Bewegungsraum und Stadtkultur: Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven [1. Aufl.] 9783839410219

Mit dem postindustriellen Umbau der Stadt seit Ende der 1970er Jahre bestimmen Bewegung und Sport das Bild des öffentlic

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German Pages 276 Year 2015

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Inhalt
Zu diesem Buch
Urbane Bewegungskulturen. Zum Verhältnis von Sport, Stadt und Kultur
KULTUREN DER BEWEGUNG
Bewegte Körper – populäre Kultur – ästhetische Erfahrungen. Kulturwissenschaftliche Überlegungen
Café Buenos Aires und Galeria del Latino. Zur Translokalität und Hybridität städtischer Tanzkulturen
Sich Bewegen in der Stadt. Eine Besichtigung mit Maurice Merleau-Ponty
Bewegungsförderung in gestaltbaren Umwelten
SPORTRÄUME
Phantome der Einmütigkeit. Räume, Orte und Monumente urbaner Sportkulturen
Zur Heterogenität urbaner Sporträume
Natursport als Hallensport: Bewegungsräume zwischen Determinismus und Voluntarismus
Institutioneller Raum: Bewegungs- und Erlebnisraum Schule
STADTENTWICKLUNG
Urbane Milieus in Bewegung. Raumproduktion und Bewegungspraktiken in großstädtischen Lebensräumen
Stadionarchitektur und Stadtentwicklung. Eine stadtökonomische Perspektive
Humanökologische Sportstättenplanung. Überlegungen zur ökologischen Nachhaltigkeit von Sporträumen
Metropolenprofilierung durch Dienstleistungen des Sports. Sozialökonomische Perspektiven
Autorinnen und Autoren, Herausgeberin und Herausgeber
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Bewegungsraum und Stadtkultur: Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven [1. Aufl.]
 9783839410219

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Jürgen Funke-Wieneke, Gabriele Klein (Hg.) Bewegungsraum und Stadtkultur

Materialitäten | Hg. von Gabriele Klein, Martina Löw und Michael Meuser | Band 8

Jürgen Funke-Wieneke, Gabriele Klein (Hg.)

Bewegungsraum und Stadtkultur Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Luzern, Copyright Photocase 2008 Lektorat: Jürgen Funke-Wieneke, Gabriele Klein, Friederike Moldenhauer Satz & Layout: Friederike Moldenhauer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1021-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Zu diesem Buch Urbane Bewegungskulturen. Zum Verhältnis von Sport, Stadt und Kultur GABRIELE KLEIN

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KULTUREN DER BEWEGUNG Bewegte Körper – populäre Kultur – ästhetische Erfahrungen. Kulturwissenschaftliche Überlegungen KASPAR MAASE

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Café Buenos Aires und Galeria del Latino. Zur Translokalität und Hybridität städtischer Tanzkulturen GABRIELE KLEIN/MELANIE HALLER

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Sich Bewegen in der Stadt. Eine Besichtigung mit Maurice Merleau-Ponty JÜRGEN FUNKE-WIENEKE

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Bewegungsförderung in gestaltbaren Umwelten KNUT DIETRICH

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SPORTRÄUME Phantome der Einmütigkeit. Räume, Orte und Monumente urbaner Sportkulturen MATTHIAS MARSCHIK

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Zur Heterogenität urbaner Sporträume FRANZ BOCKRATH Natursport als Hallensport: Bewegungsräume zwischen Determinismus und Voluntarismus ELK FRANKE Institutioneller Raum: Bewegungs- und Erlebnisraum Schule SØREN NAGBØL

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STADTENTWICKLUNG Urbane Milieus in Bewegung. Raumproduktion und Bewegungspraktiken in großstädtischen Lebensräumen INGRID BRECKNER Stadionarchitektur und Stadtentwicklung. Eine stadtökonomische Perspektive GABRIEL M. AHLFELDT/WOLFGANG MAENNIG Humanökologische Sportstättenplanung. Überlegungen zur ökologischen Nachhaltigkeit von Sporträumen JOHANNES VERCH

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Metropolenprofilierung durch Dienstleistungen des Sports. Sozialökonomische Perspektiven CHRISTOPH RASCHE

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Autorinnen und Autoren, Herausgeberin und Herausgeber

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Zu diesem Buch

Die Stadt der Moderne war gebaute Funktion. Die Trennung von Arbeit, Wohnen, Konsum und Freizeit waren ihre Markenzeichen: hier rauchende Schornsteine, dort Hinterhaus- und Hochhaussiedlungen, dazwischen die großen Verkehrsadern. In der postindustriellen Stadt finden sich in alten und verlassenen Fabrikhallen neue Kulturzentren, ehemals verwahrloste Innenstädte wurden restauriert und Einkaufszentren in integrierte Erlebnis-, Sport- und Kauflandschaften verwandelt. Der postindustrielle Umbau der Innenstädte, der sich in einer Musealisierung, Eventisierung und Theatralisierung des urbanen Raumes zeigt, korrespondiert mit einer Aufwertung von körperlicher Bewegung. Sport und ‚alternative‘ Bewegungskulturen, Spiel und Tanz sind in postindustriellen Städten in den öffentlichen Raum zurückgekehrt. Denn seit Ende der 1970er Jahre bietet sich die Stadt als Bühne sowohl für globalisierte Sport- und Kulturevents als auch für eine Vielzahl von sportlichen, alternativen Bewegungsformen oder Bewegungspraktiken an. Hinter den großen Sportevents stehen kapitalträchtige Sportverbände und -vereine, deren Einfluss auf die örtlichen Politiken zugenommen hat. ‚Sportstadt’ wollen zudem nicht wenige Städte sein, verspricht doch das dynamisch und jung klingende Label ‚Sportlichkeit’ nicht nur Imagegewinn. Auch von den mit Sportevents verbundenen ökonomischen Gewinnen gehen Hoffnungen für die leeren kommunalen Kassen aus. Und so investieren Städte zunehmend nicht nur in prestigeträchtige Großveranstaltungen, sondern auch in deren Infrastrukturen: Neue Sportarenen, Sporthallen und Sportfelder sind zu wichtigen städtischen Repräsentationsbauten geworden. Flankiert wird das städtische Engagement von kommerziellen Anbietern, die ebenfalls – zum Beispiel mit der Verlagerung von ‚Natursport‘ in die Städte – einen zentralen Beitrag zur Versportlichung der Stadt leisten. Die Konzentration der Städte auf den eventisierten Sport im Zuge globaler städtischer Konkurrenzkämpfe hat aber auch eine Kehrseite. Denn während 7

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vor allem der Innenstadtbereich von der Aufwertung des Stadtraumes profitiert, werden marginalisierte Stadtgebiete und ihre Bevölkerung weiter an den Rand gedrängt. Die Aufwertung des Sports in der Stadt ist von daher auch als Ausdruck der sozialen Spaltung der städtischen Bevölkerung lesbar. Während die Kommunen sich mit dem Bau von gigantischen Sportarenen überbieten und Innenstadtbereiche und anliegende repräsentationsfähige Grünflächen für alltägliches Sporttreiben ästhetisch aufbereitet werden, stehen in vernachlässigten Wohngebieten immer weniger Sporthallen, Spielplätze oder Grünanlagen für die Kompensation des in der Stadt so oft beklagten Bewegungsmangels zur Verfügung. Auch Schulen haben einen großen Bedarf an einer adäquaten Ausstattung mit Sporthallen, -plätzen und Schulhöfen und entsprechenden Geräten. Gerade Kinder aus Migrantenfamilien, hier vor allem Mädchen, sind von der Mangelausstattung in Schule und Stadtteil besonders betroffen. Der vorliegende interdisziplinär ausgerichtete Sammelband thematisiert dieses Spannungsfeld von postindustrieller Stadtentwicklung, Sport- und Tanzkulturen und urbanen Sporträumen. Dabei beschäftigen sich die Beiträge aber nicht nur mit Ereignissen und Entwicklungen verschiedener Bewegungskulturen in der Stadt. Sie nehmen diese auch zum Anlass, sich aus der Perspektive der körperlichen Bewegung dem Verhältnis von Raum und Bewegung theoretisch zu nähern. Die interdisziplinäre Zusammenstellung der Beiträge zielt darauf ab, die Anschlussstellen zwischen den verschiedenen mit Raum- und Stadtentwicklung befassten Sozial- und Kulturwissenschaften zu markieren. Zudem will der Sammelband anschaulich machen, welche Perspektiven die Bewegungswissenschaft einerseits und die Sportwissenschaft andererseits auf das Verhältnis von Bewegung und Raum, Sport und Stadt werfen und welchen spezifischen Beitrag diese wissenschaftlichen Positionen zu aktuellen raumtheoretischen und stadttheoretischen Forschungen leisten. Der Sammelband geht zurück auf den 18. Sportwissenschaftlichen Hochschultag der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft zum Thema „Stadt – Sport – Kultur“, der im September 2007 an der Universität Hamburg stattgefunden hat. Die Beiträge sind in drei Themenfeldern, „Kulturen der Bewegung“, „Sporträume“ und „Stadtentwicklung“ gebündelt, denen ein Text von Gabriele Klein vorangestellt ist, der aus dem Einleitungsvortrag zu dem Kongress hervorgegangen ist. Klein beleuchtet hier aus einer sozialhistorischen Perspektive den Verflechtungszusammenhang von Sport, Stadt und Kultur. Sie vertritt die These, dass die Versportlichung der Stadt, die Kulturalisierung des Sports und die Festivalisierung der Kultur drei ineinander verflochtene Vorgänge in der industriellen Stadt sind, die mit dem Umbruch zur postindustriellen Stadt durch den Vorgang der Theatralisierung des Stadtraumes flankiert und beschleunigt werden.

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ZU DIESEM BUCH

Im ersten Themenfeld „Kulturen der Bewegung“ sind vier Beiträge versammelt, die einerseits die Besonderheit von populären (Bewegungs-)Kulturen thematisieren und andererseits alltagskulturelle Bewegungen in Städten untersuchen. Kaspar Maase argumentiert aus der Perspektive einer volkskundlich ausgerichteten Kulturwissenschaft, die er als eine Alltagsethnologie versteht. Sein Augenmerk richtet sich auf ästhetische Erfahrungen, die seiner Ansicht nicht nur der Kunst vorbehalten sind, sondern auch populäre Kulturen ermöglichen. Ausgehend von dieser grundlegenden These betrachtet er das Sporttreiben und den Sport vor dem Horizont einer Ästhetisierung des Alltags und der Körper und arbeitet die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen kultur- und bewegungswissenschaftlichen Zugängen heraus. Gabriele Klein und Melanie Haller beschäftigen sich ebenfalls mit populären Kulturen und Formen von Alltagsästhetisierungen. Sie stellen aus kultursoziologischer Perspektive die global verbreiteten Tanzkulturen Tango Argentino und Salsa als städtische Bewegungskulturen vor. Ihre These ist, dass diese Tanzkulturen als translokale und hybride Kulturen bezeichnet werden können und als solche charakteristisch sind für postindustrielle Städte. Ausgehend von empirischen Forschungen zeigen sie, performativitätstheoretisch eingebettet, wie globale Bilder von Tanzkulturen sich lokal verankern und hier über die Herstellung von Tradition postkoloniale Muster von Authentizität und kultureller ‚Andersartigkeit‘ erzeugt werden. Während die beiden ersten Texte sich mit populären Kulturen befassen und kulturtheoretisch argumentieren, fokussieren die beiden folgenden Texte in diesem Themenfeld Alltagsbewegungen. Jürgen Funke-Wieneke verfolgt in der Tradition der Phänomenologie Merleau-Pontys die Frage des alltäglichen Sich Bewegens im öffentlichen Raum. Die Wahrnehmung des morgendlichen Gedränges am Bahnhof setzt er in Beziehung zu zentralen Thesen Merleau–Pontys zur sozialbildenden Bedeutung koordinierten Sich Bewegens, zur weltbildenden Funktion des Sich Bewegens und zur Konstitution des Eigenleibes und des Bewegungsverständnisses. Sein Plädoyer richtet sich auf fein auflösende materiale Studien konkreter Bewegungshandlungen im städtischen Raum, die er als Beitrag der Bewegungswissenschaft zur Stadtforschung verstanden wissen will. Knut Dietrich Interesse ist entwicklungspädagogisch geleitet und auf den Bewegungsalltag von Stadtkindern gerichtet. In Anlehnung an die kognitive Entwicklungstheorie Piagets vertritt er die These, dass ‚Bewegungshandeln‘ als intelligentes Handeln mit nachhaltigen Auswirkungen für das Aufwachsen und das Weltverstehen von Kindern verstanden werden kann. Daraus leitet Dietrich die Forderung ab, ‚Freiräume‘ im städtischen Raum zu schaffen, Umsetzungen dieser Forderung stellt er am Beispiel einzelner Stadt-Projekte vor. 9

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Nachdem das erste Themenfeld Bewegungskulturen in städtischen Räumen thematisiert hat, bündelt das zweite Themenfeld Beiträge zum Thema „Sporträume“. Hierbei liegt das Augenmerk vor allem auf der Herstellung von ‚Raum‘ im Spannungsfeld von Raumgestaltung, Wahrnehmung und Bewegung. Matthias Marschik interpretiert aus kulturhistorischer Sicht die Bedeutung von Sportstadien im Kontext der städtischen Gesellschaft. Seine zentrale These lautet, dass ein Stadion bisher die Funktion erfüllte, eine kollektive Identität der Besucher trotz ihrer sozialen Unterschiedlichkeit zu stiften, diese kultivierende und heimatspendende Bedeutung aber in eventisierten Gesellschaften bedroht sei. Ob und unter welchen Bedingungen das Stadion seine Funktion weiter erfüllen kann, oder sie sich in einem „Phantom der Einmütigkeit“ verflüchtigt, ist eine zentrale Frage seines Beitrages. Franz Bockrath untersucht in sozialphilosophischer Perspektive, in welchem Verhältnis Sportanlagen und die sich bewegenden Akteure stehen. In Rückgriff auf den symboltheoretischen Ansatz Ernst Cassirers vertritt er die These, dass Sporträume eine soziale Phantasie des Körpers, des Sich Bewegens und der menschlichen Beziehung symbolisieren. Demgegenüber stehen die praktischen Handlungen der Menschen, die sich in diesen Räumen bewegen und die das vorfindliche Raumensemble in ihren Praktiken symbolisch aufladen. Beide Prozesse sozialer Symbolbildung gehen nicht ineinander auf, sie bedingen vielmehr Reibungen, Brechungen und Veränderungen. Wie Bockrath verbindet auch Elk Franke eine sportwissenschaftliche mit einer auf den Raum bezogenen sozialphilosophischen Perspektive und fragt nach dem Verhältnis von Raum und Bewegung. Gegenüber der These der jüngeren Raumsoziologie, vertreten von Martina Löw, die die Herstellung von ‚Raum‘ in und durch Praxis betont, rückt Franke die konstitutiven Bedingungen und konkreten, materialen Voraussetzungen von Räumen ins Licht. Was geschieht, wenn ein Sport von einem Außen- in einen Innenraum verlegt wird, wie beim Handball, Fußball, ‚alpinen‘ Skilauf, Langlauf und beim Klettern? Seine These ist, dass der „Raumvoluntarismus“ überschätzt werde, die materialen Bedingungen des Raumes hingegen gerade im Sport nicht zu unterschätzen seien. Den Sportraum will er als einen Valenzraum verstanden wissen, der maßgeblich die Sportart erst zu dem macht, indem der Raum die Praktiken erst hervorbringt. Der Text von Søren Nagbøl konkretisiert das Verhältnis von Raum und Bewegung anhand empirischer Forschungsergebnisse einer konkreten Raumuntersuchung. Ausgehend von einem ethnomethodologischen Ansatz zeigt Nagbøl an zwei dänischen Schularchitekturen, wie pädagogische, bildungstheoretische und –praktische Vorstellungen einer Schule als Erfahrungsraum Gestalt angenommen haben und diese Architekturen nun mit dem Spiel- und Bewegungsverhalten der Schulkinder korrespondieren. Ähnlich wie Dietrich 10

ZU DIESEM BUCH

schlussfolgert auch er, dass in bildungs- und entwicklungspädagogischen Konzepten den Räumen besondere Aufmerksamkeit zuteil kommen sollte, um ausgewogene Prozesse der ‚Selbstbildung‘ zu ermöglichen. Das dritte Themenfeld versammelt Beiträge, die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven Aspekte von Stadtentwicklung in den Blick nehmen und diese ins Verhältnis zu Bewegungskulturen, zu Sport und Sportstätten setzen. Ingrid Breckner beschäftigt sich mit der Relevanz von Bewegungsverhalten für die Quartiersplanung aus stadtsoziologischer und stadtplanerischer Perspektive. Sie verweist auf die Bildung von Atmosphären in öffentlichen Räumen, die, so ihre These, durch körperliche Bewegungen entstehen. Dabei unterscheidet sie im Hinblick auf altersspezifische Bewegungsweisen, Bewegungsgeschwindigkeiten und Bewegungsvorlieben verschiedene Bewegungsmilieus. Kritisch weist sie darauf hin, dass diese sozial differenzierten Bewegungsmilieus in der Quartiersplanung in Deutschland, anders als in anderen Ländern, noch keine Berücksichtigung finden und fordert eine engere interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Stadtplanung und Bewegungswissenschaft. Gabriel Ahlfeldt und Wolfgang Maennig schlagen einen wirtschaftswissenschaftlichen Weg ein, wenn sie das Verhältnis von Stadtentwicklung und Sportstättenbau untersuchen. Ausgehend von der, von kommunalen Politikern nicht selten vertretenen Position, dass mit neu errichteten Stadien und den darin stattfindenden Sportveranstaltungen positive wirtschaftliche Effekte zu erzielen seien, stellen sie die These auf, dass dies nur bei einer herausragenden Stadionarchitektur der Fall sei. Nur so sei nicht nur eine betriebswirtschaftliche Optimierung für die Profivereine, sondern auch eine nachhaltige Stadtentwicklung zu erreichen. Anders als Ahlfeldt und Maennig beschäftigt sich Johannes Verch mit der Sportarchitektur als ökologischer Sicht. Seine These ist die eines Zusammenhanges zwischen ökologischer Unaufmerksamkeit und sportlicher Bewegungskonzeption: Die Vorstellung des Menschen als Körpermaschine korrespondiert demnach mit einer technologisch geprägten Sicht auf die Sportarchitektur. Anhand von Gegenentwürfen seit den 1980er Jahren entfaltet Verch ein Plädoyer für eine nachhaltige Sportraumgestaltung und Stadtraumentwicklung. Mit der Frage der städtischen Profilbildung durch Sport beschäftigt sich abschließend Christoph Rasche. Ausgehend von der These, dass Sport allein aus standortpolitischen Gründen für die Metropolenprofilierung wichtig sei, schlägt er aus einer sozial-ökonomischen Perspektive eine Politik der Balance zwischen gegenläufigen sportspezifischen Interessen vor: Einerseits sollen herausgehobene Sportereignisse eine ‚Leuchtturmfunktion‘ mit Signalwirkung

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JÜRGEN FUNKE-W IENEKE/GABRIELE KLEIN

erfüllen, andererseits soll eine möglichst optimale und gerechte Verteilung der Ressourcen für das Sportreiben aller Stadtbewohner stattfinden. Ein Sammelband ist ein Gemeinschaftswerk. Wir möchten uns deshalb bei allen Beteiligten bedanken: Zunächst den Autorinnen und Autoren, denen wir für die gute und kollegiale Zusammenarbeit danken. Friederike Moldenhauer danken wir für die gewissenhafte und gründliche redaktionelle Mitarbeit. Christine Jüchter und Karin Werner sind wir für die professionelle und hilfsbereite Unterstützung seitens des Verlages zu Dank verpflichtet. Frederik Borkenhagen und Jürgen Kretschmer danken wir für ihre Unterstützung bei Fragen der Finanzierung dieses Buches. Unser Dank richtet sich schließlich auch an alle Hamburger Kolleginnen und Kollegen, die den sportwissenschaftlichen Hochschultag mit vorbereitet haben. Ein besonderes Engagement für diesen erstmals in Hamburg stattfindenden Kongress hat unser mittlerweile verstorbener Kollege Karl-Heinz Scherler gezeigt, dessen Andenken wir dieses Buch widmen.

Hamburg, im August 2008 Jürgen Funke-Wieneke und Gabriele Klein

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Urba ne Bew egungsk ulture n. Zum Verhältnis von Sport, Sta dt und Kultur GABRIELE KLEIN

Städte sind Kunstwerke, vielleicht die größten Kunstwerke der Menschheit überhaupt. Städte sind dynamische Kunstwerke, also nicht nur Objekte, reine Materialitäten oder unbewegliche Figuren, sondern Prozesse; Städte sind Skulpturen, die leben, die sich bewegen und – das ist für diesen Text1 entscheidend – von Menschen in Bewegung gehalten werden. Stadtplaner und Stadtarchitekten, Stadtsoziologen, Stadtgeographen und auch Stadtpolitiker hingegen sehen die Stadt als einen zu ordnenden und geordneten Raum. Die einen beschäftigen sich mit der Materialität der Stadt, ihrer Verkehrsinfrastruktur, den Grünflächen, der Sanierung von Stadtteilen, dem Bau von Kulturhäusern und Sportanlagen beispielsweise, die anderen analysieren die Stadt als einen Raum der Machtordnungen, der Segregation, der Gentrifizierung, der urbanen Lebensstile und Kulturpraktiken oder der Freizeit- und Sportaktivitäten. Während die Sicht auf die Stadt als einen Ordnungsraum eher distanziert und systematisch ist, eine „Panoptiker-Stadt“ beschreibt, wie es Michel Foucault2 formuliert hat, erscheint die Stadt aus der Sicht der Stadtbewohner und Stadtbesucher als ein verzweigtes und verästeltes Gebilde, als ein „Rhizom“3, das erst in der Bewegung hergestellt, wahrnehmbar und erfahrbar wird. In dieser Verschränkung von Stadt, verstanden als gebauter Raum, als materialisierte Welt, als ‚Hardware‘ mit Stadt, verstanden als ein Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Erfahrungsraum, als ‚Software‘, sind die zwei 1

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Dieser Text ist die überarbeitete Fassung des Einleitungsvortrages zum sportwissenschaftlichen Hochschultag „Sport-Stadt-Kultur“, der im September 2007 in Hamburg stattfand. Michel Foucault: »Andere Räume«. In: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Gilles Deleuze/Felix Guattari: Rhizom, Berlin: Merve 1977. 13

GABRIELE KLEIN

grundlegenden Perspektiven auf das Verhältnis von Sport, Stadt und Kultur angezeigt. Genau dieses Spannungsfeld steht heute in den wissenschaftlichen Diskursen um die Stadt zur Diskussion. Galt noch in den 1980er Jahren in den Kultur- und Sozialwissenschaften die Stadt als ‚Containerraum‘, als eine Stadt, die aus der Vogelperspektive betrachtet wird und die den Raum als einen Behälter konzipiert und diesem klare Ordnungsmuster auferlegt, so finden spätestens seit dem spatial turn4 in den 1990er Jahren beide Raumkonzepte und ihre Verschränkung Eingang in die stadttheoretische Debatte. Die Bewegungswissenschaft kann hierzu einen zentralen Beitrag leisten, indem sie aus der theoretischen Perspektive der Bewegung die Stadt – als gebaute Umwelt und als Wahrnehmungs- und Erfahrungsraum - erschließt. Ihre Perspektive ist dabei die der Akteure, die den Raum über ihre Bewegungen erfahren. Dieser Text skizziert das Verhältnis von Sport, Stadt und Kultur. Dabei wird eine sozialhistorische Perspektive eingeschlagen und die These vertreten, dass sich erstens nicht erst seit den 1970er Jahren, wie gemeinhin angenommen, sondern bereits seit der Herausbildung der Industriestadt und der gleichzeitigen Etablierung des modernen Sports drei ineinander wirkende Prozesse in der Stadt vollziehen: Eine Versportlichung der Städte korrespondiert mit einer Kulturalisierung des Sports und beide Prozesse unterliegen einer ökonomisch motivierten Festivalisierung und Eventisierung. Zweitens wird das Ineinanderwirken dieser verschiedenen Vorgänge als Indiz einer sich im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich verändernden Stadtkultur und sich transformierender urbaner Lebensstile gedeutet, die sich in der postindustriellen Stadt, wie sie sich seit den 1970er Jahren etabliert, fortsetzen und sich entsprechend den Bedingungen von Globalisierung, Deindustrialisierung und neoliberaler Politik nochmals beschleunigen.

Die Großstadt der industrialisierten Moderne Die europäische Stadt war bis weit in das 19. Jahrhundert hinein der Lebensort des Bürgertums; Städte waren Orte des Handels und Gewerbes, aber auch der bürgerlichen Kultur, der Kunst und der Wissenschaft. Erst mit der Industrialisierung kam die über Jahrhunderte gewachsene bürgerliche Kultur ins

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Doris Bachmann-Medick: »Spatial Turn«. In: Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 2. Aufl., Reinbek: Rowohlt 2007, S. 284–328; Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001; Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a. M.: Fischer 2003; Schlögel, Karl: »Kartenlesen, Augenarbeit. Über die Fälligkeit des spatial turn in den Geschichts- und Kulturwissenschaften«. In: Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München: Fink 2004, S. 261–283.

URBANE BEWEGUNGSKULTUREN

Wanken: Migrationswellen ließen die Städte ‚explodieren‘, kulturelle Vielfalt, soziale Heterogenität und Bevölkerungsdichte wurden nunmehr die Kennzeichen von Urbanität in der Moderne. Mit der ‚Landflucht‘ und der rasanten Bevölkerungsentwicklung in den Industriestädten wird die Großstadt zum Kristallisationsort der modernen Gesellschaft. Sie gilt fortan als der zentrale Ort, an dem sich die komplexen Entwicklungen von kapitalistischer Ökonomie, moderner Wissenschaft und Technik, sozialer Vielfalt und kultureller Heterogenität verdichten, Kultur und Kunst sich entfalten, neue Lebensstile erprobt werden und sich das moderne Subjekt zu einem auf sich selbst verwiesenen, sich aus sozialen Bindungen allmählich lösenden Individuum formt. Als Mikroskop der modernen Gesellschaft ist die Stadt auch immer der Raum für die Produktion, Inszenierung und Repräsentation von Macht: Sie ist die Bühne der Macht. Gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen konkretisieren sich in der Stadt; sie werden sichtbar in stadtplanerischen Entwürfen und infrastrukturellen Ordnungen und spürbar in staatlichen Inszenierungen, in alltäglichen Herrschafts- und Gewaltverhältnissen, in Kämpfen um Räume und Territorien in der Stadt, in Strategien der räumlichen In- und Exklusion sowie in den sozialen Möglichkeiten und Grenzen individueller Raumaneignung. Zugleich ist die moderne Stadt aber auch der zentrale Ort der Freizeit, des Konsums, des Sports, der Kultur und der Kunst: Es ist die Stadt, in der moderne Kultur und Kunst, öffentliche Spektakel und die Glitzerwelt des Konsums hervorgebracht und ausgestellt werden. Auch der Sport wird zu einem neuen Spektakel in der sich industrialisierenden Stadt – und prägt und verändert deren Gesicht. Seit den 1850er Jahren, aber vor allem in den Zeitraum zwischen der Reichsgründung 1871 bis zum 1. Weltkrieg etablieren sich Turnen und Sport im bürgerlichen Deutschland nicht nur mit unzähligen Vereinsgründungen sondern auch mit dem Bau von Sportplätzen und Sportarenen. Aus der Stadt des Bürgertums wurde die „Sportstadt“ – als Ausdruck einer öffentlichen Kultur der neuen städtischen ‚Masse‘. So entstehen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts nach der Aufhebung der Turnsperre in Preußen 1842 beispielsweise im Ruhrgebiet, der späteren „Waffenschmiede des Reiches“, die ersten Turnvereine von Arbeitern, Kleinbürgern und Handwerkern, die sich später zu den heute teilweise noch bestehenden Fußballclubs entwickeln.5 1857 erfolgt in der Industriestadt Sheffield die Gründung des 1. Fußballvereins „Sheffield Club“, 1877 findet das erste Wimbledon-Turnier statt, 1891 wird u.a. in München der erste Skiclub ge5

Die Dortmunder Turngemeinde (Vorläufer der Eintracht Dortmund), der Turnverein Bochum (heute VfL Bochum), der Duisburg Turnverein (später Eintracht Duisburg) und die Turngemeinde Witten. Ihre Zielsetzungen waren nicht nur sportlicher sondern auch politischer Natur und galten dem Kampf für einen Deutschen Nationalstaat. 15

GABRIELE KLEIN

gründet, im gleichen Jahr beginnt die Geschichte der Straßenradrennen, deren Start- und Zielorte Städte waren, mit dem Rennen Bordeaux-Paris,6 1899 findet das erste 6-Tagerennen im Madison-Square Garden in New York statt7 und 1903 wird der VFB Leipzig 1. Deutscher Fußballmeister.

Sport und Kultur als Ausdruck sozialer Differenz Sport gilt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als modern, weil er die Bewegbarkeit, und das meint die neue räumliche Mobilität aber auch die habituelle Flexibilität des modernen Menschen in körperlichen Aktionen befördert und zugleich dessen innere Bewegtheit als eine radikale Überschreitung des moralisch kontrollierten Affekthaushalts des bürgerlichen Subjekts, das die bürgerliche Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts geprägt hatte, in Szene setzen kann. Die Etablierung des Sports ist Instrument und zugleich Ausdruck der Herausbildung einer neuen, für die organisierte Moderne charakteristischen Subjektkultur, die Andreas Reckwitz als Kultur des „extrovertierten Angestelltensubjekts“ bezeichnet.8 Denn der Sport ist nicht nur das (Spiel-)Feld der neuen städtischen Schichten. In ihm vereinen sich auch die (widersprüchlichen) Werte und Prinzipien der modernen Gesellschaft: Auf der einen Seite Rationalität, Funktionalität, Disziplin und Askese, die, wie von Max Weber so eindrücklich beschrieben, die bürgerliche Subjektkultur kennzeichnen, auf der anderen Seite Theatralisierung und Ästhetisierung des körperlich-sinnlichen Vergnügens, die im Verbund mit Leistung und Rationalität, zum Kennzeichen der Angestelltenkultur werden. Nicht Sammlung oder Tiefe, sondern Zerstreuung und Oberfläche, nicht Nachhaltigkeit und Geistigkeit, sondern Augenblicklichkeit und Körperlichkeit werden, entgegen dem bürgerlichen Kulturverständnis, zum Credo des modernen Sports und seiner (klein)bürgerlichen Vertreter aus der neuen städtischen Schicht der Angestellten. Diese Gegensätze zwischen Sport, als populärem Vergnügen und Zerstreuung, und Kultur, als intellektueller Reflexion und innerer Sammlung, thematisiert vor allem die konservative bürgerliche Kulturkritik, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts vor der Zerstreuung durch

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Es folgten die heute noch stattfindenden Klassiker: 1894 das Ardennenrundrennen, 1896 Paris – Roubaix, 1903 die Tour de France, 1907 Mailand – San Remo und 1913 die Flandernrundfahrt. 1909 wird das 1. 6-Tage-Rennen in Deutschland in Berlin durchgeführt, wobei das erste Bahnradrennen bereits 1873 in München als Velociped-Wettfahrt stattfand. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006.

URBANE BEWEGUNGSKULTUREN

die „Massenkultur“9 und hier vor allem das neue populäre Medium Sport warnt und sich durch das Eindringen der sog. städtischen Massen in die bürgerliche Stadtkultur insgesamt bedroht fühlt. So konstatiert der spanische Philosoph Ortega y Gasset noch 1930: »Die Städte sind überfüllt mit Menschen, die Häuser mit Mietern, die Hotels mit Gästen, die Züge mit Reisenden, die Cafés mit Besuchern; es gibt zu viele Passanten auf der Straße, zu viele Patienten in den Wartezimmern berühmter Ärzte; Theater und Kinos, wenn sie nicht ganz unzeitgemäß sind, wimmeln von Zuschauern, die Badeorte von Sommerfrischlern. Was früher kein Problem war, ist es jetzt unausgesetzt: einen Platz zu finden … Überall? Nein; gerade an den vornehmsten Stellen, die, als verhältnismäßig verfeinerte Schöpfungen der menschlichen Kultur, vorher ausgewählten Gruppen, mit einem Wort den Eliten, vorbehalten waren.«10 Der Gegensatz zwischen Sport und Kultur zeigt sich von daher vor allem in einer sozialen Differenz zwischen dem Bürgertum und der neuen aufstrebenden Schicht der Angestellten und des städtischen Industrieproletariats. Wie Kultur und Müßiggang ein Begriffspaar des Bürgertums bilden, gehören für sie Arbeit und Sport unmittelbar zusammen; die Arbeitersportbewegung und der Zuschauersport in den großen Arenen - beides Produkte der industrialisierten Stadt - sind dafür ein gutes Beispiel. Der schwitzende, knapp bekleidete Sportkörper oder der emotional aufgeladene Zuschauerkörper sind ihr Kennzeichen und zugleich ein Distinktionsargument des Bürgertums. Allerdings wäre es zu eindimensional, allein eine klassenspezifisch motivierte Konkurrenz zwischen Kultur und Sport zu unterstellen. Die klassenspezifische Differenz durchzieht auch den Sport selbst: Bürgerliche Vereine etablieren sehr früh Wettkämpfe, Rekordjagden, Profisport11 und Sponsoring und binden damit den Sport an die Funktionsweisen der kapitalistischen Ökonomie. Die auch politisch agierende Arbeitersportbewegung, Bestandteil der unter den Sozialistengesetzen 1878-1890 verbotenen sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung, pflegt hingegen eine andere, eine politische Kultur und ist von einem Sportverständnis getragen, dass das Kollektiv, die Mannschaft, das Vereinsleben in den Vordergrund stellt. Der Antagonismus von Kultur und Sport formuliert sich schließlich auch als ein generationsspezifischer Gegensatz innerhalb des Groß- und Bildungsbürgertums selbst: Noch Thomas Mann hatte im Jahr 1900 geschrieben, dass „der Turnunterricht so ungefähr das Widrigste (war), was ich bislang erlebt 9

Vgl. Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen: der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a. M.: Fischer 1997. 10 José Ortega y Gasset: »Aufstand der Massen (1930)«. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. III, Stuttgart: DVA 1978, S. 7–155, S. 7–9. 11 1886 findet das 1. Deutsche Berufsfahrerrennen im Deutschen Rennbahnfahren statt. 17

GABRIELE KLEIN

habe“12; aber bereits eine Generation später resümierte der fußballbegeisterte Albert Camus: “Was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Sport“.13 Als Cultural Performance, wie der Kulturanthropologe Milton Singer14 populäre Veranstaltungen kennzeichnet, wird Sport zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich zum Bestandteil der städtischen Alltagskultur. Er wird – vor allem als kommerzieller Zuschauersport – theatralisiert; zugleich wird er kulturalisiert, indem Konventionen, Werte, Rituale und Inszenierungspraktiken, also die kulturellen Praktiken dafür sorgen, dass die einzelnen Sportarten sozial unterscheidbar bleiben. Es sind diese „feinen Unterschiede“ (Bourdieu) in den kulturellen und sozialen Praktiken der Sportarten – nicht so sehr die Sportbewegungen selbst –, die soziale Abgrenzungen schaffen: Die Differenz zwischen Mannschaftssport und Individualsport beispielsweise zeigt sich nicht nur in sozialen, d.h. klassenspezifischen Trennungen, sondern auch in seiner Kulturalität, also in der Art und Weise, wie Sport getrieben und wo und wie das Sporttreiben in Szene gesetzt wird. Und so transformiert sich allmählich die einst klare Trennung zwischen Kultur und Sport zu einer Differenz zwischen den verschiedenen Cultural Performances des Sports. Als Wettkampf- und Zuschauersport wird Sport zu einem kulturellen Ereignis, zu einem ritualisierten Vergnügen, das im Hier und Jetzt Gefühlsausbrüche, Schweiß und Tränen auch innerhalb der öffentlichen Räume der städtischen Zivilisation gestattet, jenen Orten also, die die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit, von Rolle und Selbst seit dem 19. Jahrhundert in Szene gesetzt hatten. Und genau über diese kulturellen und sozialen Praktiken wirkt Sport gemeinschaftsfördernd und zugleich sozial trennend. Und so bleibt der Gedanke eines Kollektiv-Subjekts und einer aggressiven, unmittelbaren Körperlichkeit der bürgerlichen Sportpraxis des Reitens, Skilaufens, des Tennis-, Golf- und Polospiels weitgehend fremd. Zugleich aber erkennen die gesellschaftlichen Machteliten im Sport ein wichtiges Instrument zur Re-Produktion der Arbeitskraft: Nicht nur verspricht er körperliche Entspannung und eine emotionale Entlastung des kontrollierten Affekthaushalts. Auch die Gefahr, dass der durch Industriearbeit und Abgasluft der Städte malträtierte Stadtbewohner Gesundheitsschäden erleiden könnte, wird erkannt und problematisiert. Mit dieser Erkenntnis avanciert die gesundheitsfördernde Wirkung körperlicher Bewegung früh zum Thema von Stadt- und

12 In: Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München: Beck 1999, S. 34. 13 In: Elisabeth Tworek/Michael Ott (Hg.), Dichter in Bewegung. Zürich/Hamburg: Arche 2006, S. 100. 14 Milton Singer: Traditional India – Structure and change, 3. Aufl., Austin: University of Texas Press 1979. 18

URBANE BEWEGUNGSKULTUREN

Gesundheitspolitik und auch zu der in den 1920er Jahren sich etablierenden Arbeitswissenschaft.

Synergien zwischen Kultur und Sport: Die Festivalisierung der Stadt Einen wesentlichen Beitrag zu einer Annäherung zwischen Kultur und Sport erfolgt im Zuge der Festivalisierung der Städte um die Wende zum 20. Jahrhundert. Imperialistische Politik, die verstärkte Anbindung der Industrienationen an rohstoffreiche Länder sowie die Wellen von Arbeits- und Flüchtlingsmigranten nach Europa befördern Inszenierung der Idee von ‚Weltkultur‘ und ‚Weltspielen‘. Austragungsorte dieser Großveranstaltungen wie Olympiaden und Weltausstellungen werden die Städte: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden Olympische Spiele parallel zu Weltausstellungen statt; attraktive Städte sind ihre Ausrichter: 1900 Paris, 1904 St. Louis und 1908 London. Die Orte dieser Großveranstaltungen sind die neuen städtischen Architekturen des Sports und der Kultur: die Sportpaläste, Radrennbahnen, Boxkampfarenen und Ausstellungshallen. Sie sind die agonalen Repräsentationsräume für das technische, wirtschaftliche und physische Leistungsvermögen einer Nation oder einer Region und zugleich die neuen Meisterwerke der großen Architekten. Und sie sind die Orte einer neuen städtischen Corporate Identity: Denn gerade die neuen Sporträume komprimieren die Paradoxien der Moderne: Eine Masse von Menschen an einem Ort zu versammeln, eine konkrete Raumordnung zu schaffen und zugleich emotionale Bindungen von Gemeinschaft zu evozieren. Und so avancieren Sportarenen zu den neuen architektonischen Herausforderungen der Architekten ebenso wie zu Prestigeprojekten für Kommunen. Diese neuen „Sportpaläste“, die modernen „Kathedralen der Körper“ sind es auch, in denen sich die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Eventisierung des Sports sich mit einer Versportlichung der Kultur verschränkt. Spätestens mit der Popkultur der 1960er Jahre und den StadionAuftritten ihrer Protagonisten erhält die Kultur Eintritt in die Orte des Sports und mit ihr findet ein neuer Vorgang seinen Aufführungsort, der Kultur und Sport gleichermaßen prägt und seit den 1990er Jahren „Eventisierung“ genannt wird: Die kommerziell motivierte und medial unterstützte Inszenierung von auratischer Augenblicklichkeit und Einmaligkeit, die Präsenz erfordert. Was mit der Popkultur begann, setzt sich, befördert durch die Privatisierung und Kommerzialisierung der Medienlandschaft und der damit verbundenen Ausbreitung der Bildmedien in den 1980er Jahren, als Eventisierung der Hochkultur im Raum des Sports fort: Die drei Tenöre José Carreras, Placido Domingo und Luciano Pavarotti, die 1990 die Fussballweltmeisterschaft in 19

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Italien mit einem Konzert in den klassischen Caracalla-Thermen in Rom eröffneten, hatten dafür den Boden bereitet und sich durch diesen Auftritt zugleich von bewunderten Künstlern der Hochkultur zu Medienstars gewandelt – und sich damit als Künstler gesellschaftlich deklassiert. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich jedoch auch die in der „flüssig gewordenen Moderne“15 nach wie vor existierende Nachhaltigkeit sozialer Distinktion zwischen Hoch-Kultur und Sport.

Kultur und Sport in der postindustriellen Stadt Das Verhältnis von Sport, Stadt und Kultur intensiviert und verändert sich im Kontext eines Umbruchs der Stadt, der sich seit den 1970er Jahren vollzieht. Seitdem ist das Verhältnis von Sport, Stadt und Kultur in einen anderen ökonomischen, sozialen und politischen Kontext gestellt, dessen Eckpfeiler die Globalisierung der Wirtschaft, das Ende des Wohlfahrtsstaates und die Etablierung neoliberaler Politik sind. Der radikale Umbau der Gesellschaft und ihres Kristallisationsortes, der Stadt, zeigt sich auch darin, dass die Kulturalisierung des Sports, die Versportlichung der Kultur und die Festivalisierung der Stadt seitdem begleitet werden von einem weiteren Prozess: der Theatralisierung des Stadtraumes. Seit den 1970er Jahren wandelt sich die Stadt vom Kristallisationsort der Industriegesellschaft zum Knotenpunkt im globalen Netzwerk der Informations- und Mediengesellschaft. In der Industriegesellschaft war die Stadt gekennzeichnet durch Industrieansiedlungen: Vor allem Automobil-, Bergbauund Stahlindustrien und ihre Anlieferbetriebe. Arbeitsteilung, Massenproduktion, relativ hohes Lohnniveau, relative Vollbeschäftigung und Massenkonsum prägen die Ökonomie auch in Westdeutschland bis in die 1960er Jahre; politisch regulierte der nationale Interventionsstaat die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens und der Wohlfahrtsstaat sicherte die Risiken der Erwerbstätigen ab. Technisierung und Automatisierung der Produktion, die Auslagerung der Produktionsstandorte in sog. Schwellenländer, der Bedeutungszuwachs des Finanzsektors und fortschreitende Tertiärisierung in den ehemaligen Industrieländern, kurzum: Globalisierung prägt seit den 1970er Jahren weltweit den wirtschaftlichen Wandel, der seit den 1990er Jahren unterstützt und begleitet wird durch die Politik einer Entstaatlichung, Deregulierung und Flexibilisierung. Die Folgen sind eine Neustrukturierung des Arbeitsmarktes und eine fundamentale Veränderung der Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse: Tendenzielle Auflösung von Normalerwerbsbiographien, Prekarisierung der Beschäftigung sowie zunehmende Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit wer15 Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. 20

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den flankiert von sozialen Prozessen wie der Pluralisierung der Lebensstile, der Individualisierung, dem Bedeutungsverlust von sozialen Einheiten und Institutionen wie Familie und Schule sowie der zunehmenden Flexibilisierung und Mobilisierung der Subjekte. Diese allgemeinen, mit Globalisierung und neoliberaler Politik einhergehenden radikalen Transformationsprozesse zeigen sich vor allem in Städten: Suburbanisierung, Deindustrialisierung, schrumpfende Städte16 und neue Formen der Ausgrenzung sind die Stichworte des sozialökonomischen Diskurses über die postindustrielle Stadt; Eventisierung,17 Musealisierung und Festivalisierung die Schlagworte für die neoliberalen Kulturpolitiken von Städten im globalen Konkurrenzkampf. In diesem Zuge sind symbolische Ökonomien in Städten wichtiger geworden: Hamburg beispielsweise sucht nach einem weltweiten Alleinstellungsmerkmal, das man sich nicht nur von der Reeperbahn sondern nun auch von dem spektakulären Bau der Elbphilharmonie verspricht. Hamburg sieht sich also in weltweiter Konkurrenz und dies nicht nur in Bezug auf die Ansiedlung von Unternehmen sondern auch im Hinblick auf den Städtetourismus. Gerade der Städtetourismus, der im Zuge von Deindustrialisierung an Bedeutung gewonnen hat (Berlin und das Ruhrgebiet als deindustrialisierte Städte sind dafür ein gutes Beispiel), wird durch die Ausrichtung von Großveranstaltungen befördert - und hier haben große Sportevents eine neue Aufmerksamkeit bekommen.

Eventisierung der Stadtkultur durch Sport Ob Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften, Laufmarathons oder Triathlons - Städte buhlen um die Austragung von nationalen und internationalen Sportereignissen des Spitzen- und Breitensports. Dies ist zwar nicht neu, aber dennoch ist im Zuge auch der Medienpräsenz des Sports die Austragung großer nationaler und internationaler Sportereignisse für Städte wichtiger geworden. Denn gerade Sportveranstaltungen sind in Zeiten symbolischer Politiken einer neoliberalen Gesellschaft ein Profit versprechendes Geschäft. Und dafür wird investiert: In den international sichtbaren Hochleistungssport, in repräsentative Stadionbauten, in prestigeträchtige Großveranstaltungen. Denn Sportevents schaffen es weit mehr als Kulturveranstaltungen wie Schlagermoves, Technoparaden oder so manche Popkonzerte: Ob Radrennen, Marathon oder Triathlon - Zuschauer säumen bei Sportveranstaltungen massenhaft die Strassen; die internationale Presse berichtet weiträumig über das Ereignis, Film- und Fernsehaufnahmen zeigen ein Bild der Stadt, das 16 Vgl. Philipp Oswalt (Hg.): Schrumpfende Städte. Bd. 1, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2005. 17 Vgl. Regina Bittner (Hg.): Die Stadt als Event. Eine Konstruktion urbaner Lebensräume, Frankfurt a. M./New York: Campus 2001. 21

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besser, d.h. sauberer und freundlicher nicht sein kann, zeigt es doch nicht nur viele, sondern auch die schönsten Seiten der Stadt. „Sportstadt Hamburg“ ist von daher eine wichtige Säule des politischen Konzepts der „Wachsenden Stadt“; hervorgegangen aus der erfolglosen Olympiabewerbung war es ein Marketingkonzept, das sehr unkonkret ist, und nicht trotzdem, sondern gerade deshalb seine wichtigste Funktion erfüllt: integrativ zu wirken, lokale Identität zu schaffen und Anwerbungspolitik zu befördern. Aber: Eine Stadt ist das Gegenteil einer Marke. Zielt diese auf Einheitlichkeit, Eindeutigkeit, Makellosigkeit und ein klares, zeitloses Image, so ist die Stadt vielschichtig, fragmentarisch, bedeutungsvariant und in ständiger Veränderung begriffen. Dem kommerziell motivierten, aus der Außenperspektive gerichteten Blick auf die Stadt steht also die rhizomartige Struktur der Stadt aus der Innenperspektive der Bewohner gegenüber. Aber gerade für die Bewohner hat die Transformation der postindustriellen Stadt vielfältige Folgen. Eventisierung und Theatralisierung des öffentlichen Raumes führen zu einer inszenatorischen Praxis von Urbanität. Urbanität wird zu einer ästhetischen Kategorie, zu einem Lebensstilmuster. Und zu diesem Lebensstilmuster gehört das Sporttreiben; anders formuliert: Sporttreiben ist unter diesem Vorzeichen weit mehr als körperliche Aktivität, es transformiert sich zu einer, in der „reflexiven Moderne“18 fundamental wichtig gewordenen Praxis der Selbstinszenierung: Mode, Musik und ein bestimmtes Environment gehören nunmehr genuin zum Sporttreiben dazu. Und dieses Environment findet sich vor allem in den aufgewerteten Innenstadtbereichen. Es sind vor allem die Innenstädte, die zu einem theatralen Raum umgewandelt worden sind. Die postindustrielle Stadt hat die Innenstädte (teil) privatisiert und ästhetisiert; der öffentliche Raum der Innenstädte, in der Stadt der Moderne noch ein anonymer Durchgangsraum, ist nunmehr für jene Bewegungsaktivitäten zugänglich, die dem flexiblen und mobilen Subjekt der Postmoderne entsprechen, ja, es geradezu befördern. Und so ist in der postindustriellen Stadt der öffentliche Raum zu einem Bewegungsraum für eine Vielzahl von nicht-institutionalisierten Sportaktivitäten geworden: Jogger, Skateboardfahrer, Inline-Skater, Beachvolleyballer, Streetbasketballer, Langläufer, Mountainbiker, Sportkletterer, Snowboarder, Skiläufer oder Bungeespringer, diese Trendsportler besetzen den öffentlichen Raum. Sie können als Repräsentanten einer Subjektform angesehen werden, die, so Andreas Reckwitz, für postindustrielle Gesellschaften charakteristisch ist. Denn im Unterschied zur Subjektform der bürgerlichen Moderne, die Andreas Reckwitz als moralisch-souveränes, respektables Subjekt kennzeich-

18 Ulrich Beck: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, 5. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. 22

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net und anders als das Subjekt der organisierten Moderne, das „extrovertierte Angestelltensubjekt“, entwickelt sich mit den Transformationen des Sozialen in der Postmoderne eine Subjekthaftigkeit, die als „kreativ-konsumtorische Subjektivität“ bezeichnet werden kann.19 In dieser Subjektordnung steht, so Reckwitz, nicht der „Charakter“, wie beim bürgerlichen Subjekt, oder die „Persönlichkeit“, wie beim Angestelltensubjekt, sondern das „Selbst“ im Mittelpunkt. Und dieses Selbst ist fragil und muss immer wieder bestätigt werden. Identitätsarbeit ist der Begriff dafür und diese Arbeit findet mit dem Flüssig-Werden der für die moderne Gesellschaft bislang charakteristischen Grenzen von Öffentlichkeit und Privatheit im öffentlichen Raum statt. Identität wird im Kontext einer Theatralisierung des Sozialen zunehmend öffentlich in Szene gesetzt. Sport als Bestandteil der Alltagskultur ist dafür ein wichtiges Instrument. Gerade der Trendsport hat den Sport zu einem „Lifestyle-Element“ oder besser: zu einem Lebensstilmuster werden lassen und damit den Sport als Bewegungs-Kultur etabliert. Zu nahezu jedem Trendsport gehören eine spezifische Mode, bestimmte Labels und Designer, eine spezifische (Pop)Musik, ausgewählte Orte, Locations und Settings. Auf diese Weise leistet Trendsport als alltagskulturelle theatralisierte Praxis im öffentlichen Raum einen zentralen Beitrag zu einer Versportlichung der Stadt und durch knappe Sportkleidungen zugleich auch zu einer Sexualisierung des Stadtbildes. Zudem hat der Trendsport dafür gesorgt, dass der öffentliche Raum zu einem simulierten Naturraum ummodelliert wird. Dessen Sporträume sind sog. temporäre Räume, jene beweglichen Räume, die in der Stadtplanung einer flexibilisierten Stadt eine immer größere Rolle spielen und in den USA bereits in Planungs- und Bauordnungen Eingang gefunden haben: Ob künstliche Kletterwände oder Skipisten, ob Langlaufloipen oder City Beach Clubs mit Beachvolleyballfeldern, der ‚Natursport‘ ist in die Stadt eingekehrt, die einst als Inbegriff von Technik, Funktionalität und Zivilisation galt. Er ist zum alltäglichen City-Freizeitvergnügen eventisiert worden, bei dem der gestylte Body zur Schau gestellt und die Natur selbst simuliert wird. Dies mag ökonomische Gründe haben; kultur- und körpertheoretisch interessant daran ist, dass Körpererfahrung als Naturerfahrung hier nicht mehr in den bislang üblichen Mustern als ‚ganzheitliche‘ Erfahrung, als Verschmelzung oder als das Andere der Zivilisation gedacht werden kann. Die simulierte Gesellschaft hat, so könnte man annehmen, auch die letzte Bastion des Authentischen angegriffen, indem sie Natur- und Körpererfahrung als Simulacrum erscheinen lässt. Mit der Entdeckung des öffentlichen Raumes verabschieden sich die Städte von dem funktionalisierten und als „unwirtlich“ charakterisierbaren öffent-

19 Vgl. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 15 ff. 23

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lichen Raum, wie ihn noch Alexander Mitscherlich20 in den 1960er Jahren in seiner berühmten Studie beschrieben hatte. Der öffentliche Raum in der postindustriellen Stadt ist versportlicht, der Sport als Ereignis definiert und das Sporttreiben als Erlebnis gestaltet. Anders gesprochen: In der reflexiven Moderne ist der Sport selbstreflexiv geworden; Sport wird nicht nur gemacht, sondern der Sporttreibende stellt sich zugleich als Sportler dar. Beim Joggen an der Hamburger Flaniermeile Alster lässt sich der Zusammenhang von künstlicher Natur in einer aufgewerteten Innenstadt und der Inszenierungspraxis von Sportlern gut beobachten. Hier wird sichtbar, dass der von Walter Benjamin beschriebene Flaneur21, der sich noch in Distanz zur Käufermasse bewegte, mittlerweile abgelöst wurde nicht nur durch den Touristen22 sondern auch durch den Sportler. Sie sind die Innenstadtfiguren der postmodernen Städte. Anders als der Flaneur aber sind sie Teil der öffentlichen Inszenierung; sie sind Darsteller und Publikum zugleich. Auf diese Theatralisierung der Stadtkultur hat die szenische Kunst in den 1990er Jahren reagiert. Hatte noch seit den 1960er Jahren mit der Kunst am Bau bis zur Kunst im öffentlichen Raum die Kunst sich immer als ein ästhetisches Konzept verstanden, das mit den Mitteln der Verstörung, Irritation oder Verfremdung operierte und den funktionalisierten und farblosen Städten der Moderne,23 so operiert die szenische Kunst – und hier vor allem PerformanceGruppen – im öffentlichen Raum seit den 1990er Jahren mit dem Gegenteil, indem sie das Flüssigwerden zwischen realem und Fiktiven, zwischen Schein und Sein, zwischen Theater und Realität im urbanen Raum offen legt und auf diese Weise nicht nur die Theatralität des Realen sondern auch das Theater als Ort des Realen vorführt.24

Soziale Segregation und räumliche Marginalisierung Der Aufwertung der Innenstädte steht eine Marginalisierung anderer Stadtteile gegenüber. Bereits 1845 bemerkte Friedrich Engels, die Industriestadt Manchester vor Augen, dass Städte eigentümlich gebaut seien. Man könnte in ihnen „wohnen und täglich hinein- und hinausgehen, ohne je in ein Arbeiter20 Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte Anstiftung zum Unfrieden, 29. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. 21 Walter Benjamin: Das Passagenwerk. 2 Bde, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. 22 Vgl. Zygmunt Bauman: Flaneure, Spieler, Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg: Hamburger Edition 2007; Ders.: »From pilgrim to tourist or: a short story of identity.« In: Stuart Hall (Hg.), Questions of cultural identity, London: Sage 1998, S. 18–36. 23 Vgl. Florian Matzner (Hg.): Public Art. 2. Aufl., Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004. 24 Vgl. Gabriele Klein (Hg.): Stadt. Szenen. Künstlerische Produktionen und theoretische Positionen, Wien: Passagen 2004. 24

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viertel gegangen zu sein oder nur mit Arbeitern in Berührung zu kommen.“ Es sei eine „heuchlerische“ Bauart, „hinreichend, um vor den Augen der reichen Damen und Herren mit starkem Magen und schwachen Nerven das Elend und den Schmutz zu verbergen, die das ergänzende Moment zu ihrem Reichtum und Luxus bilden.“25 Was Engels für den Manchesterkapitalismus und die Industriestadt des 19. Jahrhunderts beschreibt, die durch die strikte Trennung von Kapital und Arbeit gekennzeichnet war und noch keine Mittelschicht kannte, kehrt erschreckender Weise in den Metropolen der Welt zurück. Die Schere zwischen Armut und Reichtum wird größer, der Mittelstand bricht weg, auch im „alten Europa“, auch in der Metropolregion Hamburg. Der Arbeits- und Flüchtlingsmigrant ist von daher die (ausgegrenzte) Kehrseite der Innenstadtfiguren des Sportlers und Touristen. In den betroffenen Stadtteilen, die häufig von Migrantenfamilien bewohnt werden, befördern Sozialabbau und die Veränderung von städtischen Infrastrukturen die Degenerierung zu sozialen Wüsten. Ebenso wie hier zumeist kulturelle Einrichtungen eher schließen als öffnen, mangelt es an Sporträumen. Hamburger Stadtteile wie Veddel, Horn oder Wilhelmsburg sind dafür exemplarisch: Schwimmbäder werden geschlossen, Sportanlagen, Grünanlagen, Freiflächen, Radwege sind Mangelware; kommunal geförderte Projekte für die Bewegungserziehung und -bildung von Kindern und Jugendlichen, hier vor allem der Mädchen, aber auch von Senioren, werden im Zuge leerer Kassen und neoliberaler Politik gekürzt oder ersatzlos gestrichen. Zugleich aber sind im Zeichen neoliberaler Politik – gerade in Migrationsgesellschaften und überalterten Gesellschaften – Bewegung und Gesundheit (wieder) zu einem zentralen Topos geworden. Aber anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der notwendigen Re-Produktion der Arbeitskraft noch ein ästhetischer Imperativ beigefügt: „Lieber fit als fett“ ist von daher auch der Slogan einer neoliberalen Gesundheitspolitik. Hatten wir schon in den 1980er Jahren durch die „Fit for Fun“-Bewegung gelernt, dass nur, wer fit ist, Fun haben kann, so lernen wir nun, dass derjenige, der fett ist, selbst schuld ist. Hier zeigt sich der von Michel Foucault beschriebene Zusammenhang von Bio-Politik und gouvernementaler Politik in einer normativen Ästhetik, die der Selbstsorge und Selbstverantwortung überlassen bleibt. Sport und Bewegung sind von einem Vergnügen zu einer sozialen Pflicht und ästhetischen Aufgabe geworden. Es ist das neoliberale Prinzip der Selbstsorge, das seine problematische Seite vor allem in den Städten zeigt. Nirgendwo wird Selbstsorge so eindeutig sichtbar und spürbar wie am eigenen Körper, gilt doch dieser gerade in zunehmend abstrakter werdenden Gesellschaften als Garant für

25 Friedrich Engels: »Die großen Städte«. In: Ders.: Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845), München: dtv 1973, S. 286. 25

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die eigene Selbst-Versicherung und zugleich als Visitenkarte für die lebensweltliche Ethik und Moral. In der Verschränkung des Sports mit Politik, Wirtschaft, Medien und (Alltags)Kultur, in dem Verlust der Leichtigkeit des Sports, in der ökonomischen und politischen Ausbeutung des Vergnügens liegt auch der Unterschied im Verhältnis von Sport und Kultur in der Moderne und Postmoderne. Und so wirkt der Satz Bertolt Brechts wie ein historisches Dokument über die vermeintliche Unschuld des Sports: „Ich bin gegen alle Bemühungen, den Sport zu einem Kulturgut zu machen, schon darum, weil ich weiß, was diese Gesellschaft mit Kulturgütern so alles treibt, und der Sport dazu wirklich zu schade ist.“26

Literatur Bachmann-Medick, Doris: »Spatial Turn«. In: Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 2. Aufl., Reinbek: Rowohlt 2007, S. 284–328. Baumann, Zygmunt: From pilgrim to tourist or: a short story of identity. In: Stuart Hall (Hg.), Questions of cultural identity, London: Sage 1998, S. 18–36. Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. Bauman, Zygmunt: Flaneure, Spieler, Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg: Hamburger Edition 2007. Beck, Ulrich: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2007. Benjamin, Walter: Das Passagenwerk. 2 Bde, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. Bittner, Regina (Hg.): Die Stadt als Event. Eine Konstruktion urbaner Lebensräume, Frankfurt a. M./New York: Campus 2001. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Rhizom, Berlin: Merve 1977. Engels, Friedrich: »Die großen Städte«. In: Ders.: Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845), München: dtv 1973, S. 286. Foucault, Michel: »Andere Räume«. In: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Klein, Gabriele (Hg.): Stadt. Szenen. Künstlerische Produktionen und theoretische Positionen, Wien: Passagen 2004. Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München: Beck 1999, S. 34. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001.

26 In: Elisabeth Tworek/Michael Ott (Hg.), Dichter in Bewegung, S. 110. 26

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Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen: der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a. M.: Fischer 1997. Matzner, Florian (Hg.): Public Art. 2. Aufl., Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004. Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit unserer Städte Anstiftung zum Unfrieden, 29. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. Ortega y Gasset, José: »Aufstand der Massen (1930)«. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. III, Stuttgart: DVA 1978, S. 7–155, S. 7–9. Oswalt, Philipp (Hg.): Schrumpfende Städte. Bd. 1, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2005. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a. M.: Fischer 2003. Schlögel, Karl: »Kartenlesen, Augenarbeit. Über die Fälligkeit des spatial turn in den Geschichts- und Kulturwissenschaften«. In: Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. München: Fink 2004, S. 261–283. Singer, Milton: Traditional India – Structure and change, 3. Aufl., Austin: University of Texas Press 1979. Tworek, Elisabeth/Ott, Michael (Hg.): Dichter in Bewegung. Zürich /Ham– burg: Arche 2006, S. 100.

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Kulturen der Bewegung

Bew egte Körper – populäre Kultur – ästhetische Erfahrungen. Kulturw isse nsc ha ftlic he Überle gunge n KASPAR MAASE

Volkskunde und Sport Sport und körperliche Bewegung sind lange Zeit Un-Themen gewesen für die klassischen Kulturwissenschaften, die sich an Kunst und Ideen orientieren; von der „Sportfremdheit unter den Intellektuellen alten Schlages“ hat Helmut Plessner gesprochen,1 und das ist angesichts der elitären Kritik dieser Kreise am modernen Massen- und Schausport noch sehr freundlich formuliert. Inzwischen geben ‚Intellektuelle neuen Schlages‘ den Ton an, die so regelmäßig wie ins Konzert auch ins Fitnessstudio gehen und beim Stichwort Titan eher an Oliver Kahn denken als an Gustav Mahler oder Jean Paul; die Selbstsorge um den eigenen Körper nehmen sie – mit oder ohne Nachhilfe Foucaults – durchaus ernst; doch wissenschaftlich scheint ein Verweis auf Siegmund Freud schon das Maximum an Anerkennung der Körperbasiertheit unserer Kultur darzustellen. Die Volkskunde, in deren Tradition die hier vertretene Variante der Kulturwissenschaft steht, hat ebenfalls über Generationen Distanz und Abwehr gegenüber der populären Sportbegeisterung der Industriemoderne kultiviert und dem die Pflege regionaler Bräuche und „Volksspiele“ wie das alpenländische Schwingen und Rangeln oder das Kiebinger Eierlaufen entgegengehalten.2 In der Gegenwart des Sports kam das Fach erst in den späten 1960ern an

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Zit. nach Robert Schmidt: Pop – Sport – Kultur. Praxisformen körperlicher Aufführungen, Konstanz: UVK 2002, S. 25. Vgl. Reinhard Johler: »In der Zwischenwelt der Kulturen. Volkskunde, Volksspiele und Sport«. In: Kaspar Maase/Bernd Jürgen Warneken (Hg.), Unterwel31

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– und wieder unter ausgeprägt kritischen Vorzeichen. Analysen der Sportberichterstattung und Studien zum Arbeitersport markierten den Einstieg – der sich rückblickend doch als Wende erweist, mit der die Bedeutung des modernen Sports im Leben der Bevölkerung anerkannt wurde.3 Noch jünger ist der Forschungsansatz, von dem dieser Beitrag ausgeht; er fragt nach Schönheit und ästhetischer Erfahrung im Alltag und schreibt dem Körper dabei eine zentrale Rolle zu.4 Der volkskundlichen Kulturwissenschaft als einer eher ‚spät berufenen’ Disziplin liegt es fern, ihren Zugang zu den sozialen Praktiken des Sports zu verabsolutieren. Gerade weil der Körper und seine Bewegungskultur ein „‘totales‘ gesellschaftliches Phänomen“ im Sinne von Marcel Mauss’ fait social total darstellen, gilt es bei ihrer Untersuchung die differenten Zugänge unterschiedlicher Fächer zu nutzen – die einander ergänzen, herausfordern, relativieren. In diesem Sinne wird im Folgenden dreierlei versucht: Erstens, die Spezifik volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Fragens anzudeuten, zweitens die These vom wachsenden Hunger nach Schönheit als Basistrend westlicher Gesellschaften zu skizzieren und drittens die zentrale Rolle des Körpers als Medium ästhetischer Erfahrung in der populären Kultur zu umreißen.

Körperästhetik in der populären Kultur Zunächst möchte ich anhand der drei Begriffe im Titel die Spezifik meiner Fragestellung verdeutlichen. Von bewegten Körpern ist die Rede; das ist die Perspektive des Alltagsforschers, der über den Regel- und Wettkampfsport, auch über die so genannten Individual- und Trendsportarten hinaus in den Blick nimmt, wo und wie Körper in Bewegung als Gegenstand und Medium ästhetischer Erfahrung dienen. Das ist gewiss beim Tanzen der Fall, doch auch beim Schunkeln, beim Marschieren im Gleichschritt oder in der körperlichen Liebe.5 Doch auch bei scheinbar passiven Rezeptionsformen wie dem Musikhören, dem Anschauen eines Films oder dem Lesen laufen psychische Prozesse ab, die mit körperlichen Bewegungen und Erfahrungen verbunden sind – Gefühle, Assoziationen, Erinnerungen ebenso wie Veränderungen im Herzschlag oder Muskeltonus. Ohne die Besonderheiten des Sports und die Fokussierungen der Sportwissenschaft in Frage zu stellen, interessiert man

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ten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft, Köln: Böhlau 2003, S. 179–201. Zum aktuellen Stand vgl. Hermann Bausinger: Sportkultur, Tübingen: Attempto 2006. Vgl. allgemeiner Kaspar Maase (Hg.): Die Schönheiten des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, Frankfurt a. M., New York: Campus 2008. So lautet zumindest das Argument von Richard Shusterman: »Ars erotica – eine populäre Kunst?«. In: Ebd., S. 251–268.

BEWEGTE KÖRPER – POPULÄRE KULTUR – ÄSTHETISCHE ERFAHRUNGEN

sich in der volkskundlichen Tradition gerade für übergreifende Zusammenhänge und Entwicklungen im Feld von Körper und Kultur. Wenn hier von populärer Kultur gesprochen wird, dann ebenfalls in einem weiten Sinn. Soziologen haben aktuelle Jugend-, Sub- und Szenekulturen in den Blick genommen, in denen Bewegungspraktiken wie Tanzen, Skaten, Streetball eine zentrale Rolle spielen, und dazu eindrucksvolle Ergebnisse vorgelegt.6 Zweifellos stellen diese Szenen eine Art soziosomatisches Laboratorium dar, in dem an der Zukunft von Habitusformen, Lebensstilen und Bewegungsrepertoires gearbeitet wird. Doch auch im ganz gewöhnlichen Alltag der Normal- und Durchschnittsbürger – in diesem Sinne einer ganzen Lebensweise wird populäre Kultur hier mit Raymond Williams7 verstanden – durchdringt der ‚Hunger nach Schönheit’ inzwischen körperbezogene Praktiken unterschiedlichster Art und macht sie zu Quellen ästhetischer Erfahrung: Sich schminken und das Gefühl der Kleidung am Leib, Sport schauen im Fernsehen, Baden im Whirlpool und Cabriofahren. Womit wir beim dritten Stichwort sind: ästhetische Erfahrungen. Der Plural ist wichtig, denn es geht um höchst unterschiedliche Phänomene. Sportwissenschaftler haben sich mit Fragen der Schönheit, soweit ich sehe, vorwiegend aus einer Perspektive befasst, die man werk- oder produktionsästhetisch nennen kann – also unter dem Gesichtspunkt der objektiven Qualitäten, die einen Bewegungsablauf oder einen Menschen schön machen. Dieses Erkenntnisinteresse wurde direkt verfolgt mit Fragen nach der sportlichen Übung als Kunstwerk8 oder indirekt mit dem Studium von Motiven Sporttreibender, die so etwas für ihre persönliche Erscheinung (‚gut aussehen‘) tun wollen. Diesem Ansatz steht eine Perspektive gegenüber, die man rezeptionsästhetisch nennen kann; sie fragt nach der ästhetischen Erfahrung der sich Bewegenden mit dem eigenen Körper9 wie mit der Umwelt, die sie sich im Be6 7

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Vgl. etwa Robert Schmidt: Pop – Sport – Kultur; Gabriele Klein: Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie, Hamburg: Rogner & Bernhard 1999. Vgl. Raymond Williams: Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von „Kultur“, München: Rogner & Bernhard 1972, S. 389 f. Vgl. Pierre Frayssinet: Le sport parmi les beaux-arts, Paris: Dargaud 1968; Hans Lenk: Die achte Kunst. Leistungssport – Breitensport, Zürich: Edition Interfrom 1985; Hans Günther Schöpe: »Zu Ästhetik und Bewegungskunst «. In: Dorothee Alfermann/Oliver Stoll (Hg.), Motivation und Volition im Sport. Vom Planen zum Handeln, Köln: bps-Verlag 1999, S. 172–180; als Gegenposition dazu Günther Witt: »Nicht Gleichsetzung sondern Unterscheidung von Kunst und Sport macht deren Beziehungen produktiv (Thesen)«. In: Alfermann/Stoll: Motivation und Volition, S. 180–183. Anregend dazu sind Überlegungen von Elk Franke, wonach im Sport Bewegungen auf spezifische Weise geformt werden und so eine reflexive und damit elementar ästhetische Qualität erhalten, vgl. Elk Franke: »Ästhetische Erfahrung im 33

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wegungshandeln aneignen. Volkskundliche Kulturwissenschaftler stehen unverkennbar in der rezeptionsorientierten Tradition, die mit David Humes Satz beginnt, die Schönheit liege im Auge des Betrachters. Und wie bei den vorangehenden Stichworten neigt unsere Kulturwissenschaft auch hier zur Infragestellung herkömmlicher Unterscheidungen; dem Menschen, der im Alltag die Erfahrung des Schönen sucht, kann prinzipiell alles zur Quelle dafür werden. Während Peter Röthig im Handbuch der Sportphilosophie ästhetische Erfahrung eher als Sonderfall und nicht intendierbar versteht,10 geht es der Ethnographie gerade (mit einer Formulierung Gerhard Schulzes) um die zunehmende Integration „schöner Erlebnisse“ ins gewöhnliche Dasein.11 Freigelegt werden soll die Alltagsqualität ästhetischer Erfahrungen, zumindest eines bestimmten Typs davon, bei dessen Verständnis die Normen eines quasireligiösen Ereignisses in besonderem Rahmen gerade nicht weiterhelfen. ‚Das Schöne‘ wird in dieser Sicht keineswegs beschränkt auf Harmonisches, Erfreuliches, unmittelbar Angenehmes. Einbegriffen sind vielmehr tränenreich Mitleiderregendes und Tragisches, Satire und Erhabenes sowie die Lust am folgenlos Erschreckenden. Gemeint ist also die ganze Bandbreite dessen, was im Alltag ästhetische Erfahrung speist. Auch das Spiel, in dem ‚meine Mannschaft‘ scheitert, kann eine tiefe ästhetische Erfahrung vermitteln. Die Erinnerung an das Drama des Zinedine Zidane im WM-Endspiel 2006 zum Beispiel wird wohl bei denen, die am Bildschirm Zeugen wurden, noch einige Zeit diese Qualität behalten. An dieser Stelle ist wenigstens knapp darauf hinzuweisen, dass die wichtigste Bedingung der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung von Sport in der Fähigkeit der Zuschauer liegt, Spiele und Wettbewerbe ‚wie Kunst‘ wahrzunehmen: als bedeutungsvolle Vorführungen, die elementare Dimensionen und Konflikte menschlichen Handelns in sozialen Bezügen vor Augen stellen. Mit ihnen setzen wir uns ohne Zwang zu eigenem Handeln, aber durchaus intensiv auseinander: emotional und intellektuell, urteilend und mitfühlend. Von sportlichen Ereignissen als „Schauspiel ohne Text“ spricht Volker Gerhardt.12 Treffender wäre vielleicht ‚ohne Drehbuch’; denn potenzielle Texte oder Skripte, mit denen sie dem Geschehen im Rahmen des Sportereignisses Be-

Sport – ein Bildungsprozess?«. In: Ders./Eva Bannmüller (Hg.), Ästhetische Bildung, Butzbach: Afra 2003, S. 17–37. 10 Peter Röthig: »Sport und Ästhetik«. In: Herbert Haag (Hg.), Sportphilosophie. Ein Handbuch, Schorndorf: Hofmann 1996, S. 209–228, (hier S. 226). 11 Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York: Campus 1999, v.a. Kap. 1 und 2. 12 Volker Gerhardt: »Der Sport, das Leben und die Kunst – Drei historischsystematische Skizzen«. In: Ders./Bernd Wirkus (Hg.), Sport und Ästhetik, Sankt Augustin: Academia 1995, S. 127–151, (hier S. 129, S. 151). 34

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deutungen verleihen (ganz persönliche wie Verallgemeinerungen des Typs ‚So ist das Leben‘), bringen die Zuschauer mit. Derartige ästhetische Nutzung von Sportereignissen ähnelt dem Gebrauch jener neueren TV-Formate, die man „performatives Realitätsfernsehen“ genannt hat (Big Brother, Talkshows, Doku-Soaps u.ä.).13 Ihr entspricht eine mediale Präsentation von Sport insbesondere im Fernsehen, die in Echtzeit und mit Blick auf solche Erwartungen aus dem Live-Event eine dramatisierte Version des Geschehens herstellt.14 Den Beitrag der Betrachter zur Realisierung der ästhetischen Potenziale des körperlichen Geschehens hebt auch Gunter Gebauer hervor: Das Gesehene werde „durch sprachliche Kommentare [...] mit einer narrativen Dimension verknüpft, die Geschichten hervorbringt.“ „Die hinzugefügte Sprache, und erst sie, öffnet dem Sport die ästhetische Dimension“ – wobei nicht verbale Sprachen wie die der Bilder, Gesten, Körpererinnerungen eingeschlossen sind.15 Dass es für die dramatisch-ästhetische Perzeption nicht nur auf die direkt wettbewerbsrelevanten Handlungen ankommt, dass „all das sichtbare Verhalten, mit dem Sportlerinnen und Sportler sich vor dem Wettkampf und im Wettkampf auf den Wettkampf einstellen, mit dem sie auf Erfolg und Misserfolg reagieren usw.“16 Stoff liefert für die von den Zuschauern produzierten Deutungen und damit für ihr ästhetisches Erleben, hat Martin Seel herausgearbeitet. Insgesamt eröffnen Sportereignisse dem geübten Betrachter ein derartig reizvolles und vielfältiges Spektrum der sinnlichen Eindrücke, verspürten Erregungen und symbolischen Sinngebungen, dass man sie mit Wolfgang Welsch als „die populäre Kunst der Gegenwart“17 bezeichnen kann. Doch betrifft die Wahrnehmung von Sportereignissen ‚wie Kunst’ nur eine Dimension der ästhetischen Erfahrung bewegter Körper. Grundlegend geht es um ein Verständnis des Ästhetischen, das sich gerade nicht auf Kunst und besondere Institutionen beschränkt, das vielmehr unser alltägliches Dasein durchzieht – mal im Hintergrund, mal dominierend im Vordergrund. Eine solche Sichtweise gewinnt seit einigen Jahren auch in der philosophischen Äs-

13 Vgl. Lothar Mikos: Im Auge der Kamera. Das Fernsehereignis Big Brother, Berlin: Vistas 2000, S. 54. 14 Vgl. Uli Gleich: »Sportberichterstattung in den Medien: Merkmale und Funktionen«. In: Gunnar Roters/Walter Klingler/Maria Gerhards (Hg.), Sport und Sportrezeption, Baden-Baden: Nomos 2001, S. 167–182, insb. S. 171–173. 15 Gunter Gebauer: »Oralität und Literalität im Sport. Über Sprachkörper und Kunst«. In: Volker Gerhardt/Bernd Wirkus: Sport und Ästhetik, (S. 15–29, hier S. 25 und S. 26). 16 Martin Seel: »Die Zelebration des Unvermögens. Zur Ästhetik des Sports«. In: Ebd., S. 113–125, (hier S. 118 f). 17 Wolfgang Welsch: »Sport Viewed Aesthetically, and Even as Art? «. In: Andrew Light/Jonathan M. Smith (Hg.), The Aesthetics of Everyday Life, New York: Columbia University Press 2005, (S. 135-155, hier S. 149). 35

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thetik an Einfluss. Martin Seel hat das so formuliert: „Die Domäne des Ästhetischen ist kein abgegrenzter Bereich neben anderen Lebensbereichen, sondern eine unter anderen Lebensmöglichkeiten, die von Zeit zu Zeit ergriffen werden kann, wie man von Zeit zu Zeit von ihr ergriffen wird.“18

Hunger nach Schönheit Vor diesem Hintergrund sollen zwei Gedanken etwas genauer ausgeführt werden: Der wachsende Hunger nach Schönheit als Basistrend in entwickelten westlichen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts; und die tragende Rolle des Körpers als Medium ästhetischer Erfahrung in der populären Kultur. Was meint die Metapher vom Hunger nach Schönheit? Dahinter verbirgt sich kein neuer Kontinent; vorgeschlagen wird ein veränderter Blick auf Phänomene, die den Sozialwissenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg vertraut sind, vielleicht zu vertraut. Wie erwähnt, beschränkt die ästhetische Theorie Schönheitserfahrung nicht mehr auf Kunst. Mittlerweile gilt alles, was zur Wahrnehmung in der ganzen Breite unserer sinnlichen, emotiven, imaginativen Vermögen gehört, als potenzieller Gegenstand ästhetischer Erfahrung. Die Grundoperation besteht darin, Phänomene unserer Umwelt nicht nur instrumentell, im Vollzug bestimmter Handlungen, zu perzipieren; wir betrachten sie nicht einfach als austauschbare Repräsentanten einer allgemeinen Kategorie mit bekannter Zweckbestimmung, sondern nehmen ihre individuellen sinnlichen Qualitäten mit handlungsentbundener Aufmerksamkeit wahr.19 Es fällt einem z.B. auf, dass der farbige Putz eines Nachbarhauses nicht nur dem Schutz gegen das Wetter dient; er hat einen Ochsenblutton, der kräftig von der Umgebung absticht, ein reizvolles Wechselspiel mit den Tönungen des Himmels entfaltet und mich an Urlaube im Norden Europas erinnert. In den Bereich spezifisch ästhetischer Erfahrung kommen wir, wenn diese sinnenhaft intensive Wahrnehmung emotional positiv gewertet, als angenehm empfunden, so zumindest ein wenig aus dem Strom der Alltagshandlungen herausgehoben und um dieser angenehmen Empfindungen willen (von „Wohlgefallen“ und „Lust“ spricht Kant in diesem Zusammenhang) gesucht wird. Ästhetische Erfahrung ist Selbstzweck. Sie wird erstrebt wegen der befriedigenden oder gar beglückenden Gefühle, die sie erzeugen kann, und es wird eine sich dazu bietende Möglichkeit ergriffen. Wir betreten das weite Feld des Schönen, wenn wir beispielsweise ein Trinkglas nicht einfach nutzen als Gefäß, um eine Flüssigkeit bequem, kontrollierbar und ohne Verlust an den Mund zu führen, sondern es individuell in seiner Form wahrnehmen, die

18 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München/Wien: Hanser 2000, S. 44. 19 Vgl. ebd., S. 44–48. 36

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wir (meist unbewusst, auf vorsprachlicher Ebene) mit anderen Formen vergleichen, wenn wir darauf achten, wie es sich anfühlt und in der Hand liegt, wie es die enthaltene Flüssigkeit in ihren sinnlichen Qualitäten (Farbe, Klarheit, Viskosität) präsentiert usw. Oder wenn wir beim Jogging nicht unseren Gedanken nachhängen und automatisiert atmen – wenn wir vielmehr die Aufmerksamkeit auf die Qualitäten der Luft an diesem besonderen, einmaligen Morgen richten, den Nachduft des nächtlichen Regens einziehen, der den Geruch des frisch gefällten Holzes am Weg intensiviert, die Kühle auf den nackten Armen empfinden und in der Erinnerung an die gestrige Schwüle besonders genießen. Solche Dimensionen der als angenehm empfundenen, intensiven Wahrnehmung – und den Aufwand, den wir treiben, um sie immer umfassender und vielfältiger zu ermöglichen – thematisiert die seit den 1980ern kontrovers geführte Debatte über die „Ästhetisierung der Lebenswelt“.20 Dahinter steht eine historische Veränderung des Alltagslebens. Die Ubiquität populärer Künste und der Kult der schönen Dinge begründen die These, dass das Streben nach immer mehr und stets intensiverer ästhetischer Erfahrung heute zu den primären Motiven westlich-moderner Lebensführung zählt. Es ist uns Bedürfnis und Gewohnheit geworden, Gegenstände und Tätigkeiten des gewöhnlichen Lebensvollzugs ‚schön’ einzurichten: sinnlich reizvoll und emotional ansprechend, in prägnanter, gefälliger Gestalt und aufgeladen mit symbolischen Botschaften, die dem Dasein eine Dimension jenseits der Alltagspragmatik eröffnen. Der durchschnittliche Deutsche verbringt pro Tag mehr als zehn Stunden mit Medien, davon rund sieben mit Radio und Fernsehen;21 1970 betrug das gesamte Medienzeitbudget noch keine vier Stunden. Konservativ geschätzt, konsumieren wir heute fünf Stunden täglich Kunst: Musik, Popvideos, Fernsehspiele, Krimis, Kinofilme, Gerichtsshows und TV-Serien. Ich rede noch gar nicht über Werbespots, Computerspiele, Schausport, Illustriertenfotos, Fortsetzungs- und Fotoromane, Erzählungen, Comics, Schmöker und all die anderen populären Genres, die Sinne, Gemüt und Intellekt erfreuen. Wir umgeben uns mit immer mehr Dingen, die zunehmend reizvoller gestaltet und mit ständig wachsender Überlegung ausgewählt werden. Das gilt 20 Vgl. Rüdiger Bubner: »Ästhetisierung der Lebenswelt«. In: Walter Haug/Rainer Warning (Hg.), Das Fest, München: Fink 1989, S. 651–662; Wolfgang Welsch: »Ästhetik und Anästhetik«. In: Ders., Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam 1990, S. 9–40; Ders. (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen, München: Fink 1993. Vgl. auch den Überblick bei Kaspar Maase: »Einleitung: Zur ästhetischen Erfahrung der Gegenwart«. In: Ders. (Hg.), Die Schönheiten des Populären, S. 9–26. 21 Media Perspektiven Basisdaten. Daten zur Mediensituation in Deutschland 2007. Frankfurt a. M.: Arbeitsgemeinschaft der ARD-Werbegesellschaften 2007, S. 68. 37

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für Fußgängerzonen und Erlebnisbäder wie für Haarfarben und Schreibgerät. Und nicht zuletzt gestalten wir den eigenen Auftritt (durch Körperformung, Kosmetik, Kleidung, Schmuck) mit steigendem ästhetischem Aufwand. Gesucht und genossen wird, was den Sinnen schmeichelt, was Auge und Ohr, Geruch und Tastsinn bezirzt, und ebenso genießen wir jene mentale Auseinandersetzung mit der Welt, die Kunst auch in ihren populärsten Genres anbietet und der sich unsere Wahrnehmung von Sportereignissen assimiliert hat. Ein Fußballspiel oder ein 800 m-Lauf sind keine Kunstwerke, aber wir haben gelernt, sie wie Dramen zu betrachten – weil wir uns so ein komplexes ästhetisches Vergnügen bereiten. Ästhetische Kommunikation, so verstanden, ist Bestandteil aller uns bekannten Kulturen seit der Entstehung menschlicher Lebensformen.22 Die erstrangige Rolle, die sie im 20. Jahrhundert gewonnen hat, ist untrennbar verknüpft mit dem dauerhaften Überschreiten der Schwelle elementarer Lebenssicherung und mit dem Übergang der gesamten Bevölkerung in die Warenund Konsumgesellschaft. Insbesondere Gerhard Schulze hat herausgearbeitet, dass mit dieser Entwicklung jeder (und nicht nur privilegierte Schichten) immer häufiger vor der Entscheidung steht, eine bestimmte Ware oder Dienstleistung aus einem funktional weitgehend identischen Angebot zu wählen. Wer über das Geld verfügt, sich Trinkgläser zu kaufen und nicht Senfgläser für diesen Zweck umzunutzen, der hat im Kaufhaus die Wahl zwischen vielen Modellen, die ihren Zweck alle gleich gut erfüllen. Die Entscheidung kann nur anhand ästhetischer Maßstäbe fallen, anhand der Gestaltqualität der Dinge. Die Veralltäglichung solcher Entscheidungen bildet den Basisprozess, in dem sinnliche Wahrnehmungssensibilität und Vergleichskompetenz sich massenhaft entwickelt haben und zum selbstverständlichen Maßstab bei immer mehr Handlungen zur Gestaltung der Lebensumwelt geworden sind.23 Die Beispiele verdeutlichen, wie unterschiedlich in Qualität und Intensität ästhetische Erfahrungen sind, wenn wir sie auch im Alltag erleben und nicht nur in herausgehobenen Situationen konzentrierter Zuwendung. Mit Blick auf das Feld sportlicher Bewegung heute ergibt sich eine kaum überschaubare Vielfalt der Varianten – denen allen gemeinsam ist, dass sie (meist in Verbindung mit funktionalen Bezügen) um ihrer selbst willen gesucht und genossen werden („interesselos“ sagt Kant). Die Freude an der Farbe und am weichen,

22 Vgl. Eckhard Neumann: Funktionshistorische Anthropologie der ästhetischen Produktivität, Berlin: Reimer 1996; Karl Eibl: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie, Paderborn: mentis 2004; Ders./Katja Mellmann/Rüdiger Zymner (Hg.): Im Rücken der Kulturen, Paderborn: mentis 2007. 23 Vgl. neben Gerhard Schulze: Erlebnisgesellschaft, Gernot Böhme: »Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie«. In: Kaspar Maase (Hg.), Die Schönheiten des Populären, S. 28–41. 38

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wärmenden Stoff der fleece-Jacke zum Wandern ist ästhetische Freude – nicht ästhetisch wäre die Freude daran, dass mich andere um das schöne Stück beneiden. Ästhetisch ist das Erschrecken über Zidanes Kontrollverlust, über die Folgen für die Mannschaft und das verlorene Spiel, wenn man das Geschehen als verdichtete Repräsentation von Konflikten der Gegenwart interpretiert, so wie eine gut komponierte Geschichte – nicht ästhetisch wäre ‚national‘ begründetes Leiden unter der Niederlage der équipe tricolore gegen die squadra azzurra. Die Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung als Akteur und Rezipient körperlicher Bewegungspraktiken können hier nicht im Einzelnen entfaltet werden. Wichtig ist für den Alltagsforscher, dass derartige Erfahrungen ihren Wert in sich selbst haben, dass sie stets eine einzigartige persönliche Dimension einschließen (Erinnerungen, Assoziationen, die sich mit dem Rostrot der fleece-Jacke verbinden, entstammen meiner individuellen Biographie) und dass sie von der punktuellen Nebenbeiwahrnehmung reichen bis zur reflektierenden Deutung eines Phänomens als Ausdruck universeller Gesetze. Wie bei einem Musikstück oder einem Film gibt es keine Grenze für Bedeutungen und Reflexionen, die man mit der sinnlich eindrucksvollen Wahrnehmung verbindet. Fraglos hat Wissenschaft auch im Feld des Alltagsschönen Unterscheidungen zu treffen und die unendliche Vielfalt der Phänomene kategorial zu ordnen. An dieser Stelle ist jedoch zu betonen, dass es sich um Unterscheidungen in einem Kontinuum und ohne Hierarchisierung handelt. Die Freude, die die Eleganz einer Läuferin bereitet, ohne dass man diese Empfindung zu erklären wüsste, ist von anderer, aber nicht minderer Art als das Vergnügen, nachzuvollziehen, wie in Allan Sillitoes Erzählung The Loneliness of the Long-Distance Runner die Freiheitserfahrung des jungen Helden Colin literarisch eingebunden ist in die Spannungen der englischen Klassengesellschaft. Gemeinsam ist beiden Varianten ästhetischer Erfahrung, dass sie von der herausgehobenen Präsenz24 einer sinnlichen Vorstellung ausgehen und dass sie „ein Verspüren der eigenen Gegenwart im Vernehmen der Gegenwart von etwas anderem“25 ermöglichen.

Ein Paradigmenstreit? Warum das Beharren auf einem derart weiten Verständnis des Alltagsschönen? Wozu zweifellos Verschiedenes zusammenbinden26 und – entgegen ge24 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Lob des Sports, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. 25 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 62. 26 Wolfgang Welsch: »Das Ästhetische – eine Schlüsselkategorie unserer Zeit«. In: Ders. (Hg.), Die Aktualität des Ästhetischen, S. 13–47, (hier S. 26) empfiehlt den Abschied von einer Begriffsstrategie, die daran festhält, allem als ästhetisch 39

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wohnten Vorstellungen – das Ästhetische zu einer Basisdimension spätmoderner Lebensführung erklären, auf gleicher Ebene wie materielle Reproduktion und soziale Anerkennung? Ein wichtiger Teil der Antwort steckt im letzten Teil der Frage. Ich gehöre zu denen, die dem ästhetischen Begehren in der Vielfalt seiner Äußerungsformen eine derart grundlegende Bedeutung zusprechen; zumindest ist die These ernsthaft zu prüfen, ob nicht eine solche Sicht unser Verständnis heutiger Lebensstile komplexer und angemessener macht. Denn wer den Menschen nur als homo sociologicus (jedweden Geschlechts) betrachtet und nicht gleichermaßen als „animal symbolicum“ (Ernst Cassirer), der verfehlt ihn. Hinter dem alltagstheoretischen Argument steht ein Motiv, das man den Trotz des Ethnographen nennen könnte; als Empiriker widersetzt er sich dem Monopolanspruch einer Sozialforschung, die das, was wir an der so genannten Oberfläche unseres Lebens empfinden, was uns subjektiv wichtig, wertvoll, schön erscheint, für analytisch irrelevant und irreführend erklärt. Wer Menschen in ihrem Alltag beobachtet und befragt, wer auch die komplexen Mischungen der eigenen Gefühle und Strebungen aufmerksam verfolgt, der stößt auf die vielen Äußerungen von Freude, Glück, Befriedigung, Ergriffenheit, Vergnügen oder auch sprachlosem Überwältigtsein, die mit der funktionsenthobenen Wahrnehmung sinnlich prägnanter und reizvoller Phänomene verbunden sind. Wie skeptisch man auch gegenüber Umfragedaten sein mag: Bei der Frage nach den Motiven für das Sporttreiben rangieren Spaß und Freude stets ganz oben;27 und Zuschauer kennen ohnehin kaum andere Gründe als das Vergnügen. Spaß, Freude, Schönheit – dahinter stecken selbstverständlich komplexe Zusammenhänge, die sozialwissenschaftlich zu erhellen sind. Problematisch wird es, wenn Handeln restlos auf soziale Zwänge und Abhängigkeiten, auf unbewusste, verborgene und verleugnete Motive zurückgeführt wird; wenn Spaß, Vergnügen, Beglückung und Ernsthaftigkeit, die dem Ethnographen so eindrucksvoll entgegentreten, leichthin als Schein, falsches Bewusstsein, Selbsttäuschung oder gar Selbstbetrug entlarvt werden. Dagegen möchte der Populärkulturforscher ernster genommen sehen, was die Akteure des Alltags in Kommentaren wie durch ihr Handeln ausdrücken und was mit Hilfe von Kategorien, die in Jahrhunderten ästhetischer Reflexion entwickelt wurden und nun auf alltagseingebundene Praktiken angewendet werden, doch recht plausibel erklärt werden kann. Thematisierten müssten bestimmte Qualitäten gemeinsam sein. Er verweist auf Wittgensteins Konzept der ‚Familienähnlichkeit’; danach wären die verschiedenen Erscheinungen und Praktiken des Schönen ‚miteinander verwandt‘, ohne dass man ein durchgehend Gemeinsames bestimmen können müsste. 27 Vgl. den Überblick bei Stefanie Wezel: Warum treiben Menschen Sport? Diplomarbeit Uni Tübingen 2003, S. 35–41. 40

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Vor allem zwei Deutungsansätze sind auf diese Weise zu ergänzen, auch zu relativieren. In den Sozialwissenschaften dominiert bislang eine funktionalistische Lesart von Freizeit und Vergnügen der ‚Massen’. Seit Talcott Parsons gelten die hedonistischen Werte der Populärkultur als notwendiger Ausgleich für die Disziplin, die die Arbeitsverhältnisse erfordern.28 Es herrscht, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Frankfurter Schule und ihrer Kritik der Kulturindustrie, das Kompensations-Paradigma. Beglückender Erfahrung der Alltagsakteure wird jede ästhetische Substanz abgesprochen; um Uneigentliches, um Ersatz nur handele es sich, der Defizite entfremdeten Daseins ausgleichen solle. Die Freude am Warenglanz ersetze echtes Glück und tröste über den tristen Alltag der Unterprivilegierten hinweg; Kunst und schöne Dinge dienten nur der Statuserhöhung und der Distinktion, und so weiter.29 Das Ganze oft im Ton herablassenden Verständnisses für jene, die das Leben hart anpackt. Diese Lesart enthält gewiss mehr als ein Körnchen Wahrheit. Das dient aber oft dazu, die Möglichkeit eigenständiger ästhetischer Erfahrung im Alltag generell zu leugnen. Dagegen steht hier die These: Der alltägliche Umgang mit Kunst und Schönheit leistet etwas Eigenes und Unersetzbares. Er macht das Leben intensiver und verdichtet das Daseinsgefühl zu erfüllten Augenblicken gesteigerten In-der-Welt-Seins. ‚Hunger nach Schönheit’ meint, dass die Ästhetisierung der Alltagswelt einen eigenständigen Kern hat. Nicht Marketingstrategen oder Karrierefrust bewirken die Unentbehrlichkeit des Schönen, sondern die Erfahrung erhöhten Lebens. Deswegen spreche ich mit Gernot Böhme von ästhetischem Begehren. Bedürfnisse können gesättigt werden, Begehrungen „werden durch ihre Befriedigung nicht gestillt, sondern gesteigert.“30 Alles Bemühen, den Hunger nach Schönheit zu stillen, hat ihn wachsen lassen. Er wird die Menschen künftig nicht weniger, sondern stärker umtreiben, und deswegen bildet er, in welchen Formen auch immer, einen Basistrend europäischer Moderne. So weit zur Relativierung des Deutungsmusters ‚Populäre Kultur als Kompensation‘. Das zweite unbefriedigende Paradigma kann man auf die Formel ‚Bewegte Körper als soziale Zeichen‘ bringen. Es geht auf das große Anregungs- und Erkenntnispotenzial von Bourdieus Analyse der Inkorporierung sozialer Strukturen und der Reproduktion sozialer Machtverhältnisse durch Körperpraktiken sowie auf Foucaults Studien zu Disziplinierung und Gouvernementalität als Körperpolitiken zurück und spielt bei der Erforschung 28 Vgl. Thomas Hecken: Theorien der Populärkultur. Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies, Bielefeld: transcript 2007, S. 119. 29 Exemplarisch ist immer noch Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. 30 Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 64. 41

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des Sporttreibens in spätmodernen Gesellschaften eine herausragende Rolle. Darauf gegründete sportsoziologische Arbeiten,31 die neue Körperpraktiken in hybriden Räumen von Pop- und Bewegungskultur als Indikatoren sich verändernder Sozialregimes im „neuen Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/– Chiapello) interpretieren, gehören gewiss zur Pflichtlektüre heutiger Kulturwissenschaft. Und doch tendiert (auch bei Nutzung ethnographischer Methoden) dieser Ansatz aus der sozialtheoretischen Vogelperspektive dazu, bewegte Körper auf ihre Qualität als Zeichen für soziale Strukturen und Tendenzen zu beschränken. Selbstdeutungen der Akteure mit eigenem Sinnhorizont und jene Erfahrungen, die ästhetischen Genuss aus veränderten Körperpraktiken ziehen, werden in der Perspektive ‚Körper als Zeichen‘ nicht systematisch ernst genommen. Die hier vertretene Sicht soll dem gegenüber kein alternatives Modell mit Dominanzanspruch etablieren. In empirischen Untersuchungen ist zu erproben, ob und wie Kategorien und Fragestellungen einer alltagsorientierten Ästhetik zu einem komplexeren Verständnis selbst gewählter, nicht primär funktionaler Körperpraktiken beitragen – und damit zur Analyse der populären Kultur überhaupt.

Körper als Medium ästhetischer Erfahrung Für einen solchen Ansatz sprechen Ergebnisse neuerer Forschungen zum Körper32 als Medium ästhetischer Erfahrung in der Populärkultur.33 Wie Gabriele Klein treffend bemerkt hat, ist „[d]er Leib [...] der eigentliche Adressat der Kulturindustrien“.34 Während körperbetonte Rezeption seit der Klassik als wesentliches Indiz für die Minderwertigkeit der entsprechenden Genres und ihrer Liebhaber galt,35 untersucht man nun endlich die Spezifik dieser Aneig-

31 Vgl. stellvertretend Thomas Alkemeyer/Bernhard Boschert/Robert Schmidt/ Gunter Gebauer (Hg.): Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz: UVK 2003. 32 Ich verwende in diesem Text Körper und Leib gleichbedeutend; Basis notwendiger Unterscheidungen ist Plessners Konzept der „exzentrischen Positionalität“, wonach Menschen der evolutionären Naturgeschichte angehörende Körper sind, die von keinem bewussten Lenkungsimpuls erreicht werden – und zugleich Körper haben, die sie kontrollieren und einsetzen, deren (auch individualgeschichtlich herausgebildete) Empfindungen sie reflektieren und mobilisieren können. 33 Die Frage, ob nicht auch in der herkömmlichen Hochkultur körperliche Perzeption eine sehr viel größere Rolle spielt als die professionelle Beschreibung ästhetischer Prozesse zugesteht, sei hier dahingestellt. 34 Gabriele Klein: Electronic Vibration, S. 298. 35 Zur Konstruktion des ‚Populären‘ durch Ausgrenzung des Körpers aus der Hochkultur vgl. Thomas Alkemeyer: »Das Populäre und das Nicht-Populäre. 42

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nungsweisen und ihre eigentümlichen ästhetischen Potenziale – ohne in die antiaufklärerische Körperromantik zu verfallen, deren Gefahren wir aus der deutschen Ideengeschichte wie aus der Tradition der Leibesübungen36 kennen. Wenn man sich aus der Polarität des High gegen Low befreit, wird offensichtlich: Ästhetische Erfahrung im Alltag ist gekennzeichnet durch intensive Beteiligung des Körpers. Wer einmal von einem Sensurround-Gewitter durchgeschüttelt wurde, wer die Bässe aus der Nachbarwohnung im Bauch gespürt hat, wer die einladenden Kurven einer Plastik mit der Hand nachzeichnete, wem bei einer schnell geschnittenen Filmsequenz auf der Großleinwand schwindelig wurde – der weiß, worum es hier geht. Und es war noch gar nicht die Rede von den Erfahrungen in Tanz, Disko und Rave, von Bühnenshow und Stadion-Feeling: die „Physiologie der Ästhetik“37 hat viele Facetten. Systematisch lassen sich drei Aspekte des intensiven Körperbezugs moderner Populärkultur unterscheiden: der Körper als Wahrnehmungsorgan, als Wahrnehmungsproduzent und als Quelle von Bedeutungen. Der Leib als Wahrnehmungsorgan ist kulturwissenschaftlich noch weitgehend unerforscht; anregend scheint das von Gernot Böhme verwendete Konzept der „Atmosphären“. Der Grundgedanke stammt von Hermann Schmitz; für ihn ist der Mensch wesentlich als Leib zu denken. Das heißt, dass er in seiner Selbstgegebenheit, seinem Sich-spüren ursprünglich räumlich ist. „Sich leiblich spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich in einer Umgebung befinde, wie mir hier zumute ist“38. Atmosphären nun sind Qualitäten von Räumen, spezifisch gestimmt durch die Anwesenheit von Dingen mit besonderen Eigenschaften. Böhme betrachtet dingliche Eigenschaften, die blaue Farbe einer Tasse zum Beispiel, als etwas, das auf die Umgebung ausstrahlt und sie in gewisser Weise tönt. Gleiches gilt für Ausdehnung und Volumen; auch diese Qualitäten eines Dings sind nach außen hin spürbar und geben dem Raum, in dem sie präsent sind, Gewicht und Orientierung. „Wahrnehmen ist […] die Weise, in der man leiblich bei etwas ist […] Der primäre Gegenstand der Wahrnehmung sind [...] die Atmosphären, auf deren Hintergrund dann durch den analytischen Blick Über den Geist des Sports und die Körperlichkeit der Hochkultur«. In: Kaspar Maase (Hg.), Schönheiten des Populären, S. 232–250. 36 Vgl. etwa Bernd Wedemeyer-Kolwe: »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 37 Friedrich Nietzsche: »Zur Genealogie der Moral«. In: Gorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Friedrich Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe, Gisechste Abteilung, zweiter Band, Berlin: de Gruyter 1986, S. 259–430, (hier S. 374). 38 Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Ostfildern: edition tertium 1998, S. 31. 43

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so etwas wie Gegenstände, Formen, Farben und so weiter unterschieden werden“39. Das Verständnis des Körpers als Medium der Wahrnehmung von Atmosphären ist selbstverständlich zu ergänzen um die dynamische Dimension der leiblichen Erfahrung von Selbst und Umwelt durch Bewegung in unterschiedlichen Räumen.40 Als Wahrnehmungsproduzent wird der Körper nicht nur in Tanz und Sport genutzt, sondern auch in der Kunstrezeption. Am Erleben eines Films beispielsweise ist leibliches Spüren erheblich beteiligt: durch sich verändernden Pulsschlag, Schwitzen, Weinen und Lachen sowie unwillkürliche Muskelaktivität etwa bei einer Verfolgungsjagd – körperliche Reaktionen, die Gefühle und Urteile mit bestimmen. Das gilt, wie jeder an sich selbst beobachten kann, auch für die Rezeption von Literatur oder Musik; die Einbildungskraft lässt leibliches Handeln imaginieren,41 und nicht nur bei erotischen Genres hat das spürbare Wirkungen. Also: Körperliches erweitert und intensiviert Ästhetisches. Gerhard Schulze hat das grundsätzlich formuliert: Leibliche Empfindungen bilden die Basis jeder ästhetischen Erfahrung; sie erst machen Emotionen fühlbar, damit der Reflexion zugänglich und mental verarbeitbar.42 Was der Körper eindrücklich empfindet, wird notwendig eingebunden in einen persönlichen semantischen Kontext, der die Qualität jeglicher Wahrnehmung mit bestimmt. An ästhetischer Erfahrung sind stets Leib und Psyche beteiligt – in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen, versteht sich. Wo eine der beiden Rezeptionsmodalitäten fehlt (wenn es derartige Wahrnehmung denn gibt!), können wir nicht von ästhetischem Genuss sprechen. Zum Körper als Speicher und Quelle von Bedeutungen hat Winfried Fluck Grundlegendes formuliert.43 Damit nämlich ästhetische Erfahrung gemacht wird – zum Beispiel aus den schwarzen Zeichen auf einer Buchseite –, müssen wir die Vorgaben mittels eigener Vorstellungs- und Gefühlspotenziale ‚übersetzen’. Wir machen aus den zwölf Buchstaben „S i e k ü s s t e i h n“ eine ästhetische Erfahrung, indem wir Erinnerungen, Wünsche, Phantasien

39 Gernot Böhme: Atmosphäre, S. 32f., S. 47f. 40 Vgl. Gabriele Klein (Hg.): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld: transcript 2004. 41 Vgl. dazu mit Blick auf Ergebnisse der Hirnforschung Gerhard Lauer: »Spiegelneuronen. Über den Grund des Wohlgefallens an der Nachahmung«. In: Eibl/ Mellmann/Zymner (Hg.), Im Rücken der Kulturen, S. 137–163. 42 Gerhard Schulze: Erlebnisgesellschaft, S. 105–108. 43 Vgl. zum Folgenden Winfried Fluck: »Ästhetische Erfahrung und Identität«. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 1, 49 (2004) S. 9– 28; Ders.: »California Blue. Amerikanisierung als Selbst-Amerikanisierung«. In: Ute Bechdolf/Reinhard Johler/Horst Tonn (Hg.), Amerikanisierung – Globalisierung. Transnationale Prozesse im europäischen Alltag, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2007, S. 9–30. 44

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aus unserem Inneren aktivieren und veräußerlichen. Dabei greifen wir wesentlich auf nicht sprachlich gefasste Empfindungs- und Stimmungsressourcen zurück, die körperlich gespeichert sind und körperlich artikuliert werden. Wir wissen, unser Körper weiß und unser Hirn hat gespeichert, wie es ist, in einem bestimmten Zustand zu sein – zum Beispiel: zu küssen und geküsst zu werden –, ohne das in Worten ausdrücken zu müssen. Dieses Wissen und die mit ihm verknüpften Gefühle werden aktiviert durch entsprechende Auslöser; solche Auslöser können verbaler (eine Beschreibung), sinnlicher (ein Duft) oder auch körperlicher Art (eine Bewegungsfolge)44 sein. Bedeutungen sind keineswegs nur sprachlich verfasst, und ihre nicht propositionalen, nicht sprachlich artikulierbaren Dimensionen45 sind für die ästhetische Qualität von Erfahrungen gleichermaßen relevant. Die Sportwissenschaft hat Körpergedächtnis und körperliches Wissen bisher vor allem mit Blick auf das Handeln thematisiert: als Bewegungsgedächtnis und Bewegungswissen. Forschungen zur Ästhetik des Alltags werfen Fragen nach den Gefühls- und Bedeutungsdimensionen des Körpergedächtnisses auf. Sind bestimmte Sportarten nicht auch deswegen populär, in Europa etwa Fußball oder Leichtathletik, weil wir die gezeigten Leistungen beziehen können auf Erinnerungen an eigene Bewegungsepisoden? Das dient nicht allein dem vertieften, verständnisvollen und bewundernden Nachvollzug der Leistungen der anderen. Bewegungsvollzüge, die wir wahrnehmen, lösen Erinnerungen aus an konkrete, komplexe Ereignisse: an den einzigen Kopfsprung vom Fünfmeterbrett, den wir je wagten – weil jemand zuschaute, den wir beeindrucken wollten –, oder an den Tiefschneehang, in dem einfach kein Schwung glücken wollte. Diese Bedeutungsdimensionen müssen nicht bewusst und schon gar nicht versprachlicht werden. Sie gehen ein in die Intensität und Reichhaltigkeit ästhetischer Erfahrung bei der Wahrnehmung sportlicher Vorführungen. Körperliches Wissen nun und der Leib als Resonanzboden werden in der modernen Populärkultur zunehmend direkt mobilisiert; Fluck sieht gar eine historisch durchgehende Linie der „’Verkörperlichung’ ästhetischer Erfahrung“46. Je weniger narrative Strukturen und komplexe semantische Elemente nämlich künstlerische Texte vorgeben, desto freier ist der Rezipient, in sie seine Vorstellungs- und Gefühlswelt hineinzulegen. Und genau das geschah

44 „Durch Bewegungen sind Erinnerungen in unsere Körper eingelassen: Sie kommen wieder, wenn die Bewegungen, die sie hervorrufen, vollzogen werden.“ (Gunter Gebauer: »Der Körper als Medium von Erkenntnis«. In: Thomas Alkemeyer/Bernhardt Boschert/Robert Schmidt/Gunter Gebauer (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper, S. 229–234, (hier S. 231). 45 Elk Franke: »Bewegung – eine spezifische Form nicht-propositionalen Wissens«. In: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung, S. 109–130, (hier S. 125). 46 Winfried Fluck: California Blue, S. 25. 45

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in der Geschichte der Populärkünste. Die erzählende Literatur gab die dominierende Rolle ab an Film und Musik, die Melodie rückte in den Hintergrund zugunsten von Rhythmus und Sound, neben und sogar vor das Hören trat das Tanzen – und stets wuchs der Anteil des Leiblichen. Körperorientierte Popmusik und die Sounds für die gegenwärtigen Tanzszenen stellen überhaupt keine intellektuell-kognitiven Anforderungen.47 Man muss nichts ‚verstehen‘, damit sie ihre Wirkung entfalten – sie sind weithin Auslöser für die Veräußerlichung von körpergebundenen Stimmungen und Gefühlen leiblicher Entgrenzung, für eine sprachlich nicht einzufangende Produktion von Bedeutung. Diese Entwicklung eröffnete, so Fluck, „ganz neue Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks und der ästhetischen Erfahrung“48. In die ‚Übersetzung‘ der Künste durch die Nutzer ging immer mehr Körperbezogenes ein, und die Gratifikationen der Aneignung wurden zunehmend verleiblicht. Das ist bei Popmusik und Tanz am offensichtlichsten, bestimmt aber auch die Ästhetik von Erfolgsgenres wie ‚Action‘ und ‚Horror‘ – und es erschließt, so scheint mir, komplexere Möglichkeiten zum Verständnis der Genuss- und Bedeutungsdimension neuer, ‚extremer‘ Sportarten mit ihren Erfahrungen des Fliegens und Gleitens, Stürzens und neuen Gewinns von Halt und Balance, des Anschmiegens an den Fels und der selbst erzeugten Beschleunigung.49 Gunter Gebauer sieht hier Bedeutungshorizonte wie eine „Mythologie des Risikos“ und „des Losgelöstseins von Erdenschwere“50. Wie immer wir die Erfahrungsschichten bewegter Körper auch interpretieren – ein offenes, neugieriges Verständnis der ästhetischen Dimension und der Gemeinsamkeiten mit der Intensivierung ästhetischen Erlebens in der populären Kultur kann, so hoffe ich, unsere Forschung inspirieren.

47 Das heißt nicht, dass Texte in der Popmusik keine Rolle mehr spielten. In den somatisch fokussierten Genres sind sie jedoch zum Genuss nicht notwendig; sie eröffnen, wie in jedem reicheren Kunstwerk, eine zusätzliche Ebene für komplexere, stärker intellektuell reflektierende ästhetische Erfahrung. 48 Winfried Fluck: California Blue, S. 18. 49 Vgl. Thomas Alkemeyer/Robert Schmidt: »Habitus und Selbst. Zur Irritation der körperlichen Hexis in der populären Kultur«. In: Alkemeyer/Boschert/Schmidt/ Gebauer (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper, S. 77–102, hier S. 80 f.; Jürgen Schwier: Sport als populäre Kultur. Sport, Medien und Cultural Studies, Hamburg: Czwalina 2000, insb. Kap. 4, S. 47–89. 50 Gunter Gebauer: »Ordnung und Erinnerung. Menschliche Bewegung in der Perspektive der historischen Anthropologie«. In: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung, S. 23–41, (hier S. 39). 46

BEWEGTE KÖRPER – POPULÄRE KULTUR – ÄSTHETISCHE ERFAHRUNGEN

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BEWEGTE KÖRPER – POPULÄRE KULTUR – ÄSTHETISCHE ERFAHRUNGEN

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Café Bue nos Aires und Gale ria del Latino. Zur Tra nslokalitä t und H ybridität städtisc her Ta nzkulturen GABRIELE KLEIN/MELANIE HALLER

Populäres Tanzvergnügen: Das Beispiel Hamburg Wenn man die Veranstaltungskalender und Stadtmagazine1 der Stadt Hamburg durchblättert, findet man unter der Rubrik „Party“ allerlei, an einem Freitag Abend ca. 60 Veranstaltungen, darunter eine Anzahl von Motto-Partys wie Andra Babydoll, Beach-Club, Bunton Bang. The Hardstyle Exposion, Club Tikka. Mellow & Rivera, Die Horst J. Gonzales Karaoke Show, Down To Earth, Elbgeflüster, Flirt 4 Fun, Friday Coyote Night, Get Smart!, Gimme A Break, Hot Rythm & Groove Part 1, In Crowd Generation, Late East, Latin Beats, Love Pop Weekend, Magic Soul Box, Mamma Mia Party, Planet Rock, Reggae-Dancehall, Salsa Y Latino oder Tanz in Takt. Standard - und Lateintanzparty. Hamburg ist nicht nur eine der wenigen wachsenden Metropolen in Deutschland und Europa, sie ist auch eine Party-Metropole mit einer ausgewiesenen Clubszene. Allein im Stadtteil St. Pauli gab es im Jahr 2008 rund um die Reeperbahn ca. 40 Discos und Clubs, in denen sich vor allem an den Wochenenden Tausende Tanzlustige und Tanzwütige tummeln. Dazu kommen alljährlich etwa ein Dutzend Tanz-Festivals wie das „Salsa-Festival“, das „Queer-Tango-Festival“ oder der „Schlagermove“. Dass Tanzen in den städtischen Metropolen nicht nur Bestandteil eines „Saturday Night Fevers“ und mitunter auch mancher Vereins- oder Familienfeiern ist, belegen über 60 Hamburger Tanzschulen, die ein breites Spektrum

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Aus OXMOX, Prinz, Szene Hamburg und dem Hamburger Stadtmagazin vom 11.07.2008. 51

GABRIELE KLEIN/MELANIE HALLER

von Tanzkursen anbieten: Von Standardtänzen über lateinamerikanische Tänze, Rock’n’Roll bis zu Videoclipdancing und HipHop. Hinzu kommt eine Anzahl von Fitnessstudios, die ebenfalls Tanzkurse anbieten und damit demonstrieren, dass Tanzen zum selbstverständlichen Bestandteil der nachmodernen Fitnesskultur geworden ist, oder andersherum formuliert: die eher auf Individualität setzende, informelle Sportkultur sich längst von einem engen Sportbegriff verabschiedet und – wenn auch aus kommerziellen Gründen ehemals alternative und subkulturell verankerte Bewegungskulturen in ihr Angebot integriert hat. Wie in der durch ‚schwarze Musik‘ wie Funk, Soul oder HipHop geprägten Clubkultur sind auch hier vor allem jene Tänze beliebt, die einer schwarzen Kultur- und Tanztradition entstammen, wie Salsa oder Jazztanz. Wer tanzen weniger als Fitnesstraining versteht und die Tänze lieber ‚originär‘ und ‚authentisch‘ als in das Korsett der Standards der deutschen Tanzlehrerverbände eingepasst erlernen und tanzen möchte, bevorzugt jene Orte, die kulturelle Authentizität versprechen – und dazu zählen die Tanzschulen, die sich auf eine Tanzrichtung spezialisiert haben. Neben afrikanischem Tanz und Caporeira sind dies vor allem jene Schulen, die Unterricht in lateinamerikanischen Tänzen, zumeist unterrichtet von Lehrern aus den entsprechenden Ländern, und die dazu gehörenden Abendveranstaltungen wie Salsatecas und Milongas anbieten. Gerade diese Tanzschulen und Veranstaltungsorte können als besondere urbane Orte einer anderen kulturellen Erfahrung angesehen werden; besonders deshalb, weil es sich zum einen um hybride und populäre Kulturen2 handelt und zudem hier fremdkulturelle Muster in der körperlichen Bewegung ästhetisch erfahren und in die eigene (Körper-)Geschichte integriert werden. Wie in der Stadt Hamburg war und ist auch in anderen Metropolen und Metropolregionen die urbane Tanz- und Clubkultur sehr ausgeprägt: Denn nicht erst seit der Popkultur der 1960er Jahre, die im Umbruch zur postindustriellen Stadt selbst aus ehemaligen Industriestädten wie Liverpool oder Detroit oder aus globalen Städten wie Los Angeles, New York oder London hervorgegangen war, sind das ‚populäre Tanzvergnügen‘ und seine Orte genuiner Bestandteil von urbaner Alltagskultur. Tanzen galt schon in der industrialisierten Stadt als ein alltagskultureller Gegenentwurf des durch lineare körperliche Maschinenarbeit geprägten Industriealltags und Tanz-Locations galten entsprechend als die Orte, an denen die „unterirdische Geschichte der Körper“ (Horkheimer/Adorno)3 gelebt werden konnte. Mit den Arbeitsmigranten kamen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch Musiker und Tänzer aus ande2

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Zur ästhetischen Erfahrung in populären Kulturen siehe Kaspar Maase in diesem Band und Kaspar Maase (Hg.): Die Schönheiten des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Campus 2008. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.: Fischer 1969, S. 264.

ZUR TRANSLOKALITÄT UND HYBRIDITÄT STÄDTISCHER TANZKULTUREN

ren Kulturen in die europäischen Städte, in denen sich mit dem neu entstandenen Dienstleistungsgewerbe und der neuen städtischen Mittelschicht der Angestellten eine populäre Kultur des „grenzenlosen Vergnügens“4 etablierte, die in Tanzlokalen, Varietés und Cabarets ihren räumlichen Ausdruck fand. In diesen, manchen als lasterhaft geltenden Orten der „Außeralltäglichkeit“5 entfaltete sich nicht nur, wie zum Beispiel im Cabaret Voltaire in Zürich6, eine spezifisch urbane avantgardistische Kunstszene, sondern vor allem auch eine bunte Vielfalt von populären Tanzkulturen, in denen sich verschiedene tanzkulturelle Traditionen mischten. Populäre Tanzkultur ist von daher eng mit der modernen Gesellschaft und ihren zentralen Orten, den Städten, verbunden: Tanz-Locations, so unsere Hypothese, repräsentieren nicht nur die drei zentralen Charakteristika, die urbanen Räumen der Moderne zugeschrieben werden: Bevölkerungsdichte, soziale Vielfalt und kulturelle Heterogenität. Sie sind auch jene Bühnen, auf denen einerseits kulturelle Differenz und soziale In- und Exklusion in Szene gesetzt werden und andererseits kulturelle Identitäten als Alteritäten7 hervorgebracht und aktualisiert und im und durch das Tanzen habitualisiert werden. Mit der Produktion von kultureller Identität und Differenz in postindustriellen Städten beschäftigt sich dieser Text, indem er aus performativitätstheoretischer Perspektive am Beispiel der Tango- und Salsaszene in Hamburg den Fragen nachgeht, • wie diese beiden, mittlerweile globalisierten Tanzkulturen das Versprechen auf kulturelle Authentizität lokal hervorbringen, • welche Relevanz die lokalen Tanzszenen für kulturelle Identität haben und • wie in und über die Tanzszenen und das Tanzen ‚Andersartigkeit‘ produziert wird. Diese Fragen werden an empirischem Material diskutiert. Das Material ist im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojekts „Trans/nationale Identität und körperlich-sinnliche Erfahrung. Urbane Tanzkulturen aus 4 5 6 7

Vgl. Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen: der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a. M.: Fischer 1997. Vgl. Hans-Georg Soeffner: Die Auslegung des Alltags – der Alltag als Auslegung, Frankfurt a. M.: UTB 1989, S. 79. Vgl. Gabriele Klein: Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie, Wiesbaden: VS 2004, S.138. Vgl. Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München: Alber 1983; Stephan Moebius: Die soziale Konstituierung des Anderen: Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Levinas und Derrida, Frankfurt a. M.: Campus 2003; Julia Reuter: Ordnungen des Anderen: Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden, Bielefeld: transcript 2002. 53

GABRIELE KLEIN/MELANIE HALLER

Lateinamerika im europäischen Kontext. Das Beispiel Tango und Salsa“ erhoben worden.8

Weltweite Vermarktungen: Globalisierte Tanzkulturen Tango und Salsa sind globalisierte Tanzkulturen, die in den 1980er Jahren in Deutschland in einer historischen Zeit, die sozialdiagnostisch als „Erlebnisgesellschaft“9 gekennzeichnet wurde, sowohl in die sog. städtischen „Alternativkulturen“10 als auch in die in den 1970er Jahren entstehende Fitnesskultur Eingang gefunden haben. Als alltagskulturelle Praktiken etablieren sie sich somit in einer historischen Phase, in der sich ein umfassender gesellschaftlicher Transformationsprozess von der Industriegesellschaft zu einer postindustriellen Gesellschaft abzeichnet, in dessen Verlauf nicht nur bisher stabile Identitäten brüchig werden, sondern auch die aus ökonomischen Produktionsprozessen freigesetzten Körper andere körperliche Betätigungsfelder im Sport – und hier vor allem im Trendsport - und den seit den 1970er Jahren boomenden Bewegungs- und Tanzpraktiken anderer Kulturen finden: Ob Tai Chi, Aikido, Capoeira, Yoga, Bauchtanz, afrikanischer Tanz oder lateinamerikanische Tänze – alle diese Bewegungs- und Tanzformen etablieren sich in den postindustriellen Städten als Säulen einer neuen Fitness- und Erlebniskultur, der es nicht nur um physische Aktivitäten geht. Vielmehr sind die körperlichen Aktivitäten selbst Bestandteile der sich im Zuge gesellschaftlicher Transformationen herausbildenden Konsumkultur geworden, in der der eigene Körper zur Ware wird, und in der sich – parallel zu dem gestiegenen Gebrauchs- und Tauschwert des Körpers für soziale Position und Selbstinsze-

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Projektleitung: Gabriele Klein, wissenschaftliche Mitarbeiterin (u.a.): Melanie Haller, Laufzeit: 2004–2007. Das Projekt untersuchte die Tango- und Salsakulturen in Deutschland – und hier vor allem in Hamburg, Berlin und dem Ruhrgebiet – unter zwei erkenntnisleitenden Fragen: Wie vollziehen sich der globale Transfer und die lokale Etablierung performativer Kulturpraktiken und welcher Stellenwert kommt den Tänzen anderer Kulturen für Identitätsbildung zu. Das empirische Material wurde mit Hilfe von verschiedenen qualitativen Untersuchungsverfahren wie Ethnografie, Experteninterviews, Gruppendiskussionen, Film-, Bild- und Bewegungsanalysen und Konsumenteninterviews erhoben und hier entsprechend der Fragestellung dieses Beitrages zum Teil eingearbeitet. 9 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Campus 1993. 10 Nadine Sieveking hat die afrikanische Tanzkultur in den Kontext der städtischen Alternativkultur definiert. Vgl. Nadine Sieveking: Abheben und geerdet sein. Afrikanisch Tanzen als transkultureller Erfahrungsraum, Berlin: Lit 2006. 54

ZUR TRANSLOKALITÄT UND HYBRIDITÄT STÄDTISCHER TANZKULTUREN

nierungstechniken – die Pflege und Sorge um den eigenen Körper zu einem Mittel einer biopolitisch produktiven Kontrolle des Selbst entwickelt.11 Die von neoliberaler Politik getragene Sorge um und die Selbstverantwortung für den eigenen Körper, die umso bedeutsamer erscheinen, da der Körper eine immer zentralere Rolle bei der Herstellung von Subjektivität einnimmt, korrespondiert mit einem Reflexiv-Werden des Sozialen. Dieses kennzeichnet die „reflexive Moderne“12. Es äußert sich in den Bewegungs- und Tanzkulturen auf einer mikroskopischen Ebene in einem Reflexiv-Werden der Körperund Raumverhältnisse: Tanzen und sich als Tänzer darstellen werden zu zwei zusammen gehörenden Seiten eines Vorgangs, ebenso wie Tanz-Räume die imaginierten Sozialwelten des Tanzes in Architektur, Einrichtung und Dekoration in Szene setzen. Gerade die räumlichen und körperlichen Inszenierungen von Authentizität und Tradition sind für jene Tanzkulturen besonders bedeutsam, die, wie Tango und Salsa, aus außereuropäischen Kulturen stammen und in Europa – Tango gleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach seiner Entdeckung in Paris, Salsa über New York seit den 1970er Jahren - eine wechselhafte Geschichte aufweisen: Der Tanz, der heute ‚Tango Argentino‘ genannt wird, entstammt dem Gebiet des Rio de la Plata. Die ersten Städte, in denen er bekannt wird, sind Montevideo und Buenos Aires. Obwohl er auch in Uruguay seinen Ursprung hat, wird Tango, als ‚Tango Argentino‘, als nationales Kulturgut definiert, darüber politisch aufgewertet und im Zuge der populistischen Politik Juan Peróns als Mittel nationaler populärer Politikstrategien – ähnlich wie der argentinische Fußball – benutzt. Als nationales Kulturgut – und hier als kulturelle Zuschreibung von Erotik und Leidenschaft - wird er vermarktet und weltweit verbreitet, obwohl er in Argentinien eigentlich keine nationale sondern eine lokale Kulturpraxis ist, insofern er sich auf die Stadt Buenos Aires konzentriert, die heute vor allem ökonomisch vom Tango-Tourismus profitiert. Salsa findet ebenfalls mit Kuba und Puerto Rico in verschiedenen Regionen und Kulturen Lateinamerikas seinen historischen Ausgangspunkt, wird aber – anders als Tango – nicht auf einen Ursprung zurückgeführt, sondern als hybride Kultur der ‚Latinos‘ seit den 1970er Jahren vor allem über New York 11 Vgl. Michael Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983; Ders.: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986; Ders/u.a.: Technologien des Selbst, Frankfurt a. M.: Fischer 1993; Ders.: Die Geburt der Biopolitik: Vorlesung am Collège de France, 1978–1979, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004; Ullrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. 12 Ulrich Beck/Anthony Giddens: Reflexive Modernisierung: Eine Kontroverse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. 55

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City verbreitet, wo der Begriff Salsa erfunden und kulturindustriell vermarktet wurde und sich als profitträchtiger „Salsa Erotica“ globalisierte.13 Beide Tänze sind also über Narrative der Sexualität – über Erotisierung der Tango und über Sexualisierung der Salsa – zu einer globalisierten Ware geworden. Ihren weltweiten Erfolg verdanken sie, wie viele Modetänze seit den 1960er Jahren, der Filmindustrie. Kinofilme wie Tango. Das Exil Gardels14, Sur15, Tango Lesson16, Tango17, Dirty Dancing18, Salsa – it´s hot19, Mambo Kings20, oder Buena Vista Social Club21 lösen Tanzwellen aus und leisten ihren Beitrag dazu, dass Tango und Salsa weltweit, wenn auch auf unterschiedliche Weise, symbolisch aufgeladen werden: Tango als Tanz der Leidenschaft, der Erotik, der verführerischen Sinnlichkeit; Salsa als sexueller Tanz, als Tanz der Lust, des puren Vergnügens. Mit der globalen Vermarktung werden die Tänze zugleich ihrer lokalen politischen Bezugsrahmen enthoben, die die Geschichte beider Tanzkulturen prägte und die vor allem über die Texte der Musikstücke hergestellt wurde, in denen der Alltag und die politischen Verhältnisse zum Thema gemacht wurden. Auch im Tanz korrespondiert kulturelle Globalisierung mit Formen der (Re)Lokalisierung. In diesem Prozess werden nicht nur Tanztechniken ‚übersetzt‘, d.h. von Tänzern aus anderen Kulturen mit anderen KörperGeschichten und lebensweltlichen Kontexten wahrgenommen, erfahren und inkorporiert und damit verändert, sondern es wird auch die Sozialwelt der Tänze – als Bilderwelt - auf andere Orte ‚übertragen‘22. Als Orte des ‚Anderen‘ gelten diese Tanzräume nicht nur als Gegenentwürfe zu einem profanen Alltag; sie sind auch Zufluchtsorte von Migranten sowie soziale Enklaven, in denen die herkömmlichen Mechanismen sozialer In- und Exklusion aufgehoben scheinen, Orte, an denen Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten

13 Zu der Geschichte von Tango und Salsa siehe: Arne Birkenstock/Helena Rüegg: Tango. Geschichte und Geschichten, München: dtv 1999; Arne Birkenstock/Eduardo Blumenstock: Salsa, Samba, Santería. Lateinamerikanische Musik, München: DTB 2002; Künstlerhaus Bethanien: Melancholie der Vorstadt: Tango, Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 1982; Dieter Reichardt: Tango. Verweigerung und Trauer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984; Horacio Salas: Der Tango, Stuttgart: Schmetterling 2002; Marta E. Savigliano: Tango and the political economy of passion, Oxford: Westview 1995. 14 Regie: Fernando Solana (AR 1985). 15 Regie: Fernando Solana (AR 1988). 16 Regie: Sally Potter (GB 1997). 17 Regie: Carlos Saura (AR/E 1998). 18 Regie: Emile Ardolino (USA 1987). 19 Regie: Boaz Davidson (USA 1988). 20 Regie: Arne Glimcher (USA 1992). 21 Regie: Wim Wenders (USA 1999). 22 Zum Begriff der Übertragung siehe Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. 56

ZUR TRANSLOKALITÄT UND HYBRIDITÄT STÄDTISCHER TANZKULTUREN

und kultureller Zugehörigkeiten aufeinander treffen und – im Tanz – körperlich interagieren. In dem Spiel von kultureller Identität und Alterität, Einheit und Differenz, Pluralität und Hybridität werden die Tanzräume als heterotopische Orte23 in Szene gesetzt: Heterotopien deshalb, weil Tanzräume, als Aufführungsorte des Außeralltäglichen und zugleich als identifikatorische Orte anderer kultureller Traditionen, Orte innerhalb gesellschaftlicher Ordnungen sind, aber gleichzeitig eine andere soziale Praxis versprechen und lebbar machen, im Unterschied zu utopischen Orten, die dadurch charakterisiert sind, dass sie jenseits der Realität als Ideal entworfen werden.

Die Herstellung von kultureller Tradition: Lokale Tanzkulturen Mit der globalen Verbreitung von Tango und Salsa etablierten sich weltweit vor allem in Städten eine Vielzahl von lokalen Tango- und Salsakulturen, die sich an die vermeintlichen kulturellen Originale anlehnen, zugleich damit einen Ursprungsmythos kreieren und diesen – vor allem über eine Verbildlichung in Form von Flyern, DVDs, Internetauftritten, Bildbänden24 - beständig aktualisieren. Zugleich erzeugen die lokalen Tango- und Salsakulturen Differenz, weil die global zirkulierenden imaginären Sozialwelten der Tänze in anderen Kulturen lokalisiert und hier von den Akteuren lebensweltlich angeeignet werden. Diese Überlegung folgt einer These der britischen Cultural Studies, die besagt, dass global zirkulierende ‚Kulturwaren‘ nur dann verankert werden, wenn sie lebensweltlich relevant sind25 und in diesem Prozess der Enkulturation ihre eigenen Konturen entfalten: So existieren beispielsweise nationale Differenzen zwischen der finnischen, der deutschen und der japanischen Tangokultur; aber auch innerhalb einzelner Länder haben sich differente Szenen herausgebildet, die sich entsprechend der lokalen Kulturtraditionen,

23 Foucaults Begriff der Heterotopie bezeichnet - im Unterschied zum utopischen Ort – „gewissermaßen eine zugleich mythische und reale Bestreitung des Raumes, in dem wir leben“. Vgl. Michel Foucault: »Andere Räume«. In: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt a. M.: Campus 1991, S. 65–72 (hier: S. 68). 24 Im Rahmen des DFG-Projektes wurden Fotografien aus bekannten Bildbänden und Flyern ausgewählt und bildanalytisch ausgewertet. Die Bildanalyse folgte der These einer wirklichkeitserzeugenden Kraft von Bildern. Demnach bringen Bilder die mit den Tänzen imaginierten Sozialwelten hervor und aktualisieren auf diese Weise die Ursprungsmythen der Tänze, indem über Bilder die jeweilige Tanzkultur nicht repräsentiert und abgebildet sondern performativ hervorgebracht wird. 25 Vgl. Gabriele Klein: Electronic Vibration, S. 218f. 57

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aber auch aufgrund der lokalen Akteure im Feld des Tanzes unterschiedlich entwickeln.26 Wie Tradition über die performative Hervorbringung von Authentizität in den lokalen Tanzkulturen hergestellt wird, soll im Folgenden anhand des empirischen Materials vorgestellt werden.

Räumliche Inszenierungen von Authentizität Anders als die im Wesentlichen auf St. Pauli konzentrierte Clubkultur verteilen sich die Tanzräume der Tango- und Salsaszene auf das Stadtgebiet und sind in abgelegenen Hamburger Stadtteilen zu finden, die nicht als Ausgehviertel bekannt sind. Abbildung 1 und 2

Tango-Locations in Hamburg 200727

Salsa-Locations in Hamburg 200728

26 Vgl. Marta Savigliano: Tango and the political economy of passion; Luis Alposta: El Tango en el Japón, Buenos Aires: Ediciones Corregidor 1987; Egon Ludwig: Tango Lexikon: Der Tango rioplatense, Berlin Imprint 2002; Ramón Pelinski (Hg.), Tango nomade. Études sur le tango transculturel, Montreal: Triptyque 1995. 27 1. Tango Universio, 2. La Yumba, 3. El Abrazo, 4. Tango Chocolate, 5. Tango Malena, 6. Tangomatrix, 7. Tangodiscovery, 8. Tango al Puerto, 9. Almatango, 10. Cafeteando, 11. Café Buenos Aires, 12. Tangoball, 13. Tangonacht, 14. Milonga (Zusammenstellung mit Hilfe von: http://maps.google.de/maps). 28 1. La Macumba; Cafes: 2. Salsavida/Cafe Uferlos, 3. Salsanight/Zinnschmelze, 4. Noche a la Cubana/Café Buenos Aires, 5. Salsaparty/Alsterpavillon, Restaurants: 6. Salsanights/Feuerstein, 7. Sunday Salsa Club/Imara, 8. Salsanights /LoCoRes; Diskotheken: 9. Galeria del Latino/Große Freiheit, 10. Oh Salsa, Estudio de la Salsa/Shake, 11. Salsitas/BE 118, 12. Salsa-Party/Port-to-Port, 13. Salsaparty/Stage Club (Zusammenstellung mit Hilfe von: http://maps. google.de/maps). 58

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Von daher sind längere An- und Abfahrtszeiten vonnöten, was zur Folge hat, dass die Gäste sich bewusst für den Besuch entscheiden, und im Verlauf des Abends – anders als in den Clubs auf dem ‚Kiez’ – wenig Fluktuation herrscht. Dieses, durch räumliche Bedingtheiten hervorgebrachte, Prinzip von sozialer In- und Exklusion bewirkt die Herausbildung verbindlicher Formen von Vergemeinschaftung. Anders als die Clubkultur, die sich als eine posttraditionelle Vergemeinschaftungsform29 kennzeichnen lässt, also als eine unverbindliche, im Augenblick existierende Gemeinschaft, zeichnen sich die lokalen Salsa- und die Tangoszenen durch Verbindlichkeiten aus: Verabredungen für den Abend, Austausch von Adressen und ein über das augenblickliche Tanzvergnügen hinausgehendes Interesse an ‚dem Anderen‘ sind hier keine Seltenheit, zumal sich viele aus dem Tanzunterricht oder anderen Tanzveranstaltungen kennen. Folgt man dem von Ronald Hitzler beschriebenen Typus der posttraditionalen Gemeinschaft, lassen sich die lokalen Tango- und Salsaszenen von der Organisationsform her als posttraditional, von den Beziehungsformen eher als traditional kennzeichnen. Allerdings sind die sozialen Verbindlichkeiten in der Tangoszene stärker ausgeprägt als in der Salsaszene. Dies korrespondiert interessanterweise mit den Möglichkeiten räumlicher Identitätserzeugung. Während Tango vor allem an rein tangospezifischen Orten gelehrt und getanzt wird,30 die zum Teil schon seit Jahren und Jahrzehnten bestehen, ist die Ortsbezogenheit in der Salzaszene multipler und flüchtiger. Im Unterschied zu der etablierten Tangokultur mit acht Tango-Tanzschulen gibt es in Hamburg nur eine SalsaTanzschule,31 die sich auf Salsakurse und Salsatecas konzentriert. Ansonsten ist der Salsaunterricht von Fitnessclubs bis zur Salsaschule breit gestreut. Salsakurse und Salsatecas finden an unterschiedlichen Orten wie etwa Kulturzentren, Cafés, Bars oder Restaurants oder in jenen Club-Locations statt, die Mischkonzepte präferieren und damit an verschiedenen Abenden wechselnden Musik- und Tanzrichtungen – von Techno, House über HipHop bis Salsa

29 Vgl. Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer: Techno-Soziologie. Erkundungen einer Jugendkultur, Opladen: Leske & Budrich 2001; Ronald Hitzler/Thomas Bucher/Arne Niederbacher: Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute, Opladen: Leske & Budrich 2001. 30 Als historischer Ausgangsort der Hamburger Tangoszene gilt die Schwulenbar TucTuc. Im Untersuchungszeitraum waren etablierte Orte der Tangokultur in Hamburg: Tango Universo, La Yumba, El Abrazo, Tango Chocolate, Tango Malena, Tango Gotan, Tangomatrix und Tangodiscovery. Seit 2004 finden in Hamburg zudem ‚Open-Air-Milongas‘ in der Nähe des Hafens statt (Bsp. Magellan-Terrassen in der Hafencity, Tango in der Strandbar ‚StrandPauli‘). Das Hamburger Tango-Queer Festival ist international bekannt. 31 La Macumba. 59

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ihre Türen öffnen.32 Diese ortsspezifische Identität verweist nicht nur auf die enge Beziehung von postmoderner urbaner Konsumkultur und Tanzkultur, sondern auch auf das globale Narrativ der Salsa als Party- und Freizeitspaß. Eine räumliche Identität ist von daher in der Salsa-Szene aufgrund der flexiblen Orte viel schwieriger zu erzielen als in der lokalen Tango-Szene. Die Differenz zwischen Tango, als einer Kultur mit einer eindeutigen ortsspezifischen Identität, und Salsa, als Kultur einer ortsspezifischen Flexibilität und Mobilität, korrespondiert nicht nur mit den jeweiligen tanzspezifischen Traditionen, dem Narrativ33 einer nationalen Kulturtradition beim Tango, der auf die Tradition der ‚Latino-Kultur‘ rekurrierenden Szene beim Salsa. Sie steht auch im Einklang mit der höheren Flexibilität der Szene-Mitglieder selbst: Während Tangotänzer viel länger als Salsatänzer in der Szene sind,34 da Tango als ein hochstilisierter und viel Erfahrung und Empathie voraussetzender Tanz gilt, dessen Erlernen viel Zeit und regelmäßiges Training braucht, gilt Salsa als ein leicht und schnell zu erlernender Tanz, zumal das Interesse der Tänzer, das Salsatanzen zu perfektionieren, geringer ist. Das Interesse an der Salsaszene schwindet entsprechend schneller.35 Obwohl auch Salsa seit den 1970er Jahren einen Boom erlebt, gilt sie eher als ein kurzlebiger Modetanz, während Tango aufgrund seiner langen, aber sehr wechselhaften Geschichte eine Unabhängigkeit von Tanzmoden und Tanzwellen unterstellt wird. In den Tanz-Locations der Tango- und Salsaszene werden zudem über Einrichtungen und Dekoration kulturelle Tradition hervorgebracht und auf diese Weise ‚Authentizität‘ in Szene gesetzt, insofern die Tanzräume in Architektur, Mobiliar, Dekoration, in Namensgebung, gastronomischem Service und auch der Auswahl des Personals Identifikationen mit der Geschichte und dem ‚Ursprungsort‘ der Tänze herstellen. Diese performative Hervorbringung von Tradition vollzieht sich in beiden Tanzkulturen allerdings in unterschiedlicher Weise: Der Prototyp einer Tango-Location ist häufig ausges32 So etwa Cafés wie das Café Uferlos, Café de Buenos Aires, Zinnschmelze oder Alsterpavillon; Restaurants wie Feuerstein, Imara oder LoCoRes; Bars wie BE 118, Port-to-Port, Stage-Club oder auch Diskotheken wie Große Freiheit oder Shake. 33 Es handelt sich hierbei um politisch motivierte Erzählungen, die Einheitlichkeit und historische Linearität herstellen, wo Hybridität und Fragmentiertheit vorherrschen. So beruht Tango auf einer kulturellen Hybridität: Das vom deutschen Musikalienhersteller Heinrich Band produzierte Bandoneon und der als Vorläufer des Tango Argentino geltende Tango Andaluz belegen dies. 34 Unserer quantitativen Erhebung zufolge bewegen sich 52,9% der Befragten zwischen 1 bis 6 Jahren in der Tangoszene; 19,9% zwischen 6 und 10 Jahren und 7,5% über 10 Jahre. 35 In der Salsaszene bewegen sich 61,4% der Befragten 1 bis 6 Jahre, 17,5% zwischen 3 Monaten und einem Jahr. Länger als 6 Jahre und bis zu 10 Jahren fühlen sich hier 14,3% zugehörig. 60

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tattet mit Säulen, Kronleuchtern, kleinen runden Bistrotischen, auf denen Kerzen stehen, und Bistro-Stühlen, die entlang der Tanzfläche aufgebaut sind. Rote und schwarze Farben dominieren, Vorhänge, mitunter aus schwerem Samt, unterstützen zusammen mit einer gedämpften, warmen Beleuchtung eine anheimelnde Atmosphäre, die an die große Zeit der Tanzsalons in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, aber auch an die traditionsreichen Tanzsalons wie La Confitería Ideal, Club Glorias Argentinas, Club Sin Rumbo oder den Sunderland Club in Buenos Aires erinnern. In schwarz-weiß gehaltene Bilder von Bandoneonspielern oder Tango tanzenden Paaren, häufig in den typischen stilisierten Tanz-Posen36, die ‚Leidenschaft‘ in Szene setzen, oder Veranstaltungsplakate schmücken die Wände; argentinischer Rotwein suggeriert Authentizität und symbolisiert die Bindung an das Herkunftsland. Während sich Tango-Locations durch ein Ambiente auszeichnen, das auf ein historisierendes urbanes Milieu verweist, stellen Salsa-Räume eher die Vorstellungswelt ‚Karibik‘, d.h. Sonne, Meer, Sand, Strand her: Hier dominieren Palmen, Gartenstühle, Bambus, Ventilatoren und sommerlich helle und leuchtende Farben. Die Nationalflaggen Kubas und Puerto Ricos schmücken die Wände; Cocktails wie Caipirinha, Mojito, Cuba Libre unterstützen gastronomisch die Hervorbringung von Authentizität.37 Nicht nur über die Ausgestaltungen der Tanz-Räume, sondern auch über ihre Bezeichnungen wird Tradition aktualisiert und kulturelle Identität erzeugt; gerade sie verweisen auf (Tanz-)Geschichten, wie auch Ortsbezeichnungen und Namensgebungen Identitäten über Anrufungen performativ erzeugen: Hamburger Tango-Veranstaltungen heißen Tango al Puerto, Almatango, Cafeteando, Patio de Tango; damit ist der Referenzrahmen zu dem Ursprungsort und dem nach wie vor unbestrittenem globalen Zentrum des Tangos, Buenos Aires, gebildet. Hamburger Veranstaltungsorte des Tangos heißen El Abrazo38, Universo Tango, Cafe Buenos Aires, La Yumba, Tango Malena und damit sind Bezugnahmen zu bekannten Tangoliedern hergestellt

36 Im Rahmen der im Projekt durchgeführten Bildanalyse wurden populäre Bildbände und Flyer der Tangokultur untersucht. Die Bilder favorisieren Ganzkörperaufnahmen, dicht gefolgt von Einzelaufnahmen der Beine und Füße in typischen, gestreckten Bein- und Fußhaltungen und symbolisch aufgeladen durch typische Tangotanzschuhe. Die Ganzkörperaufnahmen zeigen eine Verschränkung der beiden Tanzkörper, wobei sich die Körper begegnen, indem die Frau sich leicht an den Körper des Mannes anschmiegt und ein Bein angewinkelt um den Unterkörper des Mannes legt. 37 Da viele Salsa-Veranstaltungen auch an Orten stattfinden, die durch Mischkonzepte gekennzeichnet sind, sind die Räume zum Teil auch weniger dekoriert und neutraler und unauffälliger gestaltet, wobei auch hier Locations bevorzugt werden, die ein der Tanzkultur entsprechendes Ambiente mit Palmen etc. aufweisen. 38 Die Umarmung. 61

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wie La Yumba, ein Lied von Osvaldo Pugliese39 oder dem Tangoklassiker Tango Malena von Homero Manzi40. Entsprechend ist der einzige Hamburger Salsa-Ort in Hamburg, La Macumba, nach einer Diskothek in Havanna benannt. Veranstaltungen in der Salsakultur tragen Namen wie Salsavida, Noche a la Cubana oder Galeria del Latino und verweisen damit auf das Narrativ der Salsakultur von Sex, Spass und Vergnügen.

Körperliche Inszenierungen von Authentizität Es ist eine zentrale These der Performancetheorie, dass das Gelingen und Scheitern der Aufführungen von rituellen Praktiken abhängt.41 Ein wesentliches Element dieser Praktiken ist das Schwellenritual, das den Eintritt in den Tanzraum als Raum der Außeralltäglichkeit markiert.42 Dieses Schwellenritual vollzieht sich vor Ort über eine bestimmte ‚Türpolitik‘, die nur bestimmten Personen den Eintritt in den Tanzraum gewährt. Und es erfolgt im Tanzraum über eine Anzahl von ritualisierten Eingangspraktiken, wie dem Wechsel der Straßenschuhe mit den Tanzschuhen oder der Suche nach einem geeigneten Platz. Anders als die Tango-Szene, die gemeinhin keine einführenden, sondern nur die regelmäßigen Tanzkurse vor der Milonga anbietet, pflegt die Salsaszene ein besonderes Einstiegsritual: Vor Beginn jeder Veranstaltung werden in Crash-Kursen die Grundschritte von einem der drei Tanzstile Salsa, Merengue und Bachata vermittelt, wobei der Grundschritt der Salsa je nach Tanzstil der Tanzlehrer und des Veranstaltungsortes im Cuban-Style oder im New-York-Style unterrichtet wird. Ziel ist, alle ‚Anfänger/innen‘ zum Tanzen zu bringen, selbst wenn dies ohne Figuren und nur mit Grundschritten geschieht. Das Einstiegsritual beginnt aber für die Tanzwilligen schon vor Eintritt in den Tanzraum mit der Vorbereitung auf den Tanzabend. Dazu gehört ein, mitunter hoch ritualisiertes Umkleiden und Schmücken des Körpers, das von 39 Osvaldo Pedro Pugliese (1905–1995) gilt als einer der berühmtesten argentinischen Tangomusiker des 20. Jahrhunderts. 40 Homero Manzi (1907–1951) schrieb viele berühmte Tangotexte der 1930/40er Jahre. 41 Vgl. z.B. Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Sandra Umathum/Matthias Warstat (Hg.), Ritualität und Grenze, Tübingen: Francke 2003; Victor W. Turner: Das Ritual. Struktur und Antistruktur, Frankfurt a. M.: Campus 2000; Richard Schechner: Performance theory, New York: Routledge 1994. 42 Siehe dazu ausführlicher in bezug auf die Clubkultur: Gabriele Klein/Malte Friedrich: »Die Herstellung von Jugend. Vergemeinschaftung als ritualisierte Performanz. Das Beispiel Clubkultur«. In: Erika Fischer-Lichte/u.a. (Hg.), Ritualität und Grenze, S. 219–235. 62

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Vielen bereits als Ereignis mit Anderen zelebriert wird. Dieses mise en scène der Tänzer und Tänzerinnen ist eine Form der Maskerade, ein Identitätsspiel, das subjektiv den Übergang in den Ort der Außeralltäglichkeit markiert. Als körperliche Inszenierungspraxis korrespondiert es mit den räumlichen Inszenierungspraktiken: Auch wenn die Kleidungsstile und Moden differieren, ist in der Salsa-Szene die Kleidung – unabhängig von der Jahreszeit – sommerlich und auf Party ausgerichtet: Frauen bevorzugen sehr knappe, figurbetonte Kleidung in hellen Farben, enge Hüfthosen, kurze bauchfreie Tops, Sneakers oder Stilettos. Die Männer tragen eher weite, legere Hosen, Freizeithemden über der Hose oder auch enge, figurbetonte Oberteile, die, wie bei so manchem ‚Beach-Boy’, die muskulösen Oberkörper sichtbar werden lassen. Die Kleidung der Tangotänzer ist hingegen – auch wenn manche in Jeans und Turnschuhen tanzen – grundsätzlich weniger ‚casual‘, sondern eher stilisiert und konventionell: Tangotänzer präferieren eher dunkle Farben und eine elegante, schlichte Kleidung, Tangotänzerinnen tragen seltener Hosen, sondern eher figurbetonte Röcke aus weichen, fließenden Stoffen, die geschlitzt sind oder weit schwingen, um beim Tanzen nicht einschränkend zu wirken, dazu eng anliegende Oberteile und Tangoschuhe mit hohen Absätzen. Männer tragen vornehmlich Stoffhosen, weiße oder farblich gedämpfte Oberhemden und Lederschuhe. Aber nicht nur mit der Kostümierung, sondern vor allem über die tänzerischen Praktiken erfolgt die Beglaubigung der inszenierten Welt der ‚Andersartigkeit’. Erving Goffman beschreibt die „gegenseitige körperliche Präsenz“43 von Akteuren als Grundlage von Interaktionsordnungen. Als grundlegendes Muster gelten ihm dabei jene Ordnungen, die er als „Handlungen ohne sprachlichen Ausdruck“ versteht, und die „durch unterschiedliche Rituale angezeigt (werden); oder wenigstens neigen Beginn und Ende dazu, gewisse Ritualisierungen heraufzubeschwören.“44 Gerade im Tanz, so zeigen unsere Interviews45, wird diese Vorstellungswelt der fremden – und in diesem Fall der begehrten und weniger als bedrohlich empfundenen – Kultur in der tänzerischen Bewegung als dem eigenen Körper und dem Selbst zugehörig erlebt und, indem der Körper als Authentizitätsgarant gilt, als authentisch ge-

43 Erving Goffman: »Die Interaktionsordnung«. In: Ders./Hubert Knoblauch (Hg.), Interaktion und Geschlecht, Frankfurt a. M.: Campus 1994, S. 55–103, (hier: S. 55). 44 Erving Goffman: Die Interaktionsordnung, 1994, S. 69. 45 Im Laufe des Projektes wurden in Hamburg und Berlin insgesamt 14 leitfadengestützte Einzelinterviews mit zentralen Persönlichkeiten aus beiden Tanzkulturen durchgeführt, die sowohl Tänzer/innen, Tanzlehrer/innen, als auch Veranstalter/innen sind. Die Experteninterviews wurden zu verschiedenen Themenkomplexen wie Globalisierung, Identität, Gefühl, Präsenz und Erfahrung und mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. 63

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glaubt.46 Zudem weisen beide Tanzkulturen – auf unterschiedliche Weise – eine Vielzahl von Ritualisierungen der körperlichen Interaktionsordnungen auf. So zum Beispiel in den Aufforderungsritualen: Während in der Salsakultur die Aufforderungsrituale vor allem gestischen Charakter haben – vom Reichen der Hand, über Heranwinken, bis zum einfachen Ergreifen, Packen und hinterher Ziehen der Tanzpartnerin auf die Tanzfläche -, stellen die Tangotänzer zunächst aus der Distanz Blickkontakt her, vergewissern sich gegenseitig ihres Anliegens, bevor sie auf der Tanzfläche aufeinander zugehen. Diese Praxis vermischt sich in den lokalen Tanzszenen in Deutschland allerdings zunehmend mit den für europäische, bürgerliche Tänze typischen Aufforderungspraktiken, bei denen Männer auf Frauen zugehen, sie um den Tanz bitten und sie auf die Tanzfläche führen. Nach Goffman zeigt sich die Ordnung der Geschlechter in den Ritualen der Interaktionsordnungen: Dabei sind beide Tanzkulturen hinsichtlich ihrer Aufforderungsrituale eher geschlechterkonservativ ausgerichtet, indem die Initiative von den Männern ausgeht. Und obwohl in beiden Tanzszenen häufig sowohl Männer wie Frauen die Rolle des Führens und Folgens lernen und obwohl immer mehr Frauen auffordern und – nicht nur in Europa sondern auch mittlerweile (wenn auch viel marginalisierter) in Buenos Aires - QueerTango Veranstaltungen ein Bestandteil lokaler Szenen geworden sind,47 herrscht in beiden Tanzkulturen eine heteronormative Interaktionsordnung vor. Sie wird in der Salsa-Kultur noch dadurch unterstützt, dass es für Frauen spezielle Tanzkurse gibt, die Lady-Styling-Kurse, in den Frauen gestische Bewegungen und Tanzbewegungen lernen, die als ‚weiblich’ oder ‚sexy‘ kodifiziert sind: Das Spiel mit den – meist langen – Haaren, die grazile Haltung und Bewegung der Hände oder das Betonen der eigenen Körperformen durch das Entlangfahren mit den Händen am Körper. Das von manchen Tango-Autoren48 dem Tango unterstellte Geschlechterspiel, das mitunter gern als als postmodernes Identitätsspiel ausgelegt wird, 46 Die Experteninterviews belegen, dass die Möglichkeit, Präsenz-Erfahrungen zu machen, in beiden Tanzkulturen ein wesentliches Motiv der Tanzenden ist. Vgl. Gabriele Klein/Melanie Haller: »Präsenzeffekte. Zum Verhältnis von Bewegung und Sprache am Beispiel lateinamerikanischer Tänze«. In: Robert Gugutzer (Hg.), Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld: transcript 2006, S. 233–247. 47 Vgl. Magali Saikin: Tango und Gender. Identitäten und Geschlechterrollen im Argentinischen Tango, Stuttgart: Abrazos 2004. Das Queer-Tango Festival in Hamburg gibt es seit dem Jahr 2000 und war weltweit das erste Festival dieser Art (siehe: http://www.queer-tango.de, Stand: 25.7.2008). Im Jahr 2007 fand erstmalig ein Queer-Tango-Festival in Buenos Aires statt (siehe: http:// www.tangoqueer.com, Stand: 25.7.2008). 48 Vgl. z.B. Paula Irene Villa: »Mit dem Ernst des Körpers spielen: Körper, Diskurse und Emotionen im argentinischen Tango«. In: Thomas Alkemeyer/Bernhard Boschert/Robert Schmidt/Gunter Gebauer (Hg.), Aufs Spiel gesetz64

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können unsere Ergebnisse nicht bestätigen: Vielmehr erscheint das Geschlechterspiel eher als eine permanente Bestätigung der heteronormativen Ordnung, indem performativ über verschiedene, in diesem Text skizzierte Strategien der Aktualisierung von Tradition immer wieder Konvention hergestellt wird.

Die Herstellung von Differenz Wenn auch die oben genannten räumlichen und körperlichen Inszenierungspraktiken dominieren, so wäre es falsch, auf lokaler Ebene homogene Szenen und Praktiken anzunehmen, vielmehr sind beide Tanzkulturen auch auf lokaler Ebene höchst ausdifferenziert.

Differenzen innerhalb der lokalen Szenen Die lokale Salsa-Szene differenziert sich entlang der Tanzstile: New York-, Los Angeles-, Miami-, Puerto Rican- oder Cuban-Style, wobei die cheek-tocheek49-Variante des Cuban-Style den standardisierten, stilisierten, schnelleren und sportlichen New York-Styles, Miami-Styles und des LA-Styles gegenübersteht. Die Stile charakterisieren dabei auch die Veranstaltungsorte, an denen die jeweiligen Lehrer unterrichten. Die Erzählung darüber, welchen Stil man tanzt, spielt eine große Rolle für die lokale und personale Identität. Den einzelnen Tanzstilen werden Eigenschaften zugewiesen: So gilt der CubanStyle als ‚ursprünglich‘ und als ‚einfach‘, der New York-Style als ‚elegant‘ und ‚ruhig‘, der LA-Style als ‚schnell‘ und ‚sportlich‘, wobei betont wird, dass der Cuban-Style als Ursprung der Salsa gilt. Auch die globalisierte Salsakultur hat demnach einen nationalen Referenzrahmen hergestellt, indem sie den Ursprung als ‚kubanisch‘ bezeichnet, obwohl sie selbst, wie die Orts-Namen der einzelnen Stile belegen, sich in US-amerikanischen Städten seit den 1970er Jahren entwickelt hat. Im Unterschied dazu differenziert sich die lokale Tangoszene nicht entlang von spezifischen Tangostilen, da in jeder Location mehrere Stile wie Milonga, Vals oder Tango de Salon getanzt werden.50 Hier bestehen die Diffe-

te Körper: Aufführungen des Sozialem in Sport und populärer Kultur, Konstanz: UVK 2003, S. 133–156. 49 Cheek to cheek meint eine körpernahe mit wenigen Figuren getanzten Salsa Cubana, bei der die beiden tanzenden Körper sich eng aneinander schmiegen. 50 Die Tanzstile orientieren sich an den unterschiedlichen Musikrichtungen des Tangos, die während der Tanz-Veranstaltungen in Musikblöcken – den sogenannten Tandas – gespielt werden. Die Differenz zwischen den Tanzstilen besteht in der Enge und Weite der Haltung der Tanzpaare, der Schnelligkeit des Tanzens und der Virtuosität und Sportlichkeit der getanzten Figuren oder Ver65

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renzen eher in der Ausrichtung der Tanzschulen, die sich an verschiedene tanzhistorische Phasen des Tango anlehnen: vom klassischen Tango der 1940er und 1950er Jahre bis zudem in den 1990er Jahren entstandenen Neotango. Entsprechend richtet sich der Tangounterricht – anders als der an festgelegten Tanzstilen orientierte Salsa - Unterricht – nach den individuellen Stilen der Lehrer. Ihr tänzerisches Wissen und Können, ihre Erfahrung und ihre Empathie gelten als Garanten für den Inhalt und die Qualität des Unterrichts. Entsprechend dieser, an eine Einzelperson gebundenen Vermittlungsweise, die auch den modernen Kunsttanz, aber auch den HipHop kennzeichnet, genießt der Tangolehrer eine viel größere Autorität und ein höheres Ansehen als der Salsalehrer, dessen Persönlichkeit und Charisma eine geringere Rolle spielt, und der eher als Vermittler, als Bote einer bestimmten Technik wahrgenommen wird. Tango-Schulen sind umso mehr bemüht, angesehene Lehrer anzuwerben, zumal die Tango-Tänzer bereit sind, für einen erfahrenen Lehrer weit zu reisen. In beiden Szenen wird Erfahrung, Empathie und tänzerisches Wissen und Können häufig mit ‚Authentizität’ verknüpft. So stammen die ‚Global Player’ unter den Tanzlehrern - ebenso wie andere, in den Szenen professionell Tätige wie Showtänzer, Musiker, Veranstalter oder DJs - aus den ‚Ursprungsländern’ der Tänze51; Werbung mit argentinischen Tanzlehrern oder kubanischen Salsalehrern ist – vor allem bei großen Salsa- und Tangofestivals - keine Seltenheit, wobei auch hier auf die Städte Buenos Aires oder Havanna/New York als ‚Ursprungsorte’ verwiesen wird. Diese permanenten Verweise auf kulturelle Andersartigkeit und Ursprünglichkeit52 sind Muster einer performativen zierungen. So wird die Milonga in sehr enger Körperhaltung mit schnellen Schritten und wenigen Figuren oder Verzierungen getanzt, während der Tango de Salon ein langsamerer Tanzstil ist, der aufgrund der getanzten Verzierungen und Figuren mal in engerer, mal in weiterer Haltung getanzt wird. Tango-Vals ist die musikalische Walzer-Variante des Tangos, die meist ohne die typischen Pausen im Tango sehr schnell getanzt wird. Vgl. dazu ausführlicher Nicole NauKlapwijk: Tango-Dimensionen, München: Kastell 1999; Monika Elsner: Das vier-beinige Tier. Bewegungsdialog und Diskurse des Tango Argentino, Frankfurt a. M.: Lang 1998. 51 Auf den Internetseiten der Tanzschulen oder Veranstaltungsorte wird entsprechend auf Ikonen beider Tanzkulturen verwiesen. In der Tangokultur sind das ‚Tangomeister‘ wie Gustavo Naveira, Antonio Todaro, Pepito Avellaneda und Pablo Veron (Darsteller in Sally Potters Film Tangolession) oder Nicole Nau (bis 2001: mit Ritsaert Klapwijk als Ricardo y Nicole; heute: mit Luis Pereyra). In der Salsa-Szene dominiert der Bezug zu Tanzlehrern aus Lateinamerika vor allem bei Tanzlehrern der beiden Tanzstile des New York Style und des LA-Style, während auf den Seiten die explizit Cuban-Style unterrichten, kaum Namen erwähnt werden. Zentrale Namen für den New York-Style sind Eddie Torres, Angel Ortiz und Frankie Martinez, für LA-Style Johnny Vasquez oder Eddie The Salsa Freak. 52 Dies betrifft auch New York als Einwanderungsort der Exil-Kubaner. 66

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Hervorbringung und Legitimation von ‚Echtheit‘. Als solche sind sie Bestandteile für die Produktion von Ursprungsmythen einerseits und die Legitimierung der lokalen Tanzszenen andererseits. Sie sind zudem als Muster einer kulturellen Essentialisierung zu begreifen, bei der kulturelle Praktiken (wie das Tanzen), soziale Welten (wie die Sozialwelt Tango) und die Kompetenzen der Akteure (der Tanzlehrer) naturalisiert werden. Und gerade diese Praktiken der Essentialisierung und Naturalisierung, die auf der einen Seite ein globales Netz translokaler Praktiken erst ermöglichen, erscheinen auf der anderen Seite als postkoloniale Strategien, über die kulturelle Differenz und ‚Andersartigkeit‘ verfestigt wird.

Soziostrukturelle Differenzen Obwohl beide Tanzszenen als multikulturelle Szenen wahrgenommen werden, so ein Ergebnis unserer Interviews, zeigt unsere repräsentative Konsumentenerhebung53, dass, anders als bei den professionell Tätigen, etwa die Hälfte der Personen in der Salsa-Szene (49,3%) und über 2/3 in der Tangoszene (79,8%) ebenso wie ihre Eltern deutsche Staatsangehörige sind. Die Tangoszene repräsentiert damit ungefähr den Bevölkerungsdurchschnitt der Stadt Hamburg, die im Dezember 2007 einen ‚Ausländeranteil‘ von ca. 15% an der Gesamtbevölkerung aufwies,54 während die Salsa-Szene eine Enklave für Menschen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit bildet, wobei hier die meisten mit 30,6% aus europäischen Ländern stammen.55 Auch bestehen starke Differenzen zwischen dem sozialen Image der Szene und deren tatsächlicher schichtspezifischer Zusammensetzung. Denn entgegen der gängigen Auffassung, dass die Tangokultur und die Salsakultur sich sozial unterscheiden, die Tangokultur sich eher aus einem bürgerlichakademischen Milieu und die Salsaszene sich eher einem (klein)bürgerlich53 Im Rahmen des Projektes wurde in beiden Tanzkulturen eine quantitative Befragung unter insgesamt 685 Konsument/innen durchgeführt. In dem vierseitigen standardisierten Fragebogen wurden sozialdemographische Eckdaten, Einstiegsmotivation zum Tanz; Dauer der Beschäftigung mit Tango resp. Salsa, die Häufigkeit des Tanzens; räumliche Mobilität, die für den Besuch von Tanzveranstaltungen im In- und Ausland in Kauf genommen wird; Motive, Tanzveranstaltungen aufzusuchen, die Informationsquellen für Veranstaltungen; Kenntnisse und Praxis der Tanzstile, die Assoziationen zum Tanz sowie eine Überprüfung der Expert/innenaussagen abgefragt. Der Fragebogen wurde mit Hilfe von SPSS nach dem Verfahren der deskriptiven Statistik ausgewertet. 54 Im Dezember 2007 waren in Hamburg 257.825 ‚Ausländer‘ gemeldet, die sich auf 183 Staatsangehörigkeiten verteilten, wobei die Gruppe der Türken bereits 15%, der Polen 8% und der Afghanen 5% umfasste. 55 Der Anteil der Lateinamerikaner/innen ist insgesamt gering. So hatte Berlin im Jahr 2004 mit ca. 6.500 Personen die größte lateinamerikanische Community in Deutschland. 67

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proletarischen Milieu zusammensetzt und sich hier eher Menschen mit Migrationshintergrund zusammenfinden, zeigt unsere repräsentative Konsumentenbefragung eher andere Ergebnisse: In beiden Tanzkulturen bewegen sich mehrheitlich Personen, die sich einem bürgerlichen Milieu zuordnen lassen.56 57% der von uns interviewten Tango-Tanzenden und 49,8% der Salsatänzer haben einen Hochschulabschluss, 31% der Tangotanzenden und 30,3% der Salsatanzenden einen gymnasialen Abschluss oder Fachhochschulreife; diejenigen Befragten, die berufstätig sind57, sind dies zu 43,2% in der Salsa- und zu 38,7% in der Tangoszene im Angestellten- oder Beamtenverhältnis. Eine weitere Diskrepanz besteht zwischen dem Ruf der Tänzer/innen, räumlich mobil zu sein und für Tango- bzw. Salsaveranstaltungen viel zu reisen, und der tatsächlichen Ortsgebundenheit. So besuchen die meisten Tangotänzer die etablierten Locations vor Ort – und das sehr regelmäßig. In der lokalen Tangoszene gehen 68,6% 1-3-mal pro Woche tanzen. Festivals, Workshops und Milongas an anderen Orten im Inland oder im Ausland werden von knapp einem Drittel aller Tangotänzer aufgesucht.58 Ähnlich die Salsatanzenden: Auch hier ist eine Fokussierung auf die Tanzmöglichkeiten vor Ort festzustellen. Hier gehen 60,2% 1-3-mal und 18,2% 3-5-mal pro Woche tanzen. Festivals, Workshops und Salsapartys an anderen Orten im Inland oder im Ausland werden in der Salsaszene ebenfalls von einem Drittel der Befragten besucht.59 Ein Drittel der Tänzer/innen aus beiden Szenen ist also räumlich mobil, pflegt translokale Netzwerke und reist zu Tanz-Locations oder Tanz-Events, die entweder durch Tanzlehrer ‚Authentizität‘ versprechen und/oder sich durch die Inszenierung der Locations an die ‚Ursprungsorte‘ anlehnen.

56 Dies sind in absoluten Zahlen in unserer Konsumentenerhebung in der Tangoszene 301 von 347 befragten Personen und in der Salsaszene 265 von 338 befragten Personen. 57 Zum Zeitpunkt der Befragung waren in der Tangoszene insgesamt 92,3% berufstätig und in der Salsaszene 96,2%. 58 70,8% der Befragten aus der Tangoszene (N=347) besuchen keine Festivals im Ausland, 20,3% besuchen 1-mal pro Jahr und 8,3% 2-5-mal ein Festival im Ausland; an Workshops im Ausland nehmen 1 bis 2-mal pro Jahr 24,7% und an Milongas nehmen 1 bis 2-mal pro Jahr 27,7% teil. 59 In der Salsaszene (N=338) besuchen 57,8% der Salsatanzenden keine Festivals im Ausland, 23,4% besuchen 1-mal pro Jahr und 15,3% 2-mal pro Jahr ein Festival im Ausland; an Workshops im Ausland nehmen 16,6% einmal pro Jahr und 10,1% 2-mal pro Jahr teil; Salsapartys werden von 14,2% einmal pro Jahr und von 13,6% 2-mal pro Jahr besucht. 68

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Urbane Tanzräume: Orte der Transkulturalität? „Meines Erachtens ist die Verbindung zwischen Imagination und sozialem Leben zunehmend eine globale und immer mehr enträumlichte.“60 Folgt man diesem Statement Arjun Appadurais, sind die Vorstellungen von Lebensstilen und Lebensentwürfen zunehmend räumlich dekontextualisiert, d.h. von den lokalen kulturellen und sozialen Kontexten gelöst und in das Netzwerk eines globalen Imaginären eingespeist. Demnach sind Sozialwelten unabhängig von den jeweiligen kulturellen, lokalen Gegebenheiten weltweit herstellbar: ‚Havanna‘ oder ‚Buenos Aires‘ beispielsweise sind – wie alle Städte – mit spezifischen sozialen Imaginationen des Städtischen und mit urbanen Lebensstilmustern verbunden. Diese, über Bilder global zirkulierenden kulturellen Muster sind ein Indiz dafür, wie obsolet im Zuge von Migration und globaler Kommunikation nationalstaatliches Denken über Kultur geworden ist. Tänze wie Salsa und Tango zeigen exemplarisch, dass sie nicht auf einen Ursprung oder auf eine nationale Tradition zurückführbar sind, sondern eher aus verschiedenen lokalen kulturellen Traditionen stammen und durch verschiedene räumliche Einflüsse geprägt sind. Es ist demnach auch aus historischer Perspektive geboten, eher lokale und regionalspezifische Traditionen zu betonen. Nationale Zuschreibungen wie ‚Tango Argentino‘ hingegen verweisen auf Politikstrategien, die nationalstaatliche Identitäten stärken wollen, und auf diese Weise Homogenität und Separiertheit produzieren, wo eher Heterogenität und Hybridität vorherrschen. Gerade in Städten – auch bereits in Städten der Antike – mischen und verästeln sich Kulturen vielfältig. Von daher erscheinen nach unserem empirischen Material weder Konzepte haltbar, die von Interkulturalität oder Multikulturalität sprechen und an der Idee einer Einheitlichkeit von Kultur festhalten, noch können die in Städten vorhandenen Kulturen auf einen Ursprung zurückgeführt werden. Die städtischen Tanzkulturen Tango und Salsa sind durch Muster der Transkulturalität und kulturellen Hybridität geprägt, die wiederum durch eine Pluralisierung der Lebensstile und durch eine Vielzahl kultureller Vernetzungen gekennzeichnet sind. (Alltags-)kulturelle Praktiken wie das Tanzen sind als transkulturelle Praktiken zentrale Bestandteile der sozialen Imaginationen globalisierter Städte. Sie leisten nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Hervorbringung der Bilderwelt einer bestimmten Stadt wie Buenos Aires – ähnlich wie Wien mit dem Walzer, London mit Punk, New York mit HipHop oder Berlin mit

60 Arjun Appadurai: »Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie«. In: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 11–40, (hier: S. 24). 69

GABRIELE KLEIN/MELANIE HALLER

der Love Parade verbunden wird61- und werden damit zum Indiz einer ästhetisch gewendeten Urbanität, zu einem urbanen Lebensstilmuster. Diese Urbanität ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden: Café Buenos Aires oder die Galeria del Latino sind überall auf der Welt lokalisierbar. Es sind Namen für transkulturelle und translokale Orte, die ihre globalen Vernetzungen dadurch herstellen, dass sie die soziale Bilderwelt der Tanzkulturen in räumlichen Inszenierungen und körperlichen Aufführungen performativ hervorbringen und glaubhaft in Szene setzen. In den Praktiken des Tanzens werden diese, den imaginierten Sozialwelten der Tänze zugeschriebenen und weltweit zirkulierenden, urbanen Lebensstilmuster körperlich-sinnlich erfahrbar. Im Tanzen liegen von daher Potentiale einer transkulturellen Subjektivität, 62 die nicht mehr durch eine einheitliche Subjektkultur und Subjektordnung gerahmt ist und sich damit anders kontextualisiert als Andreas Reckwitz die Subjekttypen der modernen Gesellschaft gekennzeichnet hat.63 Diese Subjektivität lässt sich deshalb als transkulturell beschreiben, weil hier ‚Andersartigkeit‘ nicht über die Grenze der Identität gebildet wird und damit auf eine egologische Vereinnahmung des Anderen, auf eine Nutzung des Anderen als Projektion des Selbst angelegt ist. Vielmehr liegen die Potentiale des Tanzens in dem, was Emmanuel Levinas als „heteronome Erfahrung“64 beschrieben hat, als eine Erfahrung, die auf Transzendenz und nicht auf Immanenz, auf einen Aufbruch zum Anderem und weniger auf eine Rückführung auf das eigene Selbst, auf Empfangen des unverstehbar und abwesend Anderen im Sinne einer Infragestellung des Selbst und einer Überschreitung der eigenen vertrauten Welt angelegt ist. Tanzen – und hier vor allem das Paartanzen – ermöglicht die Überschreitung von ‚Ich‘ und ‚Du‘ in dem Sinne, dass der Andere nicht mehr ‚nur‘ als Repräsentation (von Geschlecht, Alter, Ethnizität, Klasse etc.) erfahren wird, sondern in der tänzerischen Bewegung ein Überschuss angelegt ist, der nicht auf Verstehen, Erklären, Enthüllen hinausläuft, sondern das ist, was die Erfahrung von Präsenz genannt werden

61 Vgl. Gabriele Klein: »Transnationale und urbane Tanzkulturen. Ein Streifzug durch urbane Szenen«. In: Dirk Villányi/Matthias D. Witte/Uwe Sander (Hg.), Globale Jugend und Jugendkulturen. Aufwachsen im Zeitalter der Globalisierung, Weinheim/München: Juventa 2007, S. 283–299. 62 Zur Subjektkonstitution im Tanz siehe: Gabriele Klein/Melanie Haller: »Die ‚Natur der Subjekte‚: Subjektivierungsprozesse im Tanz«. In: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt a. M.: Campus 2008, CD-Rom. 63 Vgl. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006. 64 Vgl. Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen, S. 211. 70

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kann. Tanzen birgt deshalb diese Potentiale in sich, weil die tänzerische Bewegung weniger eine regulierende Bewegung eines Ich ist (obwohl sie dies zweifelsohne bei manchen Tänzern sein kann), sondern eine Bewegung, bei der das Ich der Bewegung untergeordnet ist. Die tänzerische Bewegung selbst ermöglicht demnach in ihrer permanenten uneinholbaren Andersartigkeit „heteronome Erfahrung“. Ob diese Potenziale wirksam werden, hängt davon ab, wie die Erfahrung des Tanzens gedeutet und der Tanzraum wahrgenommen wird. Unsere empirischen Materialien belegen, dass bei dem im Tanz angelegten Spiel von Immanenz und Transzendenz eher die Immanenz überwiegt, insofern als die Deutung des körperlich Erfahrenen auf Muster von ‚Ich‘ und ‚Du‘ zurückgreift.65 So wird die Erfahrung des Salsa- und Tangotanzens als das ‚Andere‘, weil dem körperfeindlichen und technisierten europäischen Gesellschaften Fremde erlebt, das körperlich einverleibt – und damit assimiliert – wird. Aus dieser Perspektive lässt sich die diskursive Verortung der tänzerischen Erfahrungen eher als postkoloniale Zuschreibungen deuten, bei denen das ‚Andere‘ als Bestätigung der eigenen Identität – als personale und als kulturelle Identität (‚der Westen‘ oder ‚weiße Europäer‘) – verstanden wird. Im diesem Sinne erscheinen auch der ‚Latino‘ oder der ‚Macho‘ als Subjekttypen, die sich erst über postkoloniale Zuschreibungen kultureller Andersartigkeit globalisiert haben, indem anhand kultureller Merkmale wie Namen, Sprache oder Herkunft Essentialisierungen vorgenommen und Exotisierungen provoziert werden. Auch dies sind Strategien postkolonialer Gesellschaften, die zu globaler Mythenbildung von ‚kultureller Authentizität‘ beitragen.

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65 Vgl. Gabriele Klein/Melanie Haller: »Bewegtheit und Beweglichkeit. Subjektivität im Tango Argentino«. In: Margrit Bischof/Claudia Feest/Claudia Rosiny (Hg.), e_motion, Münster: Lit 2006, S. 157–172. 71

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Sic h Bew ege n in de r Sta dt. Eine Be sic htigung mit Ma urice Me rlea u-Pont y JÜRGEN FUNKE-WIENEKE

F u ß g ä n g e r s W el t Hamburgs Innenstadt. Morgendliche rush hour in und um den Bahnhof Dammtor. In der großen Halle laden die S-Bahnen ihre Menschen ab. Unentwegt zischen Zugtüren, schrillen Pfiffe, blasen Lautsprecher verzerrte Aufforderungen in die Gegend. Hin und wieder fliegt eine Taube dicht über die Köpfe der Ausgestiegenen, die erschrocken zusammenzucken. Wie ein Fischschwarm in der Reuse stauen sich Menschen unter den Abgangspergolen. Ein fester Mittelkern, unruhige Ränder. In dünnen Linien sortieren sie sich auf die abwärts fahrenden Rolltreppen, gleiten wie eingezogen in ihren persönlichen Haltungen hinab, verwirbeln sich wieder in ein dichtes Durcheinander sich kreuzender Wege und Absichten zwischen den Läden der Ausgangshalle. Draußen auf dem Gehweg bilden sie dicke Trauben vor den Ampeln. Von der linken Seite schießen Radfahrer auf sie zu und wollen sich noch auf dem von den Fußgängern bereits überströmten Radweg freie Fahrt erzwingen. Ein Vorhaben, das bald gelingt, bald scheitert. Schon vor dem Ampelgrün, auf die ersten Anzeichen der Verlangsamung der Autos hin, schieben sich die Versammlungen gemeinsam erst bis zur Mittelinsel zwischen den Fahrbahnen, dann, in der nächsten Phase auf die andere Straßenseite und die letzten Zugehörigen betreten jeweils den Zebrastreifen noch während das Rot wieder erscheint und im fünfreihigen Autokorso ungeduldig die Gaspedale niedergetreten werden. Drüben auf den breiten Kastanienalleen und in dem angrenzenden Park zerstreuen sich schließlich die großen Menschenhaufen in kleinere Pulks: Führungsgruppen, Mittelfeld, Nachhut. Sich Bewegen in der Stadt: Eine Kunst, ein Kampf, ein Widerfahrnis? Allen Akteuren ist es geläufig durch Übung und Erfahrung. Geläufig als Können, nicht als ein Sich bewusst Sein. Von zu Hause in die Bahn. Aus der Bahn 75

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zum Arbeitsplatz. Immer mehr ins Dichte geraten, eingezwängt werden zwischen Leuten mit gleichem Weg und gleicher Absicht. Das lockere, offene Gehen im freien Feld der Wohnumgebung zwangsläufig münden lassen im Gewühl des Bahnhofs und seiner Straßenübergänge. Wie gefangen sein, nicht mehr recht vorankommen, ein- und angehalten werden von anderen Personen, Ampeln, engen Treppenhäusern, den heftigen Radfahrern und dem Strom der Automobile. Sich Bewegen ist nun ein stoßweises Vorandrängen, Bremsen, Mitschwimmen. Einen, der überholen will, abblocken, selbst abgestreift werden von jemandem, der meinen Weg schließt und mich auf einen Anderen, einen wogenden Mantel über wogendem Fleisch, zudrängt. Es heißt Lücken suchen und hinein stechen, Vortritt gewähren und gewährten Vortritt geistesgegenwärtig erkennen und annehmen. Sich umeinander herum winden, sich fest machen, um den Körperkontakt zu neutralisieren, der einem aufgezwungen wird. Sich an der Rolltreppe anstellen. Aktiv sein dabei, von der Seite herangehen, immer in der Außenkurve, wo es fließt, und nicht innen, wo es staut. Oder sich seinem Schicksal überlassen, hinnehmen, was geschieht, das eigene Bewegen dem der Anderen übereignen. Mit steifem, überstreckten Rücken ein imaginäres oder tatsächliches Wehr gegen die nachdrängenden Menschenwellen errichten. Am Übergang von Plafond und Rolltreppe die Fahrt der flach voraus laufenden Stufen taxieren, dabei ein wenig im Schritt verhalten, bevor man ihn setzt und sich in diesem Augenblick das Gleitgefühl bewährt, das den Entschluss geführt hat. Eben noch sich vorbereitend auf diesen Übergang schon den Stoß der Folgenden im Rücken spüren, ohne ihn bereits empfangen zu haben. Links gehen, rechts stehen! Der eigenen Eile geschuldet – oder dazu gedrängt – zum Überholen ansetzen, einige, wenige Schritte lang geschwinder in die Tiefe gezogen werden bis zum nächsten, notorischen Linkssteher. Ihm die eigene Nähe zu spüren geben, ohne etwas zu sagen. Ein geschwelltes Leibesdrohen an ihn anbranden lassen. Erfolg haben oder scheitern und selbst zum Hindernis werden und sich panzern gegen die Überholer nach einem. Im Durcheinander in der Ausgangshalle wieder anfangen mit streben, kreuzen, Schatten- und Paarlaufen. Bestürzt seines plötzlichen Gleichklanges mit einem Andern im anonymen, gemeinsamen Bewegen gewahr werden. Diesen unziemlichen Akt intimer Zweisamkeit mit dem Fremden aus der Welt schaffen. Unbefangen gehen, dem Einschwingen in den Zug des gemeinsamen Rhythmus widerstehen. Anstand als Synkope. So gelangt man endlich bis zu jenen letzten, nahezu ritterlichen ‚aventuiren’, die der Bewegungsalltag beschert, den Abenteuern der Straßenquerung. Sie versäumt man nur, wenn man sich in den Schutz der trägen Menschentraube einschließen lässt, die da hinüberwabert, sobald es an der Zeit ist. Aber an ihrem Rand und ihrer Frontlinie, da rangeln wir um den rechten Startplatz, da suchen wir schon die Richtung, in die wir uns schnellen können, um nicht nur bis zur Mittelinsel, sondern, gegen das so rasch eintretende Umspringen der zweiten 76

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Ampel noch darüber hinaus zu gelangen und beide Fahrbahnen in einem Zug zu überwinden. Dort auch entwickelt sich das Gespür für den Zustoß des herannahenden Radfahrers, bevor man ihn in sein Gesichtsfeld bekommt, weil unser Horizont umschrieben ist vom konzentrierten Blick auf die Ampel, und ihr alles besetzendes Startsignal. Und in manchem spannt sich der Leib für jenen hasardierenden Slalom durch die noch auf ihren Fahrbahnen mit wechselnden Tempi dahinziehenden Fahrzeuge, mit dem die Mutigsten der Stadtindianer über ihre Gegend triumphierend verfügen.

Die Ermutigung des Maurice Merleau-Ponty Den Mut, einer Leserschaft von Wissenschaftlern diese Szene zu schildern, in meine persönlichen Worte zu fassen, wie ich jene Momente des Übergangs aus der Bahn in die Rothenbaumchaussee erlebe, wenn ich morgens aus meiner kleineren Stadt ins große Hamburg komme, nehme ich mir, weil mich Sätze wie diese beeindruckt haben und ich mir einbilde, sie nicht ganz misszuverstehen: „Philosophie heißt in Wahrheit, von neuem lernen, die Welt zu sehen, und insofern kann eine schlichte Erzählung – erzählte Geschichte – ebenso ‚tief’ die Welt bedeuten, wie eine philosophische Abhandlung. Nicht allein durch die Reflexion nehmen wir unser Geschick in die Hand und verantworten unsere Geschichte, ebenso sehr durch einen Entschluß, der unser Leben einsetzt, und hier wie dort geschieht ein Akt der Gewalt, der durch die Tat sich bewährt.“ 1 Selbstverständlich ist in diesem Zitat, das sich am Ende des Vorworts zur „Phänomenologie der Wahrnehmung“ findet und dort schon eine Summe zu der Frage zieht, was Phänomenologie insgesamt heißen und sein kann, etwas Weitreichendes zu menschlicher Geschichte und Philosophie angesprochen, das sich hoch hinaus erhebt über die bloße Rechtfertigung meines Entschlusses zu einer kleinen, den Regeln objektivierender Wissenschaft widersprechenden Schreibtat, für die ich keineswegs im emphatischen Sinne „mein Leben einsetze“. Ich setze es bloß in der Weise ein, dass ich es bin, der dieses schreibt, und ohne mich der Text und seine Sichtweise nicht in die Welt käme. Ich riskiere es nicht. Merleau-Pontys Meinung aber trägt auch dies. Er versöhnt durch seine Einsicht, dass Geschichten erzählen, Eindrücke schildern und eine philosophische Abhandlung schreiben gleichermaßen „Gewaltakte“ sind, insofern gleichermaßen als „Taten“ gelten müssen, die auf willkürlich gefassten Entschlüssen beruhen, das Große, das weit und tief Greifende mit dem Kleinen, Schlichten, Erzählung mit Philosophie, persönlichen Bericht mit wissenschaftlicher Arbeit. 1

Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1966, S. 18. 77

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Ich rechtfertige mein Unternehmen damit, dass dieser Bericht – und das, was ich ihm an Interpretationen noch abzugewinnen trachte – geeignet ist, mir und anderen die „Welt“ neu zu erschließen. An dieser Möglichkeit will ich festhalten. Beurteilt nach den Zeugnissen der Bewegungsforschung ist der ‚Bewegungsraum Stadt‘ in der hier geschilderten Weise kaum bekannt. Sie weiß von solchen Szenen und ihrem eigentümlichen Bewegungsstil noch so gut wie nichts, obwohl nicht wenige dieser Forscher, mich eingeschlossen, selbst täglich ihre Institute auf diese oder ähnliche Weise erreichen. Das liegt daran, dass Bewegungsforschung vor allem stattfindet als Erforschung sportlicher Bewegungen und Disziplinen und ihr das alltägliche Sich Bewegen nicht anders zum Thema wird als in einem von vornherein für defizient erklärten Modus des unsportlichen oder noch nicht sportlichen Handelns und Verhaltens. So gesehen zieht ein Stadtmarathon, ziehen die Spektakel einer „Sportstadt Hamburg“ alle Aufmerksamkeit auf sich und die Ausdauer, Mühsal, Eleganz und auch Kampfbereitschaft, mit der wir Alltagsmenschen jeden Tag wieder uns durch die Schleusen des Bahnhofs drücken, verschwindet im Dunkel des Unerheblichen. Es liegt auch daran, und das betrifft dann auch den Umgang mit sportlich sich bewegenden Menschen, dass sich die Welt der Bewegungswissenschaft abspaltet von gewissen Erfahrungen der Wissenschaftler, die sie betreiben. Sich klar darüber zu werden, wie das eigene, alltägliche Sich Bewegen maßgeblich beschaffen und gerahmt ist, könnte dazu verhelfen, den Boden zu finden, auf dem wir, Städter allesamt, immer schon stehen, wenn wir die menschliche Bewegung in der gewohnten Weise bedenken und erforschen.

Die Räumlichkeit des eigenen Leibes i n d e r B ew e g u n g Befinde ich mich im Gedränge der Menschen vor dem Treppenabgang oder inmitten der Menge, die die Fahrbahn überquert, so bin ich darauf ausgerichtet, Abstand zu wahren, nicht anzustoßen, in den sich vor mir auftuenden Platz den nächsten Schritt zu setzen, zugleich auch vor den Nachdrängenden vorweg zu kommen, dass sie mir nicht in den Rücken fallen und mich stoßen. Schützend halte ich meine Aktentasche vor meinem Rumpf fest wie einen Brustpanzer, wenn es zu eng wird, lasse sie wieder sinken, wenn die Vorderleute mir mehr Platz lassen. Wie viel Platz ich habe und für meine Bewegungen brauche, wie weit weg die Anderen sind, wo meine Aktentasche ist, woher ich sie nehme und wohin ich sie wieder sinken lasse, all dies bedarf keines Nachdenkens. Ich vollziehe es bloß, geführt von meiner Absicht, in dem Gedränge voranzukommen und nicht eingeklemmt zu werden. Wir könnten hier von einer spezifischen Erfahrung meines Körpers zwischen anderen Körpern

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zu sprechen versucht sein.2 Jedoch ist das eine Objektivierung dieses Geschehens, die von der Erfahrung selbst schon abstrahiert. Es ist gewiss, dass ich im Fluss der Menschenmenge meines Körpers nicht gewahr bin als eines Objektes unter anderen Objekten und meiner Hand nicht versichert bin durch ein Bewusstsein von ihrer Lage in Relation zu meinem Rumpf und der Antizipation einer Bewegungsstrecke, die das Heranführen der Aktentasche durchmessen muss. Merleau-Ponty diskutiert das kritisch im Hinblick auf den einschlägigen Begriff des „Körperschemas“, der zunächst als Abbild meines Körpers die Lage aller seiner Teile zueinander widerspiegeln sollte und als ein Bild der räumlichen Ausdehnung meines Körpers seinen Platzbedarf in Bezug zur Umgebung und ihren Objekten abstecken sollte. Wir finden diesen Begriff z.B. eingekleidet in sog. Körperschema – Übungen in der Psychomotorischen Praxis wieder, wenn Kinder aufgefordert werden, die Umrisse ihres Körpers zu zeichnen oder sich ein Bohnensäckchen auf vom Lehrer bezeichnete Körperstellen zu legen.3 Merleau-Ponty weist auf ein Ungenügen eines solchen statischen, objektivistischen Begriff des Körperschemas hin, der auf die Position des Körpers abhebt, und verweist auf weiterführende psychologische Befunde. „So sagen die Psychologen häufig, das Körperschema sei dynamisch. Wird dieser Begriff präzisiert, so besagt er, dass mein Leib mir als Bereitstellung für diese oder jene mögliche Aufgabe erscheint. Und in der Tat ist seine Räumlichkeit nicht, wie die äußerer Gegenstände […] eine Positionsräumlichkeit, vielmehr Situationsräumlichkeit. Wenn ich, an meinem Schreibtisch stehend, mich mit den Händen auf seine Platte stütze, so sind allein meine Hände akzentuiert, und mein ganzer Körper hängt ihnen gleichsam bloß an, wie ein Kometenschweif. Nicht dass ich die Lage meiner Schultern und meiner Lenden nicht wüsste, doch sie ist in die meiner Hände bloß eingeschlossen, meine ganze Stellung ist gleichsam aus der Stützung meiner Hände auf dem Tisch abzulesen. Halte ich, aufrecht stehend, in der geschlossenen Hand meine Pfeife, so ist die Lage meiner Hand nicht analytisch bestimmt etwa durch die von Hand und Unterarm, Unter- und Oberarm, Arm und Rumpf und endlich Rumpf und Boden gebildeten Winkel. Vielmehr weiß ich mit absolutem Wissen, wo meine Pfeife ist, und daher weiß ich, wo meine Hand, wo 2

3

So meint Frers, dass von Menschen auf einer dicht besetzten Treppe „außer den Stufen und dem Geländer fast nur die wenige Zentimeter entfernten Leiber, Rucksäcke, Koffer und Fahrräder wahrgenommen werden.“ Lars Frers: Einhüllende Materialitäten. Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals, Bielefeld: transcript 2007, S. 82 Vgl. z.B. Philipp Atzenbeck/Georg Kuhn: »Einführungsstunde zum Thema Körpererfahrung in der Grundschule«. In: Günter Köppe/Jürgen Schwier (Hg.), Grundschulsport und neue Sportarten, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2001, S. 201–213; Sigrid Dordel: Bewegungsförderung in der Schule. Handbuch des Schulsonderturnens/Sportförderunterrichts, Dortmund: Modernes Lernen 1987, insbes. S. 286–293. 79

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mein Körper ist […] Auf meinen Leib angewandt, bezeichnet das Wort ´hier´ nicht eine im Verhältnis zu anderen Positionen oder zu äußeren Koordinaten bestimmte Ortslage, sondern vielmehr die Festlegung der ersten Koordinaten überhaupt, die Verankerung des aktiven Leibes in einem Gegenstand, die Situation des Körpers seinen Aufgaben gegenüber. Der Körperraum vermag seine Teile einzuschließen, anstatt sie auseinanderzulegen, und also sich vom Außenraum zu unterscheiden, weil er gleich der zur Sichtbarkeit des Schauspiels erforderlichen Dunkelheit des Saales […] gleich […] der vagen Kraftreserve ist, von der alle Gesten und ihre Zwecke sich abheben, eine Zone des Nicht-Seins, vor welcher bestimmtes Sein, Figuren und Punkte, erst zur Erscheinung zu kommen vermögen. Letzten Endes kann mein Leib nur insofern eine ‚Gestalt‘ sein und kann es vor ihm nur ausgezeichnete Figuren auf gleichgültigem Untergrunde geben, als er auf seine Aufgabe hin polarisiert ist, auf diese hin existiert und auf sich selbst sich zusammennimmt, um sein Ziel zu erreichen; dann aber ist das Körperschema letztlich nur ein anderes Wort für das Zur-Welt-Sein meines Leibes.“4 Es ist danach für das Mich Bewegen im Gedränge charakteristisch, dass ich mich auf rasch wechselnde Aufgaben hin ständig polarisieren muss. Bald hängt mein ganzer Leib, „wie ein Kometenschweif“, an meinem Fuß, den ich in die sich auftuende Lücke setze, bald hängt er an meiner Brust, die ich vor dem Anstoß schützen muss, bald ist er ganz und gar verschwunden in jene „vage Kraftreserve“, aus der heraus ich mich vom Rand der Menschentraube abstoße und dem Trottoire gegenüber zustrebe. Meinen Weg suchend im Gedränge bin ich „verankert“ in den anderen Menschen um mich herum. Sie geben mir als meine Objekte Maß und Richtung, Kraft und Flexibilität vor, die ich benötige, um der Situation zu entsprechen, in der ich mich befinde. Ebensowenig, wie ich – im Wasser schwimmend – mich der Lage und Beziehungen meiner Körperteile zueinander versichere, sobald ich es kann, sondern mit den Händen greife, mit den Füßen stoße oder schlage, so ‚schwimme‘ ich hier – gehend – im Strom der anderen mit, hintretend, wo sich der Tritt zeigt, einhaltend, wo der Strom stockt.

Ort und Gegend Zweifellos befinde ich mich immer, wenn ich am Bahnhof Dammtor aussteige, an dem gleichen Ort. Zwar kann ich die Augen schließen und dann ist er ‚nicht mehr da‘. So kann ich die Probe darauf machen, dass die Welt und mein Wahrnehmen gleich ursprünglich sind, ich nicht ‚später‘ wahrnehme, was ‚früher‘ schon in der Weise, wie ich es sehe, da war und ich nicht ‚früher‘ schon wahrgenommen habe, wie es ‚später‘ sein wird, sondern genau dies eine Meinung ist, die sich nicht der Wahrnehmung verdankt, wie sie stattfindet, 4 80

Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie S. 125 f.

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wenn sie stattfindet. Aber ich zweifle, solange ich bei klarem Verstand bin, keinesfalls, dass es diesen Bahnhof gibt, für mich und auch all die Anderen hier, auch wenn ich ihn nicht unmittelbar erblicke, dass er als Ort unser aller Ziel bildet, gleichgültig woher wir kommen, dem wir immer und immer wieder zustreben können und das wir, nach Fahrplänen und Gehzeiten gemessen, nach einer bestimmten Zeit immer wieder erreichen werden. Und jede Fahrt zu diesem Ziel versichert mich darin, dass es so ist. Gleichwohl ist mein Mich Bewegen an diesem Ort nicht von dieser Konstanz. Der gleiche Ort ist als Anhalt und Anlass meiner Bewegung immer wieder anders. Ich verwende den Begriff der ‚Gegend‘ dafür, um diese Differenz auszudrücken. Morgens sind die Wege verstopft, kehre ich abends zurück, liegt alles viel offener und freier da. Mein Schritt findet seine Grenzen nicht mehr an den Rücken der Anderen, sondern viel mehr als morgens nun in meiner eignen leiblichen Stimmung, meiner Müdigkeit nach vielem Reden, Sitzen, Nachdenken, meiner Vorfreude auf ein baldiges Treffen mit meiner Frau an einem Theater, meinem ungeduldigen Wunsch, endlich und so rasch wie möglich nach Hause zu kommen, oder dem zum Schlendern nahezu nötigenden Wissen, dass es gleichgültig ist, wann ich heim komme, weil ja doch heute niemand dort ist, der auf mich wartet. Ja es ist schon der Ort eine ganz andere Gegend dadurch, dass ich nun nicht hinunter in die Halle fahre, sondern aus ihr hinauf zum Bahnsteig, dass ich nicht aus dem Bahnhof trete, sondern in ihn hinein. Nun kommt mir etwas entgegen, was meine morgendliche Richtung hinter sich abstreifte, ohne es überhaupt so erkennen zu können. Ich sehe andere Dinge und die gleichen Dinge in anderer Perspektive. Der Ausgang der Rolltreppe und der Bahnsteig selbst sind nun nicht mehr eng, es gibt Platz genug, frei meine Richtung zu wählen. Die Rolltreppe lädt mich ein, meine eigenen Schritte zu ihrer Bewegung hinzuzufügen zu einem rascheren Hinaufschweben, oder sie lässt mir auch eine andere Wahl, ganz für mich unbedrängt auf ihr zu verharren und – angenehm bewegt werdend – mich umzuschauen, wie jemand, der auf dem Weg zu einem Aussichtspunkt schon hinaus in die Gegend schaut, die unter ihm weg sinkt. Die Granitplatten in der Halle und auf dem Bahnsteig liegen weithin offen da zur Betrachtung ihres regelmäßigen Legemusters und meine Schritte werden von ihnen manchmal richtig angezogen und gelenkt. Immer in die Mitte treten, ja nicht auf die Fuge, und so setze ich, je nach Plattengröße, weite und kurze Schritte und niemand stört mich bei diesem kleinen rhythmischen Spiel. Schnell kann ich nun durch die Halle eilen, wenn ich will, und so wird sie kurz, viel kürzer als morgens, wo es ‚Stunden’ dauert, sie im Gewühl zu durchqueren. Die ganze Gegend ist offener, gelassener, kommt meinem Bewegen weicher entgegen, nimmt mich auf, statt mich durch sich hindurch zu quetschen. Und was ich so als die andere Qualität dieser Gegend für mich wahrnehme und in mein Bewegen hinein nehme, ist umgekehrt auch etwas, das ich durch mein Bewegen erst in diesen Ort hineintrage und ihn zu 81

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der Gegend werden lässt, die sie in diesen Momenten für mich ist: offener Bewegungsanlass, Schwebetreppe, ästhetische Perspektive, kurzer Übergang oder gefälliger Aufenthalt. Wie sehr ich selbst Welt bildend agiere, nicht passiv hinnehme, was da ist, sondern das zu dem erst mache, als was es sich zeigt, verrät schon ein bloßer Gedanke daran, ich könnte mich verletzt haben und könnte mich nur sehr langsam, vielleicht unter Schmerzen bewegen. Wie unendlich weit entfernt, ja wie fast unzugänglich wäre der Bahnsteig nun, wie gefährlich der Strom der Passanten mit seinem nun mahlenden, nahezu homogenen Bewegungsfluss, wie viel zu hoch und zu steil die Treppen, wie hart und abweisend vielleicht nun die Granitplatten, wenn mein Tritt auf ihnen sich nicht mehr elastisch abdrücken kann. Merleau-Ponty eröffnet diese doppelte Perspektive von Ort und Gegend, wenn er, ausgehend von einer Reihe von Krankenberichten, die Begriffe des „geographischen Raumes“ und der „Landschaft“ gegeneinander setzt: „Der Schizophrene lebt nicht mehr in der gemeinsamen Welt, sondern in einer privaten Welt, er gelangt nicht mehr zu einem geographischen Raum: Er bleibt in der ‚Landschaft‘, und diese Landschaft selbst, einmal abgeschnitten von der gemeinsamen Welt, ist eine sehr verarmte.“ Und kurz zuvor heißt es: „Dieser, den sichtbaren Raum durchdringende zweite Raum ist aber kein anderer, als der den von Augenblick zu Augenblick unsere je eigene Weise des Weltentwurfs entfaltet […]“5 Was wir im alltäglichen Bewegen leisten ist, diese doppelten Welten von Ort und Gegend, „geographischem Raum“ und „Landschaft“ in einer natürlichen Beziehung erscheinen zu lassen, in der uns ihr Unterschied zwar widerfährt, da wir – müde oder wach – uns je anders in einer anderen Gegend bewegen, uns jedoch darüber nicht das Bewusstsein für den Ort verloren geht, der als Schnittpunkt unserer Erfahrungen und der Erfahrung aller anderen, allem die Konstanz und Verlässlichkeit verleiht.

B ew e g u n g sw e l t u n d H a n d l u n g sw e l t „Unser Leib und unsere Wahrnehmung fordern beständig uns auf, die Umgebung, die sie uns bieten, als Mittelpunkt der Welt zu nehmen. Doch diese Umgebung ist nicht notwendiger Weise die unseres Lebens selbst. Ich kann, wiewohl hier verbleibend, ‚ganz woanders‘ sein […]“6 Als Städter bewege ich mich hier auf dem Bahnhof ganz nach dieser Art. Ich bin hier, setze meine Schritte jetzt und wieder jetzt. Die Anderen und das Andere sind um mich herum, eingebunden in einen Horizont, der von mir

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Ebd., S. 334. Ebd., S. 332.

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selbst ausgeht und mit mir mitgeht. Ich gehe auf Menschen und Orte meiner Gegend zu, sie bleiben neben und hinter mir zurück. Doch ist das alles auf eine eigentümliche Weise sowohl ganz bei mir, mit mir und unmittelbar erlebt, als mir auch entzogen und gleichgültig. Denn abgesehen von meinem situativen Bewegungsengagement, zu dem ich genötigt bin, liegt der Mittelpunkt meiner Welt ganz woanders, ist der Horizont meines Handelns nicht identisch mit dem Horizont meines Wahrnehmens. Wenn ich einen Ausdruck für diese Situation suche, dann erscheint es mir wie ein Traumwandeln in einem wachen Zustand. Ja, diese Rücken schwingen vor mir auf und ab und bestimmen, wie und wo ich gehen kann. Ja, da sind die Bögen der gläsernen Halle, die Granitplatten des Bahnsteigs, die Stahlrippen der Rolltreppe. Aber ich bin an all das nur flüchtig und sparsam angeheftet. Wirklich engagiert bin ich nicht hier, sondern dort, dort wo ich hin muss, im Büro, bei den Studierenden, mit denen ich es gleich zu tun habe, in der Sitzung des Kollegiums, die eine wichtige Entscheidung treffen wird, von der Einiges abhängt, bei meiner Frau, die auf mich wartet. Dieses Zurückweichen der Gegend meines Mich Bewegens hinter die mich erfüllenden Absichten meines Handelns gibt mir jene traumwandlerische Bewegungsweise, die nur aufbricht, wenn etwas zustößt, was mir gefährlich wird oder in anderer Weise die Routine bricht, ein ausscherendes Auto, ein drohender Radfahrer, ein Gedränge, in dem ich nicht vorwärts komme, eine rhythmische Bewegungsbeziehung, die sich nicht gehört, ein Blick aus dem Anonymen, der mich trifft. Den Anderen, denke ich, geht es genauso. Die gesamte Architektur der Gänge, Gehwege, Treppenhäuser, Straßen, ihr glatter, fester Belag, ihre geometrische Ausrichtung, die vor allem die geradlinige, direkte Bewegungsrichtung vorgibt, kommt mir nun vor, als sei sie, was auch immer die Erbauer selbst ausdrücklich beabsichtigten, in der sich anonym durchsetzenden Tendenz der Zeit genau dazu angelegt: Dass der Bewegungsraum als widerstandloses Feld traumwandlerisch durchlaufen werden kann, weil es auf ihn nicht ankommt, sondern auf ein ungestörtes Zentriertbleiben-Können im Horizont des Handlungsraumes, der die Existenzweise des Städters bestimmt. Zu dieser gleitfähigen Schleusen- und Zwischenraumarchitektur gehört auch die Ausstattung mit schönem Material, das nicht die Funktion vor allem hat, den Blick zu fangen, den Sich Bewegenden an die geschmackvolle Ausgestaltung eines Ensembles von Glas, Stahl, Holz, Granit und Lichtspiel so anzuheften, dass er sich verlangsamt und aus seinem Traum aufwacht, in den er, sich bewegend, sich einschließt. Es geht vielmehr darum, dass er nicht eingebremst oder aufgeschreckt wird durch Abstoßendes, Hässliches, Verschlissenes, sondern in einem ästhetischen Wohlgefühl ganz allgemeiner Art versichert, sich weiter auf das konzentrieren kann, was für ihn jenseits dieses unvermeidlichen Zwischenraumes wirklich anliegt.

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Wie anders ein Kind, das immerzu fortgezogen wird, von dem, was hier und jetzt seine Aufmerksamkeit fesselt. Es ahnt vielleicht etwas von der Vereinnahmung seiner Eltern durch ihre alles bestimmende, im Fernen zentrierte Handlungswelt, die die herrisch – ungeduldige Geste, der vorwurfsvolle Ton der Bewegungsanweisung, sich zu beeilen, vermitteln, mit denen es dorthin gelenkt werden soll. Aber es lebt nicht in ihr, sondern ist noch ganz frei, sich der Bewegungswelt hinzugeben, die ihm unmittelbar begegnet, dem Spiegelbild im Schaufenster des Zeitungskiosks, den drolligen Bewegungen eines Hundes, der vor ihm herläuft, der rollenden Treppe, dem ganzen, wunderbaren Kaleidoskop dieser Bahnhofswelt mit ihrem fesselnden Geräuschen und Geschehnissen.

Mitmensch und Dingmensch Wo und wann immer ein Radfahrer auf mich zustößt von der Seite, die Kavalkade der Autos anspringt, heran- und vorbeirauscht, fühle ich mich einerseits schwach, andererseits aber auch in einer paradoxen Weise mächtig. Das eine verweist mich auf die Tatsache meiner wahrnehmbaren Verdinglichung angesichts der Wucht der Bewegungen der Straßenfahrzeuge, mit der diese auf mich zu und an mir vorbei strömen. Das andere verdankt sich einer gegen diese Verdinglichung festzuhaltenden, erfahrbaren Bewegungsbeziehung, die als elementare Mitmenschlichkeit bezeichnet werden kann. Merleau-Ponty schreibt zum ersten Gesichtspunkt: „Der dem Blick oder dem Abtasten begegnende Gegenstand erweckt eine bestimmte Bewegungsintention, die nicht auf die Bewegungen des eigenen Leibes, sondern auf das Ding selbst, in dem sie gleichsam festgemacht sind, abzielt. Indem meine Hand um das Harte und das Weiche, mein Blick um das Mondlicht weiß, verbinde ich mich in gewisser Weise dem Phänomen selbst und kommuniziere mit ihm. Das Harte und das Weiche, das Körnige und das Glatte, das Licht des Mondes und der Sonne geben sich in unserer Erinnerung nicht so als sinnliche Inhalte, sondern vor allem als ein je bestimmter Typ einer Symbiose, als je eigene Weise des Äußeren, auf uns einzudringen, als je eigene Weise unsererseits, es aufzunehmen; und die Erinnerung legt hier nur die Struktur der Wahrnehmung selbst zutage, der sie entstammt.“7 Schwach bin ich in meiner Furcht vor Verletzung und Zusammenstoß. Ich nehme mich in der „Symbiose“, die ich leiblich gegenüber der andrängenden Masse als meine Wahrnehmung leiste, angesichts der Fahrzeuge nicht mehr wahr als einen Mensch unter Menschen, auf deren Mitgefühl ich vertrauen kann. Nichts wissen diese rollenden, rasenden Behälter von mir, dem verletzlichen, dünnhäutigen, schmerzempfindlichen Wesen. Ihre Bewegungsweise kommuniziert sich in mir als eine Haltung und Bewegung, in der ich mich 7 84

Ebd., S. 367.

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schon wie hingemäht und untergepflügt befinde, weil das die einzig mögliche Art von Ereignis ist, die der Begegnung, so wie sie sich entwickelt, entspricht. Ich bin nur noch ein Ding, ausgesetzt unter harte, andrängende, bedrohliche Dinge, denen, trotz ihrer menschlichen Lenker, eine Menschlichkeit kaum oder gar nicht mehr zukommt. Selbst dem Freund, mit dem ich eben noch sprach, werde ich, wo nicht ganz und gar, so doch tendenziell zu einer fremden, seine Kreise störenden, trägen, langsamen, kleinen Bewegungsmasse, sobald er sich in seinem Auto befindet und darin seinen Weg an mir vorbei im fließenden Verkehr zu finden sucht. Und auch ich kenne ihn nicht mehr in der Weise, wie vorher. Einem Autolenker sind nur andere Autos als seine Bewegungsgemeinschaft erschlossen. Das Subjekthafte hat sich gewissermaßen mit ihm gemeinsam in sein Gefährt ergossen und lebt dort seine, dem Apparatesubjekt gemäßen Intentionen aus. Was nicht seiner Kraft, Reichweite und Geschwindigkeitsphantasie entspricht oder diese übersteigt, gilt nicht. So hat der Autofahrer bei Fußgängern, aber auch schon bei Radfahrern nicht Mitmenschen um und vor sich, sondern eigentümliche Personen-Objekte, Dingmenschen, die im Modus eines eher Ungehörigen, Unpassenden gegenwärtig werden und nur ungefähr noch so viel bedeuten wie ein Alleebaum. Und auch den Radfahrer stören in seiner Bewegungsführung und -phantasie in gleicher Weise diese hinderlichen Fußgängersubstanzen, die er deswegen zu zerteilen oder zu verjagen trachtet. Und doch ist das nicht alles. Mächtig fühle ich mich, weil ich mir zugleich auch zutraue, dieses Befangensein im Objektstatus aufzubrechen, mich dem Anderen doch als Mitmensch zu zeigen und ihn als solchen in Anspruch zu nehmen. Ich trete, trotz der Bewegung der Fahrzeuge, schon ein wenig bevor es Zeit wäre, herausfordernd an Radweg oder Fahrbahn heran, vielleicht auch schon auf sie hin. Gegen den Bewegungsstrom, der über mich hinweggehen will, durch Glas und Blech hindurch, gebe ich dem Lenker des Autos, den ich, je näher er kommt, je deutlicher und genauer im Gesicht erkenne, dessen Blick ich suche und dem ich standhalte, meine willenstarke leibliche Gegenwart zu spüren und meine, sich in der Geste des Auftritts zeigende Entschlossenheit, ihn zum Bremsen zu bewegen, ihm den Weg zu verstellen, ihm einen Kampf aufzuzwingen, der, weil er so paradox ist, den Goliath in seinem dräuenden Gehäuse zum Erschrecken bringt und in die Knie zwingt. Und die Mutigsten unter uns warten nicht einmal jenen Zeitpunkt ab, sondern durchschreiten den Strom der Fahrzeuge ungerührt, sprungbereit, mit Gesten, die zuweilen an einen Stierkämpfer erinnern, der über das zornige Tier mit seiner capa hinstreicht. Zu dieser Erfahrung nehme ich Merleau-Pontys Aussagen über die „Anderen und die menschliche Welt“ in Anspruch, die unter anderem mit dem folgenden Zitat belegt werden können: „Meinen Leib erfahre ich als Vermögen gewisser Verhaltensweisen und einer gewissen Welt, ich bin mir selbst nicht anders gegeben denn als ein ge85

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wisser Anhalt an der Welt; und eben mein Leib ist es, der den Leib des Anderen wahrnimmt, und er findet in ihm so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertraute Weise des Umgangs mit der Welt; und wie die Teile meines Leibes ein zusammenhängendes System bilden, bilden somit auch der der fremde Leib und der meinige ein einziges Ganzes, zwei Seiten eines einzigen Phänomens, und die anonyme Existenz, deren Spur mein Leib in jedem Augenblicke ist, bewohnt nunmehr die beiden Leiber in eins.“8 Die Tatsache, dass ich leiblich existiere, verbürgt eine Gemeinsamkeit mit dem Anderen, die eine Übereinstimmung unserer Bewegungsabsichten immer schon gestiftet hat, bevor ich sie ausdrücklich will. Dass ich auftauche und hintrete, ist dem Autolenker als eigenes Bewegen so vertraut, dass er unwillkürlich sich selbst in dieser Handlung erkennt. Das uns gemeinsam Menschliche ist so bereits als Voraussetzung unserer Existenz deponiert, anonym, wie Merleau-Ponty sagt, also ohne dass wir ausdrücklich davon wüssten. Jedoch ‚rechnet‘ meine ‚Kampfansage‘ an Auto- oder Radfahrer damit, ausgedrückt als Vertrauen auf die eigene Fähigkeit, den Anderen beeindrucken zu können.

Al l t a g s t r o t t u n d B ew e g u n g s k u n s t Das bereits angesprochene Verblassen der Bewegungswelt im Schatten der Handlungswelt, jenes wache Traumwandeln, als das ich die Bewegungen des morgendlichen Städters auf dem Bahnhof charakterisiert habe, hat zur Konsequenz, dass die menschenmögliche Kunst, sich zu bewegen9, dann doch, abgesehen von den kleinen Abenteuern und den zu umschiffenden Hindernissen, herabsinkt zu einem verfestigten Alltagstrott. Meine situativen leiblichen Polarisierungen finden zwar statt. Es braucht für sie, auch wenn es hier und da zu einem virtuosen Auftritt kommt, im Großen und Ganzen jedoch nicht gar zu viel durch Übung und Erfahrung thematisiert und kultiviert zu werden. Jeder Teilnehmer der morgendlichen rush hour schlurft, humpelt, latscht, trottet in seinem Stil dahin, Minimalisten allesamt, die zwar ihren Erscheinungsleib mehr oder weniger hergerichtet und geschmückt haben mit Kleidung und Accessoires, wie es die Mode verlangt, keineswegs aber um Anmut und Würde10 ihres Ganges in irgendeiner Weise besorgt sind. Wenn ich meinen Studieren8 9

Ebd., S. 405. Vgl. Jürgen Funke-Wieneke: »Die Kunst, sich zu bewegen.« In: Eckart Liebau/Jörg Zirfas (Hg.), Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung, Bielefeld: transcript 2008, S. 105–128. 10 Im 18. Jahrhundert, in der Nachfolge der bürgerlichen Revolution war das durchaus ein Thema, das Aufmerksamkeit um der Emanzipation willen verdiente. Schillers Aufsatz dazu, »Über Anmut und Würde« erschien das erste Mal 1793. Friedrich Schiller: Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, Stuttgart: Reclam 1984. 86

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den der Bewegungswissenschaft zur Einstimmung in eine Übung verschiedene Charaktere des Gehens und Laufens aufgebe, dann verwende ich Begriffe wie fest, laut, leise, vorsichtig, hastig, eindrucksvoll, zurückhaltend, bescheiden, übermütig, fröhlich, herrschaftlich, dominant, drohend, kraftvoll. Ausgedrückt wird das dann von ihnen mit Bewegungsweisen wie Trampeln, Stampfen, Schleichen, Eilen, Schreiten, Stolzieren, Hüpfen, Hopsen, Springen, Marschieren, Gleiten, Schlendern, Schlittern. Ihre Haltungen, mit denen sie jeweils diese Bewegungen in ihren Bedeutungen ausdrücken, sind gekennzeichnet durch ein Sich aufrichten oder Zusammensinken, Sich-breit-Machen oder In-sich-Kehren. Immer wieder sind sie dann erstaunt, wie Bewegungsweise und Stimmung, Persönlichkeit und Bewegungsausdruck so innig verbunden sind miteinander, sodass sie den Eindruck haben, nicht sich verschieden zu bewegen, sondern immer auch irgendwie jemand anderes zu sein. Eine solche Aufforderung zur Persönlichkeit bildenden und Welt bildenden Variation des Sich Bewegens, aus der ihr persönlicher Stil und ihre Schönheit sich entwickeln kann, ist dem geschilderten morgendlichen Alltag der Stadtbewegung kaum zu entnehmen. Das Wertbewusstsein für den eigenen Gang, das Gefühl für das Sich Aufrichten als Zeichen des noblen Charakters der uns Menschen möglichen Bewegungsweise ist geschrumpft zu einem Rest von unauffälliger Funktionssicherheit, mit der man erledigt, was als Selbsttransport zwischen den Kernen der Handlungswelt unvermeidlich scheint, eine bloße Verlängerung des unbeweglich verbrachten Bewegtseins in der S-Bahn, die man eben verlassen hat. Das ist nun ein möglicher Grund für das Engagement der Städter und der Bewegungswissenschaft im Sport. Sport beginnt dort, wo die Bewegung sich selbst thematisiert und aus der bloßen Funktionsweise des wachen Traumwandelns im Transportgeschehen auftaucht und ihren Handlungssinn als Bewältigung des städtischen Ambiente verliert, um ihn zu tauschen gegen einen sinnlichen Sinn und seine Rationalisierung in Gesundheitssorgen und – vorsorgen. Sport beginnt deshalb als Spazieren gehen, Rad fahren, Walking, Inline skaten, Jogging, Stadtlauf. Die alltägliche Bewegungsweise befriedigt das Bewegungsbedürfnis, von dem wir als dem Normalfall bei uns leiblichen Wesen ausgehen können, nicht, obwohl sie uns einiges abverlangt. Sie regt es aber auch nicht eigentlich an. Vielmehr hinterlässt sie ein Gefühl des Unausgefülltseins, eine Unruhe, einen Drang, sich zu regen, der zu einem zweiten Aufbruch am Nachmittag, frühen Abend oder Wochenende nach den erledigten Berufsgängen und -fahrten ruft. So wie ich diese ‚walkenden‘, ‚joggenden‘ und ‚skatenden‘ Stadtsportler wahrnehme, lässt es mich allerdings daran zweifeln, ob sie ihren Alltagsstil und damit ihr Welt- und Selbstverständnis durchbrechen können, die von einer geringen Wertschätzung der Bewegungsqualität geprägt sind. Denn es scheint ganz so, als würde der für die Qualität der Bewegung unempfindliche Alttagstrott, der darin sich abspielende Kampf 87

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um Platz und Tritt, um Vorankommen und Zurückbleiben, Abgedrängt werden und selber Abdrängen, auch dieses anders motivierte Sich Bewegen noch bestimmen. Die Funktion des Sich Erschöpfens, des ‚Auspowerns‘, wie es im globalisierten Vokabular heißt, regiert die Bewegungsphantasie und so verwandelt sich der alltägliche Kampf gegen die anderen ‚Schweinehunde‘, zum Kampf gegen den ‚inneren Schweinehund‘. Der Kampf bleibt, seine ästhetische Alternative kommt nicht zum Vorschein. Was als Alternative motiviert war, erfüllt sich bloß als Verdoppelung des Gleichen. Bis zur sinnenbewussten Bewegungskunst eines flüssigen, runden, rhythmischen, harmonisch gestalteten Laufens dringen nur wenige vor. Das rumpelt, stampft, rüttelt, ‚walkt‘ und schüttelt sich so dahin mit verkrampftem Gesicht und verquer getragenen Armen, um die fühlbare Anstrengung deutlich mehr bemüht als um ein der Ästhetik geltendes Wertbewusstsein im Tun, das ein gelöstes, frei durch den Leib gehendes, schwingendes, unangestrengtes, leichtfüßiges Gehen, Laufen oder Gleiten zum Ziel hätte. Ob man durchhält ist wichtiger als das, was sich erfahren ließe, wenn man ohne solchen Durchhalteauftrag sich aufs Spüren und Fühlen der eigenen Bewegung im Verhältnis zur Umgebung verlegte.11 So gesehen könnte es auch diese unbegriffene Voraussetzung in der Selbsterfahrung der Bewegungsforscher sein, die sie, selbst Städter, dazu bringt, dieses sich als sinnliche Alternative zur Alltagsbewegung setzende Sportreiben zu untersuchen und dadurch maßgeblich zu orientieren an Parametern einer physiologisch – physikalischen Trainingswissenschaft und damit genau diesen Alltag als Praxis hinterrücks wieder einzuführen. Um Herzfrequenzen geht es da, um Atemminutenvolumina, um den Laktatspiegel im Blut, um die Anzahl der Belastungsphasen und die Menge und Dauer der Pausen, um Streckenlängen und die Dauer von Trainingseinheiten, um Zielzeiten für anstehende Wettkämpfe.12 Es ist gerade das paradigmatische Kennzeichen dieser Fitness Forschung, von den Merkmalen der Bewegungsqualität ausdrück-

11 Einem Werben für eine solche Bewegungsweise galt, auch aus gesundheitsbedachten Überlegungen heraus, ein bedeutender Teil des Werkes meines Kollegen Gerhard Treutlein, dem ich für sein nachhaltiges Engagement herzlich danke. Vgl. Gerhard Treutlein: »Faszinierende Leichtathletik – auch durch Körpererfahrung.« In: Ders. u.a. (Hg.), Körpererfahrung in traditionellen Sportarten, Wuppertal: Putty 1986, S. 31–97; Ders.: »Körpererfahrung in traditionellen Sportarten – ein Beitrag zur Gesundheitserziehung«. In: Sport an der Wende, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1991, S. 246–253. 12 Vgl. z. B. Volker Höltke u. a.: »Orientierungswerte für ein optimales Präventionstraining durch Walking und Jogging für untrainierte Frauen und Männer mittleren Alters.« In: Dieter Jeschke/Lorenz Rudolf (Hg.), Sportmedizinische Trainingssteuerung. Sport – Prävention – Therapie, Köln: Sport und Buch Strauß 2003, S. 273–280; Stefanie Mollnhauer: »Trainieren nach der Herzfrequenz.« In: Condition 3, 39 (2008) S. 15–16. 88

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lich abzusehen, weil sie nicht messbar sind, sondern eines sicheren Urteils im Horizont eines dazu gebildeten Geschmackes bedürfen.

Spiegelungen Den wissenschaftlichen Gepflogenheiten gemäß habe ich auch nach Beiträgen Ausschau gehalten, in denen mein Thema behandelt wird: Das Sich Bewegen von Menschen in der Stadt, im Gedränge, auf Bahnhöfen vorzugsweise, aber auch anderswo. Viel gefunden habe ich bisher nicht. Eine schöne Übereinstimmung in den Phänomenen entdeckte ich in einem Buch Erving Goffmans13. Er benützt fein auflösende Beobachtungen zum Verhalten von Fußgängern und Fahrzeuglenkern im städtischen Verkehr, die er aus Quellen verschiedener Gewährsleute schöpft, um „Grundregeln der öffentlichen Ordnung“ zu finden. Seiner Meinung nach lässt sich jeder Verkehrsteilnehmer als eine „Fortbewegungseinheit“ verstehen, die ihre Bewegungen, zur Vermeidung von Zusammenstößen, im Rahmen eines informellen „Verkehrskodex“ mit denen der anderen koordiniert. Zu diesen Bewegungen gehören, was die Fußgänger betrifft, das Einhalten von Bahnen „tendenziell rechts von einer [imaginierten] Trennungslinie“14, die „leibgebundene Kundgabe“ von „Richtung, Geschwindigkeit und Entschlossenheit zum Einhalten des eingeschlagenen Kurses“ (die von ihm so genannte „Intentionskundgabe“15), das Tragen des Kopfes „so […] dass [man] durch den Kopf des unmittelbar vor ihm gehenden Fußgängers nicht in seiner Sicht behindert wird“ (was er auch „einen Abtast- und Kontrollbereich im Auge behalten“16 nennt), das „Erstarren zu Säulen“17, wenn ihnen Radfahrer entgegenkommen das Austauschen kurzer, rein sachlich gemeinter Blicke, mit denen signalisiert wird, was der Eine beabsichtigt und der Andere versteht18, das Gehen im Schatten eines Anderen, um „Deckung“ vor andrängenden Personen zu gewinnen und das step-andslide: ein leichtes Biegen des Körpers, ein Drehen der Schulter und ein beinahe unmerklicher Seitenschritt, worauf der entgegenkommende Fußgänger mit einem reziproken Verhalten antwortet.“19 Auch im „Auto-FußgängerVerkehr“ würden „fast die gleichen Mittel angewendet“20. Goffman bewertet diese Phänomene so, dass „die Straßen unserer Städte“ selbst „in Zeiten, in denen sie einen schlechten Ruf haben“, einen „Schau13 Vgl. Erving Goffman: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974 (hier S. 26–42). 14 Ebd., S. 31. 15 Ebd., S. 33. 16 Ebd., S. 33. 17 Ebd., S. 32, Anm. 11. 18 Vgl. Ebd., S. 36. 19 Ebd., S. 36, Anm. 18. 20 Ebd., S. 36. 89

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platz“ darstellten, „auf denen regelmäßig gegenseitiges Vertrauen zwischen einander Unbekannten zur Geltung kommt.“21 Damit stellt er sich in einen klaren Gegensatz zu Richard Sennetts skeptischer Meinung über die soziale Bedeutung und Signifikanz solcher Begegnungen auf Straßen und Plätzen.22 Sennett meint, ebenfalls bei Goffman anschließend, dass die Menschen, die zu Fuß in der Stadt unterwegs seien, alles andere bewiesen, als dass sie einander vertrauten. Vielmehr seien sie bestrebt, „möglichst wenig körperlichen Kontakt zu riskieren“. Dies aber sei ein Zeichen dafür, dass sie die Tendenz hätten, „lästige Reize“ „weitgehend zu unterdrücken“, was wiederum in direkter Verbindung damit stünde, „wie wir mit den störenden Empfindungen umgehen, die in einer vielfältigen, multikulturellen Gemeinschaft auftauchen.“23 „Geschwindigkeit, Flucht, Passivität: Diese Triade ist es, was die neue urbane Umwelt“ aus dem Aufbruch des 18. Jahrhunderts hin zur frei geführten Bewegung selbstbewusster Bürger „gemacht hat“24. Ich kann nicht ganz umhin, diese weitgreifende und abgehobene These Sennetts so zu betrachten, wie Goffman das eingangs seiner zitierten Passagen charakterisiert hat: „Die meisten Wissenschaftler beschäftigen sich mit Untersuchungen, die nicht auf bescheidene naturalistische Beobachtungen angewiesen sind.“25 Sennetts kulturkritische Großspekulation ist noch immer wie imprägniert von und befangen in einem Topos, der die Interpretation der Bewegung der Städter schon eineinhalb Jahrhunderte zuvor klassenkämpferisch bestimmt hat: „Und doch rennen sie an einander vorüber, als wenn sie gar Nichts gemein, gar Nichts miteinander zu thun hätten, und doch ist die einzige Uebereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, dass Jeder sich auf der Seite des Trottoires hält, die ihm rechts liegt, damit die beiden an einander vorbeischießenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten; und doch fällt es Keinem ein, die Anderen auch nur eines Blickes zu würdigen. Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolirung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen tritt umso widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr dieser Einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind; und wenn wir auch wissen, dass diese Isolirung des Einzelnen, diese bornierte Selbstsucht überall das Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist, so tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewusst auf, als gerade hier in dem Gewühl der großen Stadt.“26

21 Ebd., S. 41 22 Vgl. Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin: Berlin 1995. 23 Ebd., S. 450. 24 Ebd., S. 451. 25 Ebd., S. 420. 26 Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen. München: dtv 1973, S. 41 f. 90

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Goffmans empirisch belegte These von der vertrauensvollen Ordnung, die im Einander-verstehen-in-Aktion sich herstellt und immer wieder aktualisiert, ist demgegenüber doch von größerer Überzeugungskraft. Teilen möchte ich sie im Ergebnis, jedoch, meinem Gewährsmann Merleau-Ponty folgend, nicht in ihren theoretischen interaktionistischen Voraussetzungen. Wo Goffman meint, dass monadisch konstruierte Unteilbarkeiten (Individuen) aufeinander träfen und ihre wechselseitigen Kraftstöße, sei es physischer, sei es informationeller Qualität eine Art von molekularem Gleichgewicht von Anziehung und Abstoßung herstellten, sieht Merleau-Ponty doch wohl menschlich tiefer und genauer. Er geht von einer primordialen Sozialleiblichkeit aus, die das Eigene im Andern schon vorfindet, weil es das ursprünglich Gemeinsame ist.27 Menschen auf Bahnhöfen beobachtet Lars Frers. Merleau-Ponty nennt er als den wichtigsten Paten für sein Vorgehen und das, was er damit erkennen will und kann.28 Insofern ist mehr als nur eine Wahlverwandtschaft zwischen seinem großen und meinem kleinen Vorhaben zu vermuten. Volle Treppen und enge Schleusengänge fallen ihm auch auf: „Schlangen“ würden gebildet und gegen den „Strom geschwommen“, „Drängeln“ käme vor, ebenso wie dem Schicksal ergebenes „Abwarten“.29 Allerdings ist Frers vor allem daran interessiert, mit solchen Beobachtungen aus der Außenperspektive Belege für seine stadtsoziologisch akzentuierte Generalthese zu suchen, dass die Menschen an diesem Bahnhofsort eine unsichtbare „Hülle“ um sich herum mitführten, die ihre Wahrnehmung dämpfe und beschränke. Eine Hinwendung zur Akteursperspektive, verbunden mit einer feinere Auflösung dessen, was sich wahrnehmen lässt, wie ich das mit bewegungswissenschaftlichen Blick hier einbringe, wäre sicher geeignet, seine etwas fest gefügte Meinung über das, was dort geschieht und wie es zu deuten sein könnte, etwas aufzulockern und zu bereichern. Franz Hessel schreibt mit literarischem und kulturhistorisch aufklärendem Anspruch bildreich, eingängig, intensiv und kenntnisreich über Orte, Plätze, Stadteile Berlins, die er Ende der 20er Jahre als ein „wiedergekehrter Flaneur“, so sein Rezensent Walter Benjamin, aufgesucht und abgeschritten hat.30 Ach wäre doch auch ein Bahnhof darunter, der seine Aufmerksamkeit gefunden hätte. Aber das ist nicht so. Benjamin hat seinem Konvolut von Exzerpten, Exposées und kurzen Essays, dem „Passagenwerk“, das dem Typus

27 Vgl. dazu ausführlich Hermann Coenen: Diesseits von subjektivem Sinn und kollektivem Zwang: Schütz, Durkheim, Merleau-Ponty; phänomenologische Soziologie im Feld zwischenleiblichen Verhaltens, München: Fink 1985. 28 Vgl. Lars Frers: Einhüllende Materialitäten, S. 23. 29 Ebd., S. 82. 30 Franz Hessel: Ein Flaneur in Berlin. Berlin: Das Arsenal; Benjamin, Walter: »Die Rückkehr des Flaneurs.« In: Franz Hessel (Hg.), Ein Flaneur in Berlin, Berlin: Das Arsenal 1984, S. 277–281. 91

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des gebildeten Stadtgängers, eben dem „Flaneur“ huldigt, zwar das oben zitierte Urteil von Engels einverleibt.31 Weiteren Aufschluss über die Bewegungsweise des Städters bietet er nicht. Der gern im Zusammenhang stadtsoziologischer Untersuchungen zitierte Georg Simmel32 notiert in „Die Großstadt und das Geistesleben“ einige trivialpsychologische Bemerkungen, die auf einer recht frei entworfenen und ausdrücklich auch von ihm nicht belegten Meinung über eine permanente, überschwellige, sinnesphysiologische Inanspruchnahme des Städters beruhen, worauf er dann sein Urteil gründet, dass dieser Städter darauf mit einer die Erregung regulierenden „Blasiertheit“ reagiere.33 Das mag wissenschaftshistorisch interessant sein und unter anderem auch wieder als ein Beleg für die empirisch eher weniger gehaltvollen Großspekulationen gelten, vor denen Goffman gewarnt hat. Anschlussfähig ist das für eine heutige Untersuchung eher nicht.

Phänomenologische Forschung zum S i c h B ew e g e n i n d e r S t a d t – e i n k u r z e r Au s b l i c k Als Bewegungspädagoge habe ich im vorausgegangenen Abschnitt über „Alltagstrott und Bewegungskunst“ dem professionalisierten Reflex meiner Zunft nicht widerstehen können, aber auch nicht wollen, das von mir wahrgenommene Sich Bewegen am und um den Bahnhof herum aus der Sicht der ästhetischen Bewegungsbildung zu betrachten und zu bewerten. Ich versuche aus meinen Forschungen etwas zu verstehen, was ich eben nicht um seiner selbst willen, sondern um der besseren Bildung willen wissen kann und wissen sollte, um es dafür fruchtbar werden zu lassen. Ein weiterer Basisreflex meines ‚artgerechten Handelns‘ zeigte sich darin, dass ich gegen die naturwissenschaftlichen Ansätze der Bewegungswissenschaft mich ausspreche, weil in ihren Objektivierungen das eigentümlich Menschliche verschwindet, das es als Denken, Fühlen, Handeln, Sinn entwerfen und Sinn verstehen in seiner je persönlichen Form zu verstehen und zu würdigen gilt. Ich bin mir darüber im Klaren, dass vor allem das zuletzt Genannte mit dem Anliegen Maurice Merleau-Pontys, das er mit dem erkenntnistheoretischen Projekt seiner Phänomenologie verfolgt hat, nicht ganz konform geht. Er wollte, im Rückgang auf die Phänomene, eben jene, auch unsere Teildisziplinen spaltende Entgegensetzung von subjektliebendem, deutendem Beschreiben und objektiver Datener31 Walter Benjamin: »M [der Flaneur]«. In: Rolf Tiedemann (Hg.), Walter Benjamin Gesammelte Schriften V 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982, S. 524–569, dort S. 538–539. 32 Vgl. z. B. auch Frers 2007, S. 85 und S. 86. 33 Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«. In: Rüdiger Kramme u.a. (Hg.), Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 116–131, hier S. 121. 92

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zeugung dadurch überwinden, dass er beide in einem gemeinsamen Grund als Voraussetzung ihrer jeweiligen Möglichkeit fundiert sieht, der primordialen Leiblichkeit, die uns als Menschen auszeichnet und verbindet. Immer, so verstehe ich ihn, geschehen im wissenschaftlichen Forschen menschliche Taten, zu denen sich jemand entschlossen hat. Das sollte uns die Möglichkeit geben, uns aus dem Zwang zur Entgegensetzung zu befreien und die jeweilige Tat des Anderen als Leistung eines sorgenden Erkennens mit zu bedenken und zu würdigen. Allerdings scheint es mir so, als ob gerade auf dem Feld der genauen Wahrnehmung der Dinge und Verhältnisse, des Sich Bewegens, wie es sich zeigt, aus der Sicht derer, die sich bewegen, und aus der Sicht derer, die es als eine menschliche Lebensäußerung auf sich beziehen und es ästhesiologisch zu teilen versuchen, ein wirklicher Ergänzungsbedarf besteht. Dass dieses Bedürfnis auch in der Stadtforschung gesehen wird, scheint mir Frers Studie, wenn auch nicht dem Ergebnis, so doch der Absicht nach klar zu belegen. Das Projekt einer phänomenologisch verfahrenden Bewegungswissenschaft ist freilich bisher mehr beschworen, bezweifelt, verdebattiert und klassifiziert als ertragreich durchgeführt worden. Katrin Weber untersucht die Erfahrung des Geschlechts des anderen, die erotische Empfindung und die ungeschlechtlichen Momente im Judo mithilfe detaillierter Bewegungsbeschreibungen.34 Ehlebracht und Kohl versuchen, der Selbsterfahrung von Tennisschülern mithilfe von narrativen Interviews auf die Spur zu kommen.35 Programmatisch und erkenntnistheoretisch äußern sich Thiele und Scherer36. Nach bewußtseinsfähigen Knotenpunkten in der Aufmerksamkeit eines Sich Bewegenden suchen Gröben und Schmidt37. Eigene Texte habe ich zu bewe-

34 Vgl. Katrin Jäger: »Geschlechtlichkeit beim Judo – eine konstruktivistisch- phänomenologische Betrachtung«. In: Beate Blanke/Katarina Fietze (Hg.), Identität und Geschlecht. 6. Tagung der dvs – Kommission ‚Frauenforschung in der Sportwissenschaft’, Hamburg: Czwalina 2000, S. 154–167. 35 Vgl. Antje Ehlebracht/Kurt Kohl: »Zur Bedeutung der Phänomenologie der Bewegungshandlung für den Lehr- Lernprozess im Tennis«. In: Methodik im Tennislehrplan, Ahrensburg: Czwalina 1986, S. 51–61. 36 Vgl. Jörg Thiele: »Mit anderen Augen – Bewegung als Phänomen verstehen.« In: Robert Prohl/Jürgen Seewald (Hg.), Bewegung verstehen. Facetten und Perspektiven einer qualitativen Bewegungslehre, Schorndorf: Hofmann 1995, S. 57–76; Hans-Georg Scherer: »Phänomenbezug als Notwendigkeit und Problem einer pädagogischen Bewegungsforschung«. In: Michaela Tamme/Eberhard Loosch (Hg.), Motorik, Struktur und Funktion. 4. Symposium der dvs Sektion Sportmotorik in Erfurt, Hamburg: Czwalina 1996, S. 126–130. 37 Vgl. Bernd Gröben/Oliver Schmidt: »Phänomenale Strukturen – Zur Funktion des Bewusstseins im Bewegungslernen«. In: Robert Prohl (Hg.), Bildung und Bewegung. Jahrestagung der dvs Kommission Sportpädagogik in Frankfurt a. M., Hamburg: Czwalina 2001, S. 257–264. 93

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gungserzieherischen Situationen geschrieben.38 Auf das alltägliche Sich Bewegen in der Stadt hat sich solches Forschen bisher überhaupt nicht erstreckt. Ich kann mir aber vorstellen, dass es gerade fein auflösende, naturalistische Bewegungsstudien aus bewegungswissenschaftlicher Sicht sein könnten, die der Stadtforschung einen weiteren Erkenntniskreis erschließen und ihr ein tieferes Verständnis ihrer Orte als Gegenden ermöglichen. Das Sich Bewegen wird aus phänomenologischer Sicht als ein Dialog, eine Bezugnahme auf die Gegend und die Mitmenschen im Rahmen von Intentionen und Sinnhorizonten des Sich Bewegenden mit weltbildendem Charakter verstanden.39 Wie zeigt sich also, so könnten einige auf der Hand liegende Fragen lauten, die stadtbildende Absicht einer Garten-, Landschafts-, Straßen- und Gebäudearchitektur im Spiegel des Bewegungsbildes und des Bewegungshandelns der darin sich aufhaltenden, sie durchmessenden Stadtbürger? Wird geschlichen, flaniert, geeilt, gerannt, gesprungen, sich versteckt, um Platzvorteile gekämpft? Werden Drehungen, Seitsteps, Wendungen und Windungen in den verschiedenen Richtungen der Kinesphäre vollführt, oder bleiben direktes, kraftvolles Eilen oder erschöpft hinsinkendes Latschen und Lungern die Bewegungsweisen der Wahl? Wie kommen Würde oder Verkommenheit eines Ortes in den leiblichen Gesten seiner Besucher und Benützer zum Ausdruck und liegt in der Änderung dieser Gestik, vor allem bezüglich des Verkommenen, ein Ansatz zum Wiedergewinn seiner Würde, die sich dann fortsetzt in Pflege und Rekultivierung?40 Wie schreiben sich Pfade, Vorzugsbereiche des Sich Bewegens in das geometrische Linealarrangement ein, als das die Orte mit der Herrschsucht des Fernblickens entworfen und gebaut werden? Was dekonstruiert ein dekonstruktivistischer Bau im Sich Bewegen der Menschen 38 Vgl. Jürgen Funke-Wieneke: »Die Reise nach Damüls – ein Curriculum«. In: Ders., Vermitteln zwischen Kind und Sache: Erläuterungen zur Sportpädagogik, Seelze-Velber: Kallmeyer 1997, S. 39–54; Jürgen Funke-Wieneke: »Die Kinder sehen, von ihnen lernen«. In: Ders., Vermitteln zwischen Kind und Sache: Erläuterungen zur Sportpädagogik, Seelze-Velber: Kallmeyer 1997, S. 9–26; Jürgen Funke-Wieneke: »Glase und ihre Schwimmkinder.« In: Matthias Jakob (Hg.), Bewegungsgeschichten mit Kindern, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2004, S. 119–126. 39 Vgl. Andreas Trebels: »Das dialogische Bewegungskonzept. Eine pädagogische Auslegung von Bewegung«. In: Sportunterricht 41, 1 (1992) S. 20–29; Jürgen Funke-Wieneke: »Handlung, Funktion, Dialog, Symbol. Menschliche Bewegung aus entwicklungspädagogischer Sicht.« In: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung- sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld: transcript 2004, S. 79–108. 40 Man betrachte in dieser Hinsicht einmal die Hinweise, die aus Parkprojekten in New York gewonnen werden könnten. Der Conservatory Garden am Nordende des Central Park galt bis zu seiner Renovierung ab den 1990er Jahren als verwahrlost und gefährlich. Die Gärten von New York. Regie Monika Hofer, Deutschland 2007. http://www.arte.tv/de/woche/244,broadcastingNum=861284, day=3,week=27,year=2008.html, (24.07.08). 94

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– oder auch nicht? Das braucht keine elitäre Frage für Avantgarde – Tänzer und – Choreographen zu bleiben, wie im Projekt der Sascha Waltz, die das jüdische Museum in Berlin in dieser Hinsicht interpretiert hat.41 Es könnte zum Thema einer Wissenschaft werden, die das hoch bedeutsame Sich Bewegen der vielen Stadtmenschen thematisiert, bevor es zum Sport oder zur Kunst wird, zu etwas also, das Menschen eben nicht nur bewegungskulturell einschließt, wie es uns der ‚Sport für alle‘ zu versprechen scheint, sondern viele, die der Bewegungskultur bedürftig sind, auch ausschließt.

Literatur Atzenbeck, Philipp/Kuhn, Georg: »Einführungsstunde zum Thema Körpererfahrung in der Grundschule«. In: Günter Köppe/Jürgen Schwier (Hg.), Grundschulsport und neue Sportarten, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2001, S. 201–213. Benjamin, Walter: »M [der Flaneur]«. In: Rolf Tiedemann (Hg.), Walter Benjamin. Gesammelte Schriften V, 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982 S. 524–569. Benjamin, Walter: »Die Rückkehr des Flaneurs«. In: Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin, Berlin: Das Arsenal, 1984, S. 277–281. Coenen, Hermann: Diesseits von subjektivem Sinn und kollektivem Zwang: Schütz, Durkheim, Merleau-Ponty; phänomenologische Soziologie im Feld zwischenleiblichen Verhaltens, München: Fink 1985. Dordel, Sigrid: Bewegungsförderung in der Schule. Handbuch des Schulsonderturnens/Sportförderunterrichts, Dortmund: Modernes Lernen 1987. Ehlebracht, Antje/Kohl, Kurt: »Zur Bedeutung der Phänomenologie der Bewegungshandlung für den Lehr-Lernprozess im Tennis«. In: Methodik im Tennislehrplan, Ahrensburg: Czwalina 1986, S. 51–61. Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen, München: dtv 1973, S. 41/42. Frers, Lars: Einhüllende Materialitäten. Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals, Bielefeld: transcript 2007.

41 »Dialoge ´99/II«, Sasha Waltz & Guests. Die Choreographie, die Sasha Waltz für das Museum im noch leeren Neubau von Daniel Libeskind entwickelt hat, bildete die Grundlage für ihre Produktion »Körper«, die im Jahr 2000 in der Schaubühne am Lehniner Platz uraufgeführt wurde. Die filmische Dokumentation aus dem Jahr 1999 zeigt, wie 17 Tänzerinnen und Tänzer in einen Dialog mit Form und Geschichte des leeren Museumsbaus treten und verdeutlicht den nachhaltigen Einfluss dieser Performance auf die spätere Arbeit von Sasha Waltz an »Körper«. http://juedisches-museum-berlin.de/site/DE/02-Veranstaltungen/veranstaltungen-2008/2008_08_30_langenacht.php. (24.07.2008). 95

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Funke-Wieneke, Jürgen: »Die Reise nach Damüls – ein Curriculum«. In: Ders., Vermitteln zwischen Kind und Sache: Erläuterungen zur Sportpädagogik, Seelze-Velber: Kallmeyer 1997, S. 39–54. Funke-Wieneke, Jürgen: »Die Kinder sehen, von ihnen lernen«. In: Ders., Vermitteln zwischen Kind und Sache: Erläuterungen zur Sportpädagogik, Seelze-Velber: Kallmeyer 1997, S. 9–26. Funke-Wieneke, Jürgen: »Handlung, Funktion, Dialog, Symbol. Menschliche Bewegung aus entwicklungspädagogischer Sicht«. In: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung – sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld: transcript 2004, S. 79–108. Funke-Wieneke, Jürgen: »Glase und ihre Schwimmkinder«. In: Matthias Jakob (Hg.), Bewegungsgeschichten mit Kindern, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2008, S. 119–126. Funke-Wieneke, Jürgen: »Die Kunst, sich zu bewegen«. In: Eckart Liebau/Jörg Zirfas (Hg.), Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung, Bielefeld: transcript 2008, S. 105–128. Goffman, Erving: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974. Gröben, Bernd/Schmidt, Oliver: »Phänomenale Strukturen – Zur Funktion des Bewusstseins im Bewegungslernen«. In: Robert Prohl (Hg.), Bildung und Bewegung. Jahrestagung der dvs Kommission Sportpädagogik in Frankfurt a. M., Hamburg: Czwalina 2001, S. 257–264. Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin, Berlin: Das Arsenal 1984. Höltke, Volker/u.a.: »Orientierungswerte für ein optimales Präventionstraining durch Walking und Jogging für untrainierte Frauen und Männer mittleren Alters«. In: Dieter Jeschke/Rudolf Lorenz (Hg.), Sportmedizinische Trainingssteuerung. Sport – Prävention – Therapie, Köln: Sport und Buch Strauß 2003, S. 273–280. Jäger, Katrin: »Geschlechtlichkeit beim Judo – eine konstruktivistisch- phänomenologische Betrachtung. In: Beate Blanke/Katarina Fietze (Hg.), Identität und Geschlecht. 6. Tagung der dvs – Kommission ‚Frauenforschung in der Sportwissenschaft’« Hamburg: Czwalina 2000, S. 154–167. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1966. Mollnhauer, Stefanie: »Trainieren nach der Herzfrequenz«. In: Condition 3, 39 (2008) S. 15–16. Scherer, Hans-Georg: »Phänomenbezug als Notwendigkeit und Problem einer pädagogischen Bewegungsforschung«. In: Michaela Tamme/Eberhard Loosch (Hg.), Motorik, Struktur und Funktion. 4. Symposium der dvs Sektion Sportmotorik in Erfurt, Hamburg: Czwalina, 1996, S. 126–130. Schiller, Friedrich: Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, Stuttgart: Reclam 1984. 96

SICH BEWEGEN IN DER STADT

Sennett, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin: Berlin 1995. Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben«. In: Rüdiger Kramme u.a. (Hg.), Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 116–131. Thiele, Jörg: »‘Mit anderen Augen‘- Bewegung als Phänomen verstehen«. In: Robert Prohl/Jürgen Seewald (Hg.), Bewegung verstehen. Facetten und Perspektiven einer qualitativen Bewegungslehre, Schorndorf: Hofmann 1995, S. 57–76. Trebels, Andreas: »Das dialogische Bewegungskonzept. Eine pädagogische Auslegung von Bewegung«. In: Sportunterricht 41, 1 (1992), S. 20–29. Treutlein, Gerhard: »Faszinierende Leichtathletik – auch durch Körpererfahrung«. In: Gerhard Treutlein u.a. (Hg.), Körpererfahrung in traditionellen Sportarten, Wuppertal: Putty 1986, S. 31–97. Treutlein, Gerhard : »Körpererfahrung in traditionellen Sportarten – ein Beitrag zur Gesundheitserziehung«. In: Sport an der Wende, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1991, S. 246–253.

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Bew egungsförderung in gestaltbaren Umw elten KNUT DIETRICH (Karl-Heinz Scherler gewidmet)

Der Begriff Bewegungsförderung verweist auf ein entwicklungspädagogisches Erkenntnisinteresse. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich am beobachtbaren Verlauf der Bewegungsentwicklung auch Rückschlüsse auf die Gesamtentwicklung einer Person ziehen lassen. Die Bedeutung der Bewegung innerhalb dieses Prozesses wird im Zentrum der Betrachtung stehen. Grundlage ist ein ökologisches Bewegungskonzept1, das die Wirkung und die Entwicklung des Bewegungsverhaltens im Kontext der material-räumlichen wie der sozial-kulturellen Umweltausschnitte untersucht. Auf dieser Grundlage können in diesem Beitrag Prinzipien einer pädagogisch verantworteten Bewegungsförderung erörtert und praktische Vorschläge zu deren Umsetzung beispielhaft skizziert werden. Die Bewegungsförderung zielt nicht auf die Entwicklung einer einzelnen Bewegungsform oder einer Bewegungsfertigkeit wie Hochsprung. Im Zentrum steht vielmehr die in der Bewegung sich ereignende und zum Ausdruck kommende Entwicklung einer Person. Relevant sind alle Bewegungen (und i.w. Sinne alle Aktivitäten, Handlungen, Interaktionen), über die eine Person spürbaren und zugleich wirksamen Kontakt mit der Welt aufnimmt. In unsere Überlegungen gehen Auffassungen darüber ein, wie Bewegung, menschliche Entwicklung und Umwelt zusammenwirken.

1

Vgl. Knut Dietrich/Gerd Landau: Sportpädagogik, Butzbach-Griedel: Afra 1999 und Knut Dietrich: »Anmerkungen zum dialogischen Bewegungskonzept als Grundlage einer pädagogischen Bewegungsforschung«. In: Ingrid Bach/Helmut Siekmann (Hg.), Bewegung im Dialog. Festschrift für Andreas Trebels, Hamburg: Czwalina 2003, S. 11–23. 99

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B ew e g u n g u n d E n t w i c k l u n g Der Entwicklungsprozess des Menschen ist von genetischen Dispositionen abhängig, die nur unter herausfordernden Umweltbedingungen eine Entfaltungschance haben. Erst in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt können Heranwachsende eine Gewissheit von sich selbst als Person und einen Zugang zur (materialen, sozialen, kulturellen) Umwelt2 gewinnen. Das hier zugrunde gelegte Verständnis von Entwicklung lässt sich anschaulich an der frühkindlichen Entwicklung verdeutlichen.3 Neugeborene verfügen zunächst über keine gerichteten und kontrollierten Bewegungen. Aber alle Sinne sind voll funktions- und entwicklungsfähig. Mit ihrer Hilfe suchen Neugeborene erste Orientierungen in dem sie umgebenden Milieu. Die regelhafte Wiederkehr von Hell und Dunkel, die Erfahrung von Wärme und Kühle, vertraute und fremde Gerüche, nahe und ferne, bekannte und fremde Stimmen sowie das Geräuschszenario des familialen Umfeldes lassen langsam eine vertraute Welt entstehen. In ihrer noch ungerichteten Zuwendung suchen Babys über ihre Sinne nach verlässlichen Verankerungen in ihrer Umgebung. Ihre Wahrnehmungen sind kein passiver Vorgang des Erleidens, sondern ein Für-Wahr-nehmen von sinnlich vermittelten Eindrücken. Das so entstehende Milieu wird Schritt für Schritt ausdifferenziert. Schon früh schaffen sich Kinder auf diese Weise eine unverwechselbare eigene Welt. Eine neue Qualität erhält die Weltzuwendung des Babys, wenn die ungerichteten Bewegungen der Arme und Hände und das Strampeln sich mit anderen sinnlichen Eindrücken regelhaft verbinden, wenn die rudernden Bewegungen der Hände dem über dem Kind hängenden „Rappelchen“ Geräusche entlocken, wenn das, was zunächst zufällig gelingt, absichtlich hergestellt werden kann und wenn erste Auge-Hand-Koordinationen zu festeren Wahr-

2

3

Der Begriff ‚Umwelt‘ wird hier im Sinne der ökologischen Psychologie und Handlungstheorie benutzt. Danach gibt es nicht die ‚eine‘ Umwelt, sondern je nach Spezies und deren biologischer Ausstattung und erworbener Kompetenz spezifische Umwelten. Gemäß der anthropologischen Kennzeichnung des Menschen als soziales, kulturelles und weltoffen handelndes Wesen, können wir dann von sozialen, kulturellen und materiellen Umwelten sprechen. Lenelis Kruse/Carl-Friedrich Graumann/Ernst-Dieter Lantermann: Ökologische Psychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, Weinheim: Beltz 1966. Die hier vorgetragenen Überlegungen folgen im Grundsatz der Entwicklungstheorie von Jean Piaget und beziehen sich insbesondere auf sein Werk: Jean Piaget: Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen, Frankfurt: Fischer 1992. – Siehe dazu Luc Ciompi: Außenwelt Innenwelt. Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988. Luc Ciompi gibt auf der Grundlage der Untersuchungen von Jean Piaget einen knapp gefassten Überblick über diese kindliche Entwicklungsphase (S. 16 ff).

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nehmungsmustern und Handlungseinheiten – zu „Gewohnheitsschemata“4 führen, in denen sich Bewegen, Hören, Sehen und Tasten zu einem ganzen Akt der Weltzuwendung zusammenfügen. Mit der Zunahme der Bewegungsfähigkeit des Kindes erweitert es auch seinen Aktionsraum. Er weitet sich aus, wenn z.B. die visuelle Wahrnehmung über die bisherigen Grenzen hinaus neue Ziele erfasst. Das Krabbelkind schafft sich einen Zugang zu immer größeren Zonen der Wohnung. Seine Fähigkeit, sich aufzurichten und die ersten Schritte zu tun, ermöglicht die Zuwendung zu höher liegenden Raumbereichen. Der sichere Stand befreit seine Hände aus der Begrenzung des Vierfüßlergangs. Der Krabbelraum wird um den Greifraum erweitert. So geht es Schritt für Schritt: Die zunehmende Fähigkeit sich zu bewegen geht einher mit der erweiternden Aneignung von Objekten und Räumen. Beides vollzieht sich zugleich in einem Vorgang. Wir können keineswegs sagen, die Bewegung müsse erst angeeignet werden, damit das Kind einen Zugriff auf die Welt erhält. Es scheint eher umgekehrt, seine Bewegungsfähigkeit entwickelt sich, indem es einen Zugang zur umgebenden Welt sucht. Im Sinne der ökologischen Entwicklungstheorie5 kann Entwicklung in diesem Sinne als schrittweise Erweiterung des Lebensraumes verstanden werden. Eine weitere qualitative Veränderung wird erreicht, wenn die umgebende Welt nicht nur ergriffen, sondern immer deutlicher in Sprache und Vorstellung repräsentiert wird. Wenn das Kind die Phase der „sensomotorischen Intelligenz“ vollendet hat, ist die Grundlage der Symbolbildung geschaffen. Handeln, Denken und Sprechen differenzieren sich zunehmend zu je eigenen Strukturbereichen aus. Die über das Handeln aufgebauten kognitiven Strukturen erlauben es, Handlungen zu reflektieren und zu antizipieren; die Repräsentation in Sprache und die Benennung von Gegenständen, Personen, Situationen und Handlungen schaffen die Voraussetzung einer Verständigung in und über eine gemeinsame Lebenswelt. Soweit zunächst die Skizzierung der unseren Überlegungen zugrunde liegenden Entwicklungstheorie, die sich deutlich an Piagets Entwicklungstheorie anlehnt, aber neuerdings auch von der Gehirnforschung im Grundsatz bestätigt wird.6

4 5 6

Vgl. Jean Piaget: Biologie und Erkenntnis, S. 265. Vgl. Uri Bronfenbrenner: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung, Stuttgart: Klett 1981. Wolf Singer: »Was kann der Mensch wann lernen«. In: Bildung und Qualität, Bayrischer Landesverband kath. Tageseinrichtungen für Kinder e.V., Jahrbuch 4 (2003), S. 104–119. 101

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W a h r n e h m u n g u n d B ew e g u n g Wenden wir uns nun dem Prozess der Interaktion zwischen Heranwachsendem und Umwelt selbst zu. Im gelingenden Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewegung entsteht ein Potential für immer neue Erkundungen der Umwelt, das sich im Zuge dieser Eroberungen ständig ausformt und differenziert (siehe Abb. 1). Dabei fungieren Bewegung und Wahrnehmung als vermittelnde Medien. Im Wechselspiel miteinander formen sie die Interaktionen zwischen Person und Umwelt. Auf Seiten der Person führen sie zur Ausdifferenzierung von Handeln, Denken und Sprechen; bezogen auf die Umwelt spricht Piaget von einer „beschleunigten Erweiterung“7 der erreichbaren Umwelt. Abbildung 1: Wahrnehmung und Bewegung

Wahrnehmung „als etwas“

Person

Welt

Bewegung „um zu“ Die Darstellung (Abb. 1)8 könnte das Missverständnis erzeugen, als seien alle vier Kategorien unabhängig voneinander wirksam. Wahrnehmung und Bewegung bilden eine Einheit und bedingen sich gegenseitig9. Aber sie unterscheiden sich auch, wenn man sie in ihrer, die Umwelt erschließenden Funktion betrachtet: Über Wahrnehmung deuten wir unsere Umwelt ‚als etwas‘. Wahrnehmung ist jedoch nicht nur ‚deutend‘, sondern auch zugleich eine Tätigkeit des Wählens. Sie ist ‚selektiv‘, denn wir können nur mit bestimmten Ausschnitten der Welt in Beziehung treten und mit ihnen eine zeitbegrenzte und zerreißbare Bindung (‚Kohärenz‘)10 eingehen. Im Zusammenspiel mit der 7 8

Vgl. Jean Piaget: Biologie und Erkenntnis, S. 359. Dieses Schema ist in Anlehnung an Viktor v. Weizsäcker und Andreas Trebels entworfen: „Bei der Wahrnehmung kommt es darauf an, dass sie uns etwas zeigt, bei der Bewegung, dass sie uns zu etwas führt“ Viktor v. Weizsäcker: Der Gestaltkreis. Theorie von Wahrnehmen und Bewegen, Frankfurt am M.: Suhrkamp 1973, S. 184. Siehe dazu auch Andreas Trebels »Bewegen und Wahrnehmen«. In: Sportpädagogik 6, 17 (1993),S. 19–27. 9 Vgl. Viktor v. Weizsäcker: Der Gestaltkreis, S. 244. 10 Viktor v. Weizsäcker bezeichnet als Kohärenz die „zerreißbare Einheit, welche ein Subjekt mit seiner Umwelt in einer Ordnung bildet“. Ebd., S. 292. 102

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Wahrnehmung ist Bewegung dagegen auf Wirkung aus. Ihre Intention folgt einem ‚um zu‘. Mit den Worten von Piaget: „Genau darin aber besteht das Verhalten: in einem optimal den Austausch regelnden Zusammenspiel von Wählen und Auf-die-Umwelt-Einwirken“.11 Auf die je eigene Gerichtetheit von Wahrnehmung und Bewegung macht auch Viktor v. Weizsäcker aufmerksam: „Bei der Wahrnehmung kommt es darauf an, dass sie uns etwas zeigt, bei der Bewegung, dass sie uns zu etwas führt“.12 Abbildung 2

Dieses Kind hat eine Pfütze als ‚Umweltausschnitt‘ gewählt. Mit der Hand wischt es über das Wasser und erzeugt Wellen, die das Spiegelbild im Wasser fragmentieren. Ob dies die Absicht des Kindes ist, können wir nicht wissen. Wir können lediglich die Bewegungen beobachten und von dort aus Annahmen über mögliche Wahrnehmungen des Kindes formulieren. Obwohl es sich hier nur um ein einzelnes Standbild handelt, können wir die Bewegung dennoch an der Wirkung des Handelns, den durch die Hände erzeugten Wellen nachvollziehen. Erst eine längere Beobachtung ließe uns das Zusammenspiel von Wahrnehmen und Bewegen mit größerer Zuverlässigkeit erfassen. Erst über das Gespräch gewinnen wir darüber weitere Sicherheit. Über die Macht des Einflusses der Person und ihrer Anlagen einerseits und der Umwelt mit ihrer Prägekraft andererseits auf die menschliche Entwicklung ist ausgiebig gestritten worden.13 Piaget argumentiert gegen die Auffassung, dass es allein die Person sei, die ihre „apriorische Struktur des Geistes“ der Umwelt „aufpräge“; es könne aber genauso wenig angenommen werden, dass der Umwelt das „Primat des Objektes über das Subjekt“ zukomme. „[...] 11 Vgl. Jean Piaget: Biologie und Erkenntnis, S. 34. 12 Vgl. Viktor v. Weizsäcker: Der Gestaltkreis, S. 184. 13 In seinem Werk: Biologie und Erkenntnis, setzt sich Jean Piaget (1992) ausführlich mit dieser Frage auseinander, besonders in dem Abschnitt »Organismus und Umwelt«, S. 100–127. 103

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Subjekt und Objekt sind im Handlungsablauf untrennbar verbunden“14. Unsere Aufmerksamkeit muss deshalb „den anfangs ebenso durch die spontanen Aktivitäten des Organismus wie durch äußere Reize in Gang gebrachten Interaktionen zwischen Subjekt und Objekt“15 gelten. Subjekt und Objekt, Person und Umwelt sind in einem Prozess gegenseitiger Anpassung und Gestaltung verstrickt. Der Vorgang der wechselseitigen Anpassung (Adaptation)16 hat zwei eng miteinander verwobene Teile: im Prozess der ‚Assimilation‘ (a) werden äußere Einflüsse in vorhandene Strukturen eingepasst; Eindrücke von außen können auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen gedeutet und verarbeitet werden. ‚Akkommodation‘ (b) nennt Piaget jenen Anpassungsprozess, der zu Veränderungen der bereits assimilierten Strukturen führt; es müssen neue Strukturen aufgebaut werden, um Eindrücke aus der Außenwelt zu verarbeiten. Das in der Abb. 2 gezeigte Kind kann unterschiedliche Eigenschaften des Wassers (Spiegelung, Beweglichkeit, Kühle, Nässe …) erkunden. Jede dieser Eigenschaften wird durch je spezifische Hinwendungen (durch deutende Wahrnehmungen und wirksame Aktionen) erfahrbar und je nach Erfahrungsstand in bisherige Strukturen integriert oder es werden neue Strukturen aufgebaut. Wenn wir also mehr über die Entwicklung erfahren wollen, müssen wir die Prozesse betrachten, die sich im Wechselspiel von Wahrnehmen und Bewegen, von „Spüren und Bewirken“17 ereignen. In der Auseinandersetzung von Person und Umwelt haben beide Formen der Anpassung (‚Assimilation‘ und ‚Akkommodation‘) die Funktion, ein gestörtes Gleichgewicht wieder herzustellen. Störungen sind der notwendige Ausgangspunkt für Veränderungen, für Entwicklung, Lernen und Erfahrung. Voraussetzung ist ein „Organismus“, der im „unentwegten Bemühen, im Fluss des Erlebens sein Gleichgewicht zu bewahren“18 sucht. Und aus der Sicht von V. v. Weizsäcker: “Insofern ein Lebewesen durch seine Bewegung und Wahrnehmung sich in eine Umwelt einordnet, sind diese Bewegung und Wahrnehmung eine Einheit – ein biologischer Akt. Jeder Akt kann als Wiederherstellung oder Neuschaffung einer gestörten Ordnung aufgefasst werden“19. Woher aber kommen die Störungen, die so unumgehbar sind, dass sie Veränderung, Lernen und Erfahrung auslösen?

14 15 16 17

Vgl. Jean Piaget: Biologie und Erkenntnis, S. 103. Ebd., S. 29. Ebd., S. 175. Andreas H. Trebels: »Bewegungsgefühl: der Zusammenhang von Spüren und Bewirken«. In: Sportpädagogik 4, 14 (1990), S. 12–18. 18 Vgl. Ernst v. Glasersfeld: Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus, Braunschweig/Wiesbaden: Viehweg & Sohn 1987, S. 230 und S. 109, S. 147, S. 227. 19 Vgl. Viktor v. Weizsäcker: Der Gestaltkreis, S. 291. 104

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Zu allererst machen die Entwicklungsschübe der heranwachsenden Person eine ständige Neuorganisation der Umweltbeziehung notwendig. Die Pubertät ist dafür ein deutliches Beispiel. Das gilt auch für die körperlichen und motorischen Bereiche. Anpassungszwänge schafft sich der Mensch selbst durch die individuell geprägte aktive Zuwendung, die er seiner Umwelt gegenüber einnimmt. Verstärkt wird dieser Prozess durch eine Exploration um ihrer selbst willen, die sich von den vitalen Bedürfnissen des Überlebens verselbständigt und besonders Kindern eigen ist. Gerade für sie sind Neugierde, Erkundung und Nachfrage die treibenden Kräfte, die zu Diskrepanzen zwischen bloßer Deutung und Wirklichkeit oder auch zwischen Wollen und Können führen. Die Umwelt verändert sich auch gänzlich unabhängig von der aktiven Zuwendung des Menschen. Deshalb gilt: „Das Verhalten schließlich ist allen möglichen Gleichgewichtsstörungen ausgesetzt, da es fortwährend von einer unbegrenzten und unbeständigen Umwelt abhängt, der es völlig ausgeliefert ist..“20

Die Störungen gehen also nicht nur von der Person aus. „Die fortwährende Weiter- bzw. Höherentwicklung affektiv-kognitiver Bezugssysteme wird selbstorganisatorisch provoziert durch die Konfrontation mit anders nicht zu eliminierenden äußeren Störungen und Widersprüchen“.21 Ziel ist die Wiederherstellung des Gleichgewichtes, verstanden „als aktive Kompensation, die das Subjekt erlebten oder antizipierten Störungen entgegensetzt“.22 Wie wir sehen werden, sind die Störungen von typischen Ausprägungen der MenschWelt-Beziehungen abhängig. Um dies zu belegen sind die unterschiedlichen Arten der Person-Umwelt-Beziehungen näher zu bestimmen.

D u r c h B ew e g u n g g e s t i f t e t e P e r s o n - U mw e l t - B e z i e h u n g e n Wie in Abb. 1 skizziert, ist Entwicklung an die Interaktionen zwischen Person und Umwelt gebunden. Wenn Umwelt gleichsam der Widerpart ist, an deren Herausforderungen und Störungen sich die Person abarbeiten muss, dann können uns die Strukturen der Umwelt nicht unwichtig sein, umso mehr, da wir wissen, dass Bewegung und Wahrnehmung die Prozesse sind, über die der Mensch sich die Umwelt verfügbar macht und sich dabei selbst entwickelt. Beide, Person und Umwelt, gelten als „plastische Systeme“, die sich

20 Vgl. Jean Piaget: Biologie und Erkenntnis, S. 38. 21 Vgl. Luc Ciompi, Außenwelt Innenwelt, S. 244. 22 Vgl. Jean Piaget, ebd., S. 12. 105

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durch „strukturelle Kopplungen“ wechselseitig verändern können. „Sie entstehen … immer in der ‚Aktion’, das heißt im handelnd erlebten Austausch mit der Umwelt, und sind nichts anderes als äquilibratorische Anpassungen des psychischen Apparates an sie“.23 In der Abb. 2 ist das Verhalten des Mädchens deutlich durch die Umgebung beeinflusst; dass das Wasser nach vorsichtiger Berührung seine Oberflächenstruktur verändert, kann sich das Mädchen als Selbstwirksamkeit zurechnen. Was es kann, wird sichtbar. In der mehrfachen Wiederholung werden auch die hervorgerufenen Eigenschaften des Wassers Teil seiner überdauernden Erfahrung. Die Art, wie das Kind hier sich seine Umwelt schafft, bestätigt unser Wissen, dass es d i e Umwelt nicht gibt, sondern nur jeweils personenbezogene und subjektive Auslegungen. Die um Sauberkeit besorgte Erziehungsperson beispielsweise wird die Pfütze möglicherweise ganz anders wahrnehmen. Viktor v. Weizsäcker, der die Begegnung zwischen Person und Umwelt in den Mittelpunkt seiner Gestaltkreislehre stellt, bringt dies auf die kurze Formel: “Denn für ein Ich existiert nur seine Umwelt; die Umwelt existiert nur, sofern sie einem Ich gegeben ist“.24 Carl Friedrich von Weizsäcker präzisiert: “Die Umwelt eines Lebewesens besteht aus den für es erschlossenen Handlungsmöglichkeiten“.25 Wenn über Bewegung und Wahrnehmung wechselseitige Anpassungen zwischen Person und Umwelt stattfinden (Abb. 3), dann müssen auch äquivalente Strukturen in der Person und in der Umwelt identifizierbar und benennbar sein. Wir gehen davon aus, dass bestimmte Umweltausschnitte mit entsprechenden Erfahrungsbereichen korrespondieren. Entwicklung kann in diesem Sinne gleichermaßen als (Um-)Weltaneignung wie als Identitätsbildung verstanden werden. Die Strukturen der Umwelt (Umweltausschnitte), die über Bewegung und Wahrnehmung erfasst werden können, stehen in Korrespondenz mit Wirkungen und Anpassungen (Erfahrungsbereichen), die sich zu Merkmalen der Person ausprägen können. Die vermittelnde Funktion von Wahrnehmung und Bewegung verwirklicht sich allerdings erst im praktischen Vollzug, in den Interaktionen zwischen Person und Umwelt.

23 Vgl. Luc Ciompi: Außenwelt Innenwelt, S. 184 ff. 24 Vgl. Viktor v. Weizsäcker: Der Gestaltkreis, S. 243. 25 Vgl. Carl-Friedrich v. Weizsäcker: Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, Frankfurt a. M.: Fischer 1980, S. 164. 106

BEWEGUNGSFÖRDERUNG IN GESTALTBAREN UMWELTEN

Abbildung 326 Erfahrungsbereiche

Umwelt-Ausschnitte Bewegung

Wahrnehmung

Person

Welt

Materiale Erf. Soziale Erf.

Gegenständliche W.

Interaktion

Soziale W.

Kulturelle Erf.

Kulturelle W.

Selbst-Erf.

Subjektive W.

Identitätsbildung

Entwicklung Sozialisation

Weltaneignung

Die „Welt“ kann uns in unterschiedlichen Zuständen (Ausschnitten) gegenübertreten,27 deren Erschließung Anpassungs- und Aneignungsprozesse (Lernen) erforderlich machen. Beispiele für die Beziehungen zwischen Person und Umwelt sind:

Materiale Erfahrungen – Ich kann! Umwelt begegnet uns erstens als gegenständliche Umwelt, die uns etwas entgegensetzt und in der der Mensch etwas herbeiführen und bewirken kann; die materielle Umwelt setzt den menschlichen Aktivitäten Widerstände entgegen, deren Überwindung Lernen (Anpassung und Einpassung) erforderlich macht. Im Vordergrund steht die Absicht, da hinauf zu kommen. Die Bewegungen werden diesem Ziel zugeordnet. Probiert wird, bis es klappt. Dabei gibt das Gerät die Handlungsmöglichkeiten und Grenzen vor (Abb. 4). An der Wider-

26 Das in Abb. 3 dargestellte Schema lehnt sich an Jürgen Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 2. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981) an, der drei für die Sozialisation bedeutsame „Aktor-Welt-Beziehungen“ (S. 193) unterscheidet. Den drei dort aufgeführten Person-Welt-Beziehungen (objektiv, sozial, subjektiv) habe ich die Beziehung zur kulturellen Welt hinzugefügt. Jürgen Habermas selbst hat die „kulturelle Reproduktion“ (S. 209) als bedeutsam für die Sozialisation heraus gestellt. 27 Vgl. Jürgen Habermas: »Stichworte zu einer Theorie der Sozialisation«. In: Ders., Kultur und Kritik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 118-194, (hier S. 183 ff). 107

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ständigkeit des Gerätes entwickelt sich die Fähigkeit zu klettern. Gesteigert wird die Motivation durch das Können anderer. Abbildung 4

Der Sport bietet anschauliche Beispiele dafür, sich selbst Grenzen zu setzen, Grenzen zu erfahren und Grenzen zu überschreiten. Das Klettern ist ein Beispiel, wie sehr nicht nur Kinder darauf aus sind, die Widerständigkeit der und die Grenzen in der Umwelt zu suchen und zu überwinden; welche Energie und Ausdauer Kinder dabei an den Tag legen können, ist bekannt. Ein anderes Beispiel: Ein Mädchen (2 Jahre) spielt mit Duplosteinen. Es bemüht sich, was würden wir anderes erwarten, die Steine aufeinander zu stecken. Ihre Bewegungen sind noch ungenau und sie trifft nicht immer gleich die richtige Passung der Noppen und der Öffnungen. Mit einer unglaublichen Geduld und Hartnäckigkeit setzt sie mühsam Stein auf Stein. Was zunächst eher zufällig gelingt, prägt sich zunehmend zur zielsicheren Fertigkeit aus. Der Baustein trägt die Möglichkeiten aber auch die Grenzen seiner Verwendung in sich. Die auf das Zusammenstecken hinauslaufende Spielhandlung ist Widerstand und Reiz zugleich. Die Konstruktionsmerkmale des Bausteins lenken und begrenzen die Spieltätigkeit in eine eindeutige Richtung. Anders gesagt: die Freiheiten der Verwendung sind dadurch zunächst eingeschränkt. Oder, anders betrachtet: das Objekt definiert die möglichen Handlungen! Werden die geforderten Fertigkeiten aber irgendwann souverän beherrscht, ist die Erkundungstätigkeit abgeschlossen. Die Fähigkeit die Bausteine zusammenzusetzen kann nun phantasiereich genutzt werden für den Bau bestimmter Dinge und zum phantasievollen Spiel mit ihnen. Sie arbeiten 108

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dadurch nicht nur Spielideen aus. Die Kinder werden dabei auch von mal zu mal geschickter. Sie gewinnen von mal zu mal das Potential, das MerleauPonty die „Weisheit“ nennt, „die in den Händen ist“.28 Oder noch treffender bei Jean Piaget, das „Wissen im Tun“ (Savoir Faire).29 In solchem Spiel mit Gegenständen wird nicht nur die Widerständigkeit der Dinge, sondern auch die des eigenen Körpers erfahren und schrittweise überwunden. Nur so entwickeln Kinder Bewegungsgeschicklichkeit und Körperbeherrschung. Der Reiz der vielfältigen Spiel- und Sportgeräte liegt gerade darin, dass sie eine Widerständigkeit in sich tragen, die überwunden werden kann: Ob Jo-Jo oder Ruderboot, In-Liner, Eislaufen oder Schwimmen, immer ist es ein Gerät oder – wie das Wasser – ein Ausschnitt der Umwelt, der als Widerstand wahrgenommen wird. Immer ist mit dem Umgang damit auch ein Risiko verbunden, das die Kinder suchen, um es zu überwinden. Nur so können sie Sicherheit gewinnen.30

Soziale Erfahrungen – Ich spiele mit! Im Zusammensein mit Anderen erleben Menschen die Umwelt als soziale Welt, in der Regeln des Handelns und der Interaktion gelten; es entstehen Konflikte. Gerade in den Bewegungsspielen treten Regelkonflikte deutlich hervor, die neue Vereinbarungen notwendig machen. In Bewegungsspielen werden die Grenzen der Gültigkeit von Regeln gesucht; Sätze wie: „Das gilt aber nicht“, „das ist meins“ – „ich bin Erster!“ – „dann spiel ich nicht mehr mit!“ – „Der Ball war drin!“ sind der potentielle Beginn eines Konfliktes und provozieren die Notwendigkeit der Aushandlung neuer Vereinbarungen. Dieses Beispiel (Abb. 5) zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der materiellen Umwelt zumeist kein einsamer Akt einer einzelnen Person ist. Sie ist sozial eingebunden.

28 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 174. 29 Vgl. Jean Piaget: Biologie und Erkenntnis, S. 19. 30 Dies ist das Fazit, das wir aus den Untersuchungen, die wir in Kooperation mit der Landesunfallkasse Hamburg (LUK) durchgeführt und in einer Broschüre dokumentiert haben: Vgl. Knut Dietrich/u.a. (Hg.), „Risiko im Spiel- und Bewegungsverhalten von Kindern“, 2. Aufl., LUK Hamburg 2005. 109

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Abbildung 5

Diese Gruppe von Jungen agiert im sozialen Bezug zueinander. Der Junge auf der Schaukel überschreitet die normale Nutzung der Schaukel, indem er sie als Schleuder nutzt. Wir konnten beobachten, dass auch die anderen Kinder das nachmachten. Nachahmung von Handlungen, die andere zeigen, kann als die wichtigste Form des Lernens bezeichnet werden. Erst, wenn sie es selbst versucht haben, können sie sich in den Handlungsverlauf eindenken und ihn erspüren, ihn innerlich nachvollziehen bzw. antizipieren. Die eigene Handlung wird Teil eines Rollenspiels. Die anderen spielen Risiko. Sie tun so, als ob sie sich vor einer großen Gefahr in Sicherheit bringen müssten. Sie agieren nicht nur in abgestimmter Weise miteinander. Indem sie die Szene dramatisieren, müssen sie ihre Bewegungen fein aufeinander abstimmen. Auch über die Frage, wer die Rolle des Schaukelnden übernimmt, wer dann dran ist, muss Einvernehmen erzielt werden. Sie müssen Vereinbarungen treffen, Regeln aufstellen und immer wieder klären, was gilt. Das dramatische Spiel wird zur Darstellungsleistung der ganzen Gruppe. War die oben beschriebene materiale Erfahrung mit den Duplosteinen noch als individuelles Geschehen denkbar, so kann die soziale Welt nur in Bezug auf Andere erzeugt und in Erfahrung gebracht werden. Wieder anders ist es im Bereich der kulturellen Erfahrungen.

Kulturelle Erfahrungen – Ich verstehe! Umwelt ist, wie bereits erwähnt auch kulturelle Welt, in der Dinge und Handlungen spezifische Bedeutung haben, die in ihrer Symbolik die kulturelle Welt konstituieren. Unsere Welt ist durchsetzt mit Zeichensystemen, deren Verständnis Grundlage der Teilhabe an einer gemeinsamen Lebenspraxis darstellt. All unsere Lebensbereiche (Beruf, Freizeit, Kirche, Verein) bilden „se-

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mantische Felder“31, d.h. Bedeutungsfelder aus, deren spezifische Struktur gelernt werden muss, um sich dort zuhause zu fühlen. Wer die Zeichen und Symbole, die Gesten und Rituale etwa eines Gottesdienstes oder eines sportlichen Wettkampfes nicht versteht und selbst vollziehen und zum Ausdruck bringen kann, wird sich deplatziert und unwohl fühlen. Das Zusammentreffen unterschiedlicher kultureller Muster ruft Missverständnisse hervor, die kulturelle Anpassungen oder bewusste Abgrenzungen notwendig machen. Die Übernahme von Symbolsystemen und die Handhabung von Zeichen geschehen zumeist im Fluss des Lebens, sie sind an ein spezifisches Milieu gebunden und situationsbezogen32. Das lässt sich auch am Noch-nicht-Verstehen eines Kindes verdeutlichen. Folgende Szene zeigt uns das Dilemma zwischen Missverständnis und Sprachlosigkeit. Abbildungen 6 und 7: Vater und Sohn beim Fußball

Ein Vater möchte mit seinem dreijährigen Sohn Fußball spielen. Auf dem Bolzplatz allerdings sind die mehrfachen Bemühungen des Vaters, mit Tor und Ball eine Fußballsituation herzustellen wenig erfolgreich33. Der Junge benutzt und deutet das Tor als Klettergerät. Der Ball bleibt unbeachtet. Die typischen Symbole Ball und Tor als wesentliche Elemente des Zeichensystems Fußball werden (noch) nicht erkannt.

31 Vgl. Peter Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M.: Fischer 1980. 32 Dieses Eintauchen in ein kulturelles Milieu lässt sich treffend mit den Kategorien des situated learning beschreiben. Vgl. Jean Lave/Etienne Wenger: Situated Learning. Legitimate Peripheral Participation, Cambridge: University Press 1991. 33 Vgl. Knut Dietrich: »Wenn der Vater mit dem Sohne …«. In: Heinz-Dieter Horch/Manfred Schubert/Markus R. Frederici, (Hg.), Sport, Wirtschaft und Gesellschaft, Schorndorf: Hofmann, 2002, S. 67–82. 111

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Wer allerdings einmal Fußballer werden will, muss die kulturellen Bedeutungen des Spiels erkennen und handhaben können. Der Deutungskonflikt ist offensichtlich. Der Sohn hat noch nicht verstanden, was Ball und Tor bedeuten. Der Vater erscheint ratlos. Ein Fußballplatz ist, wie jeder Sportraum, voller Zeichen und Symbole, die unseren Handlungen Orientierungen geben und Richtungen weisen. Wir finden, wie Peter Berger und Thomas Luckmann es nennen, ein „semantisches Feld“, einen Handlungsbereich voller kultureller Bedeutungen vor. „Eingefahrene Bedeutungen, die der Mensch seiner Tätigkeit verliehen hat, erübrigen es, dass jede Situation Schritt für Schritt neu bestimmt werden muss“.34 Am Missverständnis zwischen Vater und Sohn – am Noch-nicht-Verstehen können wir uns klar machen, welchen Entwicklungsstand der dreijährige Sohn, gemessen an den väterlichen Erwartungen, erreicht hat und was er noch alles lernen muss, um ein Fußballspieler zu werden. Dieses Lernen vollzieht sich dann zumeist als Nachahmung, als mimetisches Handeln.35 Alle Dinge, wie Ball, Fußballtor, Schaukel, Legosteine oder Rollschuhe sind nicht nur Materie. Sie sind soziale und kulturelle Gegenstände. Es geht nicht nur darum, die Gesetzmäßigkeit des Gerätes zu ertasten und dabei materiale Erfahrungen zu machen. Geräte sind sozial und kulturell kodiert. Sie nutzen und handhaben zu lernen bedeutet, sich ein Stück der kulturellen Welt anzueignen und damit an der kollektiven Welt36 teilzuhaben. Robert Kegan – ein Schüler Piagets – bezeichnet Entwicklung als eine „bedeutungsschaffende Aktivität“37. Die Aneignung der kulturellen Welt ist also nicht nur Nachahmung und Übernahme, sondern eine kreative Handlung. Nicht nur unsere dingliche Welt, auch unsere Bewegungen sind Träger von Bedeutungen. Nur insofern können wir von Bewegungskultur sprechen. Im Sinne des ethnologischen Kulturbegriffs von Clifford Geertz38 verstehen wir Bewegungskultur als ein spezifisches, auf Bewegung gründendes System von Bedeutungen. Hierzu gehört auch der Sport, in dessen Handlungsgefüge Gebärden, Gesten und Symbole eine konstituierende Funktion haben. Sie sind unverzichtbar für die Verständigung sowohl der aktiv handelnden Sportler wie auch für die Zuschauer. Unterschiedliche kulturelle (wie sportliche) Handlungsfelder entwickeln je eigene Symbolwelten und semantische Felder, 34 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 57. 35 Vgl. Christoph Wulf: Einführung in die Anthropologie der Erziehung, Weinheim/Basel: Beltz 2001, S. 76–138. 36 Vgl. Alfred Lorenzer: Das Konzil der Buchhalter, Frankfurt a. M.: Fischer 1984, S. 155f. 37 Robert Kegan: Die Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben, 3. Aufl., München: Peter Kindt 1994, S. 112. 38 Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987. 112

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deren Kenntnis und souveräne Handhabung das Bewusstsein vermitteln, dazu zu gehören. In Jugendkulturen können z.B. viele Bedeutung setzende Akte junger Heranwachsender sichtbar werden. Neben einem besonderen Outfit und einer spezifischen Sprache haben auch Gebärden und Gesten die Funktion, sich von der Erwachsenenwelt oder auch voneinander abzugrenzen. Hierzu gehören auch spezifische Bewegungspraxen, etwa des Hip-Hop, oder bestimmter Trendsportarten. Die Funktion der Gesten wird auch im nächsten Beispiel anschaulich.

Selbst-Erfahrung – Ich kann allein! Auch gegenüber unserer subjektiven Welt (Innen-Welt) können wir uns verhalten. Der Mensch ist in der Lage, zu sich selbst in eine distanzierte Beziehung zu treten. Anlässe dazu können aus seinem Verhalten in allen anderen Person-Welt-Beziehungen entstehen, wenn die vielfältigen Formen von Störungen selbstkritisch rückbezogen werden auf die eigene Person. So kann die Unvereinbarkeit von eigener Absicht und den gegebenen Möglichkeiten der Realisierung zu Zweifeln an sich selbst oder gar zu Identitätskrisen führen, deren Überwindung zur Entwicklung des Ich – oder der Ich-Identität beitragen. Werden solche Krisen auch meist als lästig empfunden, so haben sie dennoch eine entscheidende Funktion für die Identitätskonstruktion.39 Selbst-Erfahrung erwächst aus jenem Prozess der emotionalen Auseinandersetzung mit der (materialen, sozialen und kulturellen) Umwelt, in dem Diskrepanzen auftauchen: zwischen Wollen und Können, wo sich Widerstände aufbauen, die nicht überwindbar erscheinen, wo Zweifel am Verständnis der Anderen aufkommen, wo Angst lähmt, wo Erwartungen nicht erfüllt werden können, wo man ausgelacht wird, – kurz, wenn der Mensch mit sich und der Welt im Unreinen ist, kann er aus dem Gleichgewicht geraten. IchEntwicklung ist geprägt durch die nie ganz erreichbare Fähigkeit, eine Balance herzustellen zwischen dem, was man selber ist und dem, was erwartet wird.

39 Vgl. Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. 113

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Abbildung 8

Beim Mutter-Kind-Turnen. Bei vielen wiederholten Versuchen hat diese Mutter ihren Sohn mit lockerer Handhaltung beim Hopsen auf der instabilen, gewölbten Matte unterstützt. Nun entzieht er sich der Mutter, zeigt durch eine selbstbewusste Geste, dass er es alleine kann. Die Mutter bestätigt diese Entscheidung gestisch, indem sie die Hände spiegelbildlich zurücknimmt. In der Bewältigung der motorischen Herausforderung und im bewussten Verzicht auf die helfenden Hände gewinnt er ein Stück Souveränität. „Ich will es allein!“

B ew e g u n g s f ö r d e r u n g Bewegungsförderung zielt darauf, Situationen zu schaffen, in denen diese vier Erfahrungsbereiche (materiale, soziale, kulturelle und darin eingebundene Selbst-Erfahrung) so zum Thema werden, dass Anforderungen prägnant hervortreten oder herausgearbeitet werden und zugleich eigene Gestaltungen möglich sind. Dies erfordert Anpassungen und eröffnet Gestaltungsmöglichkeiten.

Anpassen und Gestalten Die Begegnung Heranwachsender mit ihrer Umwelt kann auf unterschiedliche Weise fordernd oder ermöglichend, begrenzend oder befreiend sein. Die Art, wie hart oder weich die Auseinandersetzung empfunden wird, hängt von den Erwartungen des Akteurs einerseits und den Entgegensetzungen der Umwelt andererseits ab. Der kletternde Junge (Abb. 4) trifft auf ein festes, unveränderliches Gerät, dessen Besteigung er nur schafft, wenn er sich in Krafteinsatz und Geschicklichkeit den Forderungen des Gerätes anpasst. Angestachelt wird er möglicherweise durch das andere Kind, das bereits begonnen hat, wei114

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tere der dort möglichen Kunststückchen auszuführen. Die hier genutzte Reckstange begrenzt die Bewegungen einerseits, auf der Grundlage des Könnens erlaubt sie andererseits aber eine Vielfalt von Bewegungsgestaltungen, die an Kunstturnen erinnern. Immerhin haben die beiden abgebildeten Kinder einen kleinen ersten Schritt in die Welt des Turnens gemacht, ohne sich dessen bewusst zu sein. Das Wechselspiel von Anpassen und Gestalten ist vor allem von den Sportarten bekannt, die die Bewältigung und Nutzung eines Gerätes in den Mittelpunkt der Sporthandlung stellen, wie etwa Segeln, Surfen oder Skilaufen, aber auch Tennis, Golf und Fußball. Das gilt auch für das Beispiel der schaukelnden Kinder (Abb. 5), die zunächst die Fähigkeit entwickeln müssen, das Pendel, dessen Teil sie selber sind, ohne fremde Hilfe in Gang zu bringen und die Schwungamplitude nach Bedarf zu vergrößern. Erst auf dieser Grundlage können die Kinder das bloße Schaukeln „erfinderisch“ überschreiten (Tamboer)40 und als ein dramatisches Spiel gestalten. Mit Piaget: In der ersten Phase (‚Assimilation‘) findet eine strukturelle Anpassung an die Nutzungsmöglichkeiten des Gerätes statt. In der zweiten Phase (‚Akkommodation‘) wird das dabei erworbene Handlungsmuster vom Schaukeln zum Schleudern erweitert und differenziert. Es kommt zu einer Umdeutung des Gerätes, es wird übereinstimmend als etwas Anderes wahrgenommen und entsprechend genutzt. Dem dreijährigen Jungen, der von seinem Vater auf den Bolzplatz geführt wird (Abb. 6 u. 7), sind die Signale und Zeichen, die vom Platz und seiner Ausstattung mit Toren und Ball ausgehen, in keiner Weise vertraut. Deshalb kann er den Platz nicht als Bolzplatz wahrnehmen. Nun stellen die Sportspiele auch recht „harte“ Anpassungsforderungen an die Akteure. Wer Fußball als Wettkampfspiel betreibt, muss nicht nur den Ball beherrschen (über materiale Erfahrungen verfügen), er muss seine Handlungen auch mit Mitspielern abstimmen und sie gegen Gegenspieler absichern (soziale Erfahrungen). Dabei muss er wissen, was die Linien (wie Torraum) bedeuten und deren geheime Handlungsanweisungen strikt befolgen. Er muss nicht nur die Signale und Gesten seiner Mitspieler, sondern auch die des Schiedsrichters verstehen (kulturelle Erfahrungen). Und all das geschieht unter dem Erwartungsdruck von außen. So betrachtet haben wir es in diesem Fall mit harten, d.h. in hohem Maße definierten und kontrollierten Handlungserwartungen zu tun. Wer unter diesen Umständen ein Könner sein will, der muss in hohem Maße Anpassungsleistungen vollbringen, ehe er zum Spielgestalter werden kann. Der dreijährige Junge hat den ersten Schritt in die Welt des Fußballs noch vor sich.

40 Vgl. Jan Tamboer: »Sich-Bewegen – ein Dialog zwischen Mensch und Welt«. In: Sportpädagogik, 2, 3 (1979), S. 14–18. 115

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Das mag so klingen, als seien Gestaltungschancen erst nach Absolvierung von langwierigen Anpassungsleistungen eröffnet. Beobachtungen von Heranwachsenden beim selbst organisierten Spiel können diese Auffassung widerlegen. Die Art, wie sie – bleiben wir am Beispiel Fußball – dieses Spiel auch auf einem sehr niedrigen Niveau für sich erschaffen, versetzt uns in Erstaunen. Haben sie unter dem Prägedruck einer dominanten Fußballwelt die Idee des Spiels erst einmal begriffen, brauchen sie nur einen Ball, ein bisschen Platz und ein paar Mitspieler, um ein Spiel in Gang zu setzen und es selbst unter wechselnden Bedingungen in Form und Verlauf anzupassen41. Sie begreifen das Grundmuster (die Idee) des Spiels als Ganzes, noch bevor sie die materialen Erfahrungen der Ballbeherrschung auf hohem Niveau gemacht haben. Erfahrung und Lernen vollziehen sich in einem Wechselspiel von Anpassung und Gestaltung: Anpassung orientiert sich an der gegebenen, vorgefundenen materiellen, sozialen und kulturellen Welt. Die Anpassungsforderungen können hart (zwanghaft, unumgehbar) oder weich (kaum spürbar, unterschwellig, situationsgebunden) sein. Letztere können oft schon über bloße Nachahmung und Mitmachen erfüllt werden. Gerade die sozialen und kulturellen Forderungen sind von außen kontrolliert, werden über Sanktionen durchgesetzt oder unterliegen, über bereits verinnerlichte Normen, der Selbstkontrolle der Akteure. Gestaltung ist auf konstruktive Phantasie der handelnden Personen und auf benennbare Qualitäten der Umwelt angewiesen. Gestaltbar ist eine Umwelt, • wenn eine in ihrer Verwendung geprägte materielle Umwelt kreativ verändert werden kann, • wenn man sich über die dort geltenden Regeln mit anderen verständigen und sie neu vereinbaren kann, • wenn man in einer gelebten Symbolwelt die Bedeutungen von Dingen und Handlungen nicht nur übernehmen, sondern ihnen auch eigene Tönungen geben und Zeichen setzen kann – und • wenn eine Person trotz der dabei auftretenden Störungen ihr Gleichgewicht bewahren bzw. wieder herstellen kann.

41 Vgl. Knut Dietrich/Gerd Landau: »Fußballspielen im freien Bewegungsleben von Kindern und Jugendlichen«. In: Knut Dietrich/Gerd Landau: Beiträge zur Didaktik der Sportspiele, Bd. 1, Schorndorf: Hofmann 1974, S. 53–67. 116

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B ew e g u n g s p ä d a g o g i s c h e I n s z e n i e r u n g e n Bei der didaktischen Gestaltung muss beachtet werden, dass die auf die vier verschiedenen Umweltausschnitte gerichteten Lern- und Erfahrungswege in je eigenen Bahnen verlaufen. Bedeutungen und Gesten werden anders angeeignet als Regeln. Aber beide (kulturelle und soziale Erfahrungen) können nur in sozialen Handlungsfeldern angeeignet werden. Materiale Erfahrungen können dagegen auch allein gewonnen werden. Sie zielen auf ein Savoir Faire, auf ein Wissen, das dem Tun verhaftet ist. Selbst-Erfahrungen entzünden sich an Störungen, die eine Person zwingen, mit sich selbst und der Umwelt wieder ins Gleichgewicht zu kommen. In der Praxis treten sie zusammen auf und bestimmen je nach Lage das Handeln der Akteure. Man muss diese unterschiedlichen Wege der Erfahrung kennen, um sie zu befördern, zu ermöglichen oder absichtlich in Gang zu setzen, zu kontrollieren, zu bewerten oder zu würdigen. Dazu ist der Dialog zwischen Erzieher und Heranwachsendem unerlässlich. Die leitenden Fragen sind: Welche Umwelten bieten wir unseren Kindern und Jugendlichen? Welche kognitiven, sozialen, kulturellen und subjektiven Herausforderungen bieten sie den Heranwachsenden? Welche besondere Qualität müssen Spiel- und Bewegungsräume aufweisen? Welche Handlungsund Gestaltungsmöglichkeiten können angeregt werden? Diese Fragen lagen auch einem mehrjährigen Projekt42 zugrunde. Die Förderpraxis orientierte sich an vier Modulen, die abschließend skizziert werden sollen.

Module der Bewegungsförderung Bauen, Bewegen, Spielen – Die Bewegungsbaustelle43 Mit der Bewegungsbaustelle werden Materialien bereitgestellt, die in ihrem objektiven Zuschnitt, ihrer Deutungsoffenheit und ihrer Kombinierbarkeit ein

42 Das vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherheit unterstützte Projekt „Moving Kids – Bewegungsförderung in gestaltbaren Umwelten“ fand zwischen 2004 und 2006 in einem Stadtteil im Norden Hamburgs statt. Die im Folgenden beschriebenen Module zur Bewegungsförderung beruhen auf Erfahrungen aus diesem Projekt. 43 Bei der Bewegungsbaustelle handelt es sich um eine von Gerd Landau und Klaus Miedzinski entwickeltes Konzept der Bewegungsförderung. Von Ivo Hoin wurde sie in dem o.g. Projekt weiterentwickelt und systematisch vor allem in den Kindertagesstätten in Hamburg verbreitet. Klaus Miedzinski/Klaus Fischer: Die Neue Bewegungsbaustelle. Mit Kopf, Herz, Hand und Fuß. Modelle bewegungsorientierter Entwicklungsförderung, Dortmund: Borgmann 2006. 117

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breites Spektrum von Handlungsmöglichkeiten und der gemeinsamen Nutzung eröffnet. Abbildung 9

Abbildung 10

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Zu Abbildung 9: In irgendeiner Weise sind alle Kinder dieser Kindertagesstätte aktiv. Um verschiedene Objekte zusammen zu bauen, müssen sie die Dingeigenschaften handhaben lernen. Die Kinder überformen die erkundeten Nutzungsmöglichkeiten der Objektwelt mit ihrer Spielfantasie. Über den Besitz und die Art der Manipulation der Geräte müssen sie Vereinbarungen treffen. Es entstehen viele Gelegenheiten der sprachlichen Verständigung. Z. B. Sprechsituationen, in denen Objekte und Handlungen benannt oder Spielideen transportiert werden, oder festgelegt wird, was gilt und was nicht. Dies ist gerade für ausländische Kinder eine natürliche Form des Sprechen Lernens und des Sprache Lernens. All diese Aktivitäten verlaufen nicht störungsfrei. Immer wieder muss auch die Balance zwischen Verzichten und Durchsetzen, Wollen und Können gewahrt werden. Zu Abbildung 10: Viele einfache Handlungen gelingen nur nach gemeinsamer Abstimmung über das richtige Maß. Die Kinder schaffen sich die materiellen Bedingungen des Gelingens. Sie finden heraus, wie es geht und stimmen sich untereinander ab. Wenn die intendierte Bewegung des Schaukelns gelingen soll, müssen die beiden Kinder die Schenkellänge des Brettes, bzw. ihre Sitzposition solange korrigieren, bis ein relatives Gleichgewicht in der Schaukelbewegung realisiert werden kann. Vor aller sprachlichen Fassung wird dieses Wissen körperlich präsent und als Muster generalisierbar.

Lehmbauaktion – Objekte und Räume entwerfen Zu Abbildungen 11 und 12: Während die Bewegungsbaustelle eine fortlaufend variable Umgestaltung des Spiel- und Bewegungsraumes ermöglicht, verwirklicht die Lehmbaustelle ein zuvor entworfenes Modell, das aus vielen phantasievollen Gestaltungsvorschlägen ausgewählt wird. Angestrebtes Ergebnis des über vierzehn Tage laufenden Projektes sind großformatige Architekturobjekte, die begehbar und bespielbar sind.

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Abbildung 11 und 12

Rückeroberung städtischer Räume – Spielaktionen Wenn über zu wenig Spielraum für Kinder geklagt wird, so ist nicht in erster Linie gemeint, es sei nicht hinreichend Platz vorhanden. Es wird damit eher darauf hingewiesen, dass durchaus vorhandene Räume in ihrer Verwendung funktional festgelegt sind, d.h. fürs Spielen nicht zur Verfügung stehen. Dessen ungeachtet gibt es ‚Zwischenräume‘, die zu Spielorten umgedeutet werden können. Abbildung 13

Hier haben Kinder, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Eltern von zwei Kitas und einer Schule ihr Wohnumfeld neu entdeckt und zu Spielräumen umgedeutet. Alle Beteiligten wurden ermutigt, mit Phantasie Spielräume wieder zu entdecken bzw. neu zu schaffen.

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Das belebte Außengelände – Gestaltungen im öffentlichen Raum Bewegungsförderung sollte sich nicht nur im institutionellen Rahmen von Kindertagesstätte und Schule ereignen. Auch der öffentliche Raum, vor allem der Nahbereich des Wohnumfeldes sollte einbezogen werden.

Abbildungen 14 und 15

Aufbauend auf den Bewegungs- und Raumerfahrungen der anderen Module (s.o.) wurden Verbesserungsvorschläge in einem Planungsworkshop mit einer Kita zusammen getragen. Diese dienten als Grundlage für die landschaftsplanerischen Entwürfe für die Gestaltung des Außengeländes einer Kita. An einer Schule wurde gemeinsam mit dem Kollegium in Vorbereitung der Projektwoche das Nutzungskonzept für den Schulhof entworfen. Unter Beteiligung von Eltern, Kindern und Anwohnern können wenig genutzte Freiflächen neu gestaltet werden. Kinder haben in der Regel gute Ideen, wie auf der Grundlage der aktuellen Nutzung neue Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten mit oft geringem Aufwand geschaffen werden können. Dies gelingt nicht allein durch die phantasievolle Umdeutung vorhandener Areale. Ausgehend von Kindertagesstätte und Schule können gemeinsam mit Eltern und unter Nutzung der vorhandenen städtischen Ressourcen (wie der Gartenbauämter, der Stadtentwicklungsbehörde) vorhandene Flächen neu überplant werden. Mit diesen vier Beispielen sind die Möglichkeiten einer Bewegungsförderung sicher nicht ausgeschöpft. So fehlt das Thema der Bewegungsgestaltung im engeren Sinne, der Gestaltung der Bewegung in ihrer darstellenden Funktion, so wie sie im vielfältigen Bereichen des Tanzes und des Bewegungsthea-

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ters44 und der Bewegungskünste45 lebendig ist. Es fehlen zudem Bewegungsgelegenheiten, die den direkten körperlichen Umgang zwischen Personen betreffen, wie z.B. Ringen und Raufen46. Hinter der Bemühung um gewisse Vollständigkeit steckt die Überzeugung, dass sich eine begrenzte Zahl von Grunderfahrungen benennen lässt, die zu einem Kanon der Bewegungserziehung gehören sollten. Zu deren Realisierung gehört die Beantwortung der Frage, was in dem erzieherischen Kontext von Kindertagesstätte, Schule und Jugendarbeit und der kommunalen Freiraumplanung an Bedingungen bereitzustellen ist. Stichworte sind: Wohnraumgestaltung und Bewegungsförderung; Schule als Bewegungsraum gestalten47; Kindergrippe und Kindertagesstätten mit hinreichend ausgestatteten Bewegungsraum versorgen; ein förderliches Statteilmilieu mit entsprechenden Raumarrangements schaffen; Ausund Weiterbildung sowohl des Personals im Erziehungsbereich wie in den Planungsabteilungen der kommunalen Stellen. Dabei sind nicht nur die materiellen Bedingungen (Räume und Objekte) zu schaffen. Erst in einer kinderfreundlichen sozialen und kulturellen Umwelt kann das Milieu entstehen, in dem Bewegung an Bedeutung gewinnt. Und hier sind es die privaten und professionellen Bezugspersonen, von deren erzieherischer Kompetenz es abhängt, ob Bewegungsförderung in gestaltbaren Umwelten gelingt.

Literatur Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M.: Fischer 1980. Bronfenbrenner, Uri: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung, Stuttgart: Klett 1981. Ciompi, Luc: Außenwelt Innenwelt. Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988. Dietrich, Knut: »Inszenierungsformen im Sport«. In: Knut Dietrich/Klaus Heinemann (Hg.), Der nicht-sportliche Sport, Jesteburg: XOX 1999. S. 28–44.

44 Vgl. Eike Jost: Symbolspiel und Bewegungstheater, Aachen: Meyer & Meyer 2002. 45 Vgl.: Jürgen Funke-Wieneke: »Bewegungskünste und ästhetische Selbsterziehung – oder: „Sieh mal Kunst!«. In: Eckart Balz/Petra Wolters (Hg.), Schulsport. Didaktik und Methodik, Seelze: Erhard Friedrich 2008, S. 132–139. 46 Vgl.: Jürgen Funke-Wieneke: »Ringen und Raufen«. In: Eckart Balz/Petra Wolters (Hg.), Schulsport. Didaktik und Methodik, Seelze: Erhard Friedrich 2008, S. 69–76. 47 Knut Dietrich/Regina Hass/Regina Marek/Christoph Porschke/Kirsten Winkler: Schulhofgestaltung in Ganztagsschulen, Schwalbach: Wochenschauverlag 2005. 122

BEWEGUNGSFÖRDERUNG IN GESTALTBAREN UMWELTEN

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BEWEGUNGSFÖRDERUNG IN GESTALTBAREN UMWELTEN

B i l d n a c hw e i s Die Bilder 1 und 4 sind dem Buch: Ehni, Horst u.a.: Kinderwelt, Bewegungswelt, Seelze: Friedrich 1982 entnommen. Die Bilder 5-15 sind z. T. aus Videofilmen herauskopiert, oder aus Fotoserien, die im Rahmen von Untersuchungen des Hamburger Forum Spielräume entstanden sind.

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Sporträume

Phantome de r Einmütigkeit. Räume, Orte und Monumente urba ner Sportk ulture n MATTHIAS MARSCHIK

Sport kann zwar überall betrieben werden, jedoch ist der moderne professionalisierte, kommerzialisierte und ökonomisierte Massensport von Urbanität nicht zu trennen: Er bedarf der Stadt als Entfaltungsraum. Die Sportereignisse entfalten hier Bedeutungen, die das Terrain der konkreten Events bei Weitem übersteigen und nicht nur zur Schaffung, Erhaltung und/oder Veränderung urbaner Sportkulturen führen, sondern auch Einfluss auf Konstitutionen und Erfahrungen von Städten und (ihren) Kulturen besitzen. Als Andockstellen stehen – für die Moderne – deren steinern-stählerne Monumente, die Stadien, zentral, die – in ihrer baulichen Substantialität wie symbolischen Bedeutung – diese Sportkulturen repräsentieren und Sportstädte charakterisieren.1 Stadien stellen nicht allein Orte punktueller Materialisierung politischer, ökonomischer oder kultureller Strukturen oder sozialer Bedingungen dar. Denn trotz der Verschränkung von Sport, Ökonomie und Politik kreieren sich sportliche Praxen und Monumente in Gestalt eigenständiger (alltags-)kultureller Räume und Orte. Das überschreitet die architektonische Gestaltung von Stadien und inkludiert sporterfüllte Stadträume – vom CityMarathon bis zum Public Viewing, von Bahnhöfen bis zu Kämpfen rivalisierender Fangruppen fernab der Stadien – oder damit verbundene Sportmythen, die selbst erratischen Charakter besitzen, auch wenn sie ebenso wie Stadionkolosse renoviert, abgetragen oder gesprengt werden können.

1

Matthias Marschik: »Die Kathedralen der Moderne: Über die außersportliche Nutzung von Stadien«. In: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1 (2006), S. 70–83. 129

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Die Etablierung der modernen Sport-Heimat Um 1880 erreichten die bürgerlichen sports von England aus Kontinentaleuropa und beanspruchten im Gegensatz zum öffentlich wenig präsenten Turnen von Anfang an Öffentlichkeit und Raum, und zwar urbanen Raum. Während der vor-moderne Sport überall ausgeübt werden konnte (das adelige Jeu de Paume in zentralen Ballspielhäusern wie in der ‚Sommerfrische‘, der Boxoder Ringkampf gleich gut auf vorstädtischen wie ländlichen Jahrmärkten), schrieb sich der Sport rasch ins Stadtbild ein: Schon der Trab- und Galoppsport bedurfte platzgreifender Rennbahnen; noch mehr galt das für den Rad- und Motorsport, aber auch das Lawn-Tennis und natürlich Fußball. Schon vor 1900 bewunderte man in den europäischen Metropolen die neuen Sportpaläste und ihre technischen Möglichkeiten, man beklagte Lärm und Gestank von Autorennen, rücksichtslose Bicyclisten und das Treiben ungestümer Fußballer auf Wiesen und in Parks. Die Sportstätten bildeten klare Manifestationen der Anbindung des Sportes an die Stadt.2 Nur dort fanden sich genügend Aktive, die den Innenraum, und Zuschauer/innen, die die Tribünen füllten und durch Eintrittsgelder, Wetteinsätze und Applaus das Geschehen erst ermöglichten. Nur in der Stadt existierten Mäzene und politischer Wille, um private wie kommunale Bauprojekte umzusetzen. Der moderne Sport bildete in seiner bürgerlichen Frühphase tatsächlich ein Abbild fordistischer Gesellschaft, technischen Fortschritts und ökonomischer Prosperität. Urbanität galt als Metapher der Moderne, ihr Spiegel war wiederum der Sport. Trotz rascher Ausdifferenzierung der Sportpraxen wurde das baulich stabilisierte Stadion zum Kernpunkt des urbanen Sports. Die Trennung in ein Inner- und Außerhalb prägte dessen äußere Gestalt wie seine Funktionen. Die Abschottung der Spielfläche vom Publikumsraum sowie die Trennung des Innenraums vom Außen, von denen, die nicht teilhaben sollen bzw. dürfen, schufen autonome Stadion-Welten. Die Dreiteilung in Aktive, Zuschauer/innen und Exkludierte ermöglichte das, was Peter Sloterdijk „StadionKonsensus“3 nennt, einen hegemonial definierten Proberaum der Moderne, der temporär Solidarität entstehen ließ. Speziell nach 1918 kamen die – proletarischen – Massen zum Sport. Versehen mit revolutionärem Elan und vermehrter Freizeit nahm die – männliche – Arbeiterschaft den Sport in Besitz, was dessen Urbanisierung weiter vorantrieb. Zahlreiche Neubauten oder Erweiterungen von Sportstätten waren nötig, die zu Kernpunkten dieser Entwicklung wurden. Damit etablierten sich Sta2

3

Darin sind die Sportstadien vergleichbar den zentralen Orten des Verkehrs (Kopfbahnhöfe, Flughäfen, Straßenkreuzungspunkte), des Konsums (Großhandel, Kaufhäuser) und des Vergnügens (Vergnügungsparks, Kinos). Peter Sloterdijk: Schäume. Sphären III, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 626.

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dien als unverzichtbare Elemente von Städten und gehörten bald zu den meist frequentierten Bauwerken, die von ihrer Dimensionierung wie Bedeutung den Kirchen, Theatern und öffentlichen Gebäuden den Rang abliefen. Trotz fortschreitender Segregierung im Zuschauerraum gelang in Stadien weiterhin die Herstellung einer volonté générale: Auch wenn Anhängerschaften, Weltsichten, ja sportliche ‚Religionen‘ zunehmend divergierten, wurde für eine bestimmte Zeit eine kollektive Identität konstruiert, entstanden sportliche „Phantome der Einmütigkeit“.4 Im Stadion entwickelte sich entgegen „der schillernden Durchmischung und schmerzenden Kontingenz“ der städtischen Sozialordnung ein monolithischer Raum, der als Gegenpol gegen Erfahrungen „von Anonymität, Verlust und Isolation“ auftrat.5 Das Stadion wandelte sich zu einem ‚exterritorialen‘ Raum, der zugleich von strenger Ordnung – auf dem Spielfeld wie auf den Rängen – geprägt war, wie er potentiell eine verbale wie tätliche Durchbrechung jener Normen ermöglichte. Das Stadion bedeutete zugleich „Repräsentation von Kontrolle und Widerstand“ und bildete einen „Ort zwischen Gesetz und Unordnung“6. Als Massenkultur und soziale Formation entwickelte der Sport kulturelle Bedeutungen, die seinen Raum bei weitem übersteigen. Das betraf gerade auch Erfahrungen und Erleben von Urbanität, manifestierte sich im Stadion doch nicht nur eine „Verschränkung von symbolischer Sphäre und materieller Stadtgestalt“, sondern auch eine „Verdinglichung von sozialen Relationen und Referenzen in den spezifischen Formen der Urbanität“. Das Stadion als unverzichtbarer Teil der Stadtgestalt bildete nicht mehr bloß „ein materielles Gebilde, sondern vielmehr ein Konstrukt erlernter bewusster und unbewusster Wahrnehmungsmodi“7. Obwohl die Konzentration auf die Stadien als stählern-steinerne Marker von Urbanität8 manche öffentliche sportliche Präsenz, von Massenturnübungen über Schwimm-, Lauf- oder Motorsportbewerbe auf öffentlichen Flächen bis zum ‚wilden‘ Sporttreiben auf Wiesen und Plätzen, ausblendet, eröffnet der Blick auf das Stadion doch paradigmatisch die beiden Ebenen des Sports als popular-populäre(n) als Massenkultur(en)9: Zum einen verweist er auf den 4 5 6 7 8 9

Ebd. Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a. M./New York: Campus 1999, S. 46. Ebd., S. 146. Ebd., S. 12 und 47. Jacques Le Goff: Medieval Civilisations 400-1500, Oxford: Blackwell 1988, S. 207. Die Differenzierung in popular/populär bezieht sich auf die in den Cultural Studies schon in den 1960ern von Richard Hoggart getroffene Unterscheidung zwischen Massenkultur (also von Populärkulturen im Sinne der Angebote der Kulturindustrie) und den stets umkämpften Orten der Auseinandersetzung zwischen Mächtigen und Machtlosen (Popularkultur im Sinne der Cultural Studies), 131

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sportlichen Rahmen, in dem Werte und Normen des Sports (re)produziert, verstärkt und verändert werden, auch wenn dies in stetem Wechselspiel mit politischen und ökonomischen Prämissen und im Kontext der expandierenden Sportpublizistik gedacht werden muss. Und zum anderen verkörpern StadionMonumente in komprimierter Gestalt den Heimatort sportlicher Gefühlslagen und Emotionen. Das Stadion wird zum (maskulinen) Desiderat oder Substitut von Heimat in einer anonymen Stadt, wo es ansatzweise gelingt, „die Differenzen zwischen den Kulturen und Ethnien (...) durch populäre Inszenierungen zu überdecken“10. Das maskulin codierte Stadion erweist sich – wie sein weibliches Pendant, das Kino – in der anonymisierten Großstadt als Ort eines den Privatraum überschreitenden Heimaterlebens im Sinn kollektiver ‚Einmütigkeit‘. Im Massensport erfuhr dieses Zugehörigkeitsgefühl freilich seine erste Veränderung: Wo anfangs, sei es bei Olympischen Spielen, Galopprennen oder bei Fußballmatches, eine klassenspezifisch geprägte Gemeinschaft kollektiv den Idealen des bürgerlichen zweckfreien Sports huldigte,11 trat nun direkte Sympathie und Bewunderung für bestimmte Protagonisten oder die Anhängerschaft für ein Sportkollektiv an die Stelle der Hinwendung zum Abstraktum Sport. Heimatgefühle wurden nun auch im Sport – als Folge der männlichkriegerischen Genese des Massensports – an Siege und Erfolge geknüpft. Damit erst hielten nationaler oder lokaler Patriotismus Einzug auf den Sportfeldern und dies veränderte nachhaltig die Beziehung von Aktiven und Publikum: Eine klar definierte Anhängerschaft verschob das Zugehörigkeitsgefühl von der Affinität zu guter Leistung oder attraktivem Spiel hin zur bedingungslosen Unterstützung und Affirmation des ‚Eigenen‘ und der Ablehnung der oder des ‚Anderen‘, sei es Nation oder Klub und deren bzw. des-

an denen so etwas wie Subversion entstehen kann, wenn auch nicht zwangsläufig entsteht. Vgl. dazu Rolf Lindner: Die Stunde der Cultural Studies, Wien: WUV 2000, S. 42; Roman Horak: »Über die nicht ganz so schönen Künste. Massenkulturdebatte vs. Arbeit am Kulturbegriff«. In: Roman Horak u.a. (Hg.): Randzone. Zur Theorie und Archäologie von Massenkultur in Wien 1950-1970, Wien: Turia + Kant 2004, S. 15–30, hier S. 27. Diese Differenzierung erweist sich gerade für die Verfasstheit der Stadien als fundamental, tendieren die aktuellen Entwicklungen doch dazu, aus Orten potentieller Popularkultur immer mehr solche einseitig oktroyierter Populärkultur zu machen, potentielle Aneignungsrituale also zu minimieren. 10 W. Maderthaner/L. Musner: Anarchie, S. 104. 11 Das geschah durchaus geschlechtsneutral, indem – wie auch bei den Aktiven – eine vergleichsweise große Anzahl bürgerlicher oder auch adeliger Frauen (‚Damen’) anwesend war. Vgl. Gertrud Pfister: »Die Anfänge des Frauenturnens und Frauensports in Österreich«. In: Ernst Bruckmüller/Hannes Strohmeyer (Hg.): Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs, Wien: Bundesverlag 1998, S. 88-104; Matthias Marschik: Frauenfußball und Maskulinität. Geschichte – Gegenwart – Perspektiven, Münster/Hamburg/London: Lit 2003, S. 68 132

PHANTOME DER EINMÜTIGKEIT

sen Protagonisten. Das Stadion als zentraler Ort dieser Beziehung von Nation/Verein und einem bewundernden bzw. an den Erfolgen partizipierenden Individuum wurde damit gleichfalls emotional besetzt bis hin zur „Topophilie“ bzw. „Raumliebe“12. Das Stadion als Heimat des eigenen Vereins bzw. der Nation bekam durch bedeutende Erfahrungen oder heroische Siege symbolischen, später mythischen Charakter. Das hatte Konsequenzen für die Bauwerke selbst: An die Stelle privat errichteter Sportstätten mit ihrem Geist bürgerlicher Fairness traten urbane, selten auch nationale „Geltungsbauten“ und eine politische Architektur des Stadionbaues. Stadtverwaltungen aller politischen Provenienzen ließen gewaltige Anlagen bauen, um ihren sport- und sozialpolitischen Vorstellungen massiv Ausdruck zu verschaffen.13 Im Stadion ging es nun um kulturelle Hegemonie zwischen Stadtbezirken, zwischen City und Provinz oder zwischen Nationen. Der Sport wurde zum Maßstab auch politischer Hegemonie und das Publikum lebte in ‚seinem‘ Stadion nationale oder auch lokale Emotionen aus. Sportereignisse waren ständiger Anlass kollektiver Konfrontation. Deutlichster Hinweis war deren direkt politische Verwendung, die aber doch immer als – vordergründig – ‚inadäquate‘ Nutzung gesehen wurde.14 Aber auch Sportveranstaltungen selbst bekamen politische Bedeutung.15

12 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt a. M.: Fischer 1987, S. 25. 13 Exempel bilden etwa das 1926 begonnene Masaryk-Stadion in Prag, bestimmt für die nationaltschechischen Sokol-Turner, oder das Wiener Praterstadion (Baubeginn 1928), das vom ‚Roten Wien’ als Heimstatt des Arbeitersportes geplant war. Beide Bauten sollten architektonisch wie funktional die Ideologie des Erbauers repräsentieren. Noch mehr waren es Kommunismus wie Faschismus, die sich in Stadionanlagen Monumente zum Vorweis ihrer Bedeutung und zugleich Heimatorte für die Bevölkerung errichteten, von den Moskauer Stadion-Bauten der 1920er Jahre über das 1932 eingeweihte Foro Mussolini in Rom bis zum Berliner Olympiastadion. Vgl. Jan Tabor: »Stadien als Grenzen und Überwachungsräume«. In: Matthias Marschik u.a. (Hg.): Das Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie, Wien: Turia + Kant 2005, S. 49–88. 14 Dennoch ist die multiple Tauglichkeit verräterisch bezüglich der Architektonik der abgeschlossenen, für die Disziplinierung des Blickes von ‚Massen’ entworfenen und streng segregierten Stadien: Vom Ort politischer Manifestationen über die Nutzung als Kasernen und Gefängnisse bis hin zum Raum für religiöse Feiern, Opern- und Zirkusvorführungen sowie Rock-Konzerte, als Campingplatz oder – im Krieg – für als Geschützstellungen oder Gemüsegarten fanden Stadien Verwendung. Vgl. die Exempel in M. Marschik u.a. (Hg.): Stadion. 15 Seien es die Arbeiter-Olympiaden wie jene in Wien, für die das Praterstadion erbaut wurde, die Spartakiaden oder die ‚Volksolympiade’ von Barcelona, die als Gegenveranstaltung zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin geplant wurde, oder auch die NS-Kampfspiele oder SA- und HJ-Reichswettkämpfe: Sie alle bedurften zur intendierten nationalen wie internationalen Machtdemonstration mächtiger zentraler Stadionbauten, in denen sich schon architektonisch die jeweilige Ideologie finden sollte. 133

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Noch früher als durch die Politik wurde das Stadion von der Wirtschaft in Beschlag genommen: Schon früheste Bilder von Sportstadien zeigen keine nackte Architektur. Die Eingänge waren mit Werbetafeln zugepflastert, und auch die Innenräume demonstrierten, wie früh Industrie und Gewerbe den Werbewert des Sportes erkannten. Auf Banden, auf Tafeln hinter den Toren und selbst in den Giebelkonstruktionen der Holztribünen wurden Marken und Produkte lanciert. Wirtschaftsunternehmen sponserten Sport und Sportereignisse, wie sie auf der anderen Seite mit dem Sport Werbung betrieben. Dennoch konnten Politik und Ökonomie die sportlichen Geschehnisse wie die Gebäude zwar beeinflussen, vollständig bestimmen konnten sie die Massenkultur des Sportes nie, die sich inner- wie außerhalb der Stadien immer wieder Ausdruck verlieh. Selbst unter dem NS-Regime bot der Sport – wenn auch minimale – Freiräume und Resistenzpotentiale (nicht zu verwechseln mit Widerstand gegen das Regime).16 Verantwortlich dafür war die aus der bürgerlichen Frühzeit tradierte Illusion vom unpolitischen Sport, die dem Sportgeschehen eine tatsächliche, wiewohl unangemessene Eigenweltlichkeit zuschrieb und bis heute zuschreibt. Das Stadion und die darin festgeschriebene massive Abschottung des Sportes von der übrigen Welt ist die manifeste Repräsentation dieser Grenzziehung. Wie Hausmauern zwischen privatem und öffentlichem Raum trennen, legen Stadionmauern Differenzen zwischen Innen und Außen, Sport und Umfeld, aber auch Gefühle der Zugehörigkeit und des Ausgeschlos-senseins fest. Doch herrscht auch im Stadion-Innenraum Öffentlichkeit, muss das ‚Andere‘ in Gestalt ‚feindlicher‘ Athlet/inn/en und eines ‚gegnerischen‘ Publikums eingelassen werden. Es wird im Stadion unabdingbarer Teil der Inszenierung. Das Stadion wird zum erhabenen Ort kollektiver Konfrontation, freilich durch den ‚Heimvorteil‘ kein neutraler Ort. Durch Fahnen, Wappen oder die Aufschrift ‚Heim‘ und ‚Gäste‘ auf der Anzeigetafel wird das Territorium abgesteckt und das Heimpublikum sorgt lautstark oder tätlich für entsprechende Untermalung. So haben Stadien mit ihrer segregierenden Architektur des Ein- und Ausschlusses und ihrer spezifischen Ausrichtung des Publikums auf das sportliche Geschehen und zugleich auf sich selbst (auf den einander gegenüber liegenden Tribünen) entscheidend dazu beigetragen, Individuen oder heterogene Teilmassen vorübergehend, jedoch immer wiederholbar, auf ein Ziel auszurichten.17 Doch weil die Zusammenrottung einer Masse oft Grenzüberschrei16 Vgl. Matthias Marschik: Vom Nutzen der Unterhaltung. Der Wiener Fußball in der NS-Zeit. Zwischen Vereinnahmung und Resistenz, Wien: Turia + Kant 1998. 17 Wie und mit welcher Intention diese Homogenisierung des Massen gesteuert wurde und vor allem, ob diese Zusammenkettung temporär oder lang andauernd sein sollte, das unterschied gerade in den 1930er Jahren zwischen diktatorischen 134

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tungen nach sich zog, etablierten sich Stadien zugleich als architektonische, polizeiliche, aber auch selbst regulierende Orte der Überwachung und Kontrolle dieser Masse. Das Stadion war also kein neutraler Ort, sondern wurde von politischen und ökonomischen Kräften, aber ebenso vom Publikum mit gestaltet, verfestigt und verändert. So wurden Stadien zum einen zum Korrelat der Selbstverwirklichung dieser Gruppe/Masse, zum anderen wurde es durch diese Menschen in Form einer emotionalen wie kognitiven Raumbindung angeeignet und mit der Zeit immer neu geschaffen.18 Das Stadion expandierte zu einem Zentrum – vorwiegend männlicher – Selbstvergewisserung und damit zu einer ‚Heim‘-Stätte, in der sich Sport, Stadt und Kultur auf individueller wie kollektiver Ebene unentwirrbar verbanden. Das sportgebundene Heimaterleben hatte im Stadion seinen realen wie symbolischen Rückhalt.

Spätmoderne Fragmentierung von sportlicher Heimat Zur Jahrtausendwende werden dem modernen Sport zwei große Veränderungen nachgesagt: Zum einen ein Individualisierungsschub, zum anderen die Eventisierung der Veranstaltungen. Die Stadien scheinen im ersten Fall entbehrlich zu werden, im zweiten werden sie zwar überhöht, verlieren ihre Spezifika aber in globalisierter Beliebigkeit. Gleichzeitig wird postmodernen Identitäten eine „Herauslösung des Menschen aus traditionellen (Raum-) Bindungen“ nachgesagt. Raumbindung hätte ihre „integrative Kraft“ verloren: „Die Zeit räumt Orte weg und bagatellisiert sie nachhaltig“19. Nun hat das Stadion und mit ihm sein treues Publikum zahlreiche Übergriffe auf seine unpolitische, neutrale Heimat-Konstruktion und seine identitätsstiftende Funktion überdauert, von denen hier einige genannt seien: • Ökonomische Überformung: Schon vor dem Ersten Weltkrieg waren wirtschaftliche Aspekte – unsichtbar via Sponsortum, sichtbar via Werbung – in den Stadien präsent und intensivierten sich in der Professionalisierungsphase des Fußballs in den 1930ern.20 Ebenso griffen Europäisierung und Ökonomisierung des Sportes in den 1960ern in die Stadionlandschaften ein. Die Auswirkungen der Wohlstandsgesellschaft manifestierund demokratischen Architekturmustern im Stadionbau, vgl. J. Tabor: Stadien, S. 78f. 18 Vgl. Henri Lefebvre: The Production of Space, London: Blackwell 1991. 19 Karlheinz Wöhler: »Topophilie. Affektive Raumbindung und raumbezogene Identitätsbildung«. In: Werner Faulstich/Jörn Glasenapp (Hg.), Liebe als Kulturmedium, München: Wilhelm Fink 2002, S. 151–170, hier S. 151. 20 Man denke nur an den Fußball-Mitropa-Cup, der seine Bezeichnung dem Sponsoring der Mitropa-Schlafwagengesellschaft verdankt, während die Siegestrophäe vom Wiener Tourismusverband gestiftet wurde. 135

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ten sich in Modernisierungen und Neubauten von Sportanlagen. In den 1970ern demonstrierte dann das Erscheinungsbild des Sportes – auf dem Sportfeld21 wie auf den Rängen22 – den Wirtschaftseinfluss: Sport verlagerte sich von der „sozialen Auseinandersetzung“ auf die „technokratische Ebene“ des Kampfes „zwischen Unternehmen“.23 Politische Nutzung: Als monumentale urbane Geltungsbauten waren Stadien seit den 1930er Jahren nicht nur als dezidiert politische Räume errichtet, sondern auch als Orte – rechter wie linker – politischer Massenveranstaltungen verwendet worden. Das bedeutete nicht allein die Präsenz von Politikern bei Sportveranstaltungen, vielmehr wurden, von Dollfuß’ Trabrennplatzrede bis zu Goebbels’ Sportpalast-Ansprachen, Sportarenen für politische Akte und Auftritte verwendet. Sie dienten als Orte sozialistischer wie konservativer Feiern, aber ebenso speziell in diktatorischen Regimes als Kasernen, Lager und Gefängnisse. Diese Praxen wurden in autoritären Regimen auch in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt; aber auch in Demokratien belegte die Anwesenheit der Politik auf den Ehrentribünen die Unhaltbarkeit der These vom ‚unpolitischen‘ Sport. Mediale Neustrukturierung: Zwar beeinflussten schon Printmedien und später das Radio auch den Stadionraum selbst, indem Sportübertragungen technische Innovationen beförderten. Doch in keiner Phase griffen Medien so intensiv in den Sport ein wie mit der massenhaften Verbreitung des Fernsehens, als einerseits die Rezeption vor Ort massive Einbußen verzeichnete, andererseits ein neuer Typ des sportinteressierten Konsumenten entstand, der Sport primär als Medienereignis wahrnahm. Zudem veränderte das TV durch völlig neue Perspektiven den Blick auf den Sport, also auch jenen in den Stadien, und schuf damit neue ‚Realitäten‘.24 Zugleich veränderte der Sport die Medien, die selbst sportliche Wertmaßstäbe des ‚Höher, Schneller, Stärker‘ übernahmen. Architektonische Umgestaltung: Die Veränderungen auf politischer, ökonomischer und medialer Ebene mündeten speziell ab den 1980ern in tief

21 Das geschah etwa durch Veränderung von Vereinsnamen und -farben, Werbeaufschriften auf Dressen usw., und zwar mit Verzögerung sogar im Amateurund Lokalsport. 22 Vgl. dazu etwa die Veränderungen des Fußballpublikums in Richtung „Angestelltensport“: Dietrich Schulze-Marmeling: Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversiven Sports, Göttingen: Werkstatt 1992, S. 176. 23 Rolf Eschenbach/Christian Horak/Gerhard Plasonig: Modernes Sportmanagement. Beispiel Fußball: Entwicklung eines integrierten Managementsystems, Wien: Manz 1990, S. 75. 24 Gunter Gebauer: »Geschichten, Rezepte, Mythen: Über das Erzählen von Sportereignissen«. In Rolf Lindner (Hg.): Der Satz „Der Ball ist rund“ hat eine gewisse philosophische Tiefe, Berlin: Transit 1983, S. 128–145, (hier S. 138). 136

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greifende Umstrukturierungen der Stadien selbst. Vom Primat des Fernsehsportes bis zur Suche nach neuen Publika, von der Einnahmenmaximierung bis zu geänderten Sicherheitsdiskursen25 und von architektonischer urbaner Selbstinszenierung bis zu sportlicher Umwegrentabilität durch Großereignisse reichten die Grundlagen eines Umbaus in reine Sitzplatzstadien, wobei der Trend zu in mehrfacher Hinsicht gesäuberten Stadien auf die Resistenz eines Teils des Sportpublikums traf. Die mächtigen Ovale der Sportstadien bilden also wesentliche Monumente der Moderne; gerade deshalb überstanden sie die Veränderungen des Sports hinsichtlich ihrer inneren Struktur und Zuschreibung fast unbeschadet. Die Stadien blieben durch das 20. Jahrhundert hindurch Heimatorte einer Nation, einer Stadt oder eines Vereins – und zumeist alles zugleich. Stadionräume boten attraktive Handlungsmöglichkeiten und stabile emotionale Valenzen bezüglich Sicherheit und Geborgenheit, Emotion und Anteilnahme, Autonomie und Einbindung. Letztlich repräsentierten sie heimatliche Erfahrungen, nicht nur auf der Basis politischer, ökonomischer, kultureller und architektonischer Strukturierungen, sondern in deren Zusammenspiel mit individuellen Zuschreibungen. Besondere Wirkkraft erreichten Stadien dort, wo sie den Status von Symbolen und mythische Bedeutungen erhielten, und zwar sowohl als Gebäude selbst wie durch die darin abgehaltenen bzw. erlebten Sportereignisse. Gerade daher verwundert es nicht, dass diese Bauwerke wie ihre Nutzung zu Beginn des 21. Jahrhunderts einer massiven Erosion ausgesetzt sind: Die wesentlichen Aspekte des Stadions, Heimat und Gedächtnis, werden zunehmend neutralisiert oder sogar eliminiert. Der Raum ist nur mehr „Container“ für Ereignisse, alles Spezifische und Zufällige, das eben Heimatgefühle auslöst und befördert, wird ausgeschaltet.26 Konnte das Stadion als Paradigma topografischer Heimatbildung durch den Sport bzw. im Sport gesehen werden, wurde diese räumliche Konstruktion zunehmend durch eine zeitliche ersetzt, was die Stadionbauten selbst wie ihre Zuschreibungen und Bedeutungen nachhaltig veränderte, zumal jüngste Tendenzen die Auflösung klassischer urbaner Stadionarchitektur ankündigen: Zum einen werden große Stadionbauten in die Vorstädte oder überhaupt vor die Stadt ausgelagert, zum anderen machen ephemere Stadien die steinernen und stählernen Kolosse überflüssig. Dies erscheint gar nicht mehr sensationell, hat doch das Fernsehen ideale Stadien längst via Computer generiert, und wird das Konzept Stadion durch zunehmende Individualisierung der Sportpraxen unterlaufen.

25 Die Stichworte dazu lauten München 1972 und Heysel 1985. 26 Manfred Russo: »Orte des Sports«. In: Petra Hilscher u.a. (Hg.), Entwicklungstendenzen im Sport, Wien/Berlin: Lit 2007, S. 291–320, (hier S. 291). 137

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Die im post- bzw. spätmodernen Sport konstatierbare „Versportlichung des Alltags“, die in den Normen und Werten des Sports mehr denn je kollektive Leitwerte einer kollektiven gesellschaftlichen „Sportivität“ entstehen lässt,27 lässt sich dabei an zunächst gegensätzlich erscheinenden Entwicklungen festmachen: Gewinnen und Siegen, Leistungsmaximierung, Maskulinität und Jugendlichkeit, aber auch ein spezifisches Zusammenspiel von Individuum und Kollektiv als Basis des Erfolges manifestieren sich zum einen in einer Eventisierung, zum anderen in einer Individualisierung des Sportes. Auf den zweiten Blick gegen diese beiden Tendenzen freilich durchaus in eins, sind sie doch als aktiv betriebene bzw. passiv rezipierte körperliche Aktivität, als singularisierte Bewegungskultur und als Massenevent, nur zwei Seiten einer Medaille. Und gemeinsam ist beiden Entwicklungen die massive Einflussnahme auf Gestalt und Funktion des urbanen Stadions als Heimat der modernen Masse. Der individualisierte Fun- und Abenteuersport sowie die Fitness- und Wellnessbewegungen unterlaufen nicht nur moderne Organisations- und Ausübungsformen des Sportes, sondern mit ihnen auch das Stadion als deren qualitativen wie quantitativen Kulminationspunkt. Von bunten Fußball-Ligen bis zum body-work im Fitness-Studio und vom alternativen Leistungssport der x-games bis zum ‚Joggen‘ und ‚Walken‘ setzt eine Flucht aus tradierten Sportorten und die Eroberung neuer Bewegungsräume ein, oft verbunden mit der Suche nach Natur und Natürlichkeit, was betonierte Stadionovale geradezu als suspekt erscheinen lässt. Der Sportevent dagegen bedarf zwar weiterhin des Stadions, das aber völlig den Prämissen von Ökonomisierung und Medialisierung unterliegt. Betriebsgesellschaften müssen Stadien nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten betreiben und sind entweder zum multifunktionalen Ausbau der Stadien gezwungen, indem zum einen vermehrt auf Rahmennutzungen geachtet werden muss, so dass in die Stadionhüllen Hotels und Geschäfte, Einkaufszentren und sogar Altersheime integriert wurden und zum anderen die Innenflächen auch für nicht-sportliche Events geöffnet werden, oder aber dazu, Stadien in städtebauliche Konzepte zu integrieren und sie als touristische Anreize oder als Zentren zur Stadtrevitalisierung zu nutzen. Medialisierung und Ökonomisierung von Stadien tangieren aber auch in deren Innenraum, verändern Spielflächen, Tribünen und Dächer, weil der Kamerablick bedeutsamer wird als jener der Zuschauer und die perfekte Sicht an der TV-Perspektive orientiert ist. Stadien werden zu Erweiterungen der multifunktionalen Fernsehstudios, indem zum einen der Perspektivenwechsel

27 Wolfgang Kaschuba: »Sportivität. Die Karriere eines neuen Leitwertes. Anmerkungen zur ‚Versportlichung‘ unserer Alltagskultur«. In: Volker Caysa (Hg.), Sportphilosophie, Leipzig: Reclam 1997, S. 229–256. 138

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des Medienblickes weitergeführt wird, geht es doch nicht mehr nur um den – bezüglich des Bildausschnittes – beschränkenden und zugleich – durch Zeitlupen und Wiederholungen – erweiternden TV-Sehraum, sondern um Elemente, die vor Ort gar nicht präsent sind, wenn Werbereiter oder Spielfeld per Computer mit Werbebotschaften versehen werden, die zum primären Architekturelement werden. Die Fanmassen werden dagegen zum Teil des telegenen Gesamtarrangements und bilden das positive Produktimage. Zum anderen aber verschwinden Stadien ganz real, wenn zwei bislang fest gefügte Elemente des Stadions, nämlich seine Urbanität und seine fest gefügte Masse aus Stahl und Beton, ins Wanken geraten. Einerseits werden Stadien oft nur mehr für nur wenige Stunden errichtet und gleich wieder abgebaut, auf Grund der hohen Bau- und Erhaltungskosten permanente Bauwerke also durch ephemere Eventstadien ersetzt.28 Was im Skisport oder beim BeachVolleyball längst üblich ist, greift auch auf die Stadt über. Und andererseits werden immer mehr Stadien, vom Pontiac Silverdome bis zum National Stadium in Ta Qali auf Malta und von der Allianz-Arena in München bis zum Rades-Stadion von Tunis, ins Niemandsland vor den Städten verlagert. Und drittens werden Stadien, wie etwa bei der Fußball-EM 2008, gleich nach Ende der Veranstaltung auf kleine Lokalstadien rückgebaut. Wir finden im Stadionbau also drei überlappende Entwicklungen: Erstens eine massive reale wie mediale Veränderung der Stadionkorpusse, zweitens eine radikale Auslagerung vor die großen Agglomerationen und drittens, wo möglich, eine Abwendung vom stabilen Baukörper hin zu hin zu flexiblen Architekturen. Und wo Stadien erhalten bleiben, verschwinden sie hinter aufwändiger Architektur oder einer das Außenbild dominierenden ‚Mantelnutzung‘.

Heimstätte Stadion Wenn die fest gefügten Sportarenen aus Stahl und Beton entbehrlich werden, lösen sich die Bindungen von Sportstadien zum jeweiligen Ort und damit zur Urbanität sukzessive auf. Die Stadien, die im Zeitalter der Moderne als die Kathedralen des Sports fungierten, deren Flutlichtmasten wie Kirchtürme in den Himmel ragten,29 verlieren zunehmend an Bedeutung. Damit entschwinden die mit dem Stadion verbundenen heimatlichen Gefühlslagen und es brechen sukzessive jene kollektiven Identitäten weg, die mit der „Raumliebe“

28 Vgl. Michael Zinganel/Christian Zillner: »Stadien der Auflösung. Ephemere Stadien oder die Auflösung des Stadions in der Eventgesellschaft«. In: Matthias Marschik u.a. (Hg.), Stadion, S. 365–394. 29 John Bale: Sport, Space and the City, London/New York: Routledge 1993, S. 3. 139

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konnotiert waren.30 Verstärkt wird diese Reduktion von Heimat durch die Folgen der Sicherheitsdiskurse im wie rund ums Stadion, die gerade für klassische Fußball-Fankulturen oft Zutrittsbeschränkungen darstellen. Doch wird der Stadion-Konsensus im Sinne Sloterdijks zwar aufgesplittert, aber noch nicht ausgelöscht. Allerdings werden städtische Stadien aus zwei Richtungen unterlaufen, zum einen durch die Individuen, die Orte permanenter Vergemeinschaftung zunehmend meiden,31 zum anderen durch die Eventisierung der Ereignisse, die den Orten strengere Inszenierungen auferlegen und die Chancen der Individuen reduzieren, die Räume kognitiv wie affektiv anzueignen, sie aktiv zu gestalten32 und ihnen Bedeutungen zuzuschreiben. So verlässt das aktive Individuum die Stadien und verlegt sich auf die Raumeroberung in Form eines ‚being out‘, während ein passives bzw. passiv gemachtes Individuum inszenierte Sport- und Spektakelkulturen frequentiert. Das Stadion wird vom unverwechselbaren Ort der Heimat zunehmend zu einem identitätslosen „NichtOrt“33. Eine spezifische Beziehung zur Stadt bauen ihre Bewohner/innen über Nutzungsprozesse konkreter Räume auf. Doch ermöglichen inszenierte Erlebnisse im „Nicht-Ort“-Stadion34 nur mehr fragile Identitäten, aber kein stabiles Heimaterleben mehr: Urbane Bindungspotentiale werden nachhaltig reduziert.35 Das Stadion läuft also Gefahr, aus städtischen Sportkulturen ausgeklinkt und in einen – wie Peter Sloterdijk es nennt – „Transitraum“ umgestaltet zu werden.36 Damit hätten urbane Bewegungskulturen ihre adäquate Um30 Vgl. Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek: Rowohlt 2000. 31 Spätmoderner Trend- und Funsport verlässt ja nicht nur den realen Gemeinschaftsort des Stadions, sondern auch die ideellen Kollektivräume des Sportes, also seine Organisationsstrukturen wie Vereine, Verbände und Wettbewerbsnormen. Diese Herauslösung aus traditionellen soziokulturell strukturierten Räumen ist markantes Zeichen einer umfassenden Individualisierung. 32 Vgl. Yi-Fu Tuan: Topophilia. A Study of Environmental Perceptions, Attitudes, and Values, New York: Columbia Univ. Press 1990. 33 Vgl. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte, Frankfurt a. M.: Fischer 1994. 34 Hetherington bezeichnet solche Konsum-, Freizeit- und Tourismusräume, die globalisiert und gleichförmig monoton gestaltet sind und nur mehr in bestimmten Facetten auf Tradition und Ursprünglichkeit verweisen, als „Gelegenheitsräume“, vgl. Kevin Hetherington: Expression of Identity. Space, Performance, Politics, London/Newbury Park/New Delhi: Sage 1998. 35 Vgl. Bernd Guggenberger: »Jetztweisen in einer ‚ortlosen’ Stadt«. In: Ursula Keller (Hg.), Perspektiven metropolitaner Kultur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 37–59. 36 Peter Sloterdijk formuliert dazu: „Ich unterscheide zwischen Orten ohne Selbst, den Transitwüsten – und dem Selbst ohne Ort, also den deterritorialisierten Gruppen, die man gern die Nomaden nennt. Dazwischen liegen die Mittelzonen, wo Ort und Selbst durch eine gemeinsame Kultivierung verbunden sind. Das 140

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setzung erhalten, zum einen die dem modernen, organisierten Sport entfliehenden singularisierten „Nomaden“, zum anderen die Besucher/innen konstruierter kurzzeitig wirksamer ephemerer Stadionwelten.37 Gelingt es den Kommunen nicht, Stadien als Raum städtischer Sportkultur zu retten, sie als Stätte „gemeinsame[r] Kultivierung“ und „Lebenskunst“ (Sloterdijk) zu bewahren, bleibt nur die nomadisch vereinzelte Bewegungskultur des Joggers oder das Stadion als vorübergehende Heimat des Außergewöhnlichen. Damit fände das postmoderne Sportevent Anschluss an das vormoderne Spektakel, freilich um den Preis eines Verlustes an urbanem Heimatgefühl, das in Globalität aufgelöst wird, im engen Wortsinn ein Phantom von Einmütigkeit.

Literatur Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1994. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, Frankfurt a. M: Fischer 1987. Bale, John: Sport, Space and the City, London, New York: Routledge 1993. Borges, Jorge Luis: »An die deutsche Sprache«. In: Ders. Im Labyrinth. Erzählungen, Gedichte, Essays, Frankfurt a. M: Fischer 2003. Eschenbach, Rolf/Horak, Christian/Plasonig, Gerhard: Modernes Sportmanagement. Beispiel Fußball: Entwicklung eines integrierten Managementsystems, Wien: Manz 1990. Gebauer, Gunter: »Geschichten, Rezepte, Mythen: Über das Erzählen von Sportereignissen«. In: Rolf Lindner (Hg.), Der Satz ‚Der Ball ist rund‘ hat eine gewisse philosophische Tiefe, Berlin: Transit 1983, S. 128–145. Guggenberger, Bernd: »Jetztweisen in einer ‚ortlosen‘ Stadt«. In: Ursula Keller (Hg.), Perspektiven metropolitaner Kultur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 37–59. Hall, Stuart: »Postmoderne und Artikulation«. In: Ders.: Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3, Hamburg: Argument 2000, S. 52–77. Hetherington, Kevin: Expression of Identity. Space, Performance, Politics, London/Newbury Park/New Delhi: Sage 1998. Horak, Roman: »Über die nicht ganz so schönen Künste. Massenkulturdebatte vs. Arbeit am Kulturbegriff«. In: Roman Horak/Wolfgang Maderthaner/Siegfried Mattl/Lutz Musner/Otto Penz (Hg.), Randzone. Zur Theorie kann man in Mittel- und Westeuropa noch sehr eindrucksvoll erleben – angenehme, zivilisierte Gemeinwesen, wo eine Lebenskunst zu Hause ist“: Robert Misik: »Unter einem helleren Himmel« [Interview mit Peter Sloterdijk], http://www.misik.at/die-grossen-interviews/unter-einem-helleren-himmel.php vom 11.08.2007. 37 Die oft massiv geführten Kämpfe zwischen Metropolen um die Ausrichtung sportlicher Großereignisse demonstriert, wie weit dieser Prozess bereits fortgeschritten ist. 141

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und Archäologie von Massenkultur in Wien 1950–1970, Wien: Turia + Kant 2004, S. 15– 30. Kaschuba, Wolfgang: »Sportivität. Die Karriere eines neuen Leitwertes. Anmerkungen zur ‚Versportlichung‘ unserer Alltagskultur«. In: Volker Caysa (Hg.), Sportphilosophie, Leipzig: Reclam 1997, S. 229–256. Lefebvre, Henri: The Production of Space, London: Blackwell 1991. Le Goff, Jacques: Medieval Civilisations 400–1500, Oxford : Blackwell 1988. Lindner, Rolf: Die Stunde der Cultural Studies, Wien: WUV 2000 Maderthaner, Wolfgang/Musner, Lutz: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a. M./New York: Campus 1999. Marschik, Matthias: »Die Kathedralen der Moderne: Über die außersportliche Nutzung von Stadien«. In: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1 (2006), S. 70–83. Marschik, Matthias/Müllner, Rudolf/Spitaler, Georg/Zinganel, Michael (Hg.), Das Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie, Wien: Turia + Kant 2005. Marschik, Matthias: Frauenfußball und Maskulinität. Geschichte – Gegenwart – Perspektiven, Münster, Hamburg, London: Lit 2003. Marschik, Matthias: Vom Nutzen der Unterhaltung. Der Wiener Fußball in der NS-Zeit: Zwischen Vereinnahmung und Resistenz, Wien: Turia + Kant 1998. Misik, Robert: »Unter einem helleren Himmel« [Interview mit Peter Sloterdijk], http://www.misik.at/die-grossen-interviews/unter-einem-hellerenhimmel.php (11.08.07). Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek: Rowohlt 2000. Pfister, Gertrud: »Die Anfänge des Frauenturnens und Frauensports in Österreich«. In: Ernst Bruckmüller/Hannes Strohmeyer (Hg.), Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs, Wien: Bundesverlag 1998, S. 88-104. Russo, Manfred: »Orte des Sports«. In: Petra Hilscher/Gilbert Norden/Manfred Russo/Otmar Weiß (Hg.), Entwicklungstendenzen im Sport, Wien, Berlin: Lit 2007, S. 291–320. Schulze-Marmeling, Dietrich: Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversiven Sports, Göttingen: Werkstatt 1992. Sloterdijk, Peter: Schäume. Sphären III. Frankfurt a. M: Suhrkamp 2004. Tabor, Jan: »Stadien als Grenzen und Überwachungsräume««. In: Matthias Marschik/u.a. (Hg.), Das Stadion, S. 49–88. Tuan, Yi-Fu: Topophilia. A Study of Environmental Perceptions, Attitudes, and Values, New York: Columbia Univ. Press 1990. Wöhler, Karlheinz: »Topophilie. Affektive Raumbindung und raumbezogene Identitätsbildung«. In: Werner Faulstich/Jörn Glasenapp (Hg.), Liebe als Kulturmedium, München: Fink 2002, S. 151–170. 142

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Zinganel, Michael/Zillner, Christian: »Stadien der Auflösung. Ephemere Stadien oder die Auflösung des Stadions in der Eventgesellschaft«. In: Matthias Marschik u.a. (Hg.), Das Stadion, S. 365–394.

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Zur Hete roge nität urba ne r Sporträ ume FRANZ BOCKRATH

Das diesem Beitrag zugrunde liegende Raumverständnis knüpft an Ansätze aus den Sozial- und Kulturwissenschaften an, die unter dem Stichwort „Wiederentdeckung des Raums“ beziehungsweise „Spatialization of Social Theory“1 seit einigen Jahren intensiv diskutiert werden. In diesem Zusammenhang lassen sich zwei Diskursstränge unterscheiden: Während in Ansätzen zur Homogenisierung dominante Prozesse der Vereinheitlichung räumlicher Verhältnisse ins Zentrum gerückt werden,2 richten Heterogenisierungstheorien den Fokus auf die Besonderheiten lokaler Kulturen und Kulturregionen sowie auf den Raum als Sphäre der Möglichkeiten von Differenz.3 Der zuletzt genannte Aspekt soll einleitend verdeutlicht werden, indem zunächst die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Raumvorstellungen für die Erkenntnisbildung und Handlungspraxis aufgeworfen wird. Verfolgt wird damit die Absicht, Raumphänomene in ihrer genetisch-konstruktiven Bedeutung zu erfassen. In einem zweiten Schritt sollen städtische Räume exemplarisch im Spannungsfeld von Homogenität und Heterogenität in den Blick genommen werden, bevor die Entstehung moderner Sportformen als ein typisches Resultat urbaner Entwicklungen nachgezeichnet wird. Einige typische Merkmale homogener Raumanordnungen und heterogener Raumeffekte sollen abschließend am Beispiel städtischer Sporträume in den Blick genommen werden.

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Vgl. Scott Lash/John Urry: Economies of Signs and Space, London: Sage 1994. So zum Beispiel Roland Robertson: Globalization. Social Theory and Global Culture, Newbury Park: Sage 1992. Vgl. etwa Doreen Massey: Power-Geometries and the Politics of Time-Space, Heidelberg: Steiner 1999. 145

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Raum-Erkenntnis und Raum-Praxis Mit den nachfolgenden Ausführungen soll zumindest angedeutet werden, weshalb hier ein relationales Raumkonzept als gültig angenommen wird. In sozial- und kulturwissenschaftlichen Publikationen wurde zuletzt ausführlich dargelegt, warum Raumvorstellungen ebenso wie räumliche Praktiken sich nicht in ein geschlossenes begriffliches Konzept einfügen lassen.4 Selbst wenn man davon ausgeht, dass das räumliche Vorstellungsvermögen nicht auf einfachen empirischen Erfahrungen fußt, weil man für deren Verständnis bereits irgendeine allgemeine Vorstellung vom Raum5 besitzen muss, folgt daraus nicht zugleich, dass die besonderen Raumverhältnisse aus einem allgemeinen, abstrakten Raumbegriff abgeleitet werden können. Denn anders als bei begrifflichen Ableitungen, bei denen einzelne Eigenschaften vernachlässigt oder unter übergeordnete Bestimmungen subsumiert werden, bleiben selbst abstrakte Raumbestimmungen auf räumliche Anschauungen verwiesen. Diese werden aufeinander bezogen und dienen somit als Voraussetzung dafür, dass von einzelnen empirischen Erfahrungen ausgehend, allgemeine Vorstellungen gebildet werden. Demzufolge wären etwa geometrische Raumvorstellungen, die für das Verständnis einzelner Räume wichtig sind, nicht bereits gültiger als diese, da erst die zusammenhängende Betrachtung bestimmter Räume topologische Vorstellungen ermöglicht. Kant hat daher zu Recht darauf hingewiesen, dass Raumvorstellungen anschaulich zu fassen sind und nicht etwa zu den Einzelräumen sich verhalten wie abstrakte Begriffe zu den darunter befassten Einzelheiten. Was jedoch in der apriorischen Konstruktion von Raum und Zeit nicht aufgeht, ist der Umstand, dass die notwendigen Bedingungen jeglicher Anschauung nur dann vorstellbar sind, wenn es etwas gibt, worauf sie sich beziehen. Die abstrakte oder leere Vorstellung von Raum und Zeit ist schlechterdings unvorstellbar, weshalb Theodor W. Adorno6 den kantischen Typus der „erfahrungslosen Erfahrung“ als vermeintlich reine Form der sinnlichen Gewissheit mittels einer paradoxen 4

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Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Zum Raumverständnis aus kulturwissenschaftlicher Sicht vgl. Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. Räumliche Verhältnisse beziehen sich auf Anordnungen des Nebeneinanders – wogegen in zeitlichen Verhältnissen Abfolgen und Gleichzeitigkeiten zum Ausdruck gebracht werden. Im Sinne dieser Unterscheidung fasst Kant den Raum als Form des äußeren und Zeit als Form des inneren Sinnes. Vgl. Immanuel Kant: »Kritik der reinen Vernunft.« In: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werke in zehn Bänden. Bd. 3/4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981. Über das Verhältnis von Raum und Zeit vgl. ebd. »Die transzendentale Ästhetik«, S. 69–96 (Auflage A 19–48 sowie Auflage B 33–73). Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Stuttgart: Kohlhammer 1956, S. 156.

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ZUR HETEROGENITÄT URBANER SPORTRÄUME

Formulierung treffend als „hölzernes Eisen“ kritisiert. Formen und Inhalte bleiben demnach wechselseitig aufeinander bezogen, ohne jedoch ineinander aufzugehen beziehungsweise identisch zu sein. Doch wie werden räumliche Vorstellungen und Begriffe zusammengefügt? Ernst Cassirer weist in diesem Zusammenhang in seiner »Philosophie der symbolischen Formen« zunächst auf scheinbar unüberwindbare Widersprüche zwischen konkreten und abstrakten Raumbestimmungen hin: „Es ist bekannt, daß der Wahrnehmungsraum, daß der Seh- und Tastraum, mit dem Raum der reinen Mathematik nicht nur nicht zusammenfällt, sondern daß zwischen beiden vielmehr eine durchgehende Divergenz besteht. […] Der Euklidische Raum ist durch die drei Grundmerkmale der Stetigkeit, der Unendlichkeit und der durchgängigen Gleichförmigkeit bezeichnet. Aber all diese Momente widersprechen dem Charakter der sinnlichen Wahrnehmung.“7 Die empirische Wahrnehmung scheitert demnach am Begriff der Unendlichkeit und die einzelnen Punkte im Raum bilden für die durchaus verschiedenartigen Sinneseindrücke kein homogenes Gefüge. Erst indem die begriffliche Raumvorstellung von konkreten Raumeigenschaften abstrahiert, ist es ihr überhaupt möglich, eine gleichartige Raumstruktur mit funktionalen Bezügen und formal-gültigen Bestimmungen anzunehmen. Nun liegt es nicht in der Absicht Cassirers, den logisch-ideellen Wahrheitsgehalt geometrischer Aussagen in Frage zu stellen; es ist ihm jedoch daran gelegen, die Abgrenzungen und Verbindungen zwischen sinnlichen Anschauungs- und reinen Denkräumen aufzuzeigen. Vor dem Hintergrund dieser doppelten Aufgabe wird deutlich, dass „der homogene Raum [...] niemals der gegebene, sondern der konstruktiv-erzeugte Raum“8 ist. Wahrnehmungsräume, so lässt sich dieser Gedanke fortführen, sind notwendigerweise an veränderliche Inhalte und Bedeutungen gebunden, wogegen im euklidischen Begriffsraum die „strenge Gleichartigkeit der Orte und Richtungen“9 allein unter Bezugnahme auf verallgemeinerte Anschauungen hergestellt wird. Während physiologische Räume eine jeweils „eigene ‚Tönung‘“ besitzen, insofern sie durch verschiedenartige Wahrnehmungen hervorgebracht werden, die – wie Cassirer10 sich ausdrückt – mit „ganz spezifischen Organempfindungen“ und „Gefühlswerten“ korrespondieren, sind die Bestimmungen des „Hier“ und „Dort“ in metrischen Räumen nur mehr Ausdruck homogener Unterscheidungen und generalisierter Bezüge.11 7

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 104. 8 Vgl. ebd., S. 105. 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. ebd., S. 106. 11 Im mythischen Anschauungsraum markiert die Übertragung von räumlichen Wahrnehmungen in einfache Bilder und anschauliche Begriffe für Cassirer eine erste Ordnungsleistung des menschlichen Geistes. Sinnliche Unterscheidungen 147

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Wichtig für unseren Diskussionszusammenhang ist, dass physiologische Räume im Unterschied zu metrischen Räumen praktisch hergestellt werden und an körperliche Wahrnehmungsprozesse gebunden sind. In der tätigen Auseinandersetzung mit divergenten Eindrücken und Empfindungen erzeugt der wahrnehmende und handelnde Mensch nach Cassirer kein „Reich fester Gestalten“12 wie in geometrischen Raumvorstellungen, sondern eher einfache Orientierungsmuster, die sich zu komplexen Wahrnehmungsformen verdichten und ein vor allem praktisches Zurechtfinden in der Welt ermöglichen.13 Die mathematische Übersetzung einzelner Eindrücke und Empfindungen in reine Größenunterschiede und Raumverhältnisse, die der Autor noch ohne jeden Zweifel am vereinheitlichenden Denken als „Fortschritt der ‚objektiven‘ Erkenntnis“14 charakterisiert, bezeichnet demgegenüber die allgemeinste Form der Symbolbildung. Und da zuletzt sämtliche symbolischen Ausdrucksgestalten in ihrem „Werden zur Form“15 auf die Selbsttätigkeit und Spontaneität des menschlichen Geistes zurückgeführt werden, verwundert es nicht, dass nach diesem Ansatz die fortschreitende Gliederung unserer Wahrnehmungswelt in den funktionalen Bezügen der reinen Mathematik ihren reinsten Ausdruck finden soll. Der formbildende Geist verweist demnach insbesondere dort auf sich selbst, wo die einzelnen Daten der Sinnenwelt in das formale Schema ihrer abstrakten Relationen überführt werden.16 Als ein Ergebnis für die Frage der Raumkonstitution kann nunmehr festgehalten werden, dass im gestaltenden Tun unterschiedliche Symbolwelten

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gehen demzufolge „überall auf den eigentlichen mythischen Grundakzent, auf die Scheidung des Profanen und des Heiligen zurück.“ (vgl. ebd.). Vgl. ebd. An anderer Stelle spricht der Autor in diesem Zusammenhang davon, dass der Aufbau der anschaulichen Welt damit beginnt, „daß die fließend immer gleiche Reihe der sinnlichen Phänomene sich abteilt“ und die „strömende Bewegtheit, in der das Ganze der Phänomene uns zunächst allein gegeben ist“, nach und nach „einzelne Wirbel“ absondert. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 165. Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, S. 107. Zweifel an der Verbindung moderner Techniken und mythischer Vorstellungen bringt Cassirer erst später zum Ausdruck. Vgl. dazu Ernst Cassirer: Der Mythus des Staates. Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt a. M.: Fischer 1985. Vgl. Ernst Cassirer: »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«. In: Michael Krois/Oswald Schwemmer (Hg.), Nachgelassene Manuskripte und Texte. Bd. 1, Hamburg: Felix Meiner 1995, S. 15. Vgl. dazu das bekannte Beispiel des ‚Linienzuges‘, wo das Auf und Ab einer räumlichen Linie zunächst in den Kontext unterschiedlicher Erfahrungen gestellt wird, um schließlich als geometrische Figur zu erscheinen, die als eindeutiges Paradigma einer analytischen Formel verstanden wird. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 232–234.

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geschaffen werden, in denen sowohl Sinnliches als auch Gedankliches zum Ausdruck kommt. Dies gilt, wenn auch in unterschiedlicher Weise, für körperliche Bewegungen etwa zur Erzeugung sprachlicher Laute ebenso wie für die graphische Darstellung einer analytischen Formel. In beiden Fällen bleiben die symbolischen Formen gebunden an die jeweils unterschiedlichen materiellen Bedingungen ihres Ausdrucks. Die Artikulation begrifflicher Bedeutungen ist ausdrücklich nicht nur ein geistiger, sondern auch ein physiologischer Vorgang und die bildliche Veranschaulichung eines mathematischen Gedankens bleibt auf die Dimensionen seiner räumlichen Darstellung verwiesen. Diese „Wechselbestimmung des Sinnlichen durch das Geistige, des Geistigen durch das Sinnliche“17 kann durchaus als verbindende Klammer zwischen räumlichen Anschauungen und Begriffen verstanden werden. Anstelle der zuvor angesprochenen kategorialen Paradoxie eines „hölzernen Eisens“ zur Beschreibung räumlicher Anschauungsformen wären daher die unterschiedlichen Praktiken symbolischer Formbildungen genauer in den Blick zu nehmen. Dabei wird allerdings nicht, wie Cassirer18 betont, „die passive Welt der bloßen Eindrücke“ nach und nach „zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks“ umgebildet, sondern es ist, weniger objektivistisch, davon auszugehen, dass die Konstitution von Räumen überwiegend einer praktischen Logik folgt, die – wie Bourdieu19 sich ausdrückt – „anders ist als die Logik der Logik“.

Städtische Räume im Spannungsfeld v o n O r d n u n g u n d Am b i v a l e n z Cassirers Deutung sinnlicher und gedanklicher Symbolwelten ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich. Zum einen zeigt der Rekurs auf die Herausbildung verschiedenartiger symbolischer Formen – wie etwa Mythos, Sprache, Kunst, Technik und Wissenschaft, dass bei diesem Prozess anschauliche und begriffliche Gestaltungsmomente zusammenwirken. Zum anderen wird jedoch ebenso deutlich, dass die hierbei zur Anwendung kommenden Wahrnehmungs- und Denkformen nicht bereits identisch sind oder ineinander aufgehen. Folgt man der Auffassung Cassirers, wonach die „eigentümliche Doppelnatur“ der Zeichen und Symbole darin besteht, dass sich ihr „geistiger Gehalt“ notwendigerweise in „Form des Sinnlichen, des Sicht-, Hör- oder

17 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, S. 299. 18 Vgl. ebd., S. 12 19 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 157. 149

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Tastbaren“20 verwirklicht, dann wären auch städtische Räume danach zu befragen, inwieweit bei ihrer Konstitution sinnliche Zeichen und ideelle Formen zusammenwirken. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise offensichtlich, dass städteplanerische Entwürfe sich nicht bereits in exakten Berechnungen und kartographischen Fixierungen erschöpfen, sondern ebenso die zu erwartenden Aneignungsformen potenzieller Benutzer berücksichtigen, um bedarfsgerecht auszufallen. Letztere sind freilich nur bedingt vorhersehbar, was insbesondere darin begründet ist, dass das praktische Handeln anderen Regeln folgt als denjenigen, die in Plänen und Modellen zum Ausdruck kommen. Denn was in einer geometrischen Zeichnung oder Nachbildung notwendigerweise homogen und kontinuierlich erscheint, insofern hier einzelne Punkte und Orte durch gleichmäßige Linien und stetige Verbindungen aufeinander bezogen werden, stellt sich im praktischen Umgang durchaus als diskret und lückenhaft dar. Wenn ich mich in Räumen bewege – und das schließt die damit verbundenen Vorlieben, Abneigungen, Unsicherheiten oder Bequemlichkeiten ein- dann überwinde ich allmählich die vor mir liegenden Distanzen, während aus der Sicht des Beobachters der modellhaft geordnete Raum unter Neutralisierung jener praktischen Funktionen gleichsam „wie mit einem Schlag“ erfasst wird. Der Preis für diese „künstliche Totalisierung“ und „Synchronisierung der Aufeinanderfolge“ besteht für Bourdieu21 darin, dass die Praktiken von ihren tatsächlichen Existenzbedingungen abgeschnitten werden. Die „Logik der Praxis“, die primär an praktischen Erfordernissen ausgerichtet ist und schon deshalb vage und unregelmäßig bleibt, erscheint dem objektivierenden Blick schließlich eindeutiger, als sie tatsächlich ist. Die Vorstellung vom homogenen beziehungsweise fest strukturierten Raum, der auch ohne Bezugnahme auf – wie es zuvor hieß – „spezifische Organempfindungen“ und „Gefühlswerte“ konstruiert werden kann, bestätigt sich in ihrer modellhaften Ausgestaltung gleichsam selbst. Objektivierende Sichtweisen, die „ebenso wirklichkeitsfern wie makellos sind“22, beschränken sich jedoch nicht auf die Hervorbringung theoretischer Artefakte, die Bourdieu zuerst im Blick hat, um hiervon die – wie er sagt, „Wahrheit der Praxis“ zu unterscheiden, die „jedes formale Interesse“23 ausschließt. Homogene Konzepte existieren bereits in städtischen Konfigurationen, wenngleich unter postindustriellen Bedingungen vielleicht eher von einer homogenen Vielfalt räumlicher, kultureller sowie ethnischer Formationen

20 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, S. 42. 21 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 157. 22 Ebd., S. 155 23 Ebd., S. 166. 150

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gesprochen werden sollte.24 Bestand das kulturelle und ökonomische Potenzial von Städten mit Beginn der Industrialisierung vor allem in der räumlichen Verdichtung heterogener Funktionen und sozialer Beziehungen, so scheint dieser Trend heute verstärkt auf voneinander abgesonderte Lebensbereiche ausgerichtet zu sein.25 Dies bedeutet beispielsweise für die Verfolgung kommerzieller Interessen, dass einzelne städtische Räume von vornherein und trotz aller stilistischen Pluralisierung so einheitlich strukturiert werden, dass sie für ihre Benutzer im Vergleich zu anderen Räumen erkennbar bleiben und eine möglichst zweckbestimmte Verwendung garantieren. Zygmunt Bauman verdeutlicht diesen Umstand am Beispiel der amerikanischen Shopping Mall, die nach seiner Auffassung „dem Idealtyp der triumphierenden Rationalität vielleicht näher kommt als jeder andere Aspekt des zeitgenössischen Lebens“26.Auffällig ist, dass dort der Versuch gemacht wird, durch die nahezu vollständige Homogenisierung der Einkaufswelt eine möglichst weitgehende Heteronomie der Konsumenten herbeizuführen: „Im Unterschied zur ‚wirklichen Welt‘ ist die Welt der Einkaufszonen frei von einander überschneidenden Kategorien, vermischten Botschaften und semiotischer Unklarheit, die sich in Verhaltenszweideutigkeit widerspiegeln. […] Selbst Überraschungen sind sorgfältig geplant. Die aufheiternde Erfahrung, ‚einen draufzumachen‘, sich gehen zu lassen, unvernünftig zu sein – kann in aller Sicherheit genossen werden.“27 Doch so hermetisch diese von Experten gemachte Welt erscheint, stehen die Malls nach Auffassung des Autors ebenso für den „totalen Zusammenbruch des gloriosen Traums der perfekten und globalen, vernunftkontrollierten Ordnung“28. Schließlich kann die städtische Utopie vom besseren, sorgenfreien Leben „nur dank der dicken, undurchdringlichen, schwer bewachten Mauern, in die sie eingeschlossen ist“29 aufrechterhalten werden. Geschützt durch elektronische Spione, selbstschließende Türen und Einbruchsicherungen, so Bauman, trennt sich diese „miniaturisierte Utopie vom Rest der Lebenswelt ab, die ihrer anscheinend unausrottbaren Unordnung überlas-

24 Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die Bildung städtischer En- und Exklaven, die nicht nur durch starre Mauern festgelegt werden, sondern ebenso geographisch, ökonomisch, kulturell oder juristisch bedingt sein können. Vgl. dazu Loïc Wacquant: »Ghetto, Banlieu, Favela: Tools for Rethinking Urban Marginality«. In: Loïc Wacquant (Hg.), Os Condenados da Cidade, Rio de Janeiro 2000, S. 13–18. 25 Vgl. dazu David Harvey: »Geld, Zeit, Raum und die Stadt«. In: Martin Wentz (Hg.), Stadt – Räume, Frankfurt a. M./New York: Campus 1991, S. 149–168. 26 Vgl. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a. M.: Fischer 1996, S. 274. 27 Ebd., S. 274 f. 28 Ebd., S 274. 29 Ebd., S. 275. 151

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sen wird“30. Je perfekter der Ordnungsdrang im Inneren dieser Konsumtempel sich entfalten kann, desto nachhaltiger prägt sich dem Besucher ihr bloßer Scheinweltcharakter auf. Doch dies verstärkt nur die beabsichtigte Wirkung, eine Realität zu zeigen, die zumindest besser erscheint als die ungeordnete Wirklichkeit außerhalb.31 Der widersprüchliche Zusammenhang moderner Ordnungen und Ambivalenzen zeigt sich vor allem darin, dass sich die homogenisierenden Energien in ausdrücklicher Abgrenzung zu heterogenen Einflüssen und Effekten ausbilden, wodurch freilich wiederum neue Mehrdeutigkeiten und Unordnungen als Resultate erfolgreicher Ordnungsbemühungen entstehen.32 An die Stelle einer vermeintlich „perfekten, vernunft-kontrollierten Ordnung“ treten somit die zahlreichen heterogenen Ordnungsversuche, die im städtischen Gesamtkontext eher unübersichtlich bleiben, aus der jeweiligen Binnenperspektive jedoch durchaus einheitlich und geschlossen ausfallen. Geht man mit Baumann davon aus, dass die Negativität der Unordnung sowohl „Produkt der Selbstkonstitution der Ordnung“ als auch Bedingung ihrer Möglichkeit ist33, dann wird deutlich, dass Entwicklungen der Homogenisierung und Heterogenisierung wechselseitig aufeinander bezogen bleiben. Ordnung und Ambivalenz erscheinen als zwei Seiten einer Medaille. Allerdings sind diese beiden Seiten nicht etwa symmetrisch angeordnet, sondern gegensätzlich aufeinander bezogen. Je umfassender und erfolgreicher Ordnungsbemühungen ausfallen, desto geschlossener sind zugleich die Grenzziehungen gegenüber konkurrierenden Möglichkeiten. Umgekehrt gilt entsprechend, dass Differenzen und Abweichungen nur dann eine Chance haben, wenn es ihnen gelingt, sich gegen die Ansprüche etablierter Ordnungen zu behaupten. Am Beispiel der Entwicklung urbaner Sporträume soll nunmehr aufgezeigt werden, wie das Wechselspiel zwischen homogenen Formen und heterogenen Umformungen den Umgang mit körperlich bestimmten Praktiken beeinflusst und welche Veränderungen dabei erkennbar sind.

30 Ebd. 31 Vgl. dazu etwa die Konzeption und Inszenierung von Niketown, dargestellt in Franz Bockrath: »Mythisches Denken im Sport«. In: Berliner Debatte Initial. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs 10 (1999), S. 24–29. 32 „Unkraut ist der Abfall des Gärtnerns, armselige Straßen der Abfall der Stadtplanung, Dissidenz der Abfall der ideologischen Einheit, Häresie der Abfall der Orthodoxie, Fremdheit der Abfall der Einrichtung des Nationalstaates. (...) Wenn die Moderne es mit der Erzeugung von Ordnung zu tun hat, dann ist die Ambivalenz der Abfall der Moderne.“ Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 29–30 (Hervorhebung im Original). 33 Vgl. ebd., S. 20. 152

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Z u r Au s b i l d u n g v o n K ö r p e r - u n d Raumordnungen im Sport Zu Beginn dieses Beitrages wurde die Vorstellung vom Raum kritisiert, die diesen vor beziehungsweise unabhängig von allen wahrnehmbaren Dingen zu fassen versucht. Im Unterschied zum objektivistischen Verständnis des statisch angeordneten, homogenen Raums liefern die praktischen Formen des Ausdrucksverstehens sowie der Symbolbildung den Grund für die hier vertretene Annahme vom perspektivischen beziehungsweise veränderbaren Raum. Dieser – metaphorisch gesprochen – verflüssigte Raum entsteht erst in der Relation der Dinge zueinander, das heißt genauer: ihrer physischen Anordnungen und materiellen Bewegungen. Insofern über Bewegungen und Handlungen sowohl Objekte als auch soziale Formationen beeinflusst werden, wird bereits deutlich, dass relationale Räume in zweifacher Hinsicht bedeutsam sind: Erstens – und darin unterscheiden sie sich zentral von geschlossenen Raumkonzepten –, sind sie nicht einfach vorgegeben, sondern werden immer wieder neu hergestellt. Zweitens erfolgt diese permanente Neukonstitution unter vorstrukturierten materialen und sozialen Bedingungen, die entsprechend ihrer jeweiligen Anordnung mehr oder weniger homogen ausfallen. Wichtig ist, dass beide Merkmale der Raumkonstitution zusammenwirken, da räumliche Anordnungen erst ausgestaltet werden müssen, um als solche verstanden zu werden, wobei dieser Form bildende Akt notwendigerweise auf bereits vorstrukturierte Bedingungen verwiesen bleibt. Räumliche Strukturen und Strukturierungen sind demnach wechselseitig aufeinander bezogen beziehungsweise relational angeordnet.34 Das Wechselverhältnis räumlicher Strukturen und Strukturierungen ist durchaus konkret zu fassen, wie der Hinweis auf körperliche Bewegungen bereits verdeutlicht. Für Bourdieu35 etwa sind die Strukturen der Welt in den Strukturen gegenwärtig, mit deren Hilfe die Akteure sie verstehen: „Der Körper ist in der sozialen Welt, aber die soziale Welt steckt auch im Körper.“ Im Handeln kommt es daher zur Begegnung zweier „Zustände des Sozialen“36, nämlich der in dinglichen Gegenständen wie Instrumenten, Gebäuden und Techniken zum Ausdruck kommenden objektivierten Geschichte einerseits und den in bestimmten Vorlieben, Fähigkeiten und Gewohnheiten körperlich

34 In der Raumsoziologie werden die beiden Merkmale der Raumkonstitution als Spacing („Plazieren von sozialen Gütern und Menschen“) beziehungsweise als ‚Syntheseleistung‘ (Zusammenfassung von sozialen Gütern und Menschen zu Räumen „über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse“) bezeichnet. Vgl. dazu Martina Löw: Raumsoziologie, S. 158– 159. 35 Vgl. Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 194. 36 Vgl. ebd. 153

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zum Ausdruck kommenden Akteursgeschichten andererseits. Die Begegnungen zwischen, Bourdieus Begriffen folgend, „Habitus und Feld“37 sind somit keineswegs statisch, sondern unterliegen dauerhaften Veränderungen. Dies lässt sich am Beispiel der Entwicklung urbaner Sporträume gut nachvollziehen, da hier objektivierte und einverleibte Geschichten in anschaulicher Weise miteinander verwoben sind. So ist in der Entwicklung des modernen Sports der enge Zusammenhang von Körper- und Raumordnungen offensichtlich. Waren die volkstümlichen Ballspiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit noch wilde Vergnügungen, die nicht selten außer Kontrolle gerieten und aufgrund ihrer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit mit zahlreichen Verboten belegt wurden,38 ändert sich dieses Bild grundlegend mit der Einführung der auf Verstandeseinsicht gegründeten philanthropischen Gymnastik. Nach diesem Konzept soll die Körperbildung den Menschen dazu befähigen, „ein ‚ganz anderes Geschöpf‘ aus sich zu machen, sich eine künstlich gebildete zweite Natur zu produzieren.“39 Der methodischen Ausarbeitung exakter Übungsabläufe entspricht die detaillierte Anordnung der Übungsplätze. Natur-Räume werden möglichst panoptisch angelegt und in isolierte Parzellen untergliedert, so dass, wie GutsMuths sich ausdrückt, „die Übenden von Station zu Station in ihren Arbeiten fortrücken.“40 Um die Unvorhersehbarkeit und Unberechenbarkeit des Körpers mittels funktionaler Übungen möglichst durchschaubar und kontrollierbar zu machen, werden Plätze so geplant und gestaltet, dass jeweils einzelne Fertigkeiten an besonderen Orten mit spezifischen Ausstattungen und Geräten geschult werden können. Gemäß dieser „topographisch-instrumentelle[n] Anatomie entsteht ein produktiver Raum“41, der vor allem dazu dient, die Verbesserung und Vervollkommnung der menschlichen Natur herbeizuführen.

37 Vgl. ebd. 38 Vgl. etwa Norbert Elias/Eric Dunning: »Volkstümliche Fußballspiele im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen England«. In: Norbert Elias/Eric Dunning, Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 316– 337. 39 Vgl. Eugen König: Körper – Wissen – Macht. Studien zur Historischen Anthropologie des Körpers, Berlin: Dietrich Reimer 1989, S. 75-76. 40 Zitiert nach Eugen König: Körper – Wissen – Macht, S. 95. Zu den Möglichkeiten der Körperdisziplinierung mittels räumlicher Anordnungen und panoptischer Überwachungen vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 173–292. Auch wenn Foucault philanthropische Erziehungsmethoden – mit einer Ausnahme (vgl. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. 1. Band: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 41–43) – nicht eigens thematisiert, sind sie gleichwohl ein gutes Beispiel für die Herstellung „gelehriger Körper“. 41 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, S. 95. 154

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Auffällig ist, dass diese laborähnlichen beziehungsweise – mit Foucault42 gesprochen – „analytischen Räume“, in denen effiziente Verteilungen der Akteure angestrebt und äußere Störgrößen möglichst ausgeschaltet wurden, zuerst in der pädagogischen Provinz entstanden. Hierin zeigt sich eine Besonderheit der Sportentwicklung gegenüber anderen gesellschaftlichen Verhaltensformungen am Ende des 18. Jahrhunderts: Während vergleichbare Disziplinaranordnungen, wie etwa Fabriken, Kasernen, Hospitäler und Schulgebäude, vornehmlich in urbanen Zusammenhängen entstanden, entwickelten sich viele der heute noch betriebenen Sportformen zuerst in ländlicher Umgebung. Dies verweist auf die gesellschaftliche Funktion höfischer Umgangsformen, die den Luxus des Zeitvertreibs als Abgrenzungsmerkmal gegenüber den unteren Schichten standesgemäß zum Ausdruck bringen sollten. Dementsprechend waren etwa Golf, Kricket oder Tennis ursprünglich in gepflegten Gartenanlagen beheimatet, die ihrerseits zum Ausdruck des zivilisierten Lebens gehörten.43 Die verstärkt einsetzende technisch-industrielle Entwicklung brachte den Sport im 19. Jahrhundert schließlich umso nachdrücklicher ins städtische Bewusstsein. Zwar hatten dort Turnierspiele44, Ballhäuser45 und Schaukämpfe46 schon vorher ihren Platz, doch erst die ökonomischen Konkurrenzverhältnis42 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, S. 262. 43 Vgl. John Bale: »Der Sportplatz: Das Spiel der gezähmtem Körper«. In: Zeitschrift für Semiotik 19 (1997), S. 35–48. Der Autor beschreibt die allmähliche Standardisierung von Kricketflächen und Golfanlagen durch den Einsatz moderner Gartenbautechniken. Heute gilt das „manikürte Grün des Golfplatzes“ vor allem den Landschaftsarchitekten und Spielern „als die perfekte Landschaft, als ultimatives Draußen, als prototypische amerikanische Wiese“ (vgl. ebd.: S. 44). In dem angestrebten homogenen Ausdruck bezähmter Natur lassen sich diese Sportlandschaften durchaus vergleichen mit den weiter oben angesprochenen Shopping Malls. 44 Vgl. etwa zum Florentiner Fußball die aufschlussreiche Studie von Horst Bredekamp: Florentiner Fußball: Die Renaissance der Spiele, Berlin: Wagenbach 2001. 45 Gespielt wurde dort ein überaus populäres Ballschlagspiel (jeu de paume). „Allein in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts lassen sich Ballhäuser in mehr als fünfzig deutschen Städten nachweisen [...] Paris soll 1596 ungefähr 250 gut eingerichtete Ballhäuser besessen haben, deren Verwaltung und Betrieb allein 7000 Menschen beschäftigte.“ Franz-Joachim Verspohl: Stadionbauten von der Antike bis zur Gegenwart. Regie und Selbsterfahrung der Massen, Gießen: Anabas 1976, S. 106–107. 46 So wurden beispielsweise im 18. Jahrhundert in mehreren europäischen Städten kleinere Amphitheater unterhalten, in denen Tiere gegeneinander kämpften (‚Wiener Tierhatz‘) oder öffentliche Ring- und Fechtübungen aufgeführt wurden. Vgl. dazu sowie zu weiteren Beispielen Gerhard Ulrich Anton Vieth: Versuch einer Encyclopädie der Leibesübungen. Zweyter Teil: System der Leibesübungen.« In: Max Schwarze/Wilhelm Limpert (Hg.), Quellenbücher der Leibesübungen. Bd.2/II, Berlin: Wilhelm Limpert 1930. 155

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se, die besonders in den räumlichen Verdichtungen der Städte spürbar waren, führten zur Ausbildung monofunktionaler Räume, die in Deutschland zunächst dem Turnen, später dann dem Wettkampfsport vorbehalten waren. Nach Aufhebung der Turnsperre wurden Turnplätze und -hallen ausdrücklich zu Orten der staatsbürgerlichen Erziehung erklärt, die insbesondere der Wehrhaftmachung dienten.47 Körperbeherrschung, Disziplin und Gehorsam wurden durch militärische Ordnungsübungen an dafür geeigneten Geräten wie Klettergerüsten, Balancierbalken und Ähnlichem geschult. Die hierfür geschaffenen Anlagen glichen nicht selten Exerzierplätzen, die kaum Freiräume zum Experimentieren ließen. Mit der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt einsetzenden Verbreitung der English Sports, die vor allem in den Städten von den neu entstehenden Mittelschichten als Ausdruck modernen Lebens angenommen wurden,48 wuchs der Bedarf an wettkampfgerechten Sportanlagen und Stadien. Um Rekorde aufstellen und vergleichen zu können, waren genormte Bahnen, Felder, Abgrenzungen, Untergründe, Gerätschaften erforderlich. Nach dem 1. Weltkrieg stand hierfür in den Ballungsräumen noch aufgelassenes Militärgelände zur Verfügung, doch schon ab 1920 fanden in vielen Kommunen sogenannte Sportwerbetage statt, an denen Geld für den Stadienbau gesammelt wurde.49 In den 1920er und 1930er Jahren schließlich entstanden in vielen Städten zentrale Sportanlagen, die im günstigsten Fall ein Großstadion im Mittelpunkt hatten. Auf diese Weise wurden sie - gemäß der bürgerlichen Sportideologie jener Zeit – zu „Festplätzen [...], auf denen das Höchste des Volkstums sich sinnbildlich erfüllt: die Hingabe des Einzelnen an die Gemeinschaft.“50 Es ist bekannt, dass diese Vision mit dem Bau des Berliner Reichssportfeldes eine äußerst massen- und medienwirksame Gestalt gefunden hat.51 Doch nicht dieser Gedanke soll hier weiter verfolgt werden. Ebenso wenig sollen die weiteren kulturindustriellen Entwicklungen des Stadionbaus in den

47 Vgl. Syenja Goltermann: Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860–1890, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 48 Vgl. Christiane Eisenberg: English sports und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1880–1939, Paderborn: Schöningh 1997. 49 Zu den Aufwendungen einzelner Städte aus der sogenannten „produktiven Erwerbslosenfürsorge“ für Sportbauten vgl. Franz-Joachim Verspohl: Stadionbauten von der Antike bis zur Gegenwart, S. 184 (Anm. 174). 50 So äußerte sich beispielsweise der damalige Reichskunstwart Redslob, zit. nach Franz-Joachim Verspohl: Stadionbauten von der Antike bis zur Gegenwart, S. 186. 51 Vgl. ausführlich dazu: Thomas Alkemeyer: Körper, Kult und Politik. Von der Muskelreligion Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936, Frankfurt a. M./New York: Campus 1996. 156

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Blick genommen werden.52 Vielmehr ist darauf hinzuweisen, dass mit der sich etablierenden Lokalisierung sportbezogener Zweckbauten in städtischen Räumen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts neue Raumordnungen entstehen, die im Grundsatz – das heißt trotz veränderter Präsentationstechniken und Rezeptionsformen sportlicher Ereignisse – heute noch gültig sind. Diese zweckbestimmten Raumordnungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie: • urbane Modernität zum Ausdruck bringen, indem sie funktionale Verkehrsformen begünstigen, • sportliche Bewegungsformen kodifizieren, indem sie Ein- und Ausgrenzungen festlegen, • heterogene Wirkungen erzeugen, die auf konkurrierende Raumkonzepte verweisen.

Urbane Sporträume: Homogene Produkte und heterogene Erscheinungsformen Sporträume als Ausdruck urbaner Modernität Die Frage, weshalb zweckbestimmte Raumordnungen des Sports vor allem in Städten erfolgreich waren, wurde bislang nur mit dem Hinweis auf die dort zentrierten neuen Mittelschichten als soziale Basis von Modernisierungsprozessen beantwortet. Die Nachfrage nach sportspezifischen Funktionsräumen, wie etwa Stadien, Schwimmbäder, Sporthallen oder Eisarenen, erscheint heute allerdings eher größer zu sein als noch vor einhundert Jahren.53 Der Begriff der urbanen Modernität erklärt sich folglich nicht bereits mit Blick auf seine soziale Trägerschaft, sondern erst unter Berücksichtigung der sich dauerhaft wandelnden städtischen Lebensbedingungen. Diese lassen sich – in allgemeiner Weise – durch zwei gegensätzliche Richtungen kennzeichnen: Einerseits befördern urbane Verhältnisse die funktionale Integration ihrer Mitglieder. Menschen in der Stadt treten – obgleich nicht grundsätzlich anders, so doch sichtbarer als in ländlichen Bereichen – in sachliche Beziehungen zueinander, in denen zweckbestimmte Interaktionen wichtiger sind als etwa die persönlichen Eigenschaften und Motive der Handelnden.54 Andererseits ermöglichen 52 Siehe dazu Franz-Joachim Verspohl: Stadionbauten von der Antike bis zur Gegenwart; Michelle Provoost: The Stadium. The Architecture of Mass Sport, Rotterdam: NAI 2000. 53 Ein Indiz dafür ist, dass der traditionelle Vereinssport im Spektrum der Freizeitaktivitäten in allen Altersklassen - insbesondere jedoch bei Kindern und Jugendlichen - einen vergleichsweise hohen Stellenwert einnimmt. Vgl. dazu Werner Schmidt/Ilse Hartmann-Tews/Wolf-Dietrich Brettschneider: Erster Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht, Schorndorf: Hofmann 2003. 54 In seiner Charakterisierung der Großstädte spricht Simmel in diesem Zusammenhang vom urbanen Leben als einem „Gebilde von höchster Unpersönlich157

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funktional bestimmte Verkehrs- und Umgangsformen neue Formen sozialer Bindung, die etwa aufgrund übereinstimmender Vorlieben zustande kommen und nicht – wie in traditionalen Gemeinschaften – bereits durch räumliche Nähe oder gemeinsame Herkunft bedingt sind. Während also funktionale Verkehrsformen den allgemeinen Rahmen städtischer Modernität kennzeichnen, ist auffällig, dass als Effekt der Urbanisierung zugleich die Bedeutung informeller Integrationsformen steigt.55 Als standardisierte Homogenisierungsprodukte begünstigen sportbezogene Funktionsräume somit zweckbestimmte Handlungsformen. Die gleichzeitige Aufwertung lebensweltlich bestimmter Sozialbeziehungen – etwa in der ‚Vereinsfamilie‘ oder der ‚Fangemeinde‘ – wird hierdurch jedoch nicht ausgeschlossen. Sie bezeichnen vielmehr die andere Seite moderner Urbanität.

Kodifizierung sportlicher Bewegungsformen Wie der Blick auf die historische Entwicklung des modernen Sports zeigt, werden sportliche Bewegungsformen erst durch geschlossene räumliche Anordnungen von alltäglichen Bewegungen unterschieden. So sind etwa Lauf-, Sprung- oder Wurfbewegungen nicht schon als solche sportspezifisch – wie jeder weiß, der einen noch wartenden Bus oder einen Apfel an einem hohen Ast erreichen möchte. Erst die räumliche Trennung von Alltagshandlungen und damit verbunden auch ihre zeitliche Ausgrenzung, Kontrolle, Rationalisierung und Verregelung macht aus ihnen ein sportrelevantes Ereignis.56 Während bei den zuvor angesprochenen wilden Vergnügungen mittelalterlicher Ballspiele, wo einzelne Personengruppen oder ganze Dörfer gegeneinander antraten, formelle Raumordnungen noch nicht bedeutsam waren und die Unterscheidung zwischen Spiel und Alltagwelt vor allem durch den Jahreskalender bestimmt wurde, sind heute räumliche Unterscheidungen für die keit“. Vgl. Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«. In: Georg Simmel: Das Individuum und die Freiheit, Berlin: Klaus Wagenbach 1984, S. 196. 55 Eine Aufgabe der empirischen Stadtforschung besteht gerade darin, die hier beschriebenen homogenisierenden Voraussetzungen und möglichen heterogenen Folgen urbanen Lebens zu untersuchen. Zur gleichzeitigen „Steigerung von persönlichen und unpersönlichen Beziehungen“ in der modernen Gesellschaft vgl. Bernhard Boschert: »Die Stadt als Spiel-Raum – Zur Versportlichung urbaner Räume«. In: Wolkenkuckucksheim 7 (2002), S. 3. Weiterführende Hinweise auf die Bedeutung lokaler Gemeinschaften und entlokalisierter Netzwerke in der Stadt finden sich bei Hartmut Häussermann/Walter Siebel: Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M./New York: Campus 2004, S. 103–116. 56 Zur Konstruktion sportlicher Handlungen aus formal–ästhetischer Perspektive vgl. Elk Franke: Theorie und Bedeutung sportlicher Handlung. Voraussetzung und Möglichkeiten einer Sporttheorie aus handlungstheoretischer Sicht, Schorndorf: Hofmann 1978. 158

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Konstitution formeller Sporthandlungen unerlässlich. Einzelne Autoren sprechen in diesem Zusammenhang dementsprechend von einem „Prozess der Einschließung, Verregelung, Institutionalisierung und Kodifizierung der entstehenden sportlichen Praxisformen einerseits und der räumlichen Trennung von sportlichen Akteuren und Zuschauern andererseits“57.Erst indem sportliche von nicht-sportlichen Räumen getrennt werden, entsteht ein gesonderter Handlungsrahmen mit eigenen Konventionen, Regeln und Bedeutungen. Für den Bau sportspezifischer Funktionsräume, wie Rennstrecken, Laufbahnen oder Fußballstadien, sind somit nicht nur technologische Zwecksetzungen etwa zur Trainingsoptimierung und Leistungssteigerung bedeutsam.58 Vielmehr wird erst durch die Abgrenzung des sportlichen Raums von der Alltagswelt der geregelte Sport in durchaus sinnfälliger Weise von bestimmten Konventionen und Bedeutungen der Alltagspraxis entkoppelt.59

Konkurrierende Raumkonzepte und heterogene Bewegungskulturen Wie am Beispiel der Bildung von Raumvorstellungen gesehen, entstehen bei den praktischen Umformungen sinnlicher Eindrücke in symbolische 57 Vgl. Gunter Gebauer/Thomas Alkemeyer/Bernhard Boschert/u.a., Treue zum Stil. Die aufgeführte Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2004, S. 28. 58 Vgl. zur Argumentationslinie der Körperzivilisierung und -disziplinierung in sportbezogenen Raumanordnungen etwa die Arbeiten von Henning Eichberg: Leistungsräume. Sport als Umweltproblem, Münster: Lit 1988 und Henning Eichberg/Jørn Hansen: Bewegungsräume. Körperanthropologische Beiträge, Butzbach-Griedel: Afra 1996; ähnliche Überlegungen finden sich bei Patricia Vertinski/John Bale (Hg.), Sites of Sport. Space, Place, Experience. London/ New York: Routledge 2004 und Patricia Vertinsky/Sherry McKay (Hg.), Disciplining Bodies in the Gymnasium. Memory, Monument, Modernism, London/New York: Routledge 2004. 59 Während etwa ein Faustschlag auf der Straße als Körperverletzung geahndet wird, ist dies im Boxring nicht der Fall. Die Handlungen erhalten hier aufgrund räumlich – zeitlicher Abgrenzungen eine eigene symbolische Bedeutung. Folgt man dem Kulturphilosophen Ernst Cassirer, so steht schon am Anfang des mythischen Denkens die räumliche Unterscheidung zwischen dem „Heiligen“ und dem „Profanen“ als erste Form der Symbolbildung beziehungsweise Bedeutungsgenerierung (siehe dazu auch Anmerkung 11 weiter oben). Vor diesem Hintergrund wäre die verbreitete Bindung einzelner Sportliebhaber an bestimmte Objekte und Räume – gemeint sind ‚magische‘ Dinge wie Maskottchen oder Trikotnummern und ‚heilige‘ Orte wie etwa Wembley oder Wimbledon – nicht nur für die psychosoziale Identitätsbildung (vgl. dazu Tillmann Habermas: Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999), sondern auch für die Herstellung symbolischer Formwelten relevant. Die Raumanordnungen im institutionalisierten Sport scheinen subjektive und kollektive Akte des Bildens symbolischer Unterscheidungen in besonderer Weise anzuregen. 159

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Ausdrücke verschiedenartige Wirkungen und Gestaltungen. Geometrische Raumanordnungen, die genaue Leistungsvergleiche und Rekordmessungen erst ermöglichen, bezeichnen folglich nur eine besondere Form der Raumkonstitution. Andere Raumkonzepte sind vor allem dort relevant, wo heterogene gesellschaftliche Gruppen - gemeint sind Klassen, Geschlechter, Altersgruppen oder Ethnien– aufeinander treffen. So ist beispielsweise bekannt, dass Fitnessstudios als Orte kontrolliert-ästhetischer Körpermodellierung von Angehörigen der unteren Klassen eher gemieden werden, wogegen Krafträume zur Stärkung und Hervorhebung des eigenen Körpereinsatzes vor allem von Vertretern dieser Gruppen stärker nachgefragt werden.60 Bourdieu61 geht dementsprechend davon aus, dass das bestimmende Element bei der Bevorzugung oder Ablehnung bestimmter Sportarten und -räume „das Verhältnis zum eigenen Körper, zum Körpereinsatz [ist], das wiederum gebunden ist an eine soziale Position und eine originäre Erfahrung der physischen und sozialen Welt.“62 In urbanen Kontexten, wo unterschiedliche Räume und Raumvorstellungen nicht nur nebeneinander existieren, sondern – im Sinne der beschriebenen Dialektik von Ordnung und Ambivalenz – sich wechselseitig beeinflussen und bedingen, entstehen seit einigen Jahren konkurrierende Bewegungskonzepte, die einen anderen Umgang mit Körper und Raum demonstrieren. Innerstädtische Straßenräume, die für den verkehrsgerechten Transport von Waren und Menschen geschaffen wurden, werden an Sommerabenden durch rollende Scharen von Inlineskatern im Rahmen regelmäßig durchgeführter Blade-Nights zweckentfremdet.63 Stadtmarathons zwängen sich durch enge 60 Vgl. dazu auch Pierre Bourdieu: »Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports«. In: Pierre Bourdieu: Soziologische Fragen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 181. 61 Vgl. Pierre Bourdieu: »Programm für eine Soziologie des Sports«. In: Pierre Bourdieu, Rede und Antwort, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 194. 62 Schon dieses Beispiel macht deutlich, dass auch der bislang noch als homogen gefasste Raum des Sports genauer zu unterscheiden ist hinsichtlich seiner spezifischen räumlichen Anordnungen, körperlichen Gebrauchsweisen, Bewegungsformen, Gerätschaften etc. einerseits sowie den Verbindungen zu den von den jeweils handelnden Akteuren eingenommenen sozialen Positionen andererseits. Zu den ‚Distinktionsprofiten‘ unterschiedlicher Sportpraktiken vgl. Pierre Bourdieu: »Historische und soziale Voraussetzungen des modernen Sports«, S. 174. 63 Bette erwähnt in diesem Zusammenhang neben sportlichen Aktivitäten als weitere konkurrierende Nutzungsformen politisch motivierte Streiks, militärische Formationen, Karnevalsumzüge, Love – Parades und andere, vgl. Karl-Heinrich Bette: »Asphaltkultur. Zur Versportlichung und Festivalisierung urbaner Räume«. In: Karl-Heinrich Bette: Systemtheorie und Sport, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 199. Kaschuba und Alkemeyer sehen darin neue Formen der öffentlichen (Selbst-)Repräsentation. Vgl. dazu Wolfgang Kaschuba: »Repräsentation im öffentlichen Raum«. In: Wolkenkuckucksheim 8 (2003); Thomas Alkemeyer: »Zwischen Verein und Strassenspiel. Über die Verkörperungen gesell160

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Häuserschluchten. Mountainbiker nutzen die Geländer öffentlicher Gebäude für ihre waghalsigen Sprünge. Skateboarder umkurven verschreckte Passanten in Fußgängerzonen. Beachvolleyballer bemühen sich angestrengt, das Bild trister Innenstädte in strandähnliche Atmosphären zu verwandeln. CrossGolfer haben sich entschieden, nicht länger auf alternative Nutzungsformen freier Stadtflächen zu warten. Sportkletterer wetteifern an Brücken und Hochhäusern. Die Liste sogenannter Trendsportarten, die vor allem in Städten praktiziert werden, ist inzwischen beachtlich lang.64 Umso erstaunlicher ist es, dass die Stadtsoziologie dieser Entwicklung der sportiven Nutzung von Räumen, Plätzen und Straßen bisher nur wenig Beachtung geschenkt hat. Die Frage, warum gerade städtische Räume für derartige Körper- und Bewegungspraktiken genutzt werden, eröffnet verschiedene Antwortmöglichkeiten. So weist etwa Karl-Heinrich Bette65 darauf hin, dass die „Abstraktheit, Technisierung und Körperdistanzierung“ städtischer Lebensräume das Bedürfnis nach personalen Präsenzerfahrungen in diesen Räumen steigert. Dabei geht es nach Meinung des Autors nicht um ein „einfaches Hinüberkopieren verdrängter Bedürfnisse, sondern um eine Modernisierung des Vernachlässigten und Marginalisierten“66 – das heißt mit anderen Worten, um eine möglichst zeitgemäße Anpassung verborgener Erlebnispotenziale an die urbanen Möglichkeiten der Erlebnissteigerung. Die Suche nach körperlichen Evidenzerfahrungen findet heute zwar auch in natürlichen Räumen statt, doch im Unterschied zur Auseinandersetzung mit hohen Bergen, wilden Wassern und gefährlichen Wüsten eignen sich urbane Räume in besonderer Weise zur öffentlichen Darstellung des eigenen Tuns. Dabei profitieren die Akteure davon, dass ihre Unternehmungen von Passanten und anderen Nutzern zumindest beiläufig registriert werden. Außerdem, und dies ist ein Grund dafür, weshalb viele Trendsportarten an prominenten Orten der Stadt aufgeführt werden, erscheinen die eigenen Aufführungen um so spektakulärer, je symbolträchtiger die gewählten Hintergrundkulissen ausfallen: „Die in den Gebäuden, Straßen, Körpern und Plätzen eingespeicherten Zeichen bieten Möglichkeiten der sozialen Teilhabe, die so in der Natur nicht vorhanden sind.“67

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schaftlichen Wandels in den Sportpraktiken der Jugendkultur«. In: Heinz Hengst/Helga Kelle (Hg.), Kinder-Körper-Identitäten. Theoretische und empirische Annäherungen an kulturelle Praxis und sozialen Wandel, Weinheim, München: Juventa 2003. Einen Überblick gibt Jürgen Schwier: »Trendsportarten und ihre mediale Inszenierung«. In: Werner Schmidt/Ilse Hartmann-Tews/Wolf-Dietrich Brettschneider: Erster Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht, Schorndorf: Hofmann 2003. Vgl. Karl-Heinrich Bette: X-treme. Zur Soziologie des Abenteuers- und Risikosports, Bielefeld: transcript 2005, S. 104–105. Vgl. Karl-Heinrich Bette: Asphaltkultur, S. 212. Vgl. ebd., S. 206. 161

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Die neuen, urbanen Sporträume unterscheiden sich vor allem dadurch von den klassischen Funktionsräumen des Sports, dass scheinbar feste Grenzziehungen etwa zwischen innen und außen, geschlossen und kontextbezogen, dauerhaft und flüchtig, geregelt und ungeregelt beziehungsweise privat und öffentlich immer durchlässiger werden. Dies bedeutet allerdings nicht, wie die Ergebnisse einer Untersuchung über die „Aufführung der Gesellschaft in Spielen“68 zeigen, dass an die Stelle homogener nun einfach heterogene Praktiken und Räume zu setzen wären. Vielmehr ist davon auszugehen, dass in den neuen Spielformen und Bewegungspraktiken gesellschaftliche Veränderungen aufgezeigt und umgebildet werden, die in veränderten Wahrnehmungen, Gesten, Ritualen, Raumbezügen und Gemeinschaftsbildungen zum Ausdruck kommen.69 Ähnlich wie in Partnerbeziehungen, Lernorganisationen und Arbeitsverhältnissen Konzepte der Informalisierung und Deregulierung an Bedeutung gewinnen, die von den Akteuren flexiblere Formen des Umgangs und der Selbstorganisation verlangen, lassen sich auch die unterschiedlichen Inszenierungsformen in den neuen Bewegungsspielen als „gesellschaftliche Strukturübungen mit hintergründigen Verwandtschaften zu dominanten gesellschaftlichen Entwicklungen“70 begreifen. Folgt man diesem Gedanken, dann bezeichnen die urbanen Bewegungspraktiken nicht ein einfaches, unernstes Gegenmodell zu gesellschaftlichen Normalisierungs- und Homogenisierungsstrategien, sondern wären eher zu verstehen als deren individualisierter Ausdruck.71 Auffällig ist, dass in den hier skizzierten Erklärungsansätzen vor allem die öffentliche Darstellungsseite urbaner Trendsportarten hervorgehoben und mit den besonderen „Sichtbarkeitsverhältnissen“72 städtischen Lebens in Verbindung gebracht wird. Nun gibt es allerdings auch stadtbezogene Bewegungsspiele und -praktiken, die eher im Verborgenen stattfinden, weil sie am Rande der Legalität agieren. Zu den sogenannten Urban Extreme Sports zählen beispielsweise das U-Bahnsurfen oder Base-Jumping als innerstädtische Varianten von Risikolust und Abenteuersuche. Bei diesen Aktivitäten wird der städtische Raum in erster Linie als Medium zur Steigerung des eigenen Erlebens genutzt. Daneben existieren jedoch ähnlich populäre Formen, bei denen die 68 Vgl. Gunter Gebauer/u.a.: Treue zum Stil. Die aufgeführte Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2004. 69 „Unsere Hypothese ist, dass die in den neuen Spielpraktiken ausgeprägten Veränderungen auch in anderen sozialen Feldern auftauchen. Das Spiel kann als Detektor von neuen sozialen Entwicklungen aufgefaßt werden.“ Gunter Gebauer/u.a., Treue zum Stil, S. 18. 70 Thomas Alkemeyer: »Zwischen Verein und Straßenspiel«, S. 314. 71 Zur „Lenkung durch Individualisierung“ siehe etwa Michel Foucault: »Subjekt und Macht«. In: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Michel Foucault. Analytik der Macht, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 245. 72 Vgl. Karl-Heinrich Bette: X-treme, S. 105. 162

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Akteure ausdrücklich ein anderes, gegenkulturelles Verständnis in der Auseinandersetzung mit vorgegebenen räumlichen Strukturen entwickeln. Hierzu gehört beispielsweise das bereits erwähnte Cross-Golfen, das auf der Straße, im Stadtpark, auf Baustellen oder Brachflächen praktiziert wird. In bewusster Abgrenzung gegen das ehemals exklusive Rasengolf versteht sich diese innerstädtische Variante ebenso als Kritik an den restriktiven Verwendungsweisen öffentlicher Räume.73 Eine andere subversive und ästhetische Form des Umgangs mit öffentlichen Räumen in der Stadt ist das sogenannte Free Running beziehungsweise Le Parkour. Das Ziel der Akteure, die sich selber Traceure nennen, besteht darin, beim Durchqueren urbaner Räume alle im Weg befindlichen Hindernisse mit möglichst fließenden und athletischen Bewegungen (Moves) zu überwinden. Die dabei verfolgte Absicht beschränkt sich nicht darauf, die zu überwindenden Gegenstände – Mauern, Häuser, Autos, Telefonzellen. – möglichst unversehrt zu hinterlassen, sondern es geht vor allem darum, sie mit anderen Augen zu sehen. Erst in der bewussten körperlichen Auseinandersetzung mit städtischen Räumen, so die Auffassung, verändert sich auch die Art ihrer Wahrnehmung. Gewohnheiten lösen sich auf und in Routinen verfestigte Strukturen erhalten nach und nach ein verändertes Gesicht. Auch wenn die vorgegebenen räumlichen Anordnungen ausdrücklich unverändert bleiben, werden durch den akrobatischen Einsatz des eigenen Körpers voneinander getrennte Orte aufeinander bezogen und praktisch miteinander verbunden. Auf diese Weise entsteht in der tätigen Auseinandersetzung mit den jeweiligen materiellen Gegebenheiten ein physiologisch bestimmter Raum, der an die Handlungen, Wahrnehmungen und körperlichen Erinnerungen der Akteure gebunden bleibt. Insofern bei dieser symbolischen Neugestaltung – mit Cassirer74 gesprochen – „unterschiedliche Wahrnehmungen“ mit spezifischen „Organempfindungen“ und „Gefühlswerten“ bestimmend sind, soll dem Anspruch nach die „strenge Gleichartigkeit der Orte und Richtungen“ im urbanen Kontext zumindest vorübergehend durch ein heterogenes Raumgefüge ersetzt werden. Und je besser es den Traceuren gelingt, ihre komplexen Eindrücke und Empfindungen in kunstvolle Bewegungen zu übersetzen, desto eher wird aus dem „Reich fester Gestalten“75 eine relationale Anordnung räumlicher Strukturen, die eben nicht nur äußerlich vorgegeben, sondern auch in den Körpern und Köpfen der Menschen verankert sind. 73 Die Grenze zwischen Spaß und Vandalismus ist bei dieser Form des „Golfens“ nicht eindeutig festgelegt. Während die Urban Golfer in San Francisco mit ihren Softbällen an einem Tag im Jahr ein öffentliches Happening auf der Straße veranstalten, zielen etwa Turbogolfer mit Absicht auf fahrende Autos, Fensterscheiben und andere Gegenstände. Zwischen persiflierendem Event und aggressivem Aufbegehren gibt es eine Reihe abgestufter Varianten. 74 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, S. 106. 75 Vgl. ebd. 163

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Die eingangs angesprochene „Wechselbestimmung des Sinnlichen durch das Geistige, des Geistigen durch das Sinnliche“76 erscheint nunmehr in einem etwas anderen Licht. Zwar bleiben auch die bewegungspraktischen Hervorbringungen symbolischer Welten an die jeweils vorgegebenen materiellen Bedingungen ihres Ausdrucks gebunden. Allerdings veranschaulichen die zuletzt genannten Beispiele, dass körperliche Praktiken und veränderte Bewegungsmuster das Handlungsspektrum erweitern beziehungsweise neue (Spiel)Räume eröffnen können. Selbst wenn an dieser Stelle offen bleiben muss, inwieweit räumliche Strukturen bereits durch abweichende Verhaltensweisen verändert werden oder ob hierfür bewusstere Formen der Auseinandersetzung erforderlich sind,77 kann festgehalten werden, dass für die Konstitution von Räumen körperliche Empfindungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen ebenso wichtig sind wie abstrakte Vorstellungen und allgemeine Begriffe. Anstatt also in Anlehnung an Cassirer78 davon auszugehen, dass die heterogene „Welt der bloßen Eindrücke“ nach und nach zu einer homogenen „Welt des reinen geistigen Ausdrucks“ umgebildet wird, verdeutlicht die Herstellungspraxis urbaner Sporträume, dass sinnliche Zeichen und ideelle Formen notwendig aufeinander verwiesen bleiben. Auch hier gilt also, dass homogene Formen und heterogene Umformungen sich nicht einfach ausschließen, sondern wechselseitig bedingen.

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Naturs port a ls Halle ns port: Bew egungsräume zw ischen Determinis mus und Voluntaris mus ELK FRANKE

„Die alten Griechen hatten es noch gut, wenn sie einen Gesprächspartner suchten, gingen sie einfach vor die Tür. Mitten in der Stadt fand sich schnell jemand, werden gemeinsame Angelegenheiten verhandelt und politische Reden gehalten. Vom antiken Vorbild der Agora und Polis sind die heutigen Städte nicht nur architektonisch, sondern auch der Idee nach Jahrtausende entfernt. Heute hetzen die Städter durch die von Shopping Malls zerrissenen Citys blind aneinander vorbei. Kein Raum, keine Zeit und keine Motivation mehr für lebendige Diskussionen und unmittelbare Begegnungen. […] Was uns die zu ›City-Managern‹ geadelten Stadtplaner als Urbanisierung verkaufen wollen, ist nichts anderes als eine kommerziell verwertbare Kulisse für Investoren (hinter der sich) […] die kommunikative Einöde breitgemacht (hat). […] Weder Webchat noch City-Center vermögen die intensive Begegnung im öffentlichen, nicht kommerzialisierten Raum zu ersetzen.“1

Einleitung Der Grafiker und Verleger Klaus Staeck beklagt hier einen Alltagszustand, den viele kennen, der aber auch Fragen aufwirft. Gesteht man dem Autor zu, dass er die Antike schön und die Gegenwart schlecht redet, bleibt eine Kernfrage: Warum luden antike Städte zur Kommunikation ein und warum findet diese in der modernen City weniger oder gar nicht mehr statt? Warum begünstigen zeitgenössische Stadtplanung und Urbanisierung eher ein Shoppingverhalten als lebendige Diskussionen und unmittelbare Begegnungen und führen damit, hinter einer glitzernden Fassade, nicht selten zu einer „kommunikativen Einöde“?

1

Klaus Staeck: »Platz da«. In: Frankfurter Rundschau vom 12.04.2008, S. 13. 169

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Die zentralen Antworten aus der Sozialwissenschaft dazu sind weitgehend bekannt.2 Auch wenn sie differenzierter ausfallen als das einleitende Statement, gingen ihre Einzeluntersuchungen beispielsweise zur Individualisierung, Dynamisierung, Kommerzialisierung, Globalisierung in den vergangenen vier Jahrzehnten lange von einer gemeinsamen Voraussetzung aus: Interaktion und Kommunikation sind als soziale Prozesse kontextabhängig, d.h. sie finden zwischen Personen, Gruppen oder Institutionen unter verschiedenartigen ‚funktionalen‘ Bedingungen statt, wobei es in der Regel eine Konstante gibt, den Raum. Weitgehend als ‚Räumlichkeit‘ gedeutet, in dem sozial different gehandelt wird, wurde lange durch diesen „Raumdeterminismus“3 die besondere interaktionsprägende Bedeutung von Räumen wie Städte, Häuser, Wohnungen oder Straßen, in denen gehandelt wird, übersehen. Nach Saskia Sassen4, Eckhard Siepmann5 oder Götz Großklaus6 skizziert insbesondere Martina Löw durch ihre Arbeit mit dem programmatischen Titel „Raumsoziologie“7 die Möglichkeiten für eine erweiterte Berücksichtigung des Raumes in der Soziologie. Ihr Ziel ist es, „eine Soziologie des Raumes zu formulieren, die auf einem prozessualen Raumbegriff, der das Wie der Entstehung von Räumen erfasst, aufbaut.“8 In dem von ihr favorisierten „relationalen Raumkonzept“ versucht sie die Gültigkeit der ungefragten „BehälterRaumvorstellungen“ in den Sozialwissenschaften zu überwinden. Ein Vorhaben, das nach Markus Schroer9 durch die teilweise Negierung jeglicher raumprägender Erfahrung im Verweis auf moderne Medien und fiktive Weltentwürfe Gefahr läuft, einem „Raumvoluntarismus“10 zu verfallen, bei dem unklar bleibt, welche Bedeutung konkrete Erfahrungen körperlicher Bewegungen für die Konstitution von Raumvorstellungen haben. Bevor auf diesen einschränkenden Aspekt der Raumsoziologie Martina Löws eingegangen wird,

2

Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986; Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984; Gerhard Schulze: Die Erlebnis-Gesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York: Campus1992. 3 Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 175. 4 Vgl. Saskia Sassen: »Sozialräumliche Tendenzen in der Ökonomie von New York City«. In: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen, Frankfurt a. M./New York: Campus 1991, S. 249–267. 5 Vgl. Eckhard Siepmann: »Raum, Zeit, Knöllchen«. In: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, S. 47–61. 6 Vgl. Götz Großklaus: Medien-Zeit. Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. 7 Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. 8 Ebd. S. 15. 9 Vgl. Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. 10 Ebd. S. 175. 170

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soll jedoch zunächst ihre kritische Position gegenüber dem traditionellen Raumdeterminismus skizziert werden, da sich daraus auch wesentliche Anschlussmöglichkeiten für die Sportsoziologie ergeben. „Ich gehe dazu von einem Raum, der verschiedene Komponenten aufweist, aus. Das heißt, ich wende mich gegen die in der Soziologie übliche Trennung in einen sozialen und einen materiellen Raum, welche unterstellt, es könne ein Raum jenseits der natürlichen Welt entstehen (sozialer Raum), oder aber es könne ein Raum von Menschen betrachtet werden, ohne dass diese Betrachtung gesellschaftlich vorstrukturiert wäre (materieller Raum).“11 Bei ihrer Durchsicht der Soziologie des 20. Jahrhunderts stößt Löw neben zeitgenössischen Vertretern wie Dieter Läpple12 und Bernd Hamm13 auf Ansätze bei den Klassikern der Soziologie, die ein solches Bemühen zumindest anklingen lassen. So attestiert sie Norbert Elias, Michel Foucault und Pierre Bourdieu eine größere Sensibilität für den konstitutiven Charakter von Raum und Räumlichkeit. Indem Elias den Raum unter anderem als „positionale Relationen zwischen bewegten Ereignissen“14 bestimmt und Foucault15 den Raum von Lagerungsbeziehungen aus interpretiert, denen nicht zufällig Macht und Ordnungsstrukturen erwachsen, lassen sie erkennen, dass sie dem handlungsgestaltenden Charakter von Raum und Räumlichkeit eine größere Bedeutung zuerkennen. Am weitesten in Richtung auf eine relationale Raumsoziologie hat sich nach Auffassung von Löw Bourdieu begeben, da er mit den Begriffen des „Habitus“ und des „Feldes“ ein Bindeglied zwischen körperlichem Handeln und sozialen Strukturen schafft, was es ihm erlaubt, auch die Raumfrage konstitutiv zu bearbeiten. Trotz dieser unterschiedlichen Annäherungen an einen relationalen Raumbegriff sieht Löw jedoch bei allen soziologischen Vertretern einen weitergehenden Änderungsbedarf. Dies wird besonders deutlich in der Kritik, die sie an Bourdieu übt. „Bourdieu verwendet einen relativistischen und einen absolutistischen Raumbegriff (nebeneinander). Während […] der eine Raum (der relationale) nur metaphorisch gemeint ist, wird der andere Raum (der ‚wirkliche‘) nicht relational konzipiert. Auf und in ihm schlagen sich nur die relationalen (An)Ordnungen nieder.“16 11 Martina Löw, Raumsoziologie, S. 15. 12 Vgl. Dieter Läpple: »Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept«. In: Hartmut Häußermann, Hartmut/u. a. (Hg.), Stadt und Raum, Pfaffenweiler: Centaurus, 1991, S. 157–207. 13 Vgl. Bernd Hamm: Die Organisation der städtischen Umwelt, Frauenfeld/Stuttgart: Huber 1977. 14 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 75. 15 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt der Gefängnisse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977. 16 Martina Löw, Raumsoziologie, S. 182. 171

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Ähnliche Kritik lässt sich nach Löw an den Konzeptionen von Elias17 und Foucault18 üben, da sie zwar relationale Bewegungsereignisse bzw. Lagerungsbeziehungen explizieren, diese aber letztlich als soziale Handlungsstrukturen in einem absolutistischen Raum etablieren. Aufgrund eines solchen Durchgangs durch die Wissenschaftsgeschichte des Raumes kommt Löw letztlich zu der Erkenntnis, dass ein relationaler Raumbegriff in (soziologischen) Theorien sozialen Handelns noch nicht erarbeitet worden ist. Ein Tatbestand, der sich in doppelter Weise als Defizit für die zeitgenössische Soziologie erweist: Zum einen hat die Mediengesellschaft längst relationale Raumvorstellungen entwickelt, die schon im Alltag von Jugendlichen relevant erscheinen, wenn diese sowohl in den virtuellen Welten als auch im sozialen Alltag durch eine Vielfalt von vereinzelten Räumlichkeiten wie Schule, Elternhaus, Verein, Theatergruppe eine Gleichzeitigkeit ihrer unterschiedlichen Raumvorstellungen herstellen müssen. Zum anderen sind andere Bereiche wie der Tanz, die Musik und insbesondere die Kunst (Expressionismus, Kubismus) schon zu Beginn dieses Jahrhunderts in der Lage gewesen, sich von den Vorstellungen eines absolutistischen Raumes zu verabschieden. Was notwendig erscheint, ist nach Löw ein neuer, modifizierter Raumbegriff in der Soziologie, der die relationalen (An)Ordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern angemessen erfasst. Versucht man eine Bewertung von Löws Arbeit, ist festzustellen, dass sie eine wichtige Forschungslücke füllt, aber mit ihrer angestrebten Alternative auch neue Fragen aufwirft. So geht sie davon aus, dass die Alltagserfahrungen einer Gesellschaft mit Cyberspace, Strömen von Kapital, Waren und Arbeit, die die traditionellen Vorstellungen von Räumlichkeit und Regionalität längst relativieren, auch zu neuen Ordnungsstrukturen und Raumannahmen führen müssten, die eher jenen relativierenden Raumvorstellungen entsprechen, die in der Philosophie entwickelt worden sind.19 Dass diese vielfältigen Veränderungen in der Kultur und Freizeitwelt aber bisher noch zu keinen Auswirkungen in der Planungswelt von Jugendlichen geführt haben, liegt für Löw u. a. am Lernangebot der Schulen und an der fehlenden Aufklärung der Soziologen.

17 Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. 18 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. 19 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, Stuttgart: Reclam 1998; Albert Einstein: »Vorwort«. In: Max Jammer (Hg.), Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt, 1960, S. XII-XVII.; Albert Einstein/Leopold Infeld: Die Evolution der Physik, Reinbek: Rowohlt 1995; Carl Friedrich v. Weizsäcker: Zum Weltbild der Physik, Stuttgart: Hirzel 1990; Nobert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994. 172

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„D.h., während Erziehende und Lehrende Lehrmaterialien einsetzen mit deren Hilfe Kinder lernen sollen, die verschiedenen Objekte als Elemente eines einheitlichen Raums zu begreifen, erleben Kinder in ihrem Alltag Raum als aus verstreuten Inseln bestehend.“20 Konkretes Beispiel aus der Freizeitwelt Jugendlicher sind z.B. DiscoErfahrungen. Löw verweist auf Studien, die die Auswirkungen technischer Effekte (z. B. durch das Stroboskop) bearbeiten und zeigen, wie sich Räume und Körper in punktuelle Lichterscheinungen auflösen und „damit die euklidisch geschulte Raumwahrnehmung durchbrochen“21 wird. Unausgesprochen wird in einem solchen Plädoyer unterstellt, dass die Relativität der sinnlichen Wahrnehmungen zu einer Modifizierung nicht nur des aktuell erfahrenden Raumes führt, sondern auch die Voraussetzungen jeglicher Raumkonstitution verändern kann. Der vorliegende Beitrag geht einerseits von der Berechtigung eines relationalen Raumkonzepts aus, da es die konstitutiven Bedingungen des gesellschaftlich strukturierten Subjekts aus raumsoziologischer Sicht hervorhebt und sich damit deutlich von traditionellen Raumtheorien abhebt. Andererseits soll über die Anwendung von relationalen Raumvorstellungen auf konkrete Handlungsbedingungen im Sport jedoch deutlich werden, dass die materiellen Raumbedingungen in vielen Handlungsfeldern nicht zufällig wirkungsmächtiger sind als in relationalen Raumkonzepten angenommen wird – es also eine nicht zu unterschätzende Raumsozialisation zwischen Raumdeterminismus und Raumvoluntarismus gibt. Die körperliche Bewegung erweist sich dabei durch die prinzipielle Abhängigkeit von verschiedenen Sinneswahrnehmungen und konstitutiven Bedingungen wie Schwerkraft oder Rhythmus als Seismograph für räumliche Konstitutionsprozesse.22 Wenn diese durch materielle, situative und regelhafte Vorgaben in räumlichen Arrangements zudem bestimmte Formvorgaben enthalten, lässt sich, so die These dieses Beitrages, möglicherweise exemplarisch das Wechselverhältnis von materieller und relationaler Raumkonstitution explizieren. Die Fragestellung wird konkretisiert an der Veränderung von drei Sportarten (Handballspielen auf dem Feld – Hallenhandball, Klettern im Gelände – Hallenklettern, Skifahren im Gelände – Hallenskifahren), die sich zunächst nur als gelände- bzw. feldabhängige Disziplinen entwickelt haben und mit der 20 Martina Löw, Raumsoziologie, S. 83. 21 Ebd., S 83. 22 Vgl. dazu u. a. Elk Franke: »Raum-Zeiterfahrung im Sportspiel – eine besondere Form von Bedeutungskonstitution«. In: DVS (Hg.), 5. Sportwissenschaftlicher Hochschultag 1982 »Spiel, Spiele, spielen« Tübingen, Clausthal-Zellerfeld: Oberhauser Druckerei 1983, S. 20–28; Elk Franke: »Der Raum sportlicher Handlungen – ein übersehenes Thema sportwissenschaftlicher Grundlagendiskussion«. In: Michael Klein (Hg.), Sport, Umwelt und sozialer Raum, ClausthalZellerfeld: Oberhauser Druckerei 1985, S. 19–50. 173

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Verlagerung in eine Halle veränderte Bewegungsmuster erkennen lassen. Ziel der folgenden Analyse ist es, das Wechselverhältnis von relationaler und materieller Raumkonstitution körperlicher Bewegungen über die Veränderung von disziplinspezifischen Bewegungsformen transparent zu machen, d. h. zu prüfen, ob und wie z. B. ein Klettern in der Halle neben der relationalen Raumkonstitution des Akteurs durch eine nicht zufällige, raumprägende Formung zum ›neuen‹ Bewegungsmuster „Hallenklettern“ wird, bei dem die materiellen Bedingungen der Kletterwand in der Halle von konstitutiver Bedeutung sind.

D i e D o m e s t i z i e r u n g vo n ‚ N a t u r s p o r t a r t e n ‘ Hätte Mitte des 20. Jahrhunderts ein Zukunftsforscher prognostiziert, dass in wenigen Jahren Bergsteigen und Skifahren auch in einer Halle stattfinden werden, wäre dies wahrscheinlich als Phantasterei zurückgewiesen worden. Inzwischen gehören Kletterwände an und in Sporthallen zum Angebot in vielen Städten. Neben einer Trainingsstätte im Winter für Bergsteigen sind sie längst auch zu einer eigenen Bewegungsdisziplin mit spezifischer Klientel geworden. Und auch die Skihallen, zunächst skeptisch von Außenstehenden und kritisch von Skianhängern beurteilt, erfreuen sich einer wachsenden Beliebtheit.23 Im Folgenden stehen weniger die sich daraus ergebenden ökologischen und ökonomischen noch die gesellschaftlichen Veränderungen für eine Region zur Diskussion, die eine solche Halle plant und betreibt, sondern die Akteure und die Raumerfahrung, die sie machen, wenn eine sogenannte Freiluftoder Natursportart in eine Halle verlegt wird. Die Betreiber der derzeit fünf in Betrieb befindlichen Skihallen in Deutschland werben damit, dass in den Hallen ein Skilaufen wie in der Natur aber unter besseren Bedingungen stattfinden kann; Skilauf in der Halle eine Optimierung des Sports in der Natur, ein „Natursport plus“ sei. „Die Familie aus dem nordrhein-westfälischen Hilden genießt einen perfekten Wintertag bei konstanten minus vier Grad und feinstem Pulverschnee. Es ist ein künstlicher Winter. Zum ersten Mal erleben sie das Wintervergnügen unterm Dach in der Neusser Skihalle. […] Während viele Skiurlauber in Bayern oder den Alpen gespannt verfolgen, wo es wann geschneit hat, bieten der Westen, der Norden und der Osten Deutschlands Schneesicherheit […] in Neuss, Bottrop (beide NRW), Bispingen (Niedersachsen), Wittenberg (Mecklenburg-Vorpommern) und Senftenberg (Brandenburg). […] Offenbar schätzen immer mehr Wintersportler die hundertprozentige Schneesicherheit un-

23 Vgl. dazu u. a. die vielfältigen Hinweise z.B. unter: www.skihallen-deutschland.de (19.07.2008). 174

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term Dach ohne Wind und Wetterkapriolen. Und das an 365 Tagen im Jahr. […] Ein Ende der Fahnenstange scheint nicht in Sicht.“24 Auch der Deutsche Skiverband hebt inzwischen hervor, dass Skihallen nicht nur ein wichtiger Beitrag für ganzjährige Schneesporterlebnisse sind und einen kostengünstiger Einstieg in das Skilaufen ermöglichen, sondern dass sie auch Trainingsstätten für den Leistungssport, Übungsort für Skisport an den Schulen und Testcenter für Skimaterial sein können.25 Übersieht man in diesen Selbstbestätigungsmitteilungen den Werbe- und Kommerzialisierungsaspekt, bleibt weiterhin eine Frage offen: Ist das Skilaufen in einem abgegrenzten überdachten Raum ein Skilaufen, das zufällig in einer Halle stattfindet oder handelt es sich dabei um eine besondere Form des Skilaufens, die man „Hallenskilauf“ nennen müsste? Dass diese Frage nicht nur ein Sprachspiel ist, sondern unter Umständen weiterreichendere Voraussetzungen hat, zeigt ein Vergleich bei den genannten Sportarten Handball und Klettern, die in eine Halle gezogen sind. In beiden Fällen führte die Veränderung der räumlichen Bedingungen nicht nur zu einer Mutation der bekannten sondern auch zu neuen, dem Raum angepassten Bewegungsformen und Interaktionsweisen, wie schon ein oberflächlicher Vergleich erkennen lässt: Feld-Handball • überschaubare Handlungssituationen • planbare, relativ sichere Ballannahme und –abgabe • leicht erkennbare Handlungsstrategien • raumgreifender Spielaufbau • einfache Spielverläufe • witterungsabhängig

Hallenhandball • schnell wechselnde Handlungssituationen • störungsanfällige Ballannahme und –abgabe • schwer erkennbare Handlungsstrategien • raumknapper Spielaufbau • schnelle, variantenreiche Spielverläufe • witterungsunabhängig

Zugespitzt lässt sich festhalten: Die Verlegung des Handballspiels in einen überdachten Raum hat nicht nur zu einem Handballspiel in der Halle geführt sondern zu einem neuen Spiel. Durch die „Verdichtung“ des Raumes ist es schneller und unkalkulierbarer geworden, damit variantenreicher, komplexer und letztlich spannender, was wesentlich zu seiner dominanten Stellung gegenüber dem Feld-Handball geführt hat.

24 www.focus.de/reisen (10.04.2008). 25 Vgl. DVS-Umweltbeirat: Skihallen und Nachhaltigkeit (17.10.2007). 175

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Gelände-Klettern • witterungsabhängig • gelände- und situationsabhängige Handlungsplanungen • flexible Bewegungsformenspezifische Handlungsumstände • ›einmalige‹ Handlungseindrücke

Hallenklettern • witterungsunabhängig • Formalisierung von Handlungssituationen • Standardisierung von Bewegungsformen • kalkulierbare Handlungsverläufe • Generalisierung von Bewegungsbedingungen

Zugespitzt lässt sich festhalten: Das Angebot einer Kletterwand in einer Halle hat das Klettern durch die äußeren Umstände funktionalisiert, standardisiert und damit als Bewegungsform kalkulierbar werden lassen. Das Ergebnis sind neue Bewegungsformen und für das Klettern bisher nicht bekannte agonale Bedingungen und Handlungsstrategien.26 Stellt man nun, bezogen auf die skizzierten Veränderungen, die Frage, wie sich das Skilaufen in der Halle weiterentwickelt und ob es analog zur Ausbildung einer eigenständigen Disziplin ‚Hallenskilaufen‘ kommen könnte, ließe sich zunächst festhalten, dass es u. U. zu einer ähnlichen Entwicklung wie beim Hallenklettern kommen kann. D. h. die witterungsunabhängigen Rahmenbedingungen erlauben eine Formalisierung und Standardisierung des Handlungsablaufes, die im deutlichen Widerspruch zum Skilaufen im Gelände steht. Zurzeit wird es noch als Vorstufe des ‚richtigen‘ Skilaufens angesehen, wobei seine besondere Bedeutung im Ausschalten äußerer Einflüsse in Lehr-Lernsituationen liegt. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass diese Anfangsphase – noch orientiert am Vorbild ‚Geländeskilauf‘ – durch neue Handlungs- und Veranstaltungsformen abgelöst wird, bei denen die standardisierbaren Raumbedingungen ergänzt um Eventinszenierungen zu eigenständigen Strukturen führen. Daraus folgt: Erst das Wechselverhältnis von materiellen Raumvorgaben und relationalen Raumkonstitutionen bestimmen in qualitativer Weise den Begrenzungsraum einer Sportart. Wie dies zu verstehen ist, soll abschließend aus analytischer Sicht präzisiert werden.

26 Vgl. dazu vor allem Martin Stern: Stilkulturen: Konstellationen von Körper, Risiko und Technik innerer Sozialpraktiken, Berlin 2007 (Dissertation). 176

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Der Handlungsraum als Valenzraum Die Veränderungen der zwei Sportarten lassen erkennen, dass materielle Raumbedingungen das Verhalten der Akteure strukturieren und dadurch Situationen und Erwartungen prägen sowie Interaktionsabläufe „vorbestimmen“ können.27 Wie die Gegenüberstellung der Sportentwicklungen zeigt, ist es nicht „der Raum“ selbst, der diese Veränderungen bewirkt, sondern es sind die sogenannten „Valenzen räumlicher Strukturen und Richtungen“28. Wobei unter Valenzen in Anlehnung an Boesch29 „keine festen Eigenschaften (zu verstehen) sind, vielmehr unterschiedliche Feldkräfte (der Person und der Umwelt)“30, die die Ordnungsbedingungen und Wertigkeiten von räumlich relevanten Handlungen bestimmen. „Räume (Bauten, Orte, Plätze), die eine eindeutige dominante Valenz aufweisen, induzieren dieser Valenz entsprechende Verhaltens- und Interaktionsmodi. Nicht also physikalische Raumstrukturen als solche determinieren – außer in Extremfällen – menschliches Verhalten, sondern die Bedeutungen und Wertigkeiten, die Menschen bestimmten Strukturen und Orten attribuieren, legen auch das ihnen entsprechende Verhalten nahe.“31 Dabei ist zu beachten, dass die Bedeutungen und Wertigkeiten, die eine Person bestimmten Orten oder Raumstrukturen zuordnet, nicht immer wieder neu entwickelt werden, sondern sie sind, wie Bourdieu32 gezeigt hat, als spezifische Bedingungen des sozialen Feldes in Bewegungsmuster involviert und fungieren über inkorporierte Strukturen wieder selbst handlungsstrukturierend. Bourdieu betont damit einen Aspekt, der häufig übersehen wird, wenn nur sehr allgemein davon gesprochen wird, dass Räume kommunikativ oder über Handlungen hergestellt werden. D. h., eine solche, in relationalen Raumkonzepten vertretene Auffassung ist nicht falsch. Sie kann aber zu Missverständnissen führen, wenn die nicht zufälligen physikalisch-materiellen Arrangements, die die Bedeutung und Wertigkeit der Interaktion räumlich vorbestimmen, unberücksichtigt bleiben.

27 Vgl. dazu in anderem Zusammenhang auch Gunter Gebauer: »Raumkonstruktion beim frühen Wittgenstein«. In: Franck Hoffmann/Jens E. Sennewald/Stavros Lazaris (Hg.), Raum-Dynamik: Beiträge zu einer Praxis des Raums, Bielefeld: transcript 2004, S. 51–72. 28 Lenelis Kruse/Carl Friedrich Graumann: »Sozialpsychologie des Raumes und der Bewegung«. In: Kurt Hammerich (Hg.), Materialien zur Soziologie des Alltags, Opladen: Westdeutscher Verlag 1978, S. 177–219 (hier S. 99). 29 Ernst E. Boesch: Zwischen zwei Wirklichkeiten, Bern: Huber 1971. 30 Lenelis Kruse/Carl Friedrich Graumann: Sozialpsychologie des Raumes, S. 188. 31 Ebd., S. 190. 32 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1987. 177

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Wie die Veränderungen der zwei Sportarten durch den ‚Umzug‘ in die Halle erkennen lassen, gibt es Raumstrukturen und dingliche Voraussetzungen, die durch ihre Anordnung, physische Beschaffenheit und Lokalisierung Verhaltensweisen und Bewegungen erleichtern, erschweren oder erzwingen und dadurch eine prägende sowie mitunter herausfordernde Bedeutung erhalten. Dabei unterliegen Bewegungsräume, in denen Personen permanent aktiv ihre raum-zeitlichen Bewegungsmuster ändern, in der Regel anderen Raumvalenzen als sie für allgemeine Verhaltensräume gelten, die auch passives Raumerleben, Träumen oder Meditieren einschließen. Um dies zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, zunächst auf die generellen Aussagen zu Raumvalenzen einzugehen, die vor allem Ernst Bösch33 skizziert hat und die in der Diskussion um die Präzisierung einer Position zwischen Raumdeterminismus und Raumvoluntarismus eine neue Bedeutung erhalten können.

Der Verhaltensraum als Valenzraum Valenzen des Verhaltensraumes werden von Bösch zunächst in Abgrenzung zum geometrischen Raum bestimmt. „Der geometrische Raum ist ein System von Positionen, der Verhaltensraum aber ist ein System von Bedeutungen, von Anziehungen und Abstoßungen. Die Positionsrelationen erlauben die räumliche Orientierung, die Valenzrelationen dagegen bestimmen die Art des Handelns.“34 Entscheidend ist dabei, dass die Topologie der materiellen Räumlichkeit und die Valenzen sich nicht unabhängig voneinander entwickeln, was bedeutet: Der Verhaltensraum kann als ein “topologisches System von Valenzen“35 bestimmt werden. Sie zeigen sich für Bösch in der Regel in vier Dimensionen: Als erlebte Räume mit besonderen Orten, die sich durch erfahrbare Distanzen und erkennbare Richtungen auszeichnen. Kennzeichnend für Verhaltensräume sind die subjektiv empfundenen kulturgeprägten Qualitätsmerkmale, die sich nicht nur in besonderen Verhaltensräumen für Personen und Gruppen zeigen, sondern die immer auch eine handlungsstrukturierende und leitende Funktion erhalten. Entsprechend sind Wohnungen, Arbeitsplätze oder Feriengegenden nicht nur Plätze, an denen man sich in bestimmter Weise verhält, sondern sie bestimmen das Handeln in konstitutiver und qualitativer Weise.

33 Vgl. Ernst E. Boesch: Zwischen zwei Wirklichkeiten. 34 Ebd., S. 53. 35 Ebd., S. 53. 178

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„Der erlebte Raum ist nicht homogen, nicht kontinuierlich, er enthält Orte und Zwischenräume. Im Orte liegen Verhaltensziele; der Zwischenraum dagegen enthält keine Ziele, er ist nur Distanz.“36 Dass Distanzen selbst wieder valenzabhängig sind, zeigen die Differenzen zwischen realen und empfundenen Entfernungen. Sie schreiben Orten oft eine eigene Fern-Nahqualität zu. So bewerten nicht selten Großeltern den Umzug der Enkel in die USA in Flugstunden und der Ferienhausbesitzer in der Toskana seine Entscheidung nach den Billigangeboten der Fluggesellschaften. Neben den Orts- und Distanzqualitäten kennzeichnen den Verhaltensraum auch Richtungen als dynamische Qualitäten. So kann zum Beispiel eine Steigung bei einer Bergwanderung Befürchtungen wecken und der gesicherte Weg an einem Abgrund Angst erzeugen. „Richtungen sind einerseits definierbar als dynamische Handlungsqualitäten, das Hin und das Zurück, das Hinauf und das Hinunter. Ihre Bewertung schwankt individuell je nach Situation.“37 Verhaltensräume sind demnach gekennzeichnet durch Raumvalenzen, die sich in einem Wechselverhältnis aus materiellen Raumbedingungen und interaktiven bzw. kommunikativen Raumerfahrungen herausbilden in einem Prozess, der im Sinne Bourdieus immer eingebunden ist in habituelle und feldspezifische Bedingungen. Sie strukturieren die scheinbar subjektiv bewerteten Valenzen in kulturspezifischer Weise und wirken verhaltensleitend im konkreten Handlungsvollzug. Entsprechend ist die Frage, warum Fußballspielen in der Halle – im Gegensatz zum Hallenhandballspiel – nur als ‚Ersatzhandlung‘ wahrgenommen wird nicht nur eine der jeweiligen individuellen Valenzbedingungen, sondern u. U. zwischen Europa und den USA auch anders zu beantworten. D. h. ein Land ohne die Feld-Fußballtradition reagiert einerseits auf ein Hallenfußballangebot anders, als es oben beschrieben worden ist. Andererseits hätte niemand erwartet, dass das Hallenklettern sich inzwischen auch in der Schweiz als eigenständige Disziplin durchsetzt. Neben dieser eher allgemeinen Rahmung von valenzgeprägten Verhaltensräumen erhalten im Sport darüber hinaus spezifische Bewegungsräume bekanntlich eine besondere Bedeutung. Lange übersehen wurde, dass auch sie Valenzräume mit eigenständigen Merkmalen sind.

Der Bewegungsraum als Valenzraum Obwohl der Bewegungsraum im Sport von zentraler Bedeutung bei der Realisierung von komplexen Bewegungsabläufen ist, steht eine qualitative Raumforschung, die die komplexen Valenzen im Bewegungsvollzug systematisch 36 Ebd., S. 54. 37 Ebd., S. 61. 179

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erforscht noch am Anfang. Maßgeblich bestimmt durch methodologische Vorgaben z. B. in der Wahrnehmungspsychologie wurden bisher vorrangig stationäre Untersuchungen zur Antizipation und zum Entscheidungshandeln durchgeführt.38 Weitgehend unklar ist bisher, mit welchen Voraussetzungen Bewegungsräume im Sportspiel als Valenzräume im Handlungsvollzug konstituiert werden,39 deutet man Valenz über das Wechselverhältnis von materiellen Raumvorgaben und interaktiver Raumkonstitution. Zu erwarten ist, dass jener dynamische Aspekt, der in Verhaltensräumen von Bösch nur für die Richtungsvalenz genannt wurde, in Bewegungsräumen von zentraler Bedeutung ist. Eine weitere Voraussetzung ist die Annahme, dass alle raumrelevanten Bewegungen ihre konstitutive Valenz von einem sich-bewegenden Körper aus erhalten, somit die konkreten Bewegungs-Konfigurationen im Bewegungsvollzug subjektiv bestimmt sind. Unter Annahme beider Aspekte ließe sich folgendes topologisches Valenzsystem sportiver Bewegungsräume skizzieren: Tabelle 1: Topologisches Valenzsystem sportiver Bewegungsräume –

Bewegungs-Richtung als

– –



Bewegungs-Situation als







Bewegungs-Variabilität über





Selbst-Bewegung (vom Körper aus ‚in den Raum‘) Fremd-Bewegung (‚vom Raum aus‘ auf den Körper zu) zeitliche Verdichtung von Bewegungs-Entscheidungen (Zunahme an Komplexität) zeitliche Verzögerung von Bewegungs-Entscheidungen (Reduzierung von Komplexität) offene Bewegungsformen (Entwicklung von BewegungsAlternativen) geschlossene Bewegungsformen (Optimierung von Bewegungsvorgaben)

Unterstellt man, dass dieses Valenzsystem zwar ergänzt werden kann, aber grundsätzlich bei der Konstitution von sportiven Bewegungsräumen relevant 38 Vgl. dazu auch Elk Franke Raum sportlicher Handlungen, S. 19–50; Monika Fikus: Visuelle Wahrnehmung und Bewegungskoordination, Frankfurt a. M.: Deutsch Harrf 1989; Karl-Heinz Leist: Lernfeld Sport, Reinbek: Rowohlt 1993. 39 Vgl. Bruce Abernethy: »Anticipation in sport: A review«. In: Physical Education Review 18, 1 (1987), S. 5–16; M. Stadler/T. Wehner/H. Hübner: »Ansätze zur Systemanalyse kognitiver Antizipationsleistungen«. In: Walter Volpert (Hg.), Beiträge zur Psychologischen Handlungstheorie, Bern: Huber 1980, S. 87–104. 180

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ist, ergibt sich nicht nur die Möglichkeit, die verschiedenen Handlungsbedingungen von Feld- und Hallenhandball zu beschreiben, sondern diese aus valenzrelevanter Sicht auch qualitativ zu bewerten. Die dichotomen 3x2 Valenzkriterien bieten ein differenziertes Beurteilungssystem, durch welches deskriptive Unterscheidungsmerkmale valenzspezifisch präzisiert und die strukturell-analytischen Bewertungskriterien für die Akzeptanz bzw. Ignoranz von Sportformen bei Veränderungen ihrer materiellen Raumbedingungen ermittelt werden können. So ergibt sich z. B. die Möglichkeit, die noch nicht beantwortete Frage, warum ein Fußballspiel in der Halle bisher nicht auch zum Hallenfußball werden konnte, umfassender zu beantworten: Die Verknappung des Raumes durch den Umzug vom Feld in die Halle schafft in beiden zunächst ähnlich erscheinenden Mannschaftsspielen sehr unterschiedliche Valenzen hinsichtlich des Bewegungsraumes. So kommt es beim Fußball in der Halle durch die Verkleinerung der materiellen Raummöglichkeiten zunächst – ebenso wie im Hallenhandball – zu einer Erhöhung der Komplexität im Sinne einer zeitlichen Verdichtung von Bewegungsentscheidungen. Anders als beim Handballspiel, das als Feldhandball durch die weniger offenen Bewegungsformen der Ballannahme einen hohen Grad an Selbst-Bewegung in der Spieltaktik ermöglicht und das durch die Verdichtung der Handlungsabläufe in der Halle an Attraktivität gewinnt, ist es beim Fußball. Die Schwierigkeit der Ballannahme mit dem Fuß schafft ein bestimmtes Maß an unkalkulierbarer Offenheit – auf dem Feld. Werden diese daraus sich ergebenden Bewegungsformen in die Halle verlegt, entstehen andere Bewegungsvalenzen. Es geht bei den schnellen und variablen Ballverläufen zunehmend die Möglichkeit verloren, Ballbewegungen handelnden Personen zuzuordnen. D.h., der Bewegungsablauf wird ‚über-komplex‘, Handlungsabläufe erscheinen eher zufällig als individuell geplant, wodurch die personale Zuordnungsmöglichkeit verringert wird und das Spiel als Handlungssystem an Attraktivität verliert. Eine Beurteilung, die wie oben am Beispiel des Vergleichs Europa – USA gezeigt, aber auch immer kulturspezifisch ist.40 Kommen wir abschließend noch einmal auf die Frage nach der Zukunft des Skilaufens in der Halle zurück, erweist sich diese als mehrstufig und kann letztlich nur präziser beantwortet werden, wenn die Valenzen des entsprechenden ‚neuen‘ Bewegungsraumes auch empirisch genauer analysiert worden sind. Die vorliegenden Hinweise sollten einen Weg dazu bereiten.

40 In welchem Maße die Attraktivität einer Sportart eine kulturspezifische Größe ist, zeigen z. B. vergleichende ethnologische Studien zur Bedeutung bestimmter Sportarten in Asien (u. a. Hockey) oder den USA (u. a. Baseball) mit Europa.

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Resümee Der Beitrag führte die These aus, dass ein relationales Raumkonzept in Bezug zu körperlichen Bewegungen immer nur im Wechselverhältnis zu materiellen Raumbedingungen seine konstitutive Bedeutung erlangen kann. Dies ist am Beispiel verschiedener Sportdisziplinen diskutiert worden. Demnach ist die kommunikative und interaktive Entwicklung von relationalen Raumkonzepten nicht nur abhängig von symbolischen Faktoren, sondern wird auch wesentlich geprägt durch materielle, habituelle und feldrelevante Bedingungen. Mit der Einführung des Valenzbegriffs sollte die qualitativ-bewertende Dimension innerhalb soziologischer Deutungsaspekte sichtbar werden. Seine erklärende Bedeutung – aus der sozialpsychologischen Tradition stammend – kann er für die zeitgenössische sozialwissenschaftliche Diskussion immer dann entfalten, wenn die materialen und situativen Aspekte körperlicher Bewegungen zwischen Raumdeterminismus und Raumvoluntarismus genauer bestimmt werden sollen. Gleichzeitig wurde dadurch auch deutlich, in welcher Weise konstitutive Raumbedingungen im Sport einen allgemein gültigen Erklärungswert für den aktuellen Diskurs der Raumforschung erhalten können.

Literatur Abernethy, Bruce: »Anticipation in sport: A review«. In: Physical Education Review 18, 1 (1987), S. 5–16. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986. Bockrath, Franz/Boschert, Bernhard/Franke, Elk (Hg.): Körperliche Erkenntnis, Bielefeld: transcript 2008. Boesch, Ernst E.: Zwischen zwei Wirklichkeiten, Bern/u.a.: Huber 1971. Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987. Einstein, Albert: »Vorwort«. In: Max Jammer (Hg.), Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft 1960, S. XII-XVII. Einstein, Albert/Infeld, Leopold: Die Evolution der Physik, Reinbek: Rowohlt 1995. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994.

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Sassen, Saskia: »Sozialräumliche Tendenzen in der Ökonomie von New York City«. In: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen, Frankfurt a. M./New York: Campus 1991, S. 249–267. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. Schulze, Gerhard: Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York: Campus 1992. Siepmann, Eckhard (1991): »Raum, Zeit, Knöllchen«. In: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen, Frankfurt a. M./New York: Campus 1991, S. 47–61. Stadler, M./Wehner, T./Hübner, H.: »Ansätze zur Systemanalyse kognitiver Antizipationsleistungen«. In: Walter Volpert (Hg.), Beiträge zur Psychologischen Handlungstheorie, Bern: Hans Huber 1980, S. 87–104. Stern, Martin: Stilkulturen: Konstellationen von Körper, Risiko und Technik innerer Sozialpraktiken, Berlin 2007 (Dissertation, Druck in Vorbereitung). v. Weizsäcker, Carl Friedrich: Zum Weltbild der Physik, Stuttgart: Hirzel 1990.

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Institutioneller Ra um: Bew egungs - und Erle bnisra um Sc hule 1 SØREN NAGBØL

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Bewegung in die Großstädte gekommen. Eine Flut kultureller Initiativen, vor allem Bewegungsaktivitäten ist wahrzunehmen. Sie sind auf einen um sich greifenden Globalisierungsschub zurückzuführen. Neue Lebens- und Aktivitätsformen zwingen uns, unsere traditionellen Auffassungen von Sport, Stadtleben und Kultur zu revidieren. Städtische Räume werden zu Erlebnislandschaften umgestaltet, ob Parks, Strandpromenaden oder Hafenbäder. Kulturhäuser, Fußgängerzonen, Plätze und andere architektonische Inszenierungen verwandeln die Städte in Arenen für immer neue Bewegungskulturen. Die globalen Ansprüche regen unsere Stadtplanung zu kreativen architektonischen Experimenten an, die Raum schaffen für eine Vielfalt physischer Aktivitäten, die sowohl Kinder wie Erwachsene herausfordern.

Das neue Schulleben Die globalen Zeitströmungen und die Art und Weise, wie Medien unsere Lebenszusammenhänge darstellen und beschreiben, trifft in Dänemark auch die Ausbildungsinstitutionen. Hier hat man in den letzten Jahren eine Reihe von neuen Einrichtungen geschaffen, die als Antwort auf die Entwicklungen in der komplexen Welt zu verstehen sind.2

1

2

Bei der Übersetzung dieses Beitrages hat Knut Dietrich geholfen. Ich danke ihm für die Unterstützung. Dieser Artikel stammt aus einer gemeinsamen Arbeit: Mogens Hansen/Soren Nagbol: Det ny skoleliv. Om krop, rum, bevægelse und Pædagogik: Århus: Klim 2008. Vgl. Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 77. 185

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Die neuen Schulen verstehen sich als ästhetische Rahmenbedingungen für ein Ausbildungssystem, das Orte für flexibles Lernen schafft. Das gilt sowohl für die Unterrichtsbedingungen wie die Sozialisationsprozesse, die dort stattfinden. Sie sollen die kommenden Generationen dazu animieren, selbstständig in einer komplexen Gesellschaft zu lernen. Die Schüler sollen Informationen auswählen und in dynamischen Zusammenhängen umsetzen können. Das ist eine Abkehr vom traditionellen Klassenunterricht, dessen Ziel es ist, alle Schüler nach vorgegebenem Kodex und Lehrplan, jedes Jahr in gleicher Weise zu belehren. Die neuen Schulanlagen sind symbolische Repräsentationen dieser pädagogischen Vision und zugleich gesellschaftliche Forderungen. Die Schule hat eine neue Funktion bekommen. Sie soll als architektonische Inszenierung Raumbedingungen schaffen, die die globalen Forderungen nach umfassender Kommunikation von Wissen erfüllen kann. Die Frage ist, ob die Schule der Zukunft zum Ort werden kann, an dem die optimalen Bedingen für gelingendes Lernen bereitgestellt werden können.

Schulleben als Untersuchungsgegenstand Geleitet von diesem bildungspolitischen Hintergrund haben wir unsere Aufmerksamkeit auf zwei neue Schulanlagen in der Umgebung Kopenhagens gerichtet. Wir haben die Trekronerskolen (Trekronerschule) in der Nähe von Roskilde und die Asgård Skole (Asgård Schule) in der Nähe von Køge zu unserem Untersuchungsgegenstand gemacht. Dies bot sich an, da dies die ersten neu gebauten Schulen seit den 1980er Jahren sind, die zugleich neue Vorstellungen und Ideen für das zukünftige Schulleben liefern wollen. Wir haben die beiden Schulen in ihrer Aufbauphase über vier Jahre von 2002 bis 2006 begleitet. Wir haben insbesondere untersucht, wie Lehrer und Schüler die neuen Räume in Besitz nehmen und sich zu Eigen machen Die Schulgelände der beiden Schulen sind um vieles größer die der traditionellen dänischen Schulen: Das Gelände der Trekronerskolen erweckt den Eindruck eines großen parkähnlichen Stadtplatzes. Die Raumstruktur der Asgård Skole hat den Charakter eines kleinen Dorfes.

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BEWEGUNGS- UND ERLEBNISRAUM SCHULE

Abbildung 1: Trekronerskolen

Foto: Søren Nagbøl

Abbildung 2: Asgård Skole

Foto: Søren Nagbøl Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die architektonische Qualität der Schulen richten, wollen wir damit auf die Bedeutung hinweisen, die die räumliche Umwelt für die Erlebnisse und die Erfahrungsmöglichkeiten der Kinder hat. Die räumlichen Wahrnehmungen der Aktivitäten von Kindern liefern Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen, die ihre Voraussetzung in der Leiblichkeit 187

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haben. So ist uns z.B. der Rasen aufgefallen, der Spuren von Ballspielen aufwies; wir haben uns auch von Kinderzeichnungen beeindrucken lassen oder Fußballtoren Bedeutung gegeben, die die Kinder nach eigenen Neigungen auf- und umgestellt haben. Das alles zeigt, dass Kinder Spuren hinterlassen und sich ihrer Umwelt gegenüber offen und flexibel verhalten, was eine Voraussetzung dafür ist, dass Kinder eigene Lebensperspektiven entwerfen und in Sozialisationsprozessen realisieren können. Es geht darum, ein Erziehungsmilieu zu schaffen, das die Aufmerksamkeit darauf richtet, zum Sinnenbewusstsein beizutragen.3 Das heißt für den Forscher, dass er auch sein eigenes sinnliches Repertoire nutzen und in seinem Datenmaterial sichtbar machen muss mit dem Ziel, den Blick auf die unmittelbaren Lebenszusammenhänge der Menschen zu richten. Es geht darum, in einem Prozess mitzuwirken, in dem wir von verschiedenen Perspektiven der handelnden Personen – sie, er, Sie, wir, und uns – in eine sinnliche Auseinandersetzung mit dem materiellen Leben eintreten. Es geht darum, eine Verständigung zwischen denen zu ermöglichen, die Schulräume gestalten und denen, die sie benutzen. Wir brauchen Erkenntnisse darüber, wie sich in diesem Feld die Materialität der Architektur und die körperlichen Spuren der Nutzer miteinander verbinden. Von diesem Anliegen waren unsere Forschungen getragen.

B ew e g u n g s s o z i o l o g i s c h e B e t r a c h t u n g e n Es gibt eine hinreichende Zahl von Argumenten, dabei den Bewegungsaspekt mit in die Betrachtung einzubeziehen. Aus einer historisch anthropologischen Perspektive hat Gunter Gebauer es so formuliert: „Bewegungen sind das Prinzip der ersten Schöpfung der Welt der Menschen. In einen wechselseitigen Prozess wirkt Plastizität des menschlichen Körpers zusammen mit der Formbarkeit der Umwelt. Von den frühsten ontogenetischen Entwicklungsstufen an werden die menschlichen Bewegungen von Außen gestaltet und geformt; sie werden den Übungen unterworfen und in bestehende Ordnungen eingefügt: in festlegte Zeitabläufe, in organisierte Räume, in strukturierte Weisen des Zusammenlebens, so dass sie die Form von sozial kodierten Handlungen annehmen. Auf der andere Seite wirken Bewegungen auf die Welt ein: Sie bilden Regularitäten, organisierende und gestalterische Momente, die der Welt Ordnungen auferlegen, sie regelhaft machen.“4

3 4

Vgl. Rudolf zur Lippe: Sinnenbewußtsein, Hohengehrend: Schneider 2000. Vgl. Gunter Gebauer: »Ordnung und Erinnerung. Menschliche Bewegung in der Perspektive der Historischen Anthropologie«. In: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld: transcript 2004, S. 23–42 (hier: S. 24).

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BEWEGUNGS- UND ERLEBNISRAUM SCHULE

Knut Dietrich hat ebenfalls einige Argumente formuliert, warum es unumgänglich ist, den Bewegungsaspekt in die Analyse von pädagogischen Inszenierungen einzubeziehen.5 • „Wir brauchen pädagogisch- soziologische Analysen weil Erziehung, Ausbildung und Unterricht nicht nur ein pädagogischer, sondern auch ein gesellschaftlicher Prozess ist. • Eine Untersuchung dieser Prozesse muss alle die Faktoren einbeziehen, die Einfluss auf Bildung und Sozialisation des Menschen ausüben. Das ganze Zusammenspiel aller Umstände, die Einfluss auf die Menschen ausüben, nenne ich pädagogische Inszenierungen. Sie sind der zentrale Gegenstand der pädagogischen Forschung. • In Zentrum dieser Inszenierungen finden wir agierende Menschen, die durch ihre Aktivitäten und Tätigkeiten die pädagogischen Inszenierungen hervorbringen und sich dabei selbst verändern.“6 Gebauer und Wulf haben es so formuliert: „Mit Hilfe ihrer Bewegungen nehmen Handelnde gleichsam Abdrücke von der Welt, formen diese zugleich und machen sie zu einem Teil von sich selbst. In der umgekehrten Richtung wird das Subjekt bei dieser Aktivität von der Umwelt ergriffen und seinerseits von dieser geformt. Das Grundprinzip dieser Welterzeugung im gegenseitigen Austausch ist die Bewegung (Hervorhebungen im Original), die sowohl die Plastizität des Körpers als auch die Formbarkeit der Umwelt ausnutzt. Sie ist in dieser Perspektive ein Medium, in dem beide Seiten ineinandergreifen: Sie produziert gegenseitig bewirkte Verbindungen und Veränderungen – ein gemeinsames Spiel, das Beteiligung verlangt und die Teilnehmer nicht unverändert lässt. In Medium der Bewegung nehmen Menschen an der Welt der anderen teil und werden selber Teil ihrer Gesellschaft.“7 Diese Prozesse finden auf mehreren Ebenen statt, der individuellen Handlungsebene, die eingebunden ist in die Organisation des sozialen Systems. Um den Zusammenhang zwischen den beiden Ebenen deutlich zu machen, müssen wir die Interaktionen zwischen den handelnden Personen und ihren sozialen Kontext herausarbeiten. Norbert Elias8 würde sagen, dass diese Interdependenzen zeigen, dass wir in Figurationen leben. Konkret sichtbar werden diese Figurationen in (Kinder)Krippen, Schulen, Kindertagesstätten, Spielplätzen, Parks, auf privaten und öffentlichen Plätzen oder in Universitäten;

5 6

7 8

Vortrag an Danmarks Pædagogiske Universitet im Juli 2001. Dietrich, Knut: »Sport Settings in Chance. I: Socialisation and Social Chance«. In: Movement and Sport: Institute of Exercise and Sport Sciences, København: University of Copenhagen 2002, S. 2. Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek: Rowohlt 1988, S. 24. Norbert Elias: Zeugen des Jahrhunderts, Berlin: Ullstein 1999. 189

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kurz gesprochen in allen den Lebenszusammenhängen, in denen unsere Gesellschaft auf die Tatsache reagiert, dass Kinder sich entwickeln und dabei Unterstützung brauchen.

Z u r M e t h o d e : F o t o g r a f i e , B ew e g u n g s b i l d u n d szenisches Verstehen Das sogenannte szenische Verstehen ist eine Verfahrensweise, die geeignet ist, kulturelle Inszenierungen zu untersuchen. Grundlage sind szenische Beschreibungen, die aus unterschiedlicher Sicht erstellt werden. Das szenische Verstehen verlangt ein szenisches Engagement. D. h. es kommt darauf an, an dem sinnlichen Potenzial, das in eigenen Erlebnissen von Zeit, Bewegung, Körper und Raum gewonnen wurde, anzuknüpfen, um auf dieser Basis Lebens- und Handlungssituationen anderer zu verstehen. Es geht nicht darum, sich wie ein Zuschauer in der Loge einer Theatervorstellung zu verhalten, sondern sich als jemand zu verstehen, der in die Inszenierung involviert ist. Es geht um ein Mitspielen und Sich-öffnen für die Gefühle, Assoziationen, Funktionen und Bilder. Die Erlebnisfiguren, die in dem Interpretationsprozess entstehen, werden durch szenische Beschreibungen in Sprache umgesetzt. Die Auseinandersetzung mit dem zu interpretierenden Gegenstand führt weder zu einer subjektiven Erzählung noch zu einem objektivierten Datenmaterial. Die szenische Beschreibung erfasst ein intersubjektives Erlebnis einer kulturellen Inszenierung. Das ist durch die Sprache das des sinnlichen Erlebnisses seine Benennung bekommen. Es dreht sich nicht um eine Bewertung, sondern um eine sinnliche körperliche Erfahrung, die für eine Gemeinschaft in Bildern und Sprache zugänglich gemacht werden kann.9 Wir haben in unseren Untersuchungen sowohl unsere eigenen fotografischen Aufnahmen als auch Beobachtungen benutzt, mit denen wir das Tun und Treiben der Kinder dokumentierten. Das sind Szenen und Bewegungen, die auf dem Foto fixiert werden, Ereignisse, die zu einer Reihe von Szenen verdichtet werden, alle zusammen sollen sie das Schulleben sichtbar machen. Das Vorgehen entspricht einer Auseinandersetzung, die Bewegung einzufangen und festzuhalten und damit Augenblicke im Alltag der Schule, Erinnerungen und Erzählungen für andere zugänglich zu machen versucht. Es geht dabei um eine Auseinandersetzung zwischen Ort und Bewegung. Wir lassen uns auf das Leben in der Schule ein, ohne dabei nach einem vorgegebenen Drehbuch vorzugehen, wir folgen spontanen Ereignissen, die in einem Plot festgehalten werden. Auf diese Weise eröffnen wir einen emotionellen Raum für Erlebnisse und Erinnerungen, zu denen uns die Fotografie zusätzlich als

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Vgl. Søren Nagbøl: »Oplevelsesanalyse og Subjektivitet«. In: Psyke og Logos, 1, 23 (2002), S. 283–314.

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eine manifeste Aussage zur Verfügung steht. Alles soll dazu dienen, einen Einblick in die Lebenssituationen zu gewinnen, die eine Schule täglich neu hervorbringt. Wir sammeln Situationsbilder, visuelle Spuren vom Alltagsleben der beiden Schulen. Fotografie bildet Zeit und Raum in sehr verschiedenen Maßstäben ab. In der Totalen als ein Blick über ein Territorium. Eine derartige Fotografie kann als Blatt und Unterlage benutzt werden, um Bewegungsmuster von Kindern zu erfassen. Wo spielen Mädchen und Jungen? Welche Rolle hat die Platzierung und Gestaltung von Innen- und Außenräumen für die Art und Weise, wie Kinder sich bewegen, spielen und Spuren hinterlassen? Die Fotografie kann als Karte dienen, sie soll nicht nur den Verlauf oder Aufbau einer Collage abbilden. Auf diesem Wege wollen wir die Muster herausfinden, in denen sich das Leben in diesen beiden Schulen niederschlägt und reflektierbar wird. Dies ist auch eine Möglichkeit, jene Muster herauszuarbeiten und zu verstehen, die die Schulen in vielen verschiedenen Facetten hervorbringt. In diesem Prozess entsteht unser Forschungsmaterial. Die Fotografie ist nicht nur ein neues Orientierungsmittel, über sie lässt sich auch eine repräsentative symbolische Szenerie entfalten. Mit diesem Verfahren haben wir die Möglichkeit, Daten zu produzieren, die nicht einem linearen Muster und einer kausal festgelegten Ordnung folgen, ganz in der Art und Weise, wie empirische Befunde üblicherweise gesammelt werden. Das Unbeabsichtigte und Überraschende wird vielmehr ein Teil der empirischen Befunde. Es geht darum, sich wie ein Fremder ohne ideologisches Anliegen oder Vorurteile einzulassen auf das, was sich in den sozialen Arenen abspielt. Wir suchen keine Beweise, es dreht sich um Momentaufnahmen, die Spuren in Bild setzen. Es sind Bilder, die eine Lebenssituation festhalten. Wir versuchen flüchtige Erscheinungen hervorzubringen, die wir registrieren und aufbewahren, damit sie in unserem aktiven Gedächtnis Platz finden können. Wir decken Sachen und Umstände auf, die für die, die in die Inszenierungen verstrickt sind, nicht unmittelbar sichtbar sind.

B ew e g u n g e n , Ak t i v i t ä t e n u n d S p i e l e n Was passiert, wenn Kinder in der Schulpause spielen? Wie setzen sie sich mit ihrem Körper, ihren Bewegungen und Aktivitäten in Szene? Wir haben versucht herauszufinden, wie Kinder der beiden Schulen sich bewegen, wenn sie draußen sind. Was machen sie, wenn sie spielen und wie erleben sie ihre Aktivitäten? Zuerst haben wir die Kinder in der langen Mittagspause beobachtet. Danach haben wir ein Gruppeninterview mit den Kindern durchgeführt. Dazu kamen Gespräche mit Lehrern und Pädagogen. Wir versuchten nach Art der Triangulation aus drei Perspektiven herauszufinden, was auf den Außenarealen vor sich geht. 191

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Abbildung 3: Asgård Skole eine Wanderung durch das Schuldorf

Foto: Søren Nagbøl Abbildung 4: Asgård Skole

Mogens Hansen/Søren Nagbøl: Det ny skoleliv. Om krop, rum, bevægelse og pædagogik, Århus: Klim 2008, S. 73.

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Die Dokumentation der Bewegungen und der Spiele der Kinder sind in den zwei Schulen unterschiedlich durchgeführt worden. Die Asgård Skole, die wie ein Weiler aufgebaut ist, mit Gassen zwischen den Gebäuden, kleinen und größeren Plätzen, Spielgebieten, Spielgeräten, Sandkasten, Wasseranlagen, Spielplätzen, Hügeln und einem Skateboarderplatz, haben wir durchwandert und dabei die Spiele der Kinder notiert. Abbildungen 5 und 6: Trekronerskolen, Kundskabens have (Garten der Erkenntnis)

Foto: Søren Nagbøl; Mogens Hansen/Søren Nagbøl: Det ny skoleliv. Om krop, rum, bevægelse og pædagogik, Århus: Klim 2008, S. 71

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Die Trekronerskole ist wie ein Vierseithof gebaut, mit drei Flügeln und einem großen Gebäude auf der vierten Seite, die den Kundskaben have (Garten der Erkenntnis) umschließt. Dort sind unsere Beobachtungen aus dem zweiten Stock vorgenommen worden, von dem aus wir einen Überblick über die ganze Anlage hatten. Keine Einsicht allerdings hatten wir in die Pionerlandskabet (Pionierlandschaft), die außerhalb der Großen Innenanlage platziert ist. Hier sind auch ein Feuerplatz, eine Baustelle mit Latten und Brettern und ein Klettergerüst. Kinder sind am aktivsten auf den unebenen Geländen. Die Lage der Schule auf einem Hügel stellt eine permanente Aufforderung zum Spielen und Bewegen dar. Das ist ein Ort, wo man die Geschwindigkeit am eigenen Körper spürt, wo der Widerstand erlebt wird, wenn es aufwärts geht. In dem Garten der Erkenntnis gibt es einen künstlichen Hügel mit zwei Höhepunkten. Er wurde der Hüpfhügel genannt, aber als die Kinder entdeckten, dass der nicht elastisch war, wurde er zum Himalaja umgetauft. Dort gibt es auch einen länglich angelegten See, einen Sandkasten, Gras, Bäume und Büsche und eine keine Holzbühne in einer Ecke. Quer durch die Parkanlage führt ein geschwungener schmaler Asphaltweg. Hier dürfen die Kinder aber nicht mit Skateboard oder Rollschuhen fahren, weil man hier Mütter mit Kinderwagen treffen kann. Abbildung 7: Freies Kinderspiel

Foto: Søren Nagbøl

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Die Raumgestaltung lädt überall zu Bewegung und Spiel ein. Hier spielen Kinder Fußball, zeichnen Hinkelhäuser, machen Seilspringen. Hier und dort stehen kleine Gruppen von Mädchen und Jungen. Andere laufen mit Rollschuhen auf der Areal vor den Klassenzimmern. Um den flachen und unstrukturierten Raum zum Spielen zu nutzen, ist es notwendig die Aktivitäten durch Spielutensilien und Raumgestaltungen in Gang zu setzen, zum Beispiel durch Bälle, Gummibänder oder es werden bedeutungsvolle Muster mit Kreide für besondere Spiele markiert. In der Asgård Skole sind die Außenareale überwiegend flach und waag(e)recht. Dementsprechend gibt es hier Multiballanlagen mit Fußballtoren. Hier setzt sich Fußball als maßgebende Aktivität durch.

Spielen Die Kinder der 1. Klasse an der Trekronerskolen erzählen von ihren Spielen: Diddler, Gameboy, Bartz, Pokémon oder die traditionellen Spiele, die im Klassenzimmer zur Verfügung stehen wie z.B. Puzzle-Spiele. Ab und zu wird in einem kleinen Raum – der Tanzraum oder Malerraum – frei gespielt. Wenn die Kinder draußen sind, spielen einige Jungen Fußball, aber nicht in der 1. Klasse, wo wenig Ball gespielt wird und die Kinder sich lieber auf den Drehspielgeräten auf halten. Die Kinder erzählen uns: „Freitag ist Spieltag, dann spielen wir viel – am liebsten drinnen“. Unsere teilnehmenden Beobachtungen der Kinder der 1. Klasse beim Spiel draußen zeigen, dass sie sich vor allem zu Zweit zusammenfinden und noch nicht fähig sind, ihr Spiel planvoll zu organisieren.10 Einige erzählen, dass sie schon früh vor Unterrichtsbeginn in die Schule gehen, um dort spielen zu können. An der Trekronerskolen haben die Schüler der 3.und 4. Klasse ihre eigene Version von Verstecken spielen, sie nennen es vinke gemme (ähnlich dem Spiel Topfschlagen). Den Schülern wird auch ein Zeitraum zugestanden, über den sie selber entscheiden können. Sie heißt „Zeit der Klasse“. „Hier dürfen wir spielen, zeichnen oder lesen. Wir können machen, was wir wollen, wir dürfen aber nicht herumtoben“. Ein Mädchen wünscht sich einen kleinen Tümpel „[…] und der sollte voll von Fröschen sein. Es sollte auch mehr Spielplatz geben und ein Weg für Mooncars, Spielsachen draußen, so wie Bälle in verschiedenen Größen, Kängurustelzen, richtige Hulahob Ringe, das könnte lustig sein“. „Graffiti“, sagt ein Junge. Die Kinder in der 3. Klasse an der Asgård Skole spielen Fußball, oder sie spielen Dosenversteck, „die Erde ist giftig“, Balancieren auf Steinen, Sprung über den Ball; ferner: Gefangen werden und, wenn sie sich langweilen, gehen sie um die Schule herum. Die Jüngsten möchten sehr gerne mit Sand und Wasser spielen. Ein Junge aus der 3. Klasse erzählt: „Ich habe viel mit Sand 10 Mogens Hansen/Søren Nagbøl: Det ny skoleliv, 2008. 195

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gespielt, aber das tue ich nicht mehr […] Wir haben auch in der Mittagspause große Sandschlösser gebaut. Es ist, als ob die Dinge sich ein bisschen verändern. Erst will man ‘die Erde ist giftig’ spielen, dann spielt man Fußball, und dann will man etwas ganz anderes. Das wechselt ständig“. Kleine Kinder spielen oft in Gruppen zu zweit. Wenn der Lehrer mit draußen ist, kommt mehr Leben in die Spiele der Jüngsten. Die größeren Kinder spielen organisierte Spiele, die das Verständnis und die Anerkennung von Regeln voraussetzen. An der Trekronerskolen wünschen sich die Kinder und einige Pädagogen auch Spielgeräte wie Schaukeln, Schaukelstühle, Klettergerüste und Rutschbahn. Auch ein abwechslungsreiches Gelände reicht nicht immer aus, um alle Bedürfnisse zu befriedigen.

Jungen und Mädchen In der geschlechterorientierten Schulforschung in den 1970er Jahren waren die Ergebnisse sehr geschlechtsspezifisch deutlich: Die Jungs waren die Aktiven und spielten Fußball. Sie waren sofort draußen, wenn die Pausenglocke geklingelt hat. Die Mädchen haben sich in kleine Gruppen in die Ecken gestellt und haben dort leise gesprochen, besonders über die, die nicht da waren. In der damaligen Forschung wurden viele Dogmen manifestiert, wie die Charakterisierung der Mädchen als eher zurückhaltende und klatschende Menschen. Die dänische und norwegische Forscherin Lene Schmidt11 zeichnet zu Anfang des 21. Jahrhundert ein anderes Bild der Aktivitäten von Jungen und Mädchen auf den Außenarealen der Schulen in Norwegen. Dies können wir für die von uns untersuchten Schulen bestätigen: In kleinen und damit überfüllten Schulhöfen befinden sich ihre Befunde in Übereinstimmung mit den dänischen Untersuchungen der 1970er Jahre. Ganz anders sieht es aus in Schulen mit sehr großen Außenarealen. Hier sind Mädchen genau so physisch aktiv wie Jungen. Die Größe der Schulhöfe hat somit Konsequenzen für die Art und Weise, wie Kinder physisch aktiv werden können und sie hat damit Bedeutung für das soziale Milieu in der Schule. Sofern draußen Drängelei vorherrscht, werden auch die Aktivitätsmuster begrenzt. Im Kampf um den Raum dominieren dann die Fußball spielenden Jungen. Die Mädchen verhalten sich in diesem Fall eher passiv. Insofern bedeutet genügend verfügbarer Platz gleichzeitig ein vielseitiges Aktivitätsangebot. Das gilt auch für Naturräume und variables Gelände für Winteraktivitäten. Mit anderen Worten: Geschlechterdifferenziertes Verhalten stellt sich eher als eine Platzfrage als eine Ausdrucksform des biologisch-sozialen Geschlechts dar.

11 Vgl. Lene Schmidt: »Skolegården, jungel eller luftegård? En studie av miljøanlegg, barn og fysisk aktivitet i skolegården«. In: NIBR-rapport 1 (2004). 196

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Abbildungen 8 und 9: Kaninhøjen

Abbildungen 10 und 11: Ballbingen

Abbildung 11: Freies Kinderspiel

Alle Fotos: Søren Nagbøl

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Ältere und Jüngere An der Asgård Skole haben die Kleinen (bis zur 3. Klasse) Zugang zu jedem Bereich des Schulgeländes. Die Großen sind damit nicht zufrieden, weil es eine größere Multiballanlage gibt, die nur für die kleineren Kinder zur Verfügung steht. Zudem haben die Kleineren mehr Spielgeräte. Die Großen drängen deshalb immer wieder auf das Territorium der Kleinen, die das ihrerseits beklagen. Die Großen erobern die Ballanlage, werfen die Bälle auf die Kleinen, treten ihnen in die Beine und drängen sie ab. Die Kleinen würden wiederum sehr gerne die Skaterbahn benutzen, die in dem Territorium der Grossen platziert ist. Sie dürfen aber die Skaterbahn nach der Schulzeit benutzen, sofern sie für das Freizeitangebot angemeldet sind. Dann dürfen sie auch mit Mooncars und Roller spielen, die der SFO gehören. Die kleinen Kinder benutzen die Skaterbahn als frei verwendbares Bewegungsfeld, auf dem sie ungezügelt hin und her laufen. Wenn sie auf der Skaterbahn Handball spielen, nehmen ihnen die Großen den Ball weg und schießen ihn auf das Dach. So ist der Ball fort und die Kleinen beklagen sich. Jemand muss helfen, die Bälle wieder herunter zu holen. Ab und zu sind alle Bälle auf den Dach. Die territorialen Regeln sind unklar, und die Aufsicht führenden Lehrer passen nicht auf. Die Klassenzimmer sind zu klein an der Asgård Skole. Beim Schulwechsel aus der Ølbyskole haben sie auch den kleinen Wald, die Höhlen und den Spielplatz hinter ihrer alten Schule verloren. Jetzt gehen sie in eine „Pantoffelschule“, wie ein Schüler es ausdrückt. Drinnen dürfen sie nur Pantoffeln anhaben. Das sei im Winter gut aber in den Sommermonaten finden sie es doof. Sie sind der Meinung, sie hätten das Recht, sich überall frei zu bewegen, so wie in ihrer alten Schule. Am Ende der 6. Klasse haben wir noch einmal mit den Kindern geredet. Inzwischen sind sie zufrieden mit ihrer Schule. Sie haben neue Tische und Stühle bekommen. Sie spielen oft Fußball drinnen in die Fluren und sie haben blitzschnell ein Versteck für den Ball, wenn ein Lehrer sich nähert. Man darf auf den Gangflächen spielen, die lang und breit sind. Aber man darf nicht laufen oder Ball spielen. Fußball und immer wieder Fußball, das ist das Spiel der Jungen und eine ständiger Anlass für Konflikte. Für die Jungen gibt es nur drei Dinge: Fußball, Fußball und Fußball. Die Mädchen machen mit, weil es Spaß macht. Sie stellen sich dabei nicht einer ernsthaften Konkurrenz. Fußball ist besetzt mit Konflikten. Der Lehrer sagen: „Ihr dürft nicht nein sagen und alle, die mitspielen wollen, dürfen dabei sein“. Für die Fußballer wird damit das Spiel zerstört, weil viele nicht geradeaus schießen können. Die Schwachen, die nicht gut laufen können, werden gedemütigt. Eine Lehrerin sagt: „In der Schule sind alle dabei, wenn gespielt wird. In der Schule geht es um Unterricht, aber die Konflikte vom Fußballplatz, erzählt sie, setzen sich oft in der 198

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Schulklasse fort und nehmen dann die Unterrichtszeit weg“. Bei den Jungen gibt es zwei Gruppen, diejenigen, die für und die, die gegen Fußball sind. An der Asgård Skole sorgt der See für weitere Konflikte. Er ist mit 1 bis 1,5 Meter nicht tief, aber ganz ungefährlich ist er nicht. Der See zieht die Kinder an. Aber die Kinder dürfen das Gebiet um den See nicht betreten. Im See gibt es Frösche und einige Fische. Die Kinder, sowohl Mädchen wie Jungen hüpfen über den Bach hin und her. Das Wasser läuft von einer Wasseranlage und durch den Bach in den See herunter. Immer wird dort um das Wasser herum gespielt. So sehr das Wasser die Kinder anzieht, so gibt es doch Regeln, die befolgt werden müssen. Man darf mit Wasser spielen, auch über den Bach hin und her springen, aber der See selber ist verbotenes Gebiet. Der See ist Teil einer Anlage, der zum Bereich Natur und Technik und dem Biologiehaus gehört. Die Probleme um den See herum sind noch nicht gelöst, sagt der Schulleiter. Die Kinder der Vorschulklasse an der Trekronerskolen beklagen sich: Wenn sie etwas Großes in den Sandkasten gebaut haben, kommt immer jemand und zerstört es. Dann müssen sie in der nächsten Pause von vorne anfangen. Die Springburg ist nur im Winter gut zum Rodeln.

Ortsidentitäten Ortsinn ist eine Voraussetzung, um sich in Raum und Zeit sicher zu bewegen. Ohne Ortsinn, der sich durch eine körperbetonte, bewegungsfreundliche und sinnliche Kindheit entwickelt, fehlt den Kindern die Fähigkeit sich zu orientieren und sie werden unsicher. Für die heranwachsenden Kinder ist es wichtig, dass sie Antworten finden können auf die Fragen, die mit Wo zu tun haben.12 Bewegungsräume sollten großräumig sein, zum Beispiel wie ein Park oder ein Marktplatz. Es sollte auch intime und heimliche Orte hinter dem Gebüsch geben. Orte erzeugen gefühlsmäßige und soziale Bindungen. Es entsteht eine Ortsidentität oder Topophilia (Tuan 1974)13, die sowohl Freude wie auch Angst auslösen kann. Die kleineren Kinder bewegen sich während der Pause selten weit weg vom ihrem Klassenzimmer. Sie treffen sich unmittelbar vor den Klassenzimmern, an der Fensterbank oder in der Ecke, wo sie mit Puppen spielen. Sie halten sich dort auf, wo sie ihre Bälle verstecken, wenn der Lehrer auftaucht. An gewissen Ecken entsteht so etwas wie eine soziale und gefühlsmäßige Atmosphäre. Die Kinder der 4. Klasse erobern und nutzen das ganze große 12 Vgl. Mogens Hansen: »Spørgsmålet om ‚Hvor‘ – om stedsansen og dens tilstand i senmoderniteten«. In: Psyke & Logos 1 (2006), S. 506–520. 13 Vgl. Yi-Fu Tuan: Thopophilia. A Study of Environmental Perception, Attitudes and Values, New York: International University Press 1974. 199

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Areal draußen. Die größeren Kindern von der 6. Klasse ab wollen gerne in Gruppen mit Freunden herumgehen und reden. Sie würden gerne die Erlaubnis haben, in den Pausen drinnen zu bleiben. Wenn die Schüler der Asgård Skole nach draußen geschickt werden, gehen sie hinüber in die Bibliothek. Die Orte bekommen Namen: Trekronerskolen, Asgård Skole, Hoppeborgen und Himalaya. Dort ist der Vulkan, sagen zwei Jungen und laufen auf die Spitze eines großen Erdhaufens. Orte kann man sich wünschen, wie es die Mädchen getan haben, die sich einen kleinen See mit Fischen und einer Menge Frösche gewünscht haben. Schlammlöcher, Fischplätze, Tümpel und Klettermöglichkeiten stehen bei Kindern hoch in Kurs.

Au s b l i c k Die Grundthese, von der ich ausgehe, ist, dass der Mensch von Natur für das Zusammenleben mit anderen Menschen ausgerichtet ist und dass ihm dementsprechend von der Natur ein Potenzial der Triebbeherrschung mit auf den Weg gegeben ist. Aber dies Potential kann nur durch Lernen aktiviert werden. Das Lernen des zivilisierten Verhaltens ist eine menschliche Universalie. Sie findet sich in allen Gesellschaften, auch den einfachsten. Es gibt keine menschliche Gesellschaft, in der der junge Mensch nicht Triebkontrolle erlernt. Welche Stärke diese Triebkontrolle hat und wie die zivilisatorischen Selbstzwänge in einer Weise einzubauen sind, dass sie ohne wirklichen Lustverzicht vonstatten gehen können, das haben wir heute noch zu lernen.14 Auf Elias aufbauend kann man das Schulleben als einen Ort unserer Gesellschaft begreifen, an dem ebenso zivilisatorische Zwänge zur kontrollierten Triebbeherrschung wie Gelegenheiten bestehen, Formen der eigenständigen Lebensführung zu entwickeln. Das erste, was kleine Kinder versuchen herauszufinden ist, wie sie die Räume um sich herum gestalten können. Der Raum ist nicht etwas, was als Sache und Ort verfügbar ist. Das Verhältnis zum Raum etablieren Kinder selbst durch ihre Sinne und ihre Bewegungen in einer aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt. Dadurch entstehen Erlebnisse und Erfahrungen mit Zeit und Raum. Die persönliche Aneignung von Raum durch Kleinkinder ereignet sich nicht in einem dreidimensionalen Raum, so wie er von Mathematikern beschrieben wird15. Eine andere wesentliche Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung, die kleine Kinder bei der Eroberung des Raumes machen, ist das Gespür für Balance. Sie stellt sich als ein komplexer Zusammenhang der Gleichgewichts- und Drehsinne dar, die über Sehnen und Gelenk-

14 Vgl. Norbert Elias: Zeugen des Jahrhunderts, Berlin: Ullstein 1999, S. 28. 15 Vgl. Mogens Hansen: »Selvets materialitet«. In: Minna Kragelund (Hg.), Ting og tingester, København: Danmarks Pædagogiske Universitets Forlag 2004. 200

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verbindungen in der Muskulatur verbunden sind. Das Balancegefühl wird am besten gelernt, wenn der Boden uneben ist, dann muss der Heranwachsende ständig seine Bewegungen im Verhältnis zur der Anziehungskraft der Erde korrigieren. Noch ein weiterer Aspekt ist zu beachten: Spielen ist eine ständige körperliche und sinnliche Erkundung einer konkreten materiellen Welt. Im Umgang mit Spielobjekten können sich Kinder eine eigenständige Welt schaffen, die sie unabhängig macht von den Erwachsenen. D.W. Winnicott16 hat mit dem Begriff Übergangsobjekt auf diesen Tatbestand hingewiesen. Damit wird die Voraussetzung geschaffen, als selbständiges Individuum in Beziehung zur Umwelt zu bestehen.17

Literatur Bernfeld, Siegfried: In: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967 (1925). Böhme, Gernot: »Der Körper in der technischen Zivilisation«. In: Knut Dietrich/Wolfgang Teichert (Hg.), Die Zukunft des Körpers, Jesteburg: XOX 1999. Dietrich, Knut: »Sport Settings in Chance I: Socialisation and Social Chance«. In: Movement and Sport: Institute of Exercise and Sport Sciences, København: University of Copenhagen 2002. Ehn, Billy/Löfgren, Orvar: Kulturanalyser, Århus: Klim 2006. Dornes, Martin: Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre, Frankfurt a. M: Fischer 1998. Elias, Norbert: Zeugen des Jahrhunderts, Berlin: Ullstein 1999. Gebauer, Gunter: »Ordnung und Erinnerung. Menschliche Bewegung in der Perspektive der historischen Anthropologie«. In: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld: transcript 2004. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek: Rowohlt 1988. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Kroppens sprog, København: Gyldendal 2001. Hansen, Mogens: Intelligens og tænkning – en bog om kognitiv psykologi. 2. udgave, Horsens: Forlaget Åløkke 2003. Hansen, Mogens: »Selvets materialitet«. In: Minna Kragelund (Hg.), Ting og tingester, København: Danmarks Pædagogiske Universitets Forlag 2004.

16 Vgl. Donald W. Winnicott: The Maturational Processes and the Facilitating Environment, London: The Hogarth Press 1965. 17 Alfred Lorenzer. Das Konzil der Buchalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt a. M.: Fischer 1984. 201

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Mogens Hansen: »Spørgsmålet om ‚Hvor‘ – om stedsansen og dens tilstand i senmoderniteten«. In: Psyke & Logos 1 (2006), S. 506–520. Hansen, Mogens/Nagbøl, Søren: Det ny skoleliv. Om krop, rum, bevægelse og pædagogik, Århus: Klim 2008. Klein, Gabriele (2004): »Bewegung denken. Ein soziologischer Entwurf«. In: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld: transcript 2004. Kleinspehn, Thomas: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Neuzeit, Reinbek: Rowohlt 1991. Kupferberg, Feiwel: Kreative tider. At nytænke den pædagogiske sociologi. København: Hans Reitzels Forlag 2006. Lippe, Rudolf zur: Sinnenbewußtsein.1/2: Grundlegung einer antropologischen Ästhetik, Band 1: Tiefendimensionen des Ästhetischen, Band 2: Leben in Übergängen, Hohengehren: Schneider 2000. Lorenzer, Alfred: Das Konzil der Buchalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt a. M.: Fischer 1984. Lorenzer, Alfred: »Tiefenhermeneutische Kulturanalyse«. In: Ders. (Hg.), Kultur-Analysen. Psychoanalytische Studien zur Kultur, Frankfurt a. M.: Fischer 1986. Nagbøl, Søren: »Macht und Architektur. Versuch einer erlebnisanalytischen Interpretation der Neuen Reichskanzlei«. In: Alfred Lorenzer (Hg.), Kultur-Analysen, Psychoanalytische Studien zur Kultur. Frankfurt a. M.: Fischer 1986. Nagbøl, Søren: »Kanniks kroppe, mange syn på virkeligheden«. In: Kanniks Kunst, København 1991. Nagbøl, Søren: »Konstrueret virkelighed, en oplevelsesanalyse der berører arkitekturen, litteraturen, billedkunsten, medierne, virkeligheden og os«. In: Matrix, Nordisk Tidsskrift for psykoterapi 1, 12 (1995), S. 7–37. Nagbøl, Søren: »Oplevelsesanalyse og Subjektivitet«. In: Psyke og Logos, 1, 23 (2002), S. 283–314. Schmidt, Lene: »Skolegården, jungel eller luftegård? En studie av miljøanlegg, barn og fysisk aktivitet i skolegården«. In: NIBR-rapport 1 (2004). Singer, Wolfgang: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. Singer, Wolfgang: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. Tuan, Yi-Fu: Topophilia. A Study of Enviromental Perception Attitudes, and Values, New York: International University Press 1974. Winnicott, Donald Woods: The Maturational Processes and the Facilitating Envionment, London: The Hogarth Press 1965.

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Stadtentwicklung

Urba ne Milie us in Bew egung. Ra umproduktion und Bew egungs praktike n in großstädtischen Lebensräumen INGRID BRECKNER

Rückblicke und Zukunftsfragen Wanderungen mit offenen Augen und Aufmerksamkeit für geschichtliche Spuren in der urbanen Öffentlichkeit zeigen uns, dass um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine Institutionalisierung von Bewegungsräumen durch Sportvereine stattgefunden hat. In vielen deutschen Städten tragen diese Einrichtungen entsprechende Jahreszahlen im Namen und heißen teilweise bis heute Turn- und Sportverein, auch wenn sie vielfach – wie z. B. der „TSV 1860 München“ – in der Öffentlichkeit primär als Fußballvereine wahrgenommen werden. Es waren aber nicht nur Sportvereine, sondern auch Kommunen, die sich im Wohnumfeld oder in Bildungseinrichtungen dem Thema Bewegung gewidmet haben: In Wien trifft man z. B. heute noch auf öffentlich nutzbare Kinderschwimmbecken vor allem in dicht bebauten Arbeiterquartieren, die in Zeiten des „Roten Wien“ zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Gemeindebauten entstanden sind und bis heute von der Kommune unterhalten werden. Auch größere Schul- und Spielhöfe mit Freiraum für Bewegung datieren häufig aus dem aufgeklärten Schulbau der Gründerzeit. Deutlich später, vielfach erst nach dem Zweiten Weltkrieg, werden Spielplätze in Wohnquartieren zum Standard. In öffentlichen Parks tauchen mehr und mehr Angebote für Tischtennis, Volleyball oder Basketball auf sowie Flächen, die freies Spiel und Bewegung erlauben. Neuerdings erkennen wir im Abstandsgrün peripherer Wohnsiedlungen oder auf zentral gelegenen Spielflächen zunehmend Zäune um die Bewegungsflächen oder Erdwälle, die das Ballspiel verhindern sollen. Letztere sol205

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len Hunde fernhalten, Zerstörungen durch fliegende Bälle verhindern oder den Zugang auf bestimmte Nutzergruppen begrenzen. Gleichzeitig nehmen zeitgenössische Bewegungsfreunde – ob Skater, jugendliche Break-Tänzer, Fahrradfahrer, Jogger, Nordic Walker oder Fans asiatischer Bewegungskulturen – öffentliche Gehsteige, Plätze und Grünflächen in Besitz, teils aus Mangel an sicheren Bewegungsräumen, teils aus Interesse an öffentlicher Selbstrepräsentation. Schwimmbäder verwandeln sich vielerorts in teure Spaßbäder, die für Kunden mit geringen Einkommen schwer bezahlbar sind und SportSchwimmer an zügiger Bewegung hindern. Auch andere speziell der Bewegung gewidmete Flächen stehen längst in vielschichtiger Konkurrenz zu Bauvorhaben sowie Nutzungen durch ruhenden oder fließenden Verkehr. Viele Menschen scheinen diese Sachlage zu akzeptieren, sei es weil sie eine Wohnung oder Gewerbefläche suchen, sei es weil sie sich am liebsten von einem motorisierten Vehikel bewegen lassen oder Sportereignisse als passive Zuschauer in Stadien oder am öffentlichen bzw. privaten Bildschirm verfolgen. Besonders augenfällig wird die Präferenz passiver Bewegung im Vorfeld großer Fußballspiele: Sie erzeugen in Großstädten häufig Verkehrsstau, weil alle noch rechtzeitig vor dem Spiel den realen oder medialen Ort des Geschehens erreichen wollen. Nach Beginn solcher Ereignisse leeren sich hingegen die öffentlichen Straßen und könnten als Bewegungsräume von denjenigen genossen werden, die sich noch selbst bewegen wollen. Eine Renaissance erlebt im großstädtischen Alltag derzeit die inszenierte Massenbewegung im Rahmen von Marathon-Läufen oder Radrennen. Sie dienen nicht mehr, wie die die Turnfeste und bewegten Großveranstaltungen in nationalsozialistischen Zeiten, der Bindung von Bürgern an eine nationale Identität und Ideologie sowie ihrer sozialkulturellen Integration in ein diktatorisches Herrschaftssystem, sondern eher der Vermarktung einer Stadt als Sportstadt oder als Werbeträger für Sponsoren aus Wirtschaft und Politik. Menschen, die sich in solchen Kontexten bewegen, erhalten eine Bühne für die öffentliche Präsentation ihrer besseren oder schlechteren körperlichen Konstitution, sind Teil eines kollektiven Events und erfahren im besten Fall eine Ermutigung für die Fortsetzung ihres Körpertrainings. Sie lassen sich bewusst oder unbewusst für die mit den Veranstaltungen einhergehenden Werbezwecke instrumentalisieren, vermutlich weil es trotzdem Spaß macht und sich die meisten Individuen in kapitalistischen Gesellschaften längst an die Kommerzialisierung ihres Alltags gewöhnt haben, ohne weiter darüber nachzudenken. Die Liste der skizzierten Bewegungstypen in urbanen öffentlichen Räumen ließe sich beliebig erweitern. Bereits dieser knappe geschichtliche Rückblick eröffnet Einblicke in die Vielfalt der Bewegungsarten und -motive von Menschen in Großstädten. Alle Bewegungstypen prägen städtische Räume und werden ihrerseits durch Bewegungsmöglichkeiten in städtischen Räumen 206

URBANE MILIEUS IN BEWEGUNG

beeinflusst. Urbane Bewegungskulturen entwickeln und verändern sich im Spannungsfeld räumlicher Bewegungsmöglichkeiten und individueller wie kollektiver sozialer bzw. kultureller Praktiken der vielfältigen städtischen Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund stehen in den nachfolgenden Ausführungen folgende Fragen zur Diskussion: • Wer bewegt sich wie und warum in welchen öffentlichen Räumen deutscher Großstädte? • Wie und von wem werden öffentliche Bewegungsräume durch professionelles Handeln und unterschiedliche Nutzungen gestaltet? • Welche Bewegungsmöglichkeiten lassen sich für unterschiedliche urbane Milieus in Zukunft erhalten bzw. neu eröffnen? Als empirisches Material dienen dabei Befunde aus unterschiedlichen stadtsoziologischen Forschungsprojekten an der HafenCity Universität Hamburg,1 empirische Ergebnisse aus betreuten Studienprojekten und Abschlussarbeiten im Studiengang Stadtplanung der HafenCity Universität Hamburg sowie regelmäßig durchgeführte Seminare zur empirischen Sozialforschung mit Beobachtungs- und Befragungsübungen in jeweils unterschiedlichen Hamburger Stadtgebieten. In keiner dieser empirischen Quellen stand dabei die systematische Untersuchung von ‚Bewegung in der Stadt‘ im Sinne der Bewegungswissenschaft im Vordergrund. Es handelt sich vielmehr um einen Versuch, ausgewählte stadtsoziologische Befunde zu Hamburger Untersuchungsräumen unter dem Aspekt der Bewegung von Menschen im Raum exemplarisch neu zu interpretieren und so Schnittstellen für interdisziplinäre Kooperationen zwischen Stadtplanung und Stadtsoziologie auf der einen sowie Sport- und Bewegungswissenschaften auf der anderen Seite auszuloten.

B ew e g u n g s k u l t u r e n u n t e r s c h i e d l i c h e r urbaner Milieus Gegenstand des Nachdenkens ist in diesem Beitrag der soziale space of physical moves (in Abgrenzung zum space of flows, den Manuel Castells in seinen räumlichen Analysen der Informationsgesellschaft als Begriff geprägt hat2). Städtischer Raum wird hier nicht wie bei Castells in seiner Strukturierung durch Informationsflüsse betrachtet, sondern als gesellschaftlicher Raum, der 1

2

Vgl. Informationen zu den von der Autorin geleiteten Forschungsprojekten „Suburbanisierung im 21. Jahrhundert“, „Entwicklungspartnerschaft Elbinsel“, „Modellvorhaben Soziale Stadt in Hamburg-Altona/Lurup“ sowie zur qualitativen Untersuchung der Unsicherheit in Hamburg im Rahmen des EU-Projekts „Insecurities in European Cities“ unter: www.tu-hamburg.de/stadtplanung (Stand 23.07.2008). Vgl. Manuel Castells, Das Informationszeitalter, Bd.1, Leverkusen/Opladen: Leske + Budrich 2001. 207

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durch seine materiell-physische, soziale, kulturell-normative und ästhetischsymbolische Beschaffenheit3 die Etablierung von Bewegungskulturen unterstützt oder behindert und gleichzeitig von Bewegungskulturen beeinflusst wird. Bewegungskulturen finden ihren Ausdruck in der individuellen oder kollektiven Bewegung menschlicher Körper. Jeder Mensch bildet im Verlauf seiner Biographie aufgrund von Lernprozessen sowie individuellen und kollektiven Lebenserfahrungen eine Bewegungskultur aus, die ihn selbst kennzeichnet und die öffentlichen wie privaten Räume prägt, in denen er sich bewegt. Bewegungskulturen lassen sich zunächst nach sozialstrukturellen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Bildung oder sozialer Status wie folgt unterscheiden: • Kleinere Kinder lassen ihrem Bewegungsdrang unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit am leichtesten von sich aus freien Raum, wenn sie keinen Zwängen unterliegen. Dabei erforschen sie ihre körperliche Mobilität in unterschiedlichen Varianten: Sie klettern, kriechen, rutschen, balancieren bei verschiedenen sich bietenden Gelegenheiten, finden Schlupflöcher durch Gitterbetten und praktizieren im Liegen, Hocken oder Stehen und Gehen ganz entspannt Bewegungen, die viele Erwachsene mühsam in Yoga-Kursen oder anderen Bewegungsangeboten neu lernen müssen.4 • Weibliche und männliche Jugendliche bilden allein wie in Gruppen unterschiedliche Bewegungsstile aus: Sie erkunden sicher oder unbeholfen ihren wachsenden Körper und erproben dabei den Umgang mit geschlechtsspezifischen Bewegungsstilen. In Abhängigkeit von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft bewegen sie sich erkennbar gezielt, sei es aufdringlich und raumgreifend, sei es verhalten und kontrolliert5.

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Vgl. Dieter Läpple: »Thesen zu einem Konzept gesellschaftlicher Räume«. In: Jörg Mayer (Hg.), Die aufgeräumte Welt. Raumbilder und Raumkonzepte im Zeitalter globaler Marktwirtschaft, Loccumer Protokolle 74/92, Loccum: Evangelische Akademie 1993, S. 29–52. Vgl. Angelika von der Beek: Kinderräume bilden. Ein Ideenbuch für Raumgestaltung in Kitas, Neuwied/u.a.: Luchterhand 2001, S. 70 ff.; Gerd Schäfers (Hg.): Bildung beginnt mit der Geburt. Förderung von Bildung in den ersten sechs Lebensjahren, Weinheim/u.a.: Beltz 2003, S. 144 ff.; Ulrich Deinet/Christian Reutlinger: »Aneignung«. In: Fabian Kessel/Christian Reutlinger/Susanne Maurer/Oliver Frey (Hg.), Handbuch Sozialraum, Wiesbaden: VS 2005, S. 295–312; Henrik Freudenau /Sebastian Rabe/Ulrike Reutter: Kids im Quartier, ILS Schriften 197, Dortmund: ILS NRW 2004. Vgl. Ulfert Herlyn/Hille von Seggern/Claudia Heinzelmann/Daniela Karow: Jugendliche in öffentlichen Räumen der Stadt. Chancen und Restriktionen der Raumaneignung, Opladen: Leske + Budrich 2003; Ingrid Breckner: »Raum einnehmen. Wohnwelten von Mädchen und jungen Frauen auf dem Weg zu Repräsentationen des Selbst«. In: Diskurs 2 (1996), S. 21–31.

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• Bei Menschen mittleren und höheren Alters erweist sich die Bewegungskultur sehr stark vom Bildungsgrad und vom sozialen Status geprägt: Sie bewegen sich sichtbar „erhobenen Hauptes“ und mit Blickkontakt zur Umwelt oder scheu bzw. ängstlich geduckt, expressiv oder verschämt in größeren oder kleineren Radien lokaler, stadtregionaler oder überregionaler gesellschaftlicher Räume. Schon diese sozialstrukturell unterschiedlichen Bewegungstypologien erzeugen Bewegungsbilder und prägen die Rhythmik öffentlicher städtischer Räume. Denn sie beeinflussen u. a. Eindrücke von ihrer Lebhaftigkeit oder Tristesse, ihrer Vielfalt oder Monotonie, von darin Vorherrschendem und Fehlendem: Öffentliche Verkehrsmittel in Richtung großer Sportstadien werden z. B. vor Beginn großer Ereignisse von Menschen, die hierfür keine Begeisterung hegen und Gedränge hassen, gerne gemieden, weil sie die Dominanz der jeweiligen Sportfans mit all den akustischen und physischen Begleiterscheinungen nur schwer ertragen. Ältere Menschen artikulieren in stadtsoziologischen Untersuchungen häufig Verunsicherung durch Dunkelheit oder kleine Ansammlungen männlicher Jugendlicher im öffentlichen Raum und meiden entsprechende Räume.6 Nicht zuletzt erwarten junge Erwachsene aus patriarchalen Herkunftskulturen auf Gehsteigen selbstverständlich, dass entgegenkommende Frauen jüngeren oder mittleren Alters ihnen ausweichen und schüren durch solche Machtdemonstration Ängste oder gar Fremdenfeindlichkeit.7 Vorherrschende Bewegungstypologien wirken sich auch auf die Bewegungsgeschwindigkeiten in öffentlichen Räumen aus:8 Menschen auf eiligen Dienstwegen bewegen sich in der Regel schneller als Touristen, Arbeitslose, Schüler auf dem Heimweg oder Hausfrauen beim gemütlichen Stadtbummel.9 Aus all diesen Phänomenen entwickeln sich spezifische Atmosphären öffent-

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Vgl. Klaus Sessar/Wolfgang Stangl/René van Swaaningen, (Hg.), Großstadtängste – Anxious Cities. Untersuchungen zu Unsicherheitsgefühlen in europäischen Kommunen, Wien: Lit 2007. Vgl. Wolfgang Keller: »Über den Zusammenhang zwischen fremdenfeindlichen Vorurteilen und kriminalitätsbezogener Unsicherheit«. In: Klaus Sessar/u.a. (Hg.), Großstadtängste, S. 155–187. Vgl. Kurt Meyer: Von der Stadt zur urbanen Gesellschaft. Jacob Burckhardt und Henri Lefebvre, München: Wilhelm Fink 2007, S. 339 ff. Diese Beobachtungen stammen aus einer laufenden Untersuchung der Hamburger HafenCity und bestätigen den Einfluss der Berufstätigkeit auf das Bewegungsverhalten, der schon in der historischen Marienthal-Studie diagnostiziert wurde (vgl. Marie Jahoda/Paul Lazersfeld/Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975 (zuerst 1933). Vgl. auch Henrik Lebuhn: Stadt in Bewegung: Mikrokonflikte um den öffentlichen Raum in Berlin und Los Angeles, Münster: Westfälisches Dampfboot 2008. 209

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licher Räume, die wiederum für deren Anziehungskraft und Entwicklungspotenziale ausschlaggebend sind. Weitere Unterschiede in den Bewegungskulturen lassen sich unter Berücksichtigung sozialer Milieus feststellen.10 Sie sind durch unterschiedliche räumliche Lebens- bzw. Konsumstile gekennzeichnet, die neben der vertikalen Differenzierung nach sozialem Status auch durch horizontale Differenzierungen nach Wertvorstellungen geprägt sind. In Bezug auf Bewegungskulturen kann man dabei aus vorliegenden stadtsoziologischen Befunden die Vermutung ableiten, dass die Bewegungsmuster in der urbanen Öffentlichkeit in allen sozialen Schichten traditionaler Milieus stärker kulturell formiert und kontrolliert sind als in Milieus mit modernen Wertvorstellungen, die mit unterschiedlichen Bewegungstypologien im öffentlichen Raum experimentieren. Das Spektrum reicht von den traditionalen Milieus der Wanderer, Radfahrer und Mitglieder klassischer Sportvereine bis hin zu den modernen Milieus der „Performer“, „Experimentalisten“ oder „Hedonisten“11, die Tanz und Feste in öffentlichen Räumen organisieren, sich für Fahrradwege und Fahrradstellplätze engagieren oder im Straßenbegleitgrün gärtnern. Diese letztgenannte Gruppe ist es auch, die sich im Falle körperlicher Fitness unabhängig vom Alter primär von neuen Bewegungsevents (z.B. Inline-Skating durch die Innenstadt, Marathon etc.) begeistern lässt. „Öde Orte“12 oder „Nicht-Orte“13 in Transiträumen sind durch eine geringe Aneignungsqualität gekennzeichnet. Transiträume veranlassen in der Regel zu raschem Durchschreiten und begrenzen den Aufenthalt auf funktionale Notwendigkeiten. Erzwungene Aufenthalte an solchen Orten hinterlassen nicht selten Spuren der Unzufriedenheit in Form rascher, unachtsamer Bewegungsabläufe in den jeweils eingeübten Bewegungsmustern ohne Interesse für und Rücksicht auf Andere oder in Form expressiven Ausdrucks von Unmut in 10 Vgl. Karl-Dieter Keim: Milieu in der Stadt. Ein Konzept zur Analyse älterer Wohnquartiere, Stuttgart/u.a.: Kohlhammer 1979; Ulf Matthiesen (Hg.), Die Räume der Milieus. Neue Tendenzen in der sozial- und raumwissenschaftlichen Milieuforschung, in der Stadt- und Raumplanung. Berlin: edition sigma 1998; Katharina Manderscheid: Milieu, Urbanität und Raum. Soziale Prägung und Wirkung städtebaulicher Leitbilder und gebauter Räume, Wiesbaden: VS 2004 und Ingrid Breckner: »(Un-)Wissen im Handeln urbaner Milieus«. In: Ulf Matthiesen (Hg.), Das Wissen der Städte – Zur Koevolution von Raum, Wissen und Milieus sowie von Governanceformen in stadtregionalen Entwicklungsdynamikan, Wiesbaden VS (im Erscheinen). 11 Vgl. http://www.sinus-sociovision.de/2/2-3-1-1.htm (Stand 07.07.2008). 12 Vgl. Jürgen Roth/Rayk, Wieland (Hg.), Öde Orte. Ausgesuchte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau, Leipzig: Reclam 1998 und Dies. (Hg.), Öde Orte 2. Neue ausgesuchte Stadtkritiken: Von Aalen bis zur Zugspitze, Leipzig: Reclam 1999. 13 Vgl. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994. 210

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Graffitis, Müll oder in anderen Störungen durch Geräusche oder Sachbeschädigung. Dennoch nehmen Transiträume sowie mehr oder weniger „öde Orte“ in den zeitgenössischen Stadtstrukturen ständig zu: Der Rückbau von überdimensionierten Straßenräumen mit dominanter motorisierter Bewegung lässt ebenso auf sich warten, wie die Erneuerung und Verbreiterung von Bürgersteigen, die Bewegungen von unterschiedlichen Fußgängern (mit und ohne Kinderwagen oder Rollator), Rollstuhlfahrern und Fahrradfahrern gefahrlos zulassen. Erst solche Umbauten würden zu einer Rückgewinnung von Straße und Bürgersteig als Bewegungsraum mit sozialen Begegnungsqualitäten beitragen.14 Auch die neuen Shopping Malls kanalisieren Bewegungsmöglichkeiten von Beschäftigten und Kunden durch Hausordnungen, Überwachungspraktiken, Arrangements von Einzelhandel, Sitzgelegenheiten und Wegeführungen deutlich stärker in Konsum unterstützende Richtungen, als es die traditionellen Märkte in der Stadt je getan haben.15 Nicht ausgeschlossen ist jedoch, dass Jugendliche, Künstler oder Quartiersbewohner hoch frequentierte Konsumtempel oder Verkehrsinfrastruktur wie z.B. Bushaltestellen oder Bahnhofsvorplätze als zivilgesellschaftlichen Handlungsraum entdecken und sie soweit mit eigenen Nutzungen belegen, wie es geltende Reglements und Toleranzspielräume anderer Nutzergruppen zulassen.16 Viele traditionelle öffentliche sowie neuere private Bewegungsräume in Schulen, Sportvereinen, Schwimmbädern, Clubs, Betrieben oder Universitäten unterliegen jedoch nach wie vor einschränkenden Nutzungsregelungen, die in vielen Fällen im Tages-, Wochen- oder Jahresverlauf Unternutzung oder monofunktionale Nutzung erzeugen. Nun ist es keineswegs adäquat, angesichts aktueller Bewegungskulturen in urbanen öffentlichen Räumen in eine pessimistische Haltung zu verfallen. Wie alle anderen Aspekte des städtischen Gewebes verändern sich auch die Bewegungsmöglichkeiten sozialer Gruppen im geschichtlichen Wandel der Städte. Viel interessanter erscheint es wahrzunehmen, welche Chancen und Restriktionen öffentliche Bewegungsräume unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für wen bieten und wie sich die gesellschaftlichen Einflussfaktoren auf Bewegungskulturen durch fachliche Kompetenz und räumliche Nutzungspraxis angemessen gestalten lassen.

14 Vgl. Jane Jacobs: Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Berlin/Frankfurt a. M./Wien: Ullstein 1963. 15 Vgl. Jan Werheim (Hg.), Shopping Malls, Interdisziplinäre Betrachtungen eines neuen Raumtypus, Wiesbaden: VS 2007. 16 Vgl. Susanne Frank: »Das Öffentliche im Privaten: Bürgerschaftliches Engagement im Shopping Center» In: Jan Werheim (Hg.), Shopping Malls, S. 119–133. 211

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Öffentliche Großstadträume als Spiegel und S t i f t e r v o n B ew e g u n g s k u l t u r e n Betrachten wir die Angebote und Strukturen der Nutzung ausgewiesener monofunktionaler Bewegungsräume sowie die immer kleiner werdenden Bewegungsspielräume in öffentlichen Räumen etwas genauer, so zeigen sich in der jüngeren Vergangenheit erkennbare räumliche Differenzen innerhalb der Großstädte: Innenstädte avancierten in der jüngeren Vergangenheit zu den beliebtesten Orten passiver oder aktiver Bewegungsevents. In den ersten beiden JuliWochen des Jahres 2008 fanden z.B. in der Hamburger Innenstadt der Triathlon-Weltcup, die Beachvolleyball-EM und der jährliche „Schlager-Move“ mit mehreren 1.000 Besuchern statt. Das Hamburger Abendblatt vom 01.07.200817 berichtete dazu: „Die Rückkehr des Sports in die Innenstadt […] scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein. Der Trend hat alle Metropolen erfasst […] Davon profitieren am Ende einer langen Wertschöpfungskette alle, auch diejenigen, die Begeisterung manchmal belästigend empfinden […] Bilder vom Triathlon, dem Marathon, den Cyclassics oder den Beachvolleyballern mit dem Rathaus, der Alster oder der Speicherstadt im Hintergrund schaffen einen positiven Imagetransfer für Hamburg, den keine HochglanzWerbebroschüre liefern könnte. Wer Menschen am Straßenrand Athleten aus allen Teilen der Welt zujubeln sieht, fühlt die Vitalität dieser Stadt, ihre Dynamik und Weltoffenheit. In einem globalen Wettbewerb um Gewerbeansiedlungen und Fachkräfte sind das Standortfaktoren.“ Vereinzelt beschweren sich jedoch Einzelhändler und Besucher von Stadtzentren aber auch über die Häufigkeit solcher Ereignisse, die Parkflächen verzehren, den Konsum stören oder die Charakteristika der jeweiligen Orte in den Schatten stellen. Im Jahr 2007 waren in Hamburg „einige Kaufleute Sturm gelaufen“ weil an drei Wochenenden hintereinander „ganze Straßen in der Innenstadt unzugänglich (waren)“18. City-Manager fordern deshalb ein „klares Regelwerk“, das sportliche Großereignisse auf maximal zwei Wochenenden hintereinander begrenzt.19 In Quartieren mit zahlungskräftiger Bevölkerung wie im gentrifizierten Hamburger Stadtteil Ottensen schreitet die Privatisierung von Bewegungsangeboten rasant voran. Hier wurde unlängst ein historisches öffentliches Schwimmbad trotz eines erfolgreichen Bürgerbegehrens gegen die Schließung durch ein Kaufhaus ersetzt. An anderer Stelle ist hierfür Ersatz durch ein 17 Hamburger Abendblatt vom 10.07.2008, S. 25. 18 Ebd. 19 Ebd. Vgl. hierzu auch das Heft 32 der Zeitschrift „dérive“ mit dem Themenschwerpunkt „Die Stadt als Stadion“ und darin insbesondere den Beitrag von Anke Hagemann unter dem Titel »Zürich Fan City 2008. Der inszenierte Ausnahmezustand«. In: dérive 32 (2008), S. 14–20. 212

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Spaßbad mit Wellness-Einrichtungen geplant. Litfasssäulen künden in Ottensen von Kursen für alle möglichen außergewöhnlichen Bewegungspraktiken und private Einrichtungen wie das „Elixia – Center for Wellness and Health“ in Hamburg-Othmarschen werben mit speziellen Trainingsprogrammen zu unterschiedlichen Tageszeiten für differenzierte Kundengruppen. In Armutsquartieren verringert sich die Angebotsdichte und Qualität von Bewegungsräumen erkennbar: Oft fehlen erforderliche institutionelle Strukturen, die Bewegung im öffentlichen Raum in jeweils sozial und kulturell angemessener Weise anregen. Das Ergebnis sind viele dicke Kinder und wenig Bewegung bei Jugendlichen, Erwerbstätigen und älteren Menschen. Denn vor allem in solchen Gebieten sind Bewegungsräume in Schulen unzureichend ausgestattet, gepflegt und genutzt: Sportstunden sind häufig wenig motivierend oder fallen gar gänzlich aus; das Schulschwimmen wird – wie zeitweise in den überdurchschnittlich mit Migranten bevölkerten Hamburger Stadtteilen Veddel und Wilhelmsburg – aus wirtschaftlichen Gründen oder wegen drohender kultureller Konflikte mit Angehörigen einzelner Religionsgemeinschaften reduziert oder sogar ausgesetzt.20 Im außerschulischen Bereich wird z.B. in den Hamburger Stadtteilen Lurup und St. Pauli an bestimmten Tagen der Woche für begrenzte Zeiten Schwimmen für türkische Frauen in öffentlichen Badeanstalten ermöglicht, wobei diese Angebote aufgrund ihrer geringen Rentabilität immer wieder vom Betreiber der Bäder als Einspar-Option ins Gespräch gebracht werden. Spielflächen sind in Quartieren mit überwiegend ärmerer Bevölkerung – im Vergleich zu denjenigen in sozial gemischten Quartieren – oft nur mit dem Notwendigsten und in der Regel sehr standarisiert und lieblos mit Spielgeräten ausgestattet, die nur für eine kurze Zeit im Lebensverlauf attraktiv sind. Zwar wurden in einigen Armutsquartieren mittels begrenzter Projektförderung auch interessante Angebote für weibliche und männliche Jugendliche (z. B. Kick-Boxen, Break-Dance) verwirklicht, doch bleibt deren längerfristige Absicherung meist abhängig von Wahlperioden und der Kreativität zuständiger Fachleute. Hervorzuheben bleibt in Hamburg das differenzierte Bewegungsangebot zu günstigen Preisen, das der von Hamburger Sport-Studierenden gegründete Verein „Sport Spaß“ an Knotenpunkten des Öffentlichen Personennahverkehrs in mehreren Bezirken in Reichweite auch für einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen anbietet. Die hohe Nachfrage nach diesem Angebot erzeugt bei flexibilisierten Arbeitszeiten selbst an Vormittagen überfüllte Kurse und dokumentiert den hohen Bedarf an bezahlbaren Bewegungsmöglichkeiten. Trotz der augenfälligen Unterschiede zwischen Bewegungskulturen in deutschen Großstadtquartieren spielt das Thema Bewegung in den diversen Programmen zur Quartierserneuerung oder zur sozialen Stadtteilentwicklung 20 Vgl. Hamburger Abendblatt vom 10.07.2008. 213

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keine systematische Rolle. Zwar wird stets an Wohltaten für die Bewohner benachteiligter Quartiere gedacht, die manchmal auch Bewegung ermöglichen oder verbessern. Die Planung von Bewegungsräumen erfolgt jedoch noch zu selten auf der Grundlage eines unter diesem Aspekt analysierten Bestandes und unter Berücksichtigung der verschiedenen Nutzungsmilieus. Es dominiert bei solchen Planungsprozessen nach wie vor die Objektperspektive. Sie materialisiert sich in zusätzlichen Spielgeräten ohne bewegungsspezifische Eignungsprüfung, Trimmpfaden, Wasserflächen oder Radwegen, an deren konkreter Planung und Instandhaltung immer noch viel zu wenig Nutzergruppen mitwirken. Führt man sich Aussagen z. B. von Jugendlichen oder älteren Menschen in Bezug auf Bewegungsmöglichkeiten in benachteiligten Stadtquartieren vor Augen, so sind es meist sehr einfache Dinge, mit denen sie zu begeistern sind: Gepflegte Radwege abseits großer Autostraßen, beleuchtete Fußwege, unbeobachtete Rückzugsräume im Freien, kommunikative Sitzgelegenheiten, Fußballtore oder Basketballkörbe auf Wiesen in ausreichender Entfernung von Wohnungen, um nicht ständig wegen Lärmbelästigung angesprochen zu werden oder Tanzflächen in Innen- und Außenräumen.21 All diese Dinge ließen sich mit Sicherheit einfacher verwirklichen, wenn das Thema Bewegungskulturen in der Quartiersplanung einen Stellenwert erhält und seine Bearbeitung durch Fachleute aus Pädagogik, Medizin und Bewegungswissenschaft kompetent unterstützt würde. Die öffentlichen und privaten funktionalen Bewegungsräume in sozial gemischten Quartieren oder solchen mit einer dominant wohlhabenden Bevölkerung bedürfen ebenfalls einer sorgfältigen Qualitätsprüfung im Hinblick auf die jeweiligen Nutzungsmilieus. Denn hier bleiben öffentliche Bewegungsräume häufig untergenutzt und unterliegen dem Risiko einer allmählichen Verwahrlosung. Gleichzeitig verschlingen sie öffentliche Ressourcen, die an anderer Stelle vielleicht dringend erforderlich sind, um weit mehr Menschen angemessene Bewegungsmöglichkeiten zu bieten, die nicht auf private Bewegungsangebote zurückreifen können. Adäquate öffentliche Bewegungsflächen sollten in diesem Quartierstypus aber unbedingt erhalten bleiben, da sie Gelegenheiten zu unbefangenen Begegnungen der Quartiersbevölkerung bieten, die für eine sozial verträgliche Entwicklung von Gemeinwesen unverzichtbar sind. Begegnungen bei Spaziergängen mit Hunden und Enkelkindern

21 Vgl. Samy D. Schneider: Pimp my City – junge Ideen gesucht! Cineastische Beteiligung Jugendlicher an der Stadtplanung in Hamburg-Wilhelmsburg. Diplomarbeit am Studiengang Stadtplanung der HCU Hamburg. Hamburg 2008. Jugendliche einer 9. Klasse in der Gesamtschule Wilhelmsburg hatten im Rahmen dieses von der IBA Hamburg geförderten Filmprojekts die Möglichkeit, geliebte Plätze in ihrem Wohnumfeld zu kennzeichnen und mit Verbesserungsvorschlägen zu versehen. Viele Vorschläge bezogen sich auf die angegebenen Maßnahmen. 214

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oder Aufenthalte in Quartiersparks stiften erfahrungsgemäß unverbindliche Erstkontakte, aus denen sich auch tiefere soziale Bezüge ergeben können. Auch kommunikative fußläufige Einkaufsmöglichkeiten wie Stadtteilmärkte erfüllen diesen Zweck und tragen zur Vitalisierung öffentlicher Räume bei. Zwischen deutschen oder europäischen Großstädten lassen sich ebenfalls Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der öffentlichen Bewegungskultur feststellen: Sie sind geprägt durch geschichtliche Traditionen und klimatische Einflüsse sowie durch öffentliche Regulierungen der Nutzung in diesen Räumen. Eltern aus Italien, die sich als Erasmus-Dozenten an der Hamburger HafenCity-Universität aufgehalten haben, bewunderten stets die Vielfalt unterschiedlich gestalteter Grün- und Spielflächen und berichteten, dass Vergleichbares bei ihnen zu Hause eine absolute Mangelware darstelle. Kinder wüchsen zudem viel behüteter auf, unbeaufsichtigt seien Kinder im öffentlichen Raum kaum anzutreffen. Wer je dachte, dass der italienische Corso oder die zentrale urbane Piazza als öffentliche Bewegungsräume für Flaneure und spielende Kinder nicht gefährdet sein könnten, muss heute feststellen, dass auch dort an heißen Sommertagen klimatisierte große Shopping Malls trotz eingeschränkter Bewegungsmöglichkeiten als Alternativen geschätzt sind. Umgekehrt können wir in den kälteren nordeuropäischen Städten eine zunehmende Nutzung öffentlicher Räume für Sport, Spiel und Freizeit beobachten, die in der Gastronomie durch Wärmelampen, kostenlos verfügbare Decken und unterschiedliche Überdachungen unterstützt wird. Im europäischen Vergleich fällt außerdem ein unterschiedlicher Umgang mit der Gestaltbarkeit öffentlicher Bewegungsräume auf: In vielen Pariser Parks bietet eine flexible Bestuhlung Möglichkeiten zur Selbstbestimmung des Verhältnisses von Ruhe und Bewegung sowie des sozialen Kontextes, in den man sich begibt. In den meisten deutschen öffentlichen Stadträumen sind Menschen hingegen in der Regel auf wenige Sitzgelegenheiten angewiesen, die meistens aus Angst vor Diebstahl fest verschraubt oder als Bestandteil gastronomischer Infrastruktur konsumpflichtig sind. Mit schweren Stühlen und angeketteten Liegen in Parks wird zwar experimentiert. Häufig werden solche Sitzgelegenheiten – sei es auch nur aus Spaß – aber tatsächlich entwendet oder beschädigt. Ihre Erneuerung durch städtische Gartenämter oder Sponsoren wird dann stets mit der Frage verknüpft, ob man sich das ein weiteres Mal leisten oder gefallen lassen will. Menschen mit eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten und geringem Einkommen müssen sich bei den wenigen Sitzgelegenheiten in deutschen Großstädten genau überlegen, welche Bewegungen aus dem Haus hinaus sie sich zumuten und leisten können. Fehlen geeignete Ruheplätze gänzlich oder die Informationen über deren Existenz und Qualität, ist der Verzicht auf Bewegung bei diesem Personenkreis eine häufige Folge. Die Tatsache, dass Konzepte und verwirklichte Beispiele von multifunktionalen Bewegungsräu215

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men, in denen sich Straßen-, Fußgänger- und Fahrradverkehr eine gemeinsame, kaum regulierte Fläche teilen, aus den Niederlanden kommen und in deutschen Städten mit Fahrradkulturen zuerst aufgegriffen wurden, hat etwas mit Bewegungstraditionen und kurzen Wegen zu tun. Ob sich solche Konzepte des Shared Space auch in deutschen Großstädten mit Traditionen der „autogerechten Stadt“ in geeigneten Teilräumen durchsetzen lassen, wird die Zukunft zeigen. Optimismus ist diesbezüglich bei weiter steigenden Ölpreisen angebracht, da schon jetzt die Fahrradnutzung auf kurzen Wegen sehr stark zugenommen hat. Wer sich per Rad bewegt, vermisst Fahrradwege und öffnet sich am ehesten für machbare Handlungsalternativen. Interessante Lernfelder für die Gestaltung öffentlicher Bewegungsräume finden wir auch in europäischen und asiatischen Ländern, in denen sich staatliche Akteure mit der Anregung der Bevölkerung zur Bewegung beschäftigen oder beschäftigt haben. So sind auf vielen Spielflächen ehemaliger sozialistischer Länder in Europa noch Gedanken einer pädagogischen Bewegungsförderung ablesbar, die sich im Spiel der Kinder nach wie vor realisieren, selbst wenn die Ausstattung der Flächen längst ‚in die Jahre‘ gekommen ist. In Shanghai existieren in öffentlichen Parks auch von Erwachsenen rege genutzte stabile und gepflegte Geräte zur Bewegungsförderung, deren Miniaturen wir in deutschen Großstädten allenfalls in alternativen Arzt- und Physiotherapie-Praxen oder in asiatischen Wellnessoasen antreffen. Von chinesischen Studierenden ist zudem zu erfahren, dass ihre Zulassung zu universitären Prüfungen vom Nachweis festgelegter Sport-Credits abhängig ist, die in vielfältigen Veranstaltungen des Hochschulsports ab 6.00 Uhr morgens bis spät nachts erworben werden können. Auch chinesische Betriebe stärken den Zusammenhalt ihrer Belegschaften und deren Identifikation mit dem Unternehmen durch kollektive Angebote von Sport und Spiel am Wochenende. Nicht zuletzt bewirkt die konfuzianische Bewegungstradition in China nach wie vor eine breit gefächerte Bewegungspraxis vor und nach der Erwerbsarbeit in öffentlichen Parks. Nicht alle Beispiele attraktiver Bewegungsräume aus dem In- und Ausland lassen sich in jedem beliebigen öffentlichen Raum von Großstädten verwirklichen. Vielmehr kommt es darauf an, die Wechselwirkung der Entstehung und Tradierung jeweiliger Bewegungskulturen und ihrer räumlichen Voraussetzungen wahrzunehmen und zu analysieren, um auf dieser Basis für jeden öffentlichen Raum das ihm angemessene Bewegungsangebot zu konzipieren und umzusetzen. Sobald wir städtische Räume nicht mehr als Ansammlung statischer Objekte betrachten, sondern ihren Wandel als geschichtliche Bewegung zur Kenntnis nehmen und reflektiert gestalten, wird es uns am ehesten gelingen, öffentliche Räume für vielfältige und sich verändernde Bewegungskulturen zu schaffen.

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Gestaltungsspielräume für Bewegungskulturen in urbanen Zukünften Die vorhergehenden Ausführungen haben gezeigt, dass Bewegungsräume attraktiv sind, wenn sie Aneignung ermöglichen • für unterschiedliche Nutzergruppen, • zu allen Tages- und Jahreszeiten, • nach transparenten und möglichst unter Beteiligten ausgehandelten Regeln, • zu mehreren Zwecken, • in einem funktionalen und ästhetischen Rahmen, • unter toleranter sozialer Kontrolle und • in Verantwortung aller Beteiligten. Angesichts der sozialstrukturellen und milieuspezifischen Heterogenität von Nutzergruppen öffentlicher Bewegungsräume müssen sie unterschiedlichen sachlichen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Anforderungen genügen. Dieser Sachverhalt ist bei der Festlegung von Qualitätsstandards für öffentliche Bewegungsräume zu berücksichtigen und stellt für alle gestaltenden Fachleute und Nutzergruppen eine hohe Herausforderung dar. Denn sie müssen sich Klarheit darüber verschaffen, • wie standardisiert oder wie vielfältig die Räume produziert und erhalten werden sollten; • welche privaten und öffentlichen Interessen in der Herstellung und Nutzung solcher Räume zu berücksichtigen sind; • welche Angebote in welcher Weise kostenpflichtig oder kostenlos sein müssen; • inwiefern die öffentlichen Bewegungsräume an neue zukünftige Nutzungsanforderungen anpassungsfähig sind; • wer die Kosten der Bereitstellung und Instandhaltung unter welchen Rahmenbedingungen trägt; • wie mit mutwilliger Sachbeschädigung umzugehen ist; • welche gesundheitlichen oder anderen Risiken mit öffentlichen Bewegungsangeboten verbunden sein könnten und • wer sich durch spezifische Angebote gestört oder angeregt und bereichert fühlen könnte. All diese komplexen Fragen sind selten von einzelnen Fachleuten und erst recht nicht unter dem üblichen Zeitdruck von räumlichen Planungs- und Bauprozessen angemessen berücksichtigt worden. Sie stellen sich zudem an jedem Ort der Gestaltung anders dar und vielfach fehlen die notwendigen Informationen in öffentlich zugänglichen Quellen, um sich schnell einen Über217

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blick über die je besondere Sachlage zu verschaffen. Deshalb sollte bei der Gestaltung öffentlicher Bewegungsräume zunächst auf die Ermittlung vorhandener fachlicher Ressourcen in unterschiedlichen Fachdisziplinen geachtet werden sowie auf vorliegende Nutzungserfahrungen. Denn integrierte interdisziplinäre Handlungsansätze mit Sensibilität für Nutzungspotenziale vor Ort bieten am ehesten die Gewähr, Problemlösungen zu finden, die auf breite Anerkennung stoßen. Hilfreich erscheint für eine kreative Gestaltung öffentlicher Bewegungsräume mit Bezug zu vor Ort entstandenen Bewegungskulturen auch eine systematische Evaluation attraktiver Planungen sowie informeller Bewegungspraktiken. Dies bedeutet, in aufmerksamen Wanderungen durch unterschiedliche gesellschaftliche Räume zu entdecken, wie sich welche Menschen hier mit welchen Folgen bewegen. Ausgehend davon können Fragen für eine systematische Untersuchung von Bewegungskulturen und ihren Hintergründen formuliert werden. Die Durchführung solcher Untersuchungen müsste so konzipiert sein, dass sie Aufschluss über die zeitliche, sachliche und soziale Nachhaltigkeit der analysierten öffentlichen Bewegungsräume geben und die Reichweite und Übertragbarkeit entsprechender Befunde erhellen. Erst auf solchen empirisch fundierten Wissensgrundlagen kann ein systematisches Lernen in der Gestaltung räumlicher Rahmenbedingungen für die Entfaltung unterschiedlicher Bewegungskulturen erfolgen. Ein Spielplatz wie derjenige im Hamburger Park Planten und Blomen erweckt bei Besuchern zwar stets Begeisterung, muss aber nicht überall auf der Welt in gleicher Weise vorbildlich funktionieren wie am Originalstandort. Interessant wäre es auch, auf der Basis der Evaluation gut angenommener Bewegungsräume, über Möglichkeiten einer Gestaltung multifunktionaler Flächen nachzudenken, die immer auch unterschiedliche Bewegungsmöglichkeiten bieten. Nicht zuletzt wird gegenwärtig vermehrt darüber nachgedacht, wie ganze Städte oder Stadtteile als Bewegungsräume konzipiert werden können. Pädagogen bespielen z.B. Parks und Freiflächen mit Bewegungsangeboten aus mobilen „Spielkisten“ in der Form von Bauwagen oder aus Bollerwagen. Architekten des Vereins „Bunte Kuh“ erstellen in Hamburg mit Menschen aller Altersgruppen in Parks im Rahmen von zeitlich begrenzten Lehmbauaktionen Objekte, die sich zum Sitzen, Spielen, Klettern oder Balancieren eignen und sich nach einiger Zeit durch die Einwirkung von Regenwasser und Benutzung wieder auflösen.22 Landschaftsarchitekten gestalten öffentliche Freiräume zunehmend so, dass sie sich auch zum Tanzen, Skaten, Ballspielen usw. eigenen. Das Prinzip ist stets die Auflösung monofunktionaler Angebote für unterschiedliche Sportarten und Alltagsbewegungen zugunsten multifunktionaler Bewegungs22 Vgl. http://www.buntekuh-hamburg.de (Stand: 24.07.2008). 218

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flächen, wie sie auch mit dem bereits erläuterten Konzept des Shared Space angestrebt werden. Auf diese Weise lassen sich von Fall zu Fall sogar Ressourcen für Instandhaltung sparen und eine intensive Nutzung ist durch einen Zugang unterschiedlicher Menschen zu diesen Räumen gewährleistet. Eine bewegungsfreundliche Stadt eröffnet ständig Gelegenheiten zu einer kreativen Weiterentwicklung von Nutzungsmöglichkeiten, weil aus der öffentlichen Beobachtung von Nutzungen neue Nutzungsideen entstehen können. Beispiele solcher multifunktionaler Bewegungsräume finden sich in der Hamburger HafenCity23: Auf den Magellan-Terrassen wird getanzt, geskatet, flaniert, musiziert und geruht. Neben einer Gaststätte am Kaiserkai befindet sich zwischen Wohngebäuden ein Basketballkorb, der auf einem Lärm mindernden und Verletzungen vorbeugenden Bodenbelag bespielbar ist. Kinder begannen im Umfeld des View Points mit herumliegenden Pflastersteinen im Sand zu schreiben und balancieren auf der Möblierung des öffentlichen Raumes oder lassen sich auf abschüssigen Grasflächen der Marco Polo Terrassen herunterrollen. Erwachsene, Jungendliche und Kinder entdecken zunehmend die für den Hochwasserschutz geschaffenen Fluchtwege als autofreien Aufenthaltsoder Bewegungsraum. An den Kaimauern wird nach wie vor geangelt und auf einigen Hausdächern – wie z.B. der im Bau befindlichen Schule – Raum für Spiel und Bewegung geplant. In den Hafenbecken entsteht Platz für Boote, die das Segeln und Paddeln quasi von der Haustür aus ermöglichen. Der von Bewohnern gegründete Sportverein „Störtebecker e.V.“ erschließt sich auch Bewegungsräume im neuen Stadtteil, die nicht von vornherein für Sportzwecke geplant wurden. Mit diesen realisierten und geplanten multifunktionalen Bewegungsräumen in einem neuen Typ großstädtischer Innenstadt ist das Spektrum der Möglichkeiten sicher noch nicht erschöpft. Diese Beispiele zeigen aber, dass die im Prozess der Industrialisierung von Städten vollzogene räumliche Funktionstrennung neu überdacht und zugunsten unterschiedlicher Varianten von Funktionsmischung aufgegeben wird. Dieser Perspektivenwechsel hat längst auch die Gestaltung städtischer Bewegungsräume erfasst. Dass mit der Mischung von Funktionen auf städtischen Flächen auch Konflikte verbunden sind, zeigen die Metallknöpfe, die auf den öffentlichen Plätzen der HafenCity zur Eindämmung des Skatens auf ein verträgliches Maß angebracht worden sind. Das Miteinander unterschiedlicher menschlicher Bewegungen und ande23 Geplante und entdeckte Bewegungsräume von Kindern wurden im Sommersemester 2008 von Studierenden des Studiengangs Stadtplanung an der HCU Hamburg im Rahmen einer Lehrveranstaltung zu „Qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung“ mit dem Thema „Spielraum ist überall“ beobachtend untersucht. Die Ergebnisse werden dokumentiert und als Grundlage für die Konzeption multifunktionaler Spielflächen in der Stadt verwertet.

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INGRID BRECKNER

rer Funktionen im öffentlichen Städtischen Raum (z. B. Wohnen, Verkehr, Arbeit, Nahversorgung) verträglich zu organisieren erfordert in Gegenwart und Zukunft Konfliktfähigkeit und Aushandlungsbereitschaft von Fachleuten wie von den unterschiedlichen sozialen Gruppierungen, die die städtischen Räume nutzen. Ein gelingender kompetenter Umgang mit solchen Nutzungskonflikten erfordert Geduld und Engagement von allen Beteiligten aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft sowie von staatlichen Ordnungskräften. Er bietet aber auch Chancen zur Verwirklichung einer vielfältigen und kreativen Nutzung öffentlicher städtischer Räume und kann zu einer Erweiterung von städtischen Bewegungsräumen beitragen, in denen sich neue Bewegungskulturen unterschiedlicher Milieus entfalten können.

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Sta diona rc hitek tur und Stadte ntw icklung. Eine stadtökonomische Perspektive GABRIEL M. AHLFELDT/WOLFGANG MAENNIG

Sportmanager und Politiker behaupten häufig, dass positive wirtschaftliche Wirkungen von ihren Stadien und den dortigen Sportveranstaltungen ausgehen. Gutachten, die vor dem Bau oder der Veranstaltung erstellt werden, bestätigen dies. So beispielsweise auch im Falle der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland, für welche gleich mehrere Banken, Verbände und Universitäten ihre Expertisen vorlegten. Meistens nur nachrichtlich und ohne entsprechende Zahlenangaben werden für die Zeit nach der Veranstaltung positive Effekte wie langfristig steigende Besucherzahlen, Industrieansiedlungen usw. angeführt. Bezüglich der WM 2006 ist inzwischen – bei allem Glück über die gute Party-Stimmung im Lande und über den unerwarteten Erfolg der Deutschen Nationalmannschaft – durchaus Ernüchterung über die wirtschaftlichen Wirkungen eingetreten. Ökonometrische Studien, welche die Wirkungen von Sportstättenbauten bzw. -veranstaltungen auf der Grundlage von statistischen Zeitreihen untersuchen, malen für die WM 2006 das typische Bilde der „paradoxen“ Sport-Wirkungen auf Einkommen und Beschäftigung.1 Nur in wenigen Fällen gelang es bisher, positive Impulse statistisch nachzuweisen.2 1

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Für einen Überblick über die ökonomischen Auswirkungen von Sportgroßveranstaltungen sowie eine empirische Untersuchung der Beschäftigungseffekte der WM 2006, vgl. Florian Hagn/Wolfgang Maennig: »Labour Market Effects of the 2006 Soccer World Cup in Germany«. In: Applied Economics (in press) (2008). Vgl. Julie L. Hotchkiss/Robert E. Moore/Stephanie M. Zobay: »Impact of the 1996 Summer Olympic Games on Employment and Wages in Georgia« In: Southern Economic Journal 3, 69 (2003), S. 691–704 für die Olympischen Spiele 1996, Stephanie Jasmand/Wolfgang Maennig: »Regional Income and Employment Effects of the 1972 Munich Olympic Summer Games«. In: Regional Studies 7, 42 (2008), S. 991–1002 für die Olympischen Spiele 1972 sowie 223

GABRIEL M. AHLFELDT/WOLFGANG MAENNIG

Die häufig nur geringen positiven langfristigen Wirkungen mögen mit einem Aspekt zusammenhängen, der bislang häufig vernachlässigt wurde: architektonische Qualität. Während die deutschen WM-Arenen voller technischer Innovationen stecken und hohen Anforderungen an Komfort und Sicherheit gerecht werden, blieb ihr Design meist konventionell und ‚funktional‘. Dabei zeigen internationale Beispiele wie unkonventionelle, teils ikonische Stadionarchitektur dazu genutzt werden kann, um neue Wahrzeichen zu erzeugen und erfolgreiche Stadtentwicklungspolitik zu betreiben. Erste empirische Evidenz deutet zudem darauf hin, dass Architektur nicht nur eine betriebswirtschaftliche Komponente hat. Bei nachweislich positiven Ausstrahlungseffekten kann letztlich auch die Verwendung öffentlicher Mittel für Mehrkosten, die durch eine unkonventionelle Stadionarchitektur verursacht werden, ökonomisch gerechtfertigt werden. Dieser Beitrag diskutiert den derzeit beobachtbaren Wandel in der internationalen Stadionarchitektur und zeigt wichtige Strömungen anhand ausgewählter Beispiele auf. Zudem wird ein Zugang zur Quantifizierung von Wohlfahrtseffekten gebauter Umwelt vorgestellt und ein Überblick über erste empirische Evidenz für Ausstrahlungseffekte gebauter Umwelt im Allgemeinen und Sportstätten im Besonderen gegeben.

Status quo der Stadionarchitektur (Sport)Stadien sind ökonomisch betrachtet verhältnismäßig kleine Unternehmungen, welche von vornherein kaum messbare Wohlfahrtseffekte auf gesamtstädtische Räume bewirken können.3 Doch wie sieht es in ihrer der unmittelbaren Umgebung aus? Induzieren Stadien auf kleinräumiger Ebene positive wirtschaftliche Impulse? Haben sie Ausstrahlungseffekte, die ein Viertel beleben und bereichern? Nach dem Votum der Anwohner erscheint dies zunächst eher unwahrscheinlich, denn Stadienneubauten werden regelmäßig von heftigen Bürgerprotesten begleitet. Die typische Einstellung der Anwohner lautet: „Ein Stadion? Gerne, aber nicht bei uns!“. In einer der wenigen bislang verfügbaren kleinräumigen Studien untersucht Charles C. Tu die Auswirkungen des Neu-

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Elmar Sterken: »Growth Impact of Major Sporting Events«. In: European Sport Management Quarterly 4, 6 (2006), S. 375–389 für Fußball-Weltmeisterschaften seit 1936und die Olympischen Sommerspiele seit 1900. Vgl. Florian Hagn/Wolfgang Maennig: Labour Market Effects; Florian Hagn/Wolfgang Maennig: »Employment Effects of the Football World Cup 1974 in Germany«. In: Labour Economics (in press) (2008); Mark S. Rosentraub: »The Myth and the Reality of the Economic Development from Sports«. In: Real Estate Journal 1, 22 (1997), S. 24–29.

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baus des FedEx Fields, Heimstätte der Redskins, einem National Football League Team.4 Erst im vierten ernsthaften Anlauf, nachdem unzählige Standorte gesichtet und acht Jahre vergangen waren, konnte ein Platz gefunden werden, an welchem der Neubau gegen den Willen der Anwohner durchzusetzen war. Tu zeigt, dass sich die Befürchtungen der Anwohner, dass das Stadion sich negativ auf den Wert ihrer Immobilien auswirken könnte, als unbegründet erwiesen. Betrachtet man neben erhöhtem Verkehrsaufkommen und anderen unangenehmen Begleiterscheinung eines Massenbesuchs von Sportfans die Architektur moderner, auch deutscher Sportarenen, wird die ablehnende Haltung der Anwohner wenigstens teilweise nachvollziehbar. Zwar liegt die Schönheit immer auch im Auge des (liebenden) Betrachters. Dennoch: Zur WM 2006 in Deutschland sind einzigartige Bauten oder gar ikonische Architekturen mit überregionaler Strahlkraft und städteplanerischer Ästhetik nicht entstanden – von der Münchner Arena vielleicht abgesehen. Bei den deutschen Vorbereitungen wurde vergessen, dass mit herausragender (Stadion-) Architektur nicht nur eine Optimierung der betriebswirtschaftlichen Kriterien der Profivereine, sondern ein Beitrag zur Stadtentwicklung erreicht werden kann.5 Den Clubmanagern kann man keinen Vorwurf machen: Sie haben die Aufgabe, die Gelder für ihre Mannschaften zu maximieren. Hierzu müssen sie ihre Ausgaben auf das beschränken, was zur Zufriedenheit der Fans nötig ist. Ihre Aufgabe ist es auch nicht, Stadt- und Regionalpolitik zu betreiben, ihre Architektur städteplanerisch interessant zu machen und regionalwirtschaftliche ‚externe‘ Effekte zu realisieren, von denen ihre Vereinskasse nichts hat. Verantwortlich wären die kommunalen Entscheidungsträger gewesen. Sie hätten die Mehrkosten für die anspruchsvollere Architektur (und ggf. bessere Standorte) tragen müssen. Nota bene: Münchens Arena hat rund 280 Mio. € gekostet, während der Durchschnitt der restlichen WM-Stadien bei rund 100 Mio. € lag. Angesichts der leeren kommunalen Kassen und der in der Bevölkerung vermehrt anzutreffenden Haltung, dass man den Fußball-‚Millionaros‘ keine öffentliche Unterstützung mehr geben solle, wären derartige Zuschüsse den Politikern schwer gefallen. So wurden die deutschen WM-Stadien zu rd. 75% privat finanziert – wenn man die beiden historisch-politischen Stadien in Berlin und Leipzig ausklammert – und entsprechend auf ‚fußballerische Funktionalität‘ reduziert. Bei einer derartigen auf interne betriebswirtschaftliche Effizienz getrimmten und mögliche positive externe Effekte vernachlässigenden

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Vgl. Charles C. Tu: »How Does a New Sports Stadium Affect Housing Values? The Case of FedEx Field«. In: Land Economics 3, 81 (2005), S. 379–395. Wolfgang Maennig: »Ikonen statt Schüsse!«. In: Immobilien Manager 7–8 (2006), S. 32–34. 225

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Konzeption der Stadien kann die Skepsis der Anwohner nachvollzogen werden.

I k o n i s c h e Ar c h i t e k t u r Ikonische Bauten6 mit positiven Ausstrahlungseffekten und überregionaler Anziehungskraft, geht so etwas? Anhand von Beispielen lässt sich dies grundsätzlich bejahen: Sydney hat sich mit seinem Opera House eine einzigartige Sehenswürdigkeit geschaffen, die Tourismus induziert. Wer konnte mit Bilbao etwas assoziieren, bevor dort das Guggenheim-Museum von Gehry gebaut wurde? Auch für Sportarchitektur gibt es Beispiele: Das Münchener Olympiastadion mit seiner Architektur ist eines der bekanntesten Symbole Münchens. Aus der Brache des ehemaligen Flughafengeländes hat sich dort eine beliebte Wohn- und Geschäftsgegend entwickelt. Eine klare Definition von ‚ikonischen‘ Bauten mit positiven stadtökonomischen Wirkungen existiert (noch) nicht, aber eine beispielhafte Betrachtung entsprechender Bauten macht gewisse Gemeinsamkeiten offensichtlich: Sie sind meist fußläufig vom Zentrum, aber direkt am Wasser gelegen. Sie weisen eine Architektur auf, die zumindest zum Zeitpunkt der Planung hoch innovativ, oft scheinbar ‚unpraktisch‘ und ‚unfunktional‘, aber einzigartig ist. Oft sind die Planungen so unkonventionell, dass sich bei den Bürgern heftiger Widerstand bildet (siehe Sydney), der, das zeigt dieses Beispiel ebenfalls, allerdings nach und nach einem Gefühl der regionalen Stolzes und der Identifikation weicht. In jedem Fall gelingt es den Städten, ‚global wirksame‘ Imageeffekte zu erzielen, aus denen langfristig zusätzliche Touristen- und damit Einkommensströme resultieren. Zu den Beispielen künftiger ikonischer Architektur mögen die Erweiterung des Tate Modern in London sowie der Ausbau eines alten Kaispeichers zur Elbphilharmonie in Hamburg (beide Herzog & De Meuron) gehören. In beiden Fällen wird unkonventionelle Architektur bewusst als Maßnahme zur Stadtentwicklung eingesetzt. Als Ankerbauwerke sollen diese ikonischen Kulturbauten positiv auf ihre Umgebung ausstrahlen und zur Aufwertung der derzeit in Bau befindlichen Hamburger Hafencity sowie des südlichen Themseufers in London beitragen.

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Teilweise wird auch der Begriff signature- oder landmark-architecture verwendet. Vgl. Donald McNeill: »Office Buildings and the Signature Architect: Piano and Foster in Sydney«. In: Environment and Planning A 2, 39 (2007), S. 487– 501.

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Stadionarchitektur im Wandel Auch wenn aufregende, innovative Architektur immer noch in erster Linie mit repräsentativen Kulturprojekten assoziiert wird, bleibt sie keineswegs auf Museen, Theater- oder Opernhäuser beschränkt. Für den Palau Sant Jordi Sports Palace in Barcelona (Arata Isozaki), das neue Wembley Stadium in London (Foster and Partners), Durbans Kingspark Stadium (gmp) sowie Münchens Allianz-Arena und das National Stadium in Peking (beide Herzog & de Meuron), wurden international angesehene Architekturbüros engagiert, die sich zum Teil auch ikonischer Elemente bedienen, um Wiederkennungswert für die Stadien und neue Wahrzeichen für ihre Städte zu schaffen. Ähnliche Absichten werden mit den in der Diskussion befindlichen Plänen von Foster und Partners für den Umbau des Camp Nou Stadions in Barcelona verfolgt. Von den deutschen WM-Stadien nimmt die Münchner Allianz-Arena eine Sonderrolle ein.7 Als Leuchtkörper, der die Vereinsfarben der Heimmannschaften FC Bayern und TSV 1860 München aufnimmt, erstrahlt sie unverwechselbar und weithin sichtbar an der Einfahrt zur Stadt München. Weitgehend freistehend bekommt die Arena einen monolithischen Charakter, der die Wirkung noch unterstützt. Nicht zuletzt durch die Beleuchtungeffekte kann der Hauptzugang wie ein Pilgerpfad zu einer Kultstätte in Szene gesetzt werden. Andererseits ist die Isolation des Stadions die große Schwäche des Standortes. An der urbanen Peripherie gelegen, nur umgeben von Autobahnen und Entsorgungsinfrastrukturen, müssen jegliche Entwicklungsimpulse in die Umgebung hinein wirkungslos verpuffen. Durbans Kings Park, ein Stadion für bis 70.000 Zuschauer, das für die Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika errichtet wird, repräsentiert hier

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Mit gewissen Abstrichen ist auch Kölner Rheinenergie Stadion hervorzuheben. Der von gmp gestaltete Neubau folgt in seiner puristischen Materialauswahl, funktionalen Form und im Detail hochwertigen Verarbeitung konsequent den Idealen der klassischen Moderne. Mit feingliedrigen Säulenelementen im ZehnMeter-Raster zitiert die modernistische Arena antike Elemente und wirkt leicht, elegant und transparent. Das Dach wird von vier in den Tribünenecken platzierten 72 Meter hohen stählernen Gitter-Pylonen getragen, die mit Hängeseilen miteinander verbunden sind und sich bei Dunkelheit in helle Leuchtkörper verwandeln. Bei Beleuchtung legt das Stadion seine Bescheidenheit weitgehend ab; seine ohnehin markante Silhouette entwickelt sich zu einem weithin sichtbaren Fixpunkt, welcher die umgebende Parklandschaft überstrahlt. Ein weiteres Detail offenbart sich zur Weihnachtszeit, wenn die Leuchtpylonen passend zur Adventszeit geschaltet werden und das Rheinenergiestadion zu Deutschlands größtem Adventskranz wird. 227

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den städtebaulichen Gegenentwurf.8 Das Stadion ist Ankerpunkt eines Konzeptes, das den Kings Park als Keimzelle für die Entwicklung eines städtischen Areals betrachtet und Durban zu einer der führenden Sportstädte des afrikanischen Kontinents entwickeln soll. Hierzu konzipierte das beauftragte Architekturbüro gmp eine Symbiose aus architektonischer Eleganz und überraschender Monumentalität, die das Stadion gleichzeitig zeitlos und ikonisch wirken lässt. Das ikonische Element ist dabei zweifellos der monumentale Bogen, welcher das Stadion der Länge nach überspannt und die Dachkonstruktion trägt. Indem sich der Bogen in seinem Verlauf teilt, zitiert er die Flagge der Republik Südafrika und bietet sich damit als Symbol nationaler Identitätsstiftung an. Da der Bogen zudem begehbar ist, kann dieses Stadion auch unabhängig von der Austragung großer Sportevents als Anziehungspunkt für Touristenströme wirken und damit zur Belebung des gesamten städtischen Areals beitragen. Im modernen Stadionbau ist eine alternative Strömung zu beobachten, in der Stadien ihre Umwelt weder negieren noch zu dominieren versuchen. Dieser Ansatz will das fragile urbane Gleichgewicht nicht sprengen, sondern sich in bestehende Stadtstrukturen einfügen und diese behutsam bereichern. Die Architektur kann sich selbst zurücknehmen und im Detail dennoch auf Qualität setzten. Damit wird die Architektur in gewisser Weise funktional, jedoch nicht im betriebswirtschaftlichen Sinne, sondern indem sie die örtlichen Zwänge annimmt und die Bedürfnisse der Anwohner adressiert. Gerade in dicht besiedelten innerstädtischen Gebieten macht es bisweilen Sinn, urbane Räume zu schaffen oder zu verbinden anstatt dominante Monolithen – und seien sie ästhetisch auch noch so anspruchsvoll – zu platzieren. Geeignete Beispiele sind hier die Berliner ‚Olympiahallen‘ welche im zeitlichen Zusammenhang mit Berlins Bewerbung für die Olympischen Spiele 2000 als Wettkampfstätten für Radrennen sowie Box- und Schwimmwettkämpfe konzipiert wurden. Innerstädtische Areale in Berlin Prenzlauer Berg wurden als Standorte für die Hallen ausgewählt, die zu Beginn der 1990er Jahre in einem desolaten Zustand waren. Aus internationalen Wettbewerben gingen Entwürfe als Sieger hervor, die erstaunliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Dominique Perrault (Velodrom und Schwimmhalle), der sich mit seinen Entwurf für die französische Nationalbibliothek gerade in den internationalen Jet Set der Architektur katapultiert hatte, und das junge, zum damaligen Zeitpunkt international noch weitgehend unbekannte Team um Albert Diez und Jörg Joppien (Max-Schmeling-Halle), setzten beide unabhängig von einander auf ein Kon8

Wolfgang Maennig/Florian Schwarthoff: »Stadium Architecture and Regional Economic Development: International Experience and the Plans of Durban«. In: Diego Torres (Hg.), Major Sports. Events as Opportunity for Development, Waterfronts and Major Nautical Events – Sport Events City Network Investigation 2006, Barcelona: Valencia Summit Publishing 2006, S. 120–129.

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zept, das die sichtbare Architektur zum großen Teil verschwinden lässt. Dies geschah jedoch nicht aus wirtschaftlichen Zwängen – die Projekte wiesen hohe Baukosten auf und wären in dieser Form privatwirtschaftlich kaum finanzierbar gewesen.9 Vielmehr ging es den Architekten (und Jurys) darum, in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete Berlins neue öffentliche Räume zu schaffen und die Hallen in ein (Grün)Flächenkonzept einzubetten. So wurden die Hallen zum großen Teil in der Erde versenkt, so dass die Baukörper in ihrem Volumen von außen kaum wahrgenommen werden. Die Max-SchmelingHalle besitzt lediglich nach Norden eine klassische Glasfassadenfront während ihre Südseite in einen begrünten Schuttberg eingebettet ist und nach Westen und Osten die ebenfalls begrünte Dachstruktur bogenförmig in die umliegenden Parkanlagen übergeht. Da diese Dachelemente begehbar sind, entsteht durch die Halle ein grüner Brückenschlag zwischen den Bezirken Prenzlauer Berg (ehemals Berlin-Ost) und dem unmittelbar angrenzenden Wedding (ehemals Berlin-West), der symbolisch für die zusammenwachsende Stadt stehen soll. Im südöstlichen Ende von Prenzlauer Berg, eingerahmt von S-Bahn Ring und Landsberger Allee, liegen Velodrom und Schwimmhalle. Die Dimensionen der Hallen beeindrucken. Allein in der mit 115 m Spannweite weltweit größte freischwebenden Dachkonstruktion des Velodroms sind mehr als 3500 Tonnen Stahl verbaut, und damit mehr als im Pariser Eiffelturm. Dennoch zeigt, ähnlich der Max-Schmeling-Halle, der aus Velodrom und Schwimmhalle bestehende Sportkomplex nur der S-Bahntrasse zugewandt eine sichtbare Fassadenfront, welche in Form von Arkaden den Hauptzubringerweg einrahmt. Von der Straße aus betrachtet sind Velodrom und Schwimmhalle kaum sichtbar, da sie in ein künstlich angelegtes 17 m hohes Tableau eingelassen sind und dieses nur um jeweils einen Meter überragen. Erst nach Betreten dieses Tableaus, das von einer mehrere hundert Meter langen Treppe eingerahmt wird und dem Vorbild der Nationalbibliothek entliehen ist, eröffnet sich dem Besucher der Anblick der in eine metallische Außenhaut gekleideten Hallen. Diese sind in eine parkähnliche Landschaft mitsamt 350 teils deutschen, teils französischen Apfelbäumen eingebettet. Perreaults Pläne für Velodrom und Schwimmhalle wurden 1999 von der Jury des Deutschen Architekturpreises mit dem zweiten Platz belohnt. Lediglich das ebenfalls in Berlin erbaute Jüdische Museum von Daniel Liebeskind wurde als bedeutender eingestuft. Zwei Jahre später erhielt die MaxSchmeling-Halle eine IOC/IAKS Goldmedaille, die vom Internationalen 9

Die Baukosten betrugen 205 Millionen DM für die Max-Schmeling-Arena sowie 545 Millionen für das Velodrom. Vgl. Jeremy Myerson/Jennifer Hudson: International Interiors, London: Laurence King 2000; Dominique Perrault/Albert Ferré: Dominique Perrault – Nature-Architecture: Velodrom and Swimming Arena, Berlin/Barcelona: Actar 2002. 229

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Olympischen Komitee sowie der Internationalen Vereinigung Sport- und Freizeiteinrichtungen e.V. für herausragendes Design und Funktionalität vergeben wird. Eine derart umgebungsorientierte, sich aber zurücknehmende Architektur kann ebenfalls ikonische Züge annehmen. Das zeigt das Velodrom insbesondere aus der Vogelperspektive, in der seine Dimensionen deutlich werden und es gleich einem gelandeten UFO in seiner Mulde liegt, eindeutig. Gleichzeitig impliziert ein umgebungsorientierter Ansatz in der Tendenz jedoch weniger die Revolution einer Formensprache, sondern eher eine zeitlose Eleganz, die sich über Generationen hin im Stadtbild verankern kann. Ein anderes Beispiel für moderne, ästhetisierte, stadtorientierte Stadionarchitektur ist der St. Jokob-Park in Basel (Herzog & De Meuron), wo das Stadion hinter einer zeitlos schlichten Fassade verschwindet, die das Stadion von außen kaum noch als solches erkennbar macht und sich damit nahtlos in die Stadtstruktur einfügt. Einen ikonischen Charakter bekommt dieses Stadion bei Dunkelheit, wenn die Galerie entweder in den Vereinsfarben des FC Basel erstrahlt oder weiße Schweizerkreuze vor roten Hintergrund zeigt. Die selbst strahlende Fassade als ikonisches Element wird von denselben Architekten auch in ihren späteren Projekten wie der Allianz-Arena und der Elbphilharmonie wieder aufgenommen.

Au s s t r a h l u n g s e f f e k t e g e b a u t e r U mw e l t Die Beispiele Max-Schmeling-Halle und Velodrom sowie Allianz-Arena zeigen, dass mit der Realisierung anspruchsvoll gestalteter Sportanlagen vergleichsweise große Investitionsvolumen einhergehen können. Sofern öffentliche Mittel für solche Prestigeprojekte gebunden werden, stellt sich die Frage nach der wohlfahrtsökonomischen Rechtfertigung, insbesondere wenn darunter die Ausstattung mit Breitensportanlagen leidet. Gabriel Ahlfeldt und Arne Feddersen kommen in einer georeferenzierten Studie auf der Ebene der statistischen Gebiete für den Raum Hamburg zu dem Schluss, dass die räumliche Ausstattung mit Sportinfrastruktur sich zwar insgesamt am Bedarf orientiert, jedoch eine systematische Unterausstattung in zentralen Gebieten sowie in Gebieten mit hohem Anteil an Migranten festzustellen ist.10 Können also vor diesem Hintergrund erhöhte Investitionen in die Architektur moderner Sportarenen gerechtfertigt werden? Sind die dafür ausschlaggebenden Ausstrahlungseffekte gebauter Umwelt im Allgemeinen und anspruchsvoll gestalteter Sportanlagen im Besondern überhaupt messbar?

10 Vgl. Gabriel M. Ahlfeldt/Arne Feddersen: »Geography of a Sports Metropolis«. In: Hamburg Contemporary Economic Discussions 15 (2007), S. 1–21. 230

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Die Quantifizierung dieser externen Effekte ist aus ökonomischer Sicht über Preise möglich: Befinden sich Immobilienmärkte im Gleichgewicht, enthalten Preise Informationen über die Zahlungsbereitschaft der Marktteilnehmer für sämtliche Attribute einer Immobilie inklusive ihrer Lage. Erhöht sich die Lageattraktivität infolge einer städtebaulichen Maßnahme, so erhöhen sich deren monetär messbaren Werte. Derartige Wertzuwächse können wohlfahrtsökonomisch eine Intervention des Staates rechtfertigen. Zwar lässt sich architektonische Qualität nicht ohne weiteres als Variable in einem empirischen Modell berücksichtigen. Aber wir können die durch ein empirisches Modell nicht erklärte Preisvariation auf systematische Beziehungen zur gebauten Umwelt hin untersuchen. Durch den Einsatz geographischer Informationssysteme können komplexe räumliche Bezüge modelliert werden. Dadurch lässt sich untersuchen, ob die räumliche Nähe zu Quellen vermuteter Ausstrahlungseffekte einen Erklärungsbeitrag zu anderweitig nicht erklärbarer Variation der Lageattraktivität leistet. Die Aussagekraft erhöht sich, wenn nicht nur räumliche, sondern auch noch zeitliche Beziehungen nachgewiesen werden können.

E r s t e e m p i r i s c h e E vi d e n z e x t e r n e r E f f e k t e vo n architektonischer Qualität Mittlerweile existieren erste empirische Analysen, welche gebaute Umwelt als Determinante für Lageattraktivität untersuchen. Gabriel Ahlfeldt und Wolfgang Maennig untersuchen externe Effekte der 16.142 Gebäude, die 2007 in Berlin unter Denkmalschutz standen.11 Unter Verwendung eines hedonischen multivariaten Regressionsmodells, das zahlreiche Gebäude-, Vertrags-, Lage- und Nachbarschaftscharakteristika isoliert, konnte anhand der 6150 berücksichtigten Kauffälle von Eigentumswohnungen zwischen Januar und September 2007 gezeigt werden, dass eine an denkmalgeschützten Gebäuden reiche Umgebung den Immobilienwert signifikant erhöht. Der formale Akt der Unterschutzstellung zeigte dabei gleichzeitig keine signifikante Preiswirkung, was darauf hindeutet, dass a) Denkmalschutz als Proxy für bauliche Qualität herangezogen werden kann und b) die mit der formalen Eigenschaft der Unterdenkmalschutzstellung verbundenen (steuerlichen etc.) Vorteile durch die Nachteile (beschränkte Verfügungsrechte) ausgeglichen werden. Ahlfeldt entwickelt ein empirisches stadtökonomisches Modell für Berlin aus dem hervorgeht, dass in einer Gegend, die von Plattenbauten dominiert 11 Vgl. Gabriel M. Ahlfeldt/Wolfgang Maennig: »Monument Protection: Internal and External Price Effects«. In: Hamburg Contemporary Economic Discussions 17 (2008), S. 1–27. 231

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ist, Preisabschläge von im Schnitt ca. 6,5% in Kauf genommen werden müssen.12 Dagegen werden in Gebieten, die durch Wilhelminische Blockrandbebauung geprägt sind, die nachträglich in ihrer Bebauungsdichte verringert wurden, signifikante Aufschläge von bis zu 8,5% erzielt. Solche Ergebnisse ermöglichen eine vorsichtige Bewertung unterschiedlicher Stadtentwicklungspolitiken. Unter Zugrundelegung des Marktergebnisses zeigt sich, dass die Politik der vorsichtigen Stadterneuerung im Vergleich zur Politik des radikalen Stadtumbaus der Nachkriegszeit bei den Bewohnern Berlins eine höhere Akzeptanz genießt. Dabei ist zu beachten, dass diese Ergebnisse Mittelwerte für den gesamten Raum Berlin darstellen. Da visionäre Projekte wie das Hansaviertel in Berlin die Ausnahmen blieben, kann aus diesen Ergebnissen nicht geschlossen werden, dass die Architektur und Stadtplanung der Moderne grundsätzlich ungeeignet sind, um lebenswerte Räume zu schaffen. Mit den geschilderten Methoden lassen sich auch externe Effekte von Großsportanlagen messbar machen. Da ein eindeutiges Datum der Fertigstellung vorliegt, lassen sich Preiseffekte nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich dem Bau einer Arena zuschreiben. Finden sich anderweitig nicht erklärbare Preissprünge in der unmittelbaren Umgebung eines Stadionneubaus, die zeitgleich mit der Fertigstellung auftreten, dann bedeutet dies bei umfassender Berücksichtigung der Umgebungsfaktoren ein Indiz für einen sachlogischen Zusammenhang. Schwierigkeiten bereitet es jedoch die Wirkungen eines Stadions in seiner Funktion als Sportstätte von denen seiner Architektur zu trennen. Im Falle des von Tu untersuchten des FedEx Field in Prince George’s County, Maryland, zeigt sich, dass auch ein architektonisch konventionell gestaltetes Football-Stadion positive Effekte haben kann.13 Diese werden von Tu mit umfangreichen Verbesserungen der Infrastruktur sowie zahlreichen Beschäftigungsmöglichkeiten begründet. Im Falle der von Ahlfeldt und Maennig untersuchten und oben näher beschriebenen Berliner Olympiahallen können diese Faktoren als Quelle potentieller Ausstrahlungseffekte weitgehend ausgeschlossen werden.14 Zum einen wurden die Standorte explizit auf Grund der guten infrastrukturellen Anbindung ausgewählt, so dass keine be12 Vgl. Gabriel M. Ahlfeldt: »If Alonso was Right: Accessibility as Determinant for Attractiveness of Urban Location«. In: Hamburg Contemporary Economic Discussions 12 (2007), S. 1–30. 13 Vgl. Charles C. Tu: »How Does a New Sports Stadium Affect Housing Values?«. 14 Vgl. Gabriel M. Ahlfeldt/Wolfgang Maennig: »Arenas, Arena Architecture and the Impact on Location Desirability: The Case of „Olympic Arenas“ in BerlinPrenzlauer Berg«. In: Hamburg Urban Studies (in press); Gabriel M. Ahlfeldt/Wolfgang Maennig: »Impact of Sports Arenas on Land Values: Evidence from Berlin«. In: The Annals of Regional Science, DOI 10.1007/s00168008-0249-4, (2008), S. 1–23. 232

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sonderen Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur notwendig waren. Zum anderen sind die Hallen mit einem Fassungsvermögen von je knapp über 10.000 Zuschauern in Vergleich zum von Tu betrachteten FedEx Field (knapp 80.000) vergleichsweise klein, so dass kaum entscheidende ökonomische Impulse und erhöhte Beschäftigungsmöglichkeiten zu erwarten sind. Dennoch stellen Ahlfeldt und Maennig unter Verwendung eines umfassend spezifizierten hedonischen Modells signifikant erhöhte Grundstückspreise in einer Umgebung von bis zu 3000 Metern fest, die in Anbetracht der Abwesenheit von Verkehrsinfrastrukturinvestitionen und nur eingeschränkten direkten ökonomischen Effekten zu mindestens zum Teil auf eine höhere Lageattraktivität in Folge der neu geschaffenen Stadträume schließen lässt.15 Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch ein Unterschied zwischen den Preisen in den Umgebungen der Max-Schmeling-Halle und dem Velodrom Sportkomplex. Im zuletzt genannten Fall werden in unmittelbarer Nähe Preisaufschläge von bis zu 8% realisiert, die kontinuierlich mit zunehmender Entfernung abnehmen. Während die Preise in der Umgebung der MaxSchmeling-Halle in einer Entfernung von 1500–3000 Metern dem geschilderten Verlauf (bei absolut nur halb so hohen Werten) ähneln, sind in der unmittelbaren Nähe keine signifikanten Aufschläge messbar. Abbildung 1 illustriert den geschätzten prozentualen Einfluss von Velodrom und Max-SchmelingHalle auf die Grundstückspreise in der Umgebung.

15 Vgl. Gabriel M. Ahlfeldt/Wolfgang Maennig: »Impact of Sports Arenas on Land Values«. 233

GABRIEL M. AHLFELDT/WOLFGANG MAENNIG

Abb. 1: Geschätzter prozentualer Einfluss auf Immobilienpreise

Aus: Gabriel M. Ahlfeldt/Wolfgang Maennig: »Impact of Sports Arenas on Land Values«, S. 18.

Abb. 2: Geschätzter prozentualer Einfluss auf Immobilienpreise

Aus: Gabriel Ahlfeldt/Wolfgang Maennig: »Impact of Sports Arenas on Land Values«, S. 19.

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STADIONARCHITEKTUR UND STADTENTWICKLUNG

Dieses Muster wird von Ahlfeldt und Maennig auch in einer Studie bestätigt, welche die Entwicklung der Grundstückspreise in der Umgebung der Arenen im Zeitablauf vergleicht.16 In Abbildung 2 wird der geschätzte Einfluss in dreidimensionalem Raum dargestellt, um einen besseren räumlichen Eindruck zu vermitteln. Es ist deutlich erkennbar, dass in unmittelbarer Umgebung der Max-Schmeling-Halle relativ niedrigere Preise erzielt werden. In Anbetracht der ähnlichen Größen und Konzeptionen der Arenen könnten zunächst auch ähnliche Ausstrahlungseffekte erwartet werden. Allerdings mögen die (ähnlichen) positiven Impulse durch gegengerichtete Einflüsse, welche bei den Arenen unterschiedlich ausfallen mögen, insgesamt zu unterschiedlichen externen Gesamteffekten führen:17 Wie oben geschildert, wurden beide Sportkomplexe im Zuge der Bewerbung Berlins für die Olympischen Spiele 2000 entwickelt. Nach dem Scheitern der Bewerbung wurden Velodrom und Max-Schmeling-Halle als multifunktionale Sportarenen rekonzipiert, in denen ein breites Spektrum an Veranstaltungen durchgeführt werden kann. Während im Velodrom keine regelmäßigen Sportveranstaltungen stattfinden, dient die Max-Schmeling-Halle den Berliner Füchsen sowie AlbaBerlin als Heimspielstandort für Handball- bzw. Basketballspiele. Der regelmäßige ‚Besuch‘ (ungeliebter) Fangruppen bzw. deren negative externe Effekte kommen grundsätzlich als preismindernder Effekt in der Nähe der MaxSchmeling-Halle in Betracht. Zu diesen externen Effekten gehören nicht nur Geräusch- und andere Belästigungen durch Fans, sondern auch die Parkraumproblematik. Auf Grund der günstigen Verkehrsanbindung wurde ursprünglich davon ausgegangen, dass nahezu alle Besucher der Veranstaltungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen würden. Immerhin ist der Velodrom Sportkomplex unmittelbar an das S-Bahn- und Tram-Netz angeschlossen, während sich innerhalb von 800 Metern um die Max-Schmeling-Halle gleich fünf U-Bahn-, eine S-Bahn- und mehrere Tram-Stationen befinden. Dennoch kommt ein in Folge der Anwohnerbeschwerden in Auftrag gegebenes Gutachten zum Schluss, dass, abhängig von der Art der Veranstaltung, bis zu 60% der Zuschauer mit dem PKW anreisen. Da nach dem Scheitern der Bewerbung für die Olympischen Spiele aus Kostengründen auf ein Parkhaus für die Max-Schmeling-Halle verzichtet wurde, kommt es an Veranstaltungstagen zu einer erheblichen Parkproblematik in den angrenzenden Wohngebieten. Ein Neubau eines Parkhauses scheiterte bislang an der Finanzierbarkeit. Durch die entstandene Parkplatzproblematik wird die Gegend um die Max-Schmeling-Halle erheblich weniger attraktiv für PKW-Halter. Geht man 16 Vgl. Gabriel M. Ahlfeldt/Wolfgang Maennig: »Arenas, Arena Architecture and the Impact on Location Desirability«. 17 Vgl. George Galster/Peter Tatian/Kathryn Pettit: »Supportive Housing and Neighborhood Property Value Externalities«. In: Land Economics 1, 80 (2004), S. 33–54. 235

GABRIEL M. AHLFELDT/WOLFGANG MAENNIG

davon aus, dass die Anzahl der Fahrzeuge pro Haushalt mit dem Einkommen korreliert, sind davon insbesondere einkommensstärkere Schichten betroffen. Folglich lassen sich von Vermietern und Verkäufern auf den Märkten nur relativ geringere Preise durchsetzen. Tatsächlich zeigen Ahlfeldt und Maennig, dass die PKW-Dichte in der Umgebung der Max-Schmeling-Halle relativ zum Rest von Prenzlauer Berg seit 2000 um gut 30% abgenommen hat, während diese in Nähe zu Velodrom und Schwimmhalle relativ betrachtet nahezu unverändert blieb.18 Diese Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass positive Preiseffekte in der Umgebung der Max-Schmeling-Halle unter anderem durch die Folgen einer Fehleinschätzung hinsichtlich des Verkehrsverhaltens der Besucher neutralisiert werden. Dies verdeutlicht, dass, von der ästhetischen Komponente abgesehen, für eine gelungene städtebauliche Einbindung auch die negativen Folgen des Betriebs einer Großsportanlage für die Anwohner im Planungsprozess sorgfältig berücksichtigt werden müssen.

Zusammenfassung Eine Reihe von ökonometrischen Studien legt nahe, dass weder von großen Sportereignissen noch von den damit verbundenen Stadionneubauten erhebliche Einkommens- und Beschäftigungswirkungen auf Landes- oder Stadtebene zu erwarten sind. Hingegen deuten erste Ergebnisse darauf hin, dass Stadionneubauten durchaus ein probates Mittel sein können, um Stadtentwicklungspolitik auf Stadtteilebene durchzuführen. Dabei können entweder städtische Areale um einen Stadionneubau neu ausgerichtet werden oder Sportstätten in ein räumliches Konzept eingebettet werden, das sich komplementär zu den bestehenden Strukturen verhält. Allerdings muss dafür erstens der Standort überhaupt geeignet sein, um Interaktion mit gebauter Umwelt zu ermöglichen, zweitens muss die übliche, von betriebswirtschaftlichen Zwängen geprägte Investorenarchitektur überwunden und in Richtung einer stadtraumorientierten Architektur abgelöst werden. Derzeit erlebt die internationale Stadionarchitektur einen deutlichen Bedeutungsgewinn. International renommierte Architekten werden rund um die Welt beauftragt, um aus Stadien unverwechselbare Wahrzeichen für ihre Städte zu formen, so wie es bislang vor allem für repräsentative Kulturprojekte typisch war. Ikonische Formen sollen für internationale Aufmerksamkeit sorgen und so den Städten im internationalen Wettbewerb um Tourismus einen Vorteil verschaffen. Selbst im Rahmen vorsichtiger, umgebungsorientierter Architektur-Strategien lassen sich ikonische Elemente einbringen.

18 Vgl. Gabriel M. Ahlfeldt/Wolfgang Maennig: »Arenas, Arena Architecture and the Impact on Location Desirability«. 236

STADIONARCHITEKTUR UND STADTENTWICKLUNG

Um erhöhte Ausgaben in unkonventionelle Architektur auch ökonomisch rechtfertigen zu können, muss nachgewiesen werden, dass Investitionen in gebaute Umwelt nicht nur eine betriebswirtschaftliche Dimension haben, sondern auch positive externe Effekte auf die Umgebung induzieren. Die Empirie steht hier noch am Anfang. Erste Ergebnisse sprechen aber eine durchaus positive Sprache und zeigen, dass die gebaute Umwelt von Marktteilnehmern als signifikante Wertdeterminante wahrgenommen wird. Die Berliner „Olympiahallen“ belegen, dass Sportarenen, wenn sie architektonisch anspruchsvoll gestaltet sind und ihre Umgebung in ein städtebauliches Konzept einbeziehen, zu einer Erhöhung der Attraktivität des umgebenden Raumes beitragen können. Um aus ökonomischer Sicht Aussagen darüber zu treffen, welche städtebauliche Maßnahmen gepaart mit welchen formalen Ansätzen die größten Ausstrahlungseffekte erwarten lassen, liegen jedoch noch zu wenige Erkenntnisse vor. Hierzu müsste noch eine größere Zahl von geeigneten Neubauprojekten empirisch untersucht werden. Auf gesamtstädtischer Ebene dürfte ein erhöhtes Massentourismussaufkommen am ehesten durch ikonische Bauwerke erzielt werden, selbst wenn ein kleiner Kreis passionierter Architekturtouristen auch für andere Formen unkonventioneller Stadionarchitektur empfänglich sein dürfte. Auch hierbei ist der empirische Nachweis jedoch erst noch zu erbringen. Klar ist, dass Monolithen im urbanen Niemandsland keine Ausstrahlungseffekte auf ihre Umgebung haben können, weil es diese Umgebung nicht gibt. Während rückblickend, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit der WM 2006 eine große Chance verpasst wurde, ikonische Bauwerke zu errichten, haben die südafrikanischen Städte, in denen für die Fußball-WM 2010 neue Stadien gebaut werden sollen, ihre Chancen erkannt. Teilweise unter direkter Verwendung des Begriffes „ikonisch“, teilweise unter verbaler Umschreibung sahen ihre internationalen Ausschreibungen explizit vor, dass die Architektur so angelegt sein müsse, dass sie internationale Aufmerksamkeit erregen oder als Ankerbauwerke die städtebauliche Erschließung bislang unterentwickelter städtischer Areale fördern sollen. Auch wenn der Wandel im Verständnis von Stadionarchitektur gerade eingesetzt hat, wird es noch seine Zeit dauern, bis die Skepsis von Anwohnern gegenüber benachbarten Sportstätten nachlässt.

237

GABRIEL M. AHLFELDT/WOLFGANG MAENNIG

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STADIONARCHITEKTUR UND STADTENTWICKLUNG

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Huma nök ologisc he Sportstätte npla nung. Überlegungen zur ökologischen Nachhaltigkeit von Sporträ ume n JOHANNES VERCH

T r a d i t i o n e l l e S p o r t r ä u m e a l s S ym b o l e e i n e r M a c h b a r k e i t vo n N a t u r Andreas Trebels hat einmal einen 100m-Lauf mit einem laborwissenschaftlichen Experiment, namentlich einer Druckprobe für Beton verglichen:1 DINNormen bewirken die Formierung der Natur auf eine geradlinige Ausrichtung des Raumes hin, in dem der sieg- und rekordgetriebene Athlet ein Produkt herstellen will und soll. Einem Projektil gleich schießt der Athlet aus dem Startblock und beschleunigt maximal. So konstruiert er einen Handlungsraum, der sehr eindimensional techno-logische Raumqualitäten favorisiert und andere mögliche Naturqualitäten und -wahrnehmungen ausblendet. Diese höchstsportlichen, expansiven Maximen bewirken für die entsprechenden Sportstätten eine Separation vom sonstigen Leben, von der sozialen wie natürlichen Umwelt. Sie werden gegen ihre Umwelt gepanzert, technische Messeinrichtungen werden eingebaut, Standardisierungen zugunsten einer universellen Wiederholbarkeit vorgenommen. Man „könnte demgemäß die Sportwelt“ und ihre Räume, so resümiert Trebels, „als eine durch Zahlenwerte bestimmte Weltordnung begreifen.“2 Unter weitgehendem Ausschluss aller natürlichen ‚Störgrößen‘ (‚Windlimit‘, so lautet das – hier noch zugespitzte – implizite Credo dieses 100mExperiments, und unter Inanspruchnahme aller technischen und menschlichen 1

2

Vgl. Andreas H. Trebels: »Die sportliche Bewegungskultur und ihre Beziehung zur Natur«. In: Ralf Erdmann (Hg.), Alte Fragen neu gestellt. Anmerkungen zu einer zeitgemäßen Sportdidaktik, Schorndorf: Hofmann 1992, S. 81–96. Vgl. ebd., S. 84. 241

JOHANNES VERCH

Ressourcen auf eine eindimensional ausgerichtete Perspektive hin lässt sich die äußere Natur für solch technologische Zwecke der modernen Bewegungskultur ‚machen‘ und beherrschen. Dieses sportsozialisatorisch spezifische, habituell fest verankerte und normalisierte Wissen der Raumnutzenden wiederum bestimmt und verhilft ihnen zur gewohnten, sicheren Nutzung und Interpretation des sportiven Raumes. Wo doch Unsicherheiten auftreten, stehen Platzwarte bereit, die das Einhalten der Nutzungszeiten und der sportlich vorgeschriebenen Nutzungsweise überwachen und Abweichungen sanktionieren.

Versprechen einer offeneren, (human-) ökologischen Sportstättenplanung und - architektur In die Debatte hat, vom Ende der sechziger Jahre an, eine dekonstruktivistische Perspektive Eingang gefunden, die sich mit der tradierten Sportarchitektur und deren Auffassungen kritisch auseinandersetzte. Ein idealtypischer, kontrastierender Vergleich von Gestaltungs- und Strukturmerkmalen traditioneller und offenerer Sportstätten kann das veranschaulichen: Tab. 1: Vergleich Sportarchitektur und Bewegungsräume3 Traditionelle Sportarchitektur

Offenere Bewegungsräume

technologische Strukturen von Raum offenere, vielfältige, auch wider-

3

und Zeit

sprüchliche Struktur von Raum und Zeit

Bewegungshandlungen nach Erfolg/ Misserfolg bzw. Rekord bewertet

subjektiv und sozial bedeutsame Bewegungshandlungen

eindimensionale sportliche Nutzung, Monofunktionalität

flexible Nutzungsüberlagerungen

separierte Nutzung

flexible Nutzungsüberlagerungen

sportlich relativ fest strukturierte Inhalte

offenere Bewegungs- und Erfahrungsinhalte

kontinuierliche Aktivität

Pause, Aufenthalt-/Aktivitätswechsel

Diese Auflistung verdankt sich einer Synopse von verschiedenen sportarchitektonischen Beiträgen seit Mitte der siebziger Jahre, insbesondere von Autoren wie Jürgen Koch, Jürgen Dieckert (vgl. beispielsweise die Literaturverweise in FN 6, 7, 17, 19), Henning Eichberg (vgl. FN 27), Christian Wopp (vgl. FN 31) oder auch Jürgen Koch: Zukunftsorientierte Sportstättenentwicklung, Bd. 10, Aachen: Meyer & Meyer 2001.

242

HUMANÖKOLOGISCHE SPORTSTÄTTENPLANUNG

festes Sportarrangement

fließender Angebots-, Milieu- und Szeneneriewechsel

Zuschauerkulissenbedarf für die Akteure

Wechsel vom Zuschauenden zum Handelnden

Unveränderbarkeit

Veränderbarkeit nach Wetter, Jahreszeit, Neigung und Aktionsideen

Schablone, invariable Zielfunktion

innen u. außen variabel, entwickelbar

sportfunktionale, monotone Gestaltung

Vielgestaltigkeit (Form, Material, Farbe)

technologische Ausstrahlung und Konstruktion/Konstruktion abstrakt, unverständlich

Organhaftigkeit von Baumaterial und Konstruktion (Ziegelmauer-, Holzskelettbau, Deckengeflecht), Offensichtlichkeit

Trennung Innen/Außen

Verflechtung Innen/Außen

(mono)funktionale Raumqualitäten

verschiedene Raumqualitäten (so auch ‚Geborgenheit‘, ‚Freiheit‘, ‚Behaglichkeit‘), rhythmischer Wechsel der Raumqualitäten

funktionale, monotone Ausleuchtung

dynamische Raumausleuchtung (auch Tageslicht-, Punktquelle usw.)

Sauberkeit, Hygiene, Sterilität, Metall, Ordnung

Lebendigkeit, Holz, Chaos, Zufall

Künstlichkeit/künstl. Produktbeschaffen- Naturbezogenheit, Kontraste, Temheit, monotones Raummilieu; Erwärmung peraturwechsel, Bepflanzung, Tagestechnologisch licht; Lichtquellen und Erwärmung nach humanökologischen Kriterien (Naturrhythmen, Zonierungen) Umweltumbau für den Sport, Ressource/Kulisse des Sports, Umweltzerstörung

Einpassung in die Natur, Biotopfunktion, ökologische Materialien und organische Bauweisen, Nachhaltigkeitsprinzipien

ökologische, soziale, gesellschaftliche Kosten externalisiert

ökologische gesellschaftliche, soziale Kosten internalisiert

Sinne auf Sportfunktion gerichtet

Sinneserfahrung als auch Selbstzweck, ästhetische Vielfalt, Fremdheit, Kontingenz

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JOHANNES VERCH

Panzerung von Anlage und Körper, Geschlossenheit

Öffnung der Anlagen und Atmosphären für die individuelle Leiblichkeit

technologische Raumgrenzen (Gitter, Zäune)

körperhafte Gestaltung von Raumgrenzen (Tast/Reibungsflächen, Vorsprünge, Überlappungen usw.)

Isolation/Separation der Anlage

Lebens-, Sozial-, Landschaftsintegration

global-normierte, abstrakte Anlagen und Geräte

regionalkulturell unverwechselbare Anlagen und Geräte

hochtechnologische, mediengerechte Ausstattung, großkomplexe Panoptik, Kontrolle durch Nichtakteure, Aufsicht, Fremdvergabe (Hallenwart)

technologisch einfach, aber vielfältig, Kleinvielfalt möglich, Anonymität durch Ecken, Ruhezonen, Raumnutzung offen, Rückzug möglich (Eigenabsprachen)

Schwellenängste der NutzerInnen

psychosoziale Offenheit der Räume

funktionelles Gesundheitsversprechen

eher holistische Gesundheitsgelegenheit

isolierte Experten- und Richtwertplanung, Planung/Nutzung, Sportstättenentnach DIN-Normen wicklung lokalpartizipatorisch, integrativ

‚gender-neutral‘ (d.h. männlichen Konstruktionsprinzipien nahestehend)

‚gender-differenzierte‘ bzw. vielfaltsorientierte Architektur

Insbesondere diejenigen Konzeptionen, die als Antwort auf die „megalopolitären“4 Tendenzen lebensweltlich-milieuverträgliche, stadtkulturelle Lösungen suchen,5 orientieren sich eher an offeneren Gestaltungskriterien. Vielleicht lassen sich diese Auffassungen hier, d.h. für den Diskurs zu einer umfassend nachhaltigen Sport(raum)kultur, Sport(stätten)entwicklung und -planung, näherungsweise unter dem Etikett der ‚Humanökologie‘ fassen. Einzelne, symptombezogene, ökologische Parameter bilden dann nur ein Kriterium für Umweltkonflikte, die von Sporträumen und -anlagen ausgehen können und stellen nur einen Ansatzpunkt für deren Bewältigung dar. Ein ökologischer Optimierungsansatz (z.B. im Sinne einer Steigerung von Energie4 5

Vgl. Lewis Mumford: Megalopolis. Gesicht und Seele der Großstadt, Wiesbaden: Bauverlag 1951. Vgl. Gabriele Berg/Jürgen Koch: »Der Sport im Rahmen zukünftiger Stadtentwicklung – Leitideen, Entwicklungsszenarien und Strategiekonzepte«. In: Christian Wopp (Hg.), Die Zukunft des Sports in Vereinen, Hochschulen und Städten, Aachen: Meyer & Meyer 1996, S. 161.

244

HUMANÖKOLOGISCHE SPORTSTÄTTENPLANUNG

effizienzen) erfährt im Sinne der Humanökologie eine Erweiterung dahingehend, dass die komplexen Bedürfnisstrukturen und Handlungsweisen der Menschen in ihrer Vielfalt unter möglichst nachhaltigen Leitsätzen in das planerische und konzeptionelle Blickfeld mit einbezogen werden.6 Bewegungsbezogene Raumperspektiven könnte man dann humanökologisch nennen, wenn sie sich auf eine vielgestaltige und mit vielen Bedeutungen belegbare, bewegte Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt beziehen und zugleich der Nachhaltigkeit verpflichtet sind. Aus dieser Sichtweise, die dann zu entsprechenden Formen von Vielfalt, Offenheit und Kreativität in der (Stadt- und) Sportarchitektur führen kann,7 lässt sich, so hofft diese Position, wie sie in verschiedenen Facetten innerhalb des (öko-)pädagogischen Diskurses in Sport und Gesellschaft vertreten wird, womöglich die Herkunft eines anderen, offeneren, veränderbaren Naturverständnisses und -verhältnisses herbeiführen – bezogen auf die eigene Leibnatur, die äußere Natur und die zweite, die ‚gesellschaftliche Natur‘.

Grundlagen für eine nachhaltigere Sportraumu n d B ew e g u n g s k u l t u r Unter dem human und allemal versöhnend klingenden Etikett Nachhaltigkeit ist mittlerweile nahezu alles, was die spätmoderne Welt an Problemen und Sehnsüchten bereithält, verhandelt worden.8 Insofern sei hier an die ökologischen, sozialen, ökonomischen Kernanliegen erinnert, um die es in unserem Zusammenhang geht (s. Tab. 1).9 Gerhard de Haan und Udo Kuckartz beschreiben dies folgendermaßen:

6

7

8 9

Vgl. Jürgen Koch/Jürgen Dieckert/Ralf Thielebein-Pohl: Zukunftsmodell TurnMehrzweckhallen. Orientierungshandbuch für eine nachhaltige Sporthallenentwicklung, München: DGfH Innovations- und Service GmbH 2003, S. 14. Vgl. Jürgen Koch: »Humanökologische Spiel- und Sportstättenplanung zwischen Vision und Wirklichkeit«. In: DSB (Hg.), Ökologische Zukunft des Sports. Dokumentation des Symposiums „Ökologische Zukunft des Sports“ am 23. und 24. September 1993 in Sundern/Altenhellefeld, Frankfurt a. M.: Deutscher Sportbund 1994, S. 22–26. Vgl. Armin Grunwald/Jürgen Kopfmüller: Nachhaltigkeit, Frankfurt a. M: Campus 2006, S. 10, 66, 156f. Vgl. Gerhard de Haan/Udo Kuckartz. Umweltbewusstsein. Denken und Handeln in Umweltkrisen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 273; Umweltbundesamt (UBA) (Hg.): Nachhaltige Entwicklung in Deutschland. Die Zukunft dauerhaft umweltgerecht gestalten, Berlin: Erich Schmidt 2002, S. 29; Sven Güldenpfennig: »Die vier Seiten der Nachhaltigkeit von Sportstätten«. In: Martin-Peter Büch/Hans-Jürgen Schulke (Hg.), Nachhaltigkeit von Sportstätten, Köln: Sport und Buch Strauss 2003, S. 90ff.; Armin Grunwald/Jürgen Kopfmüller: Nachhaltigkeit, S. 42. 245

JOHANNES VERCH

„Eine zukunftsfähige Entwicklung folgt zur Seite der Menschen wie zur Seite der Natur hin jeweils drei Maximen. Zur Seite der Menschen hin: • Gleiche Lebensansprüche für alle Menschen (internationale Gerechtigkeit) • Gleiche Lebensansprüche auch für künftige Generationen • Gestaltung des einer Nation zur unter diesen Prämissen zur Verfügung stehenden Umweltraums auf der Basis von Partizipation der Bürger Zur Seite der Natur hin: • Die Nutzung einer Ressource darf nicht größer sein als die Regenerationsrate. Das heißt etwa: Die Nutz- und Einschlagmenge an Holz in Europa sollte nicht über der dort jährlich nachwachsenden Menge liegen. • Die Freisetzung von Stoffen darf nicht größer sein als die Aufnahmefähigkeit (critical leads) der Umwelt. Dies ist besonders wichtig, da die Knappheit der Tragfähigkeit (carrying capacity) der Ökosysteme größer zu sein scheint als die Knappheit der Ressourcen. • Nicht erneuerbare Ressourcen sollen nur in dem Maße genutzt werden, wie auf der Ebene der erneuerbaren Ressourcen solche nachwachsen, die anstelle der nicht erneuerbaren in Zukunft genutzt werden können. Das ist die sogenannte „Hartwick-Regel“: Teile der Erlöse aus der Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen sollten in die Forschung für erneuerbare Substitute investiert werden.“10 Zudem muss erneut auch auf die ökologischen Maßstäbe eines (eher „starken“11) nachhaltigen Handelns hingewiesen werden, um an die Dimensionen des kulturellen Handlungsgebotes zu erinnern.12 Es geht dabei auf längere Sicht immerhin um Ressourcen- und Emissionseinsparungen im Bereich von 60–90%, die vonnöten wären, um unsere westlich geprägte Kultur nachhaltig(er) zu gestalten (s. Tab. 2).

10 Gerhard de Haan/Udo Kuckartz: Umweltbewusstsein, S. 273 11 Vgl. Konrad Ott/Ralf Döring: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. Marburg: Metropolis 2004; Ralf Döring u.a.: »Die ethische Idee der Nachhaltigkeit und ihre Kommunikation«. In: Gerd Michelsen/Jasmin Godemann (Hg.), Handbuch Nachhaltigkeitskommunikation. Grundlagen und Praxis, (2. aktual. und überarb. Aufl.), München: oekom 2007, S. 101–105. 12 Vgl. BUND/Misereor (Hg.), Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung. Studie des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt, Energie GmbH, (4., überarb. und erw. Aufl.), Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser 1997, S. 80; Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie: Fair Future. Ein Report des Wuppertaler Instituts, München: Beck 2005. 246

HUMANÖKOLOGISCHE SPORTSTÄTTENPLANUNG

Tab. 2: Umweltpolitische Ziele eines zukunftsfähigen Deutschlands Umweltindikator kurzfristig (2010) Ressourcenentnahme Energie Primärenergieverbrauch Fossile Brennstoffe Kernenergie Erneuerbare Energien Energieproduktivität1 Material Nicht erneuerbare Rohstoffe Materialproduktivität2 Fläche Siedlungs- und Verkehrsfläche Landwirtschaft

Waldwirtschaft

Stoffabgaben/Emissionen Kohlendioxid (CO2) Schwefeldioxid (SO2) Stickoxide (NOx) Ammoniak (NH3) Flüchtige anorganische Verbindungen (VOC) Synthetischer Stickstoffdünger Biozide in der Landwirtschaft Bodenerosion

Umweltziel langfristig (2050)

mindestens –30% -25% -100% +3 bis 5% pro Jahr +3 bis 5% pro Jahr

mindestens –50% -80% bis 90%

-25%

-80 bis 90%

+4 bis 6% pro Jahr* • absolute Stabilisierung • jährl. Neubelegung -10% • flächendeckende Umstellung auf ökologischen Landbau • Regionalisierung der Nährstoffkreisläufe • flächendeckende Umstellung auf naturnahen Waldbau • verstärkte Nutzung heimischer Hölzer -35% -80 bis 90% -80% bis 2005 -80 bis 90% -80% bis 2005

-80 bis 90%

-100% -100% -80 bis 90%

247

JOHANNES VERCH 1

Verhältnis von Brutto-Inlandsprodukt (preisbereinigt) und Primärenergieverbrauch Verhältnis von Brutto-Inlandsprodukt (preisbereinigt) und Verbrauch nicht erneuerbarer Primärmaterialien. * bei jährlichen Wachstumsraten des Brutto-Inlandsproduktes von 2,5%. Allerdings ist zu betonen, dass die Erreichung der langfristigen Umweltziele bei anhaltendem Wirtschaftswachstum nicht gelingen kann. 2

Aus: BUND/Misereor: Zukunftsfähiges Deutschland, S. 80; (ergänzt durch Verf.)

Mit einer entsprechend unabdingbaren Effizienzverbesserung im Bereich der Sport(stätten)entwicklung (Energie, Ressourcen, Nutzungsumfänge usw.13) einher ginge demzufolge eine Notwendigkeit zur Veränderung bzw. Abrüstung bedürfniskultureller und lebensstilistischer Muster,14 um solche Handlungsziele ernsthaft anstreben zu können.15 Im Nachhaltigkeitsdiskurs wird dies gemeinhin als „Suffizienzrevolution“ bezeichnet, welche m.E. auch für den Bereich von Sport und Bewegungskultur hohe Bedeutung besitzt.16 Eine humanökologische Sichtweise von Sport- und Bewegungsräumen im Sinne von Effizienz und Suffizienz versucht also, die übergreifenden Anforderungen des Natur- und Umweltschutzes mit den menschlichen Bedürfnissen und sportspezifischen Projektzielen in Einklang zu bringen. Damit sind Anforderungen an eine integrale Leib-, Gesundheits- und v.a. Umweltpolitik

13 Vgl. Konrad Ott: »Bauliche Ausgestaltung bedarfsgerechter Anlageeinheiten aus Sportstättenentwicklungsplanungen«. In: BISP (Hg.), Bad Blankenburger Sportstättentagung 2005. Sporthallen Sporträume Bäder Sportplätze, Bonn: BISP 2005, S. 32. 14 Diese Formulierung klingt viel schlüssiger, als sie sich hinsichtlich ihrer Umsetzung in der Praxis erweist bzw. erweisen dürfte. Bereits die soziologische Kategorie der „Lebensstile“ beinhaltet methodologische und (nicht zuletzt aufgrund der starken warenstrukturellen Anbindung) realpolitische Fallstricke hinsichtlich etwaiger Veränderungspotentiale, vgl. Hellmuth Lange: »Lebensstile – Der sanfte Weg zu mehr Nachhaltigkeit?«. In: Gerd Michelsen/Jasmin Godemann (Hg.), Handbuch Nachhaltigkeitskommunikation. Grundlagen und Praxis (2. aktual. und überarb. Aufl.), München: oekom 2007, S. 166 ff. 15 Vgl. UBA: Nachhaltige Entwicklung, S. 446–463; Gerd Michelsen: »Nachhaltigkeitskommunikation: Verständnis – Entwicklung – Perspektiven«. In: Gerd Michelsen/Jasmin Godemann (Hg.), Handbuch Nachhaltigkeitskommunikation. S. 34f. 16 Vgl. Johannes Verch: Die versportlichte Technologiegesellschaft als Umweltproblem. Das Naturverhältnis eines aufstrebenden Kulturphänomens und seine Zusammenhänge zu Umwelt, Ökologie, Nachhaltigkeit und Globalisierung (2 Bände), Berlin: Sand + Soda 2007, S. 910 ff.; Armin Grunwald/Jürgen Kopfmüller: Nachhaltigkeit, S. 74 ff. 248

HUMANÖKOLOGISCHE SPORTSTÄTTENPLANUNG

(und ggf. -erziehung) impliziert, die die Stadt- und Sport(stätten)entwicklung ganz wesentlich berühren werden.17 Zum einen könnten Sporträume über Fragen der Energieeffizienz und der Ressourcenschonung hinaus dank einer (human-)ökologischen Gestaltung direkt auch Biotopfunktionen und -erlebnisse bereithalten. Koch/Meyer-Buck haben hierzu einen Band im Rahmen der Reihe „Zukunftorientierte Sportstättenentwicklung“ mit dem Titel „Naturnahe Gestaltung von Spiel- und Sportanlagen“ (1997) vorgelegt. Nahezu ausschließlich wettkampfgerechte Sportplätzen lassen sich zu offenen, ökologisch orientierten Bewegungslandschaften umgestalten.18 Zum anderen ergibt sich von daher notwendigerweise auch ein Blick auf weitere stadtsoziologische Bezüge, nicht zuletzt weil diese spezifisch postmoderne Bedürfniskulturen mit bedingen. Wer etwas bedürfniskulturell Nachhaltiges gegen die extrem-, kick- und thrillsportliche, ferntouristische Massenkolonialisierung verbliebener Wildnisräume19 unternehmen will, wird nicht umhin kommen, insbesondere die sinnliche Vielfalt von städtischen Lebenswelten, Sport- und Bewegungskulturen zu fördern. Zahlreiche, natur- und sinnenreiche Bewegungsräume des Alltags anstelle ausschließlich formaler Sportarchitektur könnten als Gelegenheiten einer neuartigen und vielfältigen (Wieder-)Aneignung von Umwelten, Stadt- und Bewegungsräumen dienen. Neben also möglichst humanökologisch orientierten Sporthallen und -anlagen könnten so in entsprechenden Leitzielen und Empfehlungen der Sport(stätten)entwicklungsplanung z.B. die bewegungsfreundliche und naturnahe Rückerschließung parzellierter Landschafts-, Stadt- und Bausubstanz eine Rolle spielen.20 Grüngürtel als ästhetische Lerngelegenheiten, Fuß- und Radwege in und durch wohn- und naturnahes Grün als Räume der Sinneserfahrung,21 die Rückeroberung der Straße für Spiel und Sport, sowie die Umwandlungen von monotonen Spielplätzen, Rück- und Umbaumaßnahmen bei Sportanlagen (z. 17 Vgl. Johannes Verch: »Das kulturelle Leitbild von „Nachhaltigkeit“ (Sustainable Development) – Facetten eines kreativen Wandels von Sport und Bewegungskultur«. In: Anna Hogenová/Janina Moskalová (Hg.), Pohyb ve výchove, umení a sportu, Praha: Univerzita Karlova 2005, S. 210–225. 18 Vgl. Jürgen Koch/Hartmuth Meyer-Buck: Naturnahe Gestaltung von Spiel- und Sportanlagen. Planungsbeispiele für Schule, Freizeit und Verein, Berlin/Frankfurt a. M.: Meyer & Meyer 1997; vgl. ebd., S. 4 f. 19 Vgl. Horst W. Opaschowski: Xtrem. Der kalkulierte Wahnsinn. Extremsport als Zeitphänomen, Hamburg: Germa Press 2000; UBA: Nachhaltige Entwicklung, S. 258. 20 Vgl. Jürgen Koch: »Rückbau als Entwicklungschance für den Spiel- und Sportstättenbau«. In: DSB (Hg.), Sport und Bewegung in der Stadt. Dokumentation des 2. Symposiums zur ökologischen Zukunft des Sports vom 26.–27. September 1994 in Sundern/Altenhellenfeld, Frankfurt a. M.: DSB 1995, S. 61–65. 21 Vgl. Konrad Ott: Bauliche Ausgestaltung, S. 27. 249

JOHANNES VERCH

B. Leichtathletik‚kampfbahnen‘) sowie die Widmung von Bauparzellen zugunsten von (potenziellen) Spiel-, Biotop- und Bewegungsarealen22 könnten offenere Gelegenheiten und Milieus herstellen.23 Denn in einem solchen, offeneren, ästhetisch-bewegungskulturellen Raum bezug wohnt die Chance zu einer vielfältigeren, umfassenderen, qualitativ andersartigen Begegnung, einer Differenzerfahrung gegenüber den ansonsten eher vorrangig technologischen Wahrnehmungsroutinen in Sport und Gesellschaft, die uns immer wieder zu einem eher sehr herrschaftlichen Naturverhältnis anstiften. Eine vielfältigere sinnenbezogene, leibliche Auseinandersetzung mit der Welt ermöglicht ggf. Irritationen, Problematisierungen, Brüche und neue Reflexionen,24 neuartige Mensch-Welt-Beziehungen. Aus diesen Erfahrungen von Andersartigkeit, so die Hoffnung des ökopädagogischen Diskurses mögen sich langfristig auch andere, nachhaltigere Zugänge zu Raum, Zeit, Natur und Gesellschaft ergeben. Insofern könnte Bewegung und Sport ein viel bedeutsamerer Anteil an einer „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zukommen, als ihnen bisher in diesem reflexiven Konzept,25 zumindest explizit, zugestanden wird. Ebenso lassen sich unter den Stichwörtern von Differenz- und Vielheitserfahrungen Aspekte der Genderforschung und -politik anschließen. Geschlechtspolitische Dimensionen im Sportstättenbau sind bisher kaum weitergehend analysiert und formuliert worden.26 Die Prinzipien des traditionellen, eher technologischen Sportstättenbaues darf man eher als männlich-diskursiv bzw. geschlechter-hegemonial konstruiert bezeichnen. Dagegen könnten aus der Differenz der Geschlechterperspektiven andere Hypothesen, Prinzipien und Anliegen für eine nachhaltigere Sport(stätten)entwicklung bzw. ihre Planung hinzutreten und diese prägen.

22 Vgl. Jürgen Koch, Rückbau als Entwicklungschance, S. 61 ff. 23 Vgl. Armin Grunwald/Jürgen Kopfmüller: Nachhaltigkeit, S. 12, 40 f. 24 Vgl. Elk Franke: »Körperliche Erkenntnis – Die andere Vernunft«. In: Jörg Bietz /Ralf Laging/Monika Roscher (Hg.), Bildungstheoretische Grundlagen der Bewegungs- und Sportpädagogik, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2005, S. 180–201. 25 Vgl. Gerhard de Haan: »Bildung für eine nachhaltige Entwicklung als Voraussetzung für gesellschaftlichen Wandel«. In: Luca di Blasi/Bernd Goebel/Vittorio Hösle (Hg.), Nachhaltigkeit in der Ökologie. Wege in eine zukunftsfähige Welt, München: Beck 2001, S. 184–208; Gerhard de Haan: »Die Kernthemen der Bildung für nachhaltige Entwicklung«. In: Zeitschrift für Entwicklungspädagogik 1 (2002) S. 13–20; Dietmar Bolscho: »Der Beitrag der Erziehungswissenschaften für die Nachhaltigkeitskommunikation«. In: Gerd Michelsen/Jasmin Godemann (Hg.), Handbuch Nachhaltigkeitskommunikation, S. 143–150. 26 Vgl. Stefan Eckl/Petra Gieß-Stüber/Jörg Wetterich: Kommunale Sportentwicklungsplanung und Gender Mainstreaming, Münster: Lit 2005; Angelika Staudinger: Gender Mainstreaming in der Sportstättenplanung. Internes und unveröffentlichtes Arbeitspapier des LSB Berlin, Berlin 2005. 250

HUMANÖKOLOGISCHE SPORTSTÄTTENPLANUNG

Geschlechterheterogene Bauprinzipien könnten eher • narrativ, holistisch und komplex als vorrangig spezialisiert und eindimensional ausgerichtet zur Entfaltung kommen; • dem Prinzip der Veränderbarkeit als der definitiven Festschreibung folgen; • sich an Leitgedanken organischer Ordnung orientieren anstatt abstrakt zu systematisieren; • innere, vielfältige, veränderbare Zusammenhänge der Nutzung prägen als die Repräsentation nach außen zum Ziel erklären; • dem Prinzip langsamen Wachstums folgen als demjenigen der schnellen Konstruktion, welches oftmals zudem noch eine anonyme Architektur hervorbringt, die sich als ein Monument des Machers behaupten will; • alternative räumliche Konfigurationen hervorbringen (Kreis, Ellipse, Oval, Halbkreis, Spirale) anstelle von vorrangig geraden Linien und rechten Winkeln (linearen Raumsymbolisierungen); • die Kreisformen des Raumes der geometrisch-abstrakten herrschaftlichen Ordnung des sportlichen Panoptikons (mit seiner zentralen Blickperspektive); • die krumme Linie und unüberschaubare Struktur, ein lebendiges Chaos der höchstsportlichen Ordnung gegenüberstellen.27 Betrachtet man diese gender inspirierten Prinzipien im Zusammenhang mit den zuvor erläuterten Gedanken zur Nachhaltigkeit von Sportanlagen und Bewegungsräumen, so könnte man etwas plakativ von einem „Gender greenstreaming“ als einem möglichen Leitbild sprechen.

Empfehlungen Als Konsequenz aus den diskutierten Thesen sollten sich Sport- und Bewegungsstätten orientieren an: • sozial- wie ökologisch-nachhaltigen bzw. humanökologischen Prinzipien; • Prinzipien der Öffnung von Sportstätten zu Bewegungsräumen und – gelegenheiten; • Kriterien von Veränderbarkeit, Entwicklungsfähigkeit, Differenz, Vielgestaltigkeit und Nutzungsvielfalt;

27 Vgl. Henning Eichberg: Leistungsräume. Sport als Umweltproblem, Münster: Lit 1988, S. 45ff. 251

JOHANNES VERCH

• effizienz- und suffizienzkulturellen ökologischen Optionen (Energioptimierung und sportbezogener Bedürfniskulturwandel von Räumen, Inszenierungen und Praktiken); • Biotopfunktionen, Biotopvielfalt und landschaftsökologischen Potenzialen; • einem hohen ästhetischen Erfahrungspotenzial; • an einer Vielfalt der Naturerfahrung von äußerer wie eigener Natur28; • Merkmalen und Prozessen von Gender-Vielfalt und Gender greenstreaming. Bei aller Euphorie, die sich dank solcher tugendhaften Begriffe wie ‚Nachhaltigkeit‘ ‚Vielfalt‘ ‚Nutzungsheterogenität‘ ‚Veränderbarkeit‘ oder ähnlichen dynamisierenden Begriffen einstellen mag, bleibt jedoch Wachsamkeit geboten. Zum einen könnte sich bei der konkreten Planung, Konzeption und Ausgestaltung von Sporträumen die Spannweite dessen, was sich unter diesen Begriffen noch tragen lässt, als erheblich, wenn nicht gar beliebig, erweisen. Zum anderen ist mit Hilfe solcher Strukturkriterien für Sporträume und stätten noch keineswegs geklärt oder nahegelegt, dass damit zugleich auch nachhaltigere Formen im Naturverhältnis von Bewegungskultur, Sport- und letztlich auch Stadtentwicklung angestoßen sind. Denn es könnte ja immerhin sein, dass die neuen, ‚humanökologisch‘ legitimierten, Hallen und Sportstätten sich weniger einer Suche nach ökologischeren Körper- und Naturbegriffen und -verhältnissen verdanken als angenommen. Womöglich sind diese so sympathischen Sportstätten vorrangig selbst lediglich Ausdruck einer hochenergetischen Informationsgesellschaft, die anhand genau solcher Begriffe den „flexiblen Menschen“29 organisiert, der abseits aller Ökologiebeschwörung doch nur eine brauchbare Ressource für das Wirtschaften der „Neuen Ökonomie“ abgeben soll. Denn warum sollte die ‚post‘industrielle, digitale Erfolgsgesellschaft, die die Natur vollends kolonialisiert hat, ihre Körperkultur in derselben Sportumwelt entfalten, wie die traditionelle Fabrikgesellschaft? Zumindest könnten offenere Anlagen und Räume Appetit auf ein Anderes und ein Mehr machen, vielfältigere Bewegungsanlässe und -bewusstheiten im Verhältnis des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt und körperlichen Natur stiften. Spiel- und Bewegungsstätten des Alltags und optimale Ausnutzung bzw. Umnutzung sowie Umgestaltung von vorhandenen Sportstätten kämen diesem Anliegen erheblich näher als ein massiver Neubau anhand olympischer Normen oder gar in Form von Großhallenprojekten, die sich zudem

28 Vgl. ebd., S. 42ff. 29 Richard Sennett: Der flexible Mensch. 7. Aufl., Berlin: Berlin 2000. 252

HUMANÖKOLOGISCHE SPORTSTÄTTENPLANUNG

noch untereinander die Zuschauermengen wegschöpfen.30 Rechtliche, finanzielle und konzeptionelle Instrumente und Maßnahmen der Sportförderung wie die Ausrichtung entsprechender Förderungsprogramme des Vereinsbaus auf mehrdimensionale, offenere Architekturprinzipien gemäß der Leitvorstellung von Nachhaltigkeit könnten zu einer solchen Vision ebenso gehören31 wie die Erweiterung etwaiger Sportanlagensanierungsprogramme im Hinblick auf Umbau-, Rückbau-, Öffnungsmöglichkeiten und (human-)ökologische Zielstellungen, welche dort (so z.B. in Berlin) bisher kaum möglich sind.

Literatur Berg, Gabriele/Koch, Jürgen: »Der Sport im Rahmen zukünftiger Stadtentwicklung-Leitideen, Entwicklungsszenarien und Strategiekonzepte«. In Christian Wopp (Hg.), Die Zukunft des Sports in Vereinen, Hochschulen und Städten, Aachen: Meyer & Meyer 1996, S. 161–168. Bolscho, Dietmar: »Der Beitrag der Erziehungswissenschaften für die Nachhaltigkeitskommunikation«. In: Gerd Michelsen/Jasmin Godemann (Hg.), Handbuch Nachhaltigkeitskommunikation. Grundlagen und Praxis (2. aktual. und überarb. Aufl.), München: oekom 2007, S. 143–150. BUND/Misereor (Hg.): Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung. Studie des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt, Energie GmbH (4., überarb. und erw. Aufl.), Basel/Boston/ Berlin: Birkhäuser 1997. Döring, Ralf/u.a.: »Die ethische Idee der Nachhaltigkeit und ihre Kommunikation«. In: Gerd Michelsen/Jasmin Godemann (Hg.), Handbuch Nachhaltigkeitskommunikation. Grundlagen und Praxis (2. aktual. und überarb. Aufl.), München: oekom 2007, S. 97–108. Eckl, Stefan/Gieß-Stüber, Petra/Wetterich, Jörg: Kommunale Sportentwicklungsplanung und Gender Mainstreaming, Münster: Lit 2005. Eichberg, Henning: Leistungsräume: Sport als Umweltproblem, Münster: Lit 1988. Franke, Elk: »Körperliche Erkenntnis – Die andere Vernunft«. In: Jörg Bietz /Ralf Laging/Monika Roscher (Hg.), Bildungstheoretische Grundlagen der Bewegungs- und Sportpädagogik, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2005, S. 180–201. 30 Wie es beispielsweise in Berlin zu befürchten ist, wo die gerade in der Vollendung befindliche Anschutz-Halle anderen (Groß-)Hallen wie Deutschlandhalle, Wellblechpalast, Velodrom und Max-Schmeling-Halle, von denen bis heute keine wirtschaftlich, d.h. zumindest kostendeckend arbeiten konnte, weitere (Sport-)Veranstaltungen streitig machen dürfte. 31 Vgl. Christian Wopp: »Probleme der Sportraumentwicklung«. In: DSB (Hg.), Zukunft. Sport gestaltet Zukunft mit Menschen vor Ort, Frankfurt a. M.: Deutscher Sportbund 2005, S. 30 f. 253

JOHANNES VERCH

Funke-Wieneke, Jürgen/Moegling, Klaus (Hg.): Stadt und Bewegung. Knut Dietrich zur Eremitierung gewidmet, Immenhausen: Prolog 2001. Grunwald, Armin/Kopfmüller, Jürgen: Nachhaltigkeit, Frankfurt a. M: Campus 2006. Güldenpfennig, Sven: »Die vier Seiten der Nachhaltigkeit von Sportstätten«. In: Martin-Peter Büch/Hans-Jürgen Schulke (Hg.), Nachhaltigkeit von Sportstätten, Köln: Sport und Buch Strauss 2003, S. 87–107. Haan, Gerhard de: »Bildung für eine nachhaltige Entwicklung als Voraussetzung für gesellschaftlichen Wandel«. In: Luca di Blasi/Bernd Goebel/Vittorio Hösle (Hg.), Nachhaltigkeit in der Ökologie. Wege in eine zukunftsfähige Welt, München: Beck 2001, S. 184–208. Haan, Gerhard de: »Die Kernthemen der Bildung für nachhaltige Entwicklung«. In: Zeitschrift für Entwicklungspädagogik, 1 (2002), S. 13–20. Haan, Gerhard de/Kuckartz, Udo. Umweltbewusstsein. Denken und Handeln in Umweltkrisen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. Koch, Jürgen: »Humanökologische Spiel- und Sportstättenplanung zwischen Vision und Wirklichkeit«. In: DSB (Hg.), Ökologische Zukunft des Sports. Dokumentation des Symposiums »Ökologische Zukunft des Sports« am 23. und 24. September 1993 in Sundern/Altenhellefeld, Frankfurt a. M.: Deutscher Sportbund 1994, S. 22–26. Koch, Jürgen: »Rückbau als Entwicklungschance für den Spiel- und SportStättenbau«. In: DSB (Hg.), Sport und Bewegung in der Stadt. Dokumentation des 2. Symposiums zur ökologischen Zukunft des Sports vom 26.– 27. September 1994 in Sundern/Altenhellenfeld, Frankfurt a. M.: Deutscher Sportbund 1995, S. 61–65. Koch, Jürgen: Zukunftsorientierte Sportstättenentwicklung, Bd. 10, Aachen: Meyer & Meyer 2001. Koch, Jürgen/Dieckert, Jürgen/Thielebein-Pohl, Ralf: Zukunftsmodell TurnMehrzweckhallen. Orientierungshandbuch für eine nachhaltige Sporthallenentwicklung, München: DGfH Innovations- und Service GmbH 2003. Koch, Jürgen/Meyer-Buck, Hartmuth: Naturnahe Gestaltung von Spiel- und Sportanlagen. Planungsbeispiele für Schule, Freizeit und Verein (Zukunftsorientierte Sportstättenentwicklung Band 3), Berlin/Frankfurt a. M.: Meyer & Meyer 1997. Laging, Ralf: »Schule als Bewegungsraum – über den Sportunterricht hinaus«. In: Franz Bockrath (Hg.), Trends in der Sportvermittlung. 20. Darmstädter Sport-Forum, Darmstadt: TU Darmstadt 2006, S. 61–85. Lange, Hellmuth: »Lebensstile – Der sanfte Weg zu mehr Nachhaltigkeit?«. In: Gerd Michelsen/Jasmin Godemann (Hg.), Handbuch Nachhaltigkeitskommunikation. Grundlagen und Praxis (2. aktual. und überarb. Aufl.), München: oekom 2007, S. 162–174.

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HUMANÖKOLOGISCHE SPORTSTÄTTENPLANUNG

Michelsen, Gerd: »Nachhaltigkeitskommunikation: Verständnis – Entwicklung – Perspektiven«. In: Gerd Michelsen/Jasmin Godemann (Hg.), Handbuch Nachhaltigkeitskommunikation. Grundlagen und Praxis (2. aktual. und überarb. Aufl.), München: oekom 2007, S. 25-41. Mumford, Lewis: Megalopolis. Gesicht und Seele der Großstadt, Wiesbaden: Bauverlag 1951. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2001. Opaschowski, Horst W.: Xtrem. Der kalkulierte Wahnsinn. Extremsport als Zeitphänomen, Hamburg: Germa Press 2000. Ott, Konrad/Döring, Ralf: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, Marburg: Metropolis 2004. Ott, Konrad: »Bauliche Ausgestaltung bedarfsgerechter Anlageeinheiten aus Sportstättenentwicklungsplanungen«. In: BISP (Hg.), Bad Blankenburger Sportstättentagung 2005. Sporthallen Sporträume Bäder Sportplätze, Bonn: BISP 2005, S. 1–58. Staudinger, Angelika: Gender Mainstreaming in der Sportstättenplanung. Internes und unveröffentlichtes Arbeitspapier des LSB Berlin, Berlin 2005. Sennett, Richard: Der flexible Mensch, 7. Aufl., Berlin: Berlin 2000. Trebels, Andreas H.: »Die sportliche Bewegungskultur und ihre Beziehung zur Natur«. In: Ralf Erdmann (Hg.), Alte Fragen neu gestellt. Anmerkungen zu einer zeitgemäßen Sportdidaktik, Schorndorf: Hofmann 1992, S. 81–96. Umweltbundesamt (UBA) (Hg.): Nachhaltiges Deutschland. Wege zu einer dauerhaft umweltgerechten Entwicklung (2., durchges. Aufl.), Berlin: Erich Schmidt 1998. Umweltbundesamt (UBA) (Hg.): Nachhaltige Entwicklung in Deutschland. Die Zukunft dauerhaft umweltgerecht gestalten, Berlin: Erich Schmidt 2002. Verch, Johannes: »Das kulturelle Leitbild von „Nachhaltigkeit“ (Sustainable Development) – Facetten eines kreativen Wandels von Sport und Bewegungskultur«. In: Anna Hogenová/Janina Moskalová (Hg.), Pohyb ve výchove, umení a sportu, Praha: Univerzita Karlova 2005, S. 210–225. Verch, Johannes: Die versportlichte Technologiegesellschaft als Umweltproblem. Das Naturverhältnis eines aufstrebenden Kulturphänomens und seine Zusammenhänge zu Umwelt, Ökologie, Nachhaltigkeit und Globalisierung (2 Bände), Berlin: Sand + Soda 2007. Wopp, Christian: »Probleme der Sportraumentwicklung«. In: DSB (Hg.), Zukunft. Sport gestaltet Zukunft mit Menschen vor Ort, Frankfurt a. M.: Deutscher Sportbund 2005, S. 27–31. Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie: Fair Future. Ein Report des Wuppertal Instituts, München: Beck 2005.

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JOHANNES VERCH

Würtembergische Sportjugend/Landessportbund Hessen (Hg.): Spiel-, Sportund Bewegungsräume in der Stadt (Zukunftsorientierte Sportstättenentwicklung Bd. 10), Aachen: Meyer & Meyer 2001.

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Metropole nprofilierung durc h Die ns tle istunge n des Sports. Sozialökonomische Perspektiven CHRISTOPH RASCHE

M e t r o p o l e nw e t t b ew e r b a l s sozialökonomisches Phänomen Metropolen und urbane Cluster stehen in einem harten internationalen Standortwettbewerb um Erfolge.1 Bei einem Cluster handelt es um eine Agglomeration harter und weicher Standortfaktoren, die sich mikroinstitutionell verstärken und Grundlage lokaler Wettbewerbsvorteile sein können. Cluster repräsentieren branchenübergreifende institutionelle Systeme im Spannungsfeld von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.2 Regionalökonomische Untersuchungen zeigen, dass sich die Attraktivität einer Metropole nicht allein über die ‚harten‘ Standortfaktoren definiert, sondern vor allem über die bisher vernachlässigten ‚weichen‘ Faktoren, die den urbanen Charme und die Lebensqualität entscheidend beeinflussen.3 Wurde bislang im Rahmen der Metropolenevaluation bei den ‚weichen‘ Faktoren vornehmlich auf ‚Kunst, Kultur und Kulinaria‘ abgestellt, so blieb es hinsichtlich der Qualität und Quantität des aktiven und passiven Sportangebots häufig bei einer Randnotiz. Dabei bietet gerade der Sport als positiv besetztes Handlungsfeld vielschichtige Optionen der Standortprofilierung. Erstens lässt sich durch Sportinfrastrukturen und 1

2

3

Vgl. Charles Landry/Phil Wood: Harnessing and Exploiting the Power of Culture for Competitive Advantage. A Report by Comedia for the Liverpool City Council and the Core Cities Group, London: Comedia 2003, S. 21. Vgl. Christoph Rasche: Wettbewerbsvorteile durch Kernkompetenzen – Ein ressourcenorientierter Ansatz, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 1994, S. 372–395. Vgl. Charles Landry/Franco Bianchini/Ian Henry/Fred Brookes: »Culture and Regeneration – An evaluation of the evidence: A study for Culture East Midlands«, Working Paper, London: Comedia 2005. 257

CHRISTOPH RASCHE

korrespondierende Dienstleistungen die Lebensqualität steigern. Zweitens besteht eine Faszination des Sporttreibens in dem Metropolenambiente selbst – verbunden mit der Konsequenz, dass für die Durchführung von Sportgroßveranstaltungen gezielt nach einer urbanen Kulisse gesucht wird (z.B. Marathon). Gerade in dem im urbanen Raum geführten Wettkampf besteht die Möglichkeit einer Alltagsflucht ohne Stadtflucht. Drittens forcieren Sportveranstaltungen den Städtetourismus und damit auch die regionale Dienstleistungswirtschaft. Viertens befördert die positive Besetzung des Sports den erhofften Imagetransfer auf die Metropole, die auf diese Weise ein markant-progressives Gesicht erhält.4 Aus dem Blickfeld des strategischen Managements5 sollen in diesem Beitrag die Bestimmungsgründe sportinduzierter Metropolen- und Clustervorteile untersucht werden, um konkrete Handlungsempfehlungen für das Citymanagement abgeben zu können.

Urbaner Sport im Blickfeld der Forschungsdisziplinen Die Etablierung und strategische Positionierung urbaner Cluster avancieren zu einem zentralen Forschungs- und Gestaltungsfeld für verschiedene Disziplinen. Mit Blick auf die Erzielung so genannter Agglomerationseffekte in Gestalt sich dynamisch selbst verstärkender Netzwerkvorteile versuchen Soziologen, Politikwissenschaftler, Ökonomen und Managementforscher den Aufstieg und Niedergang urbaner Zentren zu erklären und zu prognostizieren.6 Die Regionalentwicklung lässt sich demnach als mehrdimensionaler Forschungsraum interpretieren, der zunehmend multiparadigmatisch ausgefüllt werden soll, wenngleich bislang ein holistisches Theoriegebäude zur Metropolenprofilierung fehlt. Wertvolle Forschungsbeiträge wurden diesbezüglich aus dem Blickfeld isolierter Perspektiven geleistet, deren Implikationen aber nur selten aufeinander bezogen worden sind. Abbildung 1 skizziert modellhaft zentrale Forschungsdisziplinen von hohem Erklärungs- und Prognosepotenzial:

4 5

6

Vgl. Charles Landry/Phil Wood: Harnessing and Exploiting the Power of Culture for Competitive Advantage, London: Comedia 2003, S. 43–78. Vgl. stellvertretend Arnoldo C. Hax/Nicholas S. Majluf: The Strategy Concept and Process – A pragmatic Approach, Upper Saddle River: Prentice Hall 1996; Jay B. Barney: Gaining and Sustaining Competitive Advantage, Upper Saddle River: Prentice Hall 2002. Vgl. Christoph Rasche: Multifokales Management – Strategien für den pluralistischen Wettbewerb, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2002, S. 124.

258

METROPOLENPROFILIERUNG DURCH DIENSTLEISTUNGEN DES SPORTS

Abbildung 1: Forschungsdisziplinen zur Metropolenprofilierung

Eigene Abbildung Die Untersuchung der ‚harten‘ ökonomischen Standortvorteile hat in der Vergangenheit die ökonomische Forschung dominiert. Die mikroökonomischen Leistungsindikatoren aufgreifend, fokussierte das strategische Management zum einen auf die Erzielung einzelwirtschaftlicher Konkurrenzvorteile innerhalb urbaner Cluster und zum anderen auf den Metropolenwettbewerb, der auf einer höheren Aggregationsstufe zwischen Städten, Regionen und Industrieclustern ausgetragen wird.7 Vernachlässigt wurde dabei, dass diese in einem intensiven Dialog mit sozialen Phänomenen stehen, weil diese aufgrund ihrer hohen empirischen Komplexität oftmals zu ‚Störgeräuschen‘ in der ökonomischen Forschung degradiert werden. Sozialstrukturen, Lebenswelten, Architekturen und Kulturen sind es aber, die einer Stadt ihr Charisma verleihen und in der ökonomischen Diktion als positive (und gelegentlich auch negative) externe Effekte in Erscheinung treten. Inkludiert ist damit auch immer das soziale Kapital einer Metropole in Gestalt subjektiv interpretierter Kontakt-, Kommunikations- und Transaktionsoptionen, die sich zu einem Beziehungsnetzwerk ausbauen lassen, das wiederum aus Sicht der involvierten Institutionen mit einem Nutzenäquivalent korrespondiert. Der hier verwendete Begriff der Institution umfasst dabei gleichermaßen alle natürlichen, juristischen und gesellschaftspolitischen Instanzen, die das kollektive Wertinventar

7

Vgl. Michael E. Porter: The Competitive Advantage of Nations, New York: The Free Press 1990. 259

CHRISTOPH RASCHE

einer Metropole ausmachen. Hierzu zählen dementsprechend nicht nur die physischen Aktivposten, sondern auch das immaterielle Vermögen, das sich zum Großteil einer betriebswirtschaftlich induzierten Metropolenbilanzierung entzieht.8 Invisible Cluster Assets9 dieser Art werden z.B. durch die Zivil- und Bürgergesellschaft einer Stadt, Kultur- und Freizeitangebote oder dominante Lebensstile und Milieutypen begründet. Nicht zu vergessen sind Vereine, Verbände oder Nichtregierungsorganisationen, über die sich die Lebensqualität einer Stadt definiert. Lag bislang in der Metropolenforschung und im Metropolenmanagement der Schwerpunkt auf der ‚Hardware‘, das heißt physischer Ausstattungsmerkmale, so werden Fragestellungen der ‚Software‘ im Sinne kultureller, gesellschaftlicher oder ideeller Prozesse in der ökonomischen Forschung nur rudimentär im Rahmen der Bewertung ‚weicher‘ Stanortfaktoren reflektiert.10 Sportkulturen gehören zu den ‚weichen‘ Standortfaktoren; sie sind als der Output gerichteter und ungerichteter Entwicklungsmuster zu verstehen, deren Konfigurationen Ergebnis historischer Entscheidungen und Prozesse sind, die in ihrer Wirkung in die Gegenwart und Zukunft ausstrahlen. Nicht zuletzt aus diesem Grund empfiehlt sich eine Handlungsfolgenabschätzung, wenn gravierende sportpolitische Entscheidungen (z.B. Bewerbung um Sportgroßereignisse) mit damit verbundenen Ressourcenallokationen anstehen. Zu denken ist in diesem Kontext an erforderliche Investitionen in die urbane Infrastruktur, die das mikroinstitutionelle Gleichgewicht einer Stadt nachhaltig verändern können. Aus den unterschiedlichen Forschungsdisziplinen wurden dazu bislang nur Partialmodelle der Metropolenentwicklung entworfen, ohne diese in der gebotenen Form aufeinander zu beziehen. Unter ökonomischen Aspekten wird Sport im günstigsten Fall zu einem urbanen Alleinstellungsmerkmal, indem er sich als Marke verwerten lässt (z.B. Allianz-Arena) oder zum Gegenstand einer aktiven Lebensführung wird (z.B. Ironman Frankfurt).

8

Vgl. Douglas C. North: »Institutions«. In: Journal of Economic Perspectives 1, 5 (1991), S. 97–112. 9 Vgl. grundlegend Hiroyuki Itami/Thomas Roehl: Mobilizing Invisible Assets, Cambridge: Harvard Business Press 1987. 10 Vgl. grundlegend Lester Thurow: Creating Wealth. The New Rules for Individuals, Companies and Countries in a Knowledge-Based Economy, London: Nicholas Brealey Publishing 1999. 260

METROPOLENPROFILIERUNG DURCH DIENSTLEISTUNGEN DES SPORTS

Metropolenprofilierung durch Sportdienstleistungen Der globale Metropolenwettbewerb lässt Städte, Kommunen und Regionen zunehmend zu Wirtschaftobjekten werden, die – vergleichbar mit Dienstleistungen – um wahrnehmbare Alleinstellungsmerkmale kämpfen. Während bisher im Rahmen des Metropolenmarketings neben den ‚harten‘ Standortfaktoren ein Hauptakzent auf dem Kunst- und Kulturmarketing lag, wird derzeit in aktiven und passiven Sportangeboten zunehmend eine wichtige Profilierungschance gesehen.11 Einhergehend mit einem gestiegenen Freizeitbudget, einer rapiden Zunahme der Singlehaushalte und dem Phänomen urbaner Professionals hat Sport als Lifestyle und Event- und Wellnessfaktor stark an Bedeutung gewonnen.12 Zu denken ist hierbei nur an Sportgroßereignisse wie die Kieler Woche, den New City Marathon oder konsumierbaren Profisport bis zu hin zu Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen. Konkret stellt sich die Frage, wie sich Sport zur Metropolenprofilierung nutzen lässt – handelt es sich hierbei doch um einen positiven Imageträger von hohem Werbe-, Kunst- und Kulturwert.13 Jedoch stellt Sport kein Wirtschaftgut im herkömmlichen Sinne dar. Bedingt durch die Zuschreibung moralischer Werte, wie Fairness, Dynamik und Leistung wird Sport zu einem zwar attraktiven, aber höchst fragilem Gestaltungsobjekt des Metropolenmanagements. Gerade aus diesem Grund soll nachfolgend skizziert werden, wie, wann und wo der Sport seine größte Hebelwirkung im Rahmen der Metropolenprofilierung entfaltet. Abbildung 2 illustriert die Gestaltungsfelder der Metropolenprofilierung den Sport betreffend.

11 Vgl. grundlegend Gerd Nufer/André Bühler (Hg.), Management und Marketing im Sport: Betriebswirtschaftliche Grundlagen und Anwendungen der Sportökonomie, Berlin: Erich Schmidt 2008. 12 Vgl. für eine Gliederung der Sportbetriebe Herbert Woratschek: »Sportbetriebe«. In: Richard Köhler/Hans-Ulrich Küpper/Andreas Pfingsten (Hg.), Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 6. Aufl., Stuttgart: Schäffer-Poeschel 2007, S. 1642–1650. 13 Vgl. Charles Landry/Lesley Greene/Francois Matarasso/Franco Bianchini: The Art of Reneration – Urban Renewal through Cultural Activity, London 1996, S. 3 und S. 34. Eine Mischung aus Sport, Kunst und Kultur verkörpert der Cirque du Soleil, der akrobatische Ästhetik in einen distinguierten Kunst- und Kulturkontext einfügt. 261

CHRISTOPH RASCHE

Abbildung 2: Gestaltungsoptionen der Metropolenprofilierung

Preis / Kosten

Technologien ("Enabler")

z.B. effizente Planung- und Realisierung

z.B. Vernetzte Sportinstitutionen

z.B. Moderne Sportarenenkomplexe

Regionales Drawing-Potenz.

Kerngeschäft "Sport"

z.b. Ikonisierte Architektur (NYC Marathon)

Sportaffine Zielgruppen

A1

A2

Leistungsprozesse

z.B. Modern City Governance

z.B. Sport City Branding

z.B. Akademiker, Freiberufler

B2

B1

Leistung

Basisleitungen, Wahlleistungen, Premiumleistungen

Sportpotenziale

C2

C1

B0 A0

D2

D1

D0 C0

Urbanes (Sport-)Leistungsportfolio

Kunst

NÄL2

NÄL1

NÄL0

"Positionierung"

Stakeholderfokussierung

Vertriebs-/ Infokanäle

Kultur

Eigene Abbildung Im hier verstandenen Sinne bewirtschaftet eine Metropole ein integriertes Dienstleistungsportfolio, in das private und öffentliche Institutionen eingebunden sind, die wiederum selbst über ein Leistungsportfolio verfügen. Beispielsweise praktiziert der Bürgermeister von New York, Michael Bloomberg, ein aktives Metropolenmanagement im Sinne eines urbanen Generalunternehmertums, unter dessen Ägide unzählige Subinstitutionen erwerbswirtschaftliche und ideelle Dienstleistungen erbringen. Das Metropolenmanagement fungiert somit als zentrale Koordinationsinstanz aller strategischen und operativen Entscheidungen, die die urbane Entwicklung betreffen. Der Sport ist unstrittig ein zentrales Gestaltungsfeld der Stadtplanung, weil er selbst Teil des urbanen Leistungssportfolios ist und jede dezentrale Sportinstitution ein charakteristisches Leistungsspektrum anbietet, das spezifischen Koordinations- und Transaktionsmechanismen unterliegt. Ausgehend von den Handlungsfeldern des Sports werden in Abbildung 3 urbane Entwicklungsoptionen zur Metropolenprofilierung aufgezeigt.14 Urbanes Leistungsportfolio: Hierbei handelt es sich um das erwähnte sportrelevante Leistungsspektrum einer Metropole und seiner Institutionen, das sich nach seiner Breite, seiner Tiefe und seiner Qualität differenzieren 14 Vgl. ergänzend Chan W. Kim/Renée Mauborgne: Blue Ocean Strategy – How to Create Uncontested Market Space and Make Competiton Irrelevant, Boston: Harvard Business School Press 2005, S. 29–44. 262

METROPOLENPROFILIERUNG DURCH DIENSTLEISTUNGEN DES SPORTS

lässt. Zudem ist danach zu unterscheiden, welche sportbezogenen Leistungen frei zugänglichen und welche diskriminierenden Charakter im Sinne monetärer oder sozialer ‚Marktbarrieren‘ haben. Zwangsläufig stellt sich die Frage, ob das sportorientierte Leistungsspektrum einer Metropole eher Versorgungsan-sprüchen genügen soll, dieses Teil einer elitären Leuchtturmbildung ist oder eine Harmonisierung beider Zielgrößen angesteuert werden soll. Sportpotenzial: Das Sportpotenzial einer Metropole definiert sich gleichermaßen über die Angebots- und die Nachfrageseite. Marktseitig ergeben im interstädtischen Vergleich oftmals große Unterschiede bezüglich des nachfrageseitigen Sportpotenzials durch die soziodemographischen und die psychographischen Rahmenbedingungen, die sich in einem variierenden Sportverhalten manifestieren.15 Angebotsseitig ist das Sportpotenzial einer Metropole teilweise durch topographische, ökologische, aber auch infrastrukturelle Parameter stark limitiert.16 Technologien und Infrastrukturen: Die Einrichtung sportgerechter Infrastrukturen erfordert einen zunehmenden Technologieeinsatz, wie sich am Beispiel des Sportarenenbaus samt seiner logistischen Infrastruktur zeigt. Technologien und Infrastrukturen fungieren gleichsam als Enabler im Sinne zwingend zu erfüllender Servicebedingungen. So ist die Vergabe von Olympischen Spielen, Fußballweltmeisterschaften oder prestigeträchtigen Sportevents immer an das Vorhandensein einer exzellenten Sportinfrastruktur gekoppelt. Regionales Drawing-Potenzial: Das regionale Einzugsgebiet einer Metropole schwankt je nach urbaner Konkurrenzsituation stark. Metropolen, die Teil vernetzter Stadtcluster sind, verfügen über ein kleineres Einzugsgebiet als Metropolen wie Madrid, Berlin oder Paris, die aus einer geografischen Monopolsituation Kapital schlagen können.17 Renommierte Profisportvereine oder attraktive Sport- und Kulturevents können das regionale DrawingPotenzial steigern, indem sie eine überregionale Wirkung entfalten (z.B. Bayern München, Love Parade, Berlinale).

15 Zu denken ist hierbei an die sozioökonomisch höchst unterschiedlichen, aber geografisch angrenzenden Rheinmetropolen Düsseldorf und Duisburg, die sich durch ein divergentes Sport- und Freizeitangebot charakterisieren lassen. So ist der ehemalige Bundesligist Fortuna Düsseldorf zu einer sportmedialen Randerscheinung mutiert, während der MSV Duisburg über ein hohes Identifikationspotenzial verfügt. Dagegen wird das Fußballvakuum in Düsseldorf zunehmend durch Prestigesportarten gefüllt. 16 Zu denken ist hierbei an topografisch privilegierte Metropolen wie Vancouver, Seattle oder Honolulu, die die Ausübung von Wasser-, Berg- und Wintersportarten ermöglichen. 17 Die Gravitationswirkung einer Metropole auf anvisierte Zielgruppen definiert sich im hier verstandenen Sinne über multiple Parameter, die es nach Richtung und Betrag zu ermitteln gilt (z.B. durch sogenannte Gravitationsmodelle). 263

CHRISTOPH RASCHE

Sportaffine Zielgruppen: Aus dem Blickfeld des Sportmanagements lassen sich unterschiedliche Sportlebensstile und Sportpräferenzen ermitteln, die von Metropole zu Metropole variieren können. Diese sollten im Längsschnitt erhoben werden, um diesbezügliche Trendmuster und Strukturbrüche zu erkennen. Derweilen hat der Golfboom seinen Zenit überschritten, wie sich am Beispiel des Angebotsüberhangs und sinkender Preise zeigt.18 Gleiches gilt für Tennis- und Squashhallen, Spaßbäder oder Fitnessklubs, die mit einer stagnierenden Nachfrage konfrontiert sind. Umgekehrt lassen sich gegebenenfalls urbane Sportbedürfnisse ermitteln, die bislang unbefriedigt blieben und Marktchancen für Sportunternehmer darstellen. Vertriebs- und Informationskanäle: Sportdienstleitungen bedürfen eines professionellen Distributionsmanagements unter Einbeziehung multipler Absatzkanäle und Medien, um eine hohe Zielgruppenerreichbarkeit zu gewährleisten. Der Vormarsch elektronischer Vertriebssysteme im Sport bedeutet eine Revolution im Ticketing oder der Online-Zielgruppen-ansprache. ETailingsysteme ergänzen bestehende Retailing-Systeme im Sportdienstleistungsvertrieb und ermöglichen eine exakte Kundenprofilierung. Stakeholder-Fokussierung: Metropolen verkörpern Multianspruchsgruppensysteme19, die ihre Legitimation nicht über den generierten Shareholder Value erhalten. Vielmehr stellt sich die Frage, wer in welcher Intensität zu welchen Preisen Nutznießer urbaner Dienstleistungen sein soll. Es gilt demnach‚ einen ‚gerechten‘ Verteilalgorithmus bezüglich der urbanen Wertschöpfungsleistung zu definieren. Aus ökonomischer Sicht lässt sich dabei die Gerechtigkeitsfrage kaum konsistent beantworten, weil diese zumeist Gegenstand einer normativen Ordnungspolitik ist. Diese wiederum versucht, zwischen Sozialstaatsinteressen einerseits und Individualinteressen zu vermitteln. Leistungsprozesse: Professionelle Leistungs- und Kontrollprozesse bilden gleichsam den Wertschöpfungsmotor einer jeden Metropole. Am Beispiel von New York lässt sich anschaulich die nachhaltig positive Wirkung eines professionellen Stadtmanagements demonstrieren. Michael Bloomberg ist wie sein Vorgänger Rudolph Giuliani Prototyp eines effektiven City Managers, 18 Als Indiz hierfür lassen sich die Initiativen der Vereinigung clubfreier Golfspieler (VcG) anführen, die an einer preiswerten Verbreitung des Golfsports interessiert ist und ihren Mitgliedern auf 650 Plätzen Nutzungsoptionen anbietet. Im Falle evidenter Unterkapazitäten bestünde keine Notwendigkeit für einzelne Golfclubs, knappe Leistungspotenziale zu vergleichsweise geringen Preisen anzubieten. Aufgrund des fixkosteninduzierten Dienstleistungsmodells typischer Golfclubs werden vakante Kapazitäten im Extremfall zu Grenzkostenpreisen ausgelastet, um den hohen Fixkostenblock ‚abtragen‘ zu können. 19 Hierzu zählen sozialökonomische Institutionen die multiplen Anspruchsgruppen gerecht werden müssen, die bisweilen diametrale Zielsetzungen verfolgen und konkrete Ressourcenansprüche geltend machen, die sie ökonomisch, ethisch oder juristisch zu legitimieren versuchen. 264

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der unternehmerische Kompetenz in die Stadtentwicklung einfließen lässt und dabei unabhängig von parteipolitischen Ambitionen agieren kann. Die Verkleinerung der großen Kluft zwischen konzeptioneller Expertise bei gleichzeitiger Umsetzungsschwäche impliziert einen radikalen Umbau urbaner Verwaltungs- und Kontrollsysteme, um die überantworteten Ressourcen zum Zweck des Gemeinwohls zu mobilisieren. Die City Governance verkörpert dabei das Pendant zur Corporate Governance, indem das City Management beraten, kontrolliert und zur Rechenschaft gezogen wird. Die Etablierung effektiver Governance-Systeme stellt für den öffentlichen Sektor eine zentrale Herausforderung da, um dem Dauervorwurf der Mittelvergeudung wirksam begegnen zu können. Gelingen dem Metropolenmanagement nachhaltige Verbesserungen bei einem oder mehreren der hier skizzierten Entscheidungsfelder, dann kann eine grundlegende Repositionierung des Leistungsangebots erreicht werden, die mit einem verbesserten Preis-/Leistungsverhältnis einhergeht und Ausdruck eines optimierten Ressourceneinsatzes und/oder mobilisierter Innovationspotenziale ist.20 Konkret entsteht dem Bürger ein Mehrwert in Gestalt eines niedrigeren Preises für dieselbe Leistung, einer höheren Leistung zu demselben Preis oder einer Kombination aus beiden Optionen. Die letztgenannte Strategie korrespondiert mit dem Outpacing-Konzept, das die Konkurrenz über nachhaltige Preis- und Leistungsvorteile auszuhebeln versucht, indem systemimmanente Potenzialreserven gezielt erschlossen werden. Das hier vorgestellte Modell hat stark heuristischen Charakter und ist lediglich als Partialmodell der Metropolenentwicklung zu verstehen. Es handelt sich um einen ersten Annäherungsversuch an das bislang wenig erforschte Metropolenmanagement aus dem Blickwinkel des strategischen Managements.

F a z i t u n d Au s b l i c k Metropolen, urbane Cluster und ganze Wirtschaftregionen stehen in einem intensiven Ressourcen-, Talente- und Investitionswettbewerb, der zu einem strategischen Führen und Handeln zwingt, um Standortvorteile aufbauen und verteidigen zu können. Zahlreichen krisenhaften Metropolen ist der Turnaround durch ein professionelles Stadtmanagement gelungen, das latente Ressourcenpotenziale mobilisiert, die urbane Innovationskraft stärkt und die sozioökonomische Kohäsion forciert.21 Ein integrativer Ansatz zur Metropolenprofilierung könnte perspektivisch in der Anwendung eines modifizierten

20 Vgl. Christoph Rasche: Multifokales Management – Strategien für den pluralistischen Wettbewerb, S. 110–112. 21 Vgl. Charles Landry/Phil Wood: Harnessing and Exploiting the Power of Culture for Competitive Advantage. 265

CHRISTOPH RASCHE

EFQM-Modells22 auf Metropolen bestehen, um diese z.B. als Sport- und Kulturstädte zu markieren. Kombinieren lässt sich dieses Modell mit dem Komplementärkonzept der Balanced Scorecard (BSC)23, das weniger die Metropolenqualität zu messen beansprucht, als vielmehr den oft vernachlässigten Zielumsetzungsaspekt besonders betont. Abbildung 4 resümiert modellhaft die Steuerungsparameter auf dem Weg zu einer Sportstadt. Differenziert wird dabei nach so genannten ‚Befähigern‘ und ‚Ergebnissen‘. Während die Befähiger-Steuerungsgrößen die Potenzialseite repräsentieren, fungiert die Ergebnisseite als deren Projektionsfläche, weil die Erreichung definierter Metropolenziele an spezifische Leistungsvoraussetzungen gekoppelt ist. Das modifizierte EFQM-Modell eignet sich als Synopse der bisherigen Ausführungen, indem es die Aufmerksamkeit der Verantwortlichen auf die Kerntreiber des Verhältnisses von Sport, Stadt und Kultur lenkt und diesen eher philosophischen Anspruch einer operativen Entscheidungsund Handlungsebene zuführt. Das hier entworfene EFQM-Modell24 integriert ‚harte‘ und ‚weiche‘ Gestaltungsfaktoren des Metropolenmanagements und wird damit den diversen Bezugspunkten des Sports gerecht. Zwar stellt der gezielte Einsatz betriebswirtschaftlicher Steuerungsmodelle im Kontext der Metropolenprofilierung keine Erfolgsgarantie dar, doch werden auf diese Weise knappe Ressourcen mit einem urbanen Zielsystem konfrontiert, aus dem sich im Fall des BSC-Einsatzes konkrete Meilensteine, Handlungsfolgen und Projektverantwortlichkeiten ableiten lassen. Mag der konsequente Einsatz dieser Managementkonzepte im Rahmen der Metropolenprofilierung ‚technokratisch‘ anmuten, so liegt doch der entscheidende Vorteil in Professionalisierung urbanen Planungs-, Entscheidung-, Umsetzungs- und Kontrollverhaltens.

22 Das Akronym EFQM steht für European Foundation for Quality Management. Bei dem EFQM-Modell handelt es sich um ein ganzheitliches Modell zur Qualitätssteuerung, das nach so genannten Qualitätsvoraussetzungen (Enablers) und Qualitätsergebnissen (Results) differenziert. Zu den Qualitätsvoraussetzungen zählen hiernach die Bereiche Führung, Politik, Mitarbeiterorientierung, Ressourcen und Prozesse, während die Ergebnisdimension durch die Kundenzufriedenheit, die Mitarbeiterzufriedenheit, gesellschaftsbezogene Ergebnisse und wichtige Ergebnisse der Organisation repräsentiert wird. 23 Das Akronym BSC steht für Balanced Scorecard und charakterisiert ein integratives Managementkonzept entlang der vier Hauptsteuerungsebenen ‚Mitarbeiter‘, ‚Prozesse‘, ‚Kunden‘ und ‚Finanzen‘, wobei einzelfallspezifische Anpassungen und Abweichungen vom BSC-Grundmuster möglich sind. Vgl. Robert S. Kaplan/David P. Norton: The Strategy Focused Organization – How Balanced Scorecard Companies Thrive in the New Business Environment, Boston: Harvard Business School Press 2001. 24 Vgl. weiterführend Klaus J. Zink: TQM als integratives Managementkonzept – Das EFQM Excellence Modell und seine Umsetzung, München: Hanser 2004. 266

METROPOLENPROFILIERUNG DURCH DIENSTLEISTUNGEN DES SPORTS

Abbildung 3: Modifiziertes EFQM-Modell

Mitarbeiterorientierung

Mitarbeiterzufriedenheit

Dienstleistungsergebnis City Governance, City Leadership, City Management

Kommunale Sportpolitik und Sportstrategie

Prozesse, Realisierung, Controlling

Sportpotenzialund –strukturqualität

Bürger-/Kundenzufriedenheit

- Anzahl Top Events - Anzahl Medienberichte - Sponsorenzufriedenheit - Öko- und Sozialbilanz - Nachhaltigkeit -…

Gesellschaftliche Verantwortung/ Stadtimage

Befähiger („Enabler“) 50 %

Ergebnisse 50 % Innovation und Lernen

Zertifizierung urbaner Dienstleistungen als Vision im Rahmen der Imageprofilierung als Sportstadt

Eigene Darstellung Ein marktorientiertes Metropolenmanagement entwickelt sich angesichts der kompromisslosen Kriterienkataloge der internationalen Vergabeorganisationen für Sportgroßereignisse zu einem strategischen Erfolgsfaktor. Die Professionalisierung des Spitzen- und Breitensports gebietet anbieterseitig entsprechende Anpassungsreaktionen in Gestalt leistungsfähiger öffentlicher und privater Sportinstitutionen, die im Sport – ungeachtet seiner gemeinnützigen oder erwerbswirtschaftlichen Provenienz – eine kunden- bzw. bürgerorientierte Dienstleistung sehen. Einen diesbezüglich entscheidenden Beitrag können neben einem professionellen Sportstadtmanagement überwachende und beratende Kontrollgremien leisten (City Governance Boards), die – vergleichbar einem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft – die operativ ausführenden Organe evaluieren und gegebenenfalls zur Verantwortung ziehen. Da es sich bei Sport und Kultur um ein sensibles Handlungsfeld einer Metropole handelt, wird an dieser Stelle für einen kreativen und kritischen Dialog zwischen Sport, Kultur und Ökonomie plädiert. Ein solcher kann nicht nur von der Metropolenadministration ausgehen, sondern erfordert ein hohes Maß an Commitment durch die lokale Wirtschaft, die sich als zunehmend als institutioneller Bürger versteht (Corporate Citizenship). Gleiches gilt für soziale und kulturelle Anspruchsgruppen funktionierender Zivilgesellschaften, weil diese kritische Gegenpositionen zur Metropolenökonomisierung beziehen und Garan-

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CHRISTOPH RASCHE

ten urbaner Pluralität sind. Die vorgestellten Ansätze zur Sportmetropolenprofilierung sind in diesem Kontext als Managementfelder der urbanen (Re-) Positionierung zu verstehen. Gleichwohl wird es darauf ankommen, die Interessen verschiedener Gruppen gemeinwohlorientiert und ressourceneffizient zu koordinieren.

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METROPOLENPROFILIERUNG DURCH DIENSTLEISTUNGEN DES SPORTS

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CHRISTOPH RASCHE

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Au torinnen und Autoren, Herausgeberin und Hera us ge be r

Ahlfeldt, Gabriel M., Dipl. Vw., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department Wirtschaftswissenschaften der Universität Hamburg. Zuvor Research Assistant an der London School of Economics and Political Science und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Univerisität Berlin. Foschungsschwerpunkte: Stadt- und Regionalökonomie, Wirtschaftspolitik. Aktuelle Publikationen: Gabriel Ahlfeldt/Wolfgang Maennig: »Arenas, Arena Architecture and the Impact on Location Desirability: The Case of „Olympic Arenas“ in Berlin-Prenzlauer Berg«. In: Urban Studies (erscheint 2009); Gabriel Ahlfeldt/Wolfgang Maennig: »The Impact of Sports Arenas on Locational Attractivity: Evidence from Berlin«. In: The Annals of Regionals Sciences (erscheint 2008). Bockrath, Franz, Dr. phil., Professor für Sportpädagogik und Sportgeschichte an der TU Darmstadt, Mitarbeit im Forschungsschwerpunkt »Zur Eigenlogik der Städte“ an der TU Darmstadt. Weiterer Forschungsschwerpunkt: Körper – Reform – Pädagogik. Aktuelle Publikationen: »Stadt in Bewegung – Bewegung in der Stadt«. In: Thema Forschung: TUD Schwerpunkt Stadtforschung 2, 2008, (im Druck); »Städtischer Habitus – Habitus der Stadt«. In: Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.), Eigenlogik der Städte, Frankfurt a. M./New York: Campus 2008, (im Druck); »Cool flows – urbane Trendsportszenen im Widerstand und Widerspruch«. In: Annette Geiger (Hg.), Coolness – Zur Ästhetik einer kulturellen Verhaltensstrategie und Attitüde, Darmstadt 2008, (im Druck). Breckner, Ingrid, Dr. rer. soc., seit 1995 Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie im Studiengang Stadtplanung an der Hafen City Universität Hamburg (ehem. der Technischen Universität Hamburg-Harburg). For271

BEWEGUNGSRAUM UND STADTKULTUR

schungsfelder: Suburbanisierung, Soziale Stadt, Unsicherheit in europäischen Städten, Mobilität und Strategien integrierter Stadtentwicklung. Aktuelle Publikationen: »Insecureties in urban spaces and policy concepts«. In: Krassimir Y. Nikolov (Hg.), Adapting to Integration in an enlarged european union. Volume 1: Adapting key policies in the enlarged union, Sofia: Bulgarian European Community Studies Association (BECSA), 2008, S. 84–112¸ »Differenzierter Wohnungsbau zwischen Luxus und Notwendigkeit: Qualitätsdimensionen im raumzeitlichen Wandel«. In ETH Zürich (Hg.), Forum Wohnungsbau. Qualität im Wohnungsbau – Modelle und Perspektiven, 2007, S. 9–15; »Individual- und Sozialpsychologische Aspekte der Gesundheitsarchitektur«. In Christine Nickl.-Weller (Hg.), Health Care der Zukunft: Eine Herausforderung für Medizin, Architektur und Ökonomie, 1. Aufl., Berlin: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2007, S. 77–85. Dietrich, Knut, Dr. phil. Professor Emeritus für Sportpädagogik an der Universität Hamburg, Mitbegründer der Zeitschrift Sportpädagogik. Gründung und Leitung des „Hamburger Forum Spielräume e.V.“. Forschungsfelder: Bewegung und Spiel von Kindern in der Stadt, Schulraumplanung und Spielraumgestaltung in der Stadt, ökologisch begründete Bewegungs- und Gesundheitsförderung. Aktuelle Publikationen: Die Großen Spiele, Aachen: Meyer & Meyer 2006 (Hg. mit Gerhard Dürrwächter u. Hans-Jürgen Schaller); Schulhofgestaltung in Ganztagsschulen, Schwalbach: Wochenschauverlag 2005 (Hg. mit Regina Hass, Regina Marek, Christoph Porschke u. Kirsten Winkler). Franke, Elk, Dr. phil., seit 1995 Professor für Sportphilosophie/– Sportpädagogik an der HU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Ethik und Ästhetik des Sports, Handlungstheorie, Bildungstheorie im Sport. Aktuelle Publikationen: »Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen«. In Jürgen Court/Eckard Meinberg (Hg.), Klassiker und Wegbereiter der Sportwissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer 2005; S. 112–121; »Raum, Bewegung, Rhythmus. Zu den Grundlagen einer Erkenntnis durch den Körper«. In: Franz Bockrath/Bernhard Boschert/Elk Franke (Hg.), Körperliche Erkenntnis, Bielefeld: transcript 2008, S. 17–41. Funke-Wieneke, Jürgen, Dr. phil., Professor für Bewegungs- und Sportpädagogik an der Universität Hamburg. Forschungsfelder: Bildungs- und erziehungstheoretische Grundlagen der Bewegungs- und Sportpädagogik; Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Bewegungs- und Sportpädagogik; Didaktik des Bewegungs- und Sportunterrichts. Aktuelle Publikationen: »Glase und ihre Schwimmkinder«. In: Matthias Jakob (Hg.), Bewegungsgeschichten mit Kindern, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2008, S. 119–126; »Die 272

AUTORINNEN UND AUTOREN, HERAUSGEBERIN UND HERAUSGEBER

Kunst, sich zu bewegen«. In: Eckart Liebau/Jörg Zirfas (Hg.), Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung, Bielefeld: transcript 2008, S. 105–128; Stadt und Bewegung, Immenhausen b. Kassel: Prolog 2001 (Hg. mit Klaus Mögling). Haller, Melanie, Dipl.-Soz., arbeitete von 2004 bis 2007 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am FB Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg im DFG-Projekt „Trans/nationale Identität und körperlich-sinnliche Erfahrung“ unter der Leitung von Prof. Dr. Gabriele Klein. Zurzeit Arbeit an der Dissertation zum Thema ‘Performative Intersubjektivität’. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Subjektivität, populäre Tanzkulturen. Aktuelle Publikationen: »Paartanz als nonverbale Kommunikation und sein (Inter-?) Subjekt. Theoretische Skizze eines Forschungsvorhabens«. In: Claudia Fleischle-Braun/Ralf Stabel (Hg.): TanzForschung und TanzAusbildung. Hamburg (erscheint 2008). Klein, Gabriele, Dr. rer. soc., Professorin für Soziologie von Bewegung, Sport und Tanz an der Universität Hamburg, Direktorin des Zentrums für Performance Studies. Arbeits- und Forschungsfelder: Kultur- und Sozialtheorie von Körper und Bewegung, Tanz und Performance-Theorie, städtische Bewegungskulturen und populäre Tanzkulturen, Jugend- und Poptheorie. Aktuelle Publikationen: Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs, Bielefeld: transcript 2008 (Hg. mit Michael Meuser), Methoden der Tanzwissenschaft, Bielefeld: transcript 2007 (Hg. mit Gabriele Brandstetter); Stadt. Szenen. Künstlerische Praktiken und theoretische Positionen, Wien: Passagen 2005 (Hg). Maase, Kaspar, Dr. phil., Professor am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Amerikanisierung, Populärkultur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Geschichte des Jugendmedienschutzes und Ästhetik des Alltags. Aktuelle Publikationen: Die Schönheiten des Populären. Zur Ästhetik der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York: Campus 2008 (Hg.), Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, 4. Aufl., Frankfurt a. M.: Fischer 2007. Maennig, Wolfgang, Dr. rer. oec., Professor für Volkswirtschaftslehre am Department Wirtschaftswissenschaften der Universität Hamburg. Zuvor Professur an der E.A.P Paris-Oxford-Berlin-Madrid. Gastprofessuren u.a. in Dubai, Stellenbosch, Bratislava und Istanbul. Olympiasieger im Rudern (Achter mit Steuermann) 1988 in Seoul. Forschungsschwerpunkte: Nationale und internationale Wirtschaftspolitik, Sport- und Medienökonomik, Verkehrs- und Immobilienökonomik. Aktuelle Publikationen: Florian Hagn/Wolfgang 273

BEWEGUNGSRAUM UND STADTKULTUR

Maennig: »Employment effects of the Football World Cup 1974 in Germany«. In: Labour Economics (in press, 2008); Stefanie Jasmand/Wolfgang Maennig: »Regional Income and Employment Effects of the 1972 Munich Olympic Summer Games«. In: Regional Studies, 7, 42 (2008), S. 991–1002; Lisa Dust/Wolfgang Maennig (2008), »Shrinking and growing metropolitan areas – asymmetric real estate price reactions? The case of German singlefamily houses«. In: Regional Science and Urban Economics 38 (2008), S. 63– 69. Marschik, Matthias, PD Dr. phil., Kulturwissenschaftler und Historiker, lebt in Wien. Lehrbeauftragter der Universitäten Wien, Klagenfurt, Salzburg und Zürich. Forschungsschwerpunkte: Sport und Bewegungskultur, individuelle und kollektive Identitäten, Alltagskulturen, Cultural Studies. Aktuelle Publikationen: Sternstunden der österreichischen Nationalmannschaft. Erzählungen zur nationalen Fußballkultur, Wien/Berlin: Lit 2008; Sportdiktatur. Bewegungskulturen im nationalsozialistischen Österreich, Wien: Turia & Kant 2008. Nagbøl, Søren, Dr. phil., Associate Professor am Department of Educational Sociology, the Danish School of Education, University of Aarhus. Psychoanalytischer Gruppenanalytiker. Forschungsschwerpunkte: Bewegungssozialisation, materiale Kulturstudien. Aktuelle Publikationen: »Krop, rum, bevægelse og pædagogik«. In: Danske Ark Byg 4 (2006), S. 10–13; Det ny skoleliv, Forlaget Århus: Klim 2008 (Hg. mit Mogens Hansen). Rasche, Christoph, Dr. rer.pol., Professor für Sportmanagement und Sportökonomie an der Universität Potsdam, Leiter der Sektion Professional Services. Forschungs- und Beratungsschwerpunkte: Multifokales Management, Corporate Restructuring, Professional Services, Sport- und Gesundheitsmanagement. Aktuelle Publikation: »Wettbewerbsstrategien«. In: Richard Köhler/Hans-Ulrich Küpper/Andreas Pfingsten (Hg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 6. Aufl., Stuttgart: Schäffer-Poeschel 2007, S. 1990–1999. Verch, Johannes, Dr. phil., Lehrbeauftragter an der FU Berlin und HU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kulturtheorie, Natur- und Technikphilosophie, BNE/Ethik, Erlebnispädagogik, Gender, Ökologie/Nachhaltigkeit und Sportentwicklung. Aktuelle Publikationen: »Das kulturelle Leitbild von ‘Nachhaltigkeit’ (Sustainable Development) – Facetten eines kreativen Wandels von Sport und Bewegungskultur«. In: Anna Hogenová/Janina Moskalová (Hg.), Pohyb ve výchove, umení a sportu, Praha: Univerzita Karlova 2005, S. 210– 225, Die versportlichte Technologiegesellschaft als Umweltproblem. Das Naturverhältnis eines aufstrebenden Kulturphänomens und seine Zusammenhän274

AUTORINNEN UND AUTOREN, HERAUSGEBERIN UND HERAUSGEBER

ge zu Umwelt, Ökologie, Nachhaltigkeit und Globalisierung (2 Bände), Berlin: Sand & Soda 2007; »Ein soziologisch-pädagogisch nachhaltiges Interesse am Windsurfen«. In: Martin Holzweg/Uwe Farke/Christoph Zitzmann (Hg.), Windsurfen in Lehre und Forschung, Flensburg: Schriftenreihe Human Performance and Sport 2008.

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Materialitäten Cedric Janowicz Zur Sozialen Ökologie urbaner Räume Afrikanische Städte im Spannungsfeld von demographischer Entwicklung und Nahrungsversorgung September 2008, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 42,80 €, ISBN: 978-3-89942-974-9

Jürgen Funke-Wieneke, Gabriele Klein (Hg.) Bewegungsraum und Stadtkultur Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven September 2008, 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 978-3-8376-1021-5

Gabriele Klein, Michael Meuser (Hg.) Ernste Spiele Zur politischen Soziologie des Fußballs

Evelyn Lu Yen Roloff Die SARS-Krise in Hongkong Zur Regierung von Sicherheit in der Global City 2007, 166 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-612-0

Robert Gugutzer (Hg.) body turn Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports 2006, 370 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-470-6

Helmuth Berking, Sybille Frank, Lars Frers, Martina Löw, Lars Meier, Silke Steets, Sergej Stoetzer (eds.) Negotiating Urban Conflicts Interaction, Space and Control 2006, 308 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-463-8

Mai 2008, 276 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-977-0

Lars Frers Einhüllende Materialitäten Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals 2007, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-806-3

Bastian Lange Die Räume der Kreativszenen Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin 2007, 332 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-679-3

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