Luxemburg-Liebknecht-Gedenkfeier verweist also auf eine Selbstthematisierung, eine politische Organisation, die aktiv über Möglichkeiten nachdenkt, ihre ambivalente Geschichte mit einer Politik für die Gegenwart zu verbinden.

M ETHOD R EENACTING Die referierten Beispiele unterstreichen die Problematik einer Differenzierung zwischen Ritualisierung und Reenactment. Aus der Perspektive eines externen Beobachters können ritualisierte Aufführungen und Aufführungen, die auf Reenactment basieren, völlig gleich aussehen. Beide Aufführungstypen – Ritual wie Reenactment – sind von außen daran erkennbar, dass sie bestimmte, aus der Vergangenheit mehr oder minder bekannte Handlungsweisen wiederholen. Beide Aufführungstypen lassen den Beobachter vermuten, dass Nachahmungsprozesse im Spiel sind. Beide Aufführungstypen bestechen durch die Genauigkeit der Wiederholung, laden aber auch dazu ein, fast reflexartig nach Abweichungen von der vergangenen Form zu suchen. Unterscheidungen zwischen den Typen werden erst möglich, wenn man die Einstellungen und Haltungen der Aufführungsteilnehmer berücksichtigt. Es besteht dann die Möglichkeit, die von Humphrey und Laidlaw charakterisierte »rituelle Einstellung« von der in einem Reenactment eingenommenen Haltung abzuheben. Die rituelle Einstellung ist dadurch gekennzeichnet, dass man sich tradierten Regularien bewusst unterwirft, dass man für den rituellen Zweck Handlungen ausführt, deren konkrete Intentionen man im Einzelnen gar nicht benennen kann. Die Teilnehmer eines Reenactments fühlen sich dagegen eher als Autoren der eigenen Handlungen. Dies wird verständlich, wenn man in Rechnung stellt, wie viel Recherche, Reflexion und Bemühen vom Handelnden aufgebracht werden müssen, damit ein Reenactment gelingen kann. Denn anders als ein Ritual befindet sich ein Reenactment oftmals in einem Verhältnis der Dissonanz zu der es umgebenden Kultur. Die Handlung, um die es geht, ist (zum Beispiel) nicht eingewurzelt, nicht lückenlos tradiert, nicht einwandfrei belegt.

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Reenactments gestalten sich häufig dermaßen willkürlich und artifiziell, dass sie ihren Erfindern, Befürwortern und Akteuren einiges an Autorschaft abverlangen müssen. Wenn davon auszugehen ist, dass Reenactments der kompositorischen Tätigkeit eines Autors bedürfen, dann muss das Problem der kollektiven Autorschaft in Rechnung gestellt werden. Wie zuletzt Rebecca Schneider in ihren Studien zu US-amerikanischen Civil War-Laiendarstellern gezeigt hat, sind viele größere Reenactments keine ›Werke‹ einzelner Autoren oder Regisseure, sondern verdanken sich dem Engagement von grassrootsBewegungen. Oft wirken viele Hunderte von Akteuren nach einem genauen Plan zusammen, um eine historische Schlacht, die Eroberung einer Festung oder den Einzug in eine besiegte Stadt wiederaufleben zu lassen.9 Auch im Falle der Luxemburg-Liebknecht-Gedenkfeier wäre es schwierig, einen einzelnen Regisseur oder ein Regieteam zu benennen. Sicher gibt es verantwortliche Organisatoren, aber viele Parteigliederungen und Vereine müssen zusammenwirken, damit am Ende der gewünschte Gesamteindruck entsteht. Viele Fragen zu Formen kollektiver Autorschaft, die in jüngster Zeit in Zusammenhang mit dem neuen Forschungsfeld der Theaterprobe diskutiert worden sind, erscheinen deshalb auch für die ReenactmentDebatte relevant.10 Autorschaft begegnet hier als kollektiver Prozess, der von keiner Einzelperson vollständig kontrolliert werden kann und der jedem Beteiligten eigene konzeptionelle und kompositorische Anstrengungen abverlangt. Anders als Rituale sind Reenactments nie selbstverständlich: Man muss sich mit ihrem historischen Bezugssystem befasst haben, spezifische Kenntnisse mitbringen und – etwa hinsichtlich der eigenen Kostümierung und Maskerade – elaborierte inszenatorische Vorkehrungen treffen, um die beabsichtigte diachrone Rückwendung angemessen vollziehen zu können.

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Siehe dazu Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London/New York: Routledge 2011, bes. S. 32-60.

10 Neue Beiträge zur Probenforschung wie zur kollektiven Autorschaft im Theater kommen aus Hildesheim: Hinz, Melanie/Roselt, Jens (Hg.): Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater, Berlin: Theater der Zeit 2011; Kurzenberger, Hajo: Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität, Bielefeld: transcript 2009.

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Die dazu erforderliche Einstellung ist vom ritual commitment klar zu unterscheiden. Während die von Humphrey und Laidlaw für Ritualteilnehmer beschriebene Haltung nämlich gerade darauf hinausläuft, keine Fragen zu stellen (und auch keine Fragen stellen zu müssen), wird ein Reenactment gerade dann eindrucksvoll gelingen, wenn alle Beteiligten vorab eingehend nach dem konkreten historischen Ereignis gefragt haben, auf das Bezug genommen wird: Wie ist dieses Ereignis genau abgelaufen? Welchen Sinn hatte das Ereignis? Welche Interessen verfolgten die einzelnen Akteure? Im Grunde ähneln die von jedem Teilnehmer im Vorfeld zu klärenden Fragen dem Arbeitsprogramm, das Lee Strasbergs Method Acting dem Schauspieler einer Theaterinszenierung auferlegt: Wer ist meine Figur? Wo ist meine Figur? Was tut sie dort? Was ist geschehen, bevor sie dorthin kam?11 Diese Ähnlichkeit in den Arbeitsweisen von Actor und Reenactor führen zu der zentralen Differenz zwischen ›Wiederholung als Ritual‹ und ›Wiederholung als Reenactment‹: Während der/die Ritualteilnehmer/in letztlich als ›sie selbst‹ oder ›er selbst‹ am Ritual teilnimmt (um dann möglicherweise subjektive Transformationen zu erfahren), entwickelt der/die Akteur/in im Reenactment ein Bewusstsein dafür, sich dem Charakter, der Figur oder der Rolle einer Person aus der Vergangenheit anzunähern. Diese Annäherung kann, wie Rebecca Schneider betont, im Falle eines gelungenen Reenactments in einer ›Berührung‹ (touch) kulminieren, d. h. in dem Gefühl, eine emotionale Verbindung zu der anderen Zeit, der anderen Welt bzw. der konkreten historischen Situation hergestellt zu haben. 12 Passionierte Reenactment-Teilnehmer sind sich sicher, in ihrer Darstellungspraxis einen besseren, genaueren, intensiveren Zugang zur Geschichte zu finden, als es durch die Lektüre eines historischen Romans oder einer geschichtswissenschaftlichen Abhandlung möglich wäre. Dieser Eindruck resultiert womöglich gerade aus der Erfahrung, die dargestellte Situation selbst nicht vollständig kontrollieren zu können. Im Reenactment begegnet dem Einzelnen viel Unerwartetes, Ungeplantes, Inkommensurables. Es stellen sich Situationen, Bilder und Gefühle ein, mit denen im Vorfeld nicht zu rechnen war.

11 Vgl. zu dieser Methode Lee Strasberg: Schauspielen & Das Training des Schauspielers, hg. von Wolfgang Wermelskirch, Berlin: Alexander-Verlag 2007 und Easty, Edward Dwight: On Method Acting, New York: Ivy Books 1989. 12 Siehe zur Erfahrung des »touching time«, von dem Teilnehmer von Civil-WarReenactments zu berichten wissen: R. Schneider: Performing Remains, S. 35.

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Diese Erfahrung, ›gespielt zu werden‹, sich von der Situation bestimmen zu lassen, auf andere Akteure reagieren zu müssen, macht aus dem gelungenen Reenactment ein wirkliches deep play – ein Spiel mit ernsthaften Konsequenzen.13 Für politische Bewegungen wird es auf diese Weise zu einer relevanten Praxis mit potenziell stärkenden, bindenden Wirkungen auf die Anhängerschaft.

R ESÜMEE Zusammenfassend greife ich die Ritualdefinition von Humphrey und Laidlaw aus dem ersten Teil des Beitrags auf und reformuliere sie für das Reenactment, um die Differenz von Reenactment und Ritual noch einmal zu markieren. Im Unterschied zum Ritual ist ein Reenactment durch Handlungen konstituiert, die nicht auf tradierter, unhinterfragter Festsetzung beruhen, sondern von den Intentionen der beteiligten Akteure abhängen. Daraus ergibt sich eine Handlungskategorie, für die Intention und Komposition eine wichtige Rolle spielen. Zur Einstellung der Teilnehmer eines Reenactments gehört die Überzeugung, dass die Wiederherstellung einer konkreten historischen Situation wertvoll ist bzw. dass von ihr eine wünschenswerte reale Wirkung ausgehen kann. Eine Reihe konstitutiver Regeln wird als für die Arten von Handlungen, die man ausführt, bestimmend nicht nur akzeptiert, sondern zumeist auch inszenatorisch neu entwickelt. Wer sich an einem Reenactment beteiligt, ist zu solchen inszenatorischen Anstrengungen ausdrücklich angehalten und wird in diesem Sinne zum Mit-Autor. Der Handelnde nimmt auf eine vergangene Situation mit einer Handlung Bezug, die er sich – oft in Kenntnis historischer Quellen und Dokumente – in ihren konkreten Schritten und Verläufen selbst ausgedacht hat. Es ist ihm aus der Beschäftigung mit dem geschichtlichen Ereignis klar, was für eine prakti-

13 Klassisch zum Begriff des deep play: Clifford Geetz: »Deep play: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf«, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurta.M.: Suhrkamp 1987, S. 202-260. Die englische Erstfassung DEEP PLAY: NOTES ON THE BALINESE COCKFIGHT erschien erstmals 1972 in Daedalus 101.1, S. 1-37.

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sche Funktion die einzelnen Handlungsschritte in der dargestellten Vergangenheit hatten. Aus Sicht des Akteurs erscheint die Handlung des Reenactments demnach als etwas, das nicht konkret vorgegeben ist und einfach nur aufgegriffen werden muss. Vielmehr muss die Handlung persönlich entwickelt, ausagiert und emotional erfahren werden. Der Akteur realisiert mit erheblichem inszenatorischem Aufwand und im Zusammenspiel mit anderen Teilnehmern eine möglichst exakte Vorstellung, die er sich von einem Ereignis bzw. einer Situation der Vergangenheit macht. Für die politische Bewegung geht es entsprechend nicht allein um rituelle Selbstvergewisserung, sondern um eine aktive, performative und emotionale Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.

L ITERATUR Resist! (D/B 2003, R: Dirk Szuszies). Bernstein, Eduard: Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung, 3. Teil, Berlin: Buchhandlung Vorwärts 1910. Die Rote Fahne 12.12 (1929). Easty, Edward Dwight: On Method Acting, New York: Ivy Books 1989. Geetz, Clifford: »Deep play: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf«, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Habermas, Jürgen: Protestbewegung und Hochschulreform. Mit einer Nachbemerkung von Alexander Kluge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Hinz, Melanie/Roselt, Jens (Hg.): Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater, Berlin: Theater der Zeit 2011. Humphrey, Caroline/Laidlaw, James: »Die rituelle Einstellung«, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, 2. Auflage, Wiesbaden: Westdt. Verlag 2003, S. 135-156 (Dt. Übersetzung eines Kapitels aus der Monographie: Humphrey, Caroline/Laidlaw, James: The Archetypal Actions of Ritual. A Theory of Ritual Illustrated by the Jain Rite of Worship, Oxford: Clarendon Press 1994, S. 88-110.)

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Kurzenberger, Hajo: Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität, Bielefeld: transcript 2009. Lüdtke, Alf: »Trauerritual und politische Manifestation. Zu den Begräbnisumzügen der deutschen Sozialdemokratie im frühen Kaiserreich«, in: Bernd Jürgen Warneken (Hg.), Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1991, S. 120-148. Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London/New York: Routledge 2011. Strasberg, Lee: Schauspielen & Das Training des Schauspielers, hg. von Wolfgang Wermelskirch, Berlin: Alexander-Verlag, 2007. Voßke, Heinz: Geschichte der Gedenkstätte der Sozialisten in BerlinFriedrichsfelde, Berlin: Dietz 1982. Warstat, Matthias: Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918-33, Tübingen: Franke 2005. Welskopp, Thomas: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn: Dietz 2000.

Re: Enactment Geschichtstheater in Zeiten der Geschichtslosigkeit U LF O TTO »Those who forget the past are doomed to reboot it«1

Seit geraumer Zeit ist allerorts von Reenactments die Rede. Der Begriff, der seit den 60er Jahren das Nachspielen historischer Schlachten als Freizeitvergnügen bezeichnet, taucht immer häufiger nicht nur in Film und Fernsehen, sondern auch in der Kunst, in Museen, in der Archäologie und nun schließlich in Tanz und Theater auf. Spätestens seit der 2007 wiederaufgenommenen Neuinszenierung von The Brig, in der ein über 20 Jahre toter Ausstatter für das Bühnenbild verantwortlich zeichnete, scheint das Living Theatre auf dem Weg zur Living History zu sein, und die Obsession des Theaters mit Gegenwart und Gegenwärtigkeit von einer gesamtgesellschaftlichen ›Geilheit auf Geschichte‹2 überlagert zu werden. Aber verbirgt

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Die Variation des oft zitierten Satzes von George Santayana stammt von Mark Dery, zit. auf dem Cover von Packer, Randall/Jordan, Ken: Multimedia: from Wagner to Virtual Reality, New York: Norton 2001. Im Original lautet die Quintessenz, dass wer die Geschichte vergesse, verdammt sei, sie zu wiederholen. Denn entgegen gängiger Annahmen bestände Fortschritt nicht in der Veränderung, sondern in der Merkfähigkeit. Wer gemachte Erfahrungen nicht behalten könne, sei zu ewiger Kindheit verdammt.

2

Vgl. Rainald Grebes Lied »Zeitmaschine« (2008): »Setz’ dich in die Zeitmaschine und fahr’. / wo steigen wir denn aus, in welchem Jahr? / Scheißegal,

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sich hinter der Konjunktur des Begriffes tatsächlich mehr als eine akademische Mode, ein geschicktes Re-Branding von Geschichtsdrama und Dokumentartheater? Schließlich sind die vielfältigen Phänomene, die neuerdings unter dem Label firmieren, kaum auf ein Genre festzulegen und scheinen darüber hinaus nicht nur aufregend neu, sondern zugleich ein alter Hut zu sein: Nicht nur die Eucharistie mit der Aufforderung zur gedenkenden Wiederholung – »Tut dies zu meinem Gedächtnis«3 – ist ja schon als Reenactment angelegt. Auch dass die Kunst von heute jene von gestern beschwört oder die Geschichte als Spektakel wiederkehrt ist keine neue Entdeckung. Bereits in Richard Schechners Theateranthropologie taucht die Plimoth Plantation als Beispiel von ›restored behavior‹4 auf und schon bei Milton Singer werden Civil War-Reenactments als cultural performance besprochen: »[a] multimedia expression of an American cultural identity, encapsulated in concrete symbolic representations of its history, cosmology, and moral values. To participate in such performances, either as organizers, actor, or audience is to exhibit to oneself and to others the concrete representations of that identity as well as to make a public declaration of one’s acceptance of it«5

Doch dass Reenactments entsprechend immer auch mit Gemeinschaftsbildung, Identitätskonstruktion und Authentifizierungsstragien in Zusammenhang stehen, hilft der Begriffsbildung nur begrenzt weiter, weil es die Frage offen lässt, worin sich Reenactments beispielsweise von Geschichtsdramen und Kostümbällen unterscheiden, d.h. ob sie sich von anderen Formen von

Guido Knopp war immer vor dir da. / Heiner Lauterbach sinkt gerade mit der Gustloff. / Heiner Lauterbach rennt g’rad durch das brennende Dresden. / Ja der Heiner ist ja auch überall dabei gewesen./ Ich bin so geil auf Geschichte. [...]« 3

Lukas 22,19.

4

Vgl. Schechner, Richard: Between Theater & Anthropology, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1985.

5

Singer, Milton: »On the Symbolic and Historical Structure of an American Identity«, in: Ethos 5 (1977), S. 431-455, hier: S.422, zit. nach Turner, Rory: »The Play of History: Civil War Reenactments and Their Use of the Past«, in: Folklore Forum 22 (1/2) (1989), S. 57.

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cultural performances sinnvoll differenzieren lassen.6 Die Antwort darauf aber wird kaum in einer ahistorischen Genre-Definition zu finden sein, die notgedrungen entweder zu eng oder zu weit ausfällt, sondern muss die kulturelle Kontingenz der spezifischen ästhetischen Praxis des Reenactments in Betracht ziehen und die zu Grunde liegende historische Konstellation in Augenschein nehmen. Der Vorschlag besteht daher darin, das Reenactment nicht als ein theoretisch abzugrenzendes Genre auf eine Formidentität festzulegen, sondern stattdessen als eine spezifische zeitgenössische Geste auf seine historische Kontingenz hin zu untersuchen. Denn der Begriff der Geste legt zweierlei nahe:7 erstens, dass Reenactmens wie manuelle Ausdrucksbewegungen als kulturell eingebettete Form einer symbolischen Körperpraxis zu verstehen sind; zweitens, dass Reenactments im Sinne kultureller Gesten einen rhetorischen Überschuss in sich tragen und durchaus leer sein können. Mit anderen Worten: vielleicht erzählt die Erzählung vom Reenactment mehr über das Reenactment als das Reenactment selbst. Nicht, was ein Reenactment denn nun eigentlich ist, wäre dann zu fragen, sondern was diese neue Form der Besinnung auf die Vergangenheit mit unserer Gegenwart zu tun hat und ob es nicht eine intime Verwandtschaft zwischen der amerikanischen Populärkultur und aktuellen Tendenzen in der Kunst gibt, pointierter formuliert: Hat jener reaktionäre Hobbyist, der sich in Gettysburg noch einmal das Schießpulver ins Gesicht schmiert, mit der avantgardistischen Performance-Künstlerin, die sich in New York noch einmal den fünfzackigen

6

Ähnliches liesse sich gegenüber Erika Fischer-Lichtes Bestimmung des Begriffes als »verkörpernde Vergegenwärtigung eines Ereignisses aus der Vergangenheit im Hier und Jetzt« einwenden, den sie anhand von vier historischen Beispielen aus dem Kontext von Heilsgeschichte, National- und Revolutionsgeschichte und schließlich Kunstgeschichte erläutert. Auch hier bleibt die Frage offen, was denn nun Reenactments von anderen cultural performances unterscheiden könnte – abgesehen vielleicht von dem Geschichtsbezug – weil nicht näher ausgeführt wird, was die spezifischen Formen von ›Vergegenwärtigung‹ und ›Verkörperung‹ in Reenactments gemein haben könnten.

7

Die Anregung zu diesem Begriff verdanke ich Christel Weiler: Weiler, Christel: »Nicht ist erledigt, nur weil es verging«, in: Theater der Zeit vom Juni 2008, S. 22-25.

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Stern in die Bauchdecke ritzt, vielleicht mehr zu tun hat als man gemeinhin annehmen würde? Im Folgenden will ich daher ein paar Vorüberlegungen anstellen, die als Grundlage für ein mögliches Forschungsprojekt zur Rhetorik und Praxis des Reenactments dienen könnten. Der erste Abschnitt skizziert die Rhetorik des Reenactments am Beispiel von Fernseh- und Museumskultur und situiert das Phänomen damit im Rahmen zeitgenössischer Geschichtsdarstellungen. Der zweite Abschnitt untersucht die Praktiken des Reenactments anhand der Traditionen und Vorläufer jener Freizeitkultur, auf die der Begriff wesentlich zurückgeht. Der dritte Abschnitt schlägt den Bogen zurück zur Kunst, fragt danach, was künstlerische und populärkulturelle Reenactments verbindet, und wirft abschließend noch einmal die Frage nach dem kulturellen Standort dieses zugleich pre- und postmodernen Geschichtstheaters auf, das noch einmal das Ideal eines ganzheitlich erlebten Selbst heraufbeschwört. Es ist – das wäre meine abschließende These – ein emphatisches und zugleich anachronistisches Subjektmodell, das in den kollektiven Spektakeln des Reenactments zugleich überwunden wird und noch einmal seine Auferstehung feiert.

D IE R HETORIK

DES

R EENACTMENTS

Als den Beginn einer »historiographischen Wende« hat der Komparse Karl Richter den Untergang von Bernd Eichinger in der rechtsextremen Monatsschrift »Nation und Europa« bezeichnet. 8 Das »eigentliche Erlebnis« des Filmes sei die »authentische Atmosphäre« gewesen von der »alle erfasst waren«. Über die Vermittlung einer Casting-Agentur sei er für die Rolle des Adjutanten des Generalfeldmarschalls Keitel ausgewählt worden. 9 Während der Dreharbeiten hätten sich »nach und nach bekannte Gesichter aus der Szene« eingestellt. »Man kennt sich, zwinkert sich zu, bleibt unauf-

8

Richter berichtet von seiner Filmerfahrung in einem Artikel in der rechtsextremen Publikation »Nation und Europa – Deutsche Monatshefte«. In Folge geisterte die Nachricht von Neonazis auf dem Filmset durch die Feuilletons, sodass schließlich auch die Produktionsfirma Stellung beziehen musste. Vgl. »Als Hitler mir die Hand schüttelte«,in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Okt. 2004.

9

Ebd.

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fällig«.10 Besonders bewegt habe ihn, als Hitler ihm die Hand schüttelte, nur sei diese Szene später leider herausgeschnitten worden. Es ist das Erlebnis einer authentischen Atmosphäre, das für Karl Richter die historiographische Wende begründet. Und mit dieser Ansicht deckt sich Karl Richter nicht nur mit der Medienkampagne des Filmes, die den Anspruch, die Dinge zu so zu zeigen, wie sie wirklich waren, immer wieder mit dem Verweis auf das Gefühlsleben der Darsteller untermauert hat, sondern erinnert auch an Living History oder experimentelle Archäologie. 11 Wie im ›Abenteuer Mittelalter‹ oder im ›Experiment Steinzeit‹ der ARD geht es für Karl Richter und seine Gesinnungsgenossen in Eichingers Filmset um das situative Erleben einer rekonstruierten Umgebung, die dem Bild nicht nur Ereignischarakter verleiht, sondern ihm zugleich auch dokumentarische Qualität unterstellt und die ästhetische Gemachtheit der Bilder verleugnet.12 Die historistische Versuchsanordnung, in der man im selbstgebauten Einbaum durch die Steinzeit fahren oder Hitler die Hand schütteln kann, will nichts mehr vom als-ob wissen und erfindet damit auch den Schauspieler als Zeitzeugen neu. In Umkehrung der Flussrichtung des ›method acting‹ stellt es sich nicht mehr so dar, als könne Bruno Ganz den Hitler so gut

10 Ebd. 11 Zum Zusammenhang von Living History und Experimenteller Archäologie vgl. Anderson, Jay: The Living History Sourcebook, Nashville, Tenn.: American Association for State and Local History 1985; Anderson, Jay: Time Machines: The World of Living History, Nashville, Tenn.: American Association for State and Local History 1984. 12 Die ARD produzierte seit Anfang des Jahrtausends diverse Serien mit Laiendarstellern in historischen Settings: »Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus?«, »Schwarzwaldhaus 1902« (2002), »Abenteuer Mittelalter – Leben im 15. Jahrhundert« (2005), »Windstärke 8« (2007), »Bräuteschule 1956« (2006), »Steinzeit – Das Experiment« (2007). »Es geht dabei nicht so sehr um Burgfräulein und Ritter, sondern um das Leben des Gesindes, der Mägde und Knechte«, sagt Claudia Schreiner, beim MDR zuständig für die Bereiche Kultur und Wissenschaft. »Von den einfachen Menschen und ihrem Alltag ist bislang sehr wenig überliefert. So viel ist aber sicher: Weit entfernt von jeglicher BurgfräuleinRitter-Romantik sind die Menschen damit beschäftigt, für ihre tägliche Nahrung zu schuften. Und an erster Stelle steht nicht das arbeitende Gesinde, sondern der Burgvogt, der versorgt werden will« (Der Stern vom 12.12.05).

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spielen, weil er sich so intensiv mit der Figur auseinandergesetzt hat, sondern weil er ihn so intensiv gespielt hat, weiß er nun, wie Hitler wirklich war.13 So bezeugt in der Rhetorik des Reenactments das Erlebnis der Darsteller das Ereignis der Darstellung und verbürgt damit die Authentizität der Bilder.14 Vorführung und Schaustellung werden zu Gunsten der selbst gemachten Erfahrung vernachlässigt. Nicht der Eindruck, den die Darstellung beim Publikum hinterlässt, zählt, sondern das eigene Erleben des Darstellers – »the active experience, the experience of acting – of reenaction – is everything«, wie es Sven Lütticken in Hinblick auf das ReenactmentHobby beschreibt.15 Die rückwärts gerichtete Zeitreise, von der das Reenactment träumt, wird durch jenen ›magic moment‹ ermöglicht, der das Gefühl entstehen lässt, ein Teil der Geschichte geworden zu sein, weil die Bilder der Vergangenheit in eine persönlich konkrete Erfahrung der Gegenwart überführt wurden.16 In der anti-theatralen Tradition Rousseaus geht es um eine Präsenzerfahrung und ein »Da-Sein« in der Vergangenheit.17 Das

13 Zur Rhetorik des Untergangs vgl. Otto, Ulf: »Führerbunkerbilder. Schlingensiefs Hitler und Eichingers Untergang – Kollektivierungsversuche und Privatisierungsbemühungen am Beispiel einer historischen Immobilie«, in: Hajo Kurzenberger/Hans-Josef Ortheil/Matthias Rebstock (Hg.), Kollektive in den Künsten, Hildesheim: Olms 2008, S. 163-178. 14 Dass es sich dabei um Rhetorik handelt und das Dokudrama genauso wie das Wirklichkeitsfernsehen auf altbewährte dramaturgische Muster und Wirkungsästhetiken setzt, schließt das nicht aus. Vgl. auch Steinle, Matthias: »Geschichte im Film: Zum Umgang mit den Zeichen der Vergangenheit im Dokudrama der Gegenwart«, in: Barabara Korte/Sylvia Paletschek (Hg.), History goes Pop, Bielefeld: transcript 2009. 15 Lütticken, Sven: »An Arena in Which to Reenact«, in: Ders./Jennifer Allen (Hg.), Life, Once More Forms of Reenactment in Contemporary Art, Rotterdam: Witte de With 2005, S. 39. 16 Vgl. Allred, Randal: »Catharsis, Revision, and Re-enactment: Negotiating the Meaning of the American Civil War«, in: Journal of American Culture 4 (1996), S. 5f. 17 Vgl. auch Ebd., S.7: »they want to be there«. Anderson fasst den ›magic moment auf als »the moment when you actually feel as if you are a part of a particular historical period or event« (Jay Anderson: The Living History Sourcebook,

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Reenactment sehnt sich in Tradition der Avantgarden zum Ritual zurück, will das künstliche Schauspiel durch authentisches Volksspiel ersetzen und die Differenzierung von Akteuren und Publikum in einem kollektiven Ritualvollzug aufheben. 18 Damit aber dementsprechend die Zeichenhaftigkeit der Figuration zu Gunsten seiner Materialität zurücktreten kann, muss sie mit den historischen Bildern übereinstimmen. Nur dort kann Geschichte wieder auferstehen und lässt sich Hitler die Hand schütteln, wo Schnurrbart, Seitenscheitel und Schäferhund ihre Evidenz aus der Übereinstimmung mit dem kulturell Unbewussten beziehen und als mediale Reproduktion wieder in dieses eingehen können. Der Film erscheint in diesem Lichte weniger als ästhetische Praktik der Bildkomposition oder des szenischen Arrangements, sondern aus der Sicht eines subjektiven Erlebens des Agierens im Fiktionalen. Ausgehend von dieser Anekdote, in der das Filmset zum Nazipark wird, lassen sich daher heuristisch zwei markante Parameter des Reenactments ableiten, durch die es sich von anderen kulturellen Formen der Geschichtsinszenierung abhebt und unterscheidet: (1.) Reenactments begreifen Geschichte als Erlebnisraum und den Körper als Gedenkstätte. Es ist das individualisierte Erlebnis kommunaler Zusammenhänge, das im Zentrum eines Spiels steht und sich gerade in der Alltäglichkeit des Tuns erfährt: die sinnlich-körperliche Wahrnehmung des Selbst als Teil einer sozialen und naturalen Umgebung, die sich durch lokales Kolorit und detaillierte Dinglichkeit erschließt. Nicht die großen Handlungen herausragender Einzelner mit psychologischem Tiefgang sind es daher, die das Reenactment wiederholen will, sondern ein überindividuelles und unpersönliches Verhalten, das die Geschichte am eigenen Leib erfahrbar werden lässt. Statt der schaustellenden Verkörperung fremder Rollenbilder steht die Inkorporierung künstlicher Erinnerungen im Vordergrund. Es ist das Händeschütteln mit dem ›Führer‹ in Kostüm und Kulisse, dass bewegt und dessen Erlebnis nur durch die spätere Entfernung im Schnitt getrübt wird, denn: (2.) Reenact-

S.455). Horwitz beschreibt den ›time warp‹ als »a momentary illusion of actually being in the past« (Horwitz, Tony: Confederates in the Attic: Dispatches from the Unfinished Civil War, New York: Vintage 1998, S. 7). 18 Zur Ablehnung von Schaustellung und Publikum vgl. Thompson, Jenny: War games – Inside the world of 20th century war reenactors, Washington: Smithsonian Books 2004, S. 95-116.

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ments suchen die Ereignishaftigkeit der Medien und die Medialität des Ereignisses. Sie übersetzen mediale Vorbilder in materielle Erfahrungsräume und zielen in der korporalen Aneignung dieser Erfahrungsräume wiederum selbst auf die Erzeugung medialer Nachbildungen. Als ein sowohl medial basiertes als auch medial motiviertes Ereignis werden Reenactments nicht auf Flüchtigkeit und Vergänglichkeit hin gedacht, sondern kommen überhaupt erst durch die mediale Vor-, Auf- und Nachbereitung zu Stande. In Reenactments werden die Bilder ins Erleben gesetzt und das Erleben wieder im Bild gebannt. Sie gehen aus Archiven hervor und wollen wieder in die Archive eingehen. Und so lassen sie sich vielleicht am besten als medialer Ritualvollzug beschreiben, der sich von den historischen Parametern theatraler Darstellung und der ostentativen Orientierung ans Publikum weitgehend abgewendet hat und im Nachstellen historischer Ereignisse die mediale Aneignung von Geschichte mit der individuellen Körpererfahrung historischer Lebenswelten in Deckung bringt. Diese Anekdote schlägt insofern auch die Verbindung zwischen Dokudrama und Mitmachmuseum. Statt Schaubildern, Schrifttafeln und Filmeinspielungen verspricht so bspw. auch das Berliner DDR-Museum ganz im Sinne von historischer Avantgarde, McLuhans Medienteleologie oder Martin Schulzes Erlebnisgesellschaft eine »Geschichte zum Anfassen«, die sich im »Sehen, Fühlen und Erleben«19 erschließt und endet mit der etwas zynischen Verheißung: »Der Stasibereich fordert zur Selbst-Erfahrung auf.«20 Gleichzeitig aber lässt die Anekdote die Diskrepanz zwischen Rhetorik und Praxis deutlich hervortreten, denn der Untergang bleibt trotzt seiner Zwischennutzung als Nazipark ein konventioneller Spielfilm, der sich in seinen Bemühungen um die melodramatische Vermenschlichung des NS-Führungspersonal vornehmlich klassischer dramaturgischer und darstellerischer Konventionen bedient. Ausgehend von dieser heuristischen Charakterisierung der Rhetorik des Reenactments möchte ich daher im zweiten Abschnitt näher auf die Praxis des Reenactments zu sprechen kommen, und zwar eben dort, wo der Begriff in seiner zeitgenössischen Bedeutung seinen Ursprung hat, nämlich in der historistischen Hobbykultur der Bürgerkriegsspektakel.

19 Broschüre des Berliner DDR-Museums. 20 Ebd. »Alles wartet darauf angefasst und erlebt zu werden«, heißt es weiter.

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M AGISCHE M OMENTE Das Reenactment entsteht als Hobby in den USA in Folge der Hundertjahrfeier des amerikanischen Bürgerkrieges (1965) und der Zweihundertjahrfeier der Staatsgründung (1976). Mit den Filmen Glory21 und Gettysburg22 sowie der PBS-Serie The Civil War 23 , in denen die Reenactment-Szene erstmals in großem Maßstab als Statisterie integriert wurde, tritt das Hobby in die Zirkulation der Film- und Fernsehbilder ein, nachdem es 1988 in der 125-Jahrfeier des Bürgerkriegs mit 12.000 Teilnehmern und über 100.000 Zuschauern seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte. 24 Die entscheidenden historischen Vorbilder führen dabei an den Anfang des 20. Jahrhunderts und lassen sich von dort zurück ins 19. Jahrhundert verfolgen. Historical Pageantry und Living History seien es, aus deren Verbindung sich nach dem zweiten Weltkrieg das Reenactment herausbilde, hat Wolfgang Hochbruck ausgeführt.25 Von der Tradition der historischen Festumzüge, deren amerikanische Spielart in den 1910er Jahren ihre Hochzeit hat, übernehme das Reenactment die Idee des historischen Ereignisses als inszeniertes Freizeitvergnügen; und aus der Living History, dessen Entstehen eng mit dem 1891 gegründeten dänischen Skansen-Museum verbunden ist, übernehme es den Drang zum Authentischen und zu historischer Genauigkeit. Eine dritte Traditionslinie stellen jene die Gegenwart historisierenden Schlachtenspektakel dar, die mit der französischen Revolution ihren An-

21 Glory (USA 1989) 22 Gettysburg (USA 1993) 23 The Civil War (USA 1990) 24 Vgl. Hochbruck, Wolfgang: »Between Living History and Pageantry: Historical Reenactments in American Culture«, in: Peter Paul Schnierer (Hg.), CDE – Contemporary Drama in English. Bd. 4. Beyond the Mainstream, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1997, S.97. 25 Vgl. auch Glassberg, David: American Historical Pageantry: The Uses of Tradition in the Early Twentieth Century, Chapel Hill: University of North Carolina Press 1990; Prevots, Naima: American Pageantry, Ann Arbor: University of Michigan Press 1990; Telsko, Werner: »Der historische Triumph- und Festzug des Historismus in Europa«, in: Der Traum vom Glück: Die Kunst des Historismus in Europa, Ausstellungskatalog, Künstlerhaus Wien/Akademie der Bildenden Künste 1996, Bd. 1, S. 290-296.

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fang nehmen, mit den Kriegen im 19. Jahrhundert populär und kommerziell werden und bis zu Nicolaij Evreinovs Nachinszenierung der Erstürmung des Winterpalais 1920 in Petrograd reichen. 26 Alle drei Traditionslinien: Festumzüge, Freilichtmuseen und Schlachtspektakel entstehen insofern im Kontext nationaler Selbstvergewisserung durch die Konstruktion von »Ersatzidentitäten«27 und stehen im engen Zusammenhang mit der Entstehung von historistischer Volkskultur und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert.28 Aus dieser Tradition heraus liegt es insofern nahe, das Reenactment entweder als Ideologie von Gestern zu verdächtigen und hinter den falschen Südstaatlern verkappte Rassisten zu vermuten – oder aber genau umgekehrt, das Reenactment als Ausdruck posthistorischer Beliebigkeit zu verstehen und als antiquarische Variante von Paintball und Live-Rollenspielen

26 »Um eine Vorstellung von sich selbst zu bekommen müssen sich die Massen deutlich zeigen, und das ist nur dann möglich, wenn, um mit Robespierre zu sprechen, sie zu einem Schauspiel ihrer selbst werden« Anatolyj Lunacarskij, Volkskommisar für Aufklärung, zit.nach Taylor, Richard: October, London: British

Film

Institute

2002.

Zu

den

Schlachtenspektakeln

zwischen

französischer und russischer Revolution vgl. ausserdem Gerould, Daniel: »Historical Simulation and Popular Entertainment: The ›Potemkin‹ Mutiny form Reconstructed Newsreel to Black Sea Stunt Men«, in: The Drama Review 2 (1989), S. 161-184; Deák, Frantisek: »Russian Mass Spectacles«, The Drama Review 19 (1975), S. 22. 27 Der Historiker, schreibt Foucault, biete dem Europäer »Ersatzidentitäten an, welche anscheinend individueller und wirklicher sind als seine eigene« (Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Ders., Von der Subversion des Wissen, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S.85). 28 In Bezug auf die Traditionen historischer Kostümierung, den Mittelalterboom und die Geschichtswissenschaft merkt Valentin Groebner an: »Politische Gemeinschaften sind deswegen an ihrer eigenen Geschichte interessiert, weil diese Geschichte reduzierte Komplexität verspricht – eine imaginäre Rückkehr in ein mythisches, eigentlicheres Selbst.« (Groebner, Valentin: »Historische Kostümfeste«, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte (2005), S. 116).

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in die Traditionen von Kriegsspielen und Schaukämpfen einzureihen. 29 Dann wären jene Ritterturniere, die Kaiser Maximilian – der letzte Ritter und erste Kanonier – veranstaltete, während das burgundische Rittertum und seine Waffen längst ausgedient hatten, vielleicht der Urahn des Reenactments. Auch das Reenactment – so ließe sich argumentieren – entsteht eben dort, wo die reinszenierten Symbole ihre gesellschaftliche Verbindlichkeit und ihrer fundierende Kraft eingebüßt haben: als ein vorwiegend unverbindliches Freizeitvergnügen einer sozial gutgestellten Schicht, die es sich leisten kann und um die Distanz zu den Ereignissen weiß. Denn bezeichnenderweise entsteht das Reenactment erst nach dem zweiten Weltkrieg, als die Veteranen des Bürgerkriegs durch den Generationswechsel und eine neue Kriegserfahrung aus der amerikanischen Öffentlichkeit weitgehend verschwunden sind. Diese Distanz durch den neueren Krieg und das Verschwinden der Zeitzeugen hat die dargestellten Ereignisse in eine zunehmend exotisch und vormodern anmutende Ferne gerückt und scheint so die Entstehung des Reenactments als Hobby bedingt zu haben. Das aber würde nahelegen, dass das Reenactment weniger als Ausdruck traditioneller Ideologie denn vielmehr als Manifestation modernen Ennuis und Eskapismus aufzufassen wäre, und hinter der Maske des Reenactors nicht der verkappte Südstaatler steckt sondern eine Variation des Trekkies und Cosplayers, ein Fan und Freak im Sinne von Populärkultur und Unterhaltungsindustrie.30 Beide Erklärungsversuche, der restaurativ-reaktionäre wie auch der konsumtorisch-eskapistische, sind nicht ganz von der Hand zu weisen und lassen sich durch einzelne Beispiele durchaus stützen. Und so gegensätzlich

29 Lutz Niethammer beschreibt in seiner Auseinandersetzung mit dem Topos der Posthistoire drei strukturelle Kernelemente einer nachgeschichtlichen Melancholie: 1. »die Überwindung des Historismus und die entzeitlichte Abrufbarkeit des universalen historischen Erbes zum ›Geistergespräch‹«, 2. »die sich von den Subjekten ablösende Selbststeuerung der technisch-ökonomischen Struktur der Gesellschaft als ›Megamaschine‹«, 3. »die Rückführung der Kultur auf natürliche Voraussetzungen und damit auf deren langfristige Tendenz zur Erstarrung, mithin die Einbeziehung der Kultur in den Zusammenhang von ›Natur und Tod‹« (Niethammer, Lutz: Posthistoire: ist die Geschichte zu Ende, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 9). 30 Vgl. R. Allred: »Catharsis, Revision, and Re-enactment«.

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sie theoretisch auch sind, scheinen sie sich in der Praxis doch nicht auszuschließen. Was beide Ansätze allerdings nicht oder nur mangelhaft zu fassen vermögen, ist jene Fixierung auf die Authentizität der Historie und den ›magischen Moment‹ der Zeitreise – den ›time warp‹ oder ›period rush‹ –, die sich als klarer Bruch mit der allegorischen und repräsentativen Darstellung von Geschichte erweist. Denn so unterschiedlich die individuellen Zugangsweisen zwischen Farbs und Pards, zwischen Fanatikern und Dilettanten auch sein mögen, im Mittelpunkt der Szene und ihres Diskurses steht zweifellos das Motiv der Zeitreise, verwirklicht in jenem magischen Präsenzerlebnis der Vergangenheit. »The best moments are when I forget that I‘m a 20th century man. When I get lost in the perceptual cues and I think for one magic moment that I‘m actually a Civil War soldier in the war, then is the moment that all the work and cost and training is trivial and I have my reward«31 Was hier erst einmal in der abstrakten Zusammenfassung an ein FlowErlebnis erinnert, entpuppt sich jedoch in den konkreten Beschreibungen im Gegenteil meist als der Moment der Distanzierung und Reflexion innerhalb des Ereignisses. Meist sind die magischen Momente eben jene, in denen der Reenactor nach geschlagener Schlacht und überwundenen körperlichen Mühen auf einer Anhöhe angekommen ist oder tot auf dem Boden liegt und sich in den über ihn hinwegziehenden Nebelschwaden und Bataillonen als historisches Subjekt empfinden kann. Diese Einfühlung in das historische Subjekt aber ist es, in der sich das Individuum im Kontakt mit der realen Welt und einem echten Selbst befindet, in der das Reenactment als authentisch erfahren wird. Es ist weniger die Authentizität der Abbildung als die Authentizität der Erfahrung, die – wie Richard Handler und William Saxton überzeugend gezeigt haben – die Praxis des Reenactment Hobbys prägen. Nicht zu zeigen, wie es war, sondern zu erfahren, wie es sich angefühlt haben könnte, ist das Ziel des Reenactments. Dieses Ideal authentischer Erfahrung des Selbst aber speist sich aus einem modernen und romantischen Selbstverständnisses, das die Wirklichkeit und den Sinn in die Innerlichkeit eines einzigartigen Individuums verlagert, und es dazu antreibt, sein Selbst im authentischen Erleben dieser In-

31 R. Allred: Catharsis, Revision, and Re-enactment, S. 6.

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nerlichkeit überhaupt erst zu verwirklichen.32 Dazu bedarf es einer ganzheitlichen Erfahrung des individuellen In-der-Welt-seins und der Abgrenzung von einem falschen Leben in der gesellschaftlichen Entfremdung, das die Sinne anspricht, die intellektuelle Distanz aufgibt und sich abseits der Städte in unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit begibt.33 Wie die moderne Pilgerschaft, die schon lange vor Hape Kerkeling weniger als Reise zu den heiligen Stätten denn als Weg zu sich selbst verstanden werden kann, realisiert sich auch das Reenactment als mediale Verarbeitung und Aufbereitung einer außeralltäglichen Erfahrung des Nicht-Mediatisierten.34 Die Zeitreise des Reenactors orientiert sich insofern gerade nicht am Pauschaltouristen, sondern eher am Traveller mit dem Lonely Planet im Gepäck, sein Kostüm ist nicht von der Stange, er bleibt nicht außen vor und schaut von draußen rein, sondern sucht den Pfad abseits des industriellen Tourismus und hofft im Kontakt mit den historisch Einheimischen sein wirklicheres Selbst zu finden.35 Das aber heißt nicht nur, dass der Reiz von Living History und Reenactment darin besteht, sich im Rahmen einer narrativen Kohärenz wiederzufinden, die die alltägliche Lebenswelt nicht zu bieten vermag, wie Handler und Saxton ausführen,36 sondern auch, dass die körperlich-materielle Naturerfahrung im Reenactment in engen Zusammenhang mit Selbstvergewisserung und Subjektbildung zu suchen ist. Denn die Ambitionen des Reenactors richten sich, wie Randall Allred gezeigt hat,

32 Handler spricht von ›a desperate search for the real thing‹ (Handler, Richard: »Overpowered by Realism: Living History and the Simulation of the Past«, in: The Journal of American Folklore 397 (1987), S. 339). 33 Vgl. Kelsey, Darwin: »Harvests of History«, in: Historic Preservation 7-9 (1976), S.20-24 und Welsch, Roger: »Very Didactic Simulation«, in: The History Teacher 7 (1974), S. 356-364. 34 Damit einher geht einerseits die Zurückweisung der gelehrten Schriftkultur und andererseits die mediale Reproduktion des Erlebten: »It is not enough to relive the past; one must produce a record of the experience capable of generating further experiences« (Ebd., S. 340). 35 Vgl. dazu auch Groebner, Valentin: Historische Kostümfeste, S. 119: »wenig ist so modern wie die Vorstellung einer ›traditionellen Gesellschaft‹«. 36 Vgl. Handler, Richard/Saxton, William (1988): »Dyssimulation: Reflexivity, Narrative, and the Quest for Authenticity in ›Living History‹«, in: Cultural Anthropology 3 (1988), S. 242-260.

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sowohl auf das richtige Aussehen wie auch auf das richtige Denken, welches er sich unter anderem durch die Lektüre von historischen Tagebüchern anzueignen versucht.37 Insofern macht es Sinn, wenn Handler und Saxton den ›magic moment‹ im Reenactment mit jenen Erfahrungen vergleichen, die der Darsteller der Living History im Rahmen von ›doing first-person‹ macht. Denn dieses Auftreten in der ersten Person Singular legt den Interpreten auf einen Charakter fest, stattet ihn mit einer individuellen Biographie aus und erlegt ihm auf, nur noch ›in character‹ und ›in period‹ mit dem Akzent der Zeit zu sprechen, d.h. jeden Verweis auf den Vorgang, die Zeit und den Ort der Darstellung auszublenden.38 Der Wechsel zur ›first-person‹ aber vollzieht sich in der amerikanischen Museumskultur als eine institutionelle Reform der theatralen Praxis. Es ist James Deetz, der stellvertretende Direktor der Plimoth Plantation, der Ende der 1960er Jahre diese Praxis als Vorschrift einführt, aus dem Chor der typisierten Museumsstatisterie eine Versammlung historischer Persönlichkeiten macht, und den Museumsbesucher damit als Feldforscher neu definiert. – Das Bezeichnende aber ist, dass sich diese Veränderung der Darstellungsweise im Rahmen einer größeren Reform des Museums vollzieht, in dessen Verlauf Deetz 1969 nicht nur die Wachsfiguren, sondern auch alle antiken Möbel und Gegenstände, die sich nach neuesten Forschungsergebnissen als nicht authentisch erwiesen hatten, aus dem Museum verbannte. Erst die Forschungsergebnisse zum Alltagsleben der frühen Kolonialisten machten es so überhaupt möglich, die historische Authentizität als Ideal der Living History zu etablieren, weil sie sowohl zur Entschlackung des Geländes von einer verklärenden und romantisierenden Ausstattung als auch zur Theatralisierung im Sinne personalisierten Rollen-

37 Vgl. R. Allred: Catharsis, Revision, and Re-enactment, S.4. 38 Vgl. Deetz, James: »The Link from Object to Person to Concept«, in: Zipporah W. Collins (Hg.): Museums, Adults and the Humanities, Washington 1981, S. 8; Carlson, Marvin A.: The Haunted Stage: The Theatre as Memory Machine, Ann Arbor: University of Michigan Press 2002, S.109; Bigley, James D.: »Living History and Battle Reenactment«, in: History News 42 (1988), S. 16; Snow, Stephen Eddy: Performing the Pilgrims: A Study of Ethnohistorical RolePlaying at Plimoth Plantation, Jackson: University Press of Mississippi 1993.

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spiels und der ›suspension of disbelieve‹ führten.39 Und so stellt sich das illusionistische Erleben einer vermeintlich authentischen Darstellung im Living History Museum als die Kehrseite der Selbsterfahrung als historische Persönlichkeit im Reenactment dar.40 Aber dieser Selbstverwirklichung im historischen Spiel durch die authentische Verkörperung der historischen Person steht in Reenactment und Living History ein Geschehen gegenüber, das entindividualisierter nicht sein könnte. Krieg und Alltag, beides Aktivitäten, in denen der Einzelne wenig zählt und sich weder durch eine empfindsame Innerlichkeit noch durch eine markante Außenwirkung profilieren kann, sind es, in denen hier das Selbst erfahren wird. Und eben das scheint der markante Widerspruch des Reenactments zu sein. Es lässt das historische Subjekt in der Präsenzerfahrung eines »In-der-Vergangenheit-Sein« in einem vormodernen Geschichtszusammenhang sich noch einmal selbst erleben, und entlastet es dabei zugleich von dem gesellschaftlichen Zwang zur individuellen Profilbildung. Wie Sven Lütticken ausgeführt hat, lässt sich das Reenactment daher in einem durchaus ambivalenten Verhältnis zu einer performativen Lebenswelt beschreiben, die einerseits von dem spielerischen Erleben von Freizeit und Arbeit geprägt ist und andererseits visuelle Selbstdarstellung und das ›impression management‹ erfordert. »For an everyday life which has become a constant activity of self-performance and thus rather representational, this authentic act of war is substituted which is far removed from acting in the sense of play-acting. And yet it is still turned into a theatrical happening that seems to transpose the pressures of daily life into a form of play.«41

39 Vgl. Magelssen, Scott: »Recreation and Re-Creation: On-site Historical Reenactment as Historiographic Operation at Plimoth Plantation«, in: Journal of dramatic theory and criticism 1 (2002), S. 107-125; S.E. Snow: Performing the Pilgrims. 40 Die Ideologie entsteht auch im Reenactment insofern dort, wo der V-Effekt eliminiert wird, wo die Living-History-Urlauber ihre Kühltasche oder der Konföderierte Soldat seine Cola Dose verstecken, wo wie in Disneyland oder Eichingers Nazi-Park die Gänge unter und hinter den Kulissen der Sichtbarkeit entzogen werden. 41 S. Lütticken: »An Arena in Which to Reenact«, S. 42.

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Weit entfernt davon, nur eine Neuauflage identitätsstiftender Mythenbildung oder restaurativer Eskapismus zu sein, der sich aus dem Ennuie gegenüber der Komplexität des spätmodernen Lebens speist, wären Reenactments also als liminoides Spiel zu verstehen, das als ›deep play‹ die gesellschaftlichen Zwänge temporär aufhebt und doch zugleich reproduziert. Die Entlastung von den performativen Anforderungen des Alltagslebens geht Hand in Hand mit der Aufrechterhaltung des Spannungsverhältnisses zwischen subjektiven Erfahrungswelten und visueller Selbstdarstellung.42 Und so ließe sich das Reenactment vielleicht am besten als ein modernes Passionsspiel beschreiben, in dem das historische Subjekt in der Entsagung von der modernen Lebenswelt noch einmal durch den Schlamm der Geschichte waten darf, um in der Präsenzerfahrung der Vergangenheit als ein ganzheitliches und zugleich von den Zwängen der Individuation befreites Selbst wieder aufzuerstehen.43 Zugleich jedoch wird in der Beschreibung des Reenactments als theatrale Praxis deutlich, dass sich die Entstehung des Hobbys auch als performative Wende in der Geschichtsinszenierung darstellt – und mit der sich zeitgleich in der Kunst vollziehenden mehr gemeinsam hat als es auf den ersten Blick scheint. Denn auch wenn sich das Reenactment im Gegensatz zu der ganz auf die Gegenwart ausgerichteten Kunst der 60er Jahre der Vergangenheit verschreibt, will es doch genau wie diese die Darstellung runter vom Podest und raus aus dem Rahmen holen. Und so teilt es mit dieser erstens, dass es die Distanz zwischen Akteuren und Publikum überwinden will, zweitens, dass es das authentische Erleben einer Präsenzerfahrung ins Zentrum stellt und drittens, dass es sich wesentlich in der gleichzeitigen Zurückweisung und Angewiesenheit auf die mediale Reproduktion konstituiert. Und so wundert es kaum, wenn Stephen Snow die Living History als ›environmental theatre‹ 44 begreift, oder Sven Lütticken Reenactments als

42 Ebd. 43 Allred bemerkt, dass die Dramaturgie des Reenactments mit ihrem Leidensweg, dem Opfer und der folgenden Auferstehung, dem Gedenken und zeremoniellen Auszug der Teilnehmer an das Passionsspiel erinnert, vgl. R. Allred: »Catharsis, Revision, and Re-enactment«, S. 10. 44 S.E. Snow: Performing the Pilgrims, S. 185-212.

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›historicist happenings‹45 beschreibt. Das aber wirft noch einmal die Frage auf, wie sich das Reenactment in der Kunst zur Hobbykultur verhält und was es zu bedeuten hat, wenn ausgerechnet jene Kunst, die dem Reenactment so entgegengesetzt und gleichzeitig so ähnlich erscheint als zentraler Gegenstand künstlerischer Reenactments auftaucht.46

ÄSTHETIK

DES I TERATIVEN ?

Analog zur traditionellen Entgegensetzung von restaurativer Populärkultur und progressiver Kunst wird das Verhältnis vom Hobby und der Kunst des Reenactments meist a priori als Gegensatz aufgefasst. So erscheinen Hobby und Kunst bspw. bei Inke Arns in dem Bemühen um die Überwindung der Distanz zu einem abstrakten historischen Wissen durch individuelle leibliche Erfahrung vereint, werden jedoch in Hinblick auf die zeitgleich vollzogene Distanzierung und Reflektion unterschieden.47 Während sich in der Populärkultur eine Flucht in die affirmative Bestätigung des Vergangenen manifestiere, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben wolle, bezwecke das Reenactment das »genaue Gegenteil«. 48 Denn es beschäftige sich im Gegensatz dazu mit der »Relevanz des Vergangenen für das Hier und Jetzt«.49 Diese Relevanz aber stellt sich bei Arns in Anlehnung an Rod Dickinson als Trauma der medialen Vermittlung von Erinnerung dar, das in der Wiederholung einer als verschoben und verdrängt erlebten Geschichte sichtbar würde. Künstlerische Reenactments würden »sich der Realität der

45 S. Lütticken: »An Arena in Which to Reenact«, S. 27. Dabei betont Lütticken, das im Gegensatz zur Performance Art das Wissen um den Spielcharakter immer bestehen bleibe und keine Transformation gewollt sei. Es gehe darum »[to] step out of daily life for a limited amount of time in order to return recharged but fundamentally unchanged« (Ebd., S. 42). 46 Vgl. auch Turner, Rory (1990): »Bloodless Battles: The Civil War Reenacted«, in: TDR 4 (13) (1990), S. 123-136; J. Thompson: War games. 47 Arns, Inke: »History Will Repeat Itself«, in: Dies./Gabriele Horn (Hg.), History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien)Kunst und Performance, Frankfurt a.M.: Revolver 2007, S. 58f. 48 Ebd., S. 40. 49 Ebd., S. 42.

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Bilder zu versichern suchen, gleichzeitig jedoch auf die Medienbasiertheit des kollektiven Gedächtnisses verweisen«.50 Und zweifellos ist die »Reflexion auf die mediale Vermittlung von Geschichtsbildern« 51 das Zentrum vieler künstlerischer Arbeiten, die unter dem Begriff des Reenactments in zeitgenössischen Ausstellungsprojekten auftauchen:52 Omar Fasts Spielberg‘s List53 untersucht die Bedeutung fiktionaler Geschichtsdarstellung für das kulturelle Gedächtnis, in dem er die Statisten von Schindlers Liste als Zeitzeugen in der von Spielberg errichteten Ausschwitz-Kulisse befragt; The Eternal Frame54 von Ant Farm und T.R. Uthco hinterfragt in der Nachstellung des Attentats auf John F. Kennedy anhand des ikonographischen Super-8-Filmes die mediale Mythenbildung; Jeremy Dellers Battle of Orgreave 55 korrigiert die regierungstreue Fernsehberichterstattung über eine Auseinandersetzung zwischen Polizei und streikenden Bergarbeitern in der Thatcher Ära. – Doch das offensichtlichste Merkmal des Reenactments in all seinen künstlerischen Manifestationen ist die Hinwendung zum Historischen als Vergangenes. In der Kunst ist es die mediale Überlieferung des Vergangenen, die im Kontext der einschlägigen Ausstellungsprojekte zum Ausgangspunkt der Auseinanderset-

50 Vgl. Bangma, Anke/Rushton, Steve/Wüst, Florian (Hg.): Experience, Memory, Re-enactment, Rotterdam/Frankfurt a.M.: Revolver 2005. 51 Rushton, Steve: »Experience, Memory, Re-enactment«, in: Anke Bangma/Steve Rushton/Florian Wüst (Hg.), Experience, Memory, Re-enactment, Rotterdam/Frankfurt a.M.: Revolver 2005, S. 10. 52 Vgl. auch Allen, Jennifer: »›Einmal ist keinmal‹. Observations on Reenactment«, in: Sven Lütticken/Dies. (Hg.), Life. Once More Forms of Reenactment in Contemporary Art, Rotterdam: Witte de With 2005, S. 147-168; Schwartz, Hillel: »Once More, With Feeling«, in: Hillel Schwartz (Hg.), The Culture of the Copy Striking Likeness, Unreasonable Facsimiles, New York: Zone Books 1996, S. 259-319. 53 Omar Fast: Spielberg‘s List, Zweikanal-Videoinstallation, 2003. 54 Vgl. Mellencamp, Patricia (1998): »Video Politics: Guerilla TV, Ant Farm, Eternal Frame«, in: Discourse. Journal for Theoretical Studies in Media and Culture Frühling/Sommer (1998), S. 78-100. 55 Vgl. dazu Blackson, Robert (2007): »Once more. with feeling: Re-enactment in contemporary art and culture«, in: Art Journal 3 (2007).

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zung wird.56 In Tanz und Performance-Kunst steht die Thematisierung der eigenen flüchtigen Geschichtlichkeit und ihrer Rekonstruktion als Körperwissen im Vordergrund. Und in den medial-performativen Versuchsanordnung, die sich vielleicht am besten unter dem Label Live-Art zusammenfassen lassen, sind es spielerische Rekonstruktionen mythischer Geschichtsbilder, die – wie beispielsweise in den Arbeiten von Gob Squad oder Hofmann&Lindholm – sich an der spielerischen Rekonstruktion des historischen Materials abarbeiten. Mit der amerikanischen Freizeitkultur und dem dokudramatischen Geschichtsfernsehen teilen alle diese Projekte, dass sie sich von dem Gegensatz historischer Faktizität und künstlerischer Autonomie gelöst haben. In Abkehr von Aristoteles’ Diktum, dass die Dichtung anders als die Geschichtsschreibung nicht das wirklich Geschehene zum Gegenstand habe, sondern ein Allgemeines und Mögliches, das geschehen könnte, lassen sie die Geschichte selbst in ihrer Faktizität zum Gegenstand der Kunst werden.57 Denn im Unterschied zur Praxis der Repräsentation, die eine historische Vor-Schrift auf die je aktuelle Gegenwart hin szenisch aktualisiert, verfahren Reenactments quasi iterativ: Ihr Bezugspunkt ist nicht das (literarische) Original, sondern das (mediale) Double. Nicht die aktualisierende Auslegung eines kanonischen Textes im Sinne vergegenwärtigender Hermeneutik wird aufgeführt, sondern die mediale Reproduktion eines Ereignisses. Anders als Shakespeares Römern, die – wie Heiner Müller angemerkt hat – aus London stammten, wollen die Protagonisten des Reenactments in die Vergangenheit eingehen und verweigern die Kontextualisierung des Gewesenen. Das Reenactment will Zeitmaschine sein, die Dinge so erleben, ›wie sie waren‹.58 Den markantesten Ausdruck aber findet dieses ungewohnte Verhältnis zur Historie in einer Verschiebung des Maßstabes: Nicht mehr Ausdruck und Aussage – die klassischen Metriken repräsentativer Ästhetik – haben hier noch Gültigkeit, sondern Genauigkeit und Richtigkeit. Reenactments müssen nicht nur »stimmig« sondern auch

56 Vgl. die u.a. Ausstellungsprojekte A Little Bit of History Repeated, KunstWerke Berlin (2001), A Short History of Performance, Whitchapel Art Gallery (2002/2003). 57 Aristoteles: Poetik, §9, bspw. in der Übersetzung von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1982, S. 29f. 58 Vgl. J. Anderson: The Living History Sourcebook, S. 459.

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»stimmend« sein, hat Milo Rau dies formuliert.59 Nicht Interpretation, sondern Rekonstruktion und Recherche sind die dominanten Aufgabenstellungen, und von den Darstellern wird statt der expressiven Ausgestaltung der Rolle die nüchterne Ausführung alltäglicher Vorgänge erwartet. Aus der bürgerlichen Authentizitätsformel des ›als ob‹ bürgerlicher Rollenspiele wird ein ›so war es‹. Schaut man sich also aus der Perspektive der Hobbykultur noch einmal Jeremy Dellers Reinszenierung des Bergarbeiterstreiks und der Schlacht von Orgreave an, dann fällt auf, dass dieses Ereignis aus den 1980er Jahren zwar im Vergleich mit dem amerikanischen Bürgerkrieg eine ungewöhnliche Nähe zum Heute hat, gleichzeitig aber die britische Arbeiter- und Gewerkschaftskultur in der Ära nach Labour und Tony Blair von der Nostalgie einer lange vergangenen Zeit umweht wird: Am 17. Juni 2001 ließ der britische Künstler und Turner-Preisträger Jeremy Deller in Orgreave, Süd Yorkshire, die brutale Niederschlagung eines Bergarbeiter–Streiks im Juni 1984 durch die berittene Polizei der Thatcher Regierung nachstellen. Ausgehend von Augenzeugenberichten und historischen Quellen wurde die ›Schlacht von einer kommerziellen Reenactment-Agentur am Ort des Geschehens nachvollzogen. 60 Von den 800 Akteuren bestand das Gros aus professionellen Reenactment-Hobbyisten, ein gutes Drittel aber war aus der lokalen Bevölkerung rekrutiert worden, wovon wiederum ein nicht unbedeutender Teil die Ereignisse von vor 20 Jahren selbst als Bergarbeiter oder auch als Polizist miterlebt hatte. Deller bediente sich mit der Firma EventPlan direkt der Amateur- und Filmkultur und nutzte deren Praxis im Kontext der Kunst. Allein schon die Wahl des Genres Reenactment erzählt etwas über das nachgestellte Ereignis: Sie stellt die Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Regierung der Thatcher Ära in eine Reihe mit historischen Schlachten und Bürgerkriegen. Und es politisiert im Gegenzug das Reenactment-Hobby, indem es neben die historische Gründungsmythen aus grauer Vorzeit auch Ereignisse vom Ende des 20. Jahrhundert auf die Agenda setzt.

59 Vgl. den Beitrag von Milo Rau in diesem Band. 60 Die Agentur EventPlan wirbt auf ihrer Internetseite mit der »Recreation of the past für live events, TV and Film« (http://www.eventplan.co.uk/, Zugriff am 10.9.08).

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Der Film von Mike Figgis aber, der das Ereignis dokumentiert und die Rezeption stark geprägt hat, zeigt nicht nur das Reenactment, sondern auch das, was in seinem Vollzug geschieht. Er gibt Einblick in das Innenleben des Ereignisses und verschneidet dieses mit Originaldokumenten und Interviews von Zeitzeugen und Beteiligten. Nebenbei aber gibt der Film auch den Blick frei auf die Eingeweide der Statisterie – auf das, was die Handlung oder besser: das Handeln mit den Akteuren macht, was mit den Gesichtern, mit den Körpern, mit den Stimmen passiert; die Hoffnungen und Verzweiflungen von damals, die hier im Nachvollzug als Nebeneffekt erneut zum Vorschein kommen. In den Körpern, Gesichtern und Stimmen der Bergarbeiter erwacht die Leidenschaft, die Wut, die Trauer einer längst vergessenen Zeit wieder zum Leben. Die Schlacht von Orgreave ist dabei, noch einmal stattzufinden, wird noch einmal erlebt, bezeugt und verloren. Und vor dem Hintergrund der inzwischen längst geschlossenen Zechen, der abgewickelten Bergbauindustrie und der in Folge vergessenen Landstriche, scheint die Metapher der lebenden Toten nicht abwegig. Mit Dellers Reenactment statten wir ihnen einen Besuch ab, Figgis Film aber verleiht ihnen jene Macht, die sonst abhanden gekommen ist: Die Erscheinung in der massenmedialen Wirklichkeit. Die zweite Schlacht von Orgreave wird nicht mehr um Weltveränderung geschlagen, sondern um die Veränderung von Bildwelten. Das Reenactment tritt mit der einseitigen und der (Regierungs-) parteiergreifenden Berichterstattung von damals in Konkurrenz und scheint zugleich kommunale Traumata wieder hervorzukehren. Doch auf den zweiten Blick fällt auf, dass sich die Reflexion auf die mediale Konstruktion von Geschichte gerade nicht aus der Praxis des Reenactment ergibt, sondern erst mit dem Arrangement und der Kontextualisierung dieser Praxis im Kontext der Installation und des Films entsteht. In der Praxis der theatralen Verkörperung und darstellenden Personifikation scheinen sich Kunst und Hobby jedoch sehr viel näher zu sein, als es die kategoriale Unterscheidung nahelegt. So beschreibt auch Inke Arns das künstlerische Reenactment als »einen Versuch Mitgefühl (Hervorhebung U.O.) für die Subjekte vergangener Ereignisse zu empfinden, indem man sich selbst an ihrer Stelle imaginiert«.61 Das aber legt nicht nur nahe, dass

61 I. Arns: »History Will Repeat Itself«, S. 60. Vgl. auch S. Rushton: »Experience, Memory, Re-enactment«, S. 7: »Viele in den letzten Jahren entstandenen Arbeiten können [...] als abgemilderte Versionen des Bestrebens historischer-

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es den historisch-kritischen Hobbyisten genauso gut geben kann wie den affirmativ-sentimentalen Künstler, sondern drängt auch die Frage auf, ob nicht auch für das Reenactment in der Kunst erstens die große historische Distanz zu den Ereignissen maßgeblich ist und zweitens ob nicht auch hier nochmals ein historisches Subjekt im subjektiven Selbst-Erleben und der personalen Identifikation heraufbeschworen wird. – Ähnliches ließe sich beispielsweise auch bei Rod Dickinsons Reenactment des MilgramExperiments überlegen: ob hier tatsächlich die Aktualität der behavioristischen Erklärung des Faschismus deutlich wird, oder nicht vielmehr hervortritt wie romantisch diese behavioristische und statische Reduktion des Faschismus auf die kontextlose und autonome Entscheidung Einzelner im Grunde ist. 62 Beide Beispiele, und es ließen sich noch andere anführen, scheinen nicht nur die mediale Konstruktion von Geschichte kritisch zu reflektieren, sondern verweisen auch auf die Abständigkeit zu den dargestellten Ereignissen und machen ein im doppelten Wortsinne historisches Subjektmodell noch einmal erlebbar. Wenn daher schließlich das Living Theatre mit der Inszenierung von The Brig wieder auf Tour geht oder Marina Abramoviü in der New Yorker Guggenheim noch einmal Klassiker der Performance Art aufführt, zeigt das vielleicht weniger – wie Christel Weiler mit Adorno in Bezug auf The Brig gemutmaßt hat – dass nichts erledigt ist, nur weil es verging, sondern eben auch, dass das Living Theatre wie eingangs gesagt Living History geworden ist, und die Performance Art längst im Museum und Mainstream des Kunstmarktes angekommen ist.63 Gerade weil es erledigt ist und weil das emphatische Subjektideal, das sich in diesem Erleben der unmittelbaren

Reenactment-Gruppen verstanden werden – nämlich des Wunsches nach einer Verbindung mit der Vergangenheit, nach einer physischen Kontinuität mit den Menschen vergangener Zeiten sowie des Glaubens, dass dies in einer zunehmend mediatisierten Welt objektiv möglich ist.« 62 Rod Dickinson: The Milgram Re-enactment. Installation, Rekonstruierter Raum des Milgram-Experiments; Audioeinspielung des Reenactments von 2002; Video, 220 Minuten, Englisch, 2002. Rod Dickinson in Zusammenarbeit mit Graeme Edler und Steve Rushton. Vgl. dazu Gaskin, Vivienne: »Subjects in Search of an Author«, in: Steve Rushton (Hg.), The Milgram Reenactment, Maastricht: Christoph Kellerrevolver Verlag 2003. 63 Vgl. C. Weiler: »Nicht ist erledigt, nur weil es verging«.

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körperlichen Präsenz manifestiert, nicht mehr das unsere ist, eignet es sich zum Reenactment. Vielleicht werden insofern auch in den Reenactments der Kunst weniger historische Traumata kritisch befragt, als vielmehr der ›period rush‹ vergangener Schlachten gesucht, und die Ahnen wohlwissend um ihre nachlassende Macht noch einmal angerufen.

L ITERATUR Gettysburg (USA 1993) Glory (USA 1989) The Civil War (USA 1990) http://www.eventplan.co.uk/, am 10.9.08. Allen, Jennifer: »›Einmal ist keinmal‹. Observations on Reenactment«, in: Sven Lütticken/Dies. (Hg.), Life. Once More Forms of Reenactment in Contemporary Art, Rotterdam: Witte de With 2005, S. 147-168. Allred, Randal: »Catharsis, Revision, and Re-enactment: Negotiating the Meaning of the American Civil War«, in: Journal of American Culture 4 (1996), S. 1-14. Anderson, Jay: Time Machines: The World of Living History, Nashville, Tenn.: American Association for State and Local History 1984. Anderson, Jay: The Living History Sourcebook, Nashville, Tenn.: American Association for State and Local History 1985. Aristoteles: Poetik, in der Übersetzung von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1982. Arns, Inke: »History Will Repeat Itself«, in: Dies./Gabriele Horn (Hg.), History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössiscen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt a.M.: Revolver 2007, S. 37-63. Bangma, Anke/Rushton, Steve/Wüst, Florian (Hg.): Experience, Memory, Re-enactment, Rotterdam/Frankfurt a.M.: Revolver 2005. Bigley, James D.: »Living History and Battle Reenactment«, in: History News 42 (1988), S.16 Blackson, Robert: »Once more. with feeling: Re-enactment in contemporary art and culture«, in: Art Journal 3 (2007).

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Autorinnen und Autoren

Diekmann, Stefanie; Professorin für Medienkulturwissenschaft an der Universität Hildesheim; von 2010 bis 2012 Professorin für Theater und Medien an der LMU München; seit 2005 Gast- und Vertretungsprofessuren u.a. an der FU Berlin, der EMW Potsdam, der Universität Bern, der University of Texas und dem University College Cork. Forschungsschwerpunkt: intermediale Konstellationen. Publikationen (Auswahl): Freeze Frames - Zum Verhältnis von Film und Fotografie (Hg., mit Winfried Gerling, Bielefeld 2010, Schreiben über Film – Hommage an Karsten Witte (Hg.), Berlin 2010, Fotografie im Dokumentarfilm (Hg.), Marburg 2007, Mythologien der Fotografie, München, 2003. Das Buch Backstage – Konstellationen von Theater und Kino erscheint 2012 im Kadmos Verlag Berlin. Fischer-Lichte, Erika; Prof. Dr. Dr. h. c. Erika Fischer-Lichte, seit 1996 Universitätsprofessorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Geb. 1943, studierte von 1963 bis 1971 Theaterwissenschaft, Slawistik, Germanistik, Philosophie, Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Berlin und der Universität Hamburg. Als Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Komparatistik und Theaterwissenschaft lehrte sie von 1973 bis 1996 an den Universitäten Frankfurt am Main, Bayreuth und Mainz. Sie ist Sprecherin des Internationalen Graduiertenkollegs InterArt und Direktorin des Internationalen Forschungskollegs Verflechtungen von Theaterkulturen. Erika Fischer-Lichte war Präsidentin der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e.V. (1991 bis 1996) und der International Federation of Theatre Research (1995 bis 1999). Sie ist Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften, der Academia Europaea, der Berlin-Brandenburgischen Akademie und der Na-

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tionalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina; von 1999 bis 2005 war sie Mitglied des Wissenschaftsrats. Als Gastprofessorin lehrte sie in den USA, Russland, Japan, China, Indien, Norwegen, Schweden, Portugal, Spanien, Brasilien und auf Kuba. Ihre Arbeitsgebiete umfassen Ästhetik und Theorie des Theaters, die Europäische Theatergeschichte und interkulturelles Theater. Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre, London/ New York: Routledge 2005; Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, München: Fink 2006 (Hg.); Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin: Theater der Zeit 2006 (Hg.); Metzler Lexikon Theatertheorie (hg. mit D. Kolesch u. M. Warstat), Stuttgart/Weimar 2005; Antike Tragödie heute (hg. mit M. Dreyer), Berlin 2007; The Transformative Power of Performance: A New Aesthetics, London/ New York: Routledge 2008 (Übers. der Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004); Staging Festivity. Theater und Fest in Europa (hg. mit M. Warstat), Tübingen/ Basel 2009; Theaterwissenschaft, Tübingen/Basel 2010; Global Ibsen. Performing Multiple Modernities, London/New York 2010 (Hg.); Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript (erscheint 2012); Invoking the Spirits. Dionysos Resurrected. Performances of Euripides’ Bacchae in a Globalizing World, Oxford: Wiley-Blackwell (erscheint 2012). Hochbruck, Wolfgang; Professor für Nordamerikanische Philologie und Kulturwissenschaften und Mitglied des Direktoriums des Zentrums für Sicherheit und Gesellschaft an der Universität Freiburg. Er ist Spielleiter der Geschichtstheatergesellschaft und hat von 1994 bis 2002 auch aktiv an Reenactments des amerikanischen Bürgerkriegs teilgenommen. Studium in Freiburg, Halifax NS und Berkeley CA, akademische Positionen in Osnabrück, Stuttgart und Braunschweig. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und ist Marineveteran sowie aktiver Feuerwehrmann. Matzke, Annemarie; Theaterwissenschaftlerin und Performance-Künstlerin, Professorin für experimentelle Formen des Gegenwartstheaters an der Universität Hildesheim. 2009 Habilitation mit einer Arbeit zur Geschichte der Theaterprobe. Von 2004-2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin. 2004 Promotion zum Thema Selbst-Inszenierung im zeitgenössischen Theater. Von 2001-2004 wissenschaftliche Mitarbeite-

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rin an der Universität Hildesheim. Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen. Seit 1994 Mitglied im Performance-Kollektiv She She Pop. Veröffentlichungen: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012; Gemeinsam mit Gabriele Brandstetter/HansFriedrich Bormann: Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren, Bielefeld 2011; Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbst-Inszenierung im zeitgenössischen Theater, Hildesheim 2005. Otto, Ulf; Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien und Theater der Universität Hildesheim und Dilthey-Fellow der Volkswagenstiftung. Studium der Mathematik, Philosophie und Theaterwissenschaft in London, Berlin und Toronto, danach mehrjährige Arbeit als freier Regisseur, u.a. an den Berliner Sophiensaelen. Forschungsschwerpunkte: Mediale Versuchsanordnungen im Theater der Gegenwart, Theatralität und digitale Kultur, Konvergenzen von Theater- und Technikgeschichte. Die Dissertation ist unter dem Titel Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien bei transcript erschienen. Das von der Volkswagen-Stiftung geförderte Habilitationsprojekt beschäftigt sich mit der Elektrifizierung des Theaters im 19. Jahrhundert. Rau, Milo; Gründer und Leiter des »IIPM - International Institute of Political Murder« (Arbeiten: Die letzten Tage der Ceausescus, City of Change, Hate Radio) ist als Autor, Regisseur und sozialer Plastiker tätig. Momentan arbeitet er an einem Reenactment der Moskauer Prozesse und an der theoretischen Studie Die zwei Körper des Ereignisses. Versuch einer performativen Hermeneutik. Roselt, Jens; Dr. phil., Theaterwissenschaftler, Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik des zeitgenössischen Theaters und der Performancekunst, Geschichte und Theorie der Schauspielkunst, Aufführungsanalyse. Publikationen (Auswahl): Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, hrsg. mit Erika Fischer-Lichte und Clemens Risi. Berlin 2004; Seelen mit Methode – Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, hrsg. und mit einer Einführung von Jens Roselt. Berlin 2005; Phänomenologie des Theaters. München 2008. Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater, hrsg. zus. mit Melanie Hinz, Berlin 2011.

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Rothöhler, Simon; arbeitet als Filmwissenschaftler am Sonderforschungsbereich 626 der FU Berlin. Er ist Mitgründer und -herausgeber der Zeitschrift CARGO Film/Medien/Kultur. Seine Dissertation ist unter dem Titel Amateur der Weltgeschichte. Historiographische Praktiken im Kino der Gegenwart bei diaphanes erschienen. Dort gibt er seit März 2012 auch die Reihe »booklet« heraus, die Essays zu Fernsehserien enthält. Tecklenburg, Nina; Theaterwissenschaftlerin, Performerin und Regisseurin. Derzeitig arbeitet sie im Rahmen der Performancegruppe INTERNEST an einer Reihe von Preenactments, in der zukunftsweisende Gegenwartsphänomene mit Theater- und Performancemitteln in die Zukunft fortgeschrieben werden. Von 2006-2010 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin im Teilprojekt »Ästhetik des Performativen« tätig. Seit 2002 realisierte sie zahlreiche Theater- und Performanceprojekte u.a. in Zusammenarbeit mit Gob Squad, Lone Twin Theatre, She She Pop, Baktruppen, Reckless Sleepers, Bernadette La Hengst und Till Müller-Klug. Publikationen (Auswahl): »Reality Enchanted, Contact Mediated. A Story of Gob Squad«, in: The Drama Review (TDR) 214, 56:2 (2012), im Druck. Czirak, Adam; Fischer-Lichte, Erika; Jost Torsten; Richarz, Frank; Tecklenburg, Nina (Hg.): Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse, München: Fink 2012. »Entangled Within Stories: Towards a Narrative Theory of Performance«, in: Małgorzata Sugiera and Mateusz Borowski (Hg.): Worlds in Words. Storytelling in Contemporary Theatre and Playwriting, Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2010, S. 45-60. Ihre Dissertation »Performing Stories. Narrative Praktiken in den performativen Künsten der Nullerjahre« erscheint 2013. Umathum, Sandra; Theaterwissenschaftlerin. Seit März 2010 Vertretungsprofessur für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« in Leipzig. 2008 Promotion mit einer Arbeit über Kunst als Aufführungserfahrung (Bielefeld: transcript 2011). 2008-2010 Koordinatorin im Internationalen Geisteswissenschaftlichen Forschungskolleg »Verflechtungen von Theaterkulturen«; 2003-2006 Mitglied im Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«; 2000-2003 Mitglied im Schwerpunktprogramm »Theatralität und die Krisen der Repräsentation«. 1998-2002 Mitarbeit bei

A UTORINNEN UND A UTOREN | 259

mehreren Theaterproduktionen von Christoph Schlingensief (Chance 2000, Bitte liebt Österreich!, Hamlet). 2007 Assistenz von Tino Sehgal bei der Ausstellung von This situation im Hamburger Bahnhof. Herausgeberin u.a. von Schlingensiefs Nazis Rein/Torsten Lemmer in Nazis Raus (zus. mit Thekla Heineke, Frankfurt a./M. 2002, Carl Hegemann: Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters, Berlin 2005; Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen (zus. mit Erika FischerLichte, Robert Sollich und Matthias Warstat), München 2006. Forschungsschwerpunkte: die Relationen von Theater, Performance Art und bildender Kunst seit den 1950er Jahren, politische Dimensionen des Ästhetischen, Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters und der Performance Kunst. Warstat, Matthias; ist seit 2008 Professor für Theater- und Medienwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2008 Mitglied der Jungen Akademie bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 2007 Habilitation. 2002-2008 Wissenschaftlicher Assistent an der Freien Universität Berlin und Mitglied des Sonderforschungsbereichs »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«. 2002 Promotion im DFG-Schwerpunktprogramm Theatralität. Forschungsschwerpunkte: Theorien des Ästhetischen, Theatralität der Politik, Theater und Fest/Ritual, Theatergeschichte der Moderne. Publikationen (Auswahl): Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters, München 2011. Theatrale Gemeinschaften, Tübingen/Basel 2005. Theaterhistoriografie. Eine Einführung (gemeinsam mit J. Lazardzig und V. Tkaczyk), Tübingen/Basel 2012. Wortmann, Volker; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien und Theater der Universität Hildesheim. Wichtige Publikationen: The dark Side of Media. Ein medienwissenschaftliches Plädoyer für Authentizität. In: Oskar Bätschmann/Robert Fayet/Tristan Weddigen (Hrsg.) Authentizität in der bildenden Kunst der Moderne. SIK-ISEA outlines, Bd. 10, Zürich 2012; DVD-Kultur und Making of. Beitrag zur Mediengeschichte des Autorenfilms, in: Frisch/Lüdeker/Orth/Schmid (Hg.) www.rabbiteye.de, Zeitschrift für Filmforschung 001/2010; Mit Bildern Praxis denken. Poetische Szenarien im Film – als Theorie, in: Porombka/Schneider/Wortmann (Hg.), Theorie und Praxis der Künste, Tübingen 2008; Was wissen Bilder schon über die Welt, die sie bedeuten sollen? Sieben Anmerkungen zur Ikonogra-

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phie des Authentischen, in: Müller/Knaller (Hrsg.) Authentizität – Diskussion eines Begriffs, München 2006.

Theater Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater November 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1839-6

Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl, Dorothea Volz (Hg.) Theater und Subjektkonstitution Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion Oktober 2012, ca. 700 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1809-9

Eckhard Mittelstädt, Alexander Pinto (Hg.) Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven Januar 2013, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1853-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Ulf Otto Internetauftritte Eine Theatergeschichte der neuen Medien Juli 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2013-9

Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen September 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Migration Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis 2011, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1844-0

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Theater Martin Bieri Neues Landschaftstheater Landschaft und Kunst in den Produktionen von »Schauplatz International« August 2012, 428 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2094-8

Johanna Canaris Mythos Tragödie Zur Aktualität und Geschichte einer theatralen Wirkungsweise 2011, 370 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1565-4

Adam Czirak Partizipation der Blicke Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance Februar 2012, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1956-0

Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten 2011, 186 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1

Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater Juli 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1734-4

Susanne Valerie Granzer Schauspieler außer sich Exponiertheit und performative Kunst. Eine feminine Recherche

Eva Krivanec Kriegsbühnen Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien Januar 2012, 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1837-2

Annemarie Matzke Arbeit am Theater Eine Diskursgeschichte der Probe Juni 2012, 314 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2045-0

Katharina Pewny Das Drama des Prekären Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance 2011, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1651-4

Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten 2011, 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9

Jenny Schrödl Vokale Intensitäten Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater Mai 2012, 318 Seiten, kart., mit CD-ROM, 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1851-8

Berenika Szymanski Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989 Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarnosc Februar 2012, 310 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1922-5

2011, 162 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1676-7

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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