Unorte: Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven [1. Aufl.] 9783839414064

Seit mehreren Jahren haben sich Raumtheorien als produktive Katalysatoren kulturwissenschaftlicher Untersuchungen bewies

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German Pages 382 Year 2014

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Table of contents :
INHALT
Einleitung: Das Konzept des Unorts
ERSTE SEKTION: MEDIALE TRANSGRESSIONEN AM UND ZUM ›UNORT‹
Filmische Unorte in Lars von Triers Dogville
Ver(un)ortungen im frühneuzeitlichen Raum Europa-Amerika: Jesuitische Reisebeschreibungen und -berichte um 1700
Unort Minne. Raumdekonstruktionen als Neukonzeptualisierung der Minne im späthöfischen Sang
Unerhörtes Singen und die Performativität des Unortes. Aufführungsräume in der Sangspruchdichtung
Glückliche und unglückliche Orte. Versuch über literarische und musikalische Reisen zu Unorten im 19. und 20. Jahrhundert bei Jules Verne, Franz Schubert, Franz Liszt und Mauricio Kagel
ZWEITE SEKTION: HANDLUNG ALS KONSTITUIERENDES MOMENT DES ›UNORTS‹
Hören, Gehen und Sehen. Schrift, Raum und Bild. Zur verunörtlichenden Medialität der Simultanbühne des Geistlichen Spiels
›Schauplatz‹ / ›Theatrum‹. Heterotopien des Wissens und die Naturgeschichte im 18. Jahrhundert
Raum – Zeit – Fluss. Das Zeitfluss-Festival als dynamischer Unort
Burg Wildenberg. Von der Reaktualisierung eines Unorts
DRITTE SEKTION: ›UNORTE‹ DER AUSGRENZUNG
Theben als Unort in der Literatur der frühen Kaiserzeit. Der Prolog des senecanischen Oedipus
Das Goldene Vlies und das mythische Außerhalb des Höfischen. Narrative Spekulationen über das Andere von Minne und Aventiure in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg
Arkadien als literarisches Heterotop
Ausweitung der Zwischenzone. Phantastische Raumkomposition bei Kubin und Kafka
Autorinnen und Autoren
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Unorte: Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven [1. Aufl.]
 9783839414064

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Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder (Hg.) Unorte

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 3

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder (Hg.)

Unorte Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (unter Mitarbeit von Simone Leidinger und Sarah Wendel)

Gedruckt mit Mitteln des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Mainz-Trier und des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Lektorat & Satz: Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder, Simone Leidinger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1406-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I NHALT

Einleitung: Das Konzept des Unorts ...................................... 9

ERSTE SEKTION: MEDIALE TRANSGRESSIONEN AM UND ZUM ›UNORT‹ Filmische Unorte in Lars von Triers Dogville ...................... 31 JÖRG DÜNNE (MÜNCHEN) Ver(un)ortungen im frühneuzeitlichen Raum Europa-Amerika: Jesuitische Reisebeschreibungen und -berichte um 1700 .......................................................... 53 ESTHER SCHMID HEER (ZÜRICH) Unort Minne. Raumdekonstruktionen als Neukonzeptualisierung der Minne im späthöfischen Sang ........................................ 75 ANNETTE GEROK-REITER (BERLIN) Unerhörtes Singen und die Performativität des Unortes. Aufführungsräume in der Sangspruchdichtung ............... 107 CLAUDIA LAUER (GIESSEN)

Glückliche und unglückliche Orte. Versuch über literarische und musikalische Reisen zu Unorten im 19. und 20. Jahrhundert bei Jules Verne, Franz Schubert, Franz Liszt und Mauricio Kagel ............. 135 MARTIN ZENCK (WÜRZBURG)

ZWEITE SEKTION: HANDLUNG ALS KONSTITUIERENDES MOMENT DES ›UNORTS‹ Hören, Gehen und Sehen. Schrift, Raum und Bild. Zur verunörtlichenden Medialität der Simultanbühne des Geistlichen Spiels ........................................................ 159 FRIEDEMANN KREUDER (MAINZ) ›Schauplatz‹ / ›Theatrum‹. Heterotopien des Wissens und die Naturgeschichte im 18. Jahrhundert ................... 179 THOMAS FORRER (ZÜRICH) Raum – Zeit – Fluss. Das Zeitfluss-Festival als dynamischer Unort ................. 207 CONSTANZE SCHULER (MAINZ) Burg Wildenberg. Von der Reaktualisierung eines Unorts ........................... 231 MATTHIAS DÄUMER (GIESSEN)

DRITTE SEKTION: ›UNORTE‹ DER AUSGRENZUNG Theben als Unort in der Literatur der frühen Kaiserzeit. Der Prolog des senecanischen Oedipus ........................... 265 CHRISTINE WALDE (MAINZ) Das Goldene Vlies und das mythische Außerhalb des Höfischen. Narrative Spekulationen über das Andere von Minne und Aventiure in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg ............................... 291 ARMIN SCHULZ (KONSTANZ) Arkadien als literarisches Heterotop ................................. 311 BRIGITTE BURRICHTER (WÜRZBURG) Ausweitung der Zwischenzone. Phantastische Raumkomposition bei Kubin und Kafka .. 341 MARCO LEHMANN (MAINZ)

Autorinnen und Autoren ..................................................... 375

Einleitung: Das Konzept des Unorts MATTHIAS DÄUMER, ANNETTE GEROK-REITER, FRIEDEMANN KREUDER

I In den Texten manch eines Theoretikers gibt es Sätze, oftmals auch ganz kurze, unscheinbare Sätze, die das Potential besitzen, den Leser über die Grenzen des Syntagmas und schließlich auch der Theorie selbst hinauszutragen. Solch ein Satz findet sich in der Unterscheidung von ›Ort‹ und ›Raum‹, welche Michel de Certeau in seiner Monographie Die Kunst des Handelns vornimmt: »Zu Beginn unterscheide ich zwischen Raum [espace] und Ort [lieu] [...]. Ein Ort ist die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, daß sich zwei Dinge an der selben Stelle befinden. [...] Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegung erfüllt, die sich in ihm entfaltet. [...] Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.«1

Dem letzten Satz zufolge unterscheidet de Certeau ›Ort‹ und ›Raum‹ nach dem Differenzkriterium einer nicht weiter spezifizierten ›Handlung‹. Der ›Ort‹ 1

DE CERTEAU, 1988, S. 218.

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Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder

meint die physische Präsenz einer Straße, eines Gemäuers, einer Bühne oder das Ergebnis anderer materieller Grenzziehungen. Wenn mit diesen ›Orten‹ etwas gemacht wird, das Element der dynamischen ›Handlung‹ zur statischen Existenz der bloßen Physis hinzutritt, entsteht der ›Raum‹. Ausgehend von dieser These fand in einer Arbeitsgruppe des Historisch Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums (HKFZ) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz die Genese des ›Unort‹-Konzepts statt. Denn, so der Gedanke, den der Satz auslöste und über den Gehalt des de Certeau’schen Texts hinaustrieb: Kann es nicht auch ›Räume‹ geben, die zwar durch eine ›raumkonstituierende Handlung‹ entstehen, die jedoch in ihrer Eigenart unabhängig von den physischen Gegebenheiten, dem ›Ort‹, sind, diesem gar in manchen Punkten widersprechen? Als Muster für diese Überlegung diente zunächst das Spiel eines Pantomimen: Dieser vollzieht auf der Bühne, dem ›Ort‹, Handlungen, die den Betrachter glauben machen, es befinde sich bspw. eine gläserne Wand in seinem Bewegungsfeld, an die er grimassierend prallen und an der er abgleiten kann. Die Wand ist, was die Konstituenten des ›Orts‹ angeht, nicht existent; nur der durch den performativen Akt konstituierte ›Raum‹ kennt sie und lässt die unsichtbare Wand (ganz im Gegensatz zu den physischen Gegebenheiten der Bühne) zum entscheidenden Movens aller weiteren Handlungen des Pantomimen werden. Was ist diese Wand? Sie ist kein ›Ort‹ und dennoch ›Raum‹: Sie ist ein ›Unort‹ im Sinne einer ›raumkonstituierenden Handlung‹, die der physikalischen Gegebenheiten nicht bedarf. An dieses Beispiel schlossen sich weitere an, die dem Unort als Ergebnis einer raumkonstituierenden Handlung, die eine distinkte Verortung auflöst, sowohl Kontur verliehen als auch diesen Ansatz erweiterten. Drei weitere Aspekte der ›Verunortung‹ zeigen sich beispielsweise an der so genannten ›Wortkulisse‹ im Schauspiel der Elisabethanischen Zeit. Durch die Sprechhandlungen der Akteure werden – etwa in As You Like It – die beiden schlichten Säulen der Elisabethanischen Bühne, die zunächst Elemente eines konkreten ›Orts‹ bilden, zu Bäumen, d. h. zu performativ konstituierten Elementen eines ›Raums‹. Das Changieren zwischen der Materialität eines konkreten ›Orts‹ (Säule) und der Semantisierung eines imaginierten ›Raumelements‹ (Baum) ist als Akt der ›Verunortung‹ zu begreifen. Die switch-Bewegung der nicht still zu stellenden Umcodierung eröffnet gleichsam im Moment des semantischen Umsprungs einen ästhetisch konstruierten ›Unort‹. Im Falle von As You Like It werden die Säulen zu Bäumen ›verunortet‹, die selbst einen der

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Einleitung: Das Konzept des Unorts

prominentesten ›Unorte‹ des europäischen Kulturgedächtnisses markieren: Die Bühne des Globe Theatre, umgeben vom städtischen Treiben Londons, wird durch die Verbalisierung der Verse Shakespeares zum gesellschaftsfernen Arkadien; der performativ erschaffene und der sozialkulturell bedeutende ›Unort‹ gehen hier Hand in Hand. Dass die Raumkonstituierung dabei neben dem Aussprechen von Worten auch durch das Anheften von Schrift an die Bäume/Säulen durch den liebestollen Orlando geschieht,2 erweitert die Vielschichtigkeit der ›Verunortung‹ in As You Like It um eine weitere, in diesem Fall eine mediale Komponente und leitet den Vorgang in die ontologischen Fahrwasser des berühmten All world’s a stage-Diskurses. Neben dieser mehrfach geschichteten Medialität erfuhr der Begriff eine weitere Perspektivierung vor allem durch seine Korrespondenz zum ontologischen Status der Virtualität. Denn als der größte, unser alltägliches Leben bestimmende ›Unort‹ ist wohl das World Wide Web zu begreifen. Wo befindet sich ein User, der durchs Netz surft? Er befindet sich körperlich auf seinem Schreibtischstuhl, aktiviert Prozesse am eigenen Rechner, springt von lokalisierbarem zu lokalisierbarem Host; doch im Endeffekt treffen all diese partiellen ›Verortungen‹ nicht seine wirkliche Position. Die Handlungen des Users sind nachvollziehbar, ebenso wie die der beteiligten Rechner; sie konstituieren jedoch einen ›Raum‹, der sich von einer örtlichen Fixierung absetzt und sich eben dadurch als rhizomartiger ›Unort‹ etablieren kann.

II Ausgehend von diesen ersten Überlegungen und Exemplifizierungen zum Begriff erarbeitete die Arbeitsgruppe seine Erweiterung und Spezifizierung durch die Differenzierung des Ansatzes von de Certeau sowie durch die Inklusion anderer Theorien. Es ist nicht zu übersehen, dass de Certeau in der Kunst des Handelns bereits spezifische ›Nicht-Orte‹ beschreibt. Im Kapitel »Was einen ›in Bewegung setzt‹: Mystisches« reflektiert de Certeau den Zusammenhang zwischen ›Gehen‹ (durch eine Stadt) und ›Erzählen‹: »Wenn es hier eine Parallelität gibt, so […] deshalb, [...] weil ihr diskursiver (verbalisierter [...] oder gegangener Ablauf) sich als ein Verhältnis zwischen

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SHAKESPEARE, 1996, III, 2, S. 92-119.

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Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder dem Ort, von dem er ausgeht (ein Ursprung), und dem Nicht-Ort, den er erzeugt (eine Art des ›Vorübergehens‹), organisiert. [...] Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen. Es ist der unendliche Prozeß, abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu suchen. Das Herumirren, das die Stadt vervielfacht und verstärkt, macht daraus eine ungeheure gesellschaftliche Erfahrung des Fehlens eines Ortes.«3

Der ›Nicht-Ort‹ bezeichnet bei de Certeau in diesem Zusammenhang ein ›Unörtlich-Sein‹ durch den Vorgang der Bewegung, welcher sich analog zum Vorgang des Erzählens verhält. De Certeau verdeutlicht dies an der Imagination eines Spaziergangs durch die Stadt, bei der ein Flaneur dem anderen die Vergangenheit der ›Orte‹ mit Geschichten belegt: »Die Erinnerung ist auf der Reise wie ein schöner Prinz, der eines Tages das Dornröschen unserer wortlosen Geschichten wachküßt: ›Das hier war eine Bäckerei‹; ›dort hat Mutter Dupius gewohnt‹. Verblüffend dabei ist, daß lebendig wahrgenommene Orte so etwas wie die Gegenwart von Abwesendem sind. Das, was sich zeigt, bezeichnet, was nicht mehr ist: ›Sehen Sie, hier gab es...‹, aber es ist nicht mehr zu sehen. Die Demonstrativpronomen sprechen die unsichtbaren Identitäten des Sichtbaren aus [...].«4

Durch diese erinnernden Geschichten von Nicht-Mehr-Existentem wird der ›Ort‹ mit einem narrativen Surplus belegt, das ihn über seine bloße physikalische Existenz hinauswachsen lässt und kreiert, wie de Certeau es am Beispiel von Straßennamen5 als kürzeste der den Orten anhaftenden Erzählungen beschreibt, »[e]ine seltsame Toponymie, die von den Orten abgelöst ist und über der Stadt wie eine ›Bedeutungs‹-Geographie in den Wolken schwebt«.6 Es sind diese mit Narrativen versehenen und durch Narrative erschaffenen ›Räume‹, welche de Certeau als ›Nicht-Orte‹ beschreibt. Im Gegensatz zu den aus de Certeaus Unterscheidung von ›Ort‹ und ›Raum‹ entwickelten ›Unorten‹ als raumkonstituierender Handlung ohne phy3 4 5

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DE CERTEAU, 1988, S. 197. Ebd., S. 205. Eine ähnliche Überlegung findet sich schon vor de Certeau in Walter Benjamins Passagen-Werk: »Was die Großstadt der Neuzeit aus der antiken Konzeption des Labyrinths gemacht hat. Sie hat es, durch die Straßennamen, in die Sphäre der Sprache erhoben« (BENJAMIN, 1991, S. 1007). DE CERTEAU, 1988, S. 200.

Einleitung: Das Konzept des Unorts

sikalische Anbindung ist der von ihm selbst beschriebene ›Nicht-Ort‹ mitnichten losgelöst vom ›Ort‹; die »schwebende Bedeutungs-Geographie« scheint bei genauem Hinsehen gar nicht so »schwebend«, wie de Certeau behauptet. Ein Straßenname ist der Name einer Straße; er haftet dem ›Ort‹ an und ist ab dem konventionalisierten Akt der Namensgebung (der ›Taufe‹ des ›Orts‹, durch die er zum ›Raum‹ wird) fest an diesen gebunden. Zwar kann die Benennung der Straße arbiträr sein – was sie jedoch nur selten ist; falls möglich, stehen Name (›Narrativ‹) und Straße (›Ort‹) in einem motivierten Zusammenhang –, doch sobald die Taufe des ›Orts‹ vollzogen wurde, sind ›Narrativ‹ und ›Ort‹ erst durch einen erneuten illokutionären Akt voneinander zu lösen. Dasselbe gilt für die erinnernden Erzählungen: Mutter Dupius hat eben nur »dort«, also an einem historisch wie physikalisch konkreten ›Ort‹, gewohnt; solange es sich um eine verifizierbare Aussage handelt, ist die erinnernde Erzählung nicht losgelöst vom ›Ort‹. Daraus folgt, dass im Sinne der Unterscheidung von ›Ort‹ und ›Raum‹ Erzählungen von der Vergangenheit oder das Benennen einer Straße zwar ›raumkonstituierende Handlungen‹ sind, jedoch weder unabhängig von den physikalischen Gegebenheiten noch in der Lage, diesen zu widersprechen. De Certeaus ›Nicht-Orte‹ sind also keine ›Unorte‹ ohne physikalische Anbindung, sondern ›Unorte‹, die sich durch narrative Anheftungen an die physikalische Existenz des ›Orts‹ ergeben und eine daraus resultierende Transgressionsbewegung beschreiben. Das entscheidende Kriterium ist hier, dass das ›Unörtliche‹ durch ein Narrativ entsteht, das zwar an die physikalischen Gegebenheiten des ›Orts‹ gebunden ist, diese jedoch semantisch übersteigt. Bezogen auf das Beispiel vom Pantomimen heißt dies: Das Narrativ der Wand könnte rein theoretisch auch mit einer real existierenden Mauer vollzogen werden – doch seine ästhetische Wirkung erzielt es erst dadurch, dass die Wand für den Zuschauer unsichtbar bzw. physikalisch nicht-existent ist, der Pantomime im Moment des Zusammenpralls mit der unsichtbaren Wand keinen ›Ort‹ b e spielt, sondern einen ›Unort‹ e r spielt. So betrachtet ist das ›Unörtliche‹ eine ästhetische Kategorie, die aus der Paradoxie physikalischer Entwertung bis hin zur Absenz bei gleichzeitiger narrativer Existenz in einer medialen Transgressionsbewegung entsteht. Auf die Inszenierungsmöglichkeiten dieser ästhetisch konstruierten ›Unorte‹ und ihre medialen Transgressionen konzentriert sich die erste Sektion.

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Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder

III Ein durch eine ›raumkonstituierende Handlung‹ entstehender ›Unort‹ ließe sich, sofern er einen ›Raum‹ ohne realen ›Ort‹ beschreibt, auch als ›Utopie‹ bezeichnen. Das in diesem Vorwort profilierte Spektrum des ›Unorts‹ arbeitet jedoch im Gegensatz zur ›Utopie‹ durchaus mit der Vorstellung eines als real imaginierten ›Ortes‹, denn schließlich stößt, um das Denkbild des Pantomimen wieder aufzunehmen, der Darsteller immer wieder gegen die unsichtbare Wand, so dass das Symptom des (fingierten) Aufprallens von der ästhetischen Existenz des physisch Nicht-Existenten zeugt. Der durch Handlung konstituierte ›Unort‹ ist, so möchte man sagen, eine »tatsächlich verwirklichte Utopie«.7 Und mit dieser Formulierung wird klar, zu welchem Konzept sich der ›Unort‹-Gedanke weiterhin positionieren muss: Die ›tatsächlich verwirklichte Utopie‹ ist das, was Michel Foucault in Andere Räume als grundlegende Definition der ›Heterotopie‹ anführt: »Da sind erstens die Utopien. Utopien sind {Räume} ohne realen Ort. Es sind {Räume}, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen. [...] Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörende Orte, die gleichsam Gegen{räume} darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien [...]. Es sind gleichsam {Räume}, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese {Räume} völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde ich sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichnen.«8

Anknüpfend an den Foucault’schen Gedankengang ist die zweite Art des ›Unorts‹ eine physikalisch existente, lokalisierbare Größe, die durch ihren Heterotopiecharakter jedoch über das ›Örtliche‹ hinausweist. Dies kann durch eine bestimmte Funktion des ›Orts‹ geschehen (das Bordell als libidinöser 7 8

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FOUCAULT, 2006, S. 320. FOUCAULT, 2006, S. 320. Im Gegensatz zu de Certeau trifft Foucault keine Unterscheidung von espace und lieu im Sinne von physikalischer Basis (›Ort‹) und deren Nutzung (›Raum‹). Michael Bischoffs Übersetzung, die dementsprechend ›Ort‹ und ›Raum‹ synonym verwendet, wurde hier abgewandelt, um eine Kompatibilität zum Vorangegangenen zu erzeugen. Die Eingriffe sind durch geschweifte Klammern gekennzeichnet.

Einleitung: Das Konzept des Unorts

Kompensationsraum, das Gefängnis als Raum der gesellschaftlich verhängten Strafe) oder aber durch eine Entgrenzung des ›Orts‹, wie zum Beispiel beim Friedhof, der im religiös Imaginären eine Verbindung zur Unterwelt oder zum Jenseits darstellt. Gerade in dieser entgrenzenden Funktion ist die ›Heterotopie‹ ein ›Unort‹, da hier ein ›Ort‹ sich durch eine raumkonstituierende Handlung der Begrenztheit des ›Ortes‹ entwindet und ›Raum‹ wird. Beim Beispiel des physikalisch klar umrissenen und mittels eines »System[s] der Öffnung und Abschließung«9 abgegrenzten Friedhofs ist die ›raumkonstituierende Handlung‹ die religiöse (Um-)Codierung des abgegrenzten Gebiets zum Territorium der Toten. Zwar ist hier keine Unabhängigkeit von den physikalischen Gegebenheiten zu konstatieren, denn schließlich fungiert der Friedhof nur in seinen physikalischen Grenzen als Friedhof; das entscheidende Moment ist jedoch auch hier die Transgression: Durch die kulturell vermittelte E n t grenzung des physikalisch b e grenzten Bezirks und die damit einhergehende veränderte Wahrnehmungsoption entsteht der ›Unort‹. Die ›Heterotopie‹ stellt somit jene Form des ›Unorts‹ dar, dessen Unabhängigkeit vom Physikalischen erst durch einen Wechsel der Wahrnehmungsebene vollzogen wird. Der Friedhof ist auf einer rein profanen Wahrnehmungsebene nichts anderes als ein ›Ort‹, ein Areal, umstanden von Bäumen; erst durch den durch kulturelles Wissen ermöglichten Wechsel von der profanen Wahrnehmungsebene auf die transzendent-religiöse wird der ›Ort‹ ›verunortet‹. Die ›Heterotopie‹ bildet somit eine Unterkategorie des ›Unorts‹, die sich dadurch auszeichnet, dass sie erstens abhängig von den jeweiligen kulturellen Kodierungen des ›Orts‹ ist und zweitens erst durch einen Ebenenwechsel von der basalen zur kulturellgewussten Wahrnehmung existent wird. Bezieht man mit ein, dass jene Wahrnehmungswechsel durch spezifische Handlungsmuster motiviert, ja provoziert werden können, lässt sich von hier aus eine Anbindung an die anfänglich genannte These de Certeaus finden: Handlungen konstituieren neue imaginäre Räume (die ideologisch durchaus funktionalisiert werden können), insofern sie einen Wahrnehmungswechsel initiieren. Diese durch Handlung sowie Wahrnehmungswechsel generierten ›Unorte‹, welche die reale physikalische Anbindung wenn nicht aufheben, so doch transzendieren, fokussiert die zweite Sektion.

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FOUCAULT, 2006, S. 325.

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Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder

IV Der Aspekt einer Wertsemantik tritt mit den ›Nicht-Orten‹ Marc Augés in den Blick. Marc Augé begreift seine ›Nicht-Orte‹ nicht als autonome, positiv zu beschreibende Phänomene, sondern vielmehr im Sinne eines defizitären Zustands im Vergleich zu den so genannten ›anthropologischen Orten‹: »Er [der anthropologische Ort] ist nichts anderes als die partiell materialisierte Vorstellung, die seine Bewohner sich von ihrem Verhältnis zum Territorium, zu ihren Angehörigen und zu den anderen machen. Diese Vorstellung kann fragmentarisch oder mystifiziert sein. Sie variiert ja nach der Stellung oder dem Standort, die der Einzelne einnimmt.«10

Im Gegensatz zu den ›anthropologischen Orten‹, welche die Norm einer sich in ›erdachten‹ Räumen bewegenden Kultur ausmachen,11 verhält es sich mit den ›Nicht-Orten‹, einem Phänomen unserer, von Augé als ›Übermoderne‹ bezeichneten Gegenwart, wie folgt: »So wie der Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort. Unsere Hypothese lautet nun, daß die ›Übermoderne‹ Nicht-Orte hervorbringt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind und [...] die alten Orte nicht integrieren; registriert, klassifiziert und zu ›Orten der Erinnerung‹ erhoben, nehmen die alten Orte darin einen speziellen, festumschriebenen Platz ein.«12

10 AUGÉ, 1994, S. 68. 11 Zum Fiktionalitätscharakter der uns umschließenden gesellschaftlichen ›Räume‹ (und teilweise auch ›Unorte‹) ist hier an Benedict Andersons titelgebende Hauptthese der Erfindung der Nation zu denken (vgl. ANDERSON, 1988): Die Nation ist vielleicht eine der weit gefasstesten ›Unorte‹, da dieses Gebilde primär auf der Basis nicht materieller Größen (Sprache, Mentalität, Religion, gemeinsamer Geschichte) und aus diesen resultierenden ›raumkonstituierenden Handlungen‹ entsteht, die den physikalischen (und politischen) Gegebenheiten einer bestimmten Zeit durchaus vehement widersprechen können. Erst sekundär, d. h. im Verlauf der Geschichte (durch Kriege, diplomatische Verhandlungen etc.) manifestiert sich der ›Unort Nation‹ als ›Örtlichkeit‹ im Sinne eines kartographisch zu beschreibenden Territoriums. 12 AUGÉ, 1994, S. 92f.

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Einleitung: Das Konzept des Unorts

Die Intention von Augés ›Nicht-Orten‹, welche er vornehmlich am Duty-FreeBereich von Flughäfen exemplifiziert, ist eine sozialkritische: »Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.«13 Augé sieht die Transitorte durchreisenden Menschen als Opfer einer vom Charakter des ›Nicht-Orts‹ ausgehenden Entindividualisierung und Uniformierung. Augés Transitorte haben mit de Certeaus ›Nicht-Orten‹ gemein, dass sie Phänomene einer Bewegung sind, die ›den Ort verfehlt‹, auch wenn de Certeau mit diesem Verfehlen keinen negativen und erst recht keinen identitätslosen, sondern vielmehr einen über Geschichten und Namen Identität stiftenden Vorgang beschreibt. Das Definitionskriterium ›Bewegung‹ ist bei Augé und de Certeau gleich – die beobachteten Effekte sind in ihren Auswirkungen konträr. Was Augé interessiert, sind gerade die mangelnden Größen der Historizität oder der Identitätsstiftung, also die (mitunter fehlenden) Inhalte, die einen ›Raum‹ in unseren Zeiten zum ›Gegenraum‹ machen, nicht jedoch die Konstituenten dieses ›Raums‹ bzw. die Bedingungen seiner Emergenz. Interessant für eine systematische Darstellung des ›Unorts‹ ist in Augés Konzept v. a. die ›Rahmung‹ historischer Orte, die im ›Nicht-Ort‹ betrieben wird, also die Ablagerung und Ausstellung des Historischen und Identitätsstiftenden in einem Transitraum, d. h. in einer durch konstante Bewegung und Fluidität gezeichneten Sphäre, die selbst Historizität negiert. So weist im Normalfall im Duty-Free-Bereich nichts (freiwillig) auf die Historizität des Ortes hin, an dem man sich befindet; landet man jedoch in einer touristischen Stadt, so werden einem direkt die gerahmten Plakate historischer Stätten ins Auge fallen, die auf die historisierende Identitätsstiftung jenseits des Flughafengebäudes aufmerksam machen. Dies ist ein Phänomen, das nicht nur auf den modernen Flughafen zutrifft, sondern beispielsweise ebenso auf das bunte Treiben während eines mittelalterlichen Fests, anlässlich dessen ein höfischer Roman vorgetragen wird:14 Hier werden im ›Rahmen‹ einer Aufführung die Identitäten bzw. Identitätsfindungen der Protagonisten ausgestellt, während der Zuhörer Teil der bewegten Menge ist, die seiner nicht als Einzelnen bedarf. Ebenso ist zu denken an die existentielle Verunsicherung in Zeiten eines historischen Wandels, aufgrund derer eine Kultur in besonderem Maße dazu tendiert, (vermeintlich) beständige ›Gegenorte‹ wie die ›Utopien‹ von Arkadien, 13 Ebd., S. 121. 14 Zum Zusammenhang von mittelalterlichem Hof und dem Augé’schen non-lieu vgl. LAUER, 2010 [in diesem Band], S. 112.

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Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder

dem himmlischen Paradies oder dem Tausendjährigen Reich im ›Rahmen‹ der Fiktion, der Religion oder der politischen Ideologie zu erschaffen. Diese ›Gegenorte‹ werden durch Ab- oder Ausgrenzung gewonnen. Sie markieren Ausnahmezustände, die – eben weil sie aus der Funktionsnorm des rahmenden ›Nicht-Orts‹ herausfallen – in besonderer Weise emphatisch aufgeladen sein können, sei es positiv oder negativ. Die durch Ausgrenzung gewonnenen ›Unorte‹, die mit dezidierten Wertungen verbunden sind, stehen in der dritten Sektion im Mittelpunkt des Interesses.

V Die bis hierhin vorgenommenen Bestimmungen des ›Unorts‹ zeichnen sich durch unterschiedliche Konstituenten und Wertungsbedingungen aus. Hervorgehoben wurden a) die ästhetische Konstruktionen des ›Unorts‹, insbesondere durch mediale Interferenzen; b) seine Konstitution durch Handlung, verbunden mit einem Wechsel der Wahrnehmungsebenen sowie c) die Genese des ›Unorts‹ durch Ab- und Ausgrenzung, meist mit impliziter emphatischer Wertung. Ausgangspunkt kann dabei durchaus ein physikalisch zu markierender ›Ort‹ sein. Immer wird dieser Ort jedoch durch eine Transgressionsbewegung in Absenz versetzt, überhöht, umbesetzt oder durch Ab- und Ausgrenzung umdefiniert, so dass er sich nicht mehr als ›Ort‹ und nicht nur als ›Raum‹, sondern – im Spiel mit seinen Genesebedingungen – als ›Unort‹ präsentiert. Damit wird deutlich, dass eine definitorische Homogenität des Begriffs nicht erstrebenswert erscheint, zumal dann, wenn die Vermutung entsteht, dass – wie Martin Zenck es in seinem Beitrag formuliert – »die ›non lieux‹ […] dem geordneten Diskurs gerade nicht zugänglich«15 sind. Zugleich ist zuzugestehen, dass erst bei einer oszillierenden Mehrdeutigkeit eines Konzepts die Versuchung lockt, eine Theorie durch wissenschaftliche Anwendung auf konkrete Forschungsobjekte zu erproben. Die in diesem Sammelband vereinigten Beiträge haben alle dieser Versuchung nachgegeben und schließen an den einen oder anderen Aspekt der Begriffsbestimmung an. Dabei ist es nicht ihre Absicht, den ›Unort‹ als Apriori ›beweisen‹ zu wollen; vielmehr fügen die einzelnen Beiträge der definitorischen Oszillation durch Erprobung an konkreten Forschungsobjekten weitere Schwingungen hinzu. Eine Kategorisierung dieser Beiträge

15 Vgl. ZENCK, 2010 [in diesem Band], S. 144.

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Einleitung: Das Konzept des Unorts

kann deshalb auch nur heuristisches Hilfsmittel sein, da die theoretischen Anschlüsse meist mehr als nur einen Weg beschreiten. Geordnet wurden die Beiträge in Hinblick auf die vorherrschenden Schwerpunkte, nach denen sich die jeweiligen ›Unorte‹ konstituieren. Dass jeder Schwerpunkt von anderen Facetten überschrieben oder unterlaufen sein kann, macht die Vielfalt des Zugriffs aus; zugleich ist genau dadurch auch die Möglichkeit der Vergleichbarkeit von zunächst disparat erscheinenden Phänomenen über die unterschiedlichen Sektionsgrenzen hinweg gegeben. Die Sektion »Mediale Transgressionen am und zum ›Unort‹« reflektiert Orte, die sich – nach de Certeau – durch ein narratives Surplus konstituieren und dadurch über die physikalische Voraussetzung hinauswachsen. Bezüglich des medialen Charakters des ›Unorts‹ lässt sich auf Foucaults Vorwort zu Die Ordnung der Dinge verweisen, in dem die Heterotopie weniger als GegenVerortung denn als medialer Träger beschrieben wird, der Objekte miteinander in Beziehung setzt, die sonst nicht zusammen erscheinen könnten.16 Erst im Bezug der Elemente zueinander ereignet sich jene Transgression, die – so ließe sich anfügen – im Umsprung der Codierungen oder in der Polyphonie der Doppelcodierung den ästhetischen ›Unort‹ als transzendierendes Narrativ konstituiert. Die Sektion wird eröffnet durch einen Beitrag von JÖRG DÜNNE, der in einem einführenden Teil den Leitbegriff dieser Publikation aus der Sicht eines romanistischen Raumtheoretikers grundlegend umreißt. In einem zweiten Teil nutzt Dünne seine Begriffsdefinition, um die intermedialen Bezüge zwischen theatralen und filmischen Darstellungstechniken anhand von Lars von Triers Dogville aufzuzeigen und so den Film selbst als einen ›Unort‹ zu charakterisieren, an dem in einer medialen Vermittlungsleistung »mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander«17 gestellt werden. Der sich aus medialen Interferenzen eröffnende ›Unort‹ kann sich auch in spezifischer Weise über die Wirkungsweisen von Texten konstituieren. Wenn, wie ESTHER SCHMID HEER dies in ihrem Beitrag darlegt, jesuitische Reiseberichte dazu genutzt werden, ein unerforschtes Land durch einen reisenden 16 »Denn es handelt sich nicht darum, Konsequenzen zu verbinden, sondern konkrete Inhalte aneinander anzunähern, zu analysieren, anzupassen und zu verschachteln. Nichts ist tastender, nichts ist empirischer (wenigstens dem Anschein nach) als die Einrichtung einer Ordnung der Dinge« (FOUCAULT, 1971, S. 22). 17 FOUCAULT, 2006, S. 324.

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Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder

Autor sowie durch die passive Teilhabe des Lesenden gleichermaßen raumkonstituierend zu erschließen, so nimmt der Text den Charakter eines ›Unorts‹ der Vermittlung an: Im Schwarz der Tinte auf Papier begegnen sich die Weite Amerikas und die Enge Europas, die einander im Sinne polyphoner Codierungen bespiegeln. Dabei arbeitet Schmid Heer vor allem die unterschiedlichen Mechanismen heraus, mit denen Subjekte, literarische (im Sinne von Erzähler und Leser) wie historische (im Sinne von jesuitischen Missionaren in Amerika), Räume der Neuen Welt ›ver(un)orten‹. Unter drei Aspekten verfolgt ANNETTE GEROK-REITER Erscheinungsformen des ›Unorts‹ im Minnesang. Ausgehend vom spezifischen Bezugsraum des traditionellen Ich-Liedes der Hohen Minne zeigt sie auf, dass Frauenlob um 1300 dieses Raumkonzept in seinen Liedern einer radikalen Transgression aussetzt. Die Transgression des tradierten dreipoligen Bezugsraums wird zum einen durch eine inkommensurable Dynamik von Bildern, Perspektivsprüngen und Sprecherwechseln inszeniert, zum anderen durch paradoxe Inversions-, Absturz- und Suchbewegungen eines dissoziierten Ich. Der perpetuierte Wechsel von Raumevokationen führt zu einem Zersplittern der gewohnten vugeOrdnungen und damit zu einer ebenso ekstatischen wie anarchischen ›Ortlosigkeit‹. Dies hat entscheidende Konsequenzen für die minne wie für den Minnesang: Indem die minne mittels dieser konstituierenden Auflösungsbewegung ihren eigentlichen ›Raum‹ in der ›Ortlosigkeit‹ erhält, erscheint sie neu semantisiert: Minne erweist sich erst dann als minne, wenn sie einen Erfahrungsraum beständiger Überschreitung evoziert. ›Un-heimlich‹ geworden in dieser unabsehbaren Dynamik, wird minne selbst zum ›Unort‹. Damit aber muss auch der Gesang von ihr letztlich inkommensurabel bleiben, fällt aus dem Aufführungszusammenhang eines geregelten gesellschaftlichen Repräsentationsraums heraus. D. h. der Minnesang gerät – zumindest im Spiegel der Überlieferung – an einen dritten ›Unort‹: an die Peripherie des stummen Papiers. Die mittelalterliche Sangspruchdichtung ist generell eine Gattung, die zwischen textuell entworfenen und performativ verwirklichten Räumen changiert. CLAUDIA LAUER nimmt die Aufführungssituation dieser Texte am Beispiel des Motivs des ›unerhörten Singens‹, also einer Situation des inszenierten kommunikativen Scheiterns, in den Fokus der Betrachtung. Sie weist an diesem Motiv einen ›Unort‹-Charakter auf, der auf den Wahrnehmungsprozessen während der Aufführung ebenso basiert wie auf der Erschaffung räumlicher Konstellationen im Text und der Vermittlung von (räumlich konstruiertem)

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Einleitung: Das Konzept des Unorts

Wissen.18 Lauer schreitet bei ihrer Darstellung vom im Text entworfenen Aufführungsort im Sinne der ›Heterotopie‹ über die ›raumkonstituierende Handlung‹ nach de Certeau als Grundkonstante der Performativität hin zu einer Vielzahl utopischer Räume, die das produktive Potential der zueinander in Spannung gesetzten Raumkonzepte deutlich machen. Die mediale Leistung des ›Unorts‹ besteht darin, Unvereinbares am gleichen Ort zusammenzubringen – in dieser Hinsicht ist der Beitrag von MARTIN ZENCK selbst schon ein ›heterotopischer Unort‹: Hier treffen u. a. Franz Schuberts Winterreise, Mauricio Kagels Inversion derselben in der Lieder-Oper Aus Deutschland, Franz Liszts Reiseschriften und Klavierstücke und Jules Vernes Romane von Reisen in das Unbekannte aufeinander. In ihrer Verbindung erzeugen sie das Bild einer im 19. Jahrhundert vorherrschenden Bewegung, die spiralförmig von der bekannten Topographie über erratisches Gelände zu ›Unorten‹ führt, teils ›Unorten des Äußeren‹ (Labyrinthe und Unterwelten Dante’scher Prägung), aber ebenso zu ›Unorten‹, die im Innern der Menschen zu finden und/oder Ausdruck seiner transzendentalen Obdachlosigkeit sind. Zenck differenziert die ›Unorte‹ hierbei in ›Nicht-Mehr-Orte‹ und ›NochNicht-Orte‹ und hebt dadurch die temporale Dimension der Konstruktion des ›Unorts‹ hervor. Zugleich betont er das Defizitäre des ›Unorts‹ (im Sinne eines Augé’schen ›Nicht-Orts‹), welches als Reise von den beherbergenden, glücklichen zu den unglücklichen Orten thematisiert wird. Über die Untersuchung eines Bühnenbilds von Kagels Lieder-Oper kommt Zenck schließlich zu der generellen Frage nach dem ›Ort der Musik‹, die zwar als Klangquelle ›verortbar‹ ist (Instrument, Lautsprecher), jedoch ebenso als ›raumkonstituierende Handlung‹ den Raum erst eröffnet, in dem der Hörer sitzt, der in der Haltung ›rezeptiver Passibilität‹ wiederum Musik als etwas Imaginär-Räumliches erlebt. Das Agens der Raumerschaffung ist hier vom Rezipienten auf das Rezipierte, die mediale Leistung von der Musik auf den Zuhörer verlagert: Nicht durch den de Certeau’schen Spaziergänger wird die ›örtliche‹ Straße zum ›Raum‹, sondern durch das Phänomen der Musik ›verräumlicht‹ sich im Zuhörer die ›Ortlosigkeit‹. Die zweite Sektion dieses Bandes widmet sich den ›Unorten‹, die das Merkmal der ›raumkonstituierenden Handlung‹ mit dem Wechsel der Wahrnehmungs18 Vgl. zu diesem Thema auch den in Bälde erscheinenden Band der ›Mainzer Historischen Kulturwissenschaften‹, herausgegeben von Mechthild Dreyer und Karen Joisten (vgl. DREYER/JOISTEN, 2010).

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ebenen im Sinn von Foucaults Heterotopiekonzept der Gegen-Verortung verbinden. Dabei stellen die Beiträge auf unterschiedliche Weise die Frage, wie das Transitorische der (performativen) Handlung sich zu der Materialität des ›Orts‹ verhält, um den ›Raum‹ als ontologischen Zwitter im Sinne des ›Unorts‹ zu erschaffen. In FRIEDEMANN KREUDERs Beitrag wird diese Zwitterhaftigkeit des ›Unorts‹ am Beispiel der Geistlichen Spiele des Spätmittelalters verdeutlicht. Über die Frage, inwiefern der performativ erschaffene Raum der Heilsgeschichte mit den örtlichen Gegebenheiten der Stadtarchitektur korreliert, kommt Kreuder zu der Feststellung, dass der ›Unort‹ der Aufführung im Falle der Geistlichen Spiele immer ein zweiteiliger ist, der das zeitgenössische Geschehen auf einen biblischen Nenner bringt, also je nach dem Modus der Wahrnehmung entweder vom liturgischen Geschehen oder aber von der Realität seiner Rezipienten erzählt. Am ›Unort‹ der Aufführung fallen im Moment der Rezeption, den Kreuder über das Konzept der ›kinästhetischen Wahrnehmung‹ nach Horst Wenzel beschreibt, diese beiden Modi am Körper des Rezipienten ineinander. So fungiert der ›Unort‹ gleichzeitig als ein Medium der unmittelbaren Teilhabe (im Sinne einer mittelalterlichen compassio-Ästhetik) und des individuellen Körper- sowie kulturellen Gedächtnisses. Abschließend bezieht Kreuder sein historisierendes Raumverständnis auf die Forderungen der Postdramatik und eröffnet den diachron betrachteten ›Unort‹ so auch der zweitübergreifenden, syntagmatischen Ebene. Die syntagmatische Funktionalisierung des ›Unort‹-Konzepts wird im folgenden Beitrag fortgeführt. Wenn Adam in Gen. 2,19–20 von Gott den Auftrag erhält, alle vor ihn geführten Tiere zu benennen, so stellt die Namensgebung einen Akt der Kulturstiftung dar, der für den Lebensraum des Menschen spezifisch ist und zugleich in der historischen Varianz Kulturgeschichte begründet. THOMAS FORRER beschreibt in seinem Beitrag einen Ausschnitt dieser Geschichte am Beispiel der mit ›Schauplatz‹ oder ›theatrum‹ betitelten enzyklopädischen Naturbücher des 17. und 18. Jahrhunderts und der dazu gehörenden Wissenschaftstheorie und -philosophie. Dabei arbeitet Forrer heraus, dass das Bild des Schauplatzes, an dem zeitübergreifend stets neue Adamiten Gottes Schöpfung benennen und klassifizieren, ein quasi-theatraler ›Unort des Wissens‹ ist. Denn einerseits soll das ›Buch der Natur‹ dem Leser ›vor Augen gestellt‹ werden als suggestiv authentischer Spiegel der Schöpfung, andererseits besteht dieses Buch aus einer enzyklopädischen Summe von einzelnen ›Verortungen‹, die nicht auf den Schöpfer und die Schöpfung, sondern auf die

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Einleitung: Das Konzept des Unorts

Klassifizierungspotenz des Naturforschers verweisen. In ihrer Summe befinden sich die kassifizierenden Verhärtungen der Weltbetrachtungen so am ›Unort‹ des Schauplatzes wieder im Zustand des Transitorischen, im ewigen Fluss. Die Fluidität, welche die Verschränkung von Raum und Zeit mit sich bringt, wird bei CONSTANZE SCHULERs Beitrag schon anhand des Titels ihres Forschungsgegenstands vor Augen geführt: das die Salzburger-Festspiele begleitende (und gegenräumlich kontrastierende) Zeitfluss-Festival. Das 1989 erstmals auf einer die Salzach überquerenden Fähre inszenierte Musikereignis zog nach seinem programmatischen Beginn auf einem ›im Fluss befindlichen‹, heterotopen Transitort (Foucault/Augé) seine raumtheoretische Orientierung in den Folgejahren bis 2001 fort, auch wenn in der Salzburger Kollegienkirche, in der das Festival schließlich landete, der ›Unort‹-Charakter auf andere Art und Weise entfaltet werden musste. Einer sakralen Spielstätte wohnt die unörtliche Entgrenzung insofern von Vornherein inne, als dass das physikalisch präsente, statische Gebäude gleichzeitig als ›Tor zum Himmel‹ und somit als dynamisch und transzendent gilt. Indem die Organisatoren des Zeitfluss-Festivals diese gegebene Unörtlichkeit nicht als Rahmung oder Gefäß ihrer Musik betrachteten, sondern darauf achteten, Musik nicht nur i m , sondern auch m i t dem Raum zu machen, offerierte man dem Rezipienten den Zugang zu einer zwitterhaften Wahrnehmung, die zwischen dem Ort (der Kirche) und dem dynamischen Raumerlebnis des Klangs oszillieren konnte. Schuler beschreibt v. a. anhand der Aufführung von Morton Feldmans einaktiger Oper Neither, wie die transitorische Erfahrung von Musik den statischen Ort zersetzt – und so den ›Unort‹ generiert. Die Wechselwirkung von statischen und dynamischen Größen steht auch im Zentrum der folgenden Beitrags, hier jedoch auf die medialen Zustände der Skripturalität und der Performativität übertragen. MATTHIAS DÄUMERs Beitrag zeigt am Beispiel der Odenwälder Burg Wildenberg und ihrem Zusammenhang mit zwei Versen aus dem Parzival des Wolfram von Eschenbach, inwiefern eine transitorische performative Handlung sich in ihrem Latenzzustand textuell in Wolframs Roman ablagerte und zu einer (nach de Certeau) ›raumkonstituierenden Handlung‹ reaktiviert werden konnte. Diese Reaktivierung, eine nationalsozialistische Weihefeier auf der Odenwälder Burg, versuchte rückwirkend, im Sinne eines illokutionären Rituals, das Transitorische zu negieren. Mittels der Verschaltung einer performativen Praxis der Textverlesung mit einer Inszenierung nationalsozialistischer Mittelalterbegeisterung liefert Däumer ein Beispiel für den von Foucault theoretisch beschriebenen

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Konnex von ›Heterotopie‹ und ›Heterochronie‹ und erläutert so die »fatale Kreuzung der Zeit mit dem Raum«.19 Die dritte Sektion versammelt Beiträge zu ›Unorten der Ausgrenzung‹, die in emphatischer Weise positiv oder negativ besetzt werden können. Die Beiträge diskutieren damit in ihrem jeweiligen historischen Rahmen den ›Unort‹ als Gegenräumlichkeit. Marc Augé profiliert seine ›Nicht-Orte‹ mit ihrem Defizit an Identitäts- und Relationsstiftung und ihrem Erschaffen von Einsamkeit und Ähnlichkeit als ein post- bzw. ›übermodernes‹ Phänomen. Am Beitrag von CHRISTINE WALDE zeigt sich, inwiefern manche Charakteristika des menschfeindlichen ›NichtOrts‹ auch auf viel ältere ›Unorte‹ zutreffen können. Theben, das hier am Beispiel des Prologs des Senecanischen Oedipus vorgestellt wird, wird von Walde als ein doppelter ›Unort‹ beschrieben: Oedipus inszeniert sich einerseits in einem Selbstgespräch als individueller und souveräner Herrscher, der sich nicht als Ursache der Pest zu erkennen vermag, andererseits finden die Lücken dieses Selbstbilds in der albtraumhaften Szenerie des ihn umgebenden Theben ihren Niederschlag. Oedipus’ Einsamkeit und Selbstentfremdung resultieren daraus, dass er dem ›Nicht-Ort‹ als sein schuldlos-schuldiger Erschaffer ähnlicher ist als seiner fehlerhaften Konstruktion der eigenen Identität; Grund dafür ist die dem ›Nicht-Ort‹ eigene Ermangelung von Relation zwischen Ich und Außenwelt bzw. die mangelnde Einsicht in die wahre Relation zwischen Theben und seinem Herrscher. Des Weiteren zeigt Walde einen Konnex zu antiken Unterweltszenarien auf, wodurch der ausgegrenzte locus horridus Theben noch stärker als gegenräumliche Negation sichtbar wird. Der Beitrag von ARMIN SCHULZ beginnt mit der Darstellung einer grundlegenden raumstrukturellen Eigenart des mittelalterlichen arthurischen Romans: Der Artushof konstituiert sich im Regelfall über eine Basisdifferenz zwischen dem Höfischen und dem Nichthöfischen, wobei der ausziehende Held die kulturstiftende Grenze im Aventiureweg erst verwischt, die Grenze gewissermaßen selbst zum Raum, genauer: zum Handlungsraum des Helden macht, um letztlich eine neue Grenze für ein erweitertes Kulturterritorium mit Artus als Zentrum zu rekonstituieren. Das ausgegrenzte Nichthöfische ist ein ›Unort‹, der sich vor allem durch seine perspektivisch bedingte Ambivalenz auszeichnet: Aus der Sicht des Hofes ist es ein ›Ort‹, wenn auch ein noch nicht vermessener; die Handlungen des Helden machen es zum ›Raum‹, der über die erwei19 FOUCAULT, 2006, S. 317.

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Einleitung: Das Konzept des Unorts

terte Grenzziehung wieder ›verörtlicht‹ wird. Diesen ›Unort-Mechanismus‹ vergleicht Schulz mit dem Raummuster des Trojanerkriegs Konrads von Würzburg, vor allem hinsichtlich der Verschiebungen, die dieses im Vergleich zur antiken Formung der Fabel um Jason und das Goldene Vlies fand. Er zeigt auf, dass die kulturstiftende ›Ver(un)ortung‹ des Nichthöfischen in ihr Gegenteil verkehrt ist – in eine kulturdestabilisierende Virulenz des ausgegrenzten ›Unorts‹. Steht in Schulz’ Beitrag die Gefährdung des gesellschaftlichen Raums durch die abgegrenzte Heterotopie im Zentrum, so beschreibt BRIGITTE BURRICHTER anhand eines der bekanntesten ›Unorte‹ der europäischen Kultur das gegenläufige Phänomen: Arkadien, entstanden aus der bukolischen Dichtung des 3. vorchristlichen Jahrhunderts, 200 Jahre später durch Vergil benannt, findet im 15. Jahrhundert zu seinen bedeutendsten literarischen Ausprägungen: der Arcadia des Iacopo di Sannazaro und Tassos Drama Aminta von 1573. Burrichter stellt dar, wie in Sannazaros Arkadien die Stadt sich als Sinnbild der zurückgedrängten Außenwelt spiegelt, nicht zuletzt über den voyeuristischen Blick des Ich-Erzählers. Die ›raumkonstituierende Handlung‹, die dieses Arkadien zum ›Unort‹ werden lässt, ist das ›Leben‹ von Literatur; als reine Sphäre der Ästhetik vermag Arkadien sich dem Außen (dem physikalischen ›Ort‹) zu entziehen. Durch die Rückanbindung an dieses Außen bzw. die Stadt wird das Idyll als gefährdet ausgewiesen und der ›Unort‹ verliert seinen exponierten Status. Anders bei Tasso: Sein Drama wurde für eine bestimmte Bühne geschrieben, die sich auf einer Insel im Po gegenüber der Stadt Ferrara befand. Burrichter stellt fest, dass es gerade diesem Text, der für einen entrückten, doch die Stadt im Blick habenden realen ›Unort‹ geschrieben wurde, besser gelingt, eine repräsentative Aktualisierung Arkadiens zu praktizieren und so eine den ›Unort‹ erhaltende Wechselwirkung aus intra- und extradiegetischem Heterotop zu schaffen. MARCO LEHMANN widmet sich mit Alfred Kubins Roman Die andere Seite und Franz Kafkas Prozeß zwei Texten der literarischen Phantastik, die sui generis in ihren narrativen Raumentwürfen intradiegetische ›Gegenräume‹ behandeln, die als ›Schwellen-‹ bzw. ›Zwischenräume‹ in Erscheinung treten. Insofern in ihnen Bewegung und Erstarrung paradox zum Einstand kommen, erweisen sie sich als paradoxe Topologien, die den Gegebenheiten der Physik trotzen. Diese ontologischen ›Unorte der Schwelle‹ werden zugleich zu poetologischen Chiffren für den intertextuellen Bezug als Voraussetzung literarischer Produktivität sowie zu Chiffren eines in der Dominanz der Zeichen per-

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petuierten Selbstentzugs. So zeigt Lehmann an seinen Forschungsobjekten, inwiefern der Bruch der Narration mit konventionellen Raummustern über eine ›Verräumlichung der Grenze‹ zum Mittel literarischer Selbst- und Schriftreflexion werden kann.

VI Dieser Band ist das Ergebnis einer vom Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrum Mainz-Trier (HKFZ) geförderten Tagung, die vom 7. bis zum 9. November 2008 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattfand. Für die Förderung gebührt dem HKFZ unser herzlicher Dank. Des Weiteren danken die Herausgeber allen Beteiligten, die diese ergiebige Tagung ermöglichten: den Beiträgern für ihre Bereitschaft zur individuell geprägten Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Aspekten des ›Unorts‹; den Besuchern der Tagung für ihre große Diskussionsbereitschaft und konstruktive Kritik; den wissenschaftlichen Hilfskräften und Freunden für ihre Hilfe, ohne welche die Tagung nicht hätte stattfinden können. Nach Ablauf des HKFZ wurde das ›Unort‹-Projekt vom neu gegründeten Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt Mainz in dessen Buchreihe aufgenommen. Dafür danken die Herausgeber dem Leiter des HKW, Prof. Dr. Jörg Rogge, seinen Mitarbeitern und allen am Entstehen der Buchreihe Beteiligten, vor allem den Reihenherausgebern Prof. Dr. Mechthild Dreyer, Prof. Dr. Alfred Gall, Prof. Dr. Jan Kusber, Prof. Dr. Elisabeth OyMarra, Prof. Dr. Bernhard Spies und Prof. Dr. Ursula Verhoeven-van Elsbergen für die konstruktive Zusammenarbeit sowie dem transcript-Verlag und namentlich Herrn Gero Wierichs für dessen professionelle Betreuung. Eine wirklich große Hilfe war die formale Bearbeitung des Bandes durch Simone Leidinger, die mit ihrem geduldigen Auge der Sisyphosarbeit der Manuskriptbearbeitung den ennervierenden Stachel nahm. An der redigierenden Lektüre war Sarah Wendel beteiligt, so dass auch ihr herzlicher Dank gebührt.

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Einleitung: Das Konzept des Unorts

Literatur ANDERSON, BENEDICT, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, übers. von Benedikt Burkard, Frankfurt a. M./New York 1988. AUGÉ, MARC, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1994. BENJAMIN, WALTER, Gesammelte Schriften, Bd. V. 2, hg. von Rolf Tiedemann/Herrmann Schwepphäuser, Frankfurt a. M. 1991. DE CERTEAU, MICHEL, Kunst des Handelns, übers. von Ronald Voullié, Berlin 1988. DREYER, MECHTHILD/JOISTEN, KAREN (Hg.), Räume des Wissens. Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie (Mainzer Historische Kulturwissenschaften), Bielefeld 2010. FOUCAULT, MICHEL, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1971. DERS., Von anderen Räumen [orig.: 1984], übers. von Michael Bischoff, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne/Stephan Günzel, Frankfurt a. M. 2006, S. 317-329. SHAKESPEARE, WILLIAM, Wie es euch gefällt. Zweisprachige Ausgabe, übers. von Frank Günther, München 1996.

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Erste Sektion: Mediale Transgressionen am und zum ›Unort‹

Filmische Unorte in Lars von Triers Dogville JÖRG DÜNNE

Das schillernde Konzept des ›Unorts‹, dem in diesem Beitrag in Auseinandersetzung mit einem Film des dänischen Regisseurs Lars von Trier nachgegangen werden soll, fordert zu einigen grundlegenden Vorüberlegungen heraus. Zu diesem Zweck möchte ich zunächst verschiedene mögliche Auffassungen von Unörtlichkeit voneinander unterscheiden und mich in meiner daran anschließenden Filmanalyse auf zwei davon näher beziehen. Als Romanist stütze ich mich dabei auf eine heuristische Hilfskonstruktion, die dem mir vertrauten raumtheoretischen Theorie-Horizont geschuldet ist: Ausgangspunkt ist die Frage, von welchen vor allem in den romanischsprachigen Ländern in letzter Zeit entwickelten Raumbegriffen ›Unort‹ denn eigentlich die Übersetzung sein könnte, d. h. an welcher bestehenden Theorie man ansetzen könnte, um daraus ein neues Konzept zu formen. Mindestens vier Hypothesen ließen sich bilden – ausgehend von diesen Hypothesen soll sozusagen aus romanistischer Sicht1 eine kleine Typologie möglicher Füllungen des ›Unort‹-Begriffs vorgeschlagen werden, die sowohl die technisch-kulturpragmatische Ebene der Konstitution von Räumen (1) als auch die Bedeutungsebene konstituierter kultureller Räume (2) umfasst.

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Man möge mir die Hybris nachsehen, die darin steckt, dass ich selbstverständlich davon ausgehe, die Suche nach dem ›Unort‹ müsse ursprünglich im Raum der Romania und insbesondere in Frankreich beginnen – immerhin ist diese Suchrichtung teilweise durch die im Tagungsexposé erwähnten Theorien gedeckt.

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Jörg Dünne

Kleine Typologie der Unörtlichkeit 1.1 Unorte als Räume (espaces) Die Einladung zur Tagung, die diesem Band zu Grunde liegt, macht einen auf den ersten Blick überraschenden, an sich aber sehr einleuchtenden Vorschlag zum Verständnis von Unorthaftigkeit.2 In Ausgang von Michel de Certeaus Oppositionspaar von Ort (lieu) und Raum (espace)3 sehen das Exposé und die darauf aufbauende Einleitung dieses Bandes Unorte als eine Art von Räumlichkeit an, die sich von der metrischen Bestimmtheit eines Ortes löst und sich der praxisbezogenen Bestimmung eines Raums als »praktiziertem Ort« (lieu pratiqué)4 annähert: Der Einleitung zufolge sind Unorte zu verstehen als »›Räume‹[…], die zwar durch eine ›raumkonstituierende Handlung‹ entstehen, die jedoch in ihrer Eigenart unabhängig von den physischen Gegebenheiten, dem ›Ort‹, sind, diesem gar in manchen Punkten widersprechen«5 können. Damit wird die Negation der Vorsilbe ›un-‹ in ein positiv bestimmbares Phänomen verwandelt, das sich durch das Merkmal der Praxisbestimmtheit auszeichnet. Dieser raumpraktische Ausgangspunkt der Untersuchung soll auch in den folgenden Überlegungen beibehalten werden. Allerdings stellt sich über Michel de Certeaus Raumverständnis hinaus die Frage, ob ein Unort wirklich jeder physischen Grundlage entbehren muss oder ob die Auflösung physischer Örtlichkeit durch Raumpraktiken nicht selbst wiederum einer Form bedarf, um als solche in Erscheinung treten zu können. Mit anderen Worten: Physische Orte lösen sich unter Umständen nicht einfach in immaterielle Raumpraktiken auf, sondern bedürfen eines – durchaus materiell bestimmbaren – medialen Orts des Zusammentreffens dessen, was im lebensweltlichen Raum nicht oder nicht ohne Weiteres zusammentreffen kann. Dieser mediale Ort des Zusammentreffens soll nunmehr in Anschluss an Michel Foucault als heterotopischer Gegenort beschrieben werden. Womit ich zu einem zweiten möglichen Verständnis des ›Unortes‹ komme. 2

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Exposé zur Tagung Unorte vom 19.11.2007. Ich gebe dieses Exposé hier allerdings insofern verkürzt wieder, als ich mich nur auf eine von zwei der dort erwähnten Grundformen der Unorthaftigkeit beziehe. Eine Ausgestaltung des Exposés stellt die Einleitung dieses Bandes dar. DE CERTEAU, 1990, S. 172-175. Ebd., S. 173. Einleitung, S. 10.

Filmische Unorte in Lars von Triers Dogville

1.2 Unorte als mediale Gegen-Orte (contre-emplacements) Der »andere Raum« nach Michel Foucault6 ist ein möglicher weiterer Anwärter für das, was im Deutschen unter einem Unort verstanden werden kann. Foucault unterscheidet in seinem bekannten, »anderen Räumen« gewidmeten Vortrag zwei Arten ›anderer‹ Räume, nämlich die Utopien als »emplacements sans lieu réel« (wörtl.: Verortungen ohne wirklichen Ort) und die Heterotopien als sog. »contre-emplacements« (wörtl.: Gegen-Verortungen).7 Besonders die heterotopische Variante einer Gegen-Verortung hat in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung bekanntlich große Resonanz ausgelöst8 – so große Resonanz, dass dabei ein aus literatur- bzw. medienwissenschaftlicher Sicht mindestens ebenso interessanter Gedanke Foucaults in den Hintergrund getreten ist, der Heterotopien als mediale Räume beschreibt:9 In seinem Vorwort zu Les Mots et les choses bezeichnet Foucault als Heterotopien den medialen Träger, der Objekte miteinander in Beziehung setzt, die sonst nicht zusammen erscheinen können. So wird es etwa in Jorge Luis Borges’ chinesischer Enzyklopädie, die Foucault als Beispiel heranzieht, möglich, Wissensgegenstände gemeinsam erscheinen zu lassen, die dies nur in dieser medialen Form können, also im Nebeneinander von, wie es bspw. heißt, Tieren, die dem Kaiser gehören, und Fabeltieren.10 Und nicht nur die Schrift-, sondern auch die Bildmedialität eröffnet ein heterotopisches Nebeneinander, wie Foucault in Des espaces autres am Beispiel des Spiegels zeigt.11 Hier führt er aus, dass mediale Räume einen ›positiven‹ und einen ›negativen‹ Aspekt von Gegenräumlichkeit miteinander vereinen: Was sie zeigen, also das gespiegelte Bild, gibt es an dieser Stelle nicht wirklich, und doch ist der mediale Ort des Zeigens, also die Spiegeloberfläche, höchst real. Insgesamt eröffnet sich von hier aus eine für die Text-, Bild- und Filmwissenschaft sehr suggestive Perspektive, Unorte als medial konstituierte ›andere‹ Orte zu denken, die ihre ihnen eigene Positivität haben. In medialen Heterotopien wird die physische Nichtexistenz des dabei

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Vgl. FOUCAULT, 1994. Ebd., S. 755. Vgl. dazu DÜNNE, Einleitung (Soziale Räume), 2006, hier v. a. S. 292-295. Vgl. dazu DÜNNE, Borges und die Heterotopien des Enzyklopädischen, 2006, hier S. 191-193. 10 Vgl. FOUCAULT, 1966, S. 7-10. 11 Vgl. FOUCAULT, 1994, S. 756.

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evozierten Raums erst aufgrund einer medialen Existenz beobachtbar. Dieser Ansatz soll im Folgenden einen ersten Ausgangspunkt für die Analyse von Lars von Triers Dogville liefern. Zusätzlich zu dieser medialen Dimension von Unorthaftigkeit gilt es jedoch auch deren semantische Dimension zu untersuchen. In Bezug auf diese semantische Dimension lassen sich verschiedene Formen von Unorthaftigkeit vor allem hinsichtlich der in ihnen implizierten Negativität differenzieren.

2.1 Unorte als soziale Nichtorte (non-lieux) Ein möglicher weiterer Kandidat für eine angenommene Rückübersetzung des Ausdrucks ›Unort‹ aus dem Französischen ins Deutsche ist sicherlich Marc Augés Begriff des non-lieu (im Deutschen in der Regel: Nichtort), der von der im Begriff enthaltenen Negation her am ehesten mit dem Titel dieses Bandes verwandt zu sein scheint.12 Das Konzept des non-lieu ist für Augé der Schlüssel zu einer kulturanthropologischen Untersuchung ›vertrauter‹ Räume, mit der er den traditionellen ethnologischen Blick in die Ferne programmatisch auf Europa zurückwendet. Diese Wendung ist vor allem für die sozialwissenschaftlich orientierte Raumforschung sehr produktiv geworden, ruht aber auf einer hinterfragbaren Vorstellung von Negativität: Nichtorte sind für Augé zunächst einmal etwas, das defizitär im Verhältnis zu so genannten anthropologischen Orten (lieux anthropologiques) ist. Während diese Orte identitätsstiftend wirken – Augé bezieht sich dabei u. a. auf das Konzept der »lieux de mémoire« nach Pierre Nora13 –, sind non-lieux Orte, die eine solche kulturelle Identitätsstiftung nicht mehr verbürgen können, also etwa Transitorte auf Flughäfen, Shopping Malls etc. Implizit ist bei Augé ein kultur- und vor allem globalisierungskritischer Unterton nicht zu überhören, der, so kann man nur vermuten, der identitätsstiftenden Funktion nationaler oder zumindest kultureller Identität in einem eingeschränkten Sinn nachtrauert. Grundsätzlich scheint Augés Verständnis der Negation in seinen non-lieux dabei dem zu entsprechen, was ich hier eine ›einfache Negation‹ nennen möchte.

12 Vgl. AUGÉ, 1992. 13 Vgl. dazu v. a. NORA, 1984.

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Filmische Unorte in Lars von Triers Dogville

2.2 Unorte als Ausnahmezustände (stati d’eccezione) Neben den Nichtorten im Sinn von Marc Augé scheint es eine weitere Möglichkeit zu geben, die Semantik von Unorten zu denken, und zwar in einem sehr emphatischen Sinn als Orte, die sich einer direkten Repräsentation entziehen und dennoch das Funktionieren existierender Orte steuern. Der Unort in diesem Sinn hat eine, wie ich sagen würde, ›intensive‹ Negativität, die nicht bloßes Fehlen einer positiven Bestimmung ist (wie der Nicht-Ort bei Augé).14 Bei dieser Art von Nichtorten kann man davon ausgehen, dass es gerade der aus dem normalen Funktionieren einer Raumordnung herausgenommene Ort ist, der an sich nicht beobachtbar ist und doch das Funktionieren dieser Ordnung überhaupt erst möglich oder doch zumindest verstehbar macht.15 Diese besonders intensive Form der Negation scheint bereits in der deutschen Vorsilbe ›un-‹ angelegt: So ist ein ›Unmensch‹ etwa nicht einfach kein Mensch, sondern vielmehr ein Mensch, der all das in sich vereint, was man gerne aus dem Menschsein ausschließen möchte, von dem man sich aber gleichzeitig irgendwie bewusst ist, dass es als dunkle Kehrseite zum Menschsein dazugehört.16 Überhaupt ist die Vorsilbe ›un-‹ sicherlich eine der theoretisch meistbeachteten Vorsilben der Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts – man denke dabei nur an die exemplarischen Überlegungen zum Unheimlichen, die von Sigmund Freud bis hin zu Jacques Derrida reichen.17 Auch hier scheint ein ›un-‹ am Werk zu sein, das nicht einfache Negation des Heimlichen bzw. Heimeligen ist, sondern so etwas wie sein geheimer Kern, also möglicherweise der aus dem ›Heim‹ herausgenommene Zustand, der die Annahme eines solchen 14 Vgl. zu der besonderen Art von Negation bzw. Negativität, die Unorte kennzeichnet, auch den Beitrag von Martin Zenck in diesem Band, der zudem nicht nur der Semantik, sondern auch der Medialität von Unorten auf musikwissenschaftlichem Gebiet nachgeht. 15 Unorte in diesem Sinn stehen in strengem Gegensatz zu Foucaults wissensgeschichtlichem ›Positivismus‹: Sie sind der Wahrnehmbarkeit entzogener und doch konstitutiver Grund für Ordnungen von Wissen und Macht. 16 In Grimms Wörterbuch wird dieser Gebrauch von ›un-‹ als »improbativ« bezeichnet – als Beispiel wird dort bereits der »Unmensch« angeführt (GRIMM, 19541960, hier Bd. 24, Sp. 24). Vgl. den ähnlichen Gebrauch im Wörterbuch des Unmenschen (STERNBERGER u. a., 1989), das die so ehrenwerte wie naive Annahme vertritt, man könne dem Unmenschen das Unmenschliche durch Reinigung seiner Sprache austreiben. Unter anderem gehörte zu den Einträgen in dieses Wörterbuch auch das von deutscher Geopolitik besetzte Wort »Raum« (Aus dem Wörterbuch des Unmenschen XVI). 17 Vgl. FREUD, 1999; DERRIDA, 1993.

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Heims allererst begründet. Die ordnungskonstitutive Funktion eines topologisch aus einer bestehenden Ordnung Herausgenommenen hat Giorgio Agamben als Ort bzw. Zustand der Ausnahme (stato d’eccezione) beschrieben18 – Agamben stellt sich damit primär in die Tradition des Souveränitätsdenkens in der politischen Theorie nach Carl Schmitt, bei dem der Souverän, der eine Ordnung begründet, selbst außerhalb dieser Ordnung steht. Über die politischen Implikationen dieser Ausnahme-Logik hinaus soll sich aber zeigen, dass Agambens Ansatz auch (und vielleicht sogar noch eher) geeignet ist, die spezielle Unorthaftigkeit ästhetischer Souveränität zu beschreiben.19 *** Aus der hier vorgestellten kleinen Typologie von Unorten möchte ich in der Folge vor allem die heterotopische mediale Unorthaftigkeit (1.2) sowie den Unort als ›intensive‹, d. h. ordnungskonstitutive Negation der Orthaftigkeit (2.2) herausgreifen. Verbunden damit ist die Vermutung, dass die mediale Heterotopie der ausgezeichnete Ort ist, an dem die – an sich unbeobachtbare – ›intensive‹ Negativität des semantischen Unortes überhaupt in Erscheinung treten kann.20 Um das Zusammenspiel dieser beiden Aspekte von Unorthaftigkeit zu verdeutlichen, habe ich ein Beispiel gewählt, das für mich als romanistischen Literaturwissenschaftler an einem doppelten Nichtort meiner disziplinären Zuständigkeit liegt, nämlich den 2003 erschienenen Film Dogville des dänischen Filmemachers Lars von Trier.21 Untersucht werden soll dabei zum einen die komplexe Gegen-Räumlichkeit des Films, insofern er die (inter-)medialen Bedingungen filmischer Raumkonstitution durch eine besondere Inszenierung von Theatralität, aber auch durch eine eigentümliche kartographische Erzählmatrix thematisiert. Zum anderen soll es um die Unorthaftigkeit der politischen Macht gehen, die in diesem Film gezeigt wird und die schon im Namen der Protagonistin Grace nicht nur auf 18 AGAMBEN, 1995, v. a. S. 46-48. 19 Zum Begriff der ästhetischen Souveränität vgl. grundlegend LÜDEKE, 2006. 20 Diese These richtet sich insofern auch gegen Agambens eigenen Umgang mit dem Ausnahmezustand, der das Mediale an Konfigurationen von Souveränität weitgehend ignoriert. 21 Ich beziehe mich dabei auf: VON TRIER, 2004, und verweise auf den Film unter Angabe des jeweiligen Kapitels. Alle Abbildungen dieses Beitrags sind der DVD als Screenshots entnommen.

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Filmische Unorte in Lars von Triers Dogville

eine antiamerikanische Stoßrichtung verweist, wie sie (vielleicht nicht ganz zu Unrecht) von Trier häufig unterstellt wird, sondern auch auf einen theologischen Ausnahmezustand vor dem Hintergrund einer eigenwilligen von Trierschen ›Gnadenlehre‹ – und in letzter Konsequenz sogar auf einen ›verborgenen‹ Gott in Lars von Triers allegorischem Spiel.

Unorte in Lars von Triers Dogville Mediale Unorte und Intermedialität: Hinter den Kulissen der Filmform Lars von Trier gehört, nicht erst seit seinem Dogma-Manifest,22 sicherlich zu den polemischsten, aber auch produktivsten Regisseuren des aktuellen Autorenkinos. Doch während die Dogma-Filme noch als Versuche missverstanden werden konnten, einen naiven Realismus zu praktizieren sowie den Autorenstatus von Filmregisseuren zu widerrufen,23 haben die beiden bislang gedrehten Filme der sog. Amerika-Trilogie24 deutlich gemacht, dass die von Triersche Dekonstruktionsarbeit der Kinogeschichte keineswegs auf Überwindung, sondern vielmehr auf Freilegung der dem Filmmedium eigenen medialen Bedingungen sowohl in der mise en scène als auch in der Konstitution narrativer Strukturen zielt. Und ebenso wenig geht es von Trier um eine Nivellierung seines eigenen Autorenstatus, sondern vielmehr, wie sich zeigen wird, um eine ganz bestimmte Form seiner Zuspitzung. Hinsichtlich der mise en scène möchte ich hier vor allem auf die besondere Theatralität von Dogville eingehen, wobei diese Theatralität, ungeachtet ande-

22 Vgl. http://www.dogme95.dk (vom 30.3.2009). 23 Zur Proklamation des Autorenfilms durch die Regisseure der Nouvelle Vague vgl. La politique des auteurs, 2001. 24 Neben Dogville ist bislang im Jahr 2005 Manderlay (VON TRIER, 2008) erschienen, wo die Geschichte der Protagonistin Grace mit anderen Darstellern weitererzählt wird – Schauplatz der Handlung ist nun nicht mehr eine Kleinstadt in den Rocky Mountains, sondern eine Baumwollplantage in den Südstaaten, die filmischen Mittel ähneln sich aber sehr stark. Der geplante dritte Teil, Washington, ist 2009 noch nicht begonnen – neuere Aussagen Lars von Triers lassen es als unsicher erscheinen, ob er je gedreht werden wird.

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rer möglicher Interpretationen,25 zunächst als heterotopische Sichtbarmachung der filmischen Möglichkeiten interpretiert werden soll. Inwiefern kann aber Theatralität generell dazu angetan sein, die mediale Heterotopie von filmischer Räumlichkeit herauszustellen und somit Unorte in diesem speziellen Sinn zu erzeugen? Theorien des Imaginären, die die Filmwahrnehmung mit dem identifizieren, was Jacques Lacan das Spiegelstadium nennt, haben in der Filmwissenschaft eine lange Tradition.26 Daraus lässt sich möglicherweise folgern, dass dem Film generell eine ähnliche Funktion als mediale Heterotopie zukommt, wie dies Foucault dem Spiegel zuschreibt. Die meisten Interpretationen des Films als Ausdruck des Imaginären folgen allerdings eher einer ideologiekritischen denn einer medienwissenschaftlichen Fragestellung. Es stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Form der heterotopische mediale Charakter filmischer Räume als solcher sichtbar gemacht werden kann, inwiefern also filmische Wahrnehmungsbedingungen als solche herausgestellt werden können. Hier gilt es zu berücksichtigen, dass der Film eine konstitutive Intermedialität im Sinn von Joachim Paech27 besitzt, die es ihm nicht nur bei Bedarf erlaubt, auf andere Medien Bezug zu nehmen (so ein eingeschränktes Verständnis von Intermedialität), sondern die davon ausgeht, dass andere Medien von vornherein in die Form des Filmmediums integriert werden. In apparativer Hinsicht ist dies sicherlich in erster Linie die Photographie, aber auch das Theater als Mediendispositiv mit dem Agieren von Schauspielern im pro-filmischen Raum ist Teil der formalen Bedingungen des Mediums Film, aus denen sich gleichzeitig die spezifische Differenz zu anderen Medien herleitet. Konkret auf das Beispiel Dogville bezogen bedeutet das: Gerade dort, wo der Film seine Theatralität besonders ausstellt, zeigt er gleichzeitig die Möglichkeiten des Films, das theatralische Spiel in einer Art und Weise filmisch zu überschreiten, die Gilles Deleuze in Anschluss an André Bazin als Überschuss an Theatralität (»surcroît de théatralité«) bezeichnet hat.28 Der Film wird damit zum heterotopischen ›anderen Ort‹ für ein Theater, das es in dieser Form nirgendwo anders als im

25 So werde ich bspw. nicht darauf eingehen, wie sich von Trier auf Brechts Episches Theater bezieht, das häufig als ein bestimmender Zug der Ästhetik von Dogville eingeschätzt wird. 26 Vgl. exemplarisch METZ, 1977. 27 PAECH, 2001. 28 Vgl. BAZIN, 2000, hier S. 148, sowie DELEUZE, 1985; vgl. zu Deleuze’ BazinLektüre im Hinblick auf Theatralität auch ROLOFF, 2003.

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Film gibt, das aber vielleicht gerade deswegen so eminent theatral wirken kann. Zeigen möchte ich diesen Überschuss an Theatralität, der gleichzeitig die ureigensten medialen Möglichkeiten des Films hervortreibt, an einer Szene aus dem dritten Kapitel des Films, in der die Protagonistin Grace mit einem der Bewohner von Dogville, Jack, vor einem offensichtlich nach Westen ausgerichteten Fenster von dessen Haus zur Zeit des Sonnenuntergangs steht. Während Jack vom Lichteinfall auf Kirchenfenster in anderen Städten und später vom »Alpenglühen« (dt. im Original) in den Schweizer Alpen erzählt, öffnet Grace die schweren Vorhänge des Fensters, vor dem selbst eine Art Alpenglühen stattfindet. Was der Filmzuschauer dabei sieht, ist zunächst einmal nicht viel mehr, als was ein Theaterzuschauer sehen könnte, d. h. ein rötliches warmes Scheinwerferlicht, das abendliche Sonnenstrahlen symbolisieren soll (vgl. Abb. 1). Durch die blinden Scheiben des Fensters ist dem Filmzuschauer kein Blick über den geschlossenen Bühnenraum hinaus gestattet, der von Grace zuvor mit Worten als überwältigender Ausblick über das Tal beschrieben worden war – vor dem Fenster liegen in der Fiktion der erzählten Geschichte die Rocky Mountains und man darf davon ausgehen, dass der Sonnenuntergang in Dogville dem Schweizer Alpenglühen mindestens ebenbürtig ist. Dennoch sieht der Filmzuschauer diesen Blick jenseits des Fensters gerade nicht, die filmische mise en scène beschränkt sich also bewusst auf die Inszenierung der Blicksituation (wobei die Vorhänge diese allegorisch als Blicksituation eines Theaterzuschauers ausweisen). Während der Film jederzeit die Möglichkeiten hätte, dem Blick der Protagonisten durchs Fenster zu folgen und damit den Erwartungen der Schaulust Genüge zu tun, verharrt er bei den Gesichtern der Schauenden. Er tut dies aber in einer Art und Weise, die, ohne die theatralischen Bühnenräume als ›Raumcontainer‹ zu sprengen, sie dennoch in der Konstitution einer Raumpraxis durch die wechselnden Kamerapositionen überschreitet und damit den theatralen Raum der Bühne zu einem nicht nur aus der Ferne beobachtbaren, sondern zu einem sinnlich aus allernächster Nähe erfahrbaren macht. Insbesondere die Gesichter der beiden Dialogpartner Jack und Grace werden im Zuge dieser Szene durch Nahaufnahmen in fast epiphanieartiger Verklärung erfasst29 (vgl. 0:45:49). Damit führt gerade die höchst künstliche, filmisch eingefangene Beleuchtungssituation zu dem, was Hans Ulrich Gumbrecht einen Präsenzeffekt30 nennen würde – wobei allerdings zu 29 Zum Gesicht von Grace in Anschluss an Gilles Deleuze vgl. SCHAUB, 2008. 30 Vgl. GUMBRECHT, 2005.

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ergänzen wäre, dass diese Präsenz nicht auf der Körperlichkeit allein beruht, sondern auf der spezifischen Art ihrer Beobachtung, die in ein mediales Dispositiv eingespannt ist und durch den filmischen Rahmen in ihrer Intensität noch gesteigert wird.

Abb. 1: 0:45:46

Doch nicht nur im Hinblick auf die mise en scène erweist sich der Film als anderer Ort, der einen eigentlich nicht existierenden theatralen Ort auf der Leinwand bzw. auf dem Bildschirm zu höchster Intensität führt; auch hinsichtlich des Erzählens konstituiert Dogville einen speziellen heterotopischen Ort, der die ›reale‹ Nichtexistenz des fiktiven Schauplatzes in die visuell höchst konkrete Form einer filmisch aktualisierten Karte als narrativer Matrix überführt.

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Abb. 2: 0:00:06

In medialer Hinsicht charakteristisch für das filmische Experiment von Dogville ist nicht nur der streng begrenzte theaterartige Spielraum einer Bühnensituation. Dieser geschlossene Raum wird außerdem noch vom Blick von oben, man könnte also sagen: von einer Art Grundriss bzw. – wenn man dem Ort Dogville diese Größe zugestehen will – von einem Stadtplan bestimmt. Gleich die erste Einstellung im Prolog des Films zeigt, begleitet vom Kommentar eines extradiegetischen Erzählers, diesen Plan von Dogville aus der streng vertikalen Draufsicht (vgl. Abb. 2), bevor die Kamera nach einem zunächst langsamen, dann immer mehr beschleunigten Herabsinken und Einzoomen vor einem Phonographen stehen bleibt (vgl. 0:01.11). Diese Anspielung auf Edison als Erfinder des Phonographen wird hier, abgesehen von der Einführung des Familiennamens des männlichen Protagonisten, vor allem für einen metafilmischen Kommentar zur Montagetechnik in der Eingangssequenz genutzt: Mit dem Ausschalten des Radios geht die erste Überblickseinstellung über den Handlungsraum des Films zu Ende und die visuelle Wahrnehmung wird vom Modus des Plans in den Modus der anthropomorphen Wahrnehmung ›umgeschaltet‹. Dies geschieht mittels eines Zwischenschnitts in eine Art Kavaliersperspektive (vgl. 0:01:12), die ihrerseits wiederum unvermittelt der Großaufnahme der Gesichter von Tom (vgl. 0:01:13) und seinem Vater weicht. Was in der Eingangssequenz im Prolog von Dogville praktiziert wird, ist eine durchaus eigenwillige Variation des analytischen Montageverfahrens, das im Hollywood-Film entwickelt wurde und mit dessen Hilfe zunächst mittels eines 41

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establishing shot der Handlungsraum vorgestellt wird, bevor ein cut-in auf das Verhältnis der Protagonisten zueinander im Raum den Weg für das klassische Schuss-Gegenschuss-Verfahren bereitet.31 Indem Lars von Trier jedoch die Anschlüsse zwischen den einzelnen Einstellungen nicht so miteinander ›verschweißt‹,32 dass sie einen Eindruck lückenloser Kontinuität erzeugen, sondern recht unvermittelt aus der allumfassenden Vertikale in den horizontalen closeup übergeht, wird dieser Übergang zur Reflexion auf die filmische Raumkonstitution durch Montage und Narration. Die Versuchsanordnung, mit der Lars von Trier in Dogville die nervöse, pseudo-subjektive Handkamera, die man noch aus den Dogma-Filmen kennt, in einen strengen formalen und narrativen Rahmen integriert hat, lässt sich mit Jurij Lotman als Etablierung einer kartographischen Matrix für filmisches Erzählen beschreiben. Nach Lotmans raumsemiotischen Überlegungen sind Karten Beispiele für so genannte sujetlose Texte, während ein bestimmter parcours auf einer Karte den Handlungsraum dynamisiert und eine sujethafte Grenzüberschreitung hervorbringen kann.33 In der Tat findet bereits im Prolog des Films eine solche Dynamisierung statt, die sehr bald zu einer echten sujethaften Grenzüberschreitung wird, als mit der Fremden Grace ein von außen kommender Eindringling in die vollständig geschlossene Raummatrix der Dorfbewohner eindringt. An dieser Stelle ein sehr fragmentarischer Handlungsüberblick: Grace, die sich erst am Schluss des Films als die widerspenstige Tochter eines Gangsterbosses mit mafiahaften Zügen erweist, läuft vor ihrem Vater und seiner Verbrecherbande davon und sucht Schutz in Dogville, einem kleinen Dorf in den Rocky Mountains. Ihr Mentor dort ist der junge Tom Edison jr., ein verhinderter Schriftsteller, der sich für sie einsetzt und eine Probezeit von zwei Wochen vereinbart, in der sie mit den Dorfbewohnern zusammenleben soll, bevor diese über ihr Verbleiben entscheiden. Gegen ihre eigene Erwartung wird Grace von allen Dorfbewohnern akzeptiert, darf bleiben, wird aber nach einer kurzen glücklichen Zeit und einer sich anbahnenden Liebesbeziehung zu Tom zunehmend misstrauisch beäugt, als ein Fahndungsplakat auftaucht, das eine Belohnung auf ihre Ergreifung bekannt gibt. Fortan wird sie von den Dorfbewohnern ausgenutzt und zur Gefangenen gemacht, von den Kindern verspottet, von den

31 Vgl. zu einer Analyse der Konvention des continuity editing BORDWELL/THOMPSON, 1997, S. 284-300. 32 Vgl. hierzu OUDART, 1969. 33 Vgl. dazu LOTMAN, 1989, S. 340f.

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Frauen erniedrigt und von den Männern vergewaltigt – Tom kann sich der Macht des Kollektivs dabei nicht entziehen. Als er schließlich ihren Aufenthaltsort den Gangstern meldet, die bereits kurz nach ihrer Ankunft nach ihr gesucht hatten, kommen diese, um Grace abzuholen und töten dabei die Dorfbewohner. Grace, die noch in der Aussprache mit ihrem Vater um Gnade für das Dorf gebeten hat, übernimmt schließlich selbst die Tötung von Tom. Einziges Lebewesen, das das Massaker überlebt, ist der Hund, nach dem das Dorf seinen Namen trägt und der sich in der letzten Einstellung vor dem Abspann von einer gezeichneten Figur auf der Karte Dogvilles in ein belebtes Wesen verwandelt, das die sich nach oben entfernende Kamera mit seinem Gebell gleichsam aus dem Dorf verjagt. Auf das Ende des Films wird noch genauer einzugehen sein, zunächst einmal aber zurück zu der Geschlossenheit des gezeigten Handlungsraums – die einzige Ausnahme davon ist ein gescheiterter Fluchtversuch von Grace auf dem Lastwagen eines der Dorfbewohner im siebten Kapitel. In dieser Sequenz wird jedoch die scheinbar räumliche Fluchtbewegung Grace’ aus dem Dorf heraus bis in den Nachbarort auf der Ebene des Bildraums von Anfang an durch eine nochmals verschärfte Schließung des Raums dementiert, die eine Art mise en abîme des geschlossenen narrativen Raums des gesamten Films darstellt. Gezeigt wird die Fluchtsequenz einschließlich der Vergewaltigung durch den Lastwagenfahrer Ben aus einer vertikalen Kameraperspektive sowie mit einer Kadrierung, die genau die Ladefläche des Lastwagens als streng umgrenzten Raumcontainer erfasst. Oben auf der Ladefläche liegt, einem Schleier ähnlich, eine semitransparente Plane, die Grace als neue Eva bei der Vertreibung aus dem Paradies mit Kisten von Äpfeln zeigt (vgl. Abb. 3). Diese Raumkonstellation macht deutlich, wie gerade die strenge Beschränkung des Handlungsraums auf ein Gefüge, das dem Zuschauer seit der ersten, kartographischen Einstellung des Films bekannt ist, die filmischen Möglichkeiten der prinzipiellen Erweiterung des onscreen Gezeigten auf einen offscreen-Raum reflektiert.34 Auch hier schafft das Medium Film in Kombination mit dem kartographischen vertikalen Blick der Kamera aus dem Nichtort Dogville eine mediale Heterotopie, in der sich die Grundlagen filmischer Raumkonstitution generell herauskristallisieren.

34 Vgl. grundlegend zum dynamischen Verhältnis zwischen Onscreen- und Offscreen-Raum im Film BURCH, 1973, S. 17-32.

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Abb. 3: 1:48:56

Politisch-theologische Unorte und ästhetische Souveränität: Der Standpunkt Gottes Doch es würde viel zu kurz greifen, Dogville allein als ein Experiment zur Spürbarmachung filmischer Raumkonstitution zu betrachten, denn natürlich sind die filmischen Räume in Lars von Triers Film auch in höchst eindringlicher Weise semantisiert. Damit kommt die zweite der hier näher zu untersuchenden möglichen Bedeutungen von Nichtorthaftigkeit ins Spiel, nämlich der Unort als Ausnahmeort im Sinn von Giorgio Agamben, der sich wiederum an das Konzept des Ausnahmezustands von Carl Schmitt anlehnt.35 Nach Agamben geht eine politische Ordnung notwendigerweise aus einem Zustand hervor, der außerhalb ihrer liegt – der geregelte Zustand der Ordnung verdankt sich letztlich also der konstitutiven Ausnahme einer Un-Ordnung. Zum Unort des Ausnahmezustands gehören nach Agamben nun einerseits der Souverän, zum anderen aber auch die Form von Leben, die er als »nacktes Leben« (nuda vita) bezeichnet, das von jeder Form von politischer Existenz im Inneren der Ordnung ausgeschlossen ist.36 Es liegt vor dem Hintergrund dieses Ansatzes nahe,

35 Vgl. dazu AGAMBEN, 1995, S. 25-50. 36 Zum »nackten Leben« vgl. ebd., S. 11-22.

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zunächst nach einer politischen Bedeutungsdimension des Ortes Dogville zu suchen. Was Lars von Trier selbst nahe legt, ist zunächst eine – durchaus vor dem Hintergrund von Agambens Theorie deutbare – politische Lektüre des Films im Sinn einer Allegorie auf die demokratische Ordnung der Vereinigten Staaten von Amerika: Das Bergdorf Dogville erscheint hierin als Ort, der dank der filmisch-theatralen Inszenierung die verborgenen Spielregeln der gesamten US-amerikanischen Demokratie aufdeckt. Nahe gelegt wird eine solche politisch-allegorische Lektüre vor allem durch den Abspann des Films, der zu David Bowies Song Young Americans vor allem Bilder US-amerikanischer Armut von der Zeit des New Deal bis in die jüngere Vergangenheit37 zeigt. Dies kann man als Hinweis auf den Prozess der Exklusion und die Opferrolle deuten, in die auch Grace im Film manövriert wird: Sobald deutlich wird, dass Grace von der Polizei gesucht wird, wird sie auf ihr »nacktes Leben« reduziert; der Ort Dogville, den der extradiegetische Erzähler des Films beharrlich als friedliches kleines Nest inmitten der USA darstellt, wird für Grace somit zum Unort einer unmenschlichen Demütigung. Doch diese vordergründige Insistenz auf einer rein politisch-amerikakritischen Deutung wäre kaum mehr als eine wohlfeile Polemik gegen die Blindheit der USA in Bezug auf ihre weltpolitische Position nach dem 11. September 2001. Diese rein politische Lektüre wird vom Film selbst immer wieder durchkreuzt, insbesondere durch den Schluss, der kein politischer, sondern nichts weniger als ein – für Lars von Trier allerdings nicht ganz unerwartet – theologischer Schluss ist. Erst eine kombinierte politisch-theologische Lektüre von Dogville treibt dann auch dessen Unort-Charakter im verschärften Sinn hervor, d. h. macht den Ort, der dort entworfen wird, als potenzierten Ausnahmeort zweiter Ordnung deutlich. Eine theologische Allegorie ist im Film ebenso bereits von Beginn an angelegt: Die Hauptperson Grace kann in dieser Hinsicht als Erlöserfigur verstanden werden, die als weiblicher Christus fungiert und die Sünde der Welt auf sich nimmt. Aus dieser Lektüre beziehen letztlich auch all die bereits erwähnten ästhetischen Verfahren des Films, die dessen heterotopische Medialität spürbar machen, ihre besondere Aufladung: Grace’ Epiphanie im Sonnenuntergang lässt sich vor diesem Hintergrund als Szene religiöser Erleuchtung 37 ZORDAN, 2008, S. 119, weist darauf hin, dass die jüngeren Photos von dem dänischen Photographen Jacob Holdt (A Personal Journey through the American Underclass) stammen.

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verstehen und der kartographische Blick von oben auf die Welt ist aus dieser Deutung heraus nichts weniger als der Blick Gottes. So erinnert Dogville als allegorische Inszenierung der conditio des gefallenen, gnadebedürftigen Menschen im Stand der Sünde an die lange Tradition des Geistlichen Spiels auf dem Theater, wie sie vielleicht am nachdrücklichsten im barocken spanischen Fronleichnamsspiel, dem auto sacramental, praktiziert wurde.38 Doch auch diese Lektüre geht, wie schon die Fährte einer rein politischen Lektüre, auf die Lars von Trier die Filmzuschauer schickt, nicht ganz auf: Wenn man überhaupt von einer theologischen Lesbarkeit von Dogville sprechen kann, so muss man zumindest sagen, dass es letztlich eine durchaus perverse, d. h. im Wortsinn umgekehrte Gnadentheologie ist, die dort entworfen wird. Das ist um so bemerkenswerter, als von Trier damit auch das von ihm bereits in anderen Filmen durchaus affirmativ praktizierte christologische Schema umkehrt: So etwa lässt er in Breaking the Waves oder Dancer in the Dark seine weiblichen Protagonistinnen eine Art Kreuzesopfer vollziehen, indem sie unschuldig die Sünde ihrer Mitmenschen auf sich nehmen und in den Tod gehen.39 Dogville praktiziert demgegenüber keine neutestamentarische Gnadentheologie, sondern eine Rückkehr ins Alttestamentliche, die irritierenderweise mit Konventionen des Gangsterfilms verknüpft wird, ohne durch diese Ironisierung aber ins Lächerliche umzukippen: Grace und ihr Vater bilden dabei im neunten und letzten Kapitel des Films nicht nur eine »Heilige Familie«,40 sondern auch eine Gangsterdynastie: Der Gangsterboss, den von Trier in seinen mafiosoähnlichen Zügen sicherlich bewusst mit dem Ausdruck des godfather, also des Mafiapaten, assoziiert hat, lässt die theologisch zu erwartende Rolle des vergebenden Vatergottes in ihr Gegenteil kippen. Die Tochter Grace, die zuerst noch in Übereinstimmung mit ihrer weiblichen Jesusrolle und ihrem sprechenden Namen um Gnade für die Bewohner von Dogville gebeten hatte, wird schließlich zur Vollstreckerin alttestamentarischen Vergeltungsdenkens, wenn sie das Massaker abschließt, indem sie ihren Freund Tom eigenhändig erschießt. Zu diesem alttestamentarischen Rachedenken in der Maske der Genrekonventionen des Gangsterfilms passt weiterhin, dass der Hund, der als einziges Lebewesen aus dem Dorf das Massaker überlebt, Moses heißt. 38 Vgl. zu Dogville als »Welttheater« ORTH, 2008, S. 183f. 39 Zur christologischen Opferdimension, die sich wie ein roter Faden durch Lars von Triers Filme zieht und sich v. a. in weiblichen Christusfiguren manifestiert, vgl. bereits MARTIG, 2008. 40 Vgl. dazu KOSCHORKE, 2000.

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Letztlich schlüpfen die Gangster um Grace’ Vater in ihrem genrekinohaften Auftritt in die an sich unrepräsentierbare Rolle der Instanz, die Walter Benjamin in seinem Essay Zur Kritik der Gewalt im Walten der souveränen göttlichen Gewalt jenseits menschlicher Rechtsordnung dingfest zu machen glaubt.41 Diese göttliche Gewalt schafft bei Lars von Trier gleichsam einen Ausnahmezustand zweiter Ordnung, der den Ausnahmezustand erster Ordnung, als Grace’ Schicksal zum Spielball der Einwohner von Dogville wird, durch eine nochmalige Überbietung der dabei implizierten Gewalt beendet. *** Allerdings stellt sich – und damit komme ich zu einem kurzen Schluss, der versucht, mediale und politisch-theologische Unorte in Dogville zusammenzudenken – letztlich die Frage nach dem Unort der souveränen Gewalt, die in diesem Film jenseits der in ihm gezeigten fiktiven Geschichte tatsächlich ›waltet‹: Geht es Lars von Trier letztlich darum, die Verfemtheit des politischen Unortes Amerika oder den anthropologischen Unort des menschlichen Lebens vor Gott zu zeigen, in dem eine souveräne und politische oder göttliche Macht angerufen wird, die das Treiben der Menschen ein- für allemal unterbinden soll – lässt sich der Film also als politisches und/oder theologische Pamphlet verstehen, was allein in dieser Kombination ungewöhnlich und spannungsreich genug wäre? Oder geht es nicht mindestens ebenso sehr um die ästhetische Souveränität eines Regisseurs, der die Kontrolle über sein Produkt umso vehementer für sich beansprucht, als im Medium Film, anders als in der neuzeitlichen Literatur, die Instanz des Autors nicht von vornherein als die allein verantwortliche Instanz gelten kann, die für das fertige Produkt verantwortlich ist? In diesem Sinn wäre letztlich der verborgene Gott namens Lars von Trier selbst diejenige Instanz, die noch jenseits des godfather auf der binnenfiktionalen Ebene und noch jenseits des extradiegetischen Erzählers, dessen gutgläubige Kommentare zur Handlung ganz offensichtlich von einer übergeordneten Ebene her ironisiert werden, die Fäden seines allegorischen Passionsspiels in der Hand halten will: Nicht nur fiktionsimmanent verweist also der politische Ausnahmezustand auf einen gottgleich im Hintergrund stehenden Souverän, sondern der Unort des Souveräns ist auch derjenige, den Lars von Trier für sich beanspruchen muss, um seine mediale Heterotopie eines theatral inszenie41 BENJAMIN, 1991, S. 202f.

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renden und kartographisch erzählenden Kinos so konsequent ins Werk zu setzen. Natürlich stellt sich auch anhand dieser Inszenierung ästhetischer Souveränität, der Lars von Trier übrigens nach Kräften Vorschub leistet,42 die Frage, ob es ihm nicht noch um etwas anderes als um Selbstinszenierung geht, nämlich um einen schonungslosen Blick auf den Menschen in der Tradition der Moralistik. Vielleicht ist aber genau so ein moralistischer Blick nicht möglich ohne die fundamentale Ambivalenz, man könnte auch sagen, ohne die Unorthaftigkeit einer Position, die die uneingeschränkte Souveränität eines verborgenen Gottes43 beansprucht, um etwas über das nackte Leben auszusagen, wie es in der Gestalt des Hundes Moses die Kamera anbellt. Die letzte Einstellung des Films (vgl. Abb. 4) wäre somit die Signatur, die den prekären Unort von Lars von Triers filmischer Autorschaft zum Vorschein bringt.

Abb. 4: 2:44:14

42 Vgl. hierzu vor allem Lars von Triers The Five Obstructions, der 2003 (VON TRIER, 2005) und somit im selben Jahr wie Dogville erschienen ist: Dort setzt er sich selbst als sadistischer Souverän der Regeln des Spiels in Szene, mit dem er seinen Lehrer und Freund Jørgen Leth immer neue Versionen seines Films The Perfect Human drehen lässt. 43 Zu Lars von Trier als jemand, der gerne ein »zum Jansenisten gewendeter Katholik« wäre, vgl. Ekkehard Knörer in seiner Filmkritik zu The Five Obstructions in http://www.jump-cut.de/filmkritik-thefiveobstructions.html [10.6.2009].

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Ver(un)ortungen im frühneuzeitlichen Raum Europa-Amerika Jesuitische Reisebeschreibungen und -berichte um 1700 ESTHER SCHMID HEER

I. Michel Foucault bezeichnet in seinem Aufsatz Andere Räume die ›Jesuitenkolonien‹ in Südamerika und insbesondere jene in Paraguay als Heterotopien, Orte, welche in vollkommener Weise organisiert seien, Kompensationsheterotopien für die europäischen Gesellschaften.1 Richtet man den Blick auf die hier interessierenden Texte des Tiroler Jesuiten Anton Sepp (1655-1733), der den größten Teil seines Lebens in Paraguay verbrachte, so lässt sich zunächst beobachten, welche Besonderheiten dieser heterotopen Orte beschrieben werden und in welcher Weise sie sich (als ausgesonderte, markierte Räume) durch Hybridisierungs- respektive Differenzierungsvorgänge in verschiedenster Hinsicht auszeichnen.2 Im Rahmen meines Beitrages zur Diskussion der ›Unorte‹ will ich an Foucaults Heterotopie-Konzept(e) anschließen und darüber hinaus zum einen den Fokus von der Beschreibung von Heterotopien als kulturell hybride Zwischenräume im Sinne Homi Bhabhas3 verschieben auf die Prozesse der Verräumli1 2 3

FOUCAULT, 1993, S. 45f. Vgl. SCHMID HEER, 2004. BHABHA, 2000.

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chung selbst im Sinne einer – wie Dieter Mersch in seiner auf Perfomativität hin ausgerichteten Foucault-Lektüre diesen Prozess nennt – »Ver-Anderung« oder im Sinne von Michel de Certeaus (performativer) Verortung und Verräumlichung.4 Interessant ist es dann u. a. zu beobachten, wie die Sprache an der Raumproduktion beteiligt ist und in welcher Weise in der Sprache Orte und Räume konstituiert respektive als Unorte markiert und ausgesondert werden.5 Zum anderen will ich im Anschluss an Sabine Schültings These, dass die Reisebeschreibungen selbst Heterotopien als Ausdehnung der alten in die neue Welt seien, die Texte als Heterotopien im Raum Europa-Amerika betrachten.6 Ich beziehe mich dabei weniger auf Rainer Warnings These, dass literarische Texte Heterotopien und als solche Konterdiskurse seien,7 sondern mich interessiert die performative Dimension von Prozessen. Die Frage ist also, wie und wo im Text Diskurse und Gegendiskurse entstehen respektive fassbar werden und in welcher Weise (literarische) Subjekte Verortungen respektive Verunortungen vornehmen und damit Räume markieren, schaffen und besetzen – betrachtet als textuelles Verfahren, nicht als subjektive Zuordnung. Ich habe damit auch die Frage nach der spezifischen Textualität der jesuitischen Berichte aus der Neuen Welt im Blick. Bevor ich diese Punkte an Textbeispielen verdeutlichen werde, ist es aufschlussreich, einen Einblick in den historischen Kontext zu gewinnen.

II. Als der Tiroler Jesuit Anton Sepp, dessen Werk, wie eingangs erwähnt, im Zentrum meiner Ausführungen steht, 1691 nach Paraguay kam, traf er auf komplexe wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche und kulturelle Verhältnisse. Seit der Gründung des Jesuitenordens Mitte des 16. Jahrhunderts reisten europäische Jesuiten zur Missionierung der ›Heidenvölker‹ in ›alle Welt‹, so auch nach Südamerika. Waren zunächst nur spanische und portugiesische Jesuiten zur Mission zugelassen, so wurden in der zweiten Hälfte des 17. Jahr4 5 6 7

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MERSCH, 1999; DE CERTEAU, 1988, v. a. Kap. IX, S. 215-238. Zur Definition und Differenzierung von ›Ort‹, ›Unort‹ und ›Raum‹ siehe weiter unten Abs. III. SCHÜLTING, 1997, S. 45. WARNING, 1999; DERS., 2003, S. 3-36. Warning entwickelt seine These von der poetischen Konterdiskursivität allerdings an poetischen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

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hunderts im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen und der habsburgischen Heiratspolitik in Europa vermehrt auch deutschsprachige Jesuiten nach Südamerika berufen. In Anlehnung an und zum Teil in Fortführung von bereits bestehenden Missionen, v. a. der Franziskaner, führten die Jesuiten die Indigenen in Dörfern, so genannten Reduktionen8 zusammen, in erster Linie um sie zu christianisieren und der katholischen Kirche einzugliedern, in zweiter Linie aber auch, um sie in durchaus kolonialkritischer Weise der spanischen (und portugiesischen) Sklaverei zu entziehen.9 In der Jesuitenprovinz Paraguay, welche im 17. und 18. Jahrhundert ungefähr die heutigen Staatsgebiete Paraguay, Uruguay, Argentinien und Teile Brasiliens und Boliviens umfasste, entstand entlang der Flüsse Paraguay, Paraná und Uruguay unter Protektion und in wechselseitiger Abhängigkeit von Papst und spanischer Krone eine besondere Form der Reduktionen. Diese rund dreißig Dörfer bei den Guaraní, in der Forschung meistens (fälschlicherweise) »Jesuitenstaat« genannt, wurden von den Jesuiten zusammen mit den Guaraní weitgehend selbständig geführt und verwaltet und waren wirtschaftlich äußerst erfolgreich.10 Im Gegenzug wurden die Guaraní zur Verteidigung und Sicherung der Nord- und Ostgrenze gegen die portugiesisch-brasilianischen Sklavenjäger (paulistas, bandeirantes) eingesetzt. Dieses von dem österreichischen Dramatiker Fritz Hochwälder im Tone der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts »Heiliges Experiment« genannte ›Missionsprojekt‹ dauerte von Anfang des 17. Jahrhunderts bis zur Ausweisung der Jesuiten aus Südamerika in den Jahren 1767/68.11 Die Jesuiten wurden nach Europa deportiert, der Orden wurde 1773 auch in Europa verboten und erst 1814 wieder zugelassen. 8

Der in den südamerikanischen Missionen gebildete Begriff der Reduktionen leitet sich von lat. ›reducere: zusammenführen‹ her; gemeint sind damit die von jesuitischen Patres oder Patres anderer Orden geleiteten indigenen Dörfer (span. pueblos, portug. aldeias), welche im 18. Jahrhundert oft zu kleinen Landstädten ausgebaut wurden. 9 Neuere Arbeiten des (kirchen-) historischen Forschungskreises um Professor Johannes Meier in Mainz zeigen, dass solche Aussagen hinsichtlich der verschiedenen südamerikanischen Provinzen zu differenzieren sind. So unterscheiden sich zum Beispiel die brasilianischen Missionen in verschiedener Hinsicht von den Guaraní-Missionen in Paraguay und selbst innerhalb Brasiliens sind verschiedene Reduktionsmodelle zu differenzieren; vgl. dazu MEIER, Jesuiten, 2005 sowie 2008, und HAUSBERGER, 1995 sowie 2000. 10 Der Begriff ›Jesuitenstaat‹ ist deshalb falsch, weil es kein abgegrenztes Staatsgebiet und auch keine ganz unabhängige Regierung und Verwaltung gab. 11 Vgl. das vielrezipierte Drama Das heilige Experiment von Fritz Hochwälder (DERS., 2002).

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Bildung und Mission sind bereits in den Konstitutionen des Jesuitenordens, der weder Klostergemeinschaft noch Ordenstracht oder gemeinsame Gebetszeiten kennt, als die beiden Kerngebiete jesuitischer Tätigkeit festgehalten. Die Missionierungsmethode der Jesuiten wird in der Forschung als Akkomodationsmethode beschrieben, das heißt, die Jesuiten passten sich den Kulturen, in denen sie missionierten, an und zeigten sich darin als ausgesprochen geschickt.12 In Indien, China und Japan, wo die Jesuiten oft die ersten christlichen Missionare waren, trafen sie auf hochgebildete Kulturen, was sie philosophisch, theologisch und wissenschaftlich forderte, aber auch interessierte und faszinierte. Der Kultur- und Wissenstransfer funktionierte in beide Richtungen, so stieg zum Beispiel der italienische Jesuit Matteo Ricci zum ersten Hofastronomen am chinesischen Kaiserhof auf. Umgekehrt prägte das aus Asien mitgebrachte Wissen der Jesuiten beispielsweise über das Jesuitentheater in Deutschland wesentlich das China- und Japanbild in Europa.13 In Südamerika (wie weitgehend auch in Nordamerika) hatten die Jesuiten, was ihr Ziel der christlich-europäischen ›Inkulturation‹ betrifft, dort am meisten Erfolg, wo die Indigenen mehrheitlich sesshaft waren und sich wie die Guaraní in Paraguay friedfertig zeigten. Die euphorische Beurteilung der jesuitischen Mission und insbesondere des Missionsprojektes in Paraguay, welche vor allem historische und wirtschaftshistorische Forschungsarbeiten bis in die 1990er Jahre prägte, ist in den letzten Jahren zunehmend einer differenzierteren Erforschung der komplexen Verflechtungen von wirtschaftlichen, politischen, religiösen und kulturellen Interessen gewichen. Die baulichen Überreste der Reduktionen, insbesondere der Kirchen in Südamerika, die per Zufall aufgefundenen Musikpartituren, die Texte, die aus den Reduktionen berichten, die von Jesuiten erstellten zwei- und mehrsprachigen Grammatiken und Wörterbücher, Heilpflanzenkompendien und anderes mehr werden, zum Teil bereits seit den 1970er Jahren, interdisziplinär und international, teilweise mit Unterstützung von UNESCO-Geldern breit erforscht.14 12 Zur Differenzierung des Missionsbegriffes im frühneuzeitlichen jesuitischen Verständnis vgl. SIEVERNICH, 2005. 13 Vgl. dazu HSIA/WIMMER, 2005. 14 Sammel-, Austausch- und Koordinationspunkte für die Jesuitenforschung im deutschsprachigen Raum sind u. a. der bereits genannte theologische Lehrstuhl von Professor Johannes Meier in Mainz, welcher auch Verbindungsnetze zur süd- und mittelamerikanischen Forschung unterhält, und der internationale und interdisziplinäre Verein zur Erforschung der Geschichte der Jesuiten, »Jesuitica e. V.«, mit

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Die Reisebeschreibungen und Berichte, die wir heute kennen, sind meist aus Briefen zusammengestellt worden, die die Jesuiten aus den Reduktionen für die Ordensoberen und Familienangehörigen in ihren Heimatprovinzen verfassten. Die Texte des Paters Anton Sepp sind deshalb von besonderem Interesse, weil sie die ersten deutschen Texte sind, die aus in Südamerika verfassten Briefen zusammengestellt wurden. Die meisten anderen (deutschen) Berichte, die bekanntesten sind Pauckes sogenannter Zwettler Codex15 und Dobrizhoffers Geschichte der Abiponer,16 wurden nach der Ausweisung der Jesuiten in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts in Europa niedergeschrieben respektive gedruckt. Die Textgrundlage meiner Ausführungen bildet in erster Linie Anton Sepps Reißbeschreibung, von dessen Bruder Gabriel in Europa aus Briefen zusammengezogen und redigiert, 1696 erstmals gedruckt in Brixen und Nürnberg. Dann werden auch noch kurz zur Sprache kommen die Continuation der Reisebeschreibung, von Sepps Bruder Alphons redigiert, erstmals gedruckt 1710 in Ingolstadt, und der Paraquarische Blumengarten, der als Manuskript in Paraguay 1714 abgeschlossen wurde und heute als fragmentarisches Autograph in der Universitätsbibliothek München liegt.17 Im Folgenden sollen nun theoretische Überlegungen, Textbeispiele und historischer Kontext im Hinblick auf das Tagungsthema ›Unorte‹ verbunden und konkretisiert werden.

Sitz in München. Zum Orden der Gesellschaft Jesu allgemein vgl. FALKNER, 1997; HARTMANN, 2001; IGNATIUS VON LOYOLA, 1998; SIEVERNICH/SWITEK, 1990; MÜLLER, 2006; zum Kolonialismus allgemein vgl. PELIZAEUS, 2008; zum Verhältnis von Christentum und Kolonialismus, insbesondere in Lateinamerika vgl. PIETSCHMANN, 1994; PRIEN, 1977; SIEVERNICH, 1992; zu den jesuitischen Missionen und insbesondere zum Missionsprojekt der Jesuiten in Paraguay vgl. DECOT, 2004; MEIER, 2000 sowie 2005, Sendung; HARTMANN, 1994; KÜHNE, 1994. 15 PAUCKE, 1959-1966; Zwettler Codex genannt, weil das Buch im österreichischen Zisterzienserstift Zwettl als Manuskript verfasst und hinterlegt wurde. 16 DOBRIZHOFFER, 1783-1784. 17 SEPP, 1696; DERS., 1710; DERS., 1714. Für die ausführlichen Titel der Werke und zu Anton Sepp allgemein vgl. MAYR, 1988.

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III. Für die Berichte des Anton Sepp soll zunächst festgehalten werden, dass die Texte an einen bestimmten Ort, einen physikalischen Ort gebunden sind. Erkenntnisse über diesen aus den Texten historisch-geographisch erschließbaren und lokalisierbaren Ort kann man durch historische, archäologische, kunsthistorische, musikwissenschaftliche, wirtschaftshistorische u. a. Forschungen gewinnen. Die Genese des Textes hat also einen Ort, verstanden im Sinne de Certeaus als Ort mit einer Konstellation von festen Punkten.18 Gleichzeitig ist der Text selbst in seiner Materialität ebenfalls ein Ort und zugleich in seiner Immaterialität als Sprache ein Nicht-Ort. Diese Doppelheit will ich mit den beiden Heterotopie-Konzepten von Foucault in Zusammenhang bringen.19 Zum einen sind die Reduktionen also (räumliche) Heterotopien in der frühneuzeitlichen europäisch-amerikanischen Gesellschaft und an einen historischphysikalischen oder historisch-geographischen Ort gebunden. Diese Beobachtung schließt an das Heterotopie-Konzept, wie es Foucault in Andere Räume entwickelt, an. Zum anderen ist der Text als bewegliche (diskursiv-sprachliche) Heterotopie, als Material und Schrift und gleichzeitig als sprachlicher Nicht-Ort im Raum Europa-Amerika unterwegs, ein Nicht-Ort, an dem in wechselnden Formationen Unterschiedliches nebeneinander angeordnet werden kann. Dies wiederum schließt an das Heterotopie-Konzept im Vorwort zu Die Ordnung der Dinge an.20 Es handelt sich also um einen Nicht-Ort, der durch die Verschränkung von diskursiven, räumlichen, performativen und repräsentativen Textverfahren zu einem Sprachraum wird.21 Vor dem Hintergrund dieser Vorüberlegungen will ich nun einige Textbeispiele diskutieren.

18 DE CERTEAU, 1988, S. 218: »Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität«. 19 Anregungen zu diesen Überlegungen verdanke ich einem Gespräch mit Thomas Forrer. 20 FOUCAULT, 1974, S. 17-28. 21 Vgl. DE CERTEAU, 1988, S. 218: »Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. […] Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht« (Hervorh. M.d.C.) Zu dieser Unterscheidung und ihrer Bedeutung für das ›Unort‹-Konzept vgl. auch die Einleitung zu diesem Band, S. 9-11.

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IV. Zunächst interessiert mich die allgemeine Raumkonstitution im Sinne einer Rahmung im ersten der drei hier betrachteten Werke, der Reißbeschreibung von Anton Sepp SJ. Das Titelblatt der Reißbeschreibung nennt Geburtsort, Orden, Nation, geographische Eckdaten der Reise, inhaltliche Eckdaten der Berichte und Genese des gedruckten Textes. Diese Angaben werden in der Vorrede, angereichert mit christlichen Elementen (Exempla, Christusnachfolge in apostolischer Tradition etc.), wiederholt. Die Reißbeschreibung gliedert sich im Folgenden in fünf Absätze, die nicht eine lineare Reisebeschreibung bieten, sondern hin und her springen und einen homogenen Raum Amerika-Europa zerstreuen.22 Beschreibt der erste Absatz, geschrieben 1691 in Buenos Aires, die Überfahrt von Cádiz in Spanien nach Buenos Aires in Argentinien und endet mit der glücklichen Ankunft in Südamerika, so springt der zweite Absatz, nun bereits geschrieben in der paraguayischen Reduktion Japeyu 1692, nochmals an den Anfang und beschreibt detaillierter die Reise von Tirol über Genua nach Cádiz, dann die Meerfahrt bis nach Buenos Aires. Dieser mit Itinerarium überschriebene Teil macht nahezu ein Drittel der ganzen Reisebeschreibung aus. Der dritte Absatz, als Anderes Itinerarium bezeichnet, berichtet von der Schifffahrt ins Landesinnere zu den Reduktionen. Der vierte Absatz berichtet aus dem Zusammenleben mit den Guaraní in der Reduktion Japeyu, was der fünfte Absatz dann detaillierter ausführt. Die sprunghafte Struktur der Beschreibung kann zunächst – pragmatisch – darauf zurückgeführt werden, dass der Text aus verschiedenen Briefen zusammengestellt worden ist. Ähnliches kann auch vom entsprechenden Bericht im Neuen Welt-Bott,23 einer vielrezipierten jesuitischen Missionszeitschrift im 18. Jahrhundert, gesagt werden, wobei gegenüber der 1696 publizierten Reisebeschreibung redaktionelle straffende und ordnende Eingriffe festgestellt werden können. Spätere Berichte, Charlevoixs Geschichte von Paraguay,24 welche als ersten Teil den gerafften Reisebericht Anton Sepps enthält, Pauckes Zwett-

22 Vgl. zu diesem Abschnitt auch SCHMID HEER, 2008. 23 Der Neue Welt-Bott, 1728-1761. Für den vollständigen langen Titel des ersten Bandes vgl. zum Beispiel das Exemplar der Zentralbibliothek Zürich, Mikrofilm MFA 96:499. Der aus verschiedenen Briefen Anton Sepps redigierte Bericht findet sich im zweiten Teil (1688-1700), Nr. 48, 1692, S. 40-60. 24 DE CHARLEVOIX, 1768.

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ler Codex25 oder Dobrizhoffers Geschichte der Abiponer,26 zeigen eine deutliche Tendenz zur Linearisierung der Erzählung, zum Sammeln, Ordnen, Kategorisieren und Darstellen von unterschiedlichem und möglichst umfassendem Wissen aus und über Südamerika.27 Auffallend und interessant an Sepps Reißbeschreibung, wie sie uns vorliegt, scheint mir nun aber darüber hinaus zu sein, dass einerseits geographische Verortungen und Zuordnungen vorgenommen werden, dass diese andererseits aber durchkreuzt und verschoben werden. Eine Beobachtung ist – in Anlehnung an de Certeau – die, dass nicht nur die Reisebewegung Orte verfehlen und Räume entstehen lässt, sondern auch die Sprache.28 Eine zweite Beobachtung ist die, dass der Erzähler der Reißbeschreibung die Lesenden von einem allgemeinen, aber – wie oben ausgeführt – nicht homogenen Raum Europa-Südamerika über die Markierung und Evokation eines anderen Raumes Amerika sukzessive hinein führt zu den heterotopen Orten (oder eben ›Unorten‹), den Reduktionen, welche dann durch die Textpraxis (Said)29 oder die performativen Sprachpraktiken (de Certeau) selbst wieder verräumlicht werden. Diese Erzählbewegung will ich im Folgenden entlang von vier Textbeispielen aus der Reißbeschreibung deutlich machen.30

25 Vgl. Anm. 15. 26 Vgl. Anm. 16. 27 Auf diese interessanten Verschiebungen zwischen den Texten, die um 1700 in Südamerika entstanden sind, und den stärker geordneten und reflektierten Werken am Ende des 18. Jahrhunderts im Hinblick auf räumliche, performative und diskursive Aspekte kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 28 Vgl. dazu DE CERTEAU, 1988, Kap. VII, S. 179-208. 29 Vgl. SILVERMAN, 1997, S. 117. 30 Was hier versucht werden soll, ist, das meines Erachtens spezifische Verfahren der Ver(un)ortung respektive Verräumlichung in Sepps Texten deutlich zu machen. Dass es auch ganz andere Verfahren gibt – und es geht hier nur um das Verfahren, nicht um einen allgemeinen Vergleich der so unterschiedlichen Texte –, zeigt ein Vergleich zu Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg. In Fontanes Wanderungen lässt sich im Gegensatz zur hier skizzierten und im Folgenden genauer zu untersuchenden Bewegung in Sepps Reißbeschreibung eine Erzählbewegung vom Ort zum Raum beobachten. Der Erzähler wandert durch die Mark Brandenburg, aber wichtig ist zunächst nicht dieser Raum, sondern wichtig ist der jeweilige Ort, an den er kommt und der durch die historischen Erzählungen zu einem Raum wird, der ein zugleich mythischer wie historischer Raum, ein Zeitenraum und ein Tableau der Geschichte des Ortes ist; vgl. FONTANE, 1971.

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V. Das erste Beispiel setzt bei der Äquatorüberquerung während der Schiffspassage von Cádiz nach Buenos Aires ein:31 »Hier muß ich nicht ungemeldt lassen / was ich von Sevilia aus / in einem lateinischen Brieff von dem Magnet-Zünglein / Acu nautica genannt / und folgends von allen Magneten / denen Reverendis Patribus zu schreiben versprochen. Ob nehmlichen das Magnet-Zünglein / wann es über die Lini passiret / und seinen Polum verlieret / sich wende / und zu den andern Polum Antareticum, zu deme es nahet / kehre? Berichte also was P. Antonius Böhm / andere Patres, auch ich wohl observirt / das nemlichen gemeldtes Zünglein gantz und gar sich nicht gewendet oder verändert: den Stellam Polarem, so ich mein lebtag nicht mehr sehen werd: zeiget der Magnet auch hier in Paraquaria ganz fideliter und Schnur recht: Der Unterschied ist alleinig Respectu nostri: Nemlichen / daß einer sein Concept gantz verändere. Dann wo in Europa Mittag / ist bey uns Mitternacht und Nort / und also fort: Der Mittag-Wind oder Sur, ist bey ihnen warm / hier ist er frisch und kalt. Der Nord ist in Europa kalt / in America Badwarm. Und eben dieser Ursachen halber ist hier alles umgekehrt: jetzt da ich dieses schreibe um Johanni nemlichen / seynd wir Mitten im Winter / doch ohne Kälte / Frost / Schnee: Dahero wissen meine Indianer nicht was Schnee ist / ob er weiß oder schwartz / warm oder kalt. In December und Januarii, wo in Europa alles zum Stein gefrieret / essen wir Feigen und brocken Lilien; Mit einem Wort / wie gesagt / alles ist hier verändert / und hat nicht übel gesprochen / der Americam die verkehrte Welt genennet. EbnerMassen gehet es mit dem Brevario Romano, so in 4 Theil getruckt / und hab mich schon etlich mal gebrent / im Winter-Theil betend / da ich doch den Sommertheil hätte nehmen sollen dann Pars Æstivalis alldorten / ist hier bey uns Hyemalis, & vicissim. 31 Die Zitate stammen aus der Erstausgabe Brixen 1696, Österreichische Nationalbibliothek Wien. 48. L. 38/MF 5011 und, der besseren Lesbarkeit wegen, aus der im gleichen Jahr erschienenen Ausgabe Nürnberg 1696, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. 8 H E MISS I. 1302:1. Außer geringfügigen orthographischen Abweichungen im Titelblatt der beiden Drucke sind keine Unterschiede feststellbar. Die Zitate beziehen sich immer sowohl auf den Brixener als auch auf den Nürnberger Druck und werden mit der Sigle RB und den Seitenzahlen der Drucke angeführt. In den Transkriptionen sind Kürzel und Ligaturen aufgelöst und Absätze sowie verschiedene Druckschriften nicht berücksichtigt. Vertikal gedruckte Umlaute und Doppelbindestriche wurden der modernen Schreibweise angepasst.

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Esther Schmid Heer Dieses seye genug aus Gelegenheit des Magnet-Steins / wir fahren nun von den mitteln Himmels-Cirkel schon zwey Grad fort: […]«.32

An dieser Stelle, die ich im Hinblick auf die Untersuchung von Ver(un)ortungen in Sepps Reißbeschreibung für eine der interessantesten halte, soll zunächst die physikalisch-geographische Seite der Beschreibung betrachtet werden. Der Erzähler ist hier an einer vermessenen Grenze im physikalischen Meerraum, einer – mit Deleuze/Guattari gesprochen – Kerbung im glatten, ungeordneten Meerraum angelangt,33 welche ein im Text markierter Ort ist, der zugleich Ort der wissenschaftlichen Erkenntnis, der Transgression und der Veränderung im Sinne von ›Ver-Anderung‹ ist. Die Grenze als markierter Text-Ort ist zudem hier auch Spiegel. Allerdings ist der Spiegelungseffekt nicht im herkömmlichen Sinn Widerspiegelung von ›Gegebenem‹, sondern wie in den zeitgenössischen katoptrischen Experimenten mit Konvex- und Konkavspiegeln, Spiegelkabinetten, Spiegelmaschinen und geometrischen Spiegelformen, an denen jesuitische Gelehrte im 16. und 17. Jahrhundert maßgeblich beteiligt waren,34 Möglichkeit, Raum und ›Welt‹ zu erweitern, zu vervielfältigen und zu verfremden. Auf der Textebene wechselt der Erzähler am Äquator in den Raum der nicht gänzlich fremden – der Kompass funktioniert diesseits und jenseits des Äquators gleich –, aber der veränderten Konzepte und, da der Ort des Erzählens an dieser Textstelle bereits die Reduktion ist, an den heterotopischen Ort. Der Spiegel ist nach Foucault sowohl Utopie als auch Heterotopie, sowohl unwirklicher, virtueller Raum als auch wirklicher Raum, indem er vom virtuellen Ort des Spiegels aus die Betrachtenden auf ihren (wirklichen) Platz zurückschickt und sie mit dem ganzen ›Umraum‹ verbindet.35 Hier aber steigt der Erzähler – wie Alice in Lewis Carrolls Through the Looking-Glass36 – durch den Spiegel des Äquators hindurch in die (virtuelle) Sprach-Welt mit den veränderten Konzepten, in die ›ver-anderte‹, heterotopische Welt.37 »[Wir] fahren nun von den mitteln Himmels-Cirkel schon zwey Grad fort«, heißt es auf der anderen Seite. Die Welt hinter dem Spiegel ist 32 RB 68-71. 33 Vgl. DELEUZE/GUATTARI, 1992. Die hier verwendete Fassung ist DIES., 2006. 34 Vgl. dazu SCHMIDT, 2002; GRONEMEYER, 2004; STAUFFER, 2008, sowie DIES., Habilitationsprojekt. 35 Vgl. FOUCAULT, 51993, S. 39. 36 CARROLL, 1974. 37 ›Welten‹ im Sinne Nelson Goodmans verstanden als nicht getrennte, gänzlich verschiedene Welten, sondern als Versionen einer Welt, vgl. GOODMAN, 1984.

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nicht eine dem Raum oder – seit dem 18. Jahrhundert vermehrt – der Zeit enthobene Utopie, sondern sie ist eine zeitgenössische amerikanische Heterotopie im Spiegelverhältnis zu Europa. Für das Zielpublikum – die europäischen Lesenden – ergibt dies eine interessante Perspektive: Zum einen ist der Text selbst an dieser Stelle Spiegel, Ort des verfremdeten Eigenen, Utopie als Nicht-Ort des virtuellen oder poetischen Sprach-Raumes und Heterotopie als Ort des veränderten und erweiterten Gespiegelt-Gegebenen, zum anderen bietet der Text für die Lesenden die Möglichkeit, mit dem Erzähler durch den Spiegel hindurch in die heterotope Welt zu steigen und sich quasi mit dem Erzähler in diesem von der Erzählung geschaffenen anderen Raum zu bewegen. Das kann faszinierend und zugleich beunruhigend sein. Utopien trösten, Heterotopien beunruhigen, sagt Foucault im Vorwort zu Die Ordnung der Dinge.38 Heterotopien sind nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern eingeschlossen in die (historischen) Diskurse einer (historischen) Rahmengesellschaft. Die Beunruhigung, die von diesem ausgeschlossen Eingeschlossenen ausgehen kann, wird hier daran sichtbar, dass Amerika zwar deutlich als die heterotopische andere Welt markiert wird, das Spiegelverhältnis aber dadurch verkompliziert wird, dass die Pronomina mit den Verortungen respektive Verunortungen spielen. Wenn von bey uns und bey ihnen und von veränderten Konzepten die Rede ist, so ist plötzlich nicht mehr ganz eindeutig, welcher der Räume nun der ausgeschlossen eingeschlossene ist. Amerika ist zwar der heterotop markierte andere Raum, zugleich aber wird durch die Verortungen und die deiktischen Hinweise des Erzählers Europa zum anderen Raum. Heterotopien sind dann nicht mehr einfach das Außen eines Innen, sondern sie sind als relationale, in performativen Prozessen konstituierte beobachtbar.39 Sie dezentrieren hier Verortungen im Raum Europa-Amerika. Verortungen werden zu Verunortungen.40 38 FOUCAULT, 1974, S. 20. 39 Zur Relationalität des Raumbegriffes und zur Prozessualität von Unorten vgl. auch den Beitrag von Friedemann Kreuder im vorliegenden Tagungsband. 40 Die Schwierigkeiten, die beim Versuch auftauchen, ›Ort‹, ›Unort‹ und ›Raum‹ in der Analyse stets präzise zu differenzieren, hängen u. a. damit zusammen, dass der Begriff der Heterotopie auf eine Topik verweist, Foucault aber eigentlich räumliche Phänomene beschreibt (vgl. LÖW, 2001, S. 165). Hilfreich sind meines Erachtens Merschs Hinweis auf die performative Dimension, welche Foucaults Konzepten inhärent ist, und de Certeaus Unterscheidung von Ort und Raum (vgl. Anm. 18 und 21), an welchen ich mich in meinen Ausführungen orientiere. Verortungen geschehen dort, wo Orte sich lokalisieren lassen, Verunortungen demgegenüber dort, wo Identitäten sich auflösen. Unorte sind in meiner Untersuchung also Andere re-

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VI. Das Ziel der Meerüberfahrt ist Buenos Aires, wo die Reisenden am 6. April 1691 von den Ordensbrüdern des dortigen Kollegs empfangen werden. Wichtig ist in dieser zweiten, hier zu betrachtenden Textstelle denn zunächst auch die Nennung der internationalen Zusammensetzung der Ordensangehörigen und der organisatorischen Beschaffenheit von Kolleg und Provinz. Weiter wird von dieser Stadt gemeldet: »Bonos Aëres alleinig von Corduba in Tucuman entscheidet ein purlauteres / ebnes Feld / wie Lechfeld / so über 2. hundert Meil sich in die Länge biß gemeldtes Corduba erstrecket. In diesen zwey hundert Meilen auch nicht ein Baum zu finden / sondern lauter glatter schöner Graß-Boden und Viehweyd / weit minder ein Dorff oder Hauß / oder Hirten-Hütten anzutreffen: sondern viel tausend Rinder / als Ochsen / Kühe / Kälber / Pferd / die keinen Herren zugehörig / sondern primi occupantis eines jeden seynd / der ihnen die Halffter umb den Halß werffen / und heimführen will. Aber von diesem weitschichtigen grossen Feld wiederum in das kleine Städtlein / oder Vestung / Bonos Aëres, zu kehren. Bonos Aëres, so unter dem 35. Grad / Antarctici Poli Höhe / gleichwie Gadiz unter den 35. Artici Poli Höhe zu liegen kommet: Ist ein kleines Städtlein: hat nur 2. Gassen in Creutz gebauet: nicht halbs so groß ein Marck unter Caltern / oder Clausen«.41

Auf dem Weg von Europa in die Reduktionen ist Buenos Aires eine wichtige Zwischenstation. Hier residiert der Ordensprovinzial, hier werden die Jesuiten den einzelnen Reduktionen zugeteilt. Die Erzählung verläuft wie im aufgespannten Raum Europa-Amerika auch hier im Binnenraum vom (geographischen) Raum zum Ort, in dem zunächst die Umgebung beschrieben wird und dann der Ort selbst. Die Spiegelung von Buenos Aires und Cádiz geschieht nun von Amerika aus übers Meer, ebenfalls über den implizierten Äquator. Buenos Aires in Amerika und Cádiz in Europa liegen südlich und nördlich des Äquators auf der gleichen geographischen Höhe. Buenos Aires ist im Verspektive ›ver-anderte‹ Räume oder Nicht-Orte im Sinne Foucaults, durchaus auch mit einer gewissen Nähe zu Marc Augés postmodernen non-lieux; vgl. AUGÉ, 1994. Zu den hier diskutierten Punkten vgl. auch den Beitrag von Martin Zenck im vorliegenden Tagungsband und die Einleitung, v. a. S. 16-18. 41 RB 139f.

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gleich zu Kaltern, Sepps Tiroler Heimatort, sehr klein. Das Feld zwischen Buenos Aires und Córdoba ist weit wie das Lechfeld bei Landsberg, wo Sepp im Noviziat war. Die Verortung in der anderen Welt geschieht also zunächst über Vergleiche mit Europäisch-Vertrautem. Fremd ist eigentlich nur das herrenlose Vieh, ein Schlaraffenland-Topos vieler jesuitischer Berichte aus Südamerika. Im Weiteren entsteht durch die anschließende Beschreibung ein detaillierter Reiseführer durch Buenos Aires mit Informationen zu architektonischen, geistlichen, politischen, wirtschaftlichen und anderen Merkmalen der Stadt und ihrer Umgebung. Durch die Spiegelungen und die Sprachpraxis der verschiedensten Zuschreibungen entsteht ein Raum, in welchem sich Fremdheit und Vertrautheit die Waage halten durch den ständigen Vergleich von amerikanischen und europäischen Gegebenheiten. Nicht zuletzt vermittelt die Anwesenheit des Jesuitenordens Ordnung und Vertrautheit. Von Buenos Aires aus reisen die Patres einen Monat später, am 1. Mai 1691, weiter ins Landesinnere. Begleitet von Guaraní fahren sie in kleinen Booten die Flüsse Río de la Plata, Paraguay und Uruguay aufwärts zu den Reduktionen, in die sie abgeordnet worden sind. Von dieser Fahrt wird vermeldet: »Als wir 8. Täg in dem großen Rio de plata, so von hier an Rio Paraquay (Rio Spannisch heist so viel als Fluß) genennet wird / liessen wir auff der rechten Hand einen andern grossen Rio Negro, den schwartzen Fluß liegen: auff der Lincken Rio Terzero: und dann auch den grossen silbern Fluß Paraquay, von deme Paraquaria den Namen schöpffet. Schiffeten rechter Hand in dem Flüß Uruguay hinein / so in der Breite über die 300. Meil gegen Brasil hinein seinen Ursprung suchet: am welchen wir 2. hundert Meil von Bonos Aëres entlegen / unsere Indianische Reductiones, Dörffer / oder Völckerschafften haben / nemlichen 14. an Uruguay, die übrigen 12. an den Fluß Parana rechter Hand besser hinein / wie gar wohl R. P. Scherer in seiner überaus schönen / nutzlichen Universal-Land-Charten gantz klar verzeichnet hat. Der günstige Leser belibe gemeldte Mappam in die Hand zu nehmen / ich will ihme bey der Hand gar schön in unsere Reductiones hinein führen. Suche also vor allen Bonos Aëres, und lasse Cabo de S. Maria auff der rechten Hand liegen: alsdann ein klein wenig weiter hinein / wird er einen Fluß finden klein und ohne Namen verzeichnet: dieses ist der Fluß Uruguay so groß als die Donau zu Wien / an welchem ich auch an heunt gleich in der ersten Reduction wohnhafft / dieses schreibe. Als-

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Esther Schmid Heer dann wird er verzeichnet sehen, [S.] Nicolar besser hinauf S. Xavier, noch weiter hinauf SS. Sacramentum S. Joseph und also fort. Hier ist doch zu mercken / daß R. P. Scherer wegen enge der Mappa nicht alle Ort nach Fleiß hat namsen können: setzet also S. Nicolas die erste an unsern Uriguay, so doch 6. andere vor sich hat. Und diese erst die 7. der Ordnung gezehlet wird«.42

Was im allgemeinen Raum Europa-Amerika als das andere oder verkehrte Amerika markiert wurde, und in Buenos Aires erste konkretere fremde und vertraute Formen angenommen hat, wird nun sukzessive durch das Fahren und Versprachlichen des ›Erfahrenen‹ (im durchaus doppeldeutigen Sinn) differenziert und zugleich neu geschaffen. Die Lesenden werden an der Hand in diesen kartographischen Sprach-Raum hineingeführt und haben durch die Revision der Karte die Gelegenheit, unmittelbar an der Schaffung einer neuen topographischen ›Sprach-Karte‹ teilzunehmen. Es ist kein gänzlich neuer Raum, der da entsteht, sondern es wird bereits vorhandenes Raumwissen, vermittelt in der und durch die Scherer-Karte, revidiert.43 Was auf der alten Karte noch keinen Namen hat, bekommt nun einen und wird damit konkret; es verschränken sich repräsentative und performative Aspekte. Der Erzähler selbst ist in diesem Raum bereits verortet. Wie schon anlässlich der Äquatorüberquerung die Formulierung »wir fahren nun von den mitteln Himmels-Cirkel schon zwey Grad fort«, so entsteht auch hier der Eindruck, dass die Lesenden unmittelbar teilhaben sollen an dieser Fahrt durch die ›ver-anderte‹ Welt. Dass es in dieser präsenten anderen Welt nötig, hilfreich oder zugleich beunruhigend wie beruhigend sein kann, an der Hand genommen zu werden, zeigt sich, als kurz darauf, fast unvermittelt, »wilde Barbaren« auftauchen, die sich dann aber in Tauschverhandlungen über Dolmetscher als doch nicht so wild erweisen. Die Szene endet mit der Feststellung, dass »doch ein Freundlichkeit in so wilden Unmenschen« sei.44 Die Flussfahrt wird fortgesetzt und führt zu den berüchtigten Wasserfällen.45 Die Indigenen bauen blitzschnell die Boote auseinander, schleifen die Bestand-

42 RB 168-170. 43 SCHERER, 1702-1710. Vgl. darin insbesondere die Südamerika-Karten, die als Einzelblätter schon vor der Drucklegung des Atlas novus im Umlauf gewesen sein müssen. 44 Vgl. SEPP, 1696 (siehe Anm. 31), S. 173. 45 Die berühmtesten Wasserfälle in diesem Gebiet sind die Iguaçu-Fälle.

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Ver(un)ortungen im frühneuzeitlichen Raum Europa-Amerika

teile über die Klippen hinauf, und setzen sie oben wieder zu Booten zusammen. Dann heißt es im Text: »Diesem Wasserfall des Flusses / Enge und rauhe Klippen (wie alle Patres Missionariis insgemein dafür halten) hat der vorsichtige Schöpffer der Natur pur alleinig unsern armen Indianern zu höchsten Nutzen allhier erschaffen und gesetzt. Dann bis hieher seynd schon die Spannier / aus unersättlichen Geld-Geitz gefahren mit ihren grossen Schiffen: als sie aber hieher kommen / hiesse es non plus ultra: Nicht weiter. Mussten derowegen wiederum nacher Bonos Aëres kehren; und biß heutigen Tag haben sie in unsere Völckerschafften keinen eintzigen Tritt gesetzet: können mit unsern Indianern keine Gemeinschafft / Handelschafft und Schacherey anstellen / welches wie nutzlich / ist nicht zu beschreiben. Die gröste Ursach will diese seyn: daß / neben dem / daß die Spannier vielen Lastern ergeben / umb welche unsre einfältige gute Indianer noch bißhero nichts wissen: solche aber durch ihre Gemeinschafft gleich ergreiffeten: so machen sie aus denen Indianern / denen die Natur die liebe Freyheit gegeben / Sclaven und Leibeigne / tractiren hernach diese / obwohl sie Christen / wie Hund / wie Bestien / und verderben alles / was die Patres so viel Arbeit und schweiß gekostet«.46

Der Wasserfall markiert – ähnlich dem Äquator – im geographisch-physikalischen Raum die Grenze und den Übergang zu einem heterotopischen anderen Raum. Ging es am Äquator um den europäischen Raum und den amerikanischen Raum mit den veränderten Konzepten, so ist der Wasserfall hier ein markierter Ort im bereits heterotopischen Raum der Erzählung, der sich durch vielfältige Anschluss- respektive Diskursmöglichkeiten auszeichnet: Legitimierung der christlichen Mission dadurch, dass Gott als Schöpfer der Natur die Wasserfälle geschaffen habe zum Schutz der Indigenen; Kolonialkritik an den geldgierigen, unchristlichen Spaniern; die Verbindung von Handel, Freiheit und Sklaverei; den Indigenen zugeschriebene Charaktereigenschaften und anderes mehr. Der Text ist hier zugleich vielfältig verschränkter Diskurs und Gegendiskurs, denn es wird nicht nur Kolonialkritik geübt, sondern es wird auch der Ort hinter und oberhalb der Wasserfälle als heterotoper Ort ausgeschlossen, um die Indigenen für christliche Interessen verfügbar zu machen.47 46 RB 197f. 47 Die Jesuiten betrieben einen blühenden Handel mit den Spaniern und sprachen sich nicht grundsätzlich gegen Sklaverei aus, sie hielten selbst – allerdings schwarze,

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Es wird hier sichtbar, dass Heterotopiebildung mit durchaus ambivalenten Machtdiskursen verknüpft ist und ebenso, wie oben bereits beobachtet, mit der Dezentrierung von Verortungen: Die europäischen Spanier werden hier fremder gezeichnet als die Indigenen. Es sind immer auch Ordnungsversuche und -prozesse, die Räume als heterotope ein- und ausschließen. Im Kontext des kolonialen Diskurses ist diese Textstelle subversiv, im Kontext des Missionsdiskurses ordnungsstiftend. Diskursivität und Gegendiskursivität, dies sei hier nochmals betont, möchte ich deshalb auch stärker verschränken als Rainer Warning dies in seinen Aufsätzen zu literarischen Heterotopien und Konterdiskursivität tut, und im Anschluss an Dieter Mersch performative Aspekte von diskursiven und gegendiskursiven Phänomenen in diesen Texten der Frühen Neuzeit in den Blick nehmen, in Verbindung mit kontextuellen Bezügen und intradiegetischen Verfahren.

VII. Aus dem Unorte-Alltag in den heterogenen und hybriden Dorfgemeinschaften, den Reduktionen, berichtet schon die Reißbeschreibung, aber ausführlicher tun dies dann die Continuation der Reißbeschreibung und der Paraquarische Blumengarten. In (wenn auch nicht strikter) chronologischer Folge, aber ganz unterschiedlicher Erzählweise, auf die ich hier nicht näher eingehen kann, wird in beiden Werken von den ersten Jahren in wechselnden Reduktionen berichtet, von Wunderheilungen, Pestzeiten, landwirtschaftlichen, musikalischen und handwerklichen Arbeiten, Bekehrungsprozessen und Missionsversuchen. Dazu unter dem Stichwort ›Heterotopien als Möglichkeitsräume‹ zum Schluss noch ein kurzer Ausblick. Michel de Certeau befasst sich in seiner Studie Kunst des Handelns mit Raumund Sprachpraktiken. Im Zusammenhang mit Wundererzählungen schreibt er: »Die Benutzung einer von anderen geschaffenen Ordnung führt zu einer Neuaufteilung des Raumes in dieser Ordnung; sie schafft zumindest einen Spielraum für die Bewegungen von ungleichen Kräften und für utopische Bezugs-

nicht indigene – Sklaven. Sie setzten sich aber für humane Bedingungen der Sklaverei ein, welche sich im Übrigen im 17. und 18. Jahrhundert bereits zu vielfältigen Formen von Leibeigenschaft und Zwangsarbeit differenziert hatte.

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punkte«.48 Auffallend sind in der Continuation tatsächlich die zahlreichen Szenen der Verhandlung von Religion und Kultur, welche den heterotopen Ort, will man ihn in eine Innen/Außenordnung einpassen, prekär machen und zu einem Möglichkeitsraum von verschiedensten hybridisierenden und differenzierenden Prozessen werden lassen. Und deutlicher respektive vielfältiger und differenzierter als am Ort der Äquatorüberquerung kann in der Continuation die Zerstreuung von Identitäten und die Dezentrierung von Verortungen beobachtet werden. Der Unort im Text erweist sich als Ort respektive eben als Raum der wechselnden ordnenden, verschiebenden und auflösenden Sprachsetzungen. Wird zum Beispiel zunächst »Paraquaria am Ende der Welt« zum Ort, wo indigene Stimmen Widerstand gegen jesuitische Ordnungsversuche leisten – im Text wiedergegeben in Guaraní – und damit (Sprach-)Raum besetzen, so spricht der Erzähler gegen Ende der Continuation plötzlich selbst Guaraní. Tauchen immer wieder Klagen über die Indigenen auf, die die europäische Ackerbauweise nicht begreifen wollen und die Ochsen lieber »fressen«, als sie vor den Pflug zu spannen, so teilt der Erzähler plötzlich an einer Stelle mit, er wisse nicht, warum die Natur die indigene Pflanzweise so begünstige, jedenfalls sei sie viel effizienter als die europäische.49 Europäische Kerbungsversuche weichen indigenen Kerbungserfolgen, Kulturraum wird im Text sprachlich verhandelt und performativ besetzt, neubesetzt und umbesetzt. Wie ausgelagert und fremd sogar schließlich das einst vertraute Europa werden kann, zeigt der Schluss des Paraquarischen Blumengartens. Mit großer Geste verabschiedet sich der Erzähler von allem und allen, welches/welche ihm einst auf dem Wege seiner europäischen Lebensstationen wichtig waren, um dann den Schlusssatz auszusprechen: »Valete: verzeihet mir die fehler: und so Jhr ehnder dan Jch in den himmel und Ewigen Lustgarten, aus disem iammerthal der zäher khommen solt, Bettet für mich und Lebt wol.«50 Europa und Amerika spiegeln sich hier nicht mehr, sondern finden erst am gänzlich anderen Ort, dem himmlischen Paradiesgarten, wieder zusammen. Foucault bezeichnet im Vorwort zu Die Ordnung der Dinge die Sprache als Nicht-Ort, welcher es erlaubt, Dinge nebeneinander anzuordnen, welche in der materialen Welt keinen Platz gemeinsam hätten. Man müsste das Unmögliche

48 DE CERTEAU, 1988, S. 59. 49 SEPP, 1710, S. 214-217. 50 SEPP, 1714, S. 154.

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denken können.51 Betrachtet man den Text selbst als Heterotopie, so entsteht am Nicht-Ort der Sprache ein Möglichkeitsraum, in welchem durch performative sprachliche Setzungen Formen der kulturellen europäisch-amerikanischindigenen Verhandlung zugleich geschaffen und vorgeführt werden. Zur spezifischen Textualität dieser jesuitischen Berichte gehört aber meines Erachtens, dass es nicht bei diesem Vorführen bleibt, sondern dass die Lesenden in die virtuelle (Sprach-)Welt hinter dem Spiegel, in diesen anderen, ›ver-anderten‹ Raum hineingeführt werden und – weil man, wie Gunnar Schmidt sagt, sich in Spiegelungsverhältnissen immer nur innen befinden kann, nie außen –52 mit dem Lesen teilnehmen an den performativen Prozessen der zugleich verfremdenden wie erweiternden Spiegelungen und der dezentrierenden Verortungen respektive Verunortungen im frühneuzeitlichen Raum Europa-Amerika.53

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Ver(un)ortungen im frühneuzeitlichen Raum Europa-Amerika

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Ver(un)ortungen im frühneuzeitlichen Raum Europa-Amerika

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Esther Schmid Heer

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Unort Minne Raumdekonstruktionen als Neukonzeptualisierung der Minne im späthöfischen Sang ANNETTE GEROK-REITER

I

Minnesang und Raumkonzeption

Lohnt es sich, die Kategorie des ›Unortes‹, verstanden als heuristische Kategorie, die sich zunächst nur durch die Präsilbe ›Un-‹ aus einer intensiven Negation1 von Örtlichkeit bestimmt, an die Gattung des mittelhochdeutschen Minnesangs heranzutragen? Auf welcher Grundlage, mit welchem Recht?2

1 2

Zur Vorsilbe ›Un-‹ nicht als »bloße[s] Fehlen einer positiven Bestimmung«, sondern als Intensitätssignifikant vgl. DÜNNE in diesem Band, S. 35. Entscheidend für diese Fragenperspektive ist zweifelsohne der ›topographical‹ bzw. ›spatial turn‹, dessen Ertrag sich in den unterschiedlichen Disziplinen sowie transdisziplinär abzeichnet, keineswegs jedoch ausgelotet ist. Grundlegend zum ›topographical turn‹ in den Kulturwissenschaften: WEIGEL, 2002; zum ›spatial turn‹ der Geschichtswissenschaften: SCHLÖGEL, 2003. Einschlägig im Bereich der Mediävistik: RIMPEAU/IHRING, 2005; VAVRA, 2005; STAUBACH/JOHANTERWAGE, 2007; KUNDERT, 2007. Innerhalb der germanistischen Mediävistik liegen vor und nach dem ›turn‹ im wesentlichen Arbeiten zum Bereich des höfischen Romans vor: SCHRÖDER, 1972; GLASER, 2004; grundlegend und perspektivenreich: STÖRMERCAYSA, 2007 (mit Diskussion der Forschung zum Roman S. 34-42, insbes. auch S. 41-42 Anm. 33); LAUER, 2008.

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Annette Gerok-Reiter

Diese Frage lässt sich nur beantworten, indem zunächst das spezifische Raumkonzept des Minnesangs, genauer der Hohen Minne, bestimmt wird.3 Cor amantis non angustum – eben deshalb steht das Herz im Fokus jeglicher Liebeslyrik:4 Es ist Metapher für den ›Ort‹, in dem sich liebes-emphatisch wohnen lässt; es ist Metapher für den ›Raum‹, der in Liebesangelegenheiten geöffnet, verschlossen, verändert, befragt wird; es ist Metapher für die ›Verortung‹ der Identität der Liebenden.5 Das Spezifische des mittelhochdeutschen Minnesangs und damit dessen historische Formation wird jedoch nun gerade darin deutlich, dass das Ich und sein Herz nicht allein, ja nicht einmal vorrangig das poetische Raumkonzept bestimmen. Insbesondere in der Konzeption der Hohen Minne, die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts von Frankreich in den deutschsprachigen Raum importiert wird und bis ins 13. Jahrhun-

3

4 5

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Den Raumaspekt außerhalb des Themas ›Pastourelle‹ oder ›Natureingang‹ hat die Minnesangforschung bisher außerordentlich wenig behandelt. Einen Vorstoß leistet hier zunächst vom Einzelbeispiel her: FUCHS-JOLIE, Under die ougen shehen, 2006; FUCHS-JOLIE, Problems of topological and visual order, 2006; in erweiterter Perspektive: FUCHS-JOLIE, 2007. Ausführliches Material zum Motiv bietet: OHLY, 1977. Bei der Differenzierung zwischen Ort und Raum gehe ich von de Certeaus Unterscheidung zwischen dem Ort als momentaner »Konstellation von festen Punkten« und dem Raum als »Geflecht von beweglichen Elementen« aus (DE CERTEAU, 1988, S. 218; vgl. das ausführliche Zitat in der Einleitung in diesem Band, S. 9.). Prinzipiell einführend in die Raumtheorie: OTT, 2002. Vorzüglich als Arbeitsinstrument zu Raumtheorien quer durch die Geschichte: DÜNNE/GÜNZEL, 2006. Auf die Pluralität der Raumvorstellungen in der Moderne hat zu Recht CASSIRER, 1975, S. 23, hingewiesen. In dieser Pluralität zeige sich das »Entscheidende: daß es nicht eine allgemeine, schlechthin feststehende Raum-Anschauung gibt, sondern daß der Raum seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst von der Sinnordnung erhält, innerhalb deren er sich jeweilig gestaltet. Je nachdem er als mythische, als ästhetische oder als theoretische Ordnung gedacht wird, wandelt sich auch die ›Form‹ des Raumes« (ebd., S. 26). Systematisieren lassen sich die pluralen Ansätze in der Gegenüberstellung von mathematisch-physikalischem (euklidischem), d. h. messbarem Raum, und einem Raum, der durch Erfahrungsrelationen definiert und insofern nicht mathematisch nachvollziehbar ist, sei dies der gesellschaftliche Raum SIMMELs, 1995, der erlebte Raum BOLLNOWs, 1977, der Aggregatraum im Gegensatz zum Systemraum bei PANOFSKY 1998, S. 109, oder der Matrixraum LÄPPLEs, 1991. Auf dieser Gegenüberstellung beruht letztlich auch die Unterscheidung von Ort (lieu) und Raum (espace) bei de Certeau. Dass diese Gegenüberstellung insbesondere in der Moderne virulent wird, trifft ebenso zu wie der Sachverhalt, dass sie durchaus bereits eine lange Geschichte hat; hierzu in knapper Skizze CASSIRER, 1975, S. 19-22; vor allem STÖRMER-CAYSA, 2007, S. 534.

Unort Minne

dert als Leitgattung mittelhochdeutscher Lyrik bezeichnet werden kann,6 treten zwei weitere entscheidende Indices hinzu: das Gegenüber der Dame sowie das Gegenüber der Gesellschaft. Durch diese Trias wird ein spezifischer ›Bezugsraum‹ aufgespannt, der als Grundkonstituens der Konzeption der Hohen Minne gelten kann. D. h. nicht über die Konstellation des einzelnen Ich, sondern über diesen durch drei Positionen gekennzeichneten Raum entfaltet sich die Konzeption der Hohen Minne. Da dieser dreipolige Bezugsraum Grundlage meiner weiteren Überlegungen ist, soll er in seinen wesentlichen Facetten wie seinem Komplexitätspotential zunächst erläutert werden. Von hier aus wird dann nach den Irritationen dieses Bezugsraums im späthöfischen Sang – und zwar bei Frauenlob – gefragt. Das Ich-Lied der Hohen Minne7 geht in der Regel aus von folgenden figürlich vorgestellten Positionen, die als ›Strebepfeiler der Imagination‹8 dienen: Ein liebendes Ich (erste Position) wirbt um eine Dame (zweite Position), die oft als angesprochenes, zumindest jedoch deutlich thematisiertes Du inszeniert ist. Die dritte Position wird durch die Gesellschaft markiert, die durch ihre expliziten Forderungen und impliziten Ansprüche als Normgeber, Kritiker oder Mitdiskutant in das Lied hineinzitiert wird. Jede Position, die in unterschiedlichem Maß als Akteur in Erscheinung treten kann, ist dabei durch ein standardisiertes Set an Verhaltensregeln gekennzeichnet. Das liebende Ich muss seine Werbung um die Dame im dienst an ihr gegen alle Widrigkeiten

6 7 8

Zum Ich-Lied der Hohen Minne als Leitgattung sowie zur Problematisierung dieser Zuordnung: WACHINGER, 1989; TERVOOREN, 1993. Vgl. GEROK-REITER, 2009, S. 90f. Ich übernehme Ausdruck und Bild von STÖRMER-CAYSA, 2007, S. 50. Uta Störmer-Caysa bezeichnet mit den »Strebepfeilern für die Imagination« innerhalb des höfischen Romans »Orte, die [der Leser] als Schauplätze schon erzählter Begebenheiten wiedererkennt, Fixpunkte der Orientierung in der Raumstruktur und der Möglichkeit nach auch in der Bedeutungsstruktur des Werkes« (S. 51). Diese Fixpunkte bilden innerhalb von oder neben beweglichen Raumfigurationen gleichsam verlässlich statische ›Anhaltspunkte‹, d. h. sie wirken stabilisierend. Das Bild der Strebepfeiler lässt sich durch die Kriterien der Bedeutsamkeit, der Ortsfestigkeit und des Wiedererkennens auf die drei immer wiederkehrenden Eckpositionen der Hohen Minne vorzüglich übertragen und markiert eben dadurch deren statisches Grundgerüst. Zugleich stößt sich die Imagination jedoch im Ich-Lied der Hohen Minne von diesen Fixpunkten deutlich ab, entfaltet von hier aus ein außerordentlich dynamisches Spiel der Variation. Diese Seite betone ich mit dem genitivus subjectivus: Strebepfeiler d e r Imagination. Entscheidend ist, dass generierend dynamischer Aspekt (Strebe-) und statisch, anhaltgebender Aspekt (-pfeiler) interagierend zusammenspielen.

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mit staete aufrecht erhalten. Die Dame darf und soll die Werbung als Begehren der Nähe zulassen, nicht jedoch die Erfüllung des Begehrens, da die Dame als umworbenes summum bonum diesen Status, der die Werbung auslöst und rechtfertigt, nur aufrecht erhalten kann, solange sie unerreichbar, d. h. ›auf Distanz‹ bleibt.9 Die Gesellschaft sorgt als huote, als Aufpasser, für die Unerreichbarkeit der Dame, übernimmt somit als weiteres Distanzregulativ einen konkreten Handlungspart. Die Minne, die ideell und pragmatisch nicht zur Erfüllung gelangen darf, löst leit und smerze des werbenden Ich aus. Proportional zum Leid als Distanzsignal steigt jedoch wiederum der Authentizitätsanspruch der Minne als Index für den Grad der begehrten Nähe.10 Der Reiz dieser Konzeption besteht also in einem Bezugsraum, der sich über eine genau austarierte, z.T. asymmetrische, ja paradoxe Spannung von Nähe und Distanz zwischen Ich, Dame und Gesellschaft konstituiert.11 Dieser Bezugsraum der handelnden oder angesprochenen Akteure formiert jedoch nur eine Ebene des Liedes, die ›Handlungsebene‹ des Werbungsgeschehens. Denn neben der Handlungsebene und in der Regel zeitgleich mit ihr entfaltet sich eine Ebene der poetologischen Reflexion. Ursache hierfür ist, dass das liebende Ich nicht nur als Werber, sondern zugleich als Sänger auftritt. Dadurch treten – im Vergleich zur ersten Ebene – deutlich andere Zuschreibungen und Funktionen der drei Akteure in den Vordergrund. Indem das singende Ich die Klage aufgrund der Distanz der Dame zum Preis ihrer selbst läutern muss, um durch ihre Vorzüglichkeit den anhaltenden Werbegesang zu rechtfertigen, erweist sich das Klagelied der Handlungsebene als Preislied auf zweiter Ebene. Erst der Preis der Dame, der sich aus der Klage über ihre Distanz kunstvoll herauszukristallisieren hat, erhöht als Zeichen überwundenen Schmerzes wiederum die vreude der Gesellschaft, steht damit für das Gesellschaftsideal des hôhen muotes ein. Für diese Demonstration des hôhen muotes zollt die Gesellschaft, die damit auf ebendieses Gesellschaftsideal verpflichtet wird, dem singenden Ich Anerkennung und dies umso mehr, je kunstvoller in 9

Hohe Minne ist somit primär als Distanzfigur auf der Basis hierarchisierter Positionen zu fassen. Dies gilt ebenso für die altfranzösische Lyrik, auch wenn hier Begriffe wie aut loc, haute amor etc. nur sporadisch auftauchen; dazu HAFERLAND, 2000, S. 219-220. Vgl. zum Begriff hôhiu minne auch FUCHS-JOLIE, 2007, S. 2829, der die »Raumordnung der Vertikalität« (ebd., S. 29) als dominant festhält. 10 Zur Authentizitäts- bzw. Fiktionalitätsdebatte grundlegend: MÜLLER, 2004; zuletzt: GRUBMÜLLER, 2009; KÖBELE, 2009; KABLITZ, 2009. 11 Durch die relationale Konditionierung des ›Bezugsraums‹ und seine interne Spannung weicht dieser Raum also von der Vorstellung eines ›Behälterraums‹, dem die Herz-Metapher sowie Innenraumdiskurse letztlich verpflichtet bleiben, deutlich ab.

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poetisch-ästhetischer Souveränität das liebende Ich seine hoffnungslose Betroffenheit auf Handlungsebene übersteigt. Die kalkulierte Spannung zwischen Nähe und Distanz der Handlungsebene setzt sich also auf einer zweiten Ebene fort, wodurch sich nicht nur das dreipolige Raummuster auf einer zweiten Ebene wiederholt, sondern nun auch beide Ebenen einen gleichsam paradigmatischen Raumbezug eröffnen, d. h. einen dritten Bezugsraum, der diesem Liedtypus erst seine eigentliche Komplexität verleiht. Der forcierte Balanceakt der Hohen Minne basiert damit wesentlich auf drei simultanen Bezugsräumen, die sich zwischen den figürlich entworfenen ›Strebepfeilern der Imagination‹ auftun: zum einen auf dem Bezugsraum zwischen Werber, konkreter Dame und huote-Gesellschaft mit seinem asymmetrischen Spiel zwischen Nähe und Distanz; zum anderen auf der Duplizierung und zugleich Variation dieses Bezugsraums auf zweiter Ebene in den Positionen ›Sänger‹, ›idealisiertes summum bonum‹ und ›zur vreude erhobene Gesellschaft‹; zum Dritten auf der Spannung und Differenz zwischen beiden Ebenen, durch die erst die Überwindung des Leids als ästhetischer Akt der Gesangskunst deutlich wird.12 Die Tradition hat sich an diesem Konzept und seinen impliziten Raumvorgaben abgearbeitet. Dabei ist deutlich, dass die Relation zwischen der Einhaltung des konzisen Raumkonzepts und dessen revoltierender Überschreitung als dynamisches Potential bereits im Kern des Konzepts angelegt ist, ja, man könnte die Produktivität dieser Teilgattung über den variantenreichen Umgang mit dem aufgezeigten Raumkonzept etwa bei Rudolf von Fenis, Reinmar, Morungen, Hartmann oder Walther beschreiben.13 Und ebenso ließe sich auch die rückläufige Bedeutung dieses intensiven und produktiven Liedtypus nach

12 Auf dieser Struktur beruht die Simultaneität der Diskursmöglichkeiten, durch die EGIDI, 2002, S. 106, den Minnesang gattungsspezifisch von der Spruchdichtung abgrenzt, die in ihrer Aspektentfaltung eher reihend, d. h. segmentierend-syntagmatisch verfahre. 13 Einige Beispiele: Stagnation im Zwischenraum bei Rudolf von Fenis, Gewann ich ze minnen (MF 80,1); Konfrontation des Liebesraums mit dem Kreuzfahrerraum bei Friedrich von Hausen, Mîn herze und mîn lîp (MF 47,9); Engführung von Liebes- und Sprachraum bei Reinmar: Swaz ich nu niuwer maere sage (MF 165,10); Raumüberschreitung in die Transzendenz bei Heinrich von Morungen, Vil süeziu senftiu toeterinne (MF 147,7); Einebnung des hierarchisch geordneten Raums bei Walther von der Vogelweide: Herzeliebez vrowelîn (L 49,25). Eine systematisch wie historisch umfassende Analyse zu Raumkonstitution, Raumvariation und Raumbrechung im Minnesang ist bisher Desiderat.

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der »Hochphase«14 von hier her erklären: Zwar finden sich durchaus Fortsetzungen der Diskussion um die Hohe Minne, ausgespielt in einem akkumulierenden und immer stärker vernetzten Formen-, Bilder- und Motivrepertoire,15 zugleich aber verliert dieser Liedtypus vielfach genau dadurch seine spezifische Spannung, dass eben das komplexe Raumgefüge aufgelöst und nivelliert wird. In erstaunlicher Weise greift nun aber Frauenlob, der – um 1300 wirkend – am Ende der Spätphase des Minnesangs steht, wieder auf dieses konstitutive Raumgefüge zurück, um in dessen Transformation die Möglichkeiten und Grenzen des Liedtypus für den Liebesdiskurs seiner Zeit noch einmal scharfsinnig zu beleuchten. Insofern Frauenlobs Transformation nicht nur eine nuancierende Variation, sondern eine abenteuerliche Transgression16 des tradierten Raumbezugs bedeutet, stellt sich die Frage nach dem ›Unort‹, an den Minne, Minnediskussion und Aufführungspraxis geraten, mit besonderer Prägnanz und im Rahmen eines kulturellen Kategorienwechsels innerhalb des Liebesdiskurses. Im Folgenden sollen zwei Lieder Frauenlobs näher beleuchtet werden, wobei der Blick auf das Raumproblem fokussiert bleibt. Gewählt werden Lied 3 (XIV,11ff.) und 6 (XIV,26ff.), denn beide Lieder basieren deutlich auf der räumlichen Grundkonstellation der Konzeption der Hohen Minne mit ihren drei ›Strebepfeilern der Imagination‹ Ich – Dame – Gesellschaft und ihrem Bezug zur zweiten, der poetologischen Reflexionsebene. Andererseits jedoch verlieren diese Strebepfeiler im Verlauf der Lieder ihr Fundament mit entscheidenden Folgen für die Semantik von Minne. Zu analysieren ist, mit Hilfe welcher poetischer Mittel in Frauenlobs Liedern die tradierte Raumkonstellation in eine Konstellation des Unorts transferiert wird, welche Funktion dieser Transformation innerhalb der lyrischen Artikulation der Minnethematik zukommt und inwiefern durch diese Transformation die lyrische Äußerung selbst ihren Gattungs- und Aufführungsort ändert.

14 Der Terminus rekurriert auf SCHWEIKLE, 1995, S. 85 und 87, wird jedoch entschiedener als bei Schweikle nicht als qualitativer Begriff, sondern als Bezeichnung für einen quantitativ besonders dicht besetzten Zeitraum verstanden. 15 Vgl. zur Technik des blüemens im Minnesang HÜBNER, 2000, S. 289-335, sowie zum späten Minnesang insgesamt: HÜBNER, 2008. 16 Transgression wird hier verstanden als Überschreitung, die als solche markiert wird und eben dadurch den Charakter des Irregulären, des Verstoßes annehmen kann. Um der Markierung willen wird der Bezug zur Ausgangsposition jedoch – im Gegensatz zu Phänomenen der Auflösung – nicht aufgegeben. Vgl. FOUCAULT 2001, insbes. S. 324-326.

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II

Zersplitternde ›Sprossräume‹

17

Frauenlob Lied 3 (XIV,11-15)18 [11] Ich muz unter wilen borgen vröude, der ich nicht enmeine, durch die liute, daz sie nicht verdrieze min.

5

10

Daz muz ich darnach besorgen: swenn ich bi mir bin aleine, so tut swere mich mit senden leiden in. Daz komt allez von der süzen. ach, wer sol mir swere büzen, sit sie mich nicht mag gegrüzen, die mir immer muz vor allen frouwen sin?

[12] Mir wart anders nicht der wunne, wan daz ich der lüste garten sach in spilnder ougenweide vor mir stan.

5

10

Ob ich mich da wol versunne? zwar ich brach der blumen zarten: die muste ich dem herzen und dem mute lan. Merket, waz die blume were: stetez leit mit sender swere, der min mut vur selden lere. nicht han ich dem garten leides me getan.

17 Auch dieser sprechende Begriff ist entliehen von STÖRMER-CAYSA, 2007, S. 70 u.ö. Zur Erläuterung siehe unten. 18 Zitiert nach: STACKMANN/BERTAU, 1981 (= GA), S. 564-566; Übersetzung: WACHINGER, 2006, S. 416-421. Grundlegend zur Interpretation: WACHINGER, 1988, S. 144-146; KÖBELE, 1998, S. 285-287; KÖBELE, 2003, S. 75-90; EGIDI, 2002, S. 115-123, deren Ausführungen die folgenden Überlegungen wesentliche Hinweise verdanken.

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Annette Gerok-Reiter [13] Ich sach obe dem garten glesten mir zwo sunnen durch min herze, sam sie mit mir wolden lachen immer me.

5

10

Liljen, rosen obe den vesten bluten uz so zartem erze, do wart mir gegeben daz kummer tragende we. Daz geschach mir durch ein schouwen: süze grüze sach ich touwen in den wunnebernden ouwen. ach, müste ich den garten schouwen aber als e.

[14] Minne, daz sint dine schulde, sol ich durch ein angesichte immer in so kummer tragenden sorgen sin:

5

10

Zwar daz were ein ungedulde. Minne, hast du recht gerichte, so la durch dine güte vuge werden schin, So daz ich mich müze erkosen mit der süzen, zarten, losen, die sich in mins herzen closen hat verwieret als in gold ein liecht rubin.

[15] Wil die liebe mit der lüste nemen an sich ein vollez flizen, we den mannen, in der herze sie sich legen.

5

10

Stetez werben ane unküste, dem mag Minne nicht verwizen; solche vuge rechte liebe solte hegen.19 Sol aber ane lon beliben steter dienest lieben wiben, we den frouwen, die getriben solch unfuge, gein ir vriunden sich erwegen.

19 Vers XIV,15,6 ist konjiziert nach WACHINGER, 2006, S. 420.

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Unort Minne [11] Ich muß zuweilen Freude borgen, / nach der mir nicht zumute ist, / nur daß ich den Leuten nicht zuwider werde. / Das muß ich dann mit Angst entgelten: / Wenn ich bei mir alleine bin, / so schließt Schwermut mich mit Sehnsuchtsleiden ein. / Das kommt alles von der Lieben. / Ach, wer wird mir Schwermut heilen, / da mich die nicht grüßen will, / die mir immer über allen Frauen stehen wird? [12] Andre Freude hab ich nicht erfahren, / als daß ich den Garten des Verlangens / vor mir stehen sah als glänzende Augenfreude. / Ob ich da wohl zur Besinnung kam? / Ja, ich pflückte von der zarten Blume, / die mußt ich dem Herzen und Gemüt erlauben. / Hört, was die Blume war: / Stetes Leid und Last des Sehnens, / ohne die ich nie mehr leben konnte. / Mehr hab ich dem Garten nicht zuleid getan. [13] Ich sah über dem Garten leuchten / mir zwei Sonnen durch mein Herz, / so als wollten sie sich immer mit mir freuen. / Lilien und Rosen blühten überm Schutzwall / aus ganz zartem Erz. / Da traf mich der kummerschwere Schmerz. / Es widerfuhr mir durch ein Schauen: / Süße Grüße sah ich als Tau sich senken / in den freudebringenden Auen. / Ach, dürfte ich den Garten wieder schauen wie damals! [14] Minne, es ist deine Schuld, / wenn ich wegen eines Anblicks / immer in so kummerschweren Ängsten sein muss. / Das wäre doch nicht zu ertragen. / Minne, wenn du gerecht richtest, / dann, bei deiner Güte, laß erscheinen, was sein sollte, / daß ich zu vertrautem Reden komme / mit ihr, der Lieben, Zarten, der Anmutigen, / die sich in die Klause meines Herzens / eingefaßt hat wie in Gold ein leuchtender Rubin. [15] Wenn die Liebe und das Verlangen / sich zu vollem Fleiß entschließen, / wehe den Männern, denen sie ins Herz sich legen. / Stetes Werben ohne Falschheit, / daran findet Minne nichts zu tadeln; / so ein Verhalten sollte rechte Liebe pflegen. / Wenn aber ohne Lohn bleiben soll / beständiger Dienst für geliebte Frauen, / wehe den Frauen, die solch Unverhalten / treiben, daß sie gegen ihre Freunde streiten.

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Die erste Strophe rekurriert deutlich auf die aufgezeigte Raumkonstellation mit ihren drei Indices auf Handlungsebene: Ein Ich spricht in der Klagehaltung (es besitzt keine vröude 11,2), ist in Sehnsuchtsleiden (swere und senden leiden 11,6) befangen. Das Leid wird verursacht durch die Dame (Daz komt allez von der süzen 11,7), die dem Liebenden – auch dies topisch – mehr bedeutet als alle Frauen (11,10), sich ihm aber nicht zuwendet (sit sie mich nicht mag gegrüzen 11,9). Verlinkt ist damit die zweite Ebene, wenn auch nur in wenigen Andeutungen: Das Ich darf in der Klagehaltung nicht verharren, es soll vröude borgen (11,1f.) und zwar um der Leute, der zuhörenden Gesellschaft willen (durch die liute 11,3), die sonst nicht die Darbietung des Gesangs genießen und den Sänger nicht wertschätzen könnten. Irritierend bleibt in diesem Gefüge jedoch Vers 11,5: swenn ich bi mir bin aleine. Er setzt dem Bezug zur Gesellschaft, den liuten, und deren Wünschen das Für-sich-Sein, die Einsamkeit entgegen. Mit diesem Vers schert das Ich gleichsam aus dem traditionellen Raumgefüge, das als Raumgefüge in der Öffentlichkeit der Vortragssituation zu denken ist, aus – und dieses Ausscheren setzt sich in den folgenden zwei Strophen fort, ja es ist die Voraussetzung der zwei folgenden Strophen, insofern diese vom Status des Alleinseins aus einen »Sprossraum«20 in der Form eines Erinnerungsbildes bzw. einer Wunschvision entwerfen.21 Die Gesellschaft zumindest bleibt im Folgenden (fast)22 außen vor. Von welcher Qualität ist dieser ›Sprossraum‹? Ich gehe zunächst die semantischen Markierungen dieses neuen Raumes durch: Bezeichnet wird dieser Raum als garten (12,2 u.10), in dem es blume[n] (12,5 u. 7), blühende Liljen, rosen (13,4), sunnen (13,2), Tau und ouwen (13,8f.) gibt: All dies spendet wunne (12,1), denn es sind wunnebernde ouwen (13,9), eine ougenweide (12,3) bietet sich dar: Es ist der lüste garten (12,2). Die Hinweise bleiben fragmentarisch. Dennoch ist unverkennbar, dass mit den genannten Versatzstücken ein locus amoenus anvisiert ist, der »Ort erfüllter 20 Nach STÖRMER-CAYSA, 2007, S. 70-75 und 76, wird unter ›Sprossraum‹ ein Handlungsraum verstanden, der nur in Bezug auf die gerade aktuelle Handlungssequenz »entworfen und imaginiert« wird und mit Ende dieser Sequenz, für die er gedacht war, »erlischt« (ebd., S. 76). Ein Sprossraum schnellt »bei Bedarf plötzlich aus dem Text. Es sind die wichtigen Figuren, die diese Art der räumlichen Knospung anregen« (ebd., S. 71). 21 Zur Relation von Erinnerungsbild und Wunschvision vgl. EGIDI, 2002, S. 116-117; entsprechend KÖBELE, 2003, S. 79: »Der Wirklichkeitsstatus des Geschauten bleibt in der Schwebe (inneres Wunschbild, Erinnerungsbild, visionäres Bild, Traumbild?).« 22 Ausnahme XIV,12,7: Merket […].

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Liebesbegegnung«.23 Dies wird gestützt durch die szenische Markierung, dass das Ich sich innerhalb des Gartens aufhält, denn es kann oben und unten von seiner Warte aus perspektivisch unterscheiden: Ich sach obe dem garten […] zwo sunnen (13,1f.), oberhalb der Festung wachsen Rosen und Lilien (13,4f.); zudem agiert das Ich in dem Garten: Es bricht der blumen zarten (12,5). Trotz dieser topischen Versatzstücke und der suggestiv inszenierten räumlichen Illusion des Im-Garten-Seins scheint dieser Raumentwurf durch die zwei Strophen hindurch jedoch keineswegs konsistent. So wird deutlich eine Gegenperspektive entworfen, indem das Ich den Garten ebenso als Gegenüber wahrnimmt, mit ihm die Dame gleichsetzend: Das Ich begegnet in dieser Perspektive also nicht der Dame im locus amoenus, die Dame wird vielmehr vom Ich als gegenüberstehender locus amoenus wahrgenommen (12,1-3). Auch das Motiv des Sehens aus der Distanz bzw. auf etwas Distanziertes zieht sich – signifikant gleichrangig neben den semantischen Indices der erotischen Erfüllung im Liebesraum – durch die zwei Strophen (markiert jeweils durch: sach 12,3 u. 13,1). Entscheidend ist nun, dass der Widerspruch beider Perspektiven als Widerspruch der Raumwahrnehmung nicht aufgelöst wird.24 Vielmehr springt die Perspektive unablässig hin und her: Erst dominiert das Sehen von außen (12,1-3), dann ist das Ich Akteur im Raum (12,4-6), kurz darauf wird wieder die wahrnehmende Perspektive angenommen (13,1-3), die sich in eine Bewegung im Raum löst (13,4-6), usw. Aufgerufen wird also ein durchaus traditioneller Raum, bekannt als locus amoenus, der jedoch durch die sich 23 EGIDI, 2002, S. 117. 24 Allenfalls im Moment des emphatisch-performativen schouwen[s] (13,7 u. 10) könnte es zur Aufhebung des Widerspruchs kommen, sofern das schouwen sich vom bloßen sehen absetzt: so KÖBELE, 2003, S. 166-179, die anhand von Frauenlobs Lied 1 treffend die Differenz zwischen sehen und schouwen markiert mit dem Fazit: »Als Folge der paradoxen Grundkonstellationen der Vision […] entstehen hier immer wieder Brüche: zwischen verlorener und erfüllter Zeit, zwischen der Raumzeitenthobenheit des visionären, imaginierenden, erinnernden inneren Schauens und im Gegenteil der Raumzeitgebundenheit des äußeren Sehens« (ebd., S. 178). Zu ergänzen wäre, dass die Zuordnung ›inneres‹ Schauen und ›äußeres‹ Sehen in Bezug auf Lied 3 durchaus zu problematisieren ist, denn das schouwen ergibt sich gleichsam aus dem perpetuierten Wechsel der Sehperspektiven, nicht in der Festlegung auf einen inneren Bereich und auch nicht im Zusammenfall von »Subjekt und Objekt des Sehens, Aktivität und Passivität (Sehen, Gesehenwerden)« (ebd., S. 79). Auch anders EGIDI, 2002, S. 117: Sie geht von der »Schau der Schönheit aus der Distanz heraus« aus. Das Motiv des Sehens/Schauens in seiner Bedeutung für Frauenlob stellt bereits SCHEER, 1990, S. 179-239, heraus. Vgl. zur Thematik des Schauens auch BUMKE, 2001, S. 35-53.

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irritierend überlagernde zweifache Ansicht seine Innen-Außen-Kontur verliert und in dieser Verfremdung kaum mehr als bekannt greifbar scheint. Weil er nur fragmentiert und in beständigem Umsprung der Perspektive geboten wird, ist er zugleich offen für weitere Transformationen, für weitere Sprossräume, die aufgrund der Versatzstücktechnik25 – kaum sind sie entstanden – auch schon wieder auseinanderdriften, zersplittern: So etwa wird recht unvermittelt das Bild der Festung eingespielt (13,4), das – anknüpfend an gängige Minneallegorien – an die »Uneinnehmbarkeit der belagerten Burg [als Bild] für die Unnahbarkeit der Dame« denken lässt.26 Doch dies bleibt nur Anspielung, die »für Allegorien charakteristische Homogenität«27 wird nicht erreicht, soll nicht erreicht werden, erscheint unterminiert bereits durch das Oxymoron zartem erze (13,5) und gänzlich ›verkehrt‹ dann im Bild der ›tauenden Grüße‹, was auf die zweite Stufe der gradus amoris (colloquium) anspielt.28 Ebenso wie eine konsistente und kontinuierliche Raumperspektive werden somit auch die potentiellen Deutungen der angebotenen Räume, die durch die Allegorie weitere Sprossräume aufrufen, sogleich wieder demontiert, kaleidoskopartig gebrochen. Dieses Vexierspiel an kaleidoskopartigen Brechungen des Raums wird unterstützt, indem nicht nur augenblickshaft immer neue Sprossräume evoziert werden, die im nächsten Augenblick wieder in sich zusammensinken, sondern auch durch eine weitere textuelle Strategie: die Multiplizierung oder besser Dissoziation des Ich, die mit einem hochartifiziellen Perspektivenwechsel von Innen und Außen einhergeht. So verdoppelt sich zunächst das Ich, indem es einerseits als Produzent der Vision virulent bleibt, andererseits sich als Akteur innerhalb des neuen, des imaginären Sprossraumes bewegt. Ähnlich wie in der Technik der flexiblen Raumgenese evoziert jedoch auch das Ich im inneren Zirkel, als Akteur, diverse Perspektiven: Es dissoziiert einerseits in ein Handlungs-Ich, das die Blume brach (12,5), andererseits in herz und mut, denen das Ich die Blume, Metapher für die Dame, überlassen muss (12,6). Offenbar ist die Dame im Raum eines potenzierten Inneren, bei herz und mut, dem erotischen Zugriff des Ich entzogen, weshalb die Blume ebendort jedoch zu nichts 25 EGIDI, 2002, S. 118-119, spricht von »Bild-Bruchstücke[n]« sowie von »Fragmentarisierung« und »Bild-Verschiebung«. In anderem Kontext beschreibt STACKMANN, 1972, S. 451, die Technik damit, dass »Bildwörter« zu »Gerüstworten« werden, die als »Stichwörter zu potentiellen Allegorien« dienen. 26 Ebd., S. 118. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 119.

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als Schmerz mutiert (12,7-10). Die Vervielfältigung der Ich-Positionen, zugleich Ich-Dissoziationen spiegelt so changierend die perpetuierten Wechsel zwischen distanter Schönheitsschau und erotischer Erfüllung – ohne in einem klaren erfüllten oder unerfüllten Standpunkt zur Ruhe zu kommen. Und auch ein weiterer Standpunktwechsel, der hinzukommt, bringt – gegen alle Erwartung – keine Lösung. Dem Sehen des Ich begegnet der Gegenblick der Dame: Ich sach obe dem garten glesten / mir zwo sunnen durch min herze (13,1f.) – ein ekstatisches Ziel scheint erreicht und zukunftsprägend – sam sie [die sunnen] mit mir wolden lachen immer me (13,3) –, verbleibt aber gleichwohl nur im Vergleichsmodus und verrät genau dadurch die nicht greifbare Position des Raum-Zeit-Entwurfs zwischen Erlebnis und Imagination.29 Diese Auflösung der gewohnten Raumkoordinaten hat in Frauenlobs Liebesliedern System. Zeigt sie sich in Lied 3 über eine Technik der Perspektivdiversität, die aus den changierenden Umsprüngen ebenso Raumfacetten generiert wie sie – in deren Zersplittern – darin auch wieder zusammensinkt, so in Lied 6 in einer anderen Variante.

29 Von der Raum- und Perspektivdiversität her wundert es dann nicht, dass auch in Bezug auf die Innen-Außen-Relationen sich keine festen Konturen und Grenzen abzeichnen, sondern dass es vielmehr auf die ständige Fluktuation zwischen Außen und Innen ankommt, so dass das Äußere sich als ausgestelltes Inneres, das Innere sich als Inversion des Äußeren erweist. Wenn Margreth Egidi darauf verweist, dass der Gartentopos in Frauenlobs Lied 3 eine hortus-conclusus-Variante darstellt, die dem mittelalterlichen Hörer bzw. Leser aus zahlreichen Kontexten (von der mariologischen und brautmystischen Exegese des Hohenliedes bis zu späteren Gartendarstellungen als »Abbild der Gott liebenden, tugendreichen Seele«, EGIDI, 2002, S. 120) als Bild für den Herz- und Seelenraum bekannt war, so trifft einerseits zu, dass hier ein »Innen als ein Außen figuriert wird« (ebd., S. 120), jedoch nicht, dass die Innenraummetaphorik eine »Leerstelle« (ebd., S. 119) bleibt, denn ebenso figuriert das Außen ein Innen. Leerstellen bleiben allenfalls die Umsprungstellen zwischen Innen und Außen, die eine kausale Logik preisgeben.

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III Kollabierende Inversionsräume Frauenlob Lied 6 (XIV,26-30)30 [26] Mir ist ein wip so nahen durch die ougen min gebrochen in daz herze. nu merket, welch ein strazen 5 sie ir hat erkorn!

10

15

Des muz min lip von schulden ir gefangen sin. dannoch so wil der smerze im nicht genügen lazen, des bin ich verlorn. Der hat mir brende So behende an mins herzen pin gebrant, des hat ein siuche sich erhaben: swaz ich von brenden ie bevant, daz ist an sender arebeit gein solchen brenden wol begraben.

[27] Ich clage min not, ich clage min unbewante zit, daz ich nach den ir hulden mit senen habe gerungen 5 wol nach friundes rat.

10

Der gicht, der tot müze enden miner helfe strit. bistu von solchen schulden, min heil sust were verdrungen. secht, nu stille stat

30 Zitiert nach: STACKMANN/BERTAU 1981 (= GA), S. 570-572. Übersetzung A. G.-R.

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15

Min rücken: gelücke, daz e flücke was und wande ouch immer wesen, ich wene, im si der vederen zal zu sinen vetchen vil gelesen, swenn ez die höhe fliegen wil, daz ez muz vallen hin zu tal.

[28] Ich suchte mich, da vant ich min da heime nicht. ich wante, ein ding daz wolte mich töten gar mit lüste. 5 lip, wa was ich do?

10

15

Hilf, Minne, rich die wunderliche wechselschicht, gib wider mir zu solde, ob ich erner min brüste vor ir lichte also, Daz ich behalde mit gewalde unter wilen minen mut, und mich von ir gewünschen mag. ei, müste ich tun, daz sie mir tut – ich meine dich – und gebe ir mich, daz were ein wunne wernder tag.

[29] Min meienschin, min wunne wernder vogelsanc, min lustgezierte heide, min heilschilt tragende blüte 5 und min hoher mut,

10

Daz kan sie sin, al miner freuden anevanc, ei, wunsches ougenweide, heilflut der senften güte. Minne, bistu gut,

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Erteile ir herzen minnen smerzen. ouwe, wes gan ich ir nu teil? daz gebe ir zu swere hebe. sie tu mir halt, swie sie mir tu: owe, Minne, ich wil durch min leit ir nimmer sweren wunsches leben.

[30] Sol frouwen pris an mir verderben, an der clage?31 ich was doch ie des mutes, daz ich in ere gunde, 5 als ich in noch gan.

10

15

In welcher wis sol ich sie fürbaz mine tage nu loben riches gutes, als ich bi wilen kunde, do ich von in san Daz aller beste? eren veste waren gute frouwen ie. nu muz ich sprechen als ich sol: ir keine wart so süze nie, queme ab ir munde ein lieplich gruz, er tete guten mannen wol.

[26] Mir ist eine Frau / so nah durch meine Augen / ins Herz eingebrochen! / Nun passt auf, welch eine Straße / sie sich gewählt hat! / Mein Körper muss dadurch / mit gutem Grund ihr Gefangener sein. / Doch noch immer will der Schmerz / es sich nicht genug sein lassen, / deshalb bin ich verloren. / Der hat mir Feuersbrände / so schnell / an meiner Herzensqual entzündet – / eine Krankheit begann sich dadurch auszubreiten: / Was ich je an Bränden erfahren

31 Statt ane bei Stackmann übernehme ich (unter Berufung auf Handschrift F: an) die Konjektur WACHINGERs, 2006, S. 420-425, hier S. 424, und ändere die Syntax entsprechend.

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Unort Minne habe, / das kann man, was die sehnsuchtsvolle Qual / betrifft, verglichen mit solchen Bränden vergessen. [27] Ich beklage meine Not, / ich beklage meine vertane Zeit, / dass ich nach ihrer Gunst / (so) sehnsuchtsvoll gerungen habe / genau nach dem Rat eines Freundes. / Der sagt, (erst) der Tod könne mein / (zerreißendes) Ringen um Erhörung beenden. / Bist du von solcher Art, / wäre mein Heil chancenlos. / Seht, nun steht mein / Sich-Fortbewegen still: Glück, / das einst flügge / war und auch immer zu sein glaubte – / ich glaube, ihm sind von den zahlreichen Federn / aus seinem Fittich viele ausgefallen, / so dass es, wann immer es in die Höhe fliegen will, / hinab stürzen muss. [28] Ich suchte mich, / da fand ich mich daheim nicht. / Ich glaubte, irgendetwas wollte / mich töten (gar) mit Lust. / Leib, wo war ich da? / Hilf, Minne, räche / den wunderlichen Tausch, / gib mir als Gegenleistung wieder – / wenn ich meine Brust / vor ihr vielleicht in der Weise retten kann –, / dass ich (zumindest) ab und an / meine Sinneskräfte / zu beherrschen vermag / und mich von ihr hinwegwünschen kann. / Ach, könnte ich doch tun, was sie mir antut – / ich meine dich –, und ihr mich geben, / das wäre ein glückspendender Tag. [29] Mein Maienglanz, / mein glückspendender Vogelgesang, / meine lustgezierte Heide, / meine den Schild des Heils tragende Blüte / und mein hoher Mut / – das kann sie sein –, / all meiner Freuden Anfang, / ach, der Vollkommenheit Augenweide, / Heilflut der sanften Güte! / Minne, bist du gut, / (dann) füge ihrem Herzen / Liebesschmerz zu! / O weh, was will ich ihr nun zuteil werden lassen? / Das wäre zu schwer für sie zu tragen! / Behandle sie mich eben, wie immer sie will! / O weh, Minne, ich will durch mein Leid / niemals ihre Vollkommenheit beschweren! [30] Soll Frauenpreis / an mir zugrunde gehen in der Klage? / Ich war doch immer willens, / dass ich ihnen Ehre gönnte, / wie ich sie ihnen noch immer gönne. / In welcher Art und Weise / soll ich sie nun zukünftig / für ihre reichlichen Vorzüge loben, / wie ich es einst konnte, / als ich von ihnen / das Allerbeste (er)dachte? / Eine Festung der Ehre / waren vortreffliche Frauen von jeher. / Nun muss ich sprechen, wie ich soll: / Keine von ihnen erschien je so lieblich (wie dann) – käme von ihrem Mund ein freundlicher Gruß, / er täte vortrefflichen Männern wohl.

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Auch in Lied 632 werden die drei Strebepfeiler der traditionellen Raumkonzeption zunächst markiert: Ein Ich spricht (mir ist 26,1), wirbt um eine Frau (wip 26,1) in Gegenwart der Gesellschaft (nu merket 26,4). Doch erscheint der traditionelle Raum nur kurz angespielt und eröffnet, um im Folgenden zu kollabieren. Dieser Kollaps wird inszeniert über drei Strophen – diesmal jedoch nicht mit Hilfe visionärer Sprossräume, Perspektivsprünge und fragmentierter Welten, die Raumstrukturen pluralisieren und dissoziieren, sondern mit Hilfe eines expandierenden Ich sowie mit Hilfe von Inversions-, Absturz- und paradoxen Suchbewegungen. Die erste Strophe greift traditionelle Bild- und Beschreibungstopoi – Eindringen der Dame durch die Augen, Gefangenschaft, Liebesschmerz als Liebesbrand – auf,33 deutet sie jedoch zugleich pointiert um. Inszeniert wird das Eindringen der Dame als gewaltsamer Durchbruch (durch […] gebrochen 26,2f.), der zu bedrängender Nähe führt (so nahen 26,2). Allein die Dame ist aktives Subjekt (mir ist ein wip [...] 26,1-5). Verlief die Werbungsrichtung traditionell vom Werbenden zur unerreichbaren Dame, so hat sich diese Richtung nun in eine Inversionsbewegung ›verkehrt‹. Diese Inversionsbewegung setzt sich ebenso vehement wie haltlos – Vergleichsbild sind Brand und Seuche, unterstützt durch eine Ausbreitung des Reimworts brant als grammatischer Reim (26,11,13,15,17) und eine akzellerierende Reimstruktur – bis zum Ende der ersten Strophe fort. Die Inversion und zugleich Perversion der Raumstruktur durch das Eindringen der Dame in ein Ich, das sich als Gefangener der Dame ausgibt (26,7), im Gegenzug sich jedoch wortmächtig auf der Woge des Schmerzes auszudehnen scheint,34 springt in der zweiten Strophe in eine Absturzbewegung mit Perspektivwechsel über, gefasst vor allem im Bild des gefiederten Glücks, das zum Fall gezwungen ist. Nach einem Kreisen in Positionen des in ougen (26,2), herze (26,3 u. 13), lip (26,6) und friunt (27,5) dissoziierten Ich und kurzem Zögern im Enjambement zwischen Vers 27,10 und 27,11 geraten das Ich und sein gelücke (27,11) in ein syntaktisches Gefälle hinein, das von der

32 Dazu WACHINGER, 1988, S. 146-147; KÖBELE, 1995, S. 282-284; KÖBELE, 2003, S. 98-102. Die vorliegenden Ausführungen zu Lied 6 resümieren die Ergebnisse meiner Interpretation in: GEROK-REITER, 2009. 33 Zu den Topoi vgl. SCHNELL, 1985, S. 24-40. 34 Vgl. den doppelten ich-Auftakt in XIV,27,1 und 2, unterstützt durch die Wiederholung des Verbes clage. Dieser Auftakt setzt sich in einer Anaphernreihe, die immer wieder das Ich betont, fort: XIV,27,14; XIV,28,1, 3 und 16; XIV,30,3.

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höhe (27,16) des flücke-Seins (27,12f.) den Absturz zum tal (27,17) hin suggestiv spiegelt. Der Absturz des dissoziierten Ich mündet in der dritten Strophe in eine unruhige Suchbewegung des Ich, die nicht mehr die Dame, sondern nurmehr sich selbst zu fokussieren scheint, unterstützt wiederum durch die dynamisierenden Wechsel der Satzarten, der Anreden und Satzmodi. Denn das betroffene Ich sucht seine Identität nunmehr in der Reflexionsbewegung auf sich zu: Ich suchte mich (28,1). Doch der Rekurs des Subjekts auf sich selbst als gewissem Objekt erweist sich als Irrtum: da vant ich min da heime nicht (28,2).35 Die Alogik des Bezugs definiert das traditionelle Minneparadox um zum Widerspruch im Raum, zum Widerspruch zwischen Ich-Expansion und Selbstverlust: Das dissoziierte, sich ortlos im Fall befindende Ich findet zu keiner Selbstgewissheit zurück; es taumelt zwischen unsicheren Annahmen (wante 28,3) und desparaten Fragen hin und her (lip, wa was ich do? 28,5). Im haltlosen Absturz wird damit auch in Lied 6 der Bezugsraum des traditionellen Ich-Liedes verlassen, die Strebepfeiler verlieren ihre stabile Konsistenz: Die Dame stürzt in das Ich, das Ich dissoziiert, die Gesellschaft verschwindet bedeutungslos an der Peripherie jener dramatischen Destruktionsbewegung. Hybride Expansion des Ich im Umkreisen seiner selbst und ›selbstzerfahrene‹ Auflösung ereignen sich dabei simultan und eben deshalb in irritierender Weise jenseits einer objektivierbaren Raumschematik.

IV Die ›Un-heimlichkeit‹ der Minne Nachdem das Ich auf Handlungsebene die klare Raumstruktur des traditionellen Liedes der Hohen Minne mit ihren drei sorgfältig auf Distanz gesetzten Strebepfeilern verlassen hat, gerät es offensichtlich in einen neuen Erfahrungsraum. Welche Begrifflichkeit steht für diesen neuen Erfahrungsraum zur Verfügung und welche Funktion kommt dieser Raumtransgression im Kontext der Minnediskussion zu? Greift man auf die Definitionsversuche des Unortes zurück,36 so wird man sagen können, dass einerseits ein Raum entsteht, der als physikalischer Ort (Lied 3: Garten; Lied 6: Herz) markiert ist, dessen Attribute 35 Aufschlussreich zum literarhistorischen Kontext der Ich-Darstellung: BÜHLER, 1988. 36 Siehe in diesem Band die Einleitung, S. 9-18, sowie den Beitrag von DÜNNE, S. 31-36.

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sich jedoch durch die ständigen Perspektivwechsel einer stabilen Verortung entziehen. In diesem Sinn siedeln sich die entstehenden Räume der Lieder und die Räume in den Liedern an z w i s c h e n Utopien, die »Plazierungen ohne wirklichen Ort« beschreiben, und Heterotopien, die als »wirkliche Orte« gesellschaftliche »Gegenplazierungen oder Widerlager« formieren37 – im Sinn des Foucaultschen Spiegels, der Wirklichkeit und Virtualität miteinander verschränkt.38 Andererseits ließe sich formulieren, dass ein Raum entsteht, der im Sinne de Certeaus narrativ als Vision oder Erinnerungsbild erzeugt wird und dazu einer physikalischen Grundlage nur noch im Sinn einer Semantik bedarf, die Realitätspartikel einstreut, ohne sie zu einem realen Raummuster zu kondensieren: Der Garten mutiert zum surrealen Bild der Seele und umgekehrt; das Herz ist lediglich Ausgangs- und Schnittpunkt diverser Such- und Verlustbewegungen, die zugleich ›heim‹ und ›ins Offene‹ führen. Von hier aus lässt sich der eröffnete Raum auch als subjektive Zuschreibung im Sinn einer ›intensiven Negation‹39 verstehen, die sowohl in paradoxale Verzweiflung (Lied 6: Ich suchte mich, / da fant ich min daheime nicht) wie auch in paradoxales Glück führen kann (Lied 3: […] sam sie [die sunnen] mit mir wolden

37 FOUCAULT, 1991, S. 38-39: Zwar lassen sich Foucaults Grundsätze zur Heterotopie teilweise durchaus auf Frauenlobs Lieder beziehen, insofern deren Raumentwürfe »mehrere Räume, mehrere Plazierungen zusammen[…]legen, die an sich unvereinbar sind« (dritter Grundsatz, ebd. S. 42), ebenso an »Zeitschnitte«, an Brüche mit der »herkömmlichen Zeit« gebunden sind, d. h. »an etwas, was man symmetrischerweise Heterochronien nennen könnte« (vierter Grundsatz, ebd., S. 43) und auch mit »Öffnungen und Schließungen« arbeiten, also mit etwas, »was sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht« (fünfter Grundsatz, ebd., S. 44), doch die Ausgangsbedingung eines »Raum[s] des Außen« im Gegensatz zu einem »Raum des Innen« (S. 38) ist gerade in der Opposition nicht gegeben. 38 »Der Spiegel ist nämlich eine Utopie, sofern er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin: in einem unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut; ich bin dort, wo ich nicht bin, eine Art Schatten, […] der mich mich erblicken läßt, wo ich abwesend bin […]. Aber der Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme; vom Spiegel aus entdecke ich mich als abwesend auf dem Platz, wo ich bin, da ich mich dort sehe« (ebd., S. 39). 39 Vgl. DÜNNE, in diesem Band, S. 35. Dünne spricht von ›intensiver Negativität‹: Bei den durch ›intensive‹ Negativität entstehenden »Nichtorten kann man davon ausgehen, dass es gerade der aus dem normalen Funktionieren einer Raumordnung herausgenommene Ort ist, der an sich nicht beobachtbar ist und doch das Funktionieren dieser Ordnung überhaupt erst möglich oder doch zumindest verstehbar macht.« Um den Prozesscharakter und nicht das Ergebnis herauszustellen, bleibe ich beim Begriff der ›intensiven Negation‹.

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lachen immer me – do wart mir gegeben daz kummer tragende we). Dabei genügt die Negation sich nicht in der einfachen Revocatio, sondern perpetuiert sich beständig. So unterschiedlich die Aspekte im Einzelnen sind, deutlich wird bei allen drei Ansätzen, dass das entscheidende Konstituens des Raumentwurfs bzw. dessen Transgression die inkommensurable Dynamik von Bild- und Sprachentfaltung ist. So handelt es sich in beiden Liedern um einen Raum, der sich selbst unablässig markiert wie zersetzt und eben durch dieses fluktuierende Changieren schon vor jeder momentanen Ausprägung gegen die gewohnte Raumkoordination verstößt. Es bietet sich also nicht mehr ein durchgehend stabiler Bezugsraum auf drei Ebenen zwischen den ›Strebepfeilern der Imagination‹ Ich – Du – Gesellschaft an, auch der Begriff ›erlebter Raum‹, etwa im Sinn Bollnows,40 greift nicht, da ihm gerade das fehlt, auf was die Lieder zulaufen: eine gleichsam ›haltlose Dynamik‹. Und selbst das Raumkonzept des Sprossraums kann, so treffend es auch für Einzelpartien ist, für die Gesamtbeschreibung nicht geltend gemacht werden, da dessen begriffliche Metaphorik einen organischen Ablauf suggeriert,41 der angesichts der inszenierten Umsprünge, der Schnitte, des Zersplitterns von Raumeinheiten nicht adäquat erscheint: Nicht um den einzelnen Sprossraum geht es, sondern um den perpetuierten Wechsel zwischen ihnen.42 40 BOLLNOW, 1977, S. 16-18, gibt acht Bestimmungen des erlebten Raumes an (inhomogen, anisotrop, strukturiert, unstetig, endlich, nicht wertneutral, bedeutungsvoll, konkreter Bezug zum Menschen), die durchaus zutreffen, aber nicht ausreichen. 41 Vgl. den Begriff des ›Sprossens‹ selbst sowie die Umschreibungen der räumlichen ›Knospung‹ bei STÖRMER-CAYSA, 2007, S. 71; eine ähnlich großzügig ruhige Bewegung insinuiert das Bild des sich ein- und ausrollenden Teppichs: Der Sprossraum »breitet sich wie ein Teppich unter der Aventiure aus und rollt sich mit ihr wieder ein« (ebd., S. 75). 42 Die Raumformation in Frauenlobs Liedern stellt sich gleichsam als eine ständige Genese und Zersetzung von Sprossräumen dar. Aufgrund dieser fast gewaltsamen Perpetuierung und Dynamik, die zudem – und dies ist entscheidend – auch die figurbezogenen zugrundeliegenden Fixpunkte in ihren Sog miteinbeziehen, erscheint das Raumkonzept der Lieder Frauenlobs gegenüber dem Raumkonzept des höfischen Romans radikalisiert: Es gibt gleichsam kaum mehr eine »gegenläufige Tendenz« zwischen stabilen und beweglichen Raumentwürfen, wie sie STÖRMERCAYSA, 2007, S. 76, für den höfischen Roman insgesamt festmacht, höchstens den ausgestellten Bruch zwischen beiden Tendenzen in der Verklammerung unterschiedlicher Gesangskonzepte der Minne. Durch diese Radikalität und Intensität scheint Frauenlob denn auch über das Maß der Diskontinuität und Fragmentierung im Raum, das für mittelalterliche Raumkonzepte »die Regel« ist (ebd., S. 70 Anm.

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Was Frauenlob also entwirft, ist ein Raum, der zwar die Möglichkeit der physikalischen Verortung, die Möglichkeit des Imaginären sowie die Möglichkeit der intensiven Negation, die im positiven Sinn nicht Ausgrenzung, sondern paradoxal erfahrene Fülle bedeuten kann, umschließt; der vor allem aber jede dieser Möglichkeiten beständig überschreitet und eben dieses Überschreiten als solches ausstellt; ein Raum, der nur in der Transgression jeder raumsemantischen sprachlichen Fixierung gedacht werden kann und dem eben deshalb ein ebenso ekstatisches wie anarchisches Potential eignet; ein Raum schließlich, dem aus diesen Gründen im eminentem Sinn die Qualität eines Unorts zukommt. Inhaltsleer ist dieser Unort jedoch keineswegs.43 Es bleibt festzuhalten: Indem der Raum des traditionellen Liebesliedes kollabiert, fällt das Ich nicht aus dem Raum der Liebe heraus. Es evoziert sich vielmehr in den Raum der Liebe allererst hinein. Frauenlobs Lieder 3 und 6 bleiben Liebeslieder, aber mit dem veränderten Raum hat sich auch die »Struktur der Liebe« verändert.44 Oder genauer: Um die Struktur der Liebe zu verändern, verändert Frauenlob das tradierte Raumkonzept des Minnesangs. Minne ist nicht mehr funktional eingebettet in ein Erziehungsprogramm mit hierarchischem personalen Bezugsraum wie etwa bei Albrecht von Johansdorf, minne ist auch nicht mehr ästhetisiertes Leiden auf Kosten der Handlungsebene des Liedes wie bei Reinmar, minne ist auch nicht mehr – mit Walther – nur minne, tuot si wol45 jenseits einer verpflichtenden Raumhierarchie. Minne ist dann minne, so artikuliert Frauenlob, wenn sie zu ihrer Beschreibung die Evokation des Unorts einfordert, wenn sie selbst zum Unort, d. h. ›un-heimlich‹ wird. ›Un-heimlich‹ muss diejenige minne sein, die in einen Raum überführt, in dem Begehren und Erfül-

89), hinauszugehen. Nimmt man hinzu, dass die haltlose Dynamik zugleich in präziser Auseinandersetzung mit dem stabilen Dreiebenenmodell des tradierten IchLiedes der Hohen Minne inszeniert wird, verstärkt sich der Eindruck, dass hier durchaus »eine sinntragende Abweichung von einer zu unterstellenden Erwartung« (ebd.) der relativen Raumstabilität erfolgt. Aus beiden Gründen erscheint Frauenlob aus heutiger Perspektive vielfach so ›modern‹. 43 Zum Konzept der Nichtorte (non-lieux) als anthropologisch defizitäre Orte vgl. AUGÉ, 1994: »So wie der Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort« (ebd., S. 92-93). 44 EGIDI, 2002, S. 123. 45 Albrecht von Johansdorf, Ich vant si âne huote (MF 93,12); Reinmar der Alte, Swaz ich nu niuwer maere sage (MF 165,10); Walther von der Vogelweide, Saget mir ieman waz ist minne (L 69,1).

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lung, Anschauen und Angeschautwerden, wunne und stetez leit (Lied 3, 12,1 und 8), lachen und we (Lied 3, 13,3 und 6), Präsenz und Option, Erlebnis und Imagination, Innen und Außen, Höhe und Tiefe, wenn Ich-Expansion und IchVerlust irrisierend-haltlos ineinander wechseln und die Minne sich eben deshalb einer integrativen gesellschaftlichen ›Beheimatung‹ entzieht. Nicht der hohen, sondern der so freigesetzten ›un-heimlichen‹ minne dient die Transgression der alten und die Anreicherung der neuen Raumsemantik, eben weil nur die ›un-heimliche‹ minne nach diesem Konzept authentische minne verbürgt. Minne am Unort oder der Unort minne implizieren somit im ›Ent-setztwerden‹46 durch das ›Un-heimliche‹ jenseits der vuge, der rechten Ordnung (vgl. Lied 3, 14,6 und 15,6 und 10 [unvuge]), durchaus und gerade eine auszeichnende Qualität. Diese auszeichnende Qualität kollidiert jedoch mit der fehlenden gesellschaftlichen Integrationsfähigkeit einer solchen minne. Geht durch diese Kollision der Aufführungsort des Minnesangs innerhalb der Gesellschaft verloren?

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Registerwechsel und der Unort des Gesangs

Damit ist nach dem Kontext der zweiten, der poetologischen Reflexionsebene zu fragen, die die Relation zwischen Sänger, besungenem Maßstab und gesangskritischer Gesellschaft im Rahmen der Aufführungssituation fokussiert. Wie positioniert sich in Bezug auf die Transgression der alten Raumstruktur das Singen selbst? Es ist auffallend, dass sowohl in Lied 3 als auch in Lied 6 nach den Turbulenzen der Raumüberlagerungen, -transformationen und -irritationen jeweils ein krasser Wechsel in der Sprechhaltung erfolgt. In Lied 3 artikuliert sich zwar in der vierten Strophe weiterhin ein von der Liebe betroffenes Ich, es verlässt jedoch den instabilen Erinnerungs- bzw. Visionsraum des Unorts minne zugunsten eines stabilen Gegenübers, der Personifikation der Minne, die zweimal insistierend angesprochen wird (14,1 und 5). Mit dieser doppelten Anrede klärt sich die Grenze zwischen Innen und Außen wieder. Infolgedessen kann nun über die vuge (14,6 und 15,6), die rechte Ordnung der minne, die zuvor in der Pluralisierung und dem Changieren der Wahrnehmungsräume und 46 Vgl. mhd. entsetzen: »absetzen, aus dem Sattel heben, […] entheben« (HENNIG, 2001, S. 72); mhd. entsitzen: »aus der lage, dem ruhigen sitz kommen […]« (LEXER, 1969, S. 41).

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der Freisetzung der minne als Unort kein Kriterium mehr darstellte, wieder diskutiert werden, und sogleich stellt sich auch ein weiterer klarer Raumtopos des Liedes der Hohen Minne ein: die in die Klause des Herzens (herzen closen 14,9) eingeschlossene Geliebte. Dieser Rekurs auf die traditionelle Raumsemantik mitsamt ihrer topischen Rhetorik setzt sich einerseits in der letzten Strophe fort, indem zur Beschreibung des rechten Verhältnisses von mannen und frouwen nun auch die übliche Dienst-Lohn-Rhetorik aktiviert (15,7f.) und in dem allgemeinen Aufruf der Männer und der Damen insgesamt auch die Gesellschaft wiedereingeholt wird (15,3 u. 15,9). Andererseits bleibt dieser Rekurs auf die bekannte Struktur des Minnesangs nur Transit. Denn die Rede des betroffenen Ich – genuiner Bestandteil des Liedes der Hohen Minne – verschwindet schließlich ganz. Stattdessen erfolgt in der Generalisierung der letzten Strophe ein »Wechsel zur […] spruchmeisterlichen Sprechhaltung«,47 ein krasser Registerwechsel, der bisher in der Forschung wohl bemerkt, nicht jedoch, so scheint mir, in seinem brüsken Umschwung angemessen kommentiert worden ist. So überzeugen die Angebote von Köbele, Egidi und Wachinger48 nur bedingt, da sie den Registerwechsel in seiner Schärfe eher nivellieren, ungeachtet des Gesichtspunkts ästhetischer Ökonomie: Warum, so muss doch gefragt werden, der ganze Aufwand der Transformation des ursprünglichen Raumkonzepts mitsamt seiner festgesungenen, festgeschriebenen Wertediskussion zugunsten einer Minnekonzeption, in der minne nur als Unort beschreibbar erscheint, wenn das Lied am Schluss in die gängigen überschaubaren Ordnungen, ja sogar in die spruchmeisterliche Didaxe zurückpendelt? Warum nach der Freisetzung eines haltlos liebenden Ich im Unort der minne nun diese radikale Kehrtwende: ein ichloses, belehrendes, auf vuge (inhaltlich wie formal) 47 EGIDI, 2002, S. 122. Das drohende we den mannen (XIV,15,3) bleibt letzte Reminiszenz an den inkommensurablen Schmerz, der sich in der Vision abzeichnete, wird jedoch am Ende der Strophe im Echo mit Variation (we den frouwen; XIV,15,9) in eine didaktische Aussage transformiert. 48 KÖBELE, 2003, S. 81, thematisiert den Registerwechsel nicht als Auseinandersetzung mit verschiedenen Optionen des Singens über minne, sondern verschiebt den Fokus auf die Frage nach der Bedeutung opponierender Beschreibungskategorien der minne selbst. EGIDI, 2002, S. 122-123, sieht die »Hauptfunktion der letzten Strophe« darin, »die Differenz zwischen Innen und Außen wieder vollständig zu schließen«. WACHINGER, 1988, S. 145-146, weist einerseits darauf hin, dass Elemente der Spruchdichtung durchaus auch »der Tradition des Minneliedes nicht fremd« seien, andererseits darauf, dass mit dem Wechsel die Forderung eines höfisch maßvollen Liebens einhergehe, der das Ich sich unterstelle.

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ausgerichtetes Sprechen? Geht es um eine weitere Revocatio, eine Revocatio der minne als Unort insgesamt, und damit um eine Rückführung des Gesangs selbst in die bekannten Repräsentations- und Bezugsordnungen? Gesehen werden muss zunächst, so meine ich, dass dieser Registerwechsel System hat, denn Lied 6 arbeitet mit ihm in ganz ähnlicher Weise. Auch hier wird im ersten Teil des Liedes minne als Unort evoziert, auch hier folgt ein rhetorisch deutlich markierter Umschwung in eine generalisierende Sprechhaltung. Ebenso wie in Lied 3 wird in Lied 6 die Minne unvermittelt angesprochen (28,6), soll die personifizierte, also auf ein greifbares Maß gebrachte Minne nach außen vermitteln, die vuge wiederherstellen. Und ebenso werden analog zu Lied 3 peu a peu die traditionellen Positionen des dreipoligen Bezugsraums reinstalliert. Deutlicher als in Lied 3 wird in Lied 6 jedoch die Funktion dieses Umschwungs in den Kontext poetologischer Reflexion gerückt. So wird die Reinstallation in Lied 6 durch verschiedene Mittel signifikant als sprachliche Fiktion markiert: Zum einen wird sie in Strophe 3 als Modus bloßer Möglichkeit im Konjunktiv (müste, were 28,15 u. 17) konstruiert, zum anderen in Strophe 4 über das rhetorische Metaphernarsenal, das innerhalb des Minnesangs für die Geliebte bereit steht (lustgezierte heide [29,3], heilschilt tragende blüte [29,4], miner freuden anevanc [29,7] usw.), dessen einzelne Signifikanten nun aber in der parataktisch-gehäuften Aufzählung als lediglich topisches Beschreibungsmaterial erscheinen. Die Dame, die Liebe – ein summum bonum? All das kan (29,6) die Dame sein: Das Modalverb kan belässt die anvisierte Restitution im Status zwischen Realität und Irrealität und decouvriert damit – in Verbindung mit der Rhetorik des hymnischen Anrufs –, dass die Rückführung ins alte Konzept mit seinem hierarchischen Bezugsraum allein dem sprachlichen Akt fiktionaler Imagination zu verdanken ist, somit letztlich redundantes und unverbindliches Sprachspiel bleibt. Dies aber entzieht dem Frauenpreis, der für den tradierten Minnesang und seinen hierarchischen Raumbezug konstitutiv ist, den Boden. In poetologischer Konsequenz debattiert dies die 5. Strophe: Sol frouwen pris / an mir verderben (an der clage)? (30,1f.). D. h. für ein betroffenes Ich, das Liebe als Unort erfahren hat, stellt sich die Frage, ob unter den veränderten Vorgaben Minnesang im tradierten Konzept des hierarchisierenden Raumbezugs noch möglich ist. Nur, so erläutern die abschließenden Verse 12-17, indem die Erfahrung von minne als Unort aufgegeben wird und die Rückkehr in den normativen Bezugsraum gelingt, eine Rückkehr, die jedoch als Resultat eines konventionelles

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Sprachspiels ausgestellt wird und damit keinen Anspruch auf Verbindlichkeit mehr erheben kann: nu muz ich sprechen als ich sol (30,14). Adäquat zu dieser Rückkehr verschwindet denn auch das haltlos betroffene, expandierende wie dissoziierende Ich hinter einer »generalisierende[n] Redeweise«49 und unaufgeregten Bildlichkeit: Die süze, ir munde, ein lieblich gruz – all das tete guten mannen wol (30,15-17). Die Restitution des alten Systems der Hohen Minne erfordert einen radikalen Registerwechsel, dessen scharf inszenierter Kontrast die Restitution jedoch unterminiert: Das »alte Sprachspiel Minnesang«50 kann nurmehr als veraltetes, überkommenes, entleertes topisches wie poetologisches Konzept fortgesungen werden.51 Was in Lied 6 im Abgesang kritisch debattiert und zugleich poetisch demonstriert wird, ist – so möchte ich folgern – in Frauenlobs Lied 3 in ebendemselben Registerwechsel implizit mitgedacht: die Diskussion über die Art und Weise der Vermittlung der als Unort freigesetzten minne. Damit wäre auch die zweite Ebene, die poetologische Reflexionsebene des tradierten Konzepts, in beiden Liedern aufgerufen. Doch im Unterschied zum tradierten Konzept präsentiert sich diese Reflexion nicht in einem parataktischen Zugleich der Ebenen, sondern in einem zeitlichen Hintereinander, basierend auf einem Registerwechsel in der Sprecherhaltung. Diese Preisgabe der simultanen Korrelation der Ebenen trifft das alte Minnesangkonzept und seine Raumkonzeption in seinem empfindlichsten Punkt, gleichsam in der poetologischen Zentralachse. Indem die Simultaneität der Ebenen aufgegeben wird, zerfällt der Gesang in eine Liebe ohne (imaginierten) Realitätsstatus (Lied 3) bzw. ein Lieben ohne Sinn (Lied 6) im ersten Teil des jeweiligen Liedes und ein Singen ohne Verbindlichkeit im zweiten Teil. Da die gesellschaftliche Relevanz des Singens über minne damit für b e i d e Teile aufgehoben ist, wird dem Minnesang insgesamt, altem wie neuem, der gesellschaftliche Resonanzboden entzogen: Minnesang ohne gesellschaftliche Relevanz verliert jedoch seinen Ort als Repräsentationskunst, gerät selbst an einen Unort der Rezeption, ist nicht mehr Minnesang.

49 WACHINGER, 1988, S. 147. 50 KÖBELE, 2003, S. 102. 51 Souveräne Kritik an den Klassikern hat KELLNER, 1998, S. 260, als ein grundsätzliches Kennzeichen der Autorrolle Frauenlobs herausgestellt: Nicht die Auratisierung des Vergangenen, sondern die »Vereinnahmung« und produktive Umsetzung des »Wortmaterials der anderen« bildet das poetologische Movens auch im Sangspruch.

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VI Der Unort der Überlieferung Zurück zu Ausgangsfrage: Lohnt es sich, die Kategorie des ›Unorts‹, verstanden als Übersteigung der physikalischer Verortung, als performativer Entwurf des Imaginären, als intensive Negation, an die Gattung des mittelhochdeutschen Minnesangs heranzutragen? Die Grundlage der Auseinandersetzung bot das spezifische Raumkonzept, über das sich das traditionelle Lied der Hohen Minne konstituiert. Dieses Raumkonzept greift Frauenlob nach einer etwa 100jährigen Tradition dieses Sangtyps dezidiert auf, transformiert es jedoch ebenso dezidiert um. In Lied 3 transgrediert der tradierte dreipolige Bezugsraum in eine inkommensurable, in sich zersplitternde Sprossdynamik von Bildern, Perspektivsprüngen und Sprecherwechseln. In Lied 6 wurde ebendieselbe Überschreitung primär durch paradoxe Inversions-, Absturz- und Suchbewegungen inszeniert. So kommt es in beiden Liedern zu einem perpetuierten Wechsel von Raumevokationen und damit zum Zersplittern der gewohnten vuge-Ordnungen. Die Umcodierung der traditionellen Raumsemantik erlaubt und fordert eine veränderte Semantik des liebenden Ich wie der minne: Korreliert mit den disparaten Raumentwürfen wird ein in sich dissoziiertes Ich, dessen Identität und Wahrnehmungsrichtung nicht mehr klar verortet werden können. Entsprechend evoziert minne einen ortlosen Erfahrungsraum, in dem alles Wissen und Wahrnehmen fragmentiert übereinanderfällt, einen Erfahrungsraum, der aus der Dynamik beständiger Transgression besteht. ›Un-heimlich‹ geworden in dieser unabsehbaren Dynamik wird minne als Unort freigesetzt. Weil minne als perpetuierte Transgression den Charakter des ›Un-heimlichen‹ (unbehausten) Ausnahmeortes annimmt, bleibt sie letztlich innerhalb der Kanzonenform, die für das tradierte Minnekonzept steht,52 ein normsprengender Fremdkörper, und nicht nur das: Sie fällt auch aus ihrem Aufführungszusammenhang innerhalb eines geregelten gesellschaftlichen Arrangements der Repräsentation hinaus. Dies heißt in der Konsequenz: Indem das alte Konzept der Hohen Minne keine gesellschaftliche Verbindlichkeit mehr beanspruchen kann, da es als redundantes Sprachspiel decouvriert wird, das neue der ortlosen minne gesellschaftlich jedoch nicht integrationsfähig ist, da es sich

52 Zuvor Einheit verbürgend, umfasst die Kanzonenform nun zwei Register, die in der poetologischen Reflexion asymmetrische Gegenorte anzeigen. Die tradierte Kanzonenform, beibehalten, wird eben dadurch subversiv unterlaufen.

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jeder normativen maßstabsetzenden Struktur prinzipiell entzieht, büßt der Gesang, soziologisch gesehen, seine Legitimationsgrundlage ein. Die Transformation des Raumkonzepts der Hohen Minne führt somit dazu, dass der Gesang, der das Neue nur in Abgrenzung vom Alten zu formulieren vermag und deshalb Zwitter zwischen den Gattungen bleiben muss, letztlich seinen performativen Aufführungsort verliert. War die Hohe Minne durch ihren ideellen Anspruch einst öffentlich zu integrieren, so muss die ›un-heimliche‹ minne gesellschaftlich inkommensurabel bleiben. Sie ist damit vielleicht ein Teil der affenheit (GA V 119 G), die Frauenlob von Rivalen zugesprochen wurde; sie bleibt – verunortet – ein Schock, der als Schock keine maßgebliche Rezeption finden kann,53 lediglich wenige Pergament- oder Papierblätter, die geduldig – ohne recht hinzuhören – das einmal Gesagte, das nicht zurückgenommen werden kann, konservieren. Erst in der Romantik wird sich zeigen, dass und inwiefern die Liebe als Unort durchaus eine Facette kultureller Identität werden kann.54

Literatur AUGÉ, MARC, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1994. BOLLNOW, OTTO F., Mensch und Raum, 7. Aufl., Stuttgart 1977. 53 Zur Überlieferung von Frauenlobs Liedern: KÖBELE, 2003, S. 21-34. Innerhalb von Frauenlobs umfassendem Oeuvre sind nur sieben Lieder in der Hauptsammlung F, der Weimarer Liederhandschrift, überliefert, Lied 4, 5 und 6 allein hier. Lied 1, 2, 3 und 7 finden sich auch in den sog. Möserschen Bruchstücken (m); nur Lied 1 weist »Streuüberlieferung im geistlichen Kontext« auf, allerdings nur an der Peripherie der Minnesangkodifikation (ebd., S. 24). Die Überlieferung bleibt also marginal, und dies auf lange Sicht: »In der ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einsetzenden Flut handschriftlicher Liederbüchersammlungen findet sich kein Echo auf den Liedautor Frauenlob« (ebd., S. 25). Präzisierend hält Köbele fest: »Für eine Wahrnehmung des Liedautors Frauenlob waren die literarischen Interessen nicht erst im 14. und 15. Jahrhundert ungünstig. So habe ich keine Antwort auf die Frage, warum bereits in C oder auch in J von Liedern Frauenlobs keine Spur ist« (ebd., S. 33-34). Abschließend: »Wie fremd waren Frauenlobs Lieder den ja durchaus selegierenden Sammlern von C, die mit dem Kanzler abbrechen?« (ebd., S. 34 Anm. 94). Möglicherweise war es also in der Tat nicht der Zufall, sondern die Fremdheit einer verunorteten minne, die zu einer »historisch belangvolle[n] Lücke« (WORSTBROCK, 2001, S. 75) in der Überlieferung geführt hat. 54 Vgl. HUBER, 2004.

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BUMKE, JOACHIM, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkennen im Parzival Wolframs von Eschenbach (Hermaea. Germanistische Forschungen NF 94), Tübingen 2001. BÜHLER, HARALD, Zur Gestaltung des lyrischen Ichs bei Cavalcanti und Frauenlob, in: Wolfram-Studien 10 (1988), S. 179-189. CASSIRER, ERNST, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: Landschaft und Raum in der Erzählkunst (Wege der Forschung 418), hg. von Alexander Ritter, Darmstadt 1975, S. 17-35. DE CERTEAU, MICHEL, Kunst des Handelns, übers. von Ronald Vouillé, Berlin 1988. DÜNNE, JÖRG/GÜNZEL, STEPHAN (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006. EGIDI, MARGRETH, Poetik der Unterscheidung. Zu Frauenlobs Liedern, in: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. Festschrift für Karl Stackmann zum 80. Geburtstag, hg. von Jens Haustein/Ralf-Henning Steinmetz, Freiburg/Schweiz 2002, S. 103-123. FOUCAULT, MICHEL, Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, hg. von Karlheinz Barck u. a., 2. Aufl., Leipzig 1991, S. 34-46. DERS., Vorrede zur Überschreitung (Préface à la transgression), in: DERS., Dits et Ecrits. Schriften I. Frankfurt a. M. 2001, S. 320-342. FUCHS-JOLIE, STEPHAN, Under die ougen sehen. Zu Visualität, Mouvance und Lesbarkeit von Walthers ›Kranzlied‹ (L 74,20), in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 128 (2006), S. 275-297. DERS., Problems of topological and visual order in reading medieval poetry. Walther von der Vogelweide’s Nement, frowe, disen cranz, in: O Género Literário: Norma e Transgressão. Núcleo de Estudos Literários da Universidade do Porto, hg. von John Greenfield, Würzburg 2006, S. 29-53. DERS., ungeheuer oben. Semantisierte Räume und Raummetaphorik im Minnesang, in: Außen und Innen. Räume in ihre Symbolik im Mittelalter (Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 14), hg. von Nikolaus Staubach/Vera Johanterwage, Frankfurt a. M./Bern 2007, S. 25-42. GEROK-REITER, ANNETTE, Sprachspiel und Differenz. Zur Textur von Minnesangs Ende in Frauenlobs Lied 6, in: Texte zum Sprechen bringen. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler, hg. von Christiane

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Unerhörtes Singen und die Performativität des Unortes Aufführungsräume in der Sangspruchdichtung CLAUDIA LAUER

I. Die mittelalterliche Aufführungssituation und -praxis gehört auch gut zehn Jahre nach Jan-Dirk Müllers programmatischer Einschätzung der mediävistischen Forschungslandschaft zu den so genannten »blinden Stellen« der germanistischen Mediävistik.1 Dabei haben gerade die seit dem Ende der 1990er Jahre im Zuge des cultural und performative turn verstärkt einsetzenden Bemühungen um das Aufspüren, die Beschreibung und Interpretation des performativen Potenzials insbesondere lyrischer Texte, ihrer Kommunikationssituationen, sozialen Funktionalisierungen und gesellschaftlichen Situierungen einen entscheidenden Erkenntnisgewinn gegenüber der früheren Forschung gebracht. Mit dem Abwenden von der Interpretation darstellender oder beschreibender ikonographischer, historiographischer und epischer Zeugnisse und dem Hinwenden zur »Kommunikation unter Anwesenden«,2 zur Frage nach dem ›Wie‹ des Handlungsvollzugs und zur Aufführung als ›Interpretament‹3 konnten die in diesem Zusammenhang entstandenen zahlreichen gat1 2 3

Vgl. MÜLLER, 1999. Ebd., S. 155. Vgl. zu diesem Diktum TERVOOREN, 1996.

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Claudia Lauer

tungspoetologischen, kommunikationstheoretischen, diskursanalytischen und performativ-theoretischen Studien zeigen, wie sich in produktions- und rezeptionsästhetischer Hinsicht sowohl für den Minnesang als auch für die Sangspruchdichtung je spezifische Aufführungssituationen und -praktiken herausbilden, die sich nicht nur im Hinblick auf die jeweiligen Interaktionsprozesse zwischen Sänger und Publikum, sondern vor dem Hintergrund eines doppelt gespaltenen Kommunikationsmodells auch in theoretischer Hinsicht als dynamische poetisch-performative Handlungsräume näher beleuchten lassen.4 Durch die Verschiebung der Aufmerksamkeit auf die Performativität der Texte haben diese Untersuchungen allerdings nicht nur einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis der Eigenheiten mittelalterlicher Aufführungskunst geleistet, sondern zugleich auch in besonders eklatanter Weise ein weiterhin bestehendes Desiderat offen gelegt. Als mündlich vorgetragene interaktionelle Kunst trägt die mittelalterliche Literatur nämlich nicht nur zur Genese von je spezifischen ›Räumen‹ bei, sondern ist mit der Bindung an den Körper des Sprechenden bereits grundlegend auch an einen ›Ort‹ gebunden, an dem sich die unterschiedlichen reziproken Wahrnehmungsprozesse von gleichzeitig körperlich anwesendem Sprecher und Zuhörer ereignen. Will man also die »blinde Stelle« weiter erhellen, so muss neben dem ›Wie‹ gerade auch das ›Wo‹, d. h. die Kategorien des ›Raumes‹ und ›Ortes‹ und die Frage nach den besonderen räumlichen Spezifika der Aufführung, stärker in den Blick rücken, wie sie v. a. im Zuge neuerer literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschungen zu ›Theatralität‹ und ›Räumlichkeit‹ in einen übergreifenden Untersuchungshorizont gestellt werden,5 im Rahmen der germanistischen Mediävistik bislang jedoch weitestgehend auf die Hofforschung und die regionale Literaturgeschichtsschreibung beschränkt geblieben sind.6 4

Vgl. zu den zahlreichen Studien zum Minnesang exemplarisch MÜLLER, 1994; 1996; MERTENS, 1995; STROHSCHNEIDER, 1996; vgl. zur Sangspruchdichtung exemplarisch: EGIDI, Text, Geste, Performanz, 2000; DIES., Dissoziation und Status der Ich-Rolle in den Liedern Suchensinns, 2000; DIES., Der performative Prozess, 2004; DIES., 2007; BALDZUHN, 2002; EGIDI, Sangspruchtradition, 2004. Vgl. hierzu v. a. KRAMER, 2008. Vgl. exemplarisch zur germanistischen Hofforschung, die den Hof v. a. als kulturelles Zentrum in den Blick nimmt: KAISER/MÜLLER, 1986; BUMKE, 1986, S. 7182. Gerade auch die historische Hofforschung hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten in zahlreichen Einzelstudien und Sammelbänden einer Reihe von Themen und Teilaspekten gewidmet, die in engem Zusammenhang mit dem Thema Hof stehen. Verwiesen sei hier v. a. auf Monographien und Publikationsreihen zu den deutschen Königspfalzen, zur Pfalzenforschung, zu den fürstlichen ResiDERS.,

5 6

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Unerhörtes Singen und die Performativität des Unorts

Diesem Desiderat soll im Folgenden am Beispiel der Sangspruchdichtung nachgegangen werden, in der die Sänger – stärker als im Minnesang – in direktem Kontakt mit ihrem Publikum stehen und die verschiedenen Möglichkeitsbedingungen ihrer Kunst reflektieren. Als fahrende Berufssänger dem guot umbe êre nemen-Prinzip, d. h. dem Singen im Austausch für materielle Entlohnung und ideelle Anerkennung, verpflichtet, treten die Sänger mit ihrer volkssprachlichen Kunst und dem Anspruch, ihrem Publikum durch Orientierung in der Welt zu nützen und es gleichzeitig durch die Kunst der Darstellung zu erfreuen, von Anfang an in harte Konkurrenz zu anderen mittelalterlichen Erbauungs- und Unterhaltungsformen bzw. -künsten und müssen im Kampf um Legitimation, Geltung und Lebensunterhalt immer wieder auf die je spezifischen okkasionellen raumzeitlichen Aufführungsbedingungen reagieren, was sich besonders deutlich gerade in denjenigen Strophen greifen lässt, in denen die Sänger die Vokalität als grundlegende Aufführungsmodalität7 zum Thema machen: im Rahmen des spezifischen Kampfes um das ›Gehörtwerden‹ verstanden nicht nur als An- und Hinhören, sondern wesentlich auch als Innewerden, d. h. den Sänger mit seinem Gesang erhören, annehmen und gelten lassen. Vor dem Hintergrund des Verständnisses der Aufführung als eines »komplexen Mediendispositivs aus Körperpraktiken und medialen Formen«8 sowie eines dreifach gespaltenen Kommunikationsmodells, das die bisherigen theoretischen Aufführungsmodellierungen um eine dritte, spezifisch realhistorische Ebene ergänzt und so den eigengesetzlichen Raum der Aufführung in seiner inneren Dynamik und äußeren historisch-kulturellen Verortung Ernst nimmt,9 soll im Folgenden mittels ausgewählter kulturwissenschaftlicher Raumtheo-

7 8 9

denzen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit oder zu Hof- und Reichstagen, und allgemein auf PARAVICINI, 1994. Vgl. zur Untersuchung regionaler Literaturlandschaften v. a. EBENBAUER, 1988; KNAPP, 1994; DERS., 1999/2004; HELLGARDT, 2002; BRUNNER/SCHRENK, 2007. Vgl. zur Vokalität als zentrale Kategorie der Aufführungs- und Vortragssituation grundlegend ZUMTHOR, 1994. KRAMER, 2008, S. 29. Diese Ergänzung des theoretischen Aufführungsmodells, wie es v. a. für den Minnesang als doppelt gespaltenes Kommunikationsmodell fruchtbar gemacht wurde, trägt der Tatsache Rechnung, dass sich die Sangspruchdichtung stärker als der Minnesang durch eine Offenheit nach außen auszeichnet und für sie generell eine größere Durchlässigkeit und Dynamik zwischen Realität, Aufführungssituation und Textebene angenommen werden muss. Vgl. zum doppelt gespaltenen Kommunikationsmodell v. a. WARNING, 1979, S. 120-159. Vgl. zur vorliegenden theoretischen Modellierung der Performanz für die Sangspruchdichtung LAUER, 2008, S. 309-317.

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rien, wie sie im Zuge des sog. spatial bzw. topographical turn neu diskutiert werden,10 v. a. der Sänger-Topos vom ›Unerhörten Singen‹ in den Blick genommen werden, der mit der Fokussierung auf singen und sanc in den Kern sangspruchdichterlicher Aufführungskunst zielt.11 Anhand von exemplarisch ausgewählten Strophen vom 13. bis ins 15. Jahrhundert sollen dabei nicht nur generell insbesondere mit Hilfe von Michel Foucaults Heterotopie-Begriff12 und Michel de Certeaus Kunst des Handelns, d. h. eines Verständnisses von Raum als einem »Ort, mit dem man etwas macht«,13 die medial verschiedenartigen physisch-materiellen, literarisch- und performativ-virtuellen Aufführungsräume der Sangspruchdichtung genauer analysiert werden. In diesem Zusammenhang soll darüber hinaus gerade auch das spezielle Denkmuster des ›Unortes‹ näher beleuchtet werden, wie es im Rahmen des Sänger-Topos in dreifacher Hinsicht greifbar wird: einerseits als räumlich-konkreter Ort, an dem sinnvolle Aufführungen nicht (mehr) stattfinden; andererseits als spezifisch literarisch-textuell entfalteter Ort, der für den Gesang keine ideelle Überhöhung (mehr) zulässt, und schließlich auch als Ausgangsort für neues Singen und eine gelungene Aufführungssituation, indem es über die Handlungs- und Inszenierungsform des ›Spiels im Spiel‹14 von den Sängern in charakteristisch performativer Weise präsenz-, raum- und geltungskonstituierend umgesetzt wird. Die Untersuchung versteht sich demnach nicht nur als ein Beitrag zur Gattungspoetologie sowie zur spezifischen Performativität der Sangspruchdichtung. Mit dem speziellen Blick auf die raumzeitlichen Bedingungen und Geltungsansprüche sangspruchdichterlicher Aufführungskunst ergänzt sie v. a. auch die Untersuchungen zum Institutionalisierungsprozess mittelalterlicher 10 Vgl. WEIGEL, 2002, S 151-165, und SCHLÖGEL, 2003; vgl. zum Forschungsüberblick grundlegend DÜNNE, 2004. 11 Vgl. zum sangspruchdichterlichen Verständnis von sanc und singen als Bezeichnung für die ›Dichtkunst‹ und ›dichterische Tätigkeit‹ im Unterschied v. a. zu kunnen und kunst als Bezeichnung für ›Können‹ und ›Wissen‹ v. a. OBERMAIER, 1995. Vor dem Hintergrund der Eigenheit der Sangspruchdichtung, neben ›singen‹ v. a. auch Verben des Sagens als Bezeichnungen der dichterischen Tätigkeit zu verwenden, werden im Folgenden ›singen‹, ›sagen‹, ›sprechen‹ oder ›reden‹ begrifflich nicht unterschieden. 12 Vgl. hierzu im Folgenden v. a. FOUCAULT, 1992, und DERS., 2005. 13 Vgl. hierzu im Folgenden v. a. DE CERTEAU, 1988. Zitat: ebd., S. 218. 14 Die Bezeichnung ›Spiel im Spiel‹ richtet sich hier nach dem gewählten Gegenstand und ist in einem weiteren Sinne als eine selbstreflexive funktionale Thematisierung einer Aufführung oder einer aufführungsähnlichen Situation innerhalb der Sprüche zu verstehen. Vgl. zum engeren dramaturgischen Begriff ›Spiel im Spiel‹ bzw. ›Theater auf dem Theater‹ v. a. VOIGT, 1955.

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Literatur, der Stabilisierung, Verfestigung und Verstetigung ihrer Strukturen, Ordnungsmuster und Geltungsansprüche.15 Darüber hinaus trägt die Untersuchung zur neu belebten mediävistischen ›Raum‹-Diskussion bei, die sich von germanistischer Seite her bislang v. a. auf die fiktionale und ästhetische Raumgestaltung und -struktur mittelalterlicher Erzähltexte und Lieder16 sowie auf die Analyse sog. »virtueller« bzw. »imaginärer Räume« konzentriert hat,17 und kann schließlich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu einem differenzierteren Verständnis des ›Unortes‹ als einer körper-, medial- und kulturhistorisch gebundenen Denkkategorie beitragen.

II. Als integraler Bestandteil höfischer Kultur findet die Sangspruchdichtung ihren ›Sitz im Leben‹ von Anfang an am mittelalterlichen Hof, wie er sich strukturell-abstrakt im Sinne Foucaults als ›Heterotopie‹ beschreiben lässt: Er besitzt eine ganz bestimmte Funktion innerhalb der Gesellschaft, repräsentiert mehrere ›Orte‹, setzt diese unter bestimmten Ordnungsstrukturen und -regeln miteinander in Beziehung und verfügt über spezifische, je eigene Systeme der Öffnung und Schließung.18 Auf der Suche nach einem freigebigen Publikum treten die Sänger dabei nicht nur mit ihrem râten und lêren in Rivalität zu höfischen Ratgebern,19 sondern gerade mit ihrem singen auch in Konkurrenz zu anderen Unterhaltungs- und Geselligkeitsformen, die den Hof in seinen vielfältigen Eigenschaften als gesellschaftliches, politisches und kulturelles Zentrum der Zeit insbesondere im Rahmen des höfischen Festes repräsentie15 Vgl. hierzu exemplarisch z. B. KELLNER/STROHSCHNEIDER, 1998, und v. a. STROHSCHNEIDER, 2001; sowie KELLNER, 2005. 16 Vgl. exemplarisch zur Analyse fiktionaler Raumstrukturen in der Erzählliteratur: TOMASEK, 2005; FASBENDER, 2007; SCHMITZ, 2007; LAUDE, 2007; vgl. zur Lyrik v. a. FUCHS-JOLIE, 2007. 17 Vgl. hierzu v. a. VAVRA, 2005; DIES., 2007. 18 Vgl. zum Hof als »vollständige Welt« und polyvalente, »unfassliche[...] Erscheinung« PARAVICINI, 1994, S. 65-71. Vgl. zu diesem Verständnis von ›Heterotopie‹ v. a. FOUCAULT, 1992, S. 34-46. 19 Vgl. zu der sich v. a. seit dem Ende des 12. Jahrhunderts am Hof etablierenden Gruppe der Ratgeber v. a. PARAVICINI, 1994, S. 68. Vgl. zur sangspruchdichterlichen Auseinandersetzung mit anderen Ratgebern, die sich von Anfang an mehrheitlich polemisch zum Ausdruck bringt, v. a. KRAUSE, 2005, S. 112118.

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ren, das dem Alltag enthoben und an das »Flüchtigste, an das Vorübergehenste, an das Prekärste der Zeit geknüpft«20 ist. Wie schwierig sich diese letztere räumliche Koexistenz- und Konkurrenzsituation von ›Singen‹ und ›Nichtsingen‹ im Rahmen mittelalterlicher Unterhaltung aus der Sicht der Sänger erweist und welche Auswirkungen damit verbunden sind, zeigt erstmals eindrücklich Walther von der Vogelweide. Der in den ôren siech von ungesühte sî, daz ist mîn rât, der lâz den hof ze Düringen frî, wan kumet er dar, dêswâr er wirt ertœret. ich hân gedrungen unz ich niht mê dringen mac, ein schar vert ûz, diu ander in, naht unde tac, grôz wunder ist daz iemen dâ gehœret. der lantgrâve ist sô gemuot, daz er mit stolzen helden sîne habe vertuot, der iegeslîcher wol ein kenpfe wære. mir ist sîn hôhiu fuore kunt: und gulte ein fuoder guotes wînes tûsent pfunt, dâ stüende ouch niemer ritters becher lære.21 Wer an den Ohren krank durch ein Leiden ist, / das ist mein Rat, der lasse den Hof von Thüringen links liegen, / denn kommt er dorthin, wahrlich, er wird vollends taub. / Ich habe mich ins Gedränge gestürzt, bis ich nicht mehr konnte, / eine Schar zieht hinaus, die andre hinein, Nacht und Tag, / ein großes Wunder ist es, dass da jemand noch etwas versteht. / Der Landgraf ist so gesinnt, / dass er mit stolzen Helden seine Habe vertut, / von denen jeder wohl ein Berufsfechter sein könnte. / Mir ist seine großzügige Lebensführung wohl bekannt: / und kostet ein Fuder guten Weines tausend Pfund, / stünde da doch nimmer eines Ritters Becher leer.

Walthers berühmter Spruch thematisiert aus der Erfahrungsperspektive eines fahrenden Sängers die Unmöglichkeit, am Thüringer Hof Fuß zu fassen. Als Grund gibt das Sänger-Ich den vorherrschenden ohrenbetäubenden Lärm an, 20 FOUCAULT, 1992, S. 44. Vgl. zur höfischen Festkultur v. a. BUMKE, 1986, S. 276380, und ALTENBURG, 1991. 21 L 20,4 (1WaltV/6/5). Zitiert und übersetzt nach SCHWEIKLE, 1994. Die Angabe nach dem Stellenverweis bezieht sich hier wie im Folgenden auf BRUNNER/WACHINGER, 1986-2003.

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der wiederum seine Ursache in der besonderen Hofführung des Hofherren besitzt: Der Landgraf ziehe mit seiner unerschöpflichen Freigebigkeit nicht nur wahllos die Massen an den Hof, sondern vergebe seinen Besitz auch an zahlreiche stolze helden, der iegeslîcher wol ein kenpfe wære, und sorge für ein nie enden wollendes Angebot an Wein. Im Zentrum der Strophe steht der Hof des Thüringer Landgrafen Hermann I., wie er sich über dessen Herrschaftszeit von 1190 bis 1217 als eine zeitlich wie räumlich (relativ) konkret greifbare Heterotopie fassen lässt.22 Vor dem Hintergrund der historisch belegbaren politischen Umtriebigkeit, der ehrgeizigen Machtbestrebungen und des literarischen Mäzenatentums des Landgrafen23 entfaltet der Sänger dabei – wie dies v. a. Peter Strohschneider gezeigt hat24 – eine paradoxe Argumentation: Die übermäßig zum Ausdruck gebrachte Herrschertugend der milte des Hofherren steigert einerseits zwar die sozialhöfische Geselligkeit und damit die Macht bzw. Bedeutung des landgräflichen Hofes; andererseits geht sie jedoch auch mit einer massiven Öffnung der exklusiven sozialen Zugangsregularien des Hofes, einem verstärkten Transit und Lärm sowie einer Konzentration auf nicht-literarische Geselligkeits- und Unterhaltungsformen wie Kampf (kenpfen)25 und ritterliche Trinkgelage (wîn)26 einher und entzieht so dem Ich die Grundlage seiner sängerischen Präsenz: Ich hân gedrungen unz ich niht mê dringen mac. Die mit Blick auf den Thüringer Hof als einem politisch-aktuellen Machtzentrum und im Rahmen »etablierte(r) Rituale der Herrschaftspräsentation«27 entwickelte »Aporie feudaler Freige22 Vgl. BLASCHKE, 2003. Schweikle weist darauf hin, dass die »gelegentlich begegnende Bezeichnung dieser Strophe als ›Wartburgschelte‹ […] insofern nicht zutreffend [ist], als die Wartburg zur Zeit Hermanns I. […] noch nicht ständige Residenz war (dies erst seit 1224). Der Thüringer Hof residierte zu Walthers Zeit abwechselnd in Eisenach, Neuenburg a.d. Unstrut oder in Weißensee.« SCHWEIKLE, 1994, S. 352. 23 Vgl. speziell zum Thüringer Hof als literarischem Zentrum v. a. BUMKE, 1979, v. a. S. 159ff.; PETERS, 1981; LEMMER, 1989. 24 Vgl. STROHSCHNEIDER, 2002. 25 Strohschneider hat gezeigt, dass die v. a. in den jüngeren Kommentaren zu dieser Strophe erschienenen pejorativen Paraphrasierungen des Ausdrucks ›kenpfe‹, ›Streiter, Kämpfer‹ im Sinne von ›Haudegen‹ oder ›Berufskämpfer, -fechter, oft niedriger Herkunft und übel beleumundet‹ deutlich abgemildert werden müssen. Mit Strohschneider ist hier eine positivere historisch-semantische Deutung im Sinne ›prächtiger und berühmter Helden‹ anzunehmen. Vgl. ebd., S. 95f. 26 Vgl. zu ›Essen‹ und ›Trinken‹ als wesentlichem Bestandteil höfischer Festkultur v. a. BUMKE, 1986, S. 137-381; BITSCH, 1991. 27 STROHSCHNEIDER, 2002, S. 106.

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bigkeit«28, die zu einer »Krise höfischer Konsoziation«29 und zu einem »Kollaps«30 höfischer Kommunikation führt, legt aus der Sicht des Sängers die Koordinaten eines besonderen ›Unortes‹ frei. Dabei erscheint der Thüringer Hof in der Fiktionalität der Strophe mit der Verabsolutierung von Zuständen, wie sie sich im Kontext des höfischen Festes als eines dem Alltag enthobenen Ausnahmephänomens und eines Ausdrucks herrschaftlicher Machtdemonstration ereignen, nicht nur als ein charakteristischer ›Ausnahmeort‹.31 Im Sinne von de Certeaus handlungsbasiertem Raumverständnis entwirft die Strophe über den an konkrete realhistorische Macht- und Herrschaftsbegebenheiten gebundenen Ort, der als »eine momentane Konstellation von festen Punkten« über das »Gesetz des Eigenen«32 verfügt, dabei zugleich auch literarisch einen transitorischen und mono-funktional genutzten Raum, der für den Gesang keine ideelle Transgression mehr bereithält. In dieser besonderen Ausprägung weist der vom Sänger beschriebene Ort starke Ähnlichkeit mit der Konzeption des ›Nicht-Ortes‹ von Marc Augé auf, der als Transitort »keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt«:33 Er verfügt über keine differenzierenden Ordnungsrelationen, generiert keine sängerische Identität, sondern schafft Ähnlichkeit, kommunikative Verwahrlosung und Einsamkeit – er wird zum Unort.34 Mit diesem Raumentwurf inszeniert der Sänger nicht nur das Scheitern des Thüringer Hofes als aktuelles Herrschafts- und Machtzentrum. Indem die negative ›Unerhörtheit‹ im performativen Vollzug zum Ausgangsort für neues, positives Singen wird, entfaltet der Sänger darüber hinaus auch ein charakteristisches eigendynamisches präsenz- und raumkonstituierendes Potenzial. So richtet er sich gleich zu Beginn in prägnanter Weise als Ratgeber an sein Publikum, rät jedem Ohrenkranken vom Besuch dieses Hofes ab und verweist auf die Konsequenzen bei der Nichteinhaltung des Ratschlags: wan kumet er dar, dêswâr er wirt ertœret. Mit der Wahl des Verbes ertœren, das über den Reim 28 29 30 31

Ebd., S. 105. Ebd., S. 104. Ebd., S. 105. Vgl. zum engeren neuzeitlichen staatspolitischen und -rechtlichen Verständnis des ›Ausnahmezustandes‹ als (totaler oder partieller) Suspendierung der bestehenden Ordnung im Zusammenhang der Frage von Souveränität und Souverän v. a. SCHMITT, 2004; und kritisch dazu AGAMBEN, 2004. 32 Vgl. DE CERTEAU, 1988, S. 217. 33 Vgl. Augé, 1994, S.92. 34 Zum Denkmuster des ›Nicht-Orts‹ und dessen Beziehung zum ›Unort‹-Konzept vgl. AUGÉ, 1994 und die Einleitung dieses Bandes, S. 16-18.

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eng mit der Beschreibung des Thüringer Hofes verbunden ist (hœren), bleibt der Sänger im Sinne von »taub werden«35 im Bildfeld des Spruches und lenkt – mit der ebenfalls anzitierten Bedeutung von »zum Tor werden«36 – den Blick zugleich auf die didaktische Funktion seiner Dichtkunst. Wer – so ließe sich die Logik formulieren – dem Ratschlag des Sängers nicht Folge leiste und trotzdem an den Thüringer Hof gehe, werde nicht nur taub, sondern erweise sich auch als ein Tor. Über die raumzeitliche Differenz zur Unordnung am Thüringer Hof schafft sich der Sänger damit nicht nur eine neue Stimme im Spannungsfeld zwischen ernst gemeintem nützlichem Ratschlag und raffinierter Hofschelte. Indem er dem Landgrafen als Verantwortlichem des Ausnahmezustandes auch eine Lösung der milte-Aporie vor Augen führt, gelingt ihm umgekehrt – wie dies ebenfalls bereits Strohschneider festgehalten hat – eine virtuose Geltungsbehauptung: Erst wenn der am Hof fehlende Sänger mit seiner die Differenzierungsleistung erbringenden Dichtkunst »in die Nähe des Fürsten gerate, er also kommunikativ erfolgreich sei, erst dann werde höfische Kommunikation nicht mehr kollabieren, sondern ihrerseits gelingen.«37 Die performative Umsetzung des literarischen Ortes und der Versuch, »für seine eigene kommunikative Praxis eine Situationsdefinition durchzusetzen«,38 generieren insgesamt gesehen also einen Aufführungsraum, der als ›utopischer‹ Gegenentwurf im Sinne Foucaults zu verstehen ist und der gleichsam eine ›kompensatorische‹ Funktion gegenüber dem verbleibenden Raum besitzt.39 Die enge Bindung der Aufführung an einen historisch konkret fassbaren Hof beginnt sich in der Nachfolge Walthers zu lösen. Welche Veränderungen mit dem Zurücktreten des ›Gesetzes des Eigenen‹ verbunden sind, zeigt besonders anschaulich eine Strophe des oberdeutschen Sangspruchdichters Friedrich von Sonnenburg im 3. Viertel des 13. Jahrhunderts.

35 Vgl. HENNIG, 1995, S. 84. Vgl. zum Zusammenhang von ›Tor‹ und ›Taubheit‹ z. B. auch DIEMER [Altdeutsche Exodus], 1862, 129,29: der tôre mit den touben ôren. 36 Vgl. LEXER, 1992, Bd. 1, Sp. 684. 37 STROHSCHNEIDER, 2002, S. 106. 38 Ebd. 39 Vgl. zum Begriff der ›Utopie‹ FOUCAULT, 1992, S. 38f.; vgl. zum engeren Foucault’schen Verständnis von ›Kompensationsraum‹ bzw. ›Kompensationsheterotopie‹, ebd., S. 45f.

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Claudia Lauer Ich sünge gerne hübschen sanc und seite ouch guote maere und haete ouch hübscher vuoge pfliht, swa ich bi liuten bin. Min munt iu allen des vergiht, daz ich wol hübscher waere, und haete ich ouch hübschen habedanc ich haete ouch wisen sin. Ich sünge ouch wol von minnen liet und von des meien touwen, Wie kume sich liep von liebe schiet, ein vriunt von siner vrouwen. Diz sünge ich allez unde ouch me – nu laze ichz umbe daz: Zuht tuot den edelen jungen we und hübscher sanc, und tuot in schelten wip bi wine baz!40 Ich sänge gerne höfischen Gesang / und würde auch gute Geschichten erzählen / und besäße auch höfische Kunstfertigkeit, / wo immer ich unter Leuten bin. / Mein Mund gibt Euch allen zu erkennen, / dass ich wohl höfischer wäre, und bekäme ich auch höfische Dankesworte, hätte ich auch klugen Verstand. / Ich sänge auch wohl Lieder von der Minne und vom Maitau; / davon, wie schwerlich sich Liebende trennen, / ein Geliebter von seiner Dame. / Dies alles würde ich singen und noch viel mehr – / jetzt unterlasse ich es aber aus folgendem Grund: / Die edlen Jungen schmerzt die Erziehung und der höfische Gesang; sie lästern lieber beim Wein über Frauen!

Die Strophe thematisiert ähnlich wie die Walthers das Unerhörtbleiben des Singens. Obwohl sich für Friedrich zahlreiche Herren und Gönner, unter ihnen so mächtige wie Friedrich II. oder Rudolf von Habsburg, aber auch ›kleinere‹ wie Herzog Otto II. von Bayern, Heinrich I. von Niederbayern oder der sächsische Graf Friedrich von Beichlingen nachweisen lassen,41 tritt hier jedoch kein historisch-konkreter Ort in den Blick. Vielmehr fokussiert der Sänger gänzlich ohne raumzeitliche Konkretisierung die vorherrschenden Zustände am Hof und beklagt das Verhalten der edelen jungen, die das Lästern über die Frauen beim 40 MASSER, 1979, 73 (1FriSo/3/13). 41 Vgl. KORNRUMPF, 1980.

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Wein der zuht und dem hübschen sanc vorzögen. Im Zentrum steht also nicht das Scheitern des Hofes als politisch-aktuelles Machtzentrum, sondern das Misslingen des Hofes in seiner überzeitlichen und zugleich spezifischen Eigenschaft als »Erziehungs- und Überwachungsanstalt für Minderjährige«42 bzw. im Sinne Foucaults in seiner besonderen Ausprägung als ›Krisenheterotopie‹.43 Vor diesem Hintergrund entfaltet die Strophe erneut eine raffinierte Argumentation: Der Sänger bindet die – auch wahrnehmungspsychologisch greifbare (we tuon)44 – Überdrüssigkeit der jugendlichen Adligen gegenüber höfischer zuht an den hübschen sanc, was mit einer willentlichen Aufmerksamkeitsverschiebung zu nicht-literarischen Geselligkeits- und Unterhaltungsformen und einer moralischen Verwahrlosung höfischer Kommunikation einhergeht. Auf der Basis dieser ethisch-moralischen, perzeptiven und kommunikativen Ordnungsstruktur kristallisiert sich gleichsam eine Aporie höfischer Langeweile heraus, bei der der Verdruss junger Adliger gegenüber höfischen Pflichten auf der einen Seite zwar ein gesteigertes Bedürfnis nach Kurzweil und Freude nach sich zieht, auf der anderen Seite jedoch zu einer Veralltäglichung des Festcharakters und zu einer willentlichen Hinwendung der Aufmerksamkeit zu Wein, Frauen und Lästern führt.45 Mit der Verlagerung des Maßstabs für den sängerischen Erfolg ins Innere der Rezipienten – während der Landgraf in der Strophe Walthers den Sänger nicht hören konnte, gründet sich das Unerhörtbleiben des Gesangs hier explizit auf das Nicht-Wollen – erscheint in der Fiktionalität der Strophe also ein Raum, der sich durch die Verstetigung des Ausnahmezustandes, d. h. die dauerhafte Hinwendung zu Unterhaltung und Zeitvertreib, sowie die Exklusion von zuht und sanc auszeichnet und dessen beständige mono-funktionale Nutzung keine sängerische Identität generiert, sondern ethisch-moralische und kommunikative Verwahrlosung und Resignation schafft: nu laze ich daz.46 Die ›Enteignung‹ des literarisch entworfenen ›Unortes‹ als eines Ortes, an dem keine sinnvolle Aufführung (mehr) möglich ist, geht im performativen

42 PARAVICINI, 1994, S. 67. 43 Vgl. FOUCAULT, 1992, S. 40. 44 Vgl. zum Vorgang der Schmerzempfindung v. a. im engeren wahrnehmungspsychologischen Kontext GOLDSTEIN, 2002, S. 525-567. 45 Vgl. zum komplexen Phänomen der ›Langeweile‹ v. a. BELLEBAUM, 1990. 46 Im Sinne Foucaults ließe sich hier von einer ›mutierten‹ Krisenheterotopie sprechen, die sich an der Grenze zu einer ›Abweichungsheterotopie‹ bewegt. Vgl. zur diachronen Veränderung von ›Heterotopien‹ als ›Mutation‹ FOUCAULT, 1992, S. 41f., und zur Definition der sog. ›Abweichungsheterotopie‹ ebd., S. 40f.

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Vollzug mit einem veränderten sängerischen geltungs- und raumkonstituierenden Handlungspotenzial einher. So richtet sich das Sänger-Ich aus der Erfahrungsperspektive eines alten höfischen Sängers direkt an sein Publikum (min munt iu allen des vergiht), imaginiert mit Hilfe irrealer Konstruktionen und des rhetorischen Stilmittels der praeteritio verschiedene höfische Aufführungssituationen und zählt auf, was er alles tun könnte: hübschen sanc singen, guote maere sagen und Minnelieder vortragen. Die katalogartige Aufzählung spiegelt auf der einen Seite anschaulich den vergeblichen Versuch, an einem Hof Fuß zu fassen, an dem die höfische Dichtkunst aufgrund ihrer Exklusion keinen Platz mehr hat. Auf der anderen Seite offenbart sich in ihr eine besonders produktive Umsetzung der am Hof vorherrschenden Langeweile: Über die Inszenierungsform einer ›entzogenen Erwartung‹ (diz sünge ich allez unde ouch me – nu laze ichz umbe daz) stellt der Sänger Spannung her, präsentiert sich als ein vielseitiger, Freude und Kurzweil schaffender höfischer Sänger und gewinnt aus der Differenz heraus eine neue Präsenz im Rahmen von erzieherischer Jugendbelehrung, Drohung und Absage. Vor dem Hintergrund der argumentativen Logik, dass sich hübscher sanc vor einem unzüchtigen Publikum nicht nur als zu schade, sondern auch als unnütz erweist, modelliert der Sänger demnach einen utopischen Gegenentwurf, der deutlich direkter und expliziter auf den ›Illusionsraum‹ höfischer Aufführungskunst und den eigenen künstlerischen Geltungsanspruch zielt.47 »Ihr sollt das Heiligtum nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen«48 – Mit dem gänzlichen Verschwinden des Hofes aus dem Sänger-Topos, der Fokussierung auf den allgemeinen alltäglichen Zeitvertreib und der direkten Ableitung der Dichtkunst von Gott ist es schließlich nicht nur der städtische Meistersang,49 sondern auch einer der letzten fahrenden Berufssänger wie Michel Beheim, die ab dem 14. Jahrhundert grundlegend den Anspruch einer edlen und guten Dichtkunst und eines Aufführungsraumes vertreten, der über eigene binäre In- und Exklusionsmechanismen verfügt und dessen Exklusivität die Sänger nunmehr auch mit direkten Beschimpfungen gegen das grobe Publikum verteidigen: Es ist nicht gut, / das man hie tut / fur wuste sweine / die edlen czucht, / muscaten frucht / und negeleine.50 47 Vgl. zu Foucaults Definition des sog. ›Illusionsraumes‹ ebd., S. 45. 48 Mt 7,6: Nolite dare sanctum canibus neque mittatis margaritas vestras ante porcos […]. Zitiert nach GRYSON/WEBER [Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem], 1994. 49 Vgl. z. B. BARTSCH, 1862, Verz. K 908 (1Lesch/9/9a), Str. 1 und BARTSCH, 1862, Verz. K 475 (1Marn/7/504), Str. 3. 50 GILLE/SPRIEWALD, 1968, 60. Vgl. ähnlich auch ebd., 271, 319 und 320.

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III. Die Sangspruchdichtung ist von Anfang an nicht nur ein zentrales Element höfischer Unterhaltung und Geselligkeit. Als mündlich vorgetragene Dichtung verortet sie sich zugleich auch spezifischer im Rahmen höfischer Kunst und findet ihren ›Sitz im Leben‹ im engeren Kontext der körpergebundenen Aufführung selbst, deren charakteristische Räumlichkeit, d. h. ihre raumzeitliche Begrenztheit, ihre Abfolge mehrerer räumlicher Platzierungen, ihre bestimmten Ordnungsstrukturen und ihre spezifischen Systeme der Öffnung und Schließung, sich ebenfalls im Sinne einer Foucaultschen Heterotopie fassen lässt. Auf der Suche nach Gehör treten die Sänger dabei nicht nur in einen spezifisch literarisch-gelehrten Wettkampf mit anderen meistern,51 sondern konkurrieren mit ihrem sanc auch allgemein mit anderen mittelalterlichen Unterhaltungskünstlern. Wie prekär sich aus der Sicht der Sänger auch dieser Kampf um Gehör erweist und auf welche Weise sich die je spezielle konkurrenzielle Situation auf die Konstituenten des Aufführungsraumes auswirkt, veranschaulichen die folgenden ausgewählten Beispiele. In nomine domini ich wil beginnen, sprechent: âmen, daz ist guot für ungelücke und für des tiufels sâmen – daz ich gesingen müeze in dirre wîse alsô, swer höveschen sanc und fröide stœre, daz der werde unfrô. ich hân wol und hovelîchen her gesungen, mit der hövescheit bin ich nû verdrungen, daz die unhovelîchen nû ze hove genæmer sint danne ich, daz mich êren solde daz unêret mich. herzoge ûz Oesterrîche, fürste, nû sprich, dune wendest michs alleine, sô verkêre ich mîne zungen.52 In nomine domini, ich will beginnen, sprecht: Amen / – das ist gut gegen Unheil und gegen des Teufels Saat –, / dass ich in diesem Ton so weitersingen kann / und dass, wer immer höfischen Gesang und höfische Freude stört, freudlos werde. / Ich habe gut und auf höfische Weise bisher gesungen, / mit der höfischen Art bin ich jetzt zurückgedrängt, / so dass die Unhöfischen bei Hofe beliebter sind als ich. / Was mir Ehre einbringen sollte, das bringt mir Schmach. / 51 Vgl. hierzu grundlegend WACHINGER, 1973. 52 L 31,33 (1WaltV/9/3c). Zitiert und übersetzt nach SCHWEIKLE, 1994.

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Claudia Lauer Herzog von Österreich, Fürst, nun sprich, / wenn Du allein mich daran nicht hinderst, dann ändere ich meinen Gesang.

Walthers Strophe bezieht sich auf den raumzeitlich (relativ) konkret fassbaren Wiener Hof Herzog Leopolds VI. von Österreich, welcher nicht zuletzt v. a. auch als literarischer Mäzen und Förderer des höfischen Minnesangs in Erscheinung getreten ist.53 Der Sänger zielt dabei spezifisch auf die Aufführung am Hof und beklagt – ähnlich wie auch in L 32,754 – das Aufkommen neuer unhovelîcher Stimmen, die sich in die körpergebundene Interaktion zwischen Sänger und Publikum gedrängt, mit ihrer Dichtkunst höveschen sanc und fröide gestört und aufgrund ihrer Bevorzugung durch das Publikum zum Verlust der sängerischen Präsenz geführt haben.55 Mit Hilfe einer laudatio temporis acti und der fiktionalen Mitreflexion der Sängerkonkurrenten über die Kontrastformel ›hovelîch – unhovelîch‹ entfaltet die Strophe aus der Erfahrungssicht eines ehemaligen am Wiener Hof etablierten (Minne-) Sängers,56 der hövesche fröide mehrte und dem êre zuteil wurde, eine sozial-ethisch kommunikative und wirkungsästhetische Ordnungsstruktur des höfischen Aufführungsraumes, der sich über die zahlreiche Verwendung der Vorsilbe ›un-‹ besonders deutlich als ›Unort‹ auszeichnet: Die Öffnung der »raum-zeitlich insularen und sozial exklusiven […] Räume körpergebundener, reziproker Wahrnehmungen«,57 die Evokation konkurrierender Aufmerksamkeitsziele und die im zeitlich begrenzten Rahmen der Aufführung andauernde willentliche Bevorzugung von Sängern, die ethisch wie ästhetisch nicht der höfischen Norm entsprechen, schaffen einen Aufführungsraum, der in seiner Abwei-

53 Vgl. SCHEIBELREITER, 2003. Vgl. generell zur Literaturförderung zur Zeit der Babenberger v. a. BUMKE, 1979, S. 51f. und 169f. 54 Vgl. zur Zusammengehörigkeit der beiden Strophen v. a. SCHWEIKLE, 1994, S. 416f. 55 Die Strophe wurde ähnlich wie L 32,7 (1WaltV/9/4b) und Walthers berühmtes Lied L 64,31 immer wieder in Hinblick auf eine mögliche Auseinandersetzung zwischen Walther und dem ›dörperlichen‹ Minnesang Neidharts diskutiert. Vgl. zum Forschungsüberblick dieser strittigen Frage zuletzt ausführlich KRAGL, 2005. 56 Vgl. zu Walthers Minnesangtätigkeit am Wiener Hof sein berühmtes Selbstzeugnis ze Oesterrîche lernte ich singen und sagen (L 32,7) und seine Auseinandersetzungen mit Reinmar dem Alten. Vgl. zu dieser sog. Walther-Reinmar-Fehde u. a. SCHWEIKLE, 1986 und BAUSCHKE, 1999. 57 STROHSCHNEIDER, 2002, S. 89.

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chung, ja gar Verkehrung, ostentativ als ein anders genutzter Ort erscheint, dem Sänger keinen Platz mehr zuweist und Verzweiflung evoziert.58 Der literarische Ortsentwurf besitzt im performativen Vollzug eine besonders pointierte präsenz- und raumkonstituierende Kraft. Gleich zu Beginn mit einer religiös weit verbreiteten Eingangsformel die Dramatik der Situation einleitend, wendet sich der Sänger dabei prägnant an den Hofherren selbst, denn die unhovelîchen gefährden nicht nur den Sänger. Vor dem Hintergrund der Logik, dass der höfische Gesang einerseits den Hof als literarisches Zentrum der Zeit ausweist und andererseits als Bestandteil höfischer Kultur zugleich auch eine Indikator- bzw. Spiegelfunktion für die Stabilität, Identität und den repräsentativen Ausdruck des Hofes besitzt, gefährden die unhovelîchen auch den Hofherren selbst und fordern ihn in seiner doppelten Eigenschaft als Kunstrichter und Hofherr bzw. »Restitutor«59 der höfischen Ordnung heraus. Erst wenn der Sänger wieder exklusiv Gehör und Anerkennung finde, erst dann werden am Wiener Hof wieder höfische Zustände herrschen – sorge der Herzog nicht dafür, dann werde auch der Sänger als letzter Vertreter des höfischen Gesangs seine zunge verkêren, wodurch – so ließe sich schlussfolgern – letztlich der Babenberger Hof als gesellschaftliches und kulturelles Zentrum der Zeit, wie er unter Leopold VI. den Höhepunkt seines Ansehens erreichte, irreversibel an Geltung und Anerkennung verliere. Die performative Umsetzung des Ortes verschafft dem ehemaligen höfischen (Minne-) Sänger damit aus der Differenz heraus eine neue, nunmehr sangspruchdichterliche Stimme im Spannungsfeld zwischen Klage, Anklage und Drohung und modelliert einen virtuellen Aufführungsraum, der sich nicht nur deutlich in seiner Eigenschaft als Illusionsraum auszeichnet, sondern zugleich auch kompensatorische Funktion besitzt. Die raumzeitliche Entkonkretisierung des Topos zieht in der Folge eine generelle Fokussierung auf den Hof als Zentrum höfischer Bildung und Vorbildlichkeit und eine eingehendere Differenzierung bei der Mitreflexion der Sängerkonkurrenz nach sich. Dabei kommt es mit der Konzentration auf außerliterarische Aspekte, d. h. v. a. auf die sozial-rechtliche Illegitimität der als töricht stigmatisierten Sängerkonkurrenz, zu einer eindringlicheren fiktionalen Darstellung der Verkehrung bzw. Unordnung und in der performativen Umsetzung zu einer stärkeren Betonung der kompensatorischen Funktion höfischer Auf58 Der dergestalt beschriebene ›Unort‹ ließe sich im Sinne Foucaults eventuell sogar als dezidierte ›Abweichungsheterotopie‹ begreifen. Vgl. FOUCAULT, 1992, S. 40f. 59 OBERMAIER, 1995, S. 271.

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führung.60 Damit einher geht zum anderen auch eine deutlichere Fokussierung auf den sanc der Konkurrenten, wie dies besonders eindrücklich eine Strophe des Marners um die Mitte des 13. Jahrhunderts zeigt.61 Aus der Erfahrungsperspektive eines höfischen Sängers beklagt das Ich die Existenz eines Schmeichlers am Hofe, der im Bild des Pfaus (mit pfâwen schriten) und als ein wunder bî dem hove beschrieben wird, das mit menschen triten lâgen, lôsen und biten kann. Dieser habe mit seiner zungen wâfen manges hêrren muot versniten und so zur Erfolglosigkeit des Sängers beigetragen: mîn rede ist an im gar verlorn. Mit dem Blick auf die negative Wirkung der zunge des Schmeichlers verschiebt sich in der Fiktionalität der Strophe die Ordnungsstruktur der Aufführung von einer sozial- in eine moral-ethisch kommunikative und wirkungsästhetische, was mit einer besonderen Verinnerlichung des sängerischen Erfolgsund Wertmaßstabs einhergeht: Hatten die unhovelîchen bei Walther ohne weitere Erklärung eine Veränderung des Publikumsgeschmacks nach sich gezogen, so bringt sich die Wirkung des Sängerkonkurrenten hier explizit als ein Beschneiden bzw. Beschränken des muotes des Publikums, d. h. seiner Sinne und seines Verstandes,62 zum Ausdruck. Die Strophe erweist sich demnach einerseits als eine Klage über die falsche Berufseinstellung und Morallosigkeit des Schmeichlers und legt andererseits ein Verderben des Kunstgeschmacks offen, dem der Sänger resignativ und ohnmächtig gegenübersteht: Sein Kunstund Wirkanspruch erweist sich als unvereinbar mit den raumzeitlichen Rezeptionsbedingungen und eine Wiederherstellung angemessener Bedingungen ist insgesamt an eine Änderung der inneren Einstellung der Rezipienten gebunden. Über das Inszenierungsmuster der ›entzogenen Erwartung‹ und die anaphorische Aufzählung von Dichtkünsten, die er alle vortragen könnte – 60 Vgl. hierzu z. B. die Strophe bei Walther L 103,29 (1 WaltV/19/2), in der der Sänger klagt, dass die illegitime Sängerkonkurrenz mit ihren drüzzeln einen wol gezogenen man bei Hofe nicht ze spruche kommen lasse und gefüeges mannes dœnen durch hœnen, Lärm und törichtes Verhalten störe. Die Strophe wird u. a. von SCHWEIKLE, 1994, S. 474f., in den Zusammenhang der Thüringer-HofStrophe verortet; einen expliziten Hinweis auf einen historisch-konkreten Hof gibt sie jedoch nicht und auch für die Argumentation spielt die historischkonkrete Gebundenheit keine primäre Rolle. Vgl. zu dieser Strophe eingehender STROHSCHNEIDER, 2002, S. 88f., und LAUER, 2008, S. 243f. Vgl. zu einer stärkeren rezeptionsästhetischen Ausrichtung v. a. OBJARTEL, 1977, XVII,13 (1Mei/17/13); SCHRÖDER, 1970, 25,1 (1KonrW/5/2a) und GILLE/SPRIEWALD, 1968, 322 (1Beh/322a). 61 Vgl. STRAUCH, 1965, XV,16 (1Marn/7/16). 62 LEXER, 1992, Bd. 1, Sp. 2241.

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Formen wie bispel und spel, aber auch den ›Jüngeren Titurel‹, Heldendichtung und den Physiologus63 – schafft der Sänger also einen Aufführungsraum, der expliziter seinen Exklusivitäts- und Geltungsanspruch als inhaltlich-gelehrter, moralisch integrer und sprachlich-ästhetisch versierter höfischer Sänger unterstreicht und nachdrücklicher den exklusiven Illusionsraum spezifisch sangspruchdichterlicher Aufführungskunst betont: »Seine Literatur ist ein Beitrag zur höfischen Freude der moralisch Integren, von denen der Schmeichler sowohl als Produzent wie Rezipient fernzuhalten ist.«64 Das gänzliche Verschwinden des Hofes führt schließlich nicht nur zu einer generellen Absetzung von törichten und dummen Sängern, zu einem betonten Wissens-, Bildungs- und Weisheitsanspruch sowie zur Genese eines kompensatorischen Aufführungsraumes, der über eigene Zugangsregularien verfügt und dessen Exklusivität die Sänger mit indirekten, aber auch direkten groben Publikumsbeschimpfungen verteidigen.65 Auf welche Weise es hierbei ebenfalls zu einem gleichsam absoluten sängerischen Geltungsanspruch und zur Genese eines genuin eigenen sangspruchdichterlichen Illusionsraumes kommt, zeigt abschließend eine weitere Strophe des Marners: Sing ich dien liuten mîniu liet, sô wil der êrste daz, wie Dieterîch von Berne schiet, der ander, wâ künic Ruother saz; der dritte wil der Riuzen sturm, sô wil der vierde Eggehartes nôt, Der fünfte, wen Kriemhilt verriet; dem sehsten tæte baz war komen sî der Wilzen diet; der sibende wolde eteswaz Heimen ald hern Witichen sturm, Sigfrides als hern Eggen tôt; Sô wil der ahtode dâ bî niht wan hübschen minnesanc; dem niunden ist diu wîle bî den allen lanc; der zehende enweiz wie, nu sust nu sô, nu dan nu dar, nu hin nu her, nu dort nu hie. dâ bî hæte manger gerne der Ymlunge hort, der wigt min wort

63 Vgl. hierzu eingehender HAUSTEIN, 1995, S. 229f. 64 Ebd., S. 231. 65 Vgl. z. B. STACKMANN/BERTAU, 1981, VIII, 24 und 25 (Frau/5/101a).

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Claudia Lauer ringer danne ein ort, des muot ist in schatze verschort. sus gêt mîn sanc in manges ôrn, als der mit blîje in marmel bort. sus singe ich unde sage iu niht, des iu bî mir der künic enbôt. Sing ich den Leuten meine Lieder, / so will der erste hören, / wie Dietrich aus Bern [Verona] fliehen musste, / der andre, wo König Rother saß; / der dritte will den Sturm der Reußen, der vierte aber Eckharts Not, / der fünfte will Kriemhilds Verrat; / dem sechsten gefiele es besser zu hören, / wohin der Wilzen Volk gekommen ist; / der siebte wollte gern ein Stück / aus Heimes oder Wittichs Stürmen, von Siegfrieds oder Eckes Tod; / der achte aber möchte nichts als höfischen Minnesang; / dem neunten wird die Zeit bei alledem zu lang; / der zehnte weiß nicht was, / mal so mal so, mal dies mal das, mal hin mal her, mal dort mal hier. / Doch viele hätten gern der Nibelunge Hort, / die schätzen meine Worte / noch weniger als ein Pfennig, / ihr Geist ist mit dem Schatz verscharrt. / So dringt mein Lied in viele Ohren, wie wenn einer mit Blei in Marmor bohrt. / So singe und sage ich euch doch nicht, was euch der König durch mich entbieten lässt.66

Die berühmte und viel zitierte »Programmstrophe«67 des Marners gestaltet sich als eine besonders intrikate Publikumsschelte. Über eine ›wenn..., dann...‹Aufzählung imaginiert der Sänger dabei zehn fiktive Erlebnisse, bei denen die Zuhörer andere Dichtkünste, allen voran Heldenepik und Minnesang, hören wollen und ihm so die Möglichkeit entziehen, mit seinem eigenen wort und sanc Ohr und Lohn zu erreichen: sus gêt mîn sanc in manges ôrn, als der mit blîje in marmel bort. Vor dem Hintergrund einer konsequenten rezeptions- und wirkungsästhetischen Perspektive entfaltet der Sänger hier im generalisierenden Präsens eine allein auf seine eigene Aufführungssituation hin zugespitzte 66 STRAUCH, 1965, XV,14 (1Marn/7/14a). Zitiert und übersetzt nach WACHINGER, 2006, S. 252f. 67 Vgl. zu dieser viel zitierten Strophe GRIMM, 1957, S. 179f.; LÄMMERT, 1970, S. 154; WACHINGER, 1985; CURSCHMANN, 1986; HAUSTEIN, 1995, S. 222-226; OBERMAIER, 1995, S. 175-177; BALDZUHN, 2002, v. a. S. 92-94. Die zahlreichen Untersuchungen konzentrieren sich v. a. auf die Frage nach dem in der Strophe zum Ausdruck gebrachten ›Repertoire‹ oder – wie Wachinger, Haustein und Baldzuhn – stärker auf die spezifische Argumentation des Sängers. Die vorliegende Fragestellung nach den besonderen räumlichen Spezifika der Aufführungssituation blieb in diesen Zusammenhängen weitestgehend vernachlässigt und rechtfertigt so einen erneuten Blick auf die Strophe.

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Argumentation: Die sture Fokussierung des Publikums auf traditionellhöfische Literatur – so lässt sich mit der Allusion an die Aspis-Viper deuten68 – macht es nicht nur verstockt und taub für anderen Gesang, sondern schlägt sich auch negativ auf die Aufführung selbst nieder, indem die verschiedenen an den Sänger herangetragenen Erwartungen zu einer rasanten Themenabfolge und zu einem schnellen Aufmerksamkeitswechsel des Sängers und Zuhörers führen, wie dies der Sänger prägnant lautmalerisch und körperbetont inszeniert (nu sust nu sô, nu dan nu dar, nu hin nu her, nu dort nu hie).69 Das Eindringen vielfältiger Publikumswünsche und -ansprüche in die sangspruchdichterliche Aufführungssituation und die damit einhergehende Dominanz anderer höfischer Kunst- und Literaturformen destabilisieren demzufolge die körpergebundene Interaktion zwischen Sänger und Publikum und zwingen das Sänger-Ich zugleich auch zur Aufführung und Reproduktion fremder Dichtkunst. Aus der Perspektive des Sängers offenbart sich so ein Aufführungsraum, der als transitorischer, multi-funktional (und) anders genutzter Raum über keine stabilen Ordnungsrelationen verfügt: Er erscheint als Raum, der weder Konsistenz noch Identität generiert, sondern vielmehr zerstreut, Unkonzentriertheit sowie Fremdheit schafft und auf Seiten des Sängers trotzige Empörung und Ablehnung evoziert. Die enge Fokussierung des literarisch entworfenen ›Unortes‹ auf die sangspruchdichterliche Aufführung selbst entfaltet als ›Spiel im Spiel‹ eine – wie es bereits Jens Haustein gesehen hat – besonders »raffinierte (Argumentations-)Strategie«70. Dabei erreicht der Sänger zunächst über die Imagination der fiktiven Erlebnisse eine gemeinsam mit dem Publikum vollzogene ironische Distanzierung zum Geschehen. Nach der Lohnthematik wirft er jedoch »alle Zuhörer zusammen (iu)«71 und setzt zu einer fulminanten Schlusswendung an. Über einen binären In- und Exklusionsmechanismus spielt er die unterschiedlichen Rezipientenerwartungen in Abgrenzung zum von ihm gebotenen, aber verweigerten singen und sagen aus und betont im Bild mittelalterlicher Sozialhierarchien den herausragenden, einzigartigen und exklusiven 68 Vgl. zur Aspis als Schlangenwesen v. a. Ps. 91, 13. 69 Die Vielfalt der unterschiedlichen Publikumserwartungen und das Problem, ihnen allen gerecht zu werden, bringt der Sänger ähnlich lautmalerisch auch in einer anderen Publikumsschelte zum Ausdruck, wenn er in der Fiktionalität der Strophe das Publikum mit surrenden Mücken und Grillen vergleicht. Vgl. STRAUCH, 1965, VI,3 (1Marn/2/3). 70 HAUSTEIN, 1995, S. 225. 71 Ebd.

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Wert seiner Kunst als Königsbotschaft: sus singe ich und sage iu niht, des iu bî mir der künic enbôt. Die performative Inszenierungsform der ›entzogenen Erwartung‹ verschiebt folglich die Bedeutung der negativen ›Unerhörtheit‹ zum positiven ›Unerhörten‹ und ›Außergewöhnlichen‹ und führt im Dialog mit dem Publikum zu einer herausragenden sängerischen Geltungsbehauptung sowie zur nachdrücklicheren Modellierung einer gelungenen sangspruchdichterlichen Aufführungssituation. Erst mit der Bereitschaft des Publikums, sich konzentriert und exklusiv auf den Sänger und das unerhörte Ereignis seiner Botschaft einzulassen, »wird diese sich dem Hörer mitteilen (v. 19) und ihn zu einer anderen als der Vermehrung des schatzes zielenden Lebenssicht führen.«72 Im Spannungsfeld zwischen Schelte und Absage wirft die Strophe damit nicht nur einen Blick auf den Druck, dem die Sangspruchdichter mit dem gänzlichen Verschwinden des Hofes durch die Forderungen des Publikums und die reproduzierende Sängerkonkurrenz ausgesetzt sind. Sie veranschaulicht auch, wie die Sangspruchdichter einen gleichsam autonomen Sänger- und Kunststatus ausbilden und in eigenständiger Weise die Möglichkeitsbedingungen einer gelungenen Aufführung definieren: Über die performative Umsetzung des literarischen ›Unortes‹ erscheint ein virtueller Aufführungsraum, der sich als ein allein und ausschließlich für den Sänger gültiger Illusionsraum versteht – eine ›Utopie‹, deren Absolutheitsanspruch im Rahmen der grundlegenden Konkurrenz zum Unterhaltungsmedium der Musik, der direkten Ableitung der ›Wortkunst‹ von Gott und der damit einhergehenden Aufwertung des Gesangs als edel und gut letztlich auch – v. a. ab der späten Sangspruchdichtung des 14. Jahrhunderts und im Meistersang – religiöse Züge verliehen werden.73

IV. Die mittelalterliche Aufführungssituation und -praxis ist zweifellos noch weit von einem vollständigen Verständnis entfernt – ein Anspruch, der sicherlich auch illusorisch bleiben muss. Ziel war es hier, die »blinde Stelle« nicht nur wie bislang v. a. in Hinblick auf das ›Wie‹ des Handlungsvollzugs, sondern 72 Ebd. 73 Vgl. allgemein zu der v. a. ab dem 14. Jahrhundert aufkommenden Konkurrenzsituation zwischen Instrumentalmusik und Wortkunst FRANZ, 1974, S. 131. Vgl. hierzu z. B. BARTSCH, 1862, Verz. K 549 (1KonrW/6/508a) und BARTSCH, 1862, Verz. K 64 (1Frau/2/517).

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Unerhörtes Singen und die Performativität des Unorts

unter dem Blickwinkel des ›Wo‹, der spezifischen Frage nach den Raumstrukturen und -konzeptionen, näher zu beleuchten. Am Beispiel ausgewählter Sangsprüche vom 13. bis zum 15. Jahrhundert kristallisierten sich dabei vor dem Hintergrund des typischen Sänger-Topos vom ›Unerhörten Singen‹ und mit Hilfe v. a. von Foucaults und de Certeaus Raumtheorien je spezifische Aufführungsorte und -räume heraus, die als eine Koppelung von Raum- und Zeitdimensionen, Handlungsträgern und Wertung einen Blick auf die für die jeweilige Aufführung relevanten Ordnungsmuster freigeben und sich aus der Perspektive des jeweiligen sängerischen Selbst- und Werteverständnisses grundlegend als konfliktär, defizitär und negativ auszeichnen. Dabei erscheinen zum einen nicht nur verschiedenartige historisch-konkret und räumlichabstrakt gefasste heterotopische Orte und Räume, denen es in der Fiktionalität der Strophe durch den Entzug, Abbau oder die Zerstreuung sängerischer Präsenz versagt bleibt, ein Schauplatz erfüllter und guter Kunstproduktion und -rezeption zu sein. Indem die literarische Inszenierung des sängerischen Scheiterns und der Negativität bzw. Atopie des thematisierten Ortes im performativen Handlungsvollzug zum Ausgangsort für erneutes, positiv unerhörtes Singen wird, besitzen die unterschiedlichen Diskurse der Negativität zugleich auch ein spezifisch eigendynamisches präsenz- und raumkonstituierendes Geltungs- und Wirkpotenzial und werfen einen Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Sänger, eigene ästhetisch-performative Möglichkeits- und Existenzbedingungen zu formulieren und zu modellieren. In diesem Zusammenhang – so haben die verschiedenen Beispiele gezeigt – ändern sich vor allem mit der Verschiebung von konkret historisch identifizierbaren zu raumzeitlich abstrakten Orten, d. h. der ›Enteignung‹ und Loslösung von fremdbestimmten Orten, die charakteristischen Aufführungskoordinaten immer stärker zu einem selbstbestimmten sangspruchdichterlichen Aufführungsraum, der über eigene binäre In- und Exklusionsmechanismen und Zugangsregularien verfügt und in dem letztlich auch der literarästhetisch entworfene ›Unort‹ seine konzentrierteste präsenz-, raum- und geltungsgenerierende Wirkung sowie seine größte sprachliche Ausdruckskraft entfaltet. »Ihr Fratzen, ihr Kasperl, ihr Glotzaugen, ihr Jammergestalten, ihr Ohrfeigengesichter, ihr Schießbudenfiguren, ihr Maulaffenhalter!«74

Von der Publikumsschelte des Marners zur Publikumsbeschimpfung Peter Handkes – ein großer Schritt? 74 HANDKE, 1992, S. 13.

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Claudia Lauer

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Glückliche und unglückliche Orte Versuch über literarische und musikalische Reisen zu Unorten im 19. und 20. Jahrhundert bei Jules Verne, Franz Schubert, Franz Liszt und Mauricio Kagel 1 MARTIN ZENCK

Einleitung: Diskursfelder des Wortes ›Unort‹ Das Wort ›Unort‹ könnte leicht ins Lexikon der ›Unworte‹ aufgenommen werden, wie etwa dasjenige des von Heiner Müller gebrauchten ›Untoten‹, und dies auf Grund seiner fragwürdigen Vorsilbe ›Un‹. Das Präfix ›Un‹ bezeichnet neben der pejorativen Herabsetzung des Ortes entweder eine Verneinung, weist auf einen unwirklichen Ort, den es im Sinne der U-Topia noch nicht gibt, oder bezieht sich als Negation auf einen Ort, den es in der bekannten und idealisierten Weise nicht mehr gibt (also hier die Unterscheidung von Utopie und A-Topik und dann nochmals die Differenz zur Verneinung der traditionell metaphysisch verankerten Topik in der Aristotelischen Tradition). Dadurch ist die räumlich fixierte Verneinung unauflöslich mit der Zeit verbunden. In der Negation drückt sich ein besonderes Verhältnis zur Zeit aus, indem sie dem Ort eine mögliche Zeitmarke entweder in der Zukunft zuweist, also einen Status des ›Noch-Nicht‹, oder im Präteritum, in dem die Verneinung auf einen Ort 1

Eigentümlichkeiten des mündlichen Vortrags wurden beibehalten, um eine direktere Ansprache beim geneigten Leser zu erreichen.

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Martin Zenck

hinweist, der wie Atlantis versunken oder nur noch im kulturellen Gedächtnis verankert ist. Im Alpha privativum wird also eine topographische Beraubung hinsichtlich Vergangenheit und Zukunft ausgedrückt: ein ›Nicht-Mehr-Ort‹ und ein ›Noch-Nicht-Ort‹, wobei der erste trotz seiner grundlegenden Veränderung dennoch seinen Platz in der Wirklichkeit hat/hatte, der andere einen Topos aufruft, der noch gar nicht anzutreffen ist. Deswegen hat Michel Foucault2 diese Art von Wirtshäusern in der Ferne, die nach Ernst Bloch,3 dem großen Utopisten, erst noch errichtet werden müssen, wenn man am anderen Ort angelangt ist, aus seinen ›Heterotopien‹ ausgeschlossen. Im Gegensatz dazu drückt der ›Unort‹ etwas anderes aus: Etwa einen Verlust, durch den der glückliche zu einem unglücklichen Ort geworden ist. Wenn Heidegger das griechische Wort für Wahrheit aletheia hinsichtlich seines alpha-privativums als das bestimmt, was der Lethé, dem Fluss des Vergessens, entrissen und dadurch zu einem Bleibenden wird, so kann eben der ›Unort‹ in der pejorativen Herabsetzung als Beraubung eines bestimmten Zustands von Glück verstanden werden. Er ist ein ›Unort‹, weil der Kairos oder das Glück von ihm gewichen sind. Dadurch stehen die Unorte im Zusammenhang mit Gegenbildern4 und traumatischen Bildern, die mit glücklichen und unglücklichen Orten in der Vorstellung oder im Gedächtnis aufgerufen werden. Von dem japanischen Dichter Basho wissen wir, dass er sich für die Erfindung seiner Haikus zu stillen und geheimen Orten begab, die, weil sie solche der Inspiration waren, als glücklich bezeichnet wurden. Diese Orte sind also anders als Utopien solche, die es konkret in der Wirklichkeit gibt. Weil sie aber in einer bestimmten Weise ausgezeichnet sind und eine Gegenwelt umschließen, sind sie selten und vom Weltgetümmel abgeschieden. In dieser Einleitung versuche ich zunächst, die Unorte in einer Lehre von den Orten in der Topik zu bestimmen und von ihr zu unterscheiden. Wenn die Orte in einer lokalisierbaren Topik verankert werden können, so können sie dort im Sinne der glücklichen Orte einen locus amoenus umfassen, etwa einen

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Vgl. zu Michel Foucaults Abgrenzung der Utopie sowohl von der Heterotopie als auch von der traditionell metaphysisch verfassten Topik Michel Foucault, Des espaces autres (1967/84), hier zitiert nach: FOUCAULT, 2006, insbesondere S. 320f. Vgl. BLOCH, 1970, S. 224. Bei Bloch sind es vor allem die Künste, insbesondere die Musik, die als ›Vorschein‹ auf Zukünftiges, geschichtlich Unabgegoltenes verweist). Im Sinne von Foucault wäre damit ein Ort bezeichnet, der in der Wirklichkeit noch nicht existiert. Vgl. zu dieser Vorstellung der Gegenbilder zu den traumatisierten Bildern von Hiroshima, auch mit Blick auf Basho: ZENCK, Gedächtnis im Totenritual, 2003.

Glückliche und unglückliche Orte

Ort in der Stadt im Verhältnis zum Un-Ort, der außerhalb der schützenden Stadt liegt. Nach Hartmut Böhme5 kann da draußen vor der Stadt die wilde und anarchische Natur ihr Unwesen treiben, oder Räuber, die sich mit der anarchischen Natur verschwistert haben, können den Menschen, die aus der Stadt kommen, auflauern. Mit diesen anfänglichen und vorläufigen Überlegungen zur Lokalisierung der Unorte in der gesicherten Topik, auch der Topographien, möchte ich nun in einem ersten Hauptpunkt zu den Modellen kommen, die sich auf literarische und musikalische Reisebücher und Reisebeschreibungen im 19. und 20. Jahrhundert beziehen. In ihnen wird gewöhnlich ein Vorgang erzählt, der seinen Ausgang vom gesicherten Ort nimmt und dann nicht selten über abwegiges und erratisches Gelände zu Unorten führt, die den Wanderer zuweilen dem Unbehausten aussetzen. Schuberts Winterreise und Kagels Inversion und Travestie dieser Winterreise in seiner ›Lieder-Oper‹ Aus Deutschland sind dabei eine zentrale Lesart/Hörart dieses Vorgangs. Jules Vernes Reiseroman Voyage au centre de la terre ist zusammen mit den InfernoVorstellungen in Franz Liszts Années de Pélèrinages, vor allem in dem Klavierstück Après une lecture du Dante, eine andere zentrale Ausführung, die mit dem Unort zugleich ins Tiefste der menschlichen Natur weist. Mit dieser Überlegung sei hier bereits noch in der Einleitung die These riskiert, dass der Mensch mit dem Gang in die immer entferntere, wildere und anarchische äußere Natur zugleich seine innere Natur mit ihren Abgründen und Untiefen zu ergründen sucht: L’enfer c’est nous – die Hölle, der Abgrund, das sind wir in unserem Inneren. Sartres Umkehrung des L’enfer, c’est les autres in das L’enfer, ce sont nous-mêmes, hat bereits im früheren und mittleren 19. Jahrhundert seine eindeutigen Vorläufer.

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BÖHME, 2002.

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Martin Zenck

I.

Reisen durch die Landschaften in die innere Natur des Menschen: von Orten zu Unorten Schuberts Winterreise und Kagels Umkehrung der Winterreise in seiner Lieder-Oper Aus Deutschland

Ausgangspunkt der Bewegung in der Winterreise ist immer wieder die Stadt der Geliebten. Sie ist zugleich Fluchtpunkt, wenn der Gang in die Ferne dem Wanderer keine Befreiung und Erlösung bringt und er lieber in der Nähe des glücklich-unglücklichen Ortes sein will, als die Erinnerung an die Schöne in der Unendlichkeit der weiten Winterlandschaft zu verlieren. Damit gibt es eine Bewegung von der Stadt nach außen in die verwilderte Natur und zur Stadt wieder zurück, wobei die durchmessenen Radien immer weiter gezogen werden und statt der zirkulären Verlaufsform eine spiralförmige aufgesucht wird. Die in der Einleitung aufgerufene Entgegensetzung vom locus amoenus in der Stadt und der schrecklichen Natur vor der Stadt ist hier insofern zu differenzieren, als mit der zunehmenden Animalisierung des Wanderers, der die Züge der verwilderten Natur angenommen hat, sich auch der ehemalige locus amoenus zu einem locus horribilis wandelt. In Schuberts Winterreise sind die einzelnen Orte in der sich weitenden Topographie genau bezeichenbar, auch die Veränderungen, die sich aus den entsprechenden Erfahrungen der Distanz ergeben, wenn der Wanderer wieder zurückkehrt und sich alles gegen ihn richtet: wenn die ehemaligen Zeichen der Vertrautheit zu solchen der Fremdheit werden, die ihn seiner Unbehaustheit inne werden lassen. Mit der raum-zeitlichen Veränderung ergibt sich auch eine der Identität, die aus ihrer kompakten Integrität eine Spaltung hervorbringt, die das Ich zu einem anderen, zu seinem schrecklichen Double und alter Ego des greisen Kopfes und des Leiermanns werden lässt. Das Ich ist zum Zerreißen gespannt. Mit der Entfernung, der Selbstdistanzierung vom geliebten Ort und der Erstarrung in der eiskalten Winterlandschaft tritt ihm nicht mehr eine ihn umgebende und einschließende Natur entgegen. Der Mensch ist nicht mehr Teil der Natur: Sie spuckt ihn aus, macht ihn zu einem Fremden, nachdem ihn die Gesellschaft ausgestoßen hat. Was ihm bleibt, ist der Gang durch das auch metaphorisch verstandene Eismeer der gescheiterten Hoffnung von Caspar David Friedrich. Die Orte, die er, teilweise vermittelt durch Wegweiser, aufsucht, sind solche der transzendentalen Obdachlosigkeit: im Lied No. 10 des

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Glückliche und unglückliche Orte

Köhlers Haus am Rande der Gesellschaft, ein Ort, in dem nur noch sozial geächtete Kreaturen geduldet werden; im Lied No. 21, im Wirtshaus, in dem alle Kammern (gemeint sind die Leichenkammern) besetzt sind, so dass der Wanderer nicht einmal dort seine letzte Ruhestätte finden könnte; des Weiteren im Lied No. 15 die Krähen als Todesvögel, welche die ständigen Begleiter des Wanderers sind und bereits ihre aasfressende Tätigkeit verrichten. Alle drei Orte (das Haus des Köhlers, der Totenacker und das Wirtshaus) sind ausgesprochene Un-Orte, deren Ortlosigkeit nur noch durch das Lied des ›Wegweisers‹ (No. 20) gesteigert werden kann, weil von den Orten, auf die diese Zeichen weisen, keiner mehr zurückkommt. Dort, wo der Wanderer dann hingelangt, befindet sich keine erlösende Utopie. Es gibt hier keinen Nicht-Ort im Sinne eines Unortes, wie noch zuvor das Haus des Köhlers, das Wirtshaus und den Totenacker, sondern einen, der von einer vollkommenen Ortlosigkeit gezeichnet ist. Neben der kreisförmigen und spiralförmigen Bewegung des Wanderers in der Gesellschaft und in der Natur gibt es eine dritte Bewegung: Sie führt entschieden eben nicht zurück, mündet aber auch nicht in eine unendliche, weil angenommene Transzendenz. Wichtig und zentral ist bei dieser Beschreibung der Schubertschen Winterreise der Sachverhalt, dass die Reise von dem vertrauten Ort zu den Unorten bis zur Ortlosigkeit durch die harmonische Disposition des Lieder-Zyklus nicht nur erst grundsätzlich artikuliert, sondern überhaupt erst formuliert wird, ohne dabei die poetischen Errungenschaften des von Heinrich Heine in der Romantischen Schule so geschätzten Dichters Wilhelm Müller hier schmälern zu wollen. Die Tonartendisposition umreißt eine Topik von Landschaftszonen in der unterschiedlichen Beleuchtung von hell und dunkel, von Licht und Schatten, die jeweils auf die Szene des einzelnen Liedes fallen. An anderer Stelle, in einer Arbeit über Die romantische Erfahrung in Schuberts Winterreise,6 habe ich dies grundsätzlich ausgewiesen. Hier reicht es bei der entsprechenden Thematik der ›Unorte‹ aus, auf einiges hinzuweisen, was durch den Gang durch bestimmte tonale Felder vom gesicherten Zentrum dmoll im ersten Lied eben sehr weit wegführt, so dass keine Rückkehr mehr möglich ist und wenn doch, dann nur im gespaltenen Zustand. Zugleich weist das berühmte Lied vom Wegweiser (No. 20) auf das harmonische Verfahren der ›Teufelsmühle‹, bei der melodisch ostinate Formeln durch alle Tonarten gedreht werden. Dort ist die größte Entfernung von dem gesicherten Zuhause 6

ZENCK, 1987.

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Martin Zenck

der Grundtonart des Zyklus und von dem Zustand des Liedes in g-moll erreicht, obwohl das Lied in der Coda wieder in den Anfang zurückkehrt. Es ist aber nicht der gesicherte Ort des Anfangs, sondern dieser ist so zerspalten, wie das Ich durch sein Double im Sinne der romantischen Subjektivität, in der ›Ich‹ auch ein anderer sein könnte. Mit dem Ort hat auch das Ich seine Integrität und Stabilität verloren. Der Unort hat es gegenüber Jedem fremd gemacht oder genauer: In den lokalisierbaren und nicht mehr lokalisierbaren Orten spiegelt sich die Zerrissenheit des Ichs, welches sowohl konkret vorhanden als auch gleichzeitig ein gedoppeltes im Double ist, ein Doppelgänger, Widergänger und Untoter. Halten wir hier die wichtigsten Punkte unserer Argumentation fest: Schuberts Lieder-Zyklus führt zwar am Ende nach der ursprünglichen Tonartendisposition wieder in die Tonart h-moll zurück, die den ersten Teil in No. 12 beschlossen hatte, aber eben nicht ins d-moll des Anfangs. Es wird kein vollkommener Kreis, nicht der Kyklos, das Symbol der Vollendung, aufgerufen, sondern das der spiralförmigen Bewegung, die eben immer weiter vom Ausgangsort fortführt und sich zugleich in gefährlicher Nähe zu den vertrauten Orten befindet. Die Musik entfernt sich immer mehr, und zwar durch ein dreifaches Verfahren: Erstens werden mit den sich vom Ausgangspunkt entfernenden Tonarten immer mehr Regionen in der Landschaft aufgesucht, die den Charakter des Unwirtlichen, der Täuschung, des Unbehausten und schließlich von Unorten (Köhlers Haus, Totenacker, das Nirgendwo) erreichen. Zweitens stehen mit der Distanzierung vom Ausgangsort nicht nur die Tonarten für die sich verwandelnden Landschaftszüge, sondern ebenso der Bewegungsrhythmus des Wanderers, der verschiedene charakteristische Tempi-Veränderungen durchläuft: von der ruhigen Gangart über die schleppende bis hin zur gehetzten und sich überschlagenden, wobei diese dann umschlagen kann in die vollkommene Erstarrung, wenn die Füße des zum Bettler gewordenen Wanderers auf eisigem Wege festkleben. Drittens wird von der immer schmerzlicher werdenden Entfernung vom ehemals glücklichen Ausgangsort, der Stadt der Geliebten, die Art und die Möglichkeit des Singens berührt. Dieses reicht von schönen und syntaktisch wohl regulierten dichterischen Perioden der volksliedhaften Strophen über die vollkommen dissoziierten Wortfetzen »Hie und da« in der Letzten Hoffnung bis hin zum Ungesang im letzten Lied des Leiermanns, der nun seine dürftige und absichtsvoll kunstlose Deklamation zur leeren Bewegung der Leier für den Wanderer singt. Auch musikalisch ist der Wanderer zu sei-

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nem Doppelgänger, dem Leiermann, geworden, ein Vorgang, den das HeineLied vom Doppelgänger7 in Schuberts Schwanengesang ebenfalls vollzieht. Der Leiermann ist das trostloseste Lied der abendländischen Musik. Es zeugt von keinem Ort mehr, ist auch selbst keine Allegorie des Unortes, sondern radikal ortlos ohne das Glücksversprechen von Transzendenz. Insofern werden in Schuberts Lieder-Zyklus der Winterreise die Orte präzise in einer Topik durch die Ausdrucksmöglichkeiten der Musik verhandelt. Das Ordnungssystem der harmonischen Tonalität sowie die Tonartencharakteristik Christian Daniel Friedrich Schubarts in den Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst fixieren den jeweiligen Ort und die regulierbaren Distanzen von ihm, bis sie in Unordnung geraten, weil sie im Wegweiser in alle möglichen Richtungen gehen können und damit nicht mehr richtungsgebunden und lokalisierbar sind. Darüber hinaus ist die Topik der rhetorischen Figuren zwar reflektiert, aber in ihrer Verwendung empfindlich gestört. Die Figuren, die ihnen im Lied durch die loci topici zugewiesen werden, sind teilweise vollkommen sinnentleert. Schließlich ist die Topik im Sinne der Rhetorik mit ihrer Lehre vom richtigen syntaktischen Aufbau der Sätze und ihrer Satzglieder in ihrer Anordnung zumindest teilweise außer Kraft gesetzt. All dies gerät bei Schubert aus den Fugen und zwar nicht willkürlich, sondern vor dem historisch-kompositorisch noch wirksamen Hintergrund der regulativen Ordnungssysteme der Topik. Die Unorte werden noch in diesem System der Topik verankert. Dies System ist dort nicht mehr intakt, wo sich die Unorte bis hin zur Ortlosigkeit gesteigert finden und keinerlei Fixierung mehr im Raum im Sinne eines gestaffelten vorne und hinten, oben und unten, rechts und links erlauben. Die Topik ist zwar noch die Bedingung der Möglichkeit für die Lokalisierbarkeit der Orte, aber die harmonische, figurative und rhetorische Topik wird durch das Aufsuchen von Unorten immer mehr aus den einmal fixierten Orten gelöst.

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Vgl. dazu meine auch harmonische Analyse dieses Liedes in: ZENCK, Die ästhetische Produktivkraft, 2003.

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Mauricio Kagel: Aus Deutschland (Anfang Hauptteil I)

In mehrerer Hinsicht kehrt Mauricio Kagel in seiner 1980 komponierten ›Lieder-Oper‹ Aus Deutschland 8 die Schubert’schen Verhältnisse der Winterreise um. Zum einen beginnt ihr Hauptteil I mit dem Lied, mit dem Schubert seine Winterreise hat enden lassen, dem Leiermann. Zum anderen zeigt er nicht das Negativ-Erhabene, wie noch Schubert, sondern führt dies zu einer Travestie im Humor, der nach Jean Paul das umgekehrt Erhabene ist, allerdings eben bei Kagel wie bei Schubert bezogen auf die Negativität.9 Der Ausgangspunkt einer ›Musik über Musik‹ bei Kagel10 ist bekanntlich die Feststellung von Franz Liszt in seinem ›kammermusikalischen Essay‹ über Robert Franz, dass Schuberts Lieder »Miniaturdramen« seien, genauer, dass sie eine innere Handlung darstellten, ohne dabei zum Drama zu werden. Vor diesem Hintergrund ist Kagels jeweilige Inszenierung eines Liedes zu sehen, dessen inneres Drama nach außen gekehrt und zu einem tableau vivant entwickelt wird. Der Unort und die Ortlosigkeit des letzten Liedes vom Leiermann werden bei Kagel im ersten Stück seiner ›Lieder-Oper‹ in einer großen romantischen Requisite ausgestellt. Statt der Schluchten und verworfenen Landschaften bei Schubert finden wir hier aufgetürmte und ineinander verschachtelte Konzertflügel, nach

8 KAGEL, 1981. 9 Vgl. JEAN PAUL, 1990. 10 Vgl. dazu vor allem mit Blick auf die Bedeutung des Schubert-Liedes Gretchen am Spinnrad: ZENCK, Die andere Romantik, 2009.

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dem Regiekonzept von Herbert Wernicke in der Koproduktion zwischen Amsterdam und Basel: eine schwarze Flügellandschaft.

Mauricio Kagel: Aus Deutschland (Szenenbild)

Statt der aufgetürmten Eisschollen in der gescheiterten Hoffnung des Bildes vom Eismeer von Caspar David Friedrich sind hier große Klavierkörper ineinander verschränkt, die schwarzen und verkohlten Ruinen gleichen. Insofern gibt es auf der Bühne einen Unort, auf den der Leiermann zur Ausübung seines Berufes als Sänger angewiesen ist, dem er also ebenfalls nicht entrinnen kann. Zur Technik der Ausstellung gehört der obligatorische Leierkasten mit seinen leeren Quinten, die durch die Tritoni angespitzt werden. Seine Klänge werden bei Kagel in einen der Konzertflügel verlegt, vielfach verfremdet und zugleich vom Leierkasten erzeugt, den der Leiermann dreht. Ferner ausgestellt, d. h. von innen nach außen gekehrt, wird die Stimme des zum Leiermann gewordenen Wanderers, die bei Kagel von der Dichterin mit prononciert larmoyanter Deklamation übernommen wird, welche die Anfangsverse des letzten Liedes Drüben hinterm Dorfe steht ein Leiermann rezitiert. Es ist die Lektüre des Gedichts von Wilhelm Müller, die hier nicht in die Stimme des Sängers verlegt wird, sondern in eine weibliche Stimme, die, wie beim ›lebenden Bild‹, zur imaginären Szene gesprochen wird. Doch diese Deklamation wird nicht beibehalten. Sie geht über in Gesang (nun des Sängers), wenn Kagel den Text und wiederum die verfremdete Melodie aus dem 17. Lied Hinterm Dorfe eben ins letzte Lied Schuberts und ins erste seiner Lieder-Oper projiziert. Diese Maß143

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nahme ist wohl durchdacht, sind doch die knurrenden Hunde, die den Leiermann im letzten Lied umgeben, im 17. Lied ganz manifest nicht nur durch ihr Bellen und Knurren, sondern auch mit ihrem Jaulen und mit den rasselnden Ketten vorhanden. Es entspricht vollkommen dem Hyper-Realismus Kagels, dass er die Hunde – wie in seiner Filmmusik zu Buñuels Le chien andalou11 – leibhaftig mit ihren verschiedenen und in der Partitur genau notierten Stimmen auftreten lässt. Bei Kagel treten diese Hunde nicht nur wie in der Inszenierung Wernickes leibhaftig und demaskiert auf, sondern sie werden von drei verschiedenen Sängern genau intoniert:

Mauricio Kagel: Aus Deutschland (Auszug der Partitur)

Zum einen die Heul-Laute des »Au« mit falsettierender Stimme und zum anderen die Imitation der anderen Hundestimmen ebenso wie die dicht aufeinander folgenden Knurr-Laute zusammen mit dem Rasseln der Ketten, das von den unruhigen Hunden erzeugt wird.

11 Vgl. zum Heulen und Bellen, Wimmern und Quietschen der Hunde bei Buñuel und Kagel im Chien andalou: ZENCK, 2008.

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Mauricio Kagel: Aus Deutschland (Szenenbild)

Der Ort in der Szene ist zwar zutiefst unheimlich und darin ein Unort, zugleich aber durch die ausgestellten Requisiten der Romantik dieser Unheimlichkeit entkleidet, weil zutiefst hyper-realistisch und über-konkret. Aus der Negativität des Erhabenen bei Schubert entsteht Humor bei Kagel im ersten Lied nicht allein in der Umkehrung; dieser verneint auch nicht einfach, sondern er ist ohne Leichtigkeit rabenschwarz und voller Melancholie: eine Möglichkeit, einen Unort heute auf andere Weise erscheinen/erklingen zu lassen. Es versteht sich, dass es in Kagels ›Lieder-Oper‹ vielfache Unorte gibt, insbesondere vor der Folie der realen Inszenierung von imaginären und symbolischen Orten und Unorten in Schuberts Winterreise auf der konkreten Szene. Dabei werden die Unorte entweder durch einen kruden Realismus ihrer Unheimlichkeit entkleidet oder durch einen Surrealismus ins Unwirkliche gesteigert und damit weiter als bei Schubert ins Ortlose getrieben.

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II. Das Inferno in der Dante-Rezeption des 19. Jahrhunderts bei Jules Verne und Franz Liszt Wie intensiv auf andere Weise der zugleich mögliche und unmögliche Diskurs der Unorte – denn die non lieux sind dem geordneten Diskurs gerade nicht zugänglich – im 19. Jahrhundert nach Franz Schubert nachwirkt, zeigt sich in der kunstgeschichtlichen, literarischen und musikalischen Thematisierung des Infernos, das als der Unort kat exochen bezeichnet werden kann. Das Inferno mit seinem höllischen Lärm wie mit seiner unheimlichen Lautlosigkeit, der Eintritt des Verdammten in diese Region wie sein Verlassen, wenn es denn gelingt, ist in verschiedenen Artefakten präsent. Von Delacroixs legendärem und pompösem Gemälde Dante et Virgile aux enfers von 1822 (bekannt als ›Dante-Barke‹) über Victor Hugos Lektüre Après une lecture du Dante in den Voix interieurs von 1836 bis hin zu den beiden großen Dante-Kompositionen der sinfonischen Dichtung, der Dante Sinfonie (1855) und der Fantasie-Sonate Après une lecture du Dante (1858) von Franz Liszt, hat dieses quälende Sujet die künstlerische Produktion immer wieder auf verschiedene Weise provoziert. Obwohl so im Titel nicht genannt, gehört doch das 26. Kapitel aus Jules Vernes Voyage au centre de la terre hier mit hinzu, vor allem unter dem Aspekt der unheimlichen Stille in der Höhle tief unter der Erde. Der Ort, der dort beschrieben wird, hat denn auch durchaus Züge eines Unortes, zumal er in die tiefen Schächte und Abgründe der unterirdischen Natur/Unnatur führt. So lässt das genannte Kapitel einen der drei Gefährten plötzlich in die Irre gehen, als die beiden anderen zurückbleiben. Es ist ausgerechnet der Jüngste, der nun im Sinne einer Initiation dem Labyrinth hilflos ausgeliefert wird, das zugleich alle Eigenschaften von Dantes Inferno verzeichnet. Dieses ist entweder unerträglich wegen seines ohrenbetäubenden Lärms oder erbarmungslos wegen seiner Stille und seiner Dunkelheit. Ganz im Sinne von Roland Barthes’ Interpretation des Labyrinths12 ist es keine Frage der Definition, was diesen Irrgarten ausmacht, auch ist dabei primär nicht die Frage, wie diesem Unort wieder entronnen werden könne, sondern ab wann sich das Gefühl und Bewusstsein einstellt, dass der junge Forscher nun endgültig die mögliche frühere An12 Vgl. BARTHES, 2008; vgl. dort vor allem die Vorlesung vom 2. Dezember 1978 und vom 10. März 1979 unter dem Titel Die Metapher des Labyrinths, S. 185-202.

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schlussstelle, die Verbindung zu seinen anderen Gefährten und damit zu einem relativen gesicherten Ort verloren hat, der wieder aus den abgründigen Verließen heraufführen würde an die Erdoberfläche. Der junge Mann versucht zwar, den kleinen Bach wieder zu finden, der zuvor im Sinne eines Ariadne-Fadens13 den Weg begleitete, aber zunächst ohne Erfolg. Er ist einer Situation des vollkommenen Dunkels und der unheimlichen Stille ausgesetzt. Später erfahren wir, dass er in einer Grotte war, aus der sich strahlenförmig Schachtgänge verzweigen, die wie im Wegweiser Schuberts in alle und keine Richtungen weisen. Es sind schließlich die in ihrer Entfernung abmessbaren Stimmen der Gefährten, ihre Echos, die nach langer Zeit durch die Gänge hallen. In der absoluten Finsternis und im bedrohlichen Schweigen ist es das Vermögen des Ohres, das die drei an der Expedition Beteiligten zu einer Anagnorisis ganz eigener Art führt, zumal die Hoffnung auf ein mögliches Wiedersehen auf beiden Seiten aufgegeben wurde. Ist das subterrestrische System der Untererde schon unheimlich genug, so ist der Unort der tiefen Grotte gerade wegen der nicht mehr vorhandenen Anschlussstelle an Orte der möglichen und realistischen Orientierung in besonderer Weise ausgezeichnet. Der klaustrophobische Zustand des Eingekerkert-Seins in ein tonnenschweres und massives Steingewölbe, das wie ein Atlas auf dem Verlorenen lastet, der ausdrückliche Vergleich mit dem minoischen Labyrinth und dem Ariadne-Faden, die unheimliche Stille und das schwarze Dunkel: All diese Merkmale weisen auf ein besonderes Inferno, weil dies als Unort nicht mit anderen zugänglichen Orten in Verbindung steht, sondern, wenn überhaupt, seinerseits wiederum nur Gänge verzeichnet, die entweder zu anderen Unorten in der Tiefe unter der Erde leiten oder – was schlimmer im Sinne des Labyrinths wäre – zwar zurückweisen, aber ohne die Möglichkeit, als einmal identisch begangene Orte wieder erkannt werden zu können. Ganz im Sinne von Roland Barthes’ Labyrinth-Forschung wird deswegen auch der Beginn mit dem Verlust der Orientierung des IchErzählers als besonders signifikant angesehen. Jules Verne benennt die entscheidende Differenz von Verirren und Sich-Verlieren bzw. sich verloren haben: »Je m’arrêtai. Je ne pouvais croire à mon isolement. Je voulais bien égaré, non perdu. Égaré, on se retrouve.«14 (»Ich blieb stehen. Ich konnte nicht glauben, dass ich ganz allein war. Wohl verirrt, aber doch nicht verloren. Solange man sich nur verirrt hat, kann man wieder zueinander finden.«15) 13 Vgl. dazu die von Nietzsche und Foucault gelegten Spuren. 14 VERNE, 2001, S. 175. 15 DERS., 2005, S. 177.

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Ich habe diese Überlegungen über einen besonderen Unort, das Inferno, in einen Kontext mit der möglichen Dante-Lektüre von Jules Verne gerückt, da die verwandten Charakteristika wie die unheimliche Stille, die radikale Abgeschlossenheit und Abgeschiedenheit dies nahe legen. Die Palimnese des eigenen Körpers durch den Klang der Stimmen bewirkt jedoch die Selbstverortung und somit das Ende der Unorthaftigkeit. Während für Liszts Dante-Sonate die inneren Stimmen, die voix intérieurs, aus Victor Hugos Gedicht maßgeblich waren, sind es bei Jules Verne im tiefen inneren Schacht die wirklichen und nach außen durch die Wände hinweg getragenen Stimmen, die eine rettende Kommunikation mit den beiden anderen Gefährten erwirken. Das Tertium zwischen Jules Verne und Dante läge dabei in den tönenden Stimmen, die Liszt den inneren Stimmen Hugos gab. Einen expliziten Zusammenhang mit Dantes Inferno entfaltet auch Delacroixs Gemälde Dante et Virgile aux enfers zusammen mit der Besprechung dieses Bildes durch Baudelaire und mit der Lektüre dieses Gemäldes durch Victor Hugo in seinem Gedicht Après une lecture du Dante, auf das die gleichnamige Klavierdichtung von Franz Liszt im letzten Stück des ersten Teils seiner Italienreise »En Italie I« Bezug nimmt. An anderer Stelle16 habe ich die historische Filiation dieser Bezüge in der Dante-Rezeption des frühen und mittleren 19. Jahrhundert nachgewiesen. Hier mag es genügen, einige der spezifischen Charakteristika dieser Fantasie-Sonate von Franz Liszt unter dem Titel Après une lecture du Dante im Hinblick auf einen Unort zu benennen. Wichtig ist zunächst der Sachverhalt, dass die drei Teile der musikalischen Reisebücher der Années de Pélérinage in der Tradition etwa von Goethes beiden Italien-Reisen, Wilhelm Meisters Wanderjahren und Lord Byrons Harolds Pilmgrimage stehen. Genauer korrespondiert dieses Album d’un voyageur von Liszts musikalischen Reise- und Tagebüchern auf der einen Seite mit den Mémoires seiner damaligen Geliebten, der Comtesse Marie d’Agoult, auf der anderen mit den Lettres d’un voyageur von George Sand. Liszts musikalische Reisebücher sind in die Teile I »En Suisse«, Teil II »En Italie I« und Teil III »En Italie II« gegliedert und können den drei Regionen von Landschaften zugeordnet werden, die Michel Serres17 mit Blick auf die Topographien der Entdeckungsreisen von Jules Verne herausgearbeitet hat: Erstens führt das Wandern topographisch durch verschiedene Länder, bei Liszt durch die äußere 16 ZENCK, 2001. 17 Vgl. SERRES, 1974.

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Natur der Landschaften der Schweiz. Zweitens geht dann der Weg ab von der äußeren in die innere Natur und führt in das reine Wissen, bei Liszt im letzten und siebenten Stück Après une lecture ist es der Drehpunkt von der kontemplativen Anschauung der äußeren Natur zur inneren Schau der Intuition, vermittelt durch die italienische Malerei. Drittens steht am Ziel der Reise die Initiation, die den Menschen in die höheren Geheimnisse einweiht und ihn damit zugleich mit seinem Ursprung vertraut macht, wobei Telos und Arché kurzgeschlossen werden. Das Schlüsselstück der dreimal sieben Nummern aus den drei Teilen der Années de Pélérinage ist das Finale von »Italie I«, mit dem genanten Titel Après une lecture du Dante, das zum folgenden Teil »En Italie II« überleitet. Es ist gekennzeichnet von der Erfahrung der Hoffnungslosigkeit der Hölle, damit einer Initiation18 in die tiefsten Untiefen nicht nur des Unterirdischen, des kaum mehr Ortbaren, sondern in die Abgründe der menschlichen Seele. Komplementär zu dieser Initiation der grundsätzlichen Erschütterung lässt sich zugleich das zeitgenössisch Visionäre assoziieren: In Delacroixs ›Dante-Barke‹ ist es eine Überfahrt über den Acheron, der nicht nur zum Eingang der Hölle führt, sondern möglicherweise zu den anderen Ufern gegennapoleonischer Verhältnisse. Bei Liszt gibt es gegenüber den durch die Absolutsetzung des Tritonus markierten Verhältnissen, der für den diabolus in musica der Hölle steht, eben auch solche visionären Gegenbilder zum Höllenbild des Dante’schen Inferno. Im Gegensatz zur transzendentalen Obdachlosigkeit der Schubert’schen Winterreise, die keinerlei tröstendes Jenseits verspricht, finden wir bei Liszt in der Beatrice-Episode des zweiten Satzes des »Adagio« und dann vor allem im Finale des vierten Satzes eine Reminiszenz, die diese den Schrecken ohnehin verklärende Episode in den »Canto« des Entrückt-Seins und des Schwebens führt. Im Gegensatz zu Schubert wird hier bei Liszt das Inferno, der Unort des fürchterlichen und ewig andauernden Schreckens, gemildert und aufgelöst in einen Ort der vollkommenen Verklärung und Transfiguration. Es ist bezeichnend, dass Liszt eines seiner späten, beinahe atonalen Klavierstücke, mit dem fragwürdigen Titel Unstern,19 eben auch wieder aus diesem Unort eines Unglückssterns herausführt, indem er ihn am Schluss harmonisch auflöst in eine schwebende Transzendenz. Während also Schuberts Weg in den Unort sich zwar noch vor der Folie der Topik vollzieht mit der eindeutigen Orientierung an einer neuen Topik, nämlich der Atopik, finden wir bei Liszt eine Radikalisierung des Unortes, der aber gemildert 18 Vgl. dazu den ähnlichen Vorgang bei Jules Verne. 19 Vgl. LISZT, 1886.

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erscheint durch die Rückführung in das traditionell metaphysisch verankerte System der Topik.

III.

Schluss: Der Ort der Musik im Kontext der Konzeption der Unorte in Foucaults Heterotopologie und Marc Augés System der non lieux

Zum Schluss versuche ich, die Fäden zusammen zu ziehen und sowohl die vier von den Veranstaltern gegebenen Bestimmungen der Unorte als auch die Konzeptionen von Michel Foucault,20 Marc Augé21 und Michel de Certeau22 mit in die Stränge einzuflechten. Ich habe bisher, so könnte ein möglicher Einwand lauten, die Musik zusammen mit den anderen Künsten und Medien untersucht, wie diese die Unorte auf der Reise von glücklichen Orten zu unglücklichen Orten markieren. Eine andere Methode besteht darin, die Antwort nach einem Unort in der Musik von der Frage abhängig zu machen, welchen Ort die Musik, unabhängig von den aufgesuchten Orten/Unorten, überhaupt innehat. Ich versuche nun, abschließend diese Frage nach dem Ort der Musik zu stellen, wenn sie denn einen hat etwa im Verhältnis zum Raumdispositiv der Architektur, der Skulptur, der Malerei, bei der immer die dritte Dimension ergänzt wird, sowie zu dem gestaffelten und aufgefächerten szenischen Raum im Theater, der ein realer wie auch verwandelter »Kunstraum«23 ist. Vereinfacht kann hier schon die Unterscheidung zwischen Ort und Raum geltend gemacht werden, weil die Musik an einen Aufführungsraum gebunden ist, ohne einen Ort zu haben, höchstens, wie wir später sehen werden, auf eine im Raum lokalisierbare Klangquelle angewiesen ist. Diese ist aber nicht identisch mit der Musik, die wir als uns umgebend wahrnehmen. Wenn die Musik nicht in uns, nicht um uns herum wie etwas Atmosphärisches ist, nicht in unseren Körper als lebendige Vibration 20 Vgl. zu den verschiedenen Konzeptionen des Raumes bei Michel Foucault: ZENCK, 2010; vgl. weiter auch zur Frage des Ortes der Musik in diesen Räumen bei Foucault und Pierre Boulez: DERS., Der Gegen-Raum, 2009. 21 AUGÉ, 1992; hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: AUGÉ, 1994. 22 Vgl. DE CERTEAU, Pratiques d’espace, 1990; in der deutschen Übersetzung: DERS., 2006. 23 HERRMANN, 2006.

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und Vorstellung eindringt oder beim Dirigenten und Pianisten in Form einer physiologisch verankerten Mnemotechnik vorhanden ist, so hören wir sie zuhause oder im Konzert frontal von vorne oder von den Seiten, aber selten im Dolby Surround, weil dieses Wandern der Klänge uns zwar umgibt, aber auch immer nur die Zentralperspektive abbildet. Der Klang wird gleichsam von vorn, vom Podium aus erzeugt und gesteuert und dann über den Raum und durch ihn hindurch verteilt, von der Konzeption der Verräumlichung aus gesehen, bleibt die grundsätzliche Orientierung aber an der produktionsästhetisch wirksamen Mitte der Frontalstellung. Erst in der Neuen Musik kommt es durch veränderte Raumkonzeptionen zu grundsätzlich anderen Bewegungen im Raum (Stockhausen nennt den neuen Tonort der Topik den fünften Parameter der Neuen Musik),24 in dem wir gehen oder sitzen und dabei von allen Seiten von sich im Raum flutenden Klängen bewegt werden, deren Wellen uns eben wie akustische Objekte auch haptisch berühren. Musik wird wesentlich objektlos, im Gegensatz zum Sehen nicht objekthaft und konfrontativ über die distante Wahrnehmung aufgenommen. Auch wenn sie auf eine signifikante Klangquelle bezogen ist, von der die Musik ihren Ausgang nimmt, ist dieser Ort der Klangquelle nicht in derselben Art wie eine Skulptur das Objekt der Wahrnehmung. Das Objekt der ästhetischen Wahrnehmung (effect) und die Klangquelle (source) als Ausgangspunkt des sich bewegenden Klangs sind also zu unterscheiden. Im Gegensatz zum objekthaften Gegenüber, das wir mit dem erkennenden Auge von einer bestimmten Perspektive aus fixieren, ist die Musik sozusagen verstreut im Raum, sie umgibt und durchströmt uns von allen Seiten, so dass wir sie eben nicht willentlich wie beim Sehen wahrnehmen, sondern bestimmt von einer Passibilität aufnehmen, die das Geschehenlassen von Klang im Sinne des Nietzscheanisch-Dorischen »Dran«25 meint, das in der Absetzung von der Aktion als äußerer Handlung erfolgt. Diese Überlegung zwingt zu einer erneuten Differenzierung von Raum und Ort. Die Musik benötigt einen Ort als Klangquelle: den Lautsprecher oder ein Instrument oder einen Klangkörper. Während der Ort also fokussiert ist, umgibt der erweiterte Raum diese Klangquelle an einem bestimmten Ort, oder besser: Der Raum

24 Vgl. dazu ausführlich die von mir verfasste Studie mit Blick auf Foucault und Boulez unter Anm. 20. 25 In der berühmten Anmerkung zum Fall Wagner vermerkt Nietzsche, dass das Wort Drama überhaupt nichts mit »Handlung« und »Tun« zu schaffen habe, sondern, aus dem Dorischen »Dran« kommend, ein »Geschehen« bezeichne, das an ein »Ereignis« und an eine »Geschichte« gebunden sei (NIETZSCHE, 1954).

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wird von den Schallwellen der Klangquelle durchflutet und mit ihm der in diesem Raum sitzende Hörer. Erst die Neue Musik spielt mit der Täuschung der Klangorte, wenn wir, wie in Luigi Nonos Streichquartett Fragmente, Stille – an Diotima, ganz hohe Flageolett-Klänge, die wir von der Geige von links außen zu hören gewohnt sind, dann doch bei der Aufführung plötzlich vom Cello von weit rechts außen im Klangpanorama wahrnehmen. Der ehemalige Primarius des LaSalle Quartetts, Walter Levine, meinte dazu mit Bezug auf Nonos Quartett, dass dies der Ursprung einer Entortung der primären Klangquelle sei, die zur Ortlosigkeit der Musik führe. Sie kann von allen Richtungen kommen, und nur wenn man richtig hinsieht und gleichzeitig präzise hinhört (und nicht versonnen lauscht), kann man sicher sein, von wem, von welchem Spieler und von welchem Klangkörper welcher Klang erzeugt wurde. Das Hören alleine reicht nicht mehr zur Identifizierung der primären Klangquelle aus. Mit dem Quartett und dem panoramatischen Klavierstück mit Lautsprechern …sofferte onde serene… von Luigi Nono wird ein Weg in seiner Musik eingeschlagen, der ganz systematisch der Frage nach dem Ort und der Ortlosigkeit von Musik nachgeht und insbesondere der Frage nach der Perspektive des Raums und der Richtung, von der aus Musik auf uns zukommt. Damit wird man hinsichtlich der akustischen Erforschung des Klangs bei Nono zwar sagen können, dass er sich zwischen seiner Ortbarkeit und seiner Ortlosigkeit bewegt, zugleich wäre es aber eine problematische Redeweise, von einem Unort der Musik zu sprechen. Sie hat einen entweder im Raum fixierten oder in ihm verteilten Ort oder sie ist, was die Differenz von Sehen und Hören angeht, irritierend ortlos; zudem kann sie bezüglich der meine Ausführung bislang bestimmenden Topik auch von ihrer Kompositionsweise und von ihrem Charakter heraus einen Unort markieren. Zum Abschluss seien zwei systematische Überlegungen zur Frage nach dem Ort/Unort der Musik angestellt: 1. Der bei Michel de Certeau26 und Marc Augé27 erhobene Unterschied von Raum (espace) und Ort (lieu) gilt auch für die Musik. Gleichwohl ist dieser 26 DE CERTEAU, 2006, S. 345. 27 Marc Augé differenziert zwischen »Hier« und »Anderswo« und unterscheidet dabei unterschiedliche Stadien der Zivilisation. Während das »Hier« eines Dorfes bis ins 19. Jahrhundert hinein etwa deutlich abgesetzt und getrennt war vom anderen Dorf, dem »Anderswo«, vermag heute bereits eine Reklame im Dorf oder ein Fernsehapparat das »Anderswo« einzuschließen (vgl. AUGÉ, 1994; dort insbesondere das Kap. »Das Nahe und das Ferne«, S. 13-52).

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Bezug/Nicht-Bezug zwischen Ort und Raum medienspezifisch auszudifferenzieren, weil die Musik im Gegensatz zu den anderen Künsten und Medien kein objekthaftes, gleichsam skulpturales Gegenüber markiert, das wahrgenommen wird, sondern von Hegel durchaus richtig in ihrer »objektlosen Innerlichkeit« charakterisiert wird. Und das heißt: Der wirkliche oder vorgestellte äußere Gegenstand wird vorausgesetzt und berührt als Empfindung unser Inneres, wohl besser unsere Innigkeit im Sinne von Dieter Henrichs Studien über die Philosophie des frühen 19. Jahrhunderts28 als im Sinne von Hegels Innerlichkeit. 2. Wenn ein Unterschied gemacht wird zwischen dem Ort, der Klangquelle der Musik (source) und dem Raum, in dem Musik erklingt, und wo sie uns dann umgibt (effect), so kann dies spezifische Verhältnis durchaus auf die entsprechende Unterscheidung von Raum und Ort bei de Certeau und Marc Augé bezogen werden. Denn wenn der Gegensatz von Ort und Raum nicht als derjenige zwischen Ort und Unort gedacht wird, sondern der »Raum […] ein Ort [ist], mit dem man etwas macht«,29 und weiter der Ort als »ein Geflecht von beweglichen Elementen« verstanden wird, werden erst die Fußgänger die von der Stadtplanung geometrisch als Ort definierte Straße in einen Raum verwandeln. Damit wiederum ist der Ort also fixiert und situiert und wird nur dadurch zu einem Raum erweitert, dass die Menschen ihn passieren. Vergleichbar ist dieser Vorgang in genau umgekehrter Weise mit der Musik. Ihr Ort ist die Klangquelle, selbst wenn diese mobil sein kann – etwa durch die LiveElektronik.30 Aber indem die Klänge uns als Zuhörer passieren (und nicht wir sie, wie der Fußgänger die Stadt), sie durch uns hindurchgehen (nicht wir durch sie), ergibt sich daraus ein Gefühl für den Raum, der, weil passager, fließend und virtuell offen, im Sinne eines nicht fixierten Ortes ein Unort wäre, ein zwar vorhandener oder sich ergebender, aber eben keiner im Sinne des Nicht-Ortes der Utopie. Letzterer wird aber nicht bestimmt – und dies ist der wesentliche Unterschied zum Stadtraum –, indem wir aktiv zu einem fixierten Ort gehen, sondern umgekehrt die Klänge von der Klangquelle (source) aus auf uns zukommen, wir von den Klangwellen berührt (sowohl tangiert als auch innerlich bewegt) werden und uns von ihnen durchströmen lassen im Sinne

28 Vgl. HENRICH, 2004. 29 DE CERTEAU, 2006, S. 345; Hervorhebungen im Original. 30 Vgl. dazu den exemplarischen Hinweis zu Pierre Boulez unter Anm. 20.

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einer gewähren lassenden Passibilität,31 die im Gegensatz zur Passivität eine innerlich aktive Anstrengung des Zulassens von etwas anderem, als man selbst ist, voraussetzt.32

Literatur AUGÉ, MARC, Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris 1992. DERS., Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1994. BARTHES, ROLAND, Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt a. M. 2008. BLOCH, ERNST, Tübinger Einleitung in die Philosophie (Gesamtausgabe Bd. 13), Frankfurt a. M. 1970. BÖHME, HARTMUT, Art. Natürlich/Natur, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 480. DE CERTEAU, MICHEL, Praktiken des Raums, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne/Stephan Günzel, Frankfurt a. M. 2006, S. 343-352. FOUCAULT, MICHEL, Von anderen Räumen [orig.: 1984], übers. von Michael Bischoff, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne/Stephan Günzel, Frankfurt a. M. 2006,, S. 317-329. HENRICH, DIETER, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena 1790-1794, Frankfurt a. M. 2004. HERRMANN, MAX, Das theatralische Raumerlebnis [orig.: 1931], in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne/Stephan Günzel, Frankfurt a. M. 2006, S. 502. JEAN PAUL, Vorschule der Ästhetik [orig.: 1804], nach der Ausg von Norbert Miller hg. von Wolfhart Henckmann, Hamburg 1990. 31 Vgl. dazu Dieter Mersch, der von einem »Um-Sprung der Aufmerksamkeit« spricht, von einem »Sprung von der actio des Willens, der Herstellung (poiesis) oder den Techniken des Kompositorischem zu dem, was weder als actio noch als passio angesprochen werden kann« (MERSCH, 2002, S. 289). 32 Für eine weiteres Beispiel für die ›Verunortung‹ von der und durch die Musik vgl. den Beitrag von Constanze Schuler im vorliegenden Band.

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KAGEL, MARICIO, Lieder-Oper Aus Deutschland (1977-1980), Frankfurt a. M. u. a. 1981. LISZT, FRANZ, Unstern. Sinistre. Disastro, S [= Searle-Verzeichnis] 208, o. O. 1886. MERSCH, DIETER, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen (Aesthetica), Frankfurt a. M. 2002. NIETZSCHE, FRIEDRICH, Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem, in: DERS., Werke in drei Bänden, Bd. II, hg. von Karl Schlechta, München 1954, S. 903-905. SERRES, MICHEL, Jouvenences. Sur Jules Verne, Paris 1974. VERNE, JULES, Voyage au centre de la Terre [orig.: 1864]. Vignettes par Èdouard Riou, Paris 2001. DERS., Reise zum Mittelpunkt der Erde. Roman, aus dem Französischen neu übers. und hg. von Volker Dehs, mit sämtlichen Illustrationen der französischen Originalausgabe, München 2005. ZENCK, MARTIN, Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts Winterreise, in: Archiv für Musikwissenschaft, Jgg. XLIV, H. 2 (1987), S. 141160. DERS., Struktur und Poetik in der Ton-Dichtung Après une lecture du Dante im Zusammenhang der Correspondance Marie d’Agoult et Franz Liszt, in: Musik und Szene. Festschrift für Werner Braun zum 75. Geburtstag, hg. von Bernhard R. Appel (Saarbrücker Studien zur Musikwissenschaft. Neue Folge, Bd. 9), Saarbrücken 2001, S. 575-595. DERS., Die ästhetische Produktivkraft des Fantastischen und des Wahnsinns im Werk Wolfgang Rihms, in: ausdruck – zugriff – differenzen. Der Komponist Wolfgang Rihm, hg. von Wolfgang Hofer, Frankfurt a. M. 2003, S. 6264. DERS., Gedächtnis im Totenritual. Luigi Nonos Sul ponte di Hiroshima (1962) und Toshio Hosokawas Voiceless voice in Hiroshima (2001), in: Rituelle Welten (Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 12/2003, Heft 1 und 2), hg. von Christoph Wulf/Jörg Zirfas, Berlin 2003, S. 641-660. DERS., acoustic turn – versus iconic turn. Über die subvokale Bedeutung der Musik im Stummfilm (Buñuel: Rihm/Kagel) und in den Filmen von JeanLuc Godard, Pier Paolo Pasolini und Andrej Tarkowskij, in: acoustic turn, hg. von Petra Maria Meyer, München 2008, S. 409-433.

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DERS., Der Gegen-Raum/die Heterotopie und der virtuell-mobile szenographische Raum. Überlegungen zu Michel Foucault und den Répons und dem Dialogue de l’ombre double von Pierre Boulez, in: Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenographie, hg. von Ralf Bohn/Heiner Wilharm, Bielefeld 2009, S. 135-155. DERS., Die andere Romantik in der ›Lieder-Oper‹ Aus Deutschland von Mauricio Kagel, in: Aufgehobene Erschöpfung. Der Komponist Mauricio Kagel. Kongress-Bericht der Alten Oper Frankfurt, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2009, S. 69-87. DERS., Passagen zwischen Wissensformen und Wissensräumen. Überlegungen zu den ›Orten‹ in der Topik, Heterotopie und Utopie bei Michel Foucault, in: Räume des Wissens. Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie, hg. von Mechthild Dreyer/Karen Joisten (Mainzer Historische Kulturwissenschaften), Bielefeld 2010, S. 129-164.

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Zweite Sektion: Handlung als konstituierendes Moment des ›Unorts‹

Hören, Gehen und Sehen. Schrift, Raum und Bild Zur verunörtlichenden Medialität der Simultanbühne des Geistlichen Spiels

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FRIEDEMANN KREUDER

I In ihrer Ästhetik des Performativen (2004) prägte Erika Fischer-Lichte einen dynamischen Raumbegriff, nach dem Räumlichkeit im Theater »immer erst in der und durch die Aufführung hervorgebracht« wird.2 Zwar kann der Raum, in dem eine Aufführung stattfindet, als ein physikalischer Raum begriffen werden, während der Aufführung ist er jedoch als ein performativer Raum aufzufassen, weil er besondere Möglichkeiten für das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern eröffnet »für Bewegung und Wahrnehmung, die er darüber

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Dieser Beitrag ist das Ergebnis des mittlerweile abgeschlossenen Projekts »Konstituierung von Wissensräumen auf dem Marktplatz und zu Hofe. Vergleich der Überlagerung und Verschaltung räumlicher Strukturen im Geistlichen Spiel und im höfischen Roman« im Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrum Mainz-Trier (HKFZ), Projekt AB II, 7. In diesem Projekt erarbeitete ich zusammen mit meinem Doktoranden Matthias Däumer die raumtheoretische Grundlage der ›Verschaltung‹, die hier auf das Geistliche Spiel angewendet wird, während Däumer sie in seiner Dissertation zur Grundlage einer Untersuchung der performativen Vermittlung höfischer Romane macht (vgl. DÄUMER, 2011 und seinen Beitrag im vorliegenden Band). FISCHER-LICHTE, 2004, S. 187.

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Friedemann Kreuder

hinaus organisiert und strukturiert«.3 Für eine wissenschaftliche Betrachtung, welche vor allem die performative Dimension in ihren Fokus nimmt, ist ›Raum‹ ohne die Kategorien der ›Bewegung‹ bzw. der Rezeption dieser Bewegung also gar nicht denkbar. Dadurch wird die Objektivität des Raums fraglich, da er entweder (je nach Fokus der Betrachtung) in eine Vielzahl konstituierender Bewegungen oder aber in eine Vielzahl subjektiver rezeptiver Räume zerfällt. Die Räumlichkeit einer Aufführung ist also instabil, ständig in Fluktuation begriffen. »Räumlichkeit einer Aufführung entsteht im und durch den performativen Raum, sie wird unter den von ihm gesetzten Bedingungen wahrgenommen.«4 Fischer-Lichte formuliert diesen Raumbegriff – wie ihren Aufführungsbegriff schlechthin – unter Rekurs auf den Fachgründer der deutschen Theaterwissenschaft, Max Herrmann,5 der mit Blick auf das »theatralische Raumerlebnis« in seinem gleichnamigen Aufsatz aus dem Jahre 1931 schrieb: »Der Raum, den das Theater meint, ist [...] ein Kunstraum, der erst durch eine mehr oder weniger große innerliche Verwandlung des tatsächlichen Raums zustande kommt, ist ein Erlebnis, bei dem der Bühnenraum in einen andersgearteten Raum verwandelt wird.«6

Fischer-Lichtes Raumverständnis, das Sachverhalte, die Theater als kultureller Praxis genuin mit gegeben sind, vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Dynamisierung urbaner Räume in der Lebenswelt und auf der Bühne noch einmal prononciert fasst, berührt sich signifikant mit der modernen Raumsoziologie Martina Löws und der philosophischen Ästhetik Michel de Certeaus. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, welche neuen Perspektiven und Erkenntnisse die zeitgenössische avancierte Theoriebildung zum Raum im Hinblick auf jenen Gegenstand zeitigt, dem Herrmanns Forschen galt, als er sein theaterwissenschaftliches Interesse auf die prägnante Formel »Bühnenkunst ist Raumkunst«7 brachte: der Simultanbühne des Geistlichen Spiels. Welche Aussagen lassen sich hinsichtlich ihrer symbolischen Bedeutung, ihrer Räumlichkeit, ihrer Bildlichkeit und deren sinnlicher – akustischer, visueller und physiologischer – Erfahrung treffen? Entwerfen die Aufführungen Geistli3 4 5 6 7

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Ebd. Ebd. Ebd., S. 42-57. HERRMANN, 1998, S. 271. Ebd.

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cher Spiele im Rahmen christlicher Feste eigene Formen der Medialität und Bildlichkeit oder adaptieren sie lediglich Inszenierungsmuster der Alltagskultur? In ihrer Raumsoziologie nähert sich Martina Löw den dynamischen, prozessualen Dimensionen performativer Räumlichkeit und Raumkonstruktion, indem sie einen prozessualen, relationalen Raumbegriff formuliert: »Meine These ist, daß nur wenn nicht länger zwei verschiedene Realitäten – auf der einen Seite der Raum, auf der anderen die sozialen Güter, Menschen und ihr Handeln – unterstellt werden, sondern statt dessen der Raum aus der Struktur der Menschen und sozialen Güter heraus abgeleitet wird, nur dann können die Veränderungen der Raumphänomene erfaßt werden. Wenn also der Raum nicht der starre Hintergrund der Handlungen ist, sondern in den Handlungskontext eingebunden wird, dann kann eine sich verändernde Praxis der Organisation des Nebeneinanders in das Blickfeld gerückt werden. Der Ausgangspunkt des hier entwickelten Raumbegriffs ist demzufolge relativistisch. Die Analyse des Prozesses geht jedoch, da nicht nur die Beziehungsgefüge, sondern auch die angeordneten sozialen Güter und Menschen berücksichtigt werden, über eine relativistische Perspektive hinaus. Das Ergebnis ist ein relationaler Raumbegriff.«8

Bei der Konstitution des relationalen Raums spielen laut Löw kulturell bedingte und erlernte Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse (Syntheseleistungen) eine wichtige Rolle, zugleich aber auch das »Plazieren von sozialen Gütern und Menschen bzw. das Positionieren primär symbolischer Markierungen« (Spacing): 9 »Im alltäglichen Handeln der Konstitution von Raum existiert eine Gleichzeitigkeit der Syntheseleistungen und des Spacing, da Handeln immer prozesshaft ist. Tatsächlich ist das Bauen, Errichten und Plazieren, also das Spacing, ohne Syntheseleistung, das heißt ohne gleichzeitige Verknüpfung der umgebenden sozialen Güter und Menschen zu Räumen, nicht möglich.«10

8 LÖW, 2001, S. 264. 9 Ebd., S. 158. 10 Ebd., S. 159.

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Der relationale Raumbegriff Löws meint also »die vielfältigen Prozesse der Raumproduktion im Wechselspiel von materiellen Strukturen, der platzierenden Anordnung von Körpern, Handlung, Wahrnehmung, sozial und kulturell vorgeformter Symbolisierung und Deutung.«11

Eine solche dynamische Auffassung, nach der »Raum eine relationale (An-) Ordnung von Körpern ist, welche ständig in Bewegung sind, wodurch sich die (An-)Ordnung selbst ständig verändert«,12 teilt Michel de Certeau, wenn er in seiner Kunst des Handelns zwischen ›Raum‹ und ›Ort‹ unterscheidet. Hierbei ist mit ›Ort‹ (lieu) die Ordnung gemeint, nach der Elemente in Koexistenzbedingungen aufgeteilt werden, um die Möglichkeit auszuschließen, dass sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden.13 »Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität.«14 Ein ›Raum‹ (espace) hingegen entsteht, wenn man »Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit« in Verbindung bringt: »Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren. […] er wird als Akt einer Präsenz (oder einer Zeit) gesetzt und durch die Transformationen verändert, die sich aus den aufeinanderfolgenden Kontexten ergeben.«15

Kurz: »Insgesamt ist der Raum ist ein Ort, mit dem man etwas macht«,16 wie zum Beispiel eine Straße, die städteplanerisch geometrisch festgelegt ist, durch Gehen in einen Raum zu verwandeln.17 Mit de Certeau sind Bühnenformen also als bloße physikalische Räume beschreibbar und somit als Orte (lieus) zu verstehen, doch die performative Aktion, findet per se in einem durch Hand11 12 13 14 15 16 17

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SCHULER, 2007, S. 41. LÖW, 2001, S. 153. DE CERTEAU, 1988, S. 217f. Ebd., S. 218. Ebd. Ebd. (Hervorhebung im Original). Siehe hierzu die Einleitung dieses Bandes.

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lung (Bewegung, Sprache, etc.) definierten und durch Rezeption ratifizierten Raum (espace) statt. Die Leistung der Rezeption ist dabei das, was Martina Löw als die ›Syntheseleistung‹ bezeichnet,18 die Fähigkeit des Betrachters, über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse die materiellen Elemente eines Ortes zu einem Raum zu formen.

II Wie lassen sich diese aktuellen Raumtheorien aber nun fruchtbar machen für die Erforschung von Raumkonzepten des Geistlichen Spiels? Lassen sich mit ihrer Hilfe Erkenntnisse gewinnen hinsichtlich der Frage nach der Rezeptionshaltung und dem Raumerleben der Zuschauer, nach der Art und Weise der Verschränkung von Realität und Fiktion, von Präsenz und Repräsentation auf der rezeptiven Inszenierungsebene, die aufgrund der schlechten Quellenlage besonders schwierig zu beantworten ist? Eine eingehende Betrachtung der überlieferten Bühnenpläne der Passionsspiele von Alsfeld (1501) und Luzern (1470 und 1583) beispielsweise lässt den Schluss zu, dass deren Bühnenraumgestaltung – sie lässt sich mit Löw als materielle Tradierung des spacing begreifen – eine Syntheseleistung im Sinne ihrer Raumtheorie disponieren sollte. Die Bühnenraumgestaltung war ein bedeutender Teil der künstlerischen Anstrengungen im Rahmen der mehrtägigen Geistlichen Spiele, die kirchliche und städtische Trägerschaften zur Propagierung und Affirmation der herrschaftlichen christlichen Weltsicht veranstalteten. In mittelalterlichen Städten fanden aufgrund des umfangreichen Festkalenders häufig Theateraufführungen statt: Weihnachtsspiele, Oster- und Passions- sowie Fronleichnamsspiele; Tage der Heiligen und Kirchweihfeste wurden häufig mit Heiligen- und Legendenspielen begangen. Der Stoff der Spiele war mit der Bibel vorgegeben. Er wurde in einer Folge von Szenen dargeboten, die als fertige Versatzstücke überliefert wurden. Die Handlung konnte sich von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht erstrecken, oft beschränkte sie sich aber auch auf den wesentlich kürzeren Zeitraum zwischen Jesu Geburt und seiner Auferstehung bzw. Himmelfahrt. Die Spiele stellten durch mimisch-szenische Erweiterung das auf konkrete Weise dar, was die Liturgie in symbolischer Handlung beging, und erteilten dem des Lateins un-

18 Vgl. LÖW, 2001, S. 158ff.

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kundigen Zuschauer auf diese Weise religiösen Anschauungsunterricht. Häufig wurde der Marktplatz der betreffenden Stadt zu einer Simultanbühne umgestaltet, mittels derer die einzelnen Stationen der Heilsgeschichte verräumlicht wurden; auf diese Weise wurde der öffentliche Raum zu einem mnemotechnischen Medium umfunktioniert. Da auf der Simultanbühne alle Orte und Personen der Handlung gleichzeitig zu sehen waren, konnte die Aufteilung des Raumes Zuordnungen und geistige Beziehungen zwischen ihnen sichtbar machen. Im Falle des Osterspiels von Luzern von 1583 auf dem Weinmarkt handelte es sich um eine rechteckige Bühne, die sich mit der Rückseite an ein Gebäude, das ›Haus zur Sonnen‹, anlehnte. An den beiden Schmalseiten der Bühne waren ›Himmel‹ und ›Hölle‹ deutlich einander gegenüber platziert. Der ›Himmel‹ war ein einfaches, über Leitern zu erreichendes Gerüst, auf dem der Thron für Gottvater aufgebaut war, und die ›Hölle‹ ein scheußlicher Drachenkopf mit weit aufgerissenem Maul, in das eine Tür mit Guckfenster eingesetzt war. Zwischen diesen beiden Polen spielte sich das Geschehen ab, das damit als Welttheater von kosmischen Ausmaßen ausgewiesen war. An den Seiten der Bühne, jeweils in symbolischer Entfernung von ›Himmel‹ und ›Hölle‹, waren die Stände (›stend‹) errichtet, in denen sich während der gesamten Spieldauer die Spieler aufhielten. Aufstehen bedeutete Auftreten, sich Setzen Abgehen.19 Dieser Befund lässt sich auch anhand eines früheren Luzerner Osterspiels von 1470 auf dem Kapellplatz vor der Peterskirche bestätigen, dessen Bühnenplan gemeinhin dem Donaueschinger Passionsspiel zugeordnet wird.20 Die Neuverortung der performativen Umsetzung des Donaueschinger Passionsspiels hat ebenfalls maßgeblich die verschiedenen Interpretationen der nur äußerst vage skizzierten Spielanordnung des Alsfelder Passionsspiels von 1501 beeinflusst,21 bei der die genannte kosmische Polarität aufgrund der mangelnden Verzeichnung des Ortes für die ›Hölle‹ nicht ohne Weiteres konstatiert werden kann, obwohl die sonstigen hier abgebildeten räumlichen Verhältnisse die Annahme einer polaren Spannung des Spielgeschehens durchaus zu stützen vermögen: Von den links nach rechts verzeichneten domus werden 19 Eine Abbildung des Bühnenplans zum Luzerner Osterspiels findet sich in: KREUDER 2008, S. 90f. 20 Vgl. hierzu die kulturhistorische Neuverortung und Abbildung des Dokuments bei Heidy Greco-Kaufmann (vgl. GRECO-KAUFMANN, 2009, S. 165-173). 21 Die Spielanordnung verschränkt zudem die Zeitlichkeit zweier verschiedener Spieltage; vgl. FREISE, 2002, S. 489.

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diejenigen, die dem thronus, und damit dem locus Jesu am nächsten lagen, von Anhängern Jesu bewohnt, während die anderen seinen Feinden zugeordnet sind.22 Der freie Platz zwischen den Ständen in der Bühnenmitte, die ›gemeine burg‹, bedeutete wechselnde Örtlichkeiten, die durch die Figurenrede und zum Teil auch durch einfache sinnbildliche Dekorationselemente angezeigt wurden.

Bühnenplan Alsfeld 150123 mit Transkription24

So ist im Alsfelder Passionsspiel für den Thron Luzifers ein Fass vorgesehen, das den erhöhten, vermutlich besonders prunkvoll ausgestatteten thronus Gottvaters kontrastiert und die Herrschaft Luzifers charakterisiert.25 Die weitere Verwendung von Fässern für die Szenen, in der Satan Jesus versucht, um einerseits den Berg der Versuchung zu bedeuten und andererseits die Tempelzinne, von der Jesus sich hinabstürzen sollte, wenn dem Teufel sein Vorhaben geglückt wäre, macht die Beziehung dieser Orte zum Thron Luzifers sichtbar. Ferner wird aus diesem Detail der Bühnenausstattung ersichtlich, dass die Räume des Geistlichen Spiels überwiegend von den Akteuren, die die biblischen Figuren darstellten, performativ konstituiert oder auch entfaltet wurden. In der Literatur wird hingegen häufig angenommen, dass die Häuser und Burgen der Spiele rudimentäre Aufbauten waren, die aus vier Balken und einem Dach bestanden.26 Solche Aufbauten waren allerdings aufwendig, sie mussten auf der ohnehin engen Spielfläche relativ viel Platz in Anspruch nehmen und 22 Vgl. hierzu Freises skeptischen Kommentar zu Fronings Lesart; vgl. FREISE, 2002, S. 489f. 23 Landesbibliothek und Muhardsche Bibliothek der Stadt Kassel. 24 FREISE, 2002, S. 488. 25 Vgl. ebd., S. 493. 26 Vgl. hierzu die Diskussion bei FREISE, 2002, S. 491- 494.

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die Sicht behindern. Daher spricht einiges für die Annahme Dorothea Freises, dass die ›Häuser‹ lediglich als solche gekennzeichnet wurden, beispielsweise durch Fahnen und andere Symbole.27 Natürlich konnten aber auch prägnante Details oder schlicht die Akteure diese Funktion erfüllen, indem sie am jeweiligen Bühnenort, ihrerseits an der Kleidung oder an ihren Attributen erkennbar, durch inszenierende Figurenreden in Verbindung mit Bewegungen, Gestik und Mimik – gegebenenfalls unter Bezug auf konventionelle, signifikante Requisiten wie beispielsweise das Wassergefäß bei der Begegnung Jesu mit der Samariterin – das im Spiel gerade erforderliche fiktive biblische Bild vor den Augen der Zuschauer entstehen ließen. Ihnen fiel wohl am ehesten – in Anbetracht der häufig recht einfachen Bühnenaufbauten und Requisiten – die künstlerische Aufgabe zu, die jeweilige Handlungssituation zu kennzeichnen oder besagte geistige Vorgänge und Beziehungen sichtbar zu machen. Die Bühnenräume der Geistlichen Spiele eröffneten also Spielräume zur performativen Entfaltung ihres Sinns durch die Handlungen der Akteure und auf den korrespondierenden rezeptiven Inszenierungsebenen. Neben solchen Isotopien, wie der mit Hilfe der Bespielung der Fass-Dekoration im Alsfelder Passionsspiel hergestellten, sieht der Bühnenplan des Luzerner Spiels von 1470 signifikante Doppelkodierungen von Spielorten vor, die von ihrer Situierung im städtischen Raum evoziert werden können: Die Pole ›Himmel‹ und ›Hölle‹ liegen einander exakt gegenüber, zugleich verstärken die topographischen Eigenheiten des Kapellplatzes den symbolischen Gehalt der Schauplätze. Der an der höchsten Stelle des Platzes, unmittelbar vor der Kirchentür installierte ›Himmel‹ bildet die Vorstellung ab, dass sich das jenseitige Paradies ›oben‹ befindet und unmittelbar mit dem Gotteshaus verknüpft ist, während die ›Hölle‹ ›unten‹, am Rand des in nördlicher Richtung abfallenden Platzes, liegt. In dieses Schema passt auch, dass das Haus des letzten Abendmahls an die Kirchenmauer gebaut ist und sich der Ölberg und das Heilige Grab im sakralen Bereich des Friedhofs befinden.28 Städtisch-gemeinschaftliche und Bühnen-Wirklichkeit konnten so in den Augen der Zuschauer miteinander verschmelzen, Luzern zu Jerusalem und Jerusalemer Verhältnisse zu Luzernern werden. Die Verfahrensweisen bei der Gestaltung der Simultanbühne eröffneten also durch signifikante Über-Schreibung des städtischen Raums gedankliche Spielräume, in denen unter Vernetzung von Wahrgenom27 Vgl. ebd. 28 Vgl. GRECO-KAUFMANN, 2007, S. 66.

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menem, Imaginationen und Vor-Wissen ein christliches Gedächtnis konstruiert werden konnte, das die zeitgenössischen Verhältnisse gleichermaßen auf einen ›biblischen Nenner‹ brachte und in Verlängerung der Perspektive der Trägerschaften affirmative Haltungen zur städtischen und kirchlichen Weltsicht evozieren konnte. Es erscheint für die Erforschung solcher mittelalterlichen Bühnenraumgestaltungen bedeutsam, dass die räumlich und szenisch vermittelte Heilsdidaxe des Geistlichen Spiels sich für die überwiegend illiteraten Zuschauer in der Aufführungspraxis unter den Bedingungen ihrer kinästhetischen Wahrnehmung des Raumes herstellte.29 Sie umstanden die ›loca‹ keinesfalls weiträumig auf den Tribünen, sondern wie 1583 in Luzern eher engräumig, dicht um sie versammelt,30 oder sie wanderten mit den Darstellern von Station zu Station mit, wie in Luzern 1470.31 Mit dem Begriff der kinästhetischen Wahrnehmung beziehe ich mich auf Horst Wenzel, der dieses Konzept auf mittelalterliche Texte übertragen hat im Sinne eines Vorgangs der Erschaffung und Aufnahme des Kunstwerks in und am Körper des Rezipienten. Seine Theorie erklärt Wenzel am Beispiel der 14 Einzelbilder des Kreuzwegs in der Kirchenkunst: Jede Station begegnet dem Betrachter als Einzelbild, zugleich baut sich im Abschreiten des Weges eine Geschehensfolge auf, die er als Geschichte Christi erkennt und als Bilderfolge speichert. Hierbei akkumuliert das Gedächtnis nicht nur die Abfolge der Einzelbilder, der Kreuzweg prägt sich auch über die Sensomotorik des Körpers in seiner Ganzheit ein.32 So hat der Betrachter nach der compassio-Logik Teil am Leiden Christi und seine Durchquerung des Kirchenraums wird gewissermaßen zu einer Bewegung durch die heilsgeschichtliche Zeit. Die körperliche Bewegung war eine Möglichkeit, eine stärkere Angleichung an Christus im körperlichen Nachvollzug seiner Lebens- und Leidensstationen zu erreichen, mehr in der (körperhaften) Nachfolge des Glaubens zu stehen als in der (intellektuellen) Bildbetrachtung Christi. In dieser Hinsicht besteht eine Affinität zwischen dieser körperlichen Form der Imitatio Christi und den affektiven und imaginativen Gebets- und Meditationstechniken der Passionsmystik, die ebenfalls der Vergegenwärtigung dienten. Nahm die Mystik und insbesondere die Brautmystik das Bild des leidenden Christus in den Blick, indem sie ganz dem Prozess des Einbildens in Christum hingege-

29 30 31 32

Vgl. WENZEL/LECHTERMANN, 2001. Vgl. GRECO-KAUFMANN, 2007, S. 74-76. Ebd., S. 65f. Vgl. WENZEL/LECHTERMANN, 2001, S. 193-194.

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ben war, wird es im Nachvollzug des Kreuzwegs in gesteigerter Form inkorporiert.33 Gerade im Hinblick auf die Zeitlichkeit der religiösen Passage wird durch die Vergegenwärtigung des Leidensweges des Gottessohnes für die Ausübenden und ihre Zeugen die Unmittelbarkeit zu Gott praktisch in Szene gesetzt. Der Kreuzweg ist also zu sehen als ritueller Vollzug, der den Sinn der Schrift unmittelbar in die Selbstwahrnehmung, in Affekt und Imagination, in die körperliche Inszenierung eines heilsgeschichtlichen Dramas überführt. Als mögliches Vorbild für das die Geschehensfolge ausweitende Bibliodrama des Geistlichen Spiels meinte der Kreuzweg eine Vergegenwärtigung, die eine ›reale‹ Unmittelbarkeit zum leidenden Gott im nachahmenden körperlichen Vollzug der Nachfolge herzustellen suchte.34 Die Aufführung des Bibliodramas, die ebenso wie der Kreuzweg auf einer passagären Verräumlichung der Stationen der Heilsgeschichte basierte, wies im Gegensatz zum ersteren den ›Mehrwert‹ der theatralen Darstellung des Leidensweges Christi auf, die den an Anschaulichkeit, Emotionalität und Körperlichkeit orientierten Frömmigkeitsformen aufgrund ihrer genuinen Medialität besonders gut entsprach. Mittels einer theatralen Zurschaustellung der Passion konnte man die kopräsenten Zuschauer den Glauben an die Gewissheit des Göttlichen in der Gemeinschaft des Leidens, in der compassio, intensiv erfahren lassen und so eigenes Leid besser bewältigen helfen. Die Raumgestaltung der beiden Luzerner Spiele und des Alsfelder Spiels reiterierte somit die Memoria des Kreuzweges mit theatralen Mitteln. Der Stellenwert, den die andächtige Betrachtung der Passion im religiösen Denken des späten Mittelalters einnahm, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Verständnis der Eucharistie als der unblutigen, aber dennoch realen Wiederholung des Opfers Christi und mit einer Messfrömmigkeit, die in der Häufung von Blut- und Hostienwundern Ausdruck fand.35 Nach offizieller kirchlicher Lehre war das Sakrament der Eucharistie unabhängig von der religiösen oder moralischen Qualifikation der Zelebranten, der Kommunikanten 33 Vgl. STÖRMER-CAYSA, 2004, S. 141-158. 34 Vgl. hierzu auch die Darstellung des Kreuzwegs im Passionsspiel von Valenciennes (1547), die dieses passagäre Prinzip der Wiedervergegenwärtigung von Heilsgeschichte im Medium des Bildes reinszeniert, indem die verschiedenen Leidensstationen Christi im Rahmen einer einzigen Bilderzählung linear auf einem Weg angeordnet werden, dem der schweifende Blick des Betrachters folgen kann. Vgl. Passionsspiel von Valenciennes (1547). Simultanszenen aus der 25 Tage dauernden Aufführung, 22. Tag: Kreuztragung, Kreuzigung, Kreuzabnahme, Grablegung, v. a. die Miniatur zur Szene (im Bildarchiv Österreichische Nationalbibliothek). 35 Siehe hierzu und zum Folgenden FREISE, 2002, S. 381.

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oder der anwesenden Gemeindemitglieder, immer heilig und heilswirksam. In der Frage, unter welchen Bedingungen der einzelne Gläubige auch tatsächlich in den Genuss seiner Wirkung, der ›Messfrüchte‹, kam, hatte sich jedoch im späten Mittelalter unter Klerikern wie unter Laien die Ansicht durchgesetzt, dass dies von seiner persönlichen Leistung und inneren Beteiligung abhinge. Hatte Jesus um der Erlösung der sündigen Menschen willen den Kreuzestod auf sich genommen, so war es nun an diesen, ihrerseits voller Mitleid, Reue und Dankbarkeit des Leidens Jesu zu gedenken, um auf diese Weise an der Erlösung teilzuhaben.36 Diese Praxis wurde im späten Mittelalter ›sozialisiert‹ und popularisiert. Neben den zum Teil exzessiven Leistungen der Mystik entstand eine zwar weniger hochgespannte, aber nicht weniger persönliche Variante der Passionsandacht, die sich eher mit den Erfordernissen eines Handwerker-, Kaufmanns- oder Dienstbotendaseins vertrug und desto größeren Einfluss auf die Lebensentwürfe und Vorstellungswelt weiter Bevölkerungskreise gewinnen konnte. Die Teilnahme an Passionsspielen wurde von der Kirche gewöhnlich als ein ›gutes Werk‹ anerkannt, ihr Besuch galt als eine Art Sakrament. Dies erscheint umso plausibler, als der körperliche Nach- und Mitvollzug der theatralen Darstellung des Leidensweges dem mit den Darstellern von Station zu Station mitziehenden Zuschauer eine ähnliche körperliche Teilhabe vermittelte wie die vorgängige Praxis des Kreuzweges. Zugleich verschränkte der auf den Spuren Christi wandelnde Zuschauer die Zeitlichkeit seines eigenen Gehens mit der heilsgeschichtlichen Zeit.

III Neben einer der Zeitlichkeit des Nachvollzugs von Heilsgeschichte auf dem Kreuzweg nachempfundenen Bewegungslogik kannten die Geistlichen Spiele 36 Die Praxis der kontemplativen Versenkung in das Leiden Jesu war in ihren Anfängen ein Anliegen von Theologen, Seelsorgern und religiösen ›Virtuosen‹, die ihr Leben der Nachfolge Christi widmeten. So hatte bereits Anselm von Canterbury in seinem Traktat Cur Deus Homo von 1098 das Martyrium Christi in den Mittelpunkt theologischer Betrachtungen gestellt, in denen er das Erlösungswerk auf die Genugtuung verlangende Ehre Gottes zurückbezog. Dieser Abhandlung verdankte die spätere Passionsmystik wesentliche Impulse, indem sie das mit Anselms Satisfaktionslehre gegebene Interesse an Jesu Kreuzestod nicht auf die verletzte Ehre Gottes zurückwandte, sondern – zumindest primär – auf den mitleidenden Betrachter: Das andächtige Betrachten der Passion soll das geduldige Ertragen eigener Leiden erleichtern helfen.

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offenbar aber auch deren groteske Verkehrung.37 So teilt im Erlauer Ludus Trium Magorum oder auch Erlauer Dreikönigsspiel, das in einer Sammelhandschrift aus dem 15. Jahrhundert überliefert und wahrscheinlich zwischen 1400 und 1440 aufgeführt wurde, von dem jedoch kein Bühnenplan mehr erhalten ist, nach der Eingangsprozession ein Engel den Hirten die Geburt Christi mit, zusammen mit dem Auftrag, letztere den Leuten zu verkündigen.38 In direkter Ausführung dieses – als freie Bibelvariante in der Figurenrede gestalteten – Auftrags ziehen die Hirten statt zur Krippe nach Jerusalem,39 wo Herodes auf sie mit der Frage wartet: »Quem vidistis?« (›Wen habt ihr gesehen?‹, V. 40). Hierauf antworten die Hirten: »Natum vidimus« (›Den Neugeborenen sahen wir‹, V. 40). Nachdem Herodes in der deutschen Paraphrase um Neuigkeiten gebeten hat, verbunden mit der Versicherung, dass diese bei ihm gut aufgehoben seien, teilen ihm – weder vom biblischen Text noch von dem der gängigen Apokryphen vorgegeben – die Hirten die Frohbotschaft des Engels mit. Herodes übernimmt hier gleichsam die Rolle der Heiligen Drei Könige, deren Sequenz im Erlauer Spiel jetzt erst anschließt. Ein lateinisches Responsorium singend, ziehen auch sie zu Herodes und werden von ihm höflich begrüßt. Nachdem sie mitgeteilt haben, weshalb sie gekommen sind, bittet Herodes traditionsgemäß die Schriftgelehrten um Auskunft. Bevor die Magier aber ihren Weg fortsetzen, werden sie – wiederum völlig ›unbiblisch‹ – von Herodes zum 37 Ich begreife die Groteske hier mit Michail Bachtin als gegenbildlich-affirmatives Hinüberspielen von Heilswahrheiten im Rahmen des Karnevals. Vgl. hierzu Rabelais und seine Welt, in dem die karnevaleske Verkehrungstheatralität des Mittelalters von Bachtin als räumlich und zeitlich begrenzte, lediglich kurzfristiger Spannungsabfuhr dienende und letztlich die bestehende gesellschaftliche Ordnung bekräftigende subversive Praxis ausgewiesen wird: »Freiheitsbewußtsein war nur als partielles oder utopisches möglich. Deshalb wäre es auch irrig anzunehmen, der Zweifel des Volks an der Seriosität und seine Liebe zum Lachen als einer anderen Wahrheit hätten immer bewußten, kritischen und deutlich oppositionellen Charakter gehabt. Wir wissen, daß dieselben Leute, die hemmungslos Parodien auf geistliche Texte und den kirchlichen Kult verfaßten, überzeugte Teilnehmer an diesem Kult waren. Es gibt Äußerungen, die der Parodie didaktische und erbauliche Zwecke zuschreiben [...]« (BACHTIN, 1987, S. 144). Aufführungen von Dreikönigsspielen wie des im Folgenden besprochenen Erlauer Ludus Trium Magorum fielen in der Regel auf den 6. Januar und sind von daher im Kontext der kirchlichen Verkehrungsfeste der jungen Kleriker während der langen mittelalterlichen Karnevalsperiode zu sehen. 38 Ich zitiere im Folgenden nach der Ausgabe von Kummer; vgl. KUMMER, 1982, S. 11-30. 39 Zur Diskussion des Erlauer Dreikönigsspiels vgl. hier und im Folgenden: NOWÉ, 1997, S. 72-73.

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Essen eingeladen. Einen Spitzenwert des freien Bibelgebrauchs stellt die Figur des Lappa dar. Dieses Abbild eines zeitgenössischen Hofnarren verständigt sich kurz mit allen Beteiligten darüber, dass es außer jenseitig-spirituellen auch noch diesseitig-leibliche Bedürfnisse gibt, die jetzt befriedigt sein wollen: »Herr mir smirzt der mag. es ist ze spat an dem tag, sam mir der jungist tag, wann ich nicht lenger gefasten mag; ich wil den tisch dekchen, mich mocht leicht ein hunger wekchen, der mir tat we in meinem magen. Wurd mir ein wurst in meinen chragen, der mocht ich mich getrosten wol; und war dar zu suß weins vol, so wurd mir di zung zu dem guem pachen, und ich wurd alz ein esel lachen.« (V. 119-130)

In Bethlehem beten die Magier das Kind an und ziehen dann – weitere Abweichung vom gängigen liturgischen Text: von einem Mann gewarnt – über einen anderen Weg singend wieder ab. In der nächsten Szene erscheint Joseph ein Engel und befiehlt ihm, nach Ägypten zu fliehen. Darauf ruft Herodes seine Schriftgelehrten und Diener zu sich, um ihnen seine Sorgen wegen des neugeborenen Königs zu enthüllen. Als ein Schriftgelehrter – Abweichung Nummer sechs – ihm rät, in seinem ganzen Reich sämtliche Kinder unter zwei Jahren töten zu lassen, bietet sich gleich der Narr Lappa aus der Vorszene an, um den Befehl auszuführen. In der letzten Szene wird dann die Ausführung dieses grausamen Plans dargestellt: »Es [sic!] sic vadant percuciendo pueros. Lappa dicit: Wol her zu, gesellen mein, ich han zwai chindelein ieczund an disen stunden in einem haus gefunden, se hab hin di suß, ich wil se nicht vermeiden, ich wil in di chel absneiden.

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Friedemann Kreuder Alter socius dicit: Gesell, wol nur her, ich will uns schir fangen mer. ich hab zwai degenchint pracht; mir ist auch ungedacht, das ich se well vermeiden, ich will in di droß absneiden. Tercius socius dicit: Wol da zu her, gesellen mein, ich han auch ain chindelein, das ist ains munichs gewesen; zwar ich laß es nicht genesen.« (V. 325-342)

Wie an den inszenierenden Figurenreden der Schlächter ablesbar, war die Darstellung des Kindermordes offenbar sehr drastisch geplant.40 So fällt denn auch die für diesen Spieltyp charakteristische, sich anschließende Klage der ihrer Kinder beraubten Mutter Rachel, die für gewöhnlich emotionalste Passage des Spiels, die zur Evokation der compassio der Zuschauer dient, verhältnismäßig kurz aus. Sie wurde vermutlich in der Aufführung von der spektakulären Wirkung der Vorszene völlig überlagert. Vor dem Hintergrund einer vorstellbaren szenischen Realisierung der hier ausschließlich am überlieferten Spieltext konstatierten Hin- und Herbewegungen des Spiels gehorcht die – gegebenenfalls von den Zuschauern mitvollzogene – Begegnung von Herodes mit den Hirten nun keinesfalls einer vom liturgischen Text herleitbaren Bewegungslogik. Vielmehr kommen hier – vermutlich aufgrund der gegebenen Raumsituation oder auch der dramaturgisch geschickten Zeitraffung, die der Spielleiter bei den von der Bibel vorgegebenen Abläufen vornahm –genuine Erfordernisse des theatralen Spiels selbst zum Tragen. Letztere sind aber offenbar ganz von der theaterkünstlerischen Wirkungsabsicht des Spektakulären, in den Schlussszenen vor allem in Form der Perhorreszierung und nicht nur christlichen Affizierung der Zuschauer bestimmt: So fängt das Spiel mit einer ausgedehnten Prozession sämtlicher Teilnehmer an, deren Anordnung explizit vorgeschrieben wird (vor V. 1). Auch die Magier treten in einem imposanten Zug auf. Die Regieanweisung schreibt diesbezüglich vor, dass sie zu Pferd 40 Vgl. hierzu die korrespondierende Ikonographie dieses Bühnenereignisses in einer Spieldarstellung aus Valenciennes zum Bethlehemitischen Kindermord.

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reiten und von ihren »clientes«, ihrer Gefolgschaft, begleitet werden sollen. Außerdem soll ihnen ein Stern vorangetragen werden (nach V. 66). Am Schluss zeugt die Vorführung des Kindermordes vom im erster Linie kunstmäßigen Streben der Spielgestalter hinsichtlich Dramaturgie und Spielweise: Der Narr Lappa zieht mit drei Kumpanen aus, »percuciendo pueros« (›um die Kinder zu schlachten‹). Dabei brüsten sich die Henker damit, jeweils zwei Kinder auf einmal zu köpfen; die makabre Komik der Szene erreicht ihren Höhepunkt, wenn einer der Mörder ein Baby erwischt haben will, »das ist ains munichs gewesen« (›das von einem Mönch gezeugt wurde‹). Abgesehen von der grotesken Gewaltdarstellung dieser Schlachtungsszene, die vermutlich mit Hilfe von Kinderpuppen vollzogen wurde, dürfte insbesondere die Darstellung des Narren Lappa – der in der Essensszene mit Herodes als ganz den eigenen körperlichen Bedürfnissen verfallene Narrenfigur unvermittelt eingeführt wird, um dann am Schluss, ebenso plötzlich wieder auftauchend, seiner Aggressionslust freien Lauf zu lassen – vom Akteur ein äußerst chaotisches Bewegungsmuster erfordert haben. Diese Bewegungsmuster Lappas waren auf der rezeptiven Inszenierungsebene mit der Zeitlichkeit einer körperlich mitvollzogenen Heilsdidaxe in keiner Weise vereinbar; sie konnten als Aktionen eines sozialen Minderleisters – d. h. eines auch als solchen ausgewiesenen Narren, eines hinter bestehende Verhaltensnormen weit zurückfallenden Christusfeindes – eben nur gegenbildlich auf die Heilsgeschichte bezogen werden.

IV Mittelalterliche Menschen verwandelten in den Geistlichen Spielen also den alltäglichen Ort des Marktplatzes in einen Raum für das christliche Gedächtnis, indem sie den einzelnen Stationen der dargestellten Heilsgeschichte signifikante Orte des städtischen Raums zuordneten – etwa vor der Kirchentür oder im sakralen Bereich des Friedhofs. Die städtischen Orte, an denen die performative Realisierung der Spieltexte stattfand, wurden zu dynamischen und vermittelnden Zwischenräumen, eben zu ›Unorten‹, die obzwar physisch präsent, dennoch über ihre Physis hinauswiesen, weil die Verknüpfung der städtischen Orte mit dem Heilswissen der biblischen Episoden selbst durch die körperliche Aneignung verschiedener räumlicher Strukturen hergestellt wurde. Diese waren einerseits durch das Spacing bereits ›symbolisch‹ markiert und wurden andererseits von den Zuschauern selbst unter Einsatz von Imagination

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und Vor-Wissen konstruktivistisch überformt: So entsteht aus der Gegenüberstellung von ›Himmel‹ und ›Hölle‹ bei gleichzeitigem städtebaulich bedingtem Süd-Nord-Gefälle zwischen diesen Orten und der Parallelführung der loca von ›Himmel‹, ›Haus des letzten Abendmahls‹, ›Ölberg‹ und ›Heiliggrab‹ mit Kirchentür, Kirchenmauer und sakralem Bereich des Friedhofs im Luzerner Spiel von 1470 durch alltägliches Wissen ein Verknüpfungsraum des körperlich erfahrbaren ›Abstiegs‹ zum Nicht-Christlichen. Der körperliche Nachvollzug dieses real gegebenen physikalischen ›Gefälles‹ ist die Prädisposition für eine imaginäre Konstruktion des heilsgeschichtlichen Raumes und seiner geglaubten Wirksamkeit im Diesseits, an der der Zuschauer durch seine Bewegung an den diesbezüglich bereits symbolisch markierten Orten vorbei körperlich teilzuhaben vermag. Auf diese Weise werden äußerliche räumliche Strukturen zu Dispositiven für die diskursive, d. h. buchstäblich ›hin und her rennende‹ Verknüpfung heilsgeschichtlicher Aspekte des Geistlichen Spiels und nicht-liturgischer symbolischer Inhalte mit der eigenen, aktuellen Realität des Rezipienten unter Einsatz von Wahrnehmung, Imagination und (körperlichem) Vor-Wissen. Es findet also das statt, was Max Hermann als das »theatralische Raumerlebnis« bezeichnet hatte, »bei dem der Bühnenraum in einen andersgearteten Raum verwandelt wird.« Diese Verwandlung des Raumes konnte natürlich auch, wie im Erlauer Dreikönigsspiel, mit starken ›Feldvorteilen‹ für die theaterkünstlerische Wirkungsabsicht der Spielgestalter bis hin zur grotesken Verkehrung der Zeitlichkeit der heilsgeschichtlich inspirierten Passage im körperlichen Mitvollzug und in der Perzeption des Zuschauers erfolgen. In jedem Fall aber wird Räumlichkeit erst durch die ›Verknüpfung‹ von Wissensbeständen mit Eigenheiten des jeweiligen Ortes und seiner Erfahrung in der performativen Aktion hervorgebracht. Sie ist hier zweifellos als »eine relationale (An-)Ordnung von Körpern […], welche ständig in Bewegung sind, wodurch sich die (An-)Ordnung selbst ständig verändert«, zu verstehen und damit exemplarisch für den Sachverhalt, dass Raum sich auch in der Zeit konstituiert und nicht unabhängig von den sozialen und materiellen Verhältnissen existiert, sondern mit der Körperwelt verwoben ist.41 Die bedeutsamste Ebene der ›verunortenden‹ Medialität von Aufführungen Geistlicher Spiele, d. h. diejenige, die gewährleistet, dass über die Sinnebene des konkreten Geschehens hinaus auch eine symbolische Bedeutung des Dargestellten hergestellt wird, ist also ihre Performativität. Die Aufführungspraxis Geistlicher Spiele zu 41 Vgl. LÖW, 2001, S. 131.

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(re-)konstruieren, bedeutet damit, die Sicht auf ein historisches Archiv von Gesten, Bewegungen und deren räumliche Dispositive zu eröffnen, dessen historischer Charakter heuristisch produktiv bis in die Gegenwart entfaltet zu werden vermag. Betrachtet man mittelalterliche Theaterkunst und die ihr zugrunde liegenden Begriffe nicht länger als zu vernachlässigende Übergangsphase minderwertiger Kunstproduktion im Rahmen einer die Renaissance literarischen Theaters auf Werkleistungsbasis in antiker Tradition feiernden historiographischen Denkfigur, sondern rückt sie vielmehr in die heuristische Optik gegenwärtiger Theatertheorie unter den Vorzeichen der Posthistoire und des Endes der Großen Erzählungen unter dem Primat dramatischen Theaters in aristotelischer Denktradition und ihrer rund vier Jahrhunderte währenden ideologischen Indienstnahme durch bürgerliche Eliten, erhellen sich retrospektiv die ästhetischen Raumprinzipien eines prädramatischen Theaters, die bei einliniger Sicht auf die Geschichte von Theater als Geschichte des bürgerlichen Kunsttheaters ex post glatt als singuläre ästhetische Innovationen postdramatischen Theaters im 20. und 21. Jahrhundert verkannt werden können. So beschreibt Hans-Thies Lehmann die Medialität der Simultanbühne des Geistlichen Spiels – von der er seine Überlegungen ausdrücklich abgrenzt –, wenn er unter Begriffsprägung des metonymischen Raums in seinem Standardwerk Postdramatisches Theater (1999) feststellt: »Im postdramatischen Theater wird der Raum dagegen zu einem zwar hervorgehobenen, aber als im Kontinuum des Realen verbleibend gedachten Teil der Welt: wohl auch raumzeitlich gerahmter Ausschnitt, aber zugleich fortgeschriebener Teil und insofern ein Bruchstück der Lebenswirklichkeit. Die Wegstrecke, die eine Darstellerin im klassischen Theater auf der Bühne zurücklegt, signifiziert als Metapher oder Symbol eine fiktive Wegstrecke, vielleicht die von Grusche durchwanderte Gegend des Kaukasus. Im metonymisch fungierenden Raum stellt ein vom Akteur zurückgelegter Weg zuerst eine Referenz auf den Raum der Theatersituation dar, referiert als pars pro toto auf den realen Raum des Spielfelds und a forteriori des Theaters und des umgebenden Raums insgesamt.«42

Der meinen Ausführungen zugrunde liegende Raumbegriff ist hingegen ein historisierender, der als aufführungswissenschaftlich unter den Vorzeichen der Performativitätstheorie akzentuierter zur Sprache zu bringen sucht, wie im 42 Vgl. LEHMANN, 1999, S. 288-289.

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Rahmen der Simultanbühne des Geistlichen Spiels ›Orte‹ (lieus) im Sinne de Certeaus als ›Nicht-Orte‹ (non-lieus), also mit einem Narrativ beheftete ›Orte‹, sowie im Sinne der in diesem Band vorgestellten Theorie als ›Unorte‹, sprich als obzwar physikalisch existente, doch über ihre reine Physis hinausreichende ›Orte‹ mit der Funktion der Vermittlung (›Verschaltung‹) von ontologisch Heterogenem, durch Aufführungen von Körpern im Raum (espace) hervorgebracht werden.43

Literatur BACHTIN, MICHAIL M., Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, hg. von Renate Lachmann, übers. von Gabriele Leupold, Frankfurt a. M. 1987. DE CERTEAU, MICHEL, Die Kunst des Handelns, übers. von Ronald Voullié, Berlin 1988. DÄUMER, MATTHIAS, Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Das performative Potential der höfischen Epen, Diss. masch. Mainz 2011. FISCHER-LICHTE, ERIKA, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004. FREISE, DOROTHEA, Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters, Frankfurt – Friedberg – Alsfeld (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Bd. 178), Göttingen 2002. GRECO-KAUFMANN, HEIDY, Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, Bd.1: Historischer Abriss (Theater Helveticum 11), Zürich 2009. HERRMANN, MAX, Das theatralische Raumerlebnis, in: Vierter Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931), Bd. II, S. 152-163. Wieder abgedruckt in: Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft, hg. von Stefan Corssen, Tübingen 1998, S. 270-281. KREUDER, FRIEDEMANN, Himmel und Hölle. Zum »theatralischen Raumerlebnis« im Geistlichen Spiel, in: Strahlkräfte. Festschrift für Erika FischerLichte, hg. von Christel Weiler u. a. (Theater der Zeit, Recherchen 54), Berlin 2008.

43 Vgl. DE CERTEAU, 1988, S. 200.

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KUMMER, KARL FERDINAND, Erlauer Spiele. Sechs Altdeutsche Mysterien, Wien 1982. LEHMANN, HANS-THIES, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999. LÖW, MARTINA, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001. NOWÉ, JOHAN, »Wir wellen haben ein spil«. Zur Geschichte des Dramas im deutschen Mittelalter. Darstellung und Anthologie, Leuven u. a. 1997. SCHULER, CONSTANZE, Der Altar als Bühne. Die Kollegienkirche als Aufführungsort der Salzburger Festspiele, Tübingen 2007. STÖRMER-CAYSA, UTA, Einführung in die mittelalterliche Mystik, Stuttgart 2004. WENZEL, HORST/LECHTERMANN, CARSTEN, Repräsentation und Kinästhetik, in: Theorien des Performativen, hg. von Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Paragrana. 10, 1), Berlin 2001, S. 191-213.

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›Schauplatz‹ / ›Theatrum‹ Heterotopien des Wissens und die Naturgeschichte im 18. Jahrhundert 1 THOMAS FORRER

In der methodischen Einleitung zur Histoire naturelle von 1749 erwähnt George-Louis Leclerc de Buffon »zwei gleich gefährliche Klippen« (frz. deux écueils également dangereux), welche die Naturgeschichte vor eine schiere Aporie stellen. Die erste Klippe dieser Wissenschaft beschreibt nach Buffon den Fall, dass man über kein Prinzip zur Einteilung der natürlichen Dinge verfügt. Damit wäre die ›klassische‹ Naturgeschichte, welche in den systematischen Einteilungen Carl von Linnés einen Höhepunkt gefunden hat, um ihr wesentlichstes Geschäft gebracht: die Bestimmung und Klassifizierung der natürlichen Dinge. Die andere Klippe – und das ist für Buffon die entscheidende – steht für die Gefahr, sich einem »einseitige[n] Lehrgebäude« auszusetzen, indem man das, was in der Natur an ›Einträchtigem‹ und ›Widerstreitendem‹ vorkommt, nur nach einem einzigen oder nach wenigen Gesichtspunkten ordnet.2 »Gleicht ein Löwe, weil er Spaltfüßer ist, einer Ratte, die auch ein Spaltfüßer ist, mehr, als ein Pferd einem Hunde gleicht?« fragt Buffon,3 um darauf seine polemische Kritik gegen die Klassifikationen Linnés zu richten. Wie viele andere sei Linné dem »metaphysischen Irrthum« erlegen, die Gegenstän1

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Dieser Beitrag geht aus der weitergehenden Beschäftigung mit dem Thema im Rahmen der Dissertationsschrift Schauplatz / Landschaft – Orte der Genese von Wissenschaften und Künsten um 1750 hervor, die der Verfasser im Herbst 2008 an der Universität Zürich eingereicht hat. BUFFON, 1837, Bd. 1, S. 92; BUFFON, 1845, Bd. 1, S. 50. BUFFON, 1837, Bd. 1, S. 100.

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de in der Natur und ihre systematische Verknüpfung »nach einem einzigen Theile und nach der Vergleichung der Verschiedenheiten dieses einzigen Theils [zu] beurtheilen«.4 Es braucht nicht näher erörtert zu werden, dass je nach ›Teil‹ der Gegenstände, welcher der Naturhistoriker als Einteilungskriterium wählt, ganz andere und, wie Buffon schreibt, »künstliche« Ordnungen entstehen. Buffons Rede von den Klippen ist nicht von ungefähr: ›Klippe‹ heißt im Griechischen auch próblema,5 und man kann sagen, dass die beiden Klippen – nämlich keine Einteilung zu haben oder eine einseitige und künstliche – das Problem des großen Dualismus von Natur und Kunst umschreiben, der im 18. Jahrhundert besonders aufgrund der inhärenten Widersprüche des Naturbegriffs6 ein enorm produktives Feld für Wissenschaften und Künste entfaltet hat. Der Dualismus artikuliert sich in der Naturgeschichte insofern, als ihre Klassifikationen solange für künstlich und naturfern gelten müssen, wie die Wahl der Einteilungskriterien den natürlichen Dingen äußerlich und kontingent bleibt.7 Wenn die Alternative aber heißt, keine Einteilungsart zu haben, dann muss sich ein naturhistorisches Unternehmen, das jene Künstlichkeit umgehen möchte, auf den verschwindenden, differenziellen Raum zwischen den beiden Klippen konzentrieren. Es muss versuchen – oder zumindest vorgeben –, nicht nur die Bestände der empirischen Natur zu erfassen, sondern im weitgehenden Verzicht auf dezisionistische Momente eine Methode zu gewinnen, in der die

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Ebd., S. 88. LIDDELL/SCOTT, 1983, S. 1471; MENGE, 2001, S. 581. Robert Spaemann beschreibt den Naturbegriff des 18. Jahrhunderts als dialektischen, was er besonders am Gedanken von der natürlichen Veranlagung des Menschen zur Emanzipation geltend macht: Es handle sich dabei gleichzeitig um eine Emanzipation gegen die Natur (SPAEMANN, 1967, S. 60ff.). – Auch Niklas Luhmann macht eine »im Begriff der Natur verborgene Differenz« aus, die sich im 18. Jahrhundert und später in unterschiedlich gelagerten Paradoxien einer »von der Natur abweichenden Natur« artikuliert (LUHMANN, 1999, S. 11, 13). – Ähnlich auch Jacques Derrida zum Naturbegriff bei Jean-Jacques Rousseau: »Das Natürliche wird zunächst aufgewertet, dann disqualifiziert […]. Jeder Wert [ist] gemäß seiner Nähe zu einer absoluten Natur bestimmt. Da dieser Begriff aber der Begriff einer polaren Struktur ist, stellt die Nähe auch eine Entfernung dar. Alle Widersprüche des Diskurses werden durch diese Struktur geregelt, notwendig gemacht und doch auch gelöst« (DERRIDA, 1983, S. 400f.). Entsprechend gilt Buffons Kritik auch den Nomenklaturen. Darin artikuliert sich ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Erkenntniswert repräsentativer Zeichenordnungen, wie es ab Mitte des 18. Jahrhunderts vermehrt auftaucht (vgl. SCHNEIDER, 2001, S. 118f.).

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verborgenen Gesetzmäßigkeiten der Natur zum einen Gegenstand der Erforschung werden, zum andern ihrerseits – sozusagen ohne ›künstliche‹ Zutat – in den wissenschaftlichen Verfahren eine selbständige Wirksamkeit entfalten können. Die Untersuchung der natürlichen Gegenstände hat sich demnach an einer ursprünglichen Differenz zwischen und jenseits von Natur und Wissen zu orientieren, welche eine allmähliche und ›natürliche‹ Genese von Wissen gewähren soll. Buffon stellt sich der paradoxen Aufgabe mit seiner sogenannten ›natürlichen Methode‹.8 Sie soll das Wissen um die systematischen Zusammenhänge in der Natur durch keine willkürlichen Setzungen determinieren; vielmehr hat die umfassende Beschreibung der erfahrbaren Gegenstände jenem ausstehenden Wissen den Boden zu bereiten. Die ›Methode‹ sieht vor, dass nicht nur einzelne Variablen, sondern »alle[ ] Theile« des »gesammten Einzelwesens« erfasst werden; darauf sind die Gegenstände mit möglichst vielen anderen zu vergleichen, worin die systematische Verwandtschaft zwischen ihnen, wenn nicht ermittelt wird, so doch in Ansätzen sich abzeichnet. Im fortschreitenden Vergleich sollen nach und nach die distinktiven Merkmale jedes einzelnen hervortreten. Dieses Verfahren schreibt im Grunde ein infinites Unternehmen vor – es müssten schließlich alle Gegenstände in allen ihren Teilen gegen möglichst alle anderen gehalten werden –, deshalb wird das ›natürliche‹ System, in welchem ihre Klassifizierung erfolgen sollte, immer ausstehen.9 Entsprechend muss sich Buffon in der Histoire naturelle einer vorläufigen Anordnung der Gegenstände bedienen. Die Unabschließbarkeit der ›natürlichen Methode‹ betrifft daher besonders auch den Raum, in dem die naturhistorischen Gegenstände zur Darstellung gelangen. Zunächst hat sich dieser vom systematischen Ordnungsraum zu unterscheiden, von jenem Raum, den Michel Foucault fürs 17. und 18. Jahrhundert als Tableau oder als »zeitloses«, cartesianisches »Rechteck« bezeich-

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Auch Linné erwähnt die Methode: »Die natürliche Methode [ist] das letzte Ziel der systematischen Wissenschaft, ohne welche uns alles beynahe ein Chaos ist« (LINNÉ, 1776, S. 128). Um das Verfahren etwas handlicher zu machen, schlägt Buffon die Bildung vorläufiger Gruppen vor: »Haben die Einzelwesen eine vollkommene Ähnlichkeit oder so geringe Verschiedenheiten, daß man sie nur mit Mühe wahrnehmen kann, so werden diese Einzelwesen zu derselben Art gehören; fangen die Verschiedenheiten an, merklich zu werden, […] so werden die Einzelwesen zu einer anderen Art, aber zu derselben Gattung wie die erstern gehören [etc.]« (BUFFON, 1837, Bd. 1, S. 91f.) – Zu Buffons ›Methode‹ vgl. FOUCAULT, 1974, S. 185f.

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net hat:10 In ihm kommt jedem Gegenstand aufgrund seiner Identitäten und Differenzen zu anderen Gegenständen ein eindeutig definierbarer Platz zu. Doch nicht nur vom Tableau soll der vorläufige Raum abweichen, er muss gleichzeitig ein weiteres Kriterium erfüllen: Er soll das Chaos ausschließen, d. h. er darf die Gegenstände nicht in völliger Verworrenheit präsentieren. Situiert an jener verschwindenden Stelle zwischen den beiden Klippen, muss es sich beim gesuchten Raum um einen solchen der Genese handeln, welcher dem Wissen von einer natürlichen Systematik vorausgeht und dieses gleichsam von seiner Möglichkeit her gestattet. Buffons Vorschlag dafür hört sich denkbar einfach an: Die Gegenstände sollen in der Histoire naturelle nach den Verhältnissen angeordnet werden, »in denen [sie] zu uns selber stehen«, oder wie er in einer rhetorischen Frage formuliert: »Ist es nicht besser, nicht allein in einer naturgeschichtlichen Abhandlung, sondern auch in einem Gemälde oder sonst überall, die Gegenstände in der Ordnung und Lage aufzuführen, worin sie sich gewöhnlich finden, als sie kraft einer Voraussetzung zusammen zu zwingen?«11 Doch die natürlich-menschliche Umgebung, die Buffon zum Vorbild nimmt, ist für die Naturgeschichte alles andere als unproblematisch. Zwar treten in ihr die Dinge zuallererst auf, doch verleiht die undurchsichtige Anordnung der Wissenschaft der Klassifikation überhaupt ihre Legitimation. Aus der Sicht der Systematiker handelt es sich bei der natürlichen Umgebung um einen gebrochenen Raum, in dem die räumlich sukzessive Ordnung der Dinge durcheinander gebracht worden ist und die es wieder herzustellen gilt.12 Es handelt sich, wie der französische Naturhistoriker Michel Adanson einmal schreibt, um eine »konfuse Mischung der Wesen, die der Zufall einander angenähert zu haben scheint. Hier wird das Gold mit einem anderen Metall, mit einem Stein oder mit Erde gemischt, dort wächst die Eiche neben dem Veilchen. Unter diesen Pflanzen irren ebenfalls der Vierfüßer, das Reptil und das Insekt umher. […] Diese Mischung ist sogar so allgemein und so vielfältig, dass sie eines der Naturgesetze zu sein scheint.«13 10 11 12 13

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FOUCAULT, 1974, S. 109, 172 und 188. BUFFON, 1837, Bd. 1, S. 100. Vgl. VOGL, 1992, S. 81. ANDANSON, 1845, S. 4f. (zit. nach: FOUCAULT, 1974, S. 193); s. a. LINNE, 1751, §153: Natura ipsa sociat & conjugit Lapides & Plantas, Plantas & Animalia; hoc faciendo non connectit perfectissimas Plantas cum Animalibus maxime imperfectis

›Schauplatz‹ / ›Theatrum‹

Dieses Naturgesetz jedoch lässt sich in der klassischen Naturgeschichte nicht nachvollziehen. Die empirische Natur präsentiert sich ihr voller unsäglicher Nachbarschaften oder unbegründbarer Konvenienzen. Im System korrelieren die räumlichen Nachbarschaften der Gegenstände mit einer zweiten Art von Beziehung: mit ihrem Verwandtschaftsgrad, der seinerseits über das Verhältnis von äußeren Identitäten und Differenzen ermittelt wird. Die ubiquitären Konvenienzen des irdischen Raums entziehen sich hingegen diesem Verfahren; sie widersetzen sich dem Diktum, dass die Natur keine Sprünge macht. Foucault hat darauf hingewiesen, dass solche Diskontinuitäten im 18. Jahrhundert unter anderem über erdgeschichtliche Katastrophen erklärt worden sind, welche die ursprüngliche scala naturae erschüttert hätten.14 Diese Katastrophen sind auch epistemologischer Art: Wenn der Ankerwurm und die Konserve (eine Alge), wie Linné bemerkt, am selben Ort, im selben Gewässer auftreten,15 dann bricht mit der Konvenienz eine Ähnlichkeitsbeziehung16 ins Wissen der klassischen Naturgeschichte ein, die sich in ihm als unhaltbare, nicht-identische Beziehung erweist. Dass es sich bei der Differenz zwischen dem Raum der Konvenienz und dem Raum der Klassifikation um eine epistemologische handelt, dahin deutet auch das Beispiel, das Buffon für die erste Klippe der Naturgeschichte gibt, nämlich keine Einteilungsart zu haben: Von den wohlhabenden Sammlern schreibt er, dass sie »ohne Auswahl Alles, was ihnen ins Auge fällt, […] kaufen« und es in ihren Kabinetten anhäufen.17 Damit referiert er auf den älteren Sammlungstyp der privaten Kunst- und Wunderkammern, in denen Raritäten und natürliche Gegenstände unter anderem nach Prinzipien der Ähnlichkeit geordnet worden sind.18 Gibt Buffon diese Räume für »verworren« (frz. avec

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dictis, sed imperfecta Animalia & imperfectas Plantas combinat. (›Die Natur selbst vereinigt und verbindet Steine und Pflanzen, Pflanzen und Tiere; dabei verbindet sie nicht die vollkommensten Pflanzen mit den als sehr unvollkommen bezeichneten Tieren, sondern unvollkommene Tiere mit unvollkommenen Pflanzen.‹) FOUCAULT, 1974, S. 83. LINNÉ, 1751, §153. FOUCAULT, 1974, S. 47f.: »Die convenientia ist eine mit dem Raum in der Form des unmittelbar Benachbarten verbundene Ähnlichkeit. Sie gehört zur Ordnung der Konjunktion und der Anpassung. […] Die Welt, das ist die universale ›Konvenienz‹ der Dinge.« BUFFON, 1837, Bd. 1, S. 93. Sogenannte Kunst- und Wunderkammern sind ab dem 16. bis Ende des 17. Jahrhunderts eingerichtet worden; vgl. POMIAN, 1994, S. 112f.: »Zum einen verbinden sie antike und zeitgenössische Kunstwerke mit Naturobjekten, zum anderen enthalten sie – oft in großer Zahl – Raritäten und Merkwürdigkeiten, Wunderdinge,

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confusion) aus, so kann dies als später Ausdruck einer epochalen Differenzierung gegenüber dem von Foucault beschriebenen Zeitalter der Ähnlichkeit gelesen werden.19 Diese Schwelle taucht – in systematischer Hinsicht – am Problem der beiden Klippen wieder auf, wobei die Ähnlichkeit der räumlichen Konvenienz, nun als ausgeschlossene Voraussetzung des Klassifikationsraums, in Form der Vermischung oder der Indifferenz ein Nachleben findet: Denn die alten Kabinette bilden nicht nur einen Fundus, den die klassische Naturgeschichte mit ihren Techniken der Einteilung neu bearbeiten kann, weshalb das 18. Jahrhundert auch als die »große Zeit der Neuordnung der Sammlungen« bezeichnet wird.20 Ebenso bietet die für verworren befundene Ansammlung mit der Konvenienz ein Prinzip, das von der Naturgeschichte mit ihren Ordnungstechniken zwar ausgelöscht werden wird, dessen sie aber dringend bedarf. Das Prinzip der Konvenienz eröffnet der Naturgeschichte einen uneigentlichen Raum der Komparabilität, in dem die Dinge sich miteinander präsentieren und sich derart erst dem systematischen Vergleich anbieten. Wenn Buffon indes die natürliche Nachbarschaft der Dinge jener Verworrenheit in den Raritätenkammern vorzieht, dann deshalb, weil letztere aufgrund subjektiver und

Monstren, Mißgestaltungen, Ungeheuerlichkeiten, ungewöhnliche und außerordentliche Dinge.« Pomian sieht darin den »Ausdruck einer enzyklopädischen Wissbegier, die darauf zielt, die ganze Schöpfung der Erkenntnis zu öffnen, den Makrokosmos in den Mikrokosmos zu projizieren.« Die Anordnungen gehorchen nicht nur einer »ganzheitlichen, kosmischen Sicht«, sondern orientieren sich auch an einem »Spiel der Ähnlichkeiten« (FOUCAULT, 1974, S.88), wie der folgende Befund von Pomian deutlich macht: Sie »stellen zuweilen dem Übernatürlichen Kunst und Natur gegenüber, zuweilen ersetzen sie auch die beiden letzteren durch eine Einteilung entsprechend den vier Elementen […]. Kombinationen der vier Elemente ermöglichen auch eine Charakterisierung der Lebewesen oder der Kontinente, aus denen die natürlichen Erzeugnisse oder die Kunstwerke stammen«. Vgl. auch BREDEKAMP, 1993, S. 17 und 71. Bredekamp macht darauf aufmerksam, dass durch den »suggestiven Begriff ›Kunst- und Wunderkammer‹« dieser Sammlungstyp in ein »Klima des Vorwissenschaftlichen-Bizarren« versetzt worden sei, so dass seine »naturphilosophische Seite […] verborgen blieb.« Es ist jedoch nicht von der Hand zur weisen, dass Kunstkammern in »zerstreuter / vorsetzlicher Unordnung« angelegt worden sind, wie Bredekamp Johann Daniel Major aus dem 17. Jahrhundert zitiert. Die Präsentationsform baue »visuelle Brücken, um der Spielfähigkeit der Natur das Assoziationsvermögen der Augen zur Seite zu stellen«. 19 FOUCAULT, 1974, S. 46-77. – Diese epistemologische Differenz artikuliert sich besonders deutlich auch an Buffons Ablehnung von Ulisse Aldrovandis Art der naturhistorischen Beschreibung, an der Buffon »Übertreibung« aussetzt (BUFFON, 1837, Bd. 1, S. 95). 20 POMIAN, 1994, S. 116.

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willkürlicher Prinzipien eingerichtet worden seien. In beiden Fällen rekurriert er jedoch auf einen notwendigen Unort im Wissen der klassischen Naturgeschichte, der seinerseits die vorläufige Anordnung der Artikel in der Histoire naturelle rechtfertigt.21 Die besondere Stellung dieser Versammlungsräume zeichnet sich auch dann ab, wenn Buffon die Genese der Naturgeschichte zur Sprache bringt, und es ist auffällig, dass er dabei das Sammeln und Zusammentragen der natürlichen Dinge nicht zum eigentlichen Wissen schlägt: »Ist es aber gelungen, von Allem, was die Welt bevölkert, Muster zu sammeln […] und wirft man zum erstenmale die Augen auf dieses, mit manchfaltigen, neuen fremden Dingen (frz. choses) angefüllte Vorrathshaus (frz. magasin), so ist die erste Empfindung, die daraus entspringt, ein, mit Bewunderung gemischtes Erstaunen. […] Wenn man sich inzwischen mit diesen nämlichen Gegenständen (frz. objets) vertraut macht, sie oft und, so zu sagen, absichtslos sieht, so bilden sie allmählig dauernde Eindrücke, die sich bald durch feste und unwandelbare Beziehungen in unserem Geiste verknüpfen.«22

Die Metapher des ›Vorrathshauses‹ kennzeichnet den betreffenden Raum gegenüber dem naturhistorischen Wissen als vorangehenden, in dem sich die »Dinge[ ]« als noch unbekannte präsentieren. Es handelt sich um einen Raum des Gegeben-Werdens, wobei das philosophische Staunen, das angesichts des unüberschaubaren Gemenges sich einstellt, den Auftakt bildet, die unbestimmten Gegebenheiten zu beschreibbaren »Gegenständen« zu transformieren: Mit den »Dingen« gewährt der Versammlungsraum ein sichtbares Material, das die Naturgeschichte nun zu analysieren und in Form von »Gegenständen« in den systematischen Raum der Klassifikation zu übertragen hat. Allerdings sollen auch die wissenschaftlichen Verfahren in der von Buffon beschriebenen Genese in ›natürlicher‹ und d. h. in ebenso undeutlicher Weise gegeben sein; sie haben sich unabhängig von einer subjektiven Setzung erst herauszubilden. Das 21 Buffon orientiert sich tatsächlich am Prinzip der räumlichen Konvenienz, wenn er in der Histoire naturelle im ersten Band zu den Vierfüßern zunächst domestizierte Tierarten beschreibt, in folgender Reihenfolge: Pferd, Esel, Rind, Schaf, Schwein, siamesisches Schwein, Wildschwein, Hund, Katze. Der zweite Band zu den Vierfüßern fährt mit wilden, europäischen Tierarten fort; auf die Pflanzenfresser: Hirsch, Damhirsch, Reh, Hase, Kaninchen, folgen Wolf, Fuchs, Dachs, Fischotter, Steinmarder etc. 22 BUFFON, 1837, Bd. 1, S. 82.

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gelangt besonders zur Geltung in einem Gedankenexperiment, in dem Buffon für den Raum der unbestimmten Gegebenheiten nun ein »Gefilde« (frz. campagne) anführt: »Denken wir uns einen Menschen, der in der That alles vergessen hat oder für die Gegenstände, die ihn umringen, ganz neu erwacht; stellen wir diesen Menschen in ein Gefilde, wo sich die Thiere, Vögel, Fische, Pflanzen, Steine nach einander vor seinen Augen zeigen. In den ersten Augenblicken wird dieser Mensch nichts unterscheiden und Alles vermischen; aber lassen wir seine Vorstellungen sich durch wiederholte Wahrnehmungen derselben Gegenstände befestigen; bald wird er sich eine allgemeine Vorstellung von dem belebten Stoffe bilden, wird ihn leicht von dem unbelebten und bald hernach den belebten von dem bloß wachsenden unterscheiden und auf natürliche Weise zu jener ersten grossen Einteilung, Thier, Pflanze und Mineral gelangen.«23

Die Paarung von Heteronomie und Reflexivität, wie sie zum Ausdruck gelangt in der Formulierung: »lassen wir seine Vorstellungen wiederholte Wahrnehmungen derselben Gegenstände sich befestigen«, situiert das ›natürliche‹ Entstehungsmoment naturhistorischen Einteilens an die verschwindende Stelle zwischen dem auktorialen Eingriff des Experimentierenden, resp. der Wirkung der sichtbaren Dinge, und einer unbestimmten Heautonomie des Adamiten. Entspringen die ersten Einteilungen einer Unentscheidbarkeit zwischen Objekt- und Subjektwirkung, so setzt sich diese Indifferenz darin fort, dass die Naturhistorie in der ›Natürlichkeit‹ dieser ihrer Genese gleichsam um den Preis der Naturnähe gebracht wird. Denn keine Einteilung liegt der infiniten Restitution der natürlichen Ordnung ferner als die erste, die sich dem Adamiten einstellt. Dies aber macht deutlich, dass der Unort des Gefildes einen doppelten Anlass zur Naturgeschichte gibt: Zum einen präsentiert sich in ihm die sichtbare Natur als Gemenge von undurchsichtigen Beziehungen, das es für die Naturhistorie zu entwirren gilt; zum anderen gestattet das Gefilde als Ort der Entstehung von ersten Einteilungen jene erste Differenz von Natur und Wissenschaft, welche es für die Naturhistorie nicht nur möglich macht, sondern auch von ihr verlangt, sich über die Ermittlung des natürlichen Systems jener soeben distanzierten Natur wieder anzunähern.

23 Ebd., S. 98f.

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›Schauplatz‹ / ›Theatrum‹

Es überrascht daher nicht, dass ein solcher Raum auch am Anfang der Histoire naturelle zur Sprache gelangt. Der Ausdruck spectacle, den Buffon dabei verwendet, wird in der deutschen Ausgabe der Sämmtlichen Werke von 1837-47 als »Schauspiel« übersetzt,24 die früheste Übertragung von 1750 gibt ihn als »Schauplatz« wieder:25 »Die Historie der Natur, wenn sie in ihrem ganzen Umfange betrachtet wird, ist eine unermeßliche Historie, und sie begreift alle Dinge in sich, so sie uns die Welt vor Augen stellt. Die ungeheure Menge von vierfüßigen Thieren, von Vögeln, von Fischen, vom Ungeziefer, von Pflanzen, von Mineralien ec. ec. zeiget der Neugierigkeit des menschlichen Verstandes einen weitläufigen Schauplatz.«26

Gegenüber den Wendungen des ›Vorratshauses‹ und des ›Gefildes‹ rücken sowohl ›Schauspiel‹ wie ›Schauplatz‹ den Bedeutungsaspekt des sichtbaren Vorstellens stärker in den Vordergrund. Während die Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert den Akzent auf ein dynamisches Geschehen legt,27 bezeichnet der frühere Ausdruck ›Schauplatz‹ einen Ort, in dem nicht in erster Linie Handlungen, sondern Dinge in loser Versammlung präsentiert werden. Buffon bedient sich dabei eines Topos, oder besser: eines Heterotopos, der bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts kursierte. – Er taucht Anfang des 20. Jahrhunderts wieder auf: In Sigmund Freuds Umschreibung des Unbewussten als des ›anderen Schauplatzes‹ der Träume28 und in gedächtnistheoretischer Reformulierung in den Schriften Walter Benjamins.29 Unter dem Aspekt einer ›anderen Lesbarkeit‹, dem sowohl Freuds wie Benjamins Auseinandersetzungen gelten,30 wurde das Konzept des ›Schauplatzes‹ in der gegenwärtigen Kulturforschung wieder aufgenommen, als eine topologische Figur der ›Übergänge‹, an der »die Momente der Entstehung und die Spuren der vorausgegangenen 24 Ebd., S. 81. 25 Die Metapher vom ›Schauspiel der Natur‹ erlebt ihre eigentliche Blüte im späten 18. Jahrhundert, wo sie den Ausdruck des ›Schauplatzes der Natur‹ ablöst; vgl. FRANK, 1999. 26 BUFFON, 1750, Bd. 1, S. 3. 27 Vgl. GRIMM/GRIMM, 1845-1960, Bd. 14, Sp. 2375f. 28 FREUD, 1987. 29 Unter anderem in Ursprung des deutschen Trauerspiels und in den späteren Passagen-Aufzeichnungen. 30 Zu Benjamins Freud-Lektüre und dem ›Schauplatz‹ als Topologie des Gedächtnisses siehe: WEIGEL, 1997, Kap. II, S. 27–51.

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Verhandlungen sichtbar« werden, wie Sigrid Weigel ausführt.31 Beide Dimensionen zeichnen sich auch am historischen Einsatz des Konzeptes ab, wie er hier im Blick steht. Zum einen markiert bei Buffon die Wendung des ›Schauplatzes‹ – so wie diejenige des ›Vorratshauses‹ – einen anderen Ort im Wissen der Naturhistorie, wo sich über die Konvenienz der Dinge Spuren eines vergangenen Wissens von den Ähnlichkeiten zu erkennen geben. Zum anderen tauchen Schauplätze als Orte am Ausgang zum Wissen auf. Auch Johann Georg Sulzer beschreibt den Ursprung der Wissenschaften wie folgt: »Die Natur ist ein weiter Schauplatz, welcher von allen Seiten erstaunende Gegenstände und Begebenheiten darstellet. Konnten die Menschen, nachdem sie sich von ihren ersten Nahrungssorgen losgemacht, und übrige Zeit gewonnen hatten, lange dieses herrliche Gebäude der Welt betrachten, ohne an die unsichtbare Macht, die solches herfür gebracht, und an die geschickte Hand zu denken, welche die Theile zusammen ordnete? […] Ohne Zweifel ist dieses der Ursprung der Wissenschaften, unter welchen die Naturforschung die älteste scheint.«32

Die Passage stammt aus einem Vortrag, den Sulzer 1757 auf Französisch gehalten hat. Ist dort die Rede von einem »vaste théâtre«,33 so wird an einen antiken, vordramatischen Begriff von Theater erinnert, der sich im Deutschen als Übersetzung des griechischen Ausdrucks théatron als ›Schauplatz‹ spätestens seit Luther wieder bemerkbar gemacht hat.34 Spuren davon lassen sich auch in Aristoteles’ Poetik ausmachen: In ihr wird das Drama vor allem über das Ideal des mythos eusynoptos, des wohl überschaubaren Plots bestimmt,35 wobei der Plot – oder auch die Geschichte – ein geordnetes Gefüge aus zusammenhängenden Handlungen bilden soll. Damit beschreibt Aristoteles eine für die klassische Naturgeschichte relevante Struktur, soll doch auch sie die natürlichen Gegenstände in eine übersichtliche, d. h. ›historische‹ Ordnung bringen, die sich vorwiegend jedoch an einer räumlichen und weniger an einer 31 32 33 34

WEIGEL, 2004, S. 7 und 10f. SULZER, 1974, S. 114. SULZER, 1757, S. 16. Den Hinweis gibt KLUGE, 2002. – Vgl. WETTSTEIN, 1962, S. 585, Ap.-Ges. 19.29: »Kai eplésthe he pólis tes sygchýseos ormesán te homothymadón eis tó théatron.« Luther gibt den Vers wie folgt wieder: »Und die ganze Stad ward vol getümels/ Sie stürmeten aber einmütiglich zu dem Schawplatz«; LUTHER, 1967. 35 ARISTOTELES, 1991, S. 27.

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zeitlicher Sukzession orientiert. Bemerkenswert ist jedoch, dass Aristoteles zu Beginn der Poetik nicht den mythos, das eigentliche »Fundament« und die »Seele« der Tragödie, sondern die sichtbare Aufführung als distinktives Merkmal des Theaters einführt:36 die Inszenierung oder auf Griechisch: opsis. Diese wird in der weiteren Schrift jedoch unterschlagen: »Die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung […] zustande«, schreibt Aristoteles, »schon die bloße Lektüre« könne die Qualität einer Tragödie aufzeigen.37 Einen Hinweis dafür, dass die opsis gerade die Kehrseite der wohl geordneten Geschichte bildet, gibt die Gegenüberstellung der griechischen Ausdrücke: opsis und mythos eusynoptos. Ohne das Raster einer wohlgefügten Geschichte kann die Inszenierung nicht als überschaubar gelten und daher auch nicht als geordnet und zusammenhängend. Entsprechend setzt Samuel Weber das Verhältnis von opsis und mythos bei Aristoteles in Beziehung zum psychoanalytischen Konzept der ›sekundären Bearbeitung‹, die Sigmund Freud als vierte Funktion der Traumarbeit einführt:38 Wird das Traummaterial unter dem Gesichtspunkt der Erzählbarkeit in eine narrative Struktur gebracht, so versetzt der mythos die ›Inhaltsbrocken‹ der theatralen opsis mit einem sinnstiftenden, logozentristischen Rahmen, der die »medienspezifischen Eigenschaften – alles, was mit der Szene und mit der Inszenierung zusammenhängt – instrumentalisiert und marginalisiert«: Wie die ›sekundäre Bearbeitung‹ nicht nur die primäre Entstellungsarbeit, sondern auch die Bildhaftigkeit des Traums verstellt, damit das Bewusstsein über die Traumerzählung »vom Schauplatze Besitz […] ergreifen« kann,39 so wird auch im aristotelischen Begriff des Dramas die sichtbare Aufführung der Intelligibilität des mythos unterworfen.40 Wenn Buffon und Sulzer den natürlichen Schauplatz am Ausgang zu einer Geschichte der Natur situieren, dann findet darin das aristotelische Verhältnis von opsis und mythos eusynoptos ein neuzeitliches Nachleben. Denn auch am 36 37 38 39

Ebd., S. 9, 22.

Ebd., S. 25, 97.

FREUD, 1987, Kap. VI/i. Freud zitiert Havelock Ellis: »Wir können uns die Sache [die sekundäre Bearbeitung] tatsächlich so denken, daß das Schlafbewußtsein zu sich sagt: Hier kommt unser Meister, das Wachbewußtsein, der ungeheuer viel Wert auf Vernunft, Logik u. dgl. legt. Schnell! Faß die Dinge an, bringe sie in Ordnung, jede Anordnung genügt – ehe er eintritt, um vom Schauplatze Besitz zu ergreifen« (ebd., S. 505f.). 40 WEBER, 1999, S. 136-143; ebenso: WEBER, 2004, Kap. 3; WEBER, 2002, S. 27-40; LEHMANN, 1999, S. 60-64.

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natürlichen Schauplatz werden die Dinge als sichtbare und ungeordnete vorgeführt, wobei anders als beim Drama zunächst keine ›historische‹ Logik zur Geltung gelangt: Vielmehr gewährt die Schaustellung der natürlichen Dinge die einzige Möglichkeit zur Ermittlung eines Zusammenhangs. Damit rückt der Schauplatz in eine eigentliche Mittelstellung zwischen Wissen und NichtWissen. Obwohl als Unort vom Wissen der Naturgeschichte ausgeschlossen und in ihr nicht beschreibbar, bildet er eine unverzichtbare Voraussetzung: Er findet sich, wie es bei Johann Georg Sulzer einmal heißt, am »Eingange der Natur«, und das bedeutet vor allem auch: am Eingang zu einem Wissen von ihr.41 Buffons Rede von einem ›weiten Schauplatz‹ findet einen historischen Index jedoch nicht nur in der aristotelischen Unterscheidung von opsis und mythos eusynoptos: Sie hat eine Herkunft auch in jüngerer Zeit, in den sogenannten Schauplatz-Büchern, wie sie ab Ende des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts erschienen sind. Sie fallen zuerst durch den Titel des Schauplatzes oder lateinisch: Theatrum auf. Er bezeichnet verschiedene Typen von kompilatorischen Werken: Handbücher, Chroniken, Anthologien und ab dem 18. Jahrhundert auch Kompendien.42 Die Titulatur erklärt sich zum einen über den theatrum mundi-Gedanken, als das Buch als Mikrokosmos selbst den Schauplatz der Welt repräsentiert,43 zum anderen über das Verfahren des Zusammentragens, in dem Wissensbestände aus ihren Zusammenhängen gebrochen und neu »vor Augen gestellt« werden, wie es in den deutschsprachigen Werken immer wieder heißt. Dieser ostentative Gestus wird häufig von einer freien Anordnungsweise begleitet: In Tommaso Garzonis Piazza Universale, zu Deutsch: Allgemeiner Schawplatz / Marckt und Zusammenkunft aller Professionen, werden 153 Berufe vorgestellt. Die »Discurße« beginnen zwar bei den Regenten und Geistli41 SULZER, 1971, S. 125: »Es war ein sehr schöner Morgen, und ich ward auf das empfindlichste gerühret, als ich die Fenster aufmachte, um die vor mir liegende Gegend anzusehen. Da mir dieser Anblick beinahe ganz unbekannt war, stund ich nun, wie ein ganz neu erschaffener Mensch, gleichsam am Eingange der Natur.« Nicht nur zeichnet sich an dieser Passage eine Analogie zu Buffons Gedankenexperiment ab, in dem ein Mensch »[a]lles vergessen hat, oder für die Gegenstände, die ihn umringen, ganz neu erwacht«, ebenso setzen die naturhistorischen Unterredungen Sulzers mit der Betrachtung von Gegenden und Naturschauplätzen ein (S. 1-10,18f.). 42 Eine Auflistung entsprechender Titel findet sich bei KIRCHNER, 1985, S. 135f. 43 GORMANS, 2008, S. 32 und 35ff.

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chen, bald aber bricht die Hierarchie ab: Weiter hinten folgen auf die Spieler die Bergleute, die Kalk- und Ziegelbrenner, darauf die Bettler, Duellanten und Huren.44 Das Prinzip des losen Versammelns bringt auch der barocke Schriftsteller Johann Rist zur Sprache. In der Vorrede zu seinem Poetischen Schauplatz heißt es, er hätte seinen Gedichten »die Einsahmkeit länger nicht günnen noch auch zugeben wollen / daß sie dergestalt zerstreuet unter dem Himmel noch länger solten herüm schweben.« Deshalb seien sie nun »gleichsahm auff einem kleinen Markte oder Schauplatze auffgestellet / und in dieses Büchlein zusammen gebracht«.45 Und noch 1772 ist in einem naturhistorischen Kompendium mit dem Titel Neuer Schauplatz der Natur zu lesen: »Ich betrachte das ganze als ein Gastmahl, wo verschiedene Speisen für den Liebhaber bereit sind […]. Sind nur die Gerichte schmackhaft, so übersieht der Gast dabei die geometrische Ordnung der Schüßeln gar leicht. Dies ist meine Entschuldigung, warum ich die Materien nicht in der strengen Ordnung des Systems vorgetragen.«46

Die Rede vom Liebhaber oder vom Amateuren situiert die unsystematische Anordnung auf der Schwelle zu einem Wissen von der Natur, und das geschieht auch in der Formulierung, dass der Gast oder der Leser eine systematische Ordnung ›gar leicht übersehen‹ könne, wird damit gleichsam die Möglichkeit beschrieben, zu der im Buch fehlenden Übersicht zu gelangen. Entsprechend ist die Präsentationsform des Schauplatzes eher von der prekären Situierung zwischen Nicht-Wissen und Wissen her zu begreifen, als etwa von der Struktur der alten Amphitheater oder der neuzeitlichen Bühnenarchitektur her, wie das in der noch jungen Forschung zu den SchauplatzBüchern mitunter geschehen ist. Zwar vergleicht Garzoni die Piazza Universale mit dem »Amphitheatrum Caesareum«,47 – und man ist daher vor dem Hintergrund von Giulio Camillos Schrift L’idea del theatro von 1550 geneigt zu fragen, ob die Präsentationsweise bei Garzoni sich nicht an der Disposition der Theaterbauten orientiert und ob die Vorstellung der Berufe in der Arena oder gar auf den Zuschauerrängen stattfindet.48 Doch wird eine solch räumliche 44 45 46 47 48

GARZONI, 1641. RIST, 1646, hier: Nohtwendiger Vorbericht an den Teutschen Leser (s. p.). JUNGE, 1772, hier: aus der Vorrede (s.p.). GARZONI, 1641, S. 23. Vgl. NEUMEISTER, 2008, S. 98-103. In seiner Schrift L’idea del theatro orientiert sich Giulio Camillo für eine Ordnung des Wissens an der Architektur der Amphi-

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Trennung zwischen Sehendem und Gesehenem in der Vorrede zur Piazza Universale aufgelöst: »Wenn es euch nun geliebet / diesen wunderbahren Baw zu besichtigen / so findet ihr ihn allhie also geöffnet / daß ihr euch über der grossen Menge / die er begreifft / möget entsetzen / oder zum wenigsten bekennen müsset / daß es vielleicht die grösseste Burß oder der berühmteste Marckt in der gantzen Welt seye.«

Dass dieser Markt nicht nur den Ort einer Schaustellung bildet, sondern seinerseits durch das Ausgestellte genauso wie durch die Schauenden konstituiert wird, macht Garzonis Vergleich mit dem »Marckt zu Athen« deutlich, zumal der griechische Ausdruck agorá nicht nur den Versammlungsplatz, sondern auch die öffentliche Versammlung selbst und ferner die Marktwaren bedeuten kann.49 Gerade in barocken Schauplatz-Büchern, wie etwa dem umfangreichen Geschichtswerk Theatrum Europaeum, tauchen zwar vielfach Elemente des Theaters als Aufführungsstätte in Sprache und Abbildung auf, doch schreiben sie keine bestimmte räumliche Disposition vor,50 als vielmehr eine gewisse Seinsweise der ›vor Augen gestellten‹ Dinge, wie zu zeigen sein wird. Denn ähnlich wie bei der agorá verhält es sich auch mit dem Titel des Theatrum, wie Markus Friedrich dargelegt hat: Der Titel kann neben dem Buch als Ort des Vorstellens auch »das Gesammelte selbst« bezeichnen.51 Wird die Präsentationsweise des Schauplatzes indes mit einer architektonischen Form kurzgeschlossen, werden ihrem Begriff zu enge Grenzen gesetzt.52 Dahin deutet auch die allgemeine Bestimmung des ›Schauplatzes‹ in Zedlers Universal-Lexicon, wo es heißt, dass es sich »überhaupt« um einen Ort handelt, »auf welchem etwas zu sehen ist«. Wird der Schauplatz über das Sehen bestimmt, so umfasst er auch die Sehenden.53 Es handelt sich demnach um

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theater, wobei er die Perspektiven umkehrt und den Betrachter in die Arena stellt: »So wollen wir entsprechend der Ordnung der Schöpfung der Welt auf den ersten Rängen die einfachsten oder würdigsten Dinge unterbringen, oder diejenigen, von denen wir uns vorstellen, daß sie nach göttlichem Ratschluß vor allen anderen Dingen geschaffen wurden. Dann ordnen wir Stufe für Stufe diejenigen an, die danach kamen.« Zit. nach NEUMEISTER, 2008, S. 101; ital.: CAMILLO, 1991, S. 58f. GARZONI, 1641, S. 23; MENGE, 2001, S. 7. SCHRAMM, 2003. FRIEDRICH, 2004, S. 210 und 228. Vgl. GORMANS, 2008, S. 28f. ZEDLER, 1961-64, Bd. 43, sp. 458f.

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einen Ort, in dem man schaut, und zugleich um einen Ort, auf den man schaut, d. h. der Schauplatz gestattet seine eigene Teilung in einen Ort des Sehens und einen Ort des Gesehenen, wiewohl er diese Differenz gleichsam umfasst.54 Man kann daher von einer Heterotopie des Sehens sprechen, so wie Foucault die Heterotopien nicht über die Unmöglichkeit der Nachbarschaft gewisser Dinge und Instanzen bestimmt, sondern über die Unmöglichkeit des Ortes, an dem sie tatsächlich gemeinsam auftreten.55 Das artikuliert sich auch an den von Buffon angeführten Schauplätzen, und zwar in zweifacher Weise: Zum einen, wie gesehen, über die Konvenienz der präsentierten Dinge, d. h. über tatsächliche, jedoch nicht nachvollziehbare Nachbarschaften. Zum andern betrifft die Konvenienz das Verhältnis von Sehendem und Gesehenem: Wenn der Mensch, wie Buffon einmal schreibt, vor dem unermesslichen Schauplatz der Natur zur ersten »demüthigende[n] Wahrheit« gelangt, »daß er sich selbst in die Klasse der Thiere reihen muß«, so ist diese Einteilung gleichsam als Spur seiner eigenen Herkunft im Schauplatz zu lesen. Den Hinweis dafür gibt Buffons Feststellung, dass es für den Menschen vor einer solchen Mannigfaltigkeit »unmöglich ist, ein allgemeines Lehrgebäude, eine vollkommene Eintheilungsart, geschweige für die gesammte Naturgeschichte, ja auch nur für einen einzigen ihrer Zweige aufzustellen«.56 Wenn der Mensch sich den Schauplatz niemals vollständig zum Objekt machen kann, dann wird auch die Differenz zum Außen sich nie durchgängig etablieren. Dieser Mangel, der den Menschen und seine Systematisierungen stets bedroht, verweist an die Urszene in Buffons Gedankenexperiment, in dem die Trennung von Mensch und Umgebung 54 Vgl. WEBER, 1999, S. 136 und 138. Auch an den psychoanalytischen Konzepten von ›Schauplatz‹ und ›Szene‹ macht sich diese besondere theatrale Struktur bemerkbar. Sie beschreiben Orte, die »geteilt und dennoch zusammengehörig« sind. »Der Zuschauer gehört dazu und diese Zugehörigkeit, die eine der Bedingungen seines Zuschauens ist, hält den Theaterraum offen.« 55 FOUCAULT, 1974, S. 19f.; ebenso: FOUCAULT, 1990. Ähnlich wie in Die Ordnung der Dinge umschreibt Foucault in Andere Räume Heteropien als »Gegenplatzierungen« oder »Orte außerhalb aller Orte«, weil sie die Möglichkeit von Örtlichkeit bestreiten. Das zeigt das Beispiel des Spiegels, der unvereinbare Plätze gleichzeitig erlaubt, so »dass er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht« (FOUCAULT, 1990, S. 39). Diese Struktur macht Foucault auch in seiner Bildlektüre von Velásquez’ Hoffräulein geltend, wo der Spiegel einen unmöglichen Ort markiert, »der dem Bild und dem ihm Äußerlichen gemeinsam ist«. Auch die chinesische Enzyklopädie von Borges, die Foucault anführt, widersetzt sich der Örtlichkeit (FOUCAULT, 1974, S. 38 und 17). 56 BUFFON, 1837, Bd. 1, S. 86.

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in das Moment des Erwachens gelegt wird, wenn es heißt: »Denken wir uns einen Menschen, der […] für die Gegenstände, die ihn umringen, ganz neu erwacht.«57 Die seltene Formulierung umschreibt ein Ereignis, in dem auch die Dinge eine Wandlung erfahren, indem sie zu Gegenständen für den Menschen werden, wobei das Moment der Trennung immer auch auf einen anderen, vorgängigen Zustand verweist, der als denjenigen der Indifferenz gelten kann, so wie er in Buffons späterer Abhandlung Vom Menschen – wieder in einem Gedankenexperiment – explizit zur Sprache gelangt. Diesmal lässt Buffon einen Menschen »im Augenblick der Schöpfung« seine Sinne entdecken, und bald einmal erkennt dieser, dass »es etwas außer mir« gibt, wobei entscheidend für die Entstehung dieser Differenz der rückblickende Befund ist: »Ich glaubte Anfangs, alle diese Gegenstände wären in mir«, wären in »meine[m] Wesen enthalten«.58 Die Indifferenz zwischen einer betrachtenden Instanz und ihrer Umgebung kennzeichnet den anfänglichen Schauplatz als nachträgliche Voraussetzung zu einer ersten, ›einseitigen‹ Differenz59 durch den entstehenden Menschen. Diese legt die Spur auf die Konvenienz von Betrachter und Dingen bei gleichzeitiger Möglichkeit zu deren Unterscheidung, was den Schauplatz als Ort eines immanenten Entstehens ausweist: Die ›Homogenese‹, das gleichzeitige Erwachen zum Menschen und zu einer einheitlichen Ordnung der Dinge,60 vollzieht sich im Schauplatz als Heterogenese. Als Stätte der Bildung von Identitäten und Differenzen gleicht dieser Ort der Struktur nach dem ›natürlichen Zustand‹ des Geistes, wie ihn David Hume im Traktat über die menschliche Natur eindrücklich als »ein Bündel oder ein Zusammen (engl. bundle or collection) verschiedener Perzeptionen« schildert und ebenfalls mit einem Theater in Verbindung bringt: »Der Geist ist eine Art Theater (engl. theatre), auf dem verschiedene Perzeptionen nacheinander auftreten, kommen und gehen, und sich in unendlicher Mannigfaltigkeit der Stellungen und Arten der Anordnung untereinander mengen.

57 Vgl. BUFFON, 1845, S. 57: »Imaginons un homme […] s’éveille tout neuf pour les objets qui l’environnent.« 58 BUFFON, 1837, Bd. 4, S. 296 und 298. 59 DELEUZE, Differenz und Wiederholung, 1997, S. 49: »Die Differenz ›zwischen‹ zwei Dingen ist bloß empirisch, und die entsprechenden Bestimmungen sind nur äußerlich. Stellen wir uns aber anstatt eines Dings, das sich von einem anderen unterscheidet, etwas vor, das sich unterscheidet – und doch unterscheidet sich das, wovon es sich unterscheidet, nicht von ihm.« 60 VOGL, 1992, S. 85f.

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›Schauplatz‹ / ›Theatrum‹ Es findet sich in ihm in Wahrheit weder in einem einzelnen Zeitpunkt Einfachheit noch in verschiedenen Zeitpunkten Identität. […] Der Vergleich mit dem Theater darf uns freilich nicht irre führen. Die einander folgenden Perzeptionen sind allein das, was den Geist ausmacht, während wir ganz und gar nichts von einem Schauplatz (engl. place) wissen, auf dem sich jene Szenen abspielten, oder von einem Material, aus dem dieser Schauplatz gezimmert wäre.«61

Konstituiert sich dieses ›Theater des Geistes‹ allein aus den Singularitäten, die wie von selbst auftreten, so beschreibt es einen unhaltbaren Ort auch insofern, als es den Vorstellungen von Raum und Zeit vorausgeht, die der Geist nach Hume anlässlich der Perzeptionen erst gewinnen kann.62 Wieder handelt es sich um einen Ort, an dem Wahrnehmbares überhaupt gegeben wird, wobei sich die Perzeptionen nicht in gänzlichem Durcheinander, sondern in loser Kontiguität oder Sukzession darbieten. Wie bei Buffon das ›Vorrathshaus‹ oder das ›Gefilde‹, beschreibt Humes ›Theater‹ ein »Reservoir«63 der »Indifferenz«64, das dem Geist gestattet, in einem unvernehmbaren und passiven Prozess erste Differenzen, Relationen und ferner auch Identitäten auszumachen.65 Dieser Vorstellung einer immanenten Genese ist es zuzuschreiben, dass Hume die Identität der Gegenstände und besonders auch »die Identität, die wir dem Geist des Menschen beilegen« als eine »fingierte« ausgibt, denn im Rekurs auf den natürliche Zustand des Geistes lässt sich »kein unveränderliches und ununterbrochenes Etwas« ausmachen:66 Das Theater der Perzeptionen gewährt und subvertiert die Identität, resp. die Trennung, von Geist und Gegenständen gleichermaßen. Nicht nur darin korrespondieren Buffons Ursprungsfiktionen mit Humes Analytik der Relationen. Beide ziehen sie die ursprünglichen Momente der 61 62 63 64 65

HUME, 1989, S. 327f. Ebd., S. 50-57. DELEUZE, Hume, 1997, S. 9. HUME, 1989, S. 173. Ebd., S. 99: »Wenn [zwei oder mehrere] Gegenstände und mit ihnen die zwischen ihnen bestehende Beziehung den Sinnen gegenwärtig sind, so nennen wir dies vielmehr eine Wahrnehmung als einen Denkvorgang. Eine Betätigung des Denkvermögens oder überhaupt eine Tätigkeit im eigentlichen Sinne findet in solchem Falle nicht statt. […] Halten wir dies fest, so dürfen wir keine unserer Beobachtungen betreffend die Identität und die Beziehungen von Zeit und Raum als Denkvorgang auffassen; denn der Geist kann bei keiner derselben über das hinausgehen, was den Sinnen unmittelbar gegenwärtig ist.« 66 Ebd., S. 330 und 355.

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menschlich-geistigen Tätigkeit aus dem bewussten, reflektierenden Subjekt ab und verlegen sie in eine Sinnlichkeit, wie sie über den theatralen Gestus des ›Vor-Augen-Stellens‹ zum Ausdruck gelangt. Dabei legt der radikale Empirismus ein Problem frei, das den Schauplatz als eigentlichen Ereignisraum zu erkennen gibt. Was Buffons Gedankenexperimente zu denken aufgeben, wird bei Hume theoretisch formuliert: Wie sollen aus bloßer Anschauung unabdingbare Vorstellungen von den Beziehungen der Perzeptionen untereinander entstehen? Wenn die Perzeptionen als singuläre zu gelten haben und sich im natürlichen Theater des Geistes nichts als solche exponieren, dann lassen sich keine Beziehungen darin begründen. Sie bleiben den Perzeptionen immer äußerlich.67 Den Atomismus des Sinnlichen trennt von den Assoziationen des Geistes eine irrationale Zäsur. Was in den Schauplätzen geschieht und ob überhaupt etwas geschieht, ist nicht vorauszusagen. Dahin deutet die Passivität, die Hume den ersten Synthesen des Geistes zuschreibt, sowie der ›natürliche‹ Anfang der Naturhistorie, der sich nach Buffon darin vollzieht, dass man vor den versammelten Dingen »absichtslos« sieht und den Geist wie »von selbst gehen« lässt.68 Die sinnliche Intuition, die damit angesprochen wird, lässt sich bereits bei Descartes am Problem des Leib-Seele-Verhältnisses ausmachen; sie unterläuft die rationalistische Trennung von Sehen und Denken69 und räumt eine Indifferenz ein, die nicht zuletzt auch die Seinsweise der in den ›Gefilden‹, ›Schauplätzen‹ und ›Theatern‹ präsentierten Elemente betrifft. Auch sie markieren einen Übergang: denjenigen zwischen Erscheinen und Bedeuten. Denn der allseitige Gestus des ›Vor-Augen-Stellens‹ geht nicht nur auf die Sinne, er soll gleichzeitig die Möglichkeit gewähren, zu einer intelligiblen Übersicht zu gelangen, d. h. zu relationierenden Vorstellungen (Hume), zu einem Wissen von der Systematik der Natur (Buffon). In einem der meist gedruckten und übersetzten Einführungswerke zur Naturgeschichte, dem Schau-Platz der Natur von Noël-Antoine Pluche heißt es in der deutschen Vorrede zunächst: »Die Bedeutung dieses Wortes [Schauplatz] gehet allein auf das äusserliche, oder auf das, was in die Sinne fällt […]. Wir 67 DELEUZE, Hume, 1997, S. 103, formuliert diese Frage bei Hume für das Subjekt: »Wie kann sich im Gegebenen ein Subjekt so konstituieren, daß es über das Gegebene hinausgeht?« Dieses Problem umschreibt für Deleuze den eigentlichen »Kern des Empirismus«. 68 BUFFON, 1837, S. 82f. 69 WIRZ, 2009.

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haben alle miteinander das Vergnügen den Anblick und das äussere der Natur zu geniessen, dieses ist ein Schauplatz für uns.«70 Damit wird der Titel nur zur Hälfte erfasst. Denn es handelt es sich bei dem Kompendium, wie weiter ausgeführt wird, gleichzeitig um einen Auszug aus dem »Buch der Natur«. Neben der schriftlichen Darstellung der Gegenstände gelangt damit die Vorstellung einer anderen, unkonventionellen Schrift ins Spiel, die in erster Linie die unmittelbaren, natürlichen Erscheinungen betrifft. Das Verhältnis von Schauplatz-Buch und natürlichen Schauplätzen lässt sich von daher als chiastisches bestimmen, in dem die grundlegenden Charakteristika der vorgeführten Dinge – Sinnlichkeit und Lesbarkeit71 – in gegenläufiger Weise zur Geltung gelangen. Während in den natürlichen Schauplätzen die Dinge erscheinen und in ihrem Schriftcharakter gleichsam über sich als Erscheinende hinausweisen, bedienen sich die Schauplätze in Buchform bestimmter rhetorischer Verfahren, um ihrerseits die schriftlich vorgestellten Gegenstände wiederum als Erscheinungen auszugeben: Sie finden sich bei Quintilian unter der Sinnfigur der evidentia (hypotýposis, enárgeia) ausgeführt, die er im Gefolge Ciceros auch als sub oculos subiectio, als »Unmittelbar-vor-Augen-Stellen« bezeichnet.72 Die evidentia unterscheidet sich nach Quintilian von der perspicuitas, der Durchsicht, darin, dass sie die Dinge nicht nur klar zur Darstellung bringt, sondern sie darüber hinaus in einer anschaulicher Weise vergegenwärtigt, »als sähe man sie deutlich vor sich«, resp. »vor dem geistigen Auge«, wie er auch schreibt.73 Das kann unter anderem darin geschehen, dass man »gewissermaßen mit Worten ein Gesamtbild der Dinge abzeichne[t]«,74 oder, wie Lausberg zusammenfasst, mittels »lebhaft-detaillierter Schilderung […] durch Aufzählung […] sinnenfälliger Einzelheiten«.75 Solche Verfahren lassen sich in vielen mit ›Schauplatz‹ und ›Theatrum‹ betitelten Büchern ausmachen,76 besonders wenn die Gegenstände und Begebenheiten nicht tabellarisch notiert, sondern in

70 PLUCHE, 1760, Vorrede (s.p.). 71 Vgl. FRIEDRICH, 2004, S. 299ff. 72 QUINTILIAN, 1975, S. 287 (IX 2, 40); CICERO, 2001, S. 572f.: »Es macht großen Eindruck bei einer Sache zu verweilen, die Dinge anschaulich auszumalen und fast so vor Augen zu führen (lat. sub aspectum paene subiectio), als trügen sie sich wirklich zu.« – Vgl. GRODDECK, 1995, S. 189f. 73 QUINTILIAN, 1975, S. 177 (VIII 3, 61f.). 74 Ebd., S. 177 (VIII 3, 63). 75 LAUSBERG, 1960, S. 399. 76 MÜLLER, 2007, S. 67f.; KIRCHNER, 1985, S. 136.

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Schilderungen und Beschreibungen vorgestellt werden.77 Sie zeichnen sich auch am abwechslungsreichen Stil von Buffons naturhistorischen Artikeln zu den einzelnen Tierarten ab, sowie an seinem Anliegen einer möglichst vollständigen Beschreibung.78 Letztere soll laut Buffon »ohne Gedanken an ein System« erfolgen, da sie sonst »nicht mehr den Charakter der Wahrheit« habe.79 Verstellt die ›Künstlichkeit‹ der Systeme die Dinge in ihrer empirischen Unmittelbarkeit, so korrespondiert die ausgiebige Schilderung von Befunden mit den Vorgaben der ›natürlichen Methode‹ und der Gedankenexperimente, nach denen die unbedingte Herangehensweise die Voraussetzung zu einer natürlichen Einteilung bildet. Die Rede von der Wahrheit der ›evidenten‹, extensiven Beschreibungen orientiert sich also an jenem minimalen Raum zwischen den beiden Klippen naturhistorischen Wissens, an jener unhaltbaren Stelle der Konvenienz der Dinge, an der auch die Schauplätze zu situieren sind.80 Entsprechend kann das ›Vor-Augen-Stellen‹ als Figur eines mehrfachen Übergangs gehandelt werden:81 zwischen der konventionell-sprachlichen Darstellung und dem Quasi-Erscheinen der Dinge; zwischen ihrem Erscheinen und 77 Vor allem in erbaulichen, resp. der Abschreckung und Warnung dienenden Titeln aus dem 17. Jahrhundert, wie: Schau-Platz der Betrieger 1687; Neu-auffgeführter Schau-Platz gestürzten Monarchen, 1693; HARSDÖRFFER, 1649: Der grosse Schauplatz jämerlicher Mordgeschichte. 78 BUFFON, 1837, S. 96f. 79 Ebd., S. 94. – Übersetzung modifiziert, T.F. 80 Solch ›evidente‹ Beschreibungen können im 18. Jh. nicht nur epistemisch, sondern auch historisch als epochal gelten. Rüdiger Campe bezeichnet die Zeit zwischen Mitte des 17. und Ende des 18. Jahrhunderts als epistemologische »Epoche der Evidenz, in der die Evidenz in Frage stand«, gerade weil die »Evidenzen knapp« und problematisch wurden – was sich bei Buffon an der prekären Situierung des rhetorischen und zugleich ›wahrhaftigen‹ Verfahrens des ›Vor-Augen-Stellens‹ zwischen Wissen und Nicht-Wissen abzeichnet; vgl. CAMPE, 2006, S. 26f. 81 CAMPE, 1997. In seiner einschlägigen Lektüre antiker und spätaufklärerischer Schriften zur Rhetorik deutet Campe das ›Vor-Augen-Stellen‹ als eine »Metafigur der Rhetorik«, die vor allem auch Übergänge figuriert: zwischen dem »Gesetz der Struktur und seine[r] Aktualisierung«, zwischen Grammatik und Rhetorik (ebd., S. 208f.), aber auch zwischen Erzählung, Drama und Rede (ebd., S. 216, 219f.), wobei die Richtung der Übergehens nicht bestimmt ist, wie Campe bei Aristoteles bemerkt: »Das Vor-Augen präsentiert […] das Bild oder auch die Sache selbst ohne ausdrückliche Rückbindung an Erkenntnis« und kommt ohne logische Werte aus, wie »das Ähnliche, das Identische, das Eigentliche«, über welche die Metapher bei Aristoteles beschrieben wird (ebd., S. 213). – Das (partielle) Fehlen solcher Werte spielt auch bei Buffons Beschreibungen mit und artikuliert sich besonders an den ›Gefilden‹ oder ›Schauplätzen‹: an Orten des Übergangs, an denen solche Werte gerade gewonnen werden können.

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›Schauplatz‹ / ›Theatrum‹

einer anderen, ›natürlichen‹ Lesbarkeit, die sich an derjenigen des ›Buches der Natur‹ orientiert, und schließlich zwischen einer quasi unverstellten Wahrnehmung der Dinge und einem Wissen von ihnen. Auch wenn Buffon dabei das natürliche System im Blick hat, so kann diese Lesbarkeit der Erscheinungen als universale gelten: Der Naturalismus der naturhistorischen Wissensgenese artikuliert sich auch bei Pluche, in seinen Ausführungen zum ›Buch der Natur‹, von dem es heißt, dass es die »Wissenschaften in sich begreifet und […] von jedermann ohne Unterschied der Sprache verstanden wird.«82 Wenn dieses Buch – dessen Auszug der Schau-Platz ist – jedoch in jeder Sprache, und d. h. auch unabhängig von einer bestimmten Sprache gelesen werden kann, dann orientieren sich mithin auch die Darstellungsverfahren des Schau-Platzes an einem anderen Sprechen, einem Sprechen vor jeder Sprache: Die im Rahmen der Unterredungen ›vor Augen gestellten‹ Dinge geben immer auch nichts Bestimmtes zu verstehen; ihnen kommt als Deutbarkeiten ohne bestimmte Bedeutung gleichsam reiner Schriftcharakter zu. Die sich derart im Schauplatz präsentierenden Dinge können mit einer Formulierung aus Walter Benjamins Trauerspiel-Buch auch als »hochbedeutend« bezeichnet werden, was der Seinsweise einer »irren Extase« entspricht.83 Damit wird der Schriftcharakter der Dinge im Rahmen der barocken Allegorese bezeichnet, von der Benjamin schreibt: »Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis kann ein beliebiges anderes bedeuten«, wobei der Akzent auf die Modalität der Möglichkeit zu legen ist.84 Auch Benjamin versteht den Schauplatz der barocken Dramen nicht nur als Ort einer Handlung, sondern als eine gewissermaßen ›prähistorische‹ Figur, welche er im Zusammenhang einer barocken Zerstückelung und Rückübersetzung von zeitlich-historischen Elementen in eine »räumliche Uneigentlichkeit und Simultaneität« auslegt und als »Synthese heterogenster Elemente« umschreibt.85 Erscheinen die Bruchstücke unter dem Blick des Allegorikers als unkonventionelle, »erregende Schrift«, so handelt es sich gleichsam um unbestimmt bedeutende.86 Im Rahmen einer solch unbedingten Möglichkeit der Deutung lässt sich eine andere Lektüre der ›vor Augen gestellten‹ Elemente letztlich nicht rekonstruieren. Als Zufall oder Ereignis wird sie sich immer schon vollzogen haben, 82 83 84 85 86

PLUCHE, 1760, Vorrede (s.p.). BENJAMIN, 1991, S. 354, 398 und 327. Ebd., S. 350. Ebd., S. 270f. und 260; s. a. S. 353 und 355. Ebd., S. 352.

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womit der Schauplatz nicht nur als Möglichkeitsraum, sondern als eigentlicher Ereignisraum gehandelt werden kann. Entsprechend ist, was unter Titeln wie Schau-Platz der Betrieger oder Täglicher Schau-Platz der Zeit an Geschichten und historischen Begebenheiten vorgestellt wird, nicht als »Schaustellung eines Begriffs« zu verstehen, der durch Muster oder Aufzählungen »sinnlich erfüllt werden soll«,87 zumal ein Begriff, so wie er durch den Ausdruck im Titel bedeutet wird, gerade aussteht.88 Das zeichnet sich auch bei Pluche ab, wenn es in der Vorrede heißt: »Wir sind nicht von allgemeinen Begriffen auf die besonderen gekommen«, vielmehr hätten die präsentierten Dinge zunächst »eine Sprache, damit sie uns anreden, und zwar nur alleine«.89 Handelt es sich dabei um die Sprache des ›Buches der Natur‹, so geben die vorgestellten Dinge und Begebenheiten gleichsam den Schauplatz vor, auf dem man, sobald das Kompendium analog zum Theatervorhang geöffnet wird, ohne Weiteres zu Begriffen gelangen kann – wobei die Begriffe ihre Prägung stets von neuem durch die jeweilige (Be-)Deutung der Elemente erfahren werden.

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87 KIRCHNER, 1985, S. 137. 88 Im Schau-Platz der Betrieger heißt es, bevor vom abschreckenden Nutzen und ferner von der Ergötzung durch die Geschichten die Rede ist: »In diesem Buch/ günstiger Leser/ wird man von allerhand list- und lustigen Hand-Griffen solcher verübter Diebereyen eine ganzte Menge finden, überdem siehet derselbe auch hieselbst abgehandelt mancherley listige Stricke/ die sich in vielen andern Begebenheiten eräugnet haben/ also dass man hier aus wohl erkennen mag/ welcher Gestalt die Welt itzo im argen/ insonderheit aber im Betrug und List ersoffen ist.« (SchauPlatz der Betrieger, 1687, Vorrede (s.p.); Hervorhebung T.F.) – Ähnlich auch: ZIGLER UND KLIPHAUSEN, 1709: Es handelt sich um ein polyhistorisches Werk, in dem die dargestellten Begebenheiten nach Kalendertagen geordnet sind, an denen sie jeweils stattgefunden haben. Die Übertragung aus der zeitlichen Sukzessivität der Chroniken in die Konvenienz des kalendarischen Raums setzt die Bruchstücke gleichsam einer anderen Deutbarkeit aus, die dem jeweiligen Kalendertag gilt, unter dem sie versammelt sind. 89 PLUCHE, 1760, Vorrede (s.p.).

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Raum – Zeit – Fluss Das Zeitfluss-Festival als dynamischer Unort CONSTANZE SCHULER

I

Einleitung

Die Geschichte des Salzburger Zeitfluss-Festivals beginnt, so will es zumindest die ›Überlieferung‹,1 mit dem Bild einer Fähre. 1989 verkehrte auf der Salzach, zwischen linker Altstadt und Festspielbezirk auf der einen und der Neustadt auf der anderen Seite, eine Fähre: »Während der zweieinhalb Minuten, die für die Überfahrt benötigt wurden, erklang zeitgenössische Musik. Werke von unbekannten jungen Komponisten gab es da zu hören, aber auch solche von Größen wie dem Deutschen Dieter Schnebel oder dem Wahl-Österreicher Roman Haubenstock-Ramati. Selbst Meister Stockhausen gab sich die Ehre [...].«2

Die beiden Musiker Markus Hinterhäuser und Tomas Zierhofer-Kin versuchten, mit dieser Aktion ein Zeichen gegen die verkrusteten Strukturen und Konventionen der etablierten Salzburger Festspiele zu setzen und ein »anderes Publikum für andere Musik zu gewinnen«.3 Das Bild der Fähre ist in diesem Kontext beziehungsreich: Die Fähre ermöglicht den Aufbruch zu neuen Ufern und markiert, in Anlehnung an mythische Metaphern, eine Phase des Über-

1 2 3

Vgl. hierzu HAGMANN, 2001. Ebd., S. 150. Ebd.

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Constanze Schuler

gangs. Langsam aber kontinuierlich arbeitet sie dem Stillstand entgegen, indem sie sich dem Strom aussetzt und gleichzeitig gegen den Strom anschwimmt. Auch räumlich gesehen ist das Transportmittel ›Fähre‹ ein interessantes Modell, »[...] wenn man bedenkt, dass Schiffe letztlich ein Stück schwimmenden Raumes sind, Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert«,4 wie Michel Foucault in seinem Essay Von anderen Räumen schreibt. Was Foucault für das Schiff beschreibt, kann in ähnlicher Weise auch für die Fähre gelten: Sie ist eine »Heterotopie par excellence«.5 Im Zusammenhang mit der Vorgeschichte des Zeitfluss-Festivals ist die Fähre zweifellos als ›Gegenort‹, als realisierte Utopie zu verstehen: Sie positioniert sich quer zu den etablierten Festspielgebäuden, zum traditionellen Festspielgeschehen, zum ›mozartseligen‹ Musikgeschmack und Konzertprogramm der Festspiele. Als ›Gegenort‹ befindet sie sich in einer Sphäre des ›Dazwischen‹, in der prinzipiell alles denkbar scheint: Hörgewohnheiten und -rituale können neu definiert werden, eingefahrene Wahrnehmungsmuster lassen sich verschieben, neue Erfahrungen im Umgang mit Neuer Musik sind – sozusagen en passant – möglich. Gerade weil sich die Fähre mit Marc Augé auch als ›Transitort‹, als eine »durch konstante Bewegung und Fluidität gekennzeichnete Sphäre« beschreiben lässt,6 eröffnet sie aufgrund fehlender identifikationsstiftender Bezugsgrößen Zukunftsperspektiven im Hinblick auf ästhetische Wahrnehmungsmöglichkeiten jenseits festgefügter Konventionen oder historischer Normen. Anknüpfend an diese erste erfolgreiche Aktion gelang es Hinterhäuser und Zierhofer-Kin in den folgenden Jahren, wichtige Entscheidungsträger der Salzburger Festspiele von der Idee zu überzeugen, ein Festival für die Aufführung zeitgenössischer Musik ins Leben zu rufen und in »unabhängiger Zusammenarbeit«7 mit den Salzburger Festspielen durchzuführen. 1993 fand unter dem Titel Luigi Nono und die Ästhetik des Widerstands die erste Veranstaltungsreihe des neu gegründeten Zeitfluss-Festivals statt. Unter wechselnden Schwerpunkten (1995: Gesänge von der Notwendigkeit des Überlebens; 1997: Endspiel... ; 1999: Theater der Klänge; 2001: Zeitfluss 2001) wurde das »Festival

4 5 6 7

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FOUCAULT, 2006, S. 327. Ebd. Vgl. die Einleitung zu diesem Band, S. 17. Im Hinblick auf die Programmplanung sollten Hinterhäuser und Zierhofer-Kin freie Hand haben, in finanzieller wie infrastruktureller Hinsicht konnten sie auf die Unterstützung der Salzburger Festspiele zählen. Vgl. HAGMANN, 2001, S. 151.

Raum – Zeit – Fluss

im Festival«8 von 1993 bis 2001 in zweijährigem Turnus veranstaltet und stieß bei Rezensenten wie Publikum auf großes Interesse. Die Zeitfluss-Organisatoren hatten es sich dabei auch zur Aufgabe gemacht, »bestimmte Musik für einen bestimmten Raum und, umgekehrt, einen Raum für eine bestimmte Musik«9 zu finden. Insbesondere die Salzburger Kollegienkirche erwies sich in diesem Zusammenhang immer wieder als idealer Aufführungsort, der die Voraussetzungen für eine spezifische Kongruenz zwischen Musik und räumlichen Strukturen schuf. Im Zusammenspiel mit zeitgenössischer Musik und Aufführungspraxis entpuppte sich die Kollegienkirche nicht als starres architektonisches ›(Klang-)Gefäß‹, sondern als Ort vielfältig interpretierbarer, dynamischer Raumsituationen. So beschreibt Elfriede Jelinek ihre Erinnerung an ein Konzert der Zeitfluss-Reihe in der Salzburger Kollegienkirche denn auch als verwirrend vielschichtiges Raumerlebnis: »[D]er Raum, der dadurch entsteht, dass man hörend herumgestoßen wird, um sich in ihm zurechtzufinden, ist vielleicht gar nicht der einzige, den es gibt«.10 Im ästhetischen Erlebnis scheint es also möglich, den Blick zwischen ›Ort‹ und ›Unort‹ (nach der de Certeau’schen Differenzierung von ›espace‹ und ›lieu‹ verstanden als raumkonstituierende Handlung, die sich von ihren physikalischen Gegebenheiten emanzipiert hat)11 oszillieren zu lassen und so gleichzeitig unterschiedliche Facetten von Raum wahrzunehmen. Die dadurch erzeugte produktive Form der Verunsicherung, wie sie Jelinek beschreibt, kann ein wichtiger Faktor des ästhetischen Erlebens sein und ermöglicht – so meine These – eine besondere Form der rezeptiven Aufmerksamkeit, die mit dem ›Unort‹ als ästhetischer Kategorie verknüpft ist. An zwei ausgewählten Aufführungsbeispielen aus der Zeitfluss-Reihe der Jahre 1993 und 1997, Luigi Nonos Prometeo und Morton Feldmans MonoOper Neither in der Salzburger Kollegienkirche, soll der Weg skizziert werden, den das Zeitfluss-Festival auf der Suche nach der »Veränderung der Wahrnehmung, der Parameter von Raum und Zeit«12 im Medium der Neuen Musik eingeschlagen hat. Dies ist jedoch nicht möglich, ohne die unterschiedlichen – durch die Geschichte der Salzburger Festspiele und den Aufführungsort Kollegienkirche bedingten – räumlichen und symbolischen ›Rahmungen‹ zu berücksichtigen, die den Ausgangspunkt und die Bezugsfolie für meine 8 9 10 11 12

Ebd., S. 149. D IE Z EIT vom 22.8.1997. JELINEK, 1995, S. 66. Vgl. die Einleitung zu diesem Band, S. 9-11. HINTERHÄUSER, 1993, S. 8.

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Überlegungen zur ästhetischen Produktivität des Konzepts vom ›Unort‹ bilden werden.

II

Das Fest als ›Ort des Anderen‹

Das Zeitfluss-Festival ist ohne den Bezugsrahmen der Salzburger Festspiele und ihrer Geschichte kaum denkbar und entfaltet sein ›gegenräumliches‹ Potenzial nur in der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der ›großen Festspiel-Schwester‹. Gleichzeitig kann das wesentlich jüngere Festival zeitgenössischer Musik aber auch auf viele Errungenschaften der etablierten Salzburger Festspiele zurückgreifen. Bei genauerem Hinsehen fällt insbesondere auf, dass sich das Verständnis davon, was Festspiele leisten sollen und können, seit jeher immer auch in räumlichen Parametern artikuliert hat und oft im Zusammenhang mit (geschichtlichen) Umbruchsphasen steht. Der Aspekt des ›Unörtlichen‹ zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die Festspielgeschichte. Dies mag zunächst paradox klingen, führen die Festspiele doch den Festspielort Salzburg prominent im Namen und verweisen damit auf einen geographisch genau bestimmbaren Ort. Auf den zweiten Blick entpuppt sich ›Salzburg‹ jedoch als Synonym für eine Positionsbestimmung, die vor allem auf die programmatisch-ideologischen Koordinaten der Festspiele verweist. Die Gründung der Salzburger Festspiele fällt in eine Zeit ausgeprägter, durch den Ersten Weltkrieg offensichtlich gewordener Krisen und Veränderungen.13 Der Zusammenbruch der Donaumonarchie hatte für die neue Republik Deutsch-Österreich einschneidende Folgen: Die Landesgrenzen wurden beschnitten, die wirtschaftlich-ökonomische Situation war mehr als desolat und die Frage nach der nationalen Identität ungeklärt. Die Salzburger Festspiele werden in diesem Zusammenhang zu einem Projekt nationaler Neudefinition und Umstrukturierung.14 Rückbezug auf die Tradition, auf das ›österreichische Kulturerbe‹ sowie eine Neuorientierung im Hinblick auf die Zukunft sind die Pole zwischen denen sich die programmatischen Äußerungen Hugo von Hofmannsthals und Max Reinhardts bewegen. Im Zentrum der Festspielkonzeption steht – wie bei anderen Festspielgründungen vor und nach

13 In weiten Teilen orientiere ich mich hier und im Folgenden an meiner Dissertation, vgl. SCHULER, 2007, insbesondere Kap. 5 und Kap. 11. 14 Vgl. hierzu auch STEINBERG, 2000, S. 8ff.

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Raum – Zeit – Fluss

1900 auch – die Idee vom ›Theater als Fest‹. Max Reinhardt schreibt diesbezüglich: »Das Festtägliche, Feiertägliche, Einmalige, das alle Kunst hat und das auch das Theater zur Zeit der Antike hatte und auch zur Zeit, da es noch in der Wiege der katholischen Kirche lag, das muß dem Theater wiedergegeben werden.«15

Die Idee vom Theater als Fest verweist in die Vergangenheit und knüpft zunächst an das antike Theater, an die festlich begangenen, mehrtägigen Dionysien an. Aber auch das mittelalterliche Theater mit seinen Mysterien- und Passionsspielen, die sich in engem Wechselbezug zum kirchlich-liturgischen Ritus artikulieren, wird zu einer wichtigen Inspirationsquelle Reinhardts. Der Rückgriff auf die cultural performance des Festes sichert dem Theater und damit den Festspielen eine Bedeutung zu, die über eine mehr oder minder beliebige Aneinanderreihung künstlerischer Einzelveranstaltungen weit hinausgeht. Das Fest kann – mit Jan Assmann gesprochen – als »ein Medium oder ein ›Ort‹ kultureller Erinnerung«16 verstanden werden, trägt zur Vergegenwärtigung und Zirkulation des kulturellen Sinnvorrats einer Gesellschaft bei und stärkt so die Gruppenidentität. Das Fest ist darüber hinaus durch sein spezifisches Verhältnis zum Alltag gekennzeichnet, das sich auch in räumlichen Parametern artikuliert: »Das Fest ist der Ort des Anderen. Das ›Andere‹ ist dabei verstanden als das Andere des Alltags, der Inbegriff all dessen, was eine Kultur im Interesse ihres alltäglichen Funktionierens ausblenden muß. Die These ist, daß eine Kultur mehr Sinn produziert, als sie im Alltag gebrauchen kann, oder, anders gewendet, daß der Mensch auf mehr Sinn angewiesen ist, als es für die Bewältigung des Alltags nötig, ja förderlich ist. Der Mensch ist darauf angelegt, in zwei Welten zu leben. Das Leben kann im Alltag nicht aufgehen. Es muß Orte schaffen für das Andere des Alltags, das im Alltag ausgeblendete.«17

Das Fest kann somit zunächst mit Michel Foucault als eine Heterotopie verstanden werden: »Neben den auf die Akkumulation der Zeit ausgerichteten Heterotopien gibt es auch solche, die mit den flüchtigsten, vergänglichsten, 15 Zit. nach FETTING, 1989, S. 224. 16 ASSMANN, 1991, S. 13. 17 Ebd.

211

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prekärsten Aspekten der Zeit verbunden sind, und zwar in Gestalt des Festes.«18 Die schmerzhaften Einschnitte und Erfahrungen des Ersten Weltkriegs sollen im Festspiel, das innerhalb eines begrenzten, besonderen Zeitraumes jenseits des Alltäglichen stattfindet, kompensiert werden. Als Festspielstadt soll Salzburg, so Max Reinhardt, »ein Wallfahrtsort [...] werden für die zahllosen Menschen, die sich aus dem blutigen Greuel dieser Zeit nach den Erlösungen der Kunst sehnen«.19 Die Krisenerfahrung formuliert sich damit ganz deutlich in raum-zeitlichen Parametern: Die Festspielstadt Salzburg kann – unter Auslassung der unmittelbaren Vergangenheit und im Rückgriff auf ältere Traditionslinien –20 durch kulturelle Praktiken handelnd ›überschrieben‹ werden und somit zum identitätsstiftenden ›Ort des Anderen‹, zur ›Kulturinsel‹ werden. Damit lassen sich (nicht nur die Salzburger) Festspiele auch als eine Art ›liminaler Zwischenraum‹ beschreiben. Oder, wie es Jürgen Kühnel allgemeiner formuliert: Festspiele »[...] entwerfen in Situationen ›historischer Liminalität‹, utopisch oder konservativ, Gegenmodelle zu den sich abzeichnenden Tendenzen geschichtlicher und gesellschaftlicher Entwicklung«.21 Als ›Wallfahrtsort‹ wird der Stadt Salzburg von Max Reinhardt die Aura des Heiligen, Sakralen, Weihevollen zugesprochen, durch die sie sich vom Profanen und Alltäglichen abgrenzen soll. Damit lösen sich die festspielprogrammatischen Beschreibungen, die in Bezug auf den geographisch genau bestimmbaren Ort Salzburg vorgenommen werden, zunehmend von der realen Topographie. Es wird eine Art ›Bedeutungs-Geographie‹22 evoziert, die im Folgenden eingehender betrachtet werden soll.

III Ansätze zu einer ›Bedeutungs-Geographie‹ Die Früh- und Planungsphase der Salzburger Festspiele ist durch eine intensive geographische wie ideologisch-programmatische Standortsuche gekennzeichnet. Es liegt auf der Hand, dass ein Festspielprojekt zunächst einen geeigneten Ort sowie funktionale wie repräsentative Spielstätten benötigt, um Festspiele 18 FOUCAULT, 2006, S. 325. 19 Zit. nach FETTING, 1989, S. 222. 20 Bei den Salzburger Festspielen wird insbesondere auf weltanschauliche Aspekte und ästhetische Wirkungsprinzipien des Barock zurückgegriffen, vgl. hierzu STEINBERG, 2000 und SCHULER, 2008. 21 KÜHNEL, 1996, S. 176. 22 DE CERTEAU, 1988, S. 200.

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realisieren zu können und entsprechendes Publikum anzuziehen. Nicht selten ist bereits die Standortsuche ein zentraler Teil der künftigen Programmatik und damit auch immer ideologisch überformt. Eine in vielen Schriften zur geplanten Festspielgründung wiederkehrende Formel ist der Topos von Salzburg als der ›geographischen Mitte‹ Europas.23 Hugo von Hofmannsthal weist den geplanten Festspielen in Salzburg unmissverständlich die Funktion einer kulturellen Vermittlungsinstitution mit integrativer Kraft zu: »Das Salzburger Land ist das Herz vom Herzen Europas. Es liegt halbwegs zwischen der Schweiz und den slawischen Ländern, halbwegs zwischen dem südlichen Deutschland und dem lombardischen Italien; es liegt in der Mitte zwischen Süd und Nord, zwischen Berg und Ebene, zwischen dem Heroischen und Idyllischen; es liegt als Bauwerk zwischen dem Städtischen und Ländlichen, dem Uralten und Neuzeitlichen, dem barocken Fürstlichen und dem lieblich ewig Bäuerlichen [...].«24

Im Kontext einer idealisierten Topographie bzw. ›mythischen Geographie‹ wird Salzburg – nach den territorialen Wirren in der Folge des Ersten Weltkriegs – zum Mittel- und Angelpunkt Europas sowie zum Bindeglied zwischen Tradition und Aufbruch stilisiert. Die rhetorische Formel von der ›geographischen Mitte Europas‹ findet sich auch in anderen Festspielentwürfen; so eröffnet z. B. noch Nike Wagner ihr 1999 erschienenes Buch Wagner Theater mit dem Hinweis, dass Bayreuth vor dem Zweiten Weltkrieg in der geographischen Mitte Deutschlands und Europas gelegen habe und attestiert Bayreuth, auch heute noch im »Fadenkreuz zwischen München und Berlin, zwischen Paris und Prag«25 zu liegen. Ein bisschen Mitte ist also immer. Auch in der Wahl der Spielstätten und ihrer möglichen Standorte versucht man sich – nun auch im Hinblick auf die ›vertikale‹ Ausrichtung – der ›axis mundi‹26 soweit als möglich anzunähern: Dem Schriftsteller und Journalisten 23 So macht z. B. Hermann Bahr schon im Titel seines Essays Die Hauptstadt von Europa: eine Phantasie in Salzburg unmissverständlich deutlich, wie er Salzburg im kulturellen Bedeutungsgefüge verortet wissen möchte. Vgl. BAHR, 1912. 24 HOFMANNSTHAL [1919], 1979, S. 261. 25 WAGNER, 1999, S. 7. 26 Die ›axis mundi‹, die ›Weltachse‹ oder ›Himmelsachse‹, ist Mircea Eliade zufolge ein beliebtes Bild im Zusammenhang mit der Etablierung heiliger, sakraler Orte, um eine Verbindung zwischen Himmel und Erde anzudeuten und damit eine Begegnung mit dem Göttlichen zu ermöglichen. Vgl. ELIADE, 1957, S.16.

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Joseph Anton Lux schwebt ein Festspielhaus vor, das sich in Ort und Lage am Vorbild der Kirche und ihren Wallfahrtsorten orientiert, »abgerückt vom profanen Treiben der Märkte«.27 Friedrich Gehmacher und Heinrich Damisch, die sich bereits seit 1915 für die Gründung von Festspielen in Salzburg einsetzten, liebäugelten mit dem Gedanken, unterhalb von Maria Plain, dem wichtigsten Wallfahrtsort nahe Salzburg, ein Festspielhaus zu errichten. Während der spektakuläre Entwurf von Hans Poelzig für eine Festspielanlage außerhalb des Stadtzentrums in Hellbrunn Utopie bleiben muss und – u. a. aus finanziellen Gründen – nicht realisiert wird, wird aus der ›Notlösung‹ des Jedermann vor dem Salzburger Dom einer der größten und langlebigsten Publikumsmagnete der Festspiele. 1922 versucht Max Reinhardt mit der Uraufführung des Salzburger Großen Welttheaters in der Salzburger Kollegienkirche an den Erfolg des Jedermann anzuknüpfen und nutzt dabei erneut das sakrale Ambiente und Bedeutungsgefüge für theatrale Zwecke. Nach 1923 wird der Bau eines Festspielhauses energisch vorangetrieben28 und es etabliert sich der Gedanke eines sog. ›Festspielbezirkes‹, der die wichtigsten säkularen, kulturellen und religiösen Eckpunkte Salzburgs – vom Dom über die Kollegienkirche, den Hofreitschulkomplex und die sog. Pferdeschwemme bis hin zum Neutor – miteinander verbinden soll. Die gesamte Stadt soll – gemäß der barocken Idee vom Welttheater – zur Bühne und zum ›Altar‹ werden, auf dem sich die Wandlung des ›Alltagsmenschen‹ in einen ›Festtagsmenschen‹ vollziehen kann. Es bildet sich eine mit dem Sakralen eng verknüpfte Theatertopographie, eine Art ›kultureller Identifikationsraum‹ heraus, der an der orientierungsgebenden Kraft religiöser Symbole partizipiert. Es entsteht eine »seltsame Toponymie, die von den Orten abgelöst ist und über der Stadt wie eine ›Bedeutungs-Geographie‹ in den Wolken schwebt«,29 wie de Certeau schreibt. Die Kirche als Modell, Symbol und Gebäude wirkt dabei wie ein vertrautes, narratives Muster, das im katholischen Salzburg das Leben der Bevölkerung strukturiert, indem es signifikante Eckpunkte einer ›inneren Karthographie‹ markiert und somit die Raumvorstellungen ihrer Bewohner (aber auch der Besucher der Stadt) nachhaltig prägt. Die Festspiele versuchen, sich in eben diese Bedeutungsgeographie einzuschreiben, und knüpfen damit an ein bereits bestehendes Orientierungsnetz an, das 27 LUX, 1918, S. 20 28 Grund hierfür sind u. a. die antisemitisch motivierten Proteste aus der Bevölkerung gegen die Nutzung der Kirche durch Max Reinhardt und sein Schauspielensemble. Vgl. hierzu FUHRICH/PROSSNITZ, 1990, S. 48. 29 DE CERTEAU, 1988, S. 200.

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dennoch letztlich ›unörtlich‹ bleibt und – mit Ernst Cassirer gesprochen – unverkennbar ›mythische‹ Qualitäten besitzt: »Was hier gesucht und was hier festgehalten wird – das sind nicht geometrische Bestimmungen, noch sind es physikalische ›Eigenschaften‹; es sind bestimmte magische Züge. Heiligkeit oder Unheiligkeit, Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit, Segen oder Fluch, Vertrautheit oder Fremdheit, Glücksverheißung oder drohende Gefahr – das sind die Merkmale, nach denen der Mythos die Orte im Raume gegeneinander absondert und nach denen er die Richtungen im Raume unterscheidet. Jeder Ort steht hier in einer eigentümlichen Atmosphäre und bildet gewissermaßen einen eigenen magisch-mythischen Dunstkreis um sich her: denn er ist nur dadurch, daß an ihm bestimmte Wirkungen haften, daß Heil oder Unheil, göttliche oder dämonische Kräfte von ihm ausgehen.«30

Das Kirchengebäude kann in diesem Kontext als »Repräsentant des mythischen Raumes«31 schlechthin gelten und die wiederholte Nutzung sakraler Spielstätten im Rahmen der Salzburger Festspiele wird somit zum bedeutungstragenden Element.

IV Die Kollegienkirche als Aufführungs-(un-)ort Die Nutzung der Salzburger Kollegienkirche im Rahmen des ZeitflussFestivals geschieht nicht voraussetzungslos, sondern kann auf eine Reihe von Vorgängerinszenierungen zurückblicken: Mit der bereits erwähnten Uraufführung des Salzburger Großen Welttheaters in der Kollegienkirche etablierte Max Reinhardt 1922 die sakrale Spielstätte, die dann bis in die Gegenwart immer wieder als Aufführungsort für Festspielinszenierungen genutzt wurde. 1969 brachte Herbert Graf dort eine vielbeachtete Inszenierung der Rappresentatione di Anima e di Corpo von Emilio de’ Cavalieri heraus. 1987 erregte George Taboris szenische Umsetzung des Oratoriums Das Buch mit sieben Siegeln von Franz Schmidt einen beispiellosen Skandal in der Geschichte der Festspiele und wurde nach der Premiere abgesetzt.32 Der Skandal bewog die Kirche dazu, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und den Kirchenraum 30 SOEFFNER, 2000, S. 146. 31 Ebd. 32 Ausführlicher zu diesen Inszenierungen vgl. SCHULER, 2007.

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nicht mehr für szenische Festspielaufführungen zur Verfügung zu stellen. In einem sehr vordergründigen Sinne wird die Kollegienkirche damit zunächst zu einem veritablen ›Aufführungs-Unort‹. Inwiefern kann man aber vom Kirchenraum ohnehin als einem ›Unort‹ sprechen? Ein kurzer Blick auf das hier behandelte Beispiel ›Kollegienkirche‹ mag genügen. Hans-Georg Soeffner bringt sein Verständnis von der Bedeutung christlicher Sakralbauten in unserer Zeit auf den Punkt: »[S]olange Kirchenbauten als Sakralbauten, als Statthalter der Transzendenz, entworfen sind, signalisieren sie trotz aller Unterschiedlichkeit der Entwürfe und Ausführungen im Vergleich mit anderen Räumen nur eines: ihre Besonderheit, ihre Andersartigkeit gegenüber Alltags- und Arbeitsräumen, allgemein: gegenüber ›pragmatisch‹ orientierten Funktionsräumen. [...] Sie sind Grenzsteine zwischen der alltäglichen Lebenswelt und der – möglichen – Erfahrung von Transzendenz.«33

Soeffners Beobachtungen decken sich mit den Untersuchungen zahlreicher Religionswissenschaftler, Philosophen und Anthropologen, die sich mit Distinktionsmerkmalen zwischen heiligem und profanem Raum beschäftigt haben: Abgrenzung, Außeralltäglichkeit, Sinnverdichtung, Festlichkeit und Repräsentation von Transzendenz sind Faktoren, die immer wieder in Verbindung mit dem sakralen Raum genannt werden. Kirchen sind dem Alltagsraum enthoben, verweisen auf eine jenseitige Welt, die nach dem göttlichen Prinzip geordnet ist und werden doch ganz bodenständig – Stein auf Stein – an einem geographisch genau bestimmbaren Ort und durch architektonische Prinzipien realisiert. Das Kirchenportal markiert dabei die Schwelle, »die Scheidelinie, die Grenze, welche die Welten trennt«.34 Die Schwelle ist – so Mircea Eliade – der »paradoxe Ort, an dem diese Welten zusammenkommen, an dem der Übergang von der profanen zur sakralen Welt vollzogen werden kann«.35 Die Idee von der Kirche als ›Tor zum Himmel‹ – also einem prinzipiell nach oben ›offenen‹ Raum, der eine Verbindung zum Himmel suggeriert –36 ist besonders im Barock populär und wird auch von dem Architekten der Kollegienkirche, Johann Bernhard Fischer von Erlach, thematisiert. Der Grundriss

33 34 35 36

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SOEFFNER, 2000, S. 140f. ELIADE, 1957, S. 15. Ebd. Vgl. ebd., S. 16.

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der Kollegienkirche entspricht einer in die Länge gestreckten Kreuzkuppelkirche. Durch die extremen Höhenverhältnisse wird der Eindruck einer Raumschlucht erzeugt; die dominante Bewegungsrichtung ist – so Hans Sedlmayer – das »Hinauf«.37 Diese wird insbesondere von der Kuppel aufgenommen, die trotz ihrer immensen Ausmaße fast zu schweben scheint. Die dominante Aufwärtsbewegung wird auch durch die Gestaltung des Apsisbereichs akzentuiert: Eine riesige Glorie mit stuckierten Wolken und Engeln breitet sich über die gesamte Wand bis in die Wölbung der Vierung aus und umfängt die Gestalt einer über einer Mondsichel auf der Weltkugel stehenden Marienfigur, die von Engeln in die Höhe getragen zu werden scheint. Durch das dahinterliegende große Fenster kann Licht einfallen, das durch ein in der Gewölbezone darüber positioniertes ovales Fenster noch intensiviert wird. Es entsteht somit der Eindruck, Maria sei mit »der Sonne bekleidet«38 und entschwebe in lichte, helle Sphären jenseits materieller Raumgrenzen. Durch die scheinbare Auflösung der realen Architektur und die intensive Lichtwirkung wird eine unwirklichillusionäre, spirituelle Atmosphäre erzeugt, die den Raum ins Unendliche zu öffnen scheint. Die physikalische Realität wird hier im Hinblick auf eine mögliche Transzendierung des Menschen bewusst negiert und verschleiert.

Stuckgloriole mit der Himmelfahrt Mariens (Detail) 37 SEDLMAYER, 1986, S. 8. 38 Ebd., S. 9.

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Diese kurzen Ausführungen mögen genügen, um die Kollegienkirche als ›Unort‹ im Sinne einer Foucault’schen ›Heterotopie‹ zu beschreiben: Ein ausgegrenzter Ort »außerhalb aller Orte«,39 der durch spezifische Zugangsrituale kenntlich gemacht wird und zwischen Illusions- und Kompensationsraum angesiedelt ist. Sakralräume sind damit immer auch ›realisierte Utopie‹, sie sind als Kirchengebäude physikalisch existent und verweisen gleichzeitig auf eine für den gläubigen Menschen ebenso reale jenseitige Welt, die jedoch der physikalischen Realität enthoben ist. Architektur und künstlerisch-plastische Raumgestaltung stehen im Dienst dieser ›Unort-Generierung‹. Aber erst im Zusammenspiel mit performativen Praktiken und/oder rituellem Gemeinschaftshandeln wird der Ort ›Kollegienkirche‹ schließlich zum belebten Sakralraum, zum theologisch gerechtfertigten und ästhetisch gestalteten ›Unort‹ jenseits rein materieller Grenzen und Beschränkungen.

V

Luigi Nono und Morton Feldman im Rahmen des Zeitfluss-Festivals

Nachdem die Kollegienkirche mit dem Skandal um Taboris Inszenierung des Buchs mit sieben Siegeln im pejorativen Sinne zum ›Aufführungs-Unort‹ geworden war, stand die Kirche zunächst nur noch für konzertante Aufführungen zur Verfügung. 1993 entdeckten die Organisatoren des Zeitfluss-Festivals, Markus Hinterhäuser und Tomas Zierhofer-Kin, die Kollegienkirche für ihre Zwecke neu: Das Zeitfluss-Festival, das 1989 von der eingangs beschriebenen musikalisch-performativen Aktion auf der Salzach ihren Ausgang nahm, war von Anfang an als eine Gegenreaktion auf den etablierten Festspielbetrieb mit seiner »S-Klasse-Ästhetik«40 konzipiert und gegen die oberflächliche Ritualisierung von Konzertbesuchen gerichtet. Die Kollegienkirche als Aufführungsort entzieht sich dem geschäftstüchtigen Festspieltreiben per definitionem und scheint durch ihre ›gegenräumliche‹ Anordnung und durch ihre speziellen akustischen wie architektonischen Bedingungen eine größere ästhetische Sensibilität bei Zuschauern und -hörern einzufordern. Bereits 1993, mit der ersten, dem Komponisten Luigi Nono gewidmeten Veranstaltungsreihe, gelang dem neu gegründeten Festival ein fulminanter,

39 FOUCAULT, 2006, S. 320. 40 Vgl. HAGMANN, 2001, S. 150.

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viel beachteter Auftakt. Das Herzstück des Programms bildete die Aufführung von Luigi Nonos Prometeo in der Salzburger Kollegienkirche. »Überwältigendes Klanggebäude von fast sakraler Dimension« überschrieb Karl Harb seine Rezension in den Salzburger Nachrichten vom 14.8.1993 und der Rezensent der Welt feierte Nonos Prometeo als »Klangwunder von Salzburg«.41 Hatte Nono seinen Prometeo ursprünglich noch als eine ›azione scenica‹ geplant, so wurden bis 1984 sukzessive alle ursprünglich intendierten szenischen Elemente eliminiert: »[A]ll das, was man gemeinhin mit der Oper in Verbindung bringt, wurde Schritt für Schritt aus der Konzeption und Realisation des Prometeo entfernt. Was die Oper im 18. Jahrhundert gewesen war, ein ›dramma per musica‹, ein dramatischer Text, geschrieben im Hinblick auf Musik, wandelte sich beim Prometeo zum ›dramma in musica‹, die Aktion wurde ganz in die Musik verlegt. Als ›Tragedia dell’ascolto‹, als ›Tragödie des Hörens‹ wurde das Werk – nicht ohne Pathos – von seinen Autoren bezeichnet.«42

Für die Salzburger Aufführung hatten Dirigent Ingo Metzmacher und André Richard vom Freiburger Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks die vielschichtige Partitur Nonos in einen dynamischen Klangraum übersetzt und dafür eine komplexe Raumsituation erarbeitet: »In den beiden Seitenarmen [der Kollegienkirche; Anm. d. Verf.] sind Gerüste aufgestellt, auf denen Musiker sitzen, dazu rechts der Solistenchor, links die fünf Gesangssolisten samt einer Batterie von Elektronik. Vor dem Altar steht eine weitere Orchestertribüne, darunter die drei Gläser, die einzigen Schlaginstrumente des Stücks. Im unteren Hauptschiff auf mittlerer Höhe die Tribüne für die vier Bläsersolisten, ganz oben das Streichtrio. In allen Ecken hängen Lautsprecher.«43

Zur Dämpfung des starken Halls in der Kollegienkirche wurden »Plastiksegel über die Gerüste gespannt, die die Lautsprecher tragen. Die Tonnengewölbe

41 DIE WELT vom 14.8.1993. 42 STENZL, 1993, S. 83. 43 DER TAGESSPIEGEL vom 14.8.1993.

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und die Vierungskuppel sind angestrahlt, zeichnen sich durch das Plastik aber nur verschwommen ab – ein unbeabsichtigter, aber wunderschöner Effekt.«44 Über das ungewöhnliche Hör- und Klangerlebnis im Zusammenhang mit der Aufführung in der Kollegienkirche können Rezensionen nur ansatzweise Auskunft geben. Aufgrund der über die gesamte Kollegienkirche verteilten Instrumental- wie Gesangsensembles und der elektronischen Verfremdung konnten die Klänge nicht mehr genau geortet werden und lösten sich in der Wahrnehmung weitgehend von den architektonischen Gegebenheiten der Kollegienkirche: »Instrumente und Stimmen verschmelzen mit künstlichen Lautsprecherklängen zu einer kontemplativen Reise. Die Kirche wird zum akustischen Planetarium.«45 Auch Peter Hagmann versucht den Eindruck dieses Konzertes in der Kollegienkirche in Worte zu fassen: »Sich einer Musik zu öffnen, die, über lange Strecken langsam und leise, durch den Raum wandert, die den Körper des Zuhörers von der einen Seite zur anderen durchquert, die mit ungewohnten Spannungswechseln, mit subtilen Farbveränderungen und Echowirkungen aufwartet – das ist hier allerdings zu einer Erfahrung von elementarer Kraft geworden.«46

Der Körper der Zuhörer wird in das akustische Erlebnis unmittelbar einbezogen, die Musik scheint – durch den gezielten Einsatz von elektroakustischen Mitteln – die physische Materie zu durchdringen, natürliche (Raum-)Grenzen aufzulösen, die Gegensätze zwischen Innen und Außen aufzuheben und die Rezipienten unmittelbar in das musikalische Geschehen einzubinden: »Das Publikum sitzt quasi im Auge des Orkans. Es ist Mittelpunkt, die einzelnen Ensembles sind vorne/hinten/links/rechts/hinten/links/vorne/rechts...: Die Musik wabert im Kreis, verwirrt total«, konstatiert Peter Baier vom Münchner Merkur.47 Die klassischen, im traditionellen Konzertbetrieb ritualisierten Zuordnungen zwischen Ausführenden bzw. Interpreten und Zuhörern werden in Frage gestellt.48 Darüber hinaus eröffnen sich »weitere, imaginäre Räume: Live-Elektronik entfernt die Klänge von ihrem Ursprung, überhöht die instru-

44 45 46 47 48

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Ebd. BAYRISCHER RUNDFUNK, Kultur aktuell vom 13.8.1993. HAGMANN, 2001, S. 151f. MÜNCHNER MERKUR vom 14./15.8.1993. Zur ›Verunortung« der Musik vgl. auch den Beitrag von MARTIN ZENCK im vorliegenden Band, v. a. S. 148-152.

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mentalen Möglichkeiten«.49 Die Kollegienkirche ist nicht mehr der ›Schauplatz‹ für szenische oder musikalische Aufführungen, sondern wird zum ›HörRaum‹, in dem Grenzbereiche des Wahrnehmbaren ausgelotet werden und der Prozess der Raumkonstitution immer wieder irritiert wird. Dies bleibt nicht ohne gravierende Auswirkungen auf das Rezeptionsverhalten, wie der Rezensent der Tageszeitung Die Welt anmerkt: »Die Luft war auch in der Kollegienkirche von anderen Planeten. Auditorium und Ausführende [...] standen wie unter ›Einfluß‹ außerirdischer Kräfte.«50 Die Aufführung in der Kollegienkirche mit ihrer z. T. extremen dynamischen Bandbreite – Peter Cossé spricht von »Schwingungen und Ballungen an den beiden Polen der Wahrnehmungsgrenze«51 − sensibilisierte das Auditorium für jegliche Art von Geräuschen und sogar für den eigenen Atem als Reflex eines ›inneren‹ Klangraumes. Die Aufführung ermöglichte somit ein Eintauchen in das Klanguniversum Luigi Nonos, das immer wieder auch mit Erfahrungen von Transzendenz und Sakralität in Verbindung gebracht wurde: »Eine mystisch sakrale Angelegenheit, eine ›tragedia d’ascolto‹ – eine ›Tragödie des Hörens‹, autonom, sich ihr eigenes Universum schaffend und es auch verlangend, beinahe losgelöst von Raum und Zeit.«52

Die Kollegienkirche erscheint in diesem Zusammenhang weniger als ein Monument, das bestimmte, mit dem Modell ›Kirche‹ verbundene Konstruktionsmuster aktiviert, sondern als ein dynamischer Klangraum, als ›Unort‹, der sich durch raumkonstituierende Klangfelder von seinen physikalischen Gegebenheiten löst. Diese Vielschichtigkeit des räumlichen Erlebens, provoziert – in Kombination mit der enormen dynamischen Bandbreite der Musik Nonos – bei den Zuhörern eine besondere rezeptive Aufmerksamkeit und appelliert an ein individualisiertes Verständnis von ›Sakralität‹ und ›Transzendenz‹. Daran anknüpfend machte es sich das Zeitfluss-Festival 1997 unter dem Motto Endspiel… zur Aufgabe, »Fragen nach den letzten Dingen, den verborgensten 49 50 51 52

DER STANDARD vom 14./15.8.1993. DIE WELT vom 14.8.1993. FONO-FORUM, 10/1993. OPERNWELT 10/1993. Anton Gugg streicht in seiner Rezension die »besondere Aura von Unnahbarkeit und ›Heiligkeit‹ heraus«, die Nonos Spätwerk ausstrahle (DIE WELT vom 14.8.1993). Inwieweit der ›Aura‹-Begriff Walter Benjamins mit dem Konzept vom ›Unort‹ korreliert, müsste an andere Stelle geklärt werden.

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Bereichen unseres Lebens« zu stellen und Möglichkeiten der Kunst als »Ausdruck der Transzendenz, der Spiritualität und Entgrenzung«53 auszuloten. Dabei gerieten erneut Grenzbereiche von Kunstwahrnehmung in den Blick. Konventionelle Gattungsgrenzen zwischen Musik, bildender Kunst und Architektur wurden aufgelöst und machten einer ›Raumkunst‹ Platz, die die Kollegienkirche als wesentlichen Bestandteil des Kunsterlebnisses integrierte. Die Aufführung von Morton Feldmans einaktiger Oper Neither für Sopran und Orchester, die auf einem Gedicht Samuel Becketts basiert,54 konnte diesbezüglich wichtige Akzente setzen. Neither ist, so Walter Zimmermann im Programm zum Zeitfluss-Festival, »ein Stück Musiktheater, in dem jegliche Handlung verschwunden ist, in dem das Orchester auf den Einsatz der Stimme wartend gleichsam auf der Stelle tritt«.55 Gerade in der Negierung von offensichtlicher Handlung und Performativität liegt möglicherweise der Schlüssel zum Verständnis dieses Stückes: Jenseits kognitiver Zuschreibungsversuche geht es um eine Bewusstmachung, ein ›Erspüren‹ von Zeit und Raum, Ort und NichtOrt, Handlung und Stillstand, um das Wecken einer Sensibilität für das ›Dazwischen‹. Auch die textliche Grundlage, das Gedicht Samuel Becketts, transportiert keinen auf den ersten Blick fassbaren, konkreten Sinn. Es umschreibt die »Unmöglichkeit, Selbst wie Nicht-Selbst zu ergründen. Man geht zurück und vor, zurück und vor...«,56 so erläutert Morton Feldman selbst die Kernaussage von Becketts schwierig zu interpretierendem Text. Die Komposition

53 Endspiel…, 1997, S. 3. 54 »NEITHER to and fro in shadow from inner to outer shadow from impenetrable self to impenetrable unself by way of neither as between two lit refuges whose doors once neared gently close, once turned away heedless of the way, intent on the one gleam or the other unheard footfalls only sounds till at last halt for good, absent for good from self and other then no sound then gently light unfading on that unheeded neither unspeakable home« (Zit. nach: MEYER-THOSS, 1986, S. 124). 55 Endspiel...., 1997, S. 5. 56 Zit. nach Endspiel..., 1997, S. 6.

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Feldmans praktiziert eine radikale Minimalisierung der Melodieführung mit »fast rituellen Wiederholungen«:57 Während die Singstimme den Text Becketts rezitiert − nahezu psalmodierend und in einer extremen Höhenlage geführt, die bis zur Unverständlichkeit des Textes gesteigert ist –,58 werden im Orchesterpart Klangflächen aus Einzeltönen und Dreiton-Clustern produziert. »Der Rhythmus ist durch seine Kompliziertheit bis zur Unkenntlichkeit verwischt, bei der Dynamik wird nicht nur durch den extrem niedrigen Pegel, sondern auch durch gruppenweise Differenzierung die Wahrnehmbarkeit fast ausgelöscht.«59 Angaben des Komponisten über eine szenische Realisierung seiner MonoOper existieren nicht, und auch der Text Becketts liefert – außer einigen räumlich interpretierbaren Zuordnungen (›doors‹, ›back and forth and turned away‹, ›way‹) – keine konkreten Anhaltspunkte. »Vielleicht ist Neither [...] als Kathedrale deutbar, begreiflich-unbegreiflicher Ort einer Ästhetik des Nichts«, mutmaßt Gottfried Meyer-Thoss in seiner Interpretation von Feldmans Komposition.60 Für die optische Umsetzung der Oper Feldmans in der Salzburger Kollegienkirche konnte 1997 der ›Arte Povera‹-Künstler Michelangelo Pistoletto gewonnen werden, der eine ebenso reduzierte wie dezente visuelle Lösung entwickelte: Auf einer riesigen, im Chorraum der Kollegienkirche gespannten Projektionsfläche wurden Bilder ineinander geblendet, veränderten sich in kontinuierlicher, in ihren einzelnen Stadien mit dem bloßen Auge kaum wahrnehmbarer Langsamkeit61 und entwarfen ein eigenständiges, nichtillustratives ›Szenario‹ zur Musik, das den Menschen in seinem sich beständig wandelnden Verhältnis zum Raum in den Mittelpunkt stellte. Schemenhaft erkennbare Figuren und ein blockartiger Kubus konkretisierten sich auf der Leinwand und verschwanden wieder, verschmolzen in ständiger Veränderung 57 OBER-ÖSTERREICHISCHE NACHRICHTEN vom 22.7.1997. Zur musikwissenschaftlichen Analyse der Oper und zu Aspekten der Aufführungspraxis vgl. MEYERTHOSS, 1986, S. 122-134. 58 »Die innere minimierte Dramatik des Gedichts überträgt sich als Spannungsfaktor auf die Komposition, während die Höhe und semantisch indifferente Rhythmik des Soprans Sprache konsequent unkenntlich machen.« MEYER-THOSS, 1986, S. 127. 59 Ebd., S. 125. 60 Ebd., S. 133. 61 »Auch hier, wie in der Musik, ist der kleine Übergang, der geringe Unterschied der Überblendungen, die langsame Veränderung wesentlich. Der Synchronismus der Eindrücke ist immer gegeben, Schärfe und Unschärfe wechseln im Klanglichen wie im Bildlichen. Es entsteht ein Schwebezustand, ein ›Neither‹, also ein ›Weder‹ ohne das ›Noch‹.« SALZBURGER VOLKSZEITUNG vom 22.7.1997.

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mit dem Hintergrund. »Räumlichkeit und konkrete Körpergestalt« ließen sich »in einer diffusen Schwarzweiß-Optik nur erahnen – als radikale Nichtinszenierung einer Nicht-Oper«.62

Szenenfoto Neither (Projektionen: M. Pistoletto)

Damit konnten Reflexionen zum Verhältnis von Körper, Raum, Bild und Musik in Gang gesetzt werden. Die Kategorie ›Raum‹ erscheint als ein dynamischer Faktor, der über die Zuordnungen von Körpern, Bildern und Klängen immer neu konstruiert werden muss und sich − gemäß dem Festivalmotto Zeitfluss − in einem beständigen Fluss befindet. Die zweidimensionale Projektionsfläche und die ineinandergeblendeten Bilder suggerieren Dreidimensionalität, verweisen auf virtuelle Räume jenseits materieller Raumstrukturen. Damit greift Pistoletto durchaus auch auf barocke Wirkungsprinzipien zurück. Die architektonisch-materiellen Grenzen der Kollegienkirche werden durchlässig gemacht und im Hinblick auf geistig-visionäre, also physikalisch nichtexistente Räume erweitert. Karl Harb spricht in seiner Besprechung der Aufführung vom Entstehen eines »auratischen Klangraums« und unterstreicht die grenzerweiternden Möglichkeiten dieses musikalischen Experiments:

62 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 6.8.1997.

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Ritualisierte Rezeptions- und Wahrnehmungsmuster im Erleben von Raum und Musik werden auf diesem Wege in Frage gestellt. Der Kirchenraum ist nicht mehr bloßes architektonisches ›Gefäß‹ für die Musik, sondern wird Teil des künstlerisch-musikalischen Prozesses und muss in diesem Zusammenhang permanent neu definiert und konstruiert werden: »[D]er Raum, der dadurch entsteht, dass man hörend herumgestoßen wird, um sich in ihm zurechtzufinden, ist vielleicht gar nicht der einzige, den es gibt«, um nochmal Elfriede Jelinek zu zitieren.64 Die Veranstaltungen des Zeitfluss-Festivals in der Salzburger Kollegienkirche hatten nicht nur das Interesse für die Aufführung Neuer Musik geweckt und damit auch den Begriff des ›Festspiels‹ im Sinne einer »festspielwürdigen Geistigkeit« und »Modernität« neu definiert,65 sondern vor allem an konventionalisierten Wahrnehmungsgewohnheiten an der Schnittstelle von Raum, Musik, Klang und Bild gerüttelt. Das Verständnis vom sakralen Raum erwies sich in diesem Zusammenhang als aushandelbar, wurde zur individuell konnotierten und konstruierten Bezugsfolie und zum variablen Projektionsraum für (musikalische) Transzendenz- und Spiritualitätserfahrungen.66

63 SALZBURGER NACHRICHTEN vom 22.7.1997. 64 JELINEK, 1995, S. 66. 65 Vgl. die Rezension von Karl Harb in den SALZBURGER NACHRICHTEN vom 16.8.1995 unter der Überschrift »Loblied auf ein Publikum, das den Begriff des Festspiels verpflichtend neu definiert«. 66 Das Zeitfluss-Festival fand 2001 – auch auf Wunsch seiner Organisatoren, die u. a. eine Institutionalisierung des Festivals befürchteten − zum vorerst letzten Mal im Rahmen der Salzburger Festspiele statt. Als Konzertdirektor der Salzburger Festspiele konnte Markus Hinterhäuser jedoch von 2006 bis 2010 an diese Erfahrungen anknüpfen und sie im Rahmen eines anspruchsvollen Konzertprogramms weiter ausbauen.

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VI Auf der Suche nach dem verlorenen Ort Das Zeitfluss-Festival setzte in den Jahren 1993 bis 2001 deutliche Akzente im Hinblick auf die Aufführung und Rezeption zeitgenössischer Musik. Obgleich sich das Festival in Bezug auf das Konzertprogramm und die rezeptionsästhetischen Richtlinien als ›Kontrapunkt‹ zu den Festspielen verstand, knüpfte es jedoch auch an ein in den Gründungsjahren der Salzburger Festspiele etabliertes räumliches Orientierungsnetz an, das insbesondere die religiös konnotierten Eckpunkte der Stadt eng mit der Festspielprogrammatik verband und somit eine letztlich ›unörtliche‹ Bedeutungs-Geographie generierte, die sich auf das Kunstereignis und eine besondere, ›festspielgemäße‹ Rezeptionshaltung übertragen sollte. Mit der Nutzung der Kollegienkirche reaktivierten die Organisatoren des Zeitfluss-Festivals eine Spielstätte, die sich mit Foucault als Heterotopie, als ›Ort außerhalb aller Orte‹ beschreiben lässt. Die Aufführungen von Luigi Nonos Prometeo und Morton Feldmans Neither in der Kollegienkirche, die hier als Analysebeispiel dienten, schärften durch das subtile Zusammenspiel von Klang, räumlichen und zeitlichen Dimensionen das Bewusstsein für eine fluktuierende Räumlichkeit, die nicht an einen bestimmten Ort, wohl aber an die ästhetische Sensibilität und Aufnahmebereitschaft des Zuschauers gebunden ist. Auch im Fall des in der Einleitung dieses Bandes etablierten ›Unort‹-Denkmusters des Pantomimen, der eine Wand gestisch-mimisch, durch einen performativen Akt evoziert, ohne dass diese materiell existent wäre,67 bedarf es des ästhetisch ›wachen‹ Zuschauers, der das Spiel ›mitspielt‹ und sich auf diese besondere Form der Wahrnehmung einlässt. Die Untersuchungskategorie ›Unort‹ lässt sich daher in diesem Kontext wohl nur sinnvoll thematisieren, wenn man sie konsequent auf die Rezipienten und den Rezeptionsprozess bezieht. Die eingangs beschriebene Aktion der übersetzenden Fähre wird vor dem Hintergrund dieser rezeptionsästhetischen Perspektivierung zum ›Leitmotiv‹ für das Zeitfluss-Festival insgesamt: Es steht für den Sprung, für das Eintauchen in das (für manche zunächst) kalte Wasser zeitgenössischer Musik-Rezeption, für das Über-Bord-Werfen konventionalisierter Hörgewohnheiten, für das Loslassen eindeutiger raum-zeitlicher Zuordnungen, kurz: für die ästhetische Produktivität des Konzepts vom ›Unort‹ und das klare Bekenntnis zu einer Ästhetik des ›Dazwischen‹. Die Gründe für den unerwartet großen, lange nachwirkenden Erfolg des Zeitfluss-Festivals sind somit einer-

67 Vgl. die Einleitung zu diesem Band, S. 10f.

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Raum – Zeit – Fluss

seits im bewussten künstlerischen Wagnis und einer ›gegenräumlichen‹ Positionierung zu den etablierten Salzburger Festspielen zu suchen. Andererseits basierte der enorme Zuspruch für das Festival ganz wesentlich auch auf einer Wiederentdeckung der Verantwortlichkeit des Zuschauers und -hörers im Hinblick auf festspielwürdige, grenzerweiternde künstlerische Erlebnisse. Auf der Suche nach dem ›verlorenen Ort‹ und seinen klaren raum-zeitlichen Koordinaten eröffnen sich neue Horizonte des Kunsterlebens – das raumbildende ›Herumgestoßenwerden‹ (Jelinek) und die damit verbundene produktive Verunsicherung muss dabei (bestenfalls als ästhetischer Mehrwert) in Kauf genommen werden.

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Constanze Schuler

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Burg Wildenberg Von der Reaktualisierung eines Unorts MATTHIAS DÄUMER

I

Einleitung: Die performative Raumverschaltung

Bei den Vorüberlegungen zu diesem Band erwies sich der ›Unort‹ als ein tragendes Konzept von auf Michel de Certeau, Michel Foucault und – mit Abstrichen – Marc Augé basierenden raumtheoretischen Überlegungen.1 Im folgenden Text soll es darum gehen, die Theorie an einen ganz konkreten Ort, die Burg Wildenberg im Odenwald, zurückzubinden. Auf diesem Weg soll ein Beitrag zu einer anhaltenden Streitfrage der Mediävistik zum Status zweier Wolfram’scher Verse aus dem Parzival und ihrer Beziehung zu der Odenwälder Burg geleistet sowie ein theoretischer Aspekt der Raumtheorie konkretisiert werden, den Michel Foucault in Andere Orte als die »fatale Kreuzung der Zeit mit dem Raum«2 beschreibt. Es ist generell möglich, die höfischen Romane des 12. und 13. Jahrhunderts als Partituren performativer Praktiken zu beschreiben, das heißt mittels eines Modells und auf dieses bezogene Textinterpretationen dem Umstand gerecht zu werden, dass die höfischen Epen hauptsächlich nicht gelesen, sondern in einem Vortrag zu Gehör gebracht wurden.3 Ohne ins Detail zu gehen, soll hier 1 2 3

Siehe hierfür die Einleitung dieses Bandes. FOUCAULT, 2006, S. 317. Dieser Beitrag beschränkt sich in seiner Argumentation ausschließlich auf den Vortrag als Präsentationsweise des höfischen Romans. Dabei steht er in einer extremen Tradition, ohne jedoch dieses Extrem gegen seine Opposition, die Annah-

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Matthias Däumer

ein Kommunikationsmodell vorgestellt werden, um eine Basis zur Betrachtung des Zusammenhangs von historischem Raum und dichterischer Sprache zu erläutern:

me, dass es auch eine (stille) Leserschaft der höfischen Romane gab, verteidigen zu wollen. Der programmatische Aufsatz, der in den 1980er Jahren die Bemühungen der mediävistischen Philologien um eine methodische Bearbeitung der Oralität besonders prägte, war Walter Ongs Orality, Literacy, and Medieval Textualization (vgl. ONG, 1984). Eine sehr gute Übersicht zu älteren Forschungsansätzen zur Oralität mittelalterlicher Literatur bis kurz vor Ongs prägendem Beitrag liefert Paul Zumthor (vgl. ZUMTHOR, 1990, S. 19-70). Zu nennen sind von diesen frühen Positionen aufgrund ihrer Radikalität v. a. Albert Bates Lords Publikationen, in denen die Oralität der hochmittelalterlichen Texte als mit den Techniken der Skripturalität unvereinbar betrachtet werden, die beiden medialen Zustände ›Skripturalität‹ und ›Oralität‹ als »contradictory and mutually exclusive« (LORD, 1965, S. 129). Für die oppositionelle Position, nämlich für eine vehemente Verfechtung der Skripturalität als primäre Medialität des Hochmittelalters, argumentierte seit Beginn der 1980er Jahre Manfred Günter Scholz (vgl. SCHOLZ, 1980). Im vergangenen Jahrzehnt wurden die Extreme dieser Debatte zunehmend zugunsten einer Vermittlung der medialen Zustände aufgegeben (vgl. u. a. GREEN, 1994). Ein Ergebnis dieser nicht mehr polar ausgerichteten Untersuchungen ist, dass man zwar für das Mittelalter auch Leser im modernen Sinne vermuten muss, dass aber der Vortrag den quantitativ stärkeren Teil der Rezeption ausmachte.

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Von der Reaktualisierung eines Unorts

In der Realität (dem äußersten Rechteck) existiert ein Dichter4, der mit bestimmten Quellen arbeitet und so einen Text erschafft (repräsentiert vom inneren Rechteck). Wenn innerhalb des Texts eine kommunikative Phrase wie ›Ih sage iu‹ (›Ich sage euch‹ oder ›Ich erzähle euch‹) auftaucht, kann das ›Ih‹ eine Figur sein, die zu anderen Figuren spricht, oder es ist der implizite Autor, die textinterne Stimme, welche den Dichter repräsentiert, der zu einem impliziten Rezipienten spricht. Mit diesen beiden Belegungen der Pronomina wäre das Modell aus herkömmlich philologischer Sicht mehr oder minder komplett – wenn wir von im stillen Kämmerlein gelesenen Texten sprechen würden. Doch die höfischen Romane wurden in einem performativen Akt zu Gehör gebracht, weswegen es der Ebene der Aufführung bedarf, auf welcher ein Rezitator zu einem Publikum spricht. Diese Ebene verkompliziert die Bezüge des ›Ih sage iu‹, muss man doch davon ausgehen, dass vor dem Publikum ein realer Mensch stand, der das ›Ih‹ verkörperte. Diesem Tatbestand versucht das Modell durch die Größe einer vom Dichter geschaffenen Leerstelle gerecht zu werden, welche der Rezitator in der konkreten Umsetzung des Romans ausfüllte.5 Raumtheoretisch betrachtet sind die drei Ebenen dieses Modells als ›Räume‹ im Sinne Michel de Certeaus zu verstehen. Dieser beschreibt in Die Kunst des Handelns den Unterschied zwischen den physikalischen Gegebenheiten, dem ›Ort‹ (›lieu‹), und dem auf diesen aufbauenden ›Raum‹ (›espace‹) mit dem programmatischen Satz: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man 4

5

Die antiquiert klingende Bezeichnung ›Dichter‹ wird hier gezielt statt des üblichen Begriffs ›Autor‹ gewählt, um der etymologisch bedingten Ambiguität von mhd. tihtære gerecht zu werden. Der mittelalterliche tihtære (vom ahd. Verb tihtn »als Entlehnungen von lat. dictre«; PFEIFER, 1999, S. 223; vgl. auch KLUGE, 1995, S. 178) ist ebenso (1.) ›Textproduzent‹ wie (2.) ein ›Diktierender‹, der die Aufführung durch das Diktat seiner Verse zu formen gedenkt. Erst im Neuhochdeutschen haben sich aus mhd. tihten zwei Verben mit unterschiedlicher Bedeutung entwickelt: ›dichten‹ und ›diktieren‹. Das im Modell verwendete ›Dichter‹ umfasst im mittelalterlichen Sinne beide Bedeutungen, um so auch der besonderen Postition des ›Dichters‹ im medialen System der höfischen Literaturvermittlung gerecht zu werden. Zur Debatte der Ambiguität von tichtære aus produktionsästhetischer Sicht vgl. ILLICH, 1991, S. 92 und ERNOUT, 1951, S. 155-161; für eine rezeptionsästhetische Perspektive vgl. DÄUMER, 2011, Kap. 2.1: ›Der Dichter, sein Text und der Rezitator‹. Dieses Modell ist Teil meiner Dissertation Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Untersuchung des performativen Potentials der höfischen Epen. Eine detailreiche Erläuterung zum Modell findet sich in Kapitel 2.2.1: ›Die Bedingungen performativer Kommunikation‹; vgl. DÄUMER, 2011.

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etwas macht.«6 Es ist also eine Handlung (welcher Art auch immer), die den ›Raum‹ konstituiert. Übertragen auf das obige Modell sind diese Handlungen die Aktionen des Helden, welche den ›Raum der Fiktion‹ entstehen lassen, die Sprechhandlungen des Rezitators, welche den ›Aufführungsraum‹ bestimmen, und generell der ›Raum der Realität‹, welcher durch Handlungen wie beispielsweise die Aktivitäten während eines höfischen Fests erfüllt ist, anlässlich dessen der Text zur Aufführung gelangte. Die Aufführung nimmt in diesem Modell einen medialen Status ein, da sie den ›Raum der Fiktion‹ hervorbringt und gleichzeitig in den ›Raum der Realität‹ eingelagert ist. Dabei wird sie nicht von den physikalischen Gegebenheiten (dem ›Ort‹) bedingt, sondern bekommt den Status eines ›Unorts‹, in Erweiterung des de Certeau’schen Diktums also den Status einer raumkonstituierenden Handlung, die der physikalischen Gegebenheiten nicht bedarf, ihnen gar an mancher Stelle widersprechen kann.7 Auf der Basis dieses Kommunikations- bzw. Raummodells ist es möglich, verschiedene performative Praktiken eines Rezitators zu beschreiben. Eine von diesen Praktiken ist die ›Raumverschaltung‹,8 welche sich gut an zwei berühmten Versen aus dem fünften Lachmann’schen Buch des Parzival exemplifizieren lässt. Ein Rezitator sagt bei der Beschreibung der Kamine der fiktiven Gralsburg Munsalvæsche: sô grôziu fiwer sît noch ê / sach niemen hie ze Wildenberc (230, 12-13; ›So große Feuer hat seither noch ehedem / niemand hier zu Wildenberg gesehen‹).9 Die performative Interpretation dieser Stelle ist, dass ein Rezitator für ein ›Premierenpublikum‹ den fiktiven Raum mit dem Aufführungsraum verschaltet, indem er von Munsalvæsche erzählt und dabei auf den Kamin deutet, an welchem das lauschende Publikum sitzt; der Körper des Rezitators liegt dabei als Medium im Schnittpunkt von Sprechhandlung und deiktischer Geste. Der Aufführungsraum, für den diese Verse konzipiert wurden, muss für Wolfram eine gewisse Bedeutung gehabt haben, nennt er doch die in seiner französischen Vorlage10 namenlose Gralsburg ›Munsal6 7

DE CERTEAU, 1988, S. 218, Hervorhebung im Original. Eine genauere Ausführung des Konzepts und seiner Umdeutung für den ›Unort‹ findet sich in der Einleitung dieses Bandes, S. 9-11. 8 Vgl. DÄUMER, 2011, Kapitel 4.1.: ›Raumverschaltung‹. 9 Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: KNECHT, 2003; meine Übersetzungen. 10 Wolframs von Eschenbach Parzival ist die mittelhochdeutsche Überarbeitung des altfranzösischen Romans Le Conte du Graal des Chrétien de Troyes. Chrétiens Werk ist fragmentarisch, so dass ab dem XIII. Buch ein freier Abschluss des Werks einsetzt, jedoch auch zuvor schon eine generelle dichterische, poetologische

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Von der Reaktualisierung eines Unorts

væsche‹, was in der neueren Forschung zumeist als radebrechende Version des französischen mont sauvage (›wilder Berg‹), eben als ›Wildenberg‹ verstanden wird.11 Bei der Situierung des Verweises auf eine konkrete Burg Wildenberg fangen jedoch Probleme an, welche die ältere Wolframforschung in Länge, Breite und ohne verbindliche Ergebnisse ausgehandelt hat.

II

Oh weh, Mutter, wann ist ›Ort‹?

Das erste Problem ist die Antwort auf die Frage, um welchen realen Wildenberg es sich handeln könnte, auf dem der Rezitator auf den Kamin deutete.

Kaminsaal der Burg Wildenberg (heutiger Zustand) und narrative Freiheit den Eigencharakter von Wolframs Schöpfung ausmacht. Für den Textvergleich Chrétien/Wolfram vgl. BUMKE, 1997. 11 Erstmals 1903 bei Ernst Martin (vgl. MARTIN, 1903 und u. a. BUMKE, 1997, S. 11f.), der damit die älteren, auf der ersten Parzival-Übertragung von San Marte (alias Albert Schulz; vgl. SAN MARTE, 1836, S. 392) basierenden Forschungsmeinungen widerlegte, laut denen der Name ›Munsalvæsche‹ über einen Zusammenhang von salvæsche mit lat. salvatio einen unspezifischen ›Heilsberg‹ bezeichne oder vom lateinischen mons silvaticus (›wilder/lebender Wald‹) stamme (vgl. BARTSCH, 1875, S. 139f.). In Frage gestellt wurde die Übersetzung von ›Munsalvæsche‹ als ›Wildenberg‹ zugunsten der älteren ›Heilsberg‹-Übersetzung wieder von Günther Ebersold (vgl. EBERSOLD, 1988, S. 20-24), dies jedoch mittels eines Vergleichs mit Wolframs französischer Vorlage, der nicht überzeugen mag.

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Vor allem aufgrund des (augenscheinlich) noch gut erhaltenen Kaminsaals der Burg Wildenberg bei Kirchzell und Preunschen im Kreis Amorbach hat sich der Zusammenhang dieses ›Orts‹ mit den Wolfram’schen Versen bis heute entgegen vieler anderer Vorschläge durchgesetzt. Auch für die in diesem Beitrag angestrebte Beschreibung des Zusammenhangs von ›raumkonstituierenden Handlungen‹ und dem literarischen Text bietet sich die Ruine mehr als andere an, findet man doch neben der Kaminrekonstruktion an der Westseite des Südgiebels des Palas in etwa 2,20 m Höhe die Schriftzeichen »OWE MVTER« eingemeißelt.12

Kapitalis-Inschrift: »OWE MVTER«

Dieser Ausruf wird häufig als Anspielung auf Parzivals an seine Mutter Herzeloyde gerichtete Schicksalsfrage ôwê muoter, waz ist got? (119, 17; ›Oh weh, Mutter, was ist Gott?‹) verstanden.13 Kamin und Kapitalis-Inschrift lassen den ›Ort‹ in seinem Jetztzustand als geradezu ideales Beispiel für die Exemplifizie12 Eine allgemeine Beschreibung der Handschrift findet sich im achten Band der Deutschen Inschriften (vgl. KÖLLENBERGER, 1964, 2f.). Dort wird die Höhe der Inschrift mit drei Metern angegeben. Grund für diese Schwankung in der Höhenangabe sind bautechnische Maßnahmen Ende der 1950er Jahre, bei denen der Palasboden zwecks bautechnischer Sicherung mit einer ca. 80 cm dicken Betondecke überzogen wurde, auf die man anschließend wieder den historischen Plattenboden legte (vgl. LORENZ, 1960). Der 1964 erschienene achte Band der Deutschen Inschriften stützt sich wohl auf Angaben aus älteren Beschreibungen. 13 So erstmals bei SCHREIBER, 1922, S. 56, aber auch später noch u. a. bei PANZER, 1951.

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rung des hier darzustellenden Zusammenhangs erscheinen – doch ausschließlich im Jetztzustand, also unter Ausblendung der »fatalen Kreuzung der Zeit mit dem Raum«.14 Denn die Geschichte des ›Orts‹ bringt viele der augenscheinlichen Zeugen zum Wanken. So ist beispielsweise die Inschrift ein schon seit Jahrzehnten gleichermaßen von Paläographie und Germanistik umkämpftes Objekt. Um eine Übersicht über die verfahrene Forschungssituation zu geben, seien hier nur einige exemplarische Forschungsmeinungen dargelegt: Albert Schreiber, der ›Urvater‹ der Idee, dass es sich bei der Odenwälder Burg um die im Parzival genannte handelt, sieht 1922 die Inschrift als einen der Beweise dafür, dass Wolfram bei seiner Abfassung des fünften Buchs in der Burg Wildenberg verweilte, datiert sie also in dessen Lebzeiten.15 Von Seiten der Paläographie sprechen sich Rudolph Rauh (1935)16 und Rudolph M. Kloos (1980)17 für die Echtheit der Inschrift aus und datieren sie ebenfalls ins frühe 13. Jahrhundert. Beide müssen jedoch einräumen, dass eine Inschrift in einer reinen Kapitalis für diese Zeit recht ungewöhnlich sei und aufgrund anderer Unregelmäßigkeiten die Echtheit wiederum bezweifelt werden könne.18 Peter P. Albert stellt 1949 die Inschrift in Verbindung zur auf dem Nachbarstein befindlichen Nennung von Bertolt und Ulrich als Bauherren des Palas (»BERTOLT MVRTE / MICH VLRICH HI / WE MICH«; ›Bertolt mauerte mich und Ulrich schlug mich‹)19 und behauptet, »daß sie aus der Zeit Ulrich III von Dürn20 und Wildenberg (gest. 1308), aus der zweiten Hälfte des 13ten 14 15 16 17 18

FOUCAULT, 2006, S. 317. Vgl. SCHREIBER, 1922, S. 56. Vgl. RAUH, 1935, S. 24f. Vgl. KLOOS, 1980, S. 128. Diese Zweifel sind auch weiterhin berechtigt. So machte mich der Paläograph und hauptamtliche Mitarbeiter an den Deutschen Inschriften Dr. Rüdiger Fuchs in einem Gespräch in der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz darauf aufmerksam, dass der Buchstabe ›R‹ in »OWE MVTER« von seiner Form her nicht auf das 13. Jahrhundert verweist. Für diese Zeit sei zu erwarten, dass die Cauda des Buchstaben am Schaft ansetzt, evtl. einen Schwung aufweist oder sich gar nach unten vom Bogen löst. Stattdessen weist das Wildenberger ›R‹ eine ganz vorne am Bogen ansetzende Cauda ohne Schwung auf, ein Stilmerkmal von klassischen oder klassizistischen Inschriften der Renaissance. Diese Beobachtung spräche, so Fuchs, für das Einmeißeln der Inschrift durch einen späten, an klassischen Lettern geschulten Schreiber. 19 Beschreibung im achten Band der Deutschen Inschriften (vgl. KÖLLENBERGER, 1964, S. 3). 20 Die Schreibweisen des Adelsnamens variieren in der Forschungsliteratur von Text zu Text. Im Folgenden wird auf ihn in Kombination der Varianten mit ›Dürn/ Durn(e)‹ verwiesen.

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Jahrhunderts«21 stamme. Dies bedeutet eine Datierung von mehreren Jahrzehnten nach Wolframs Tod.22 Walter Hotz schreibt 1936, ursprünglich habe hier ein ›AVE MVTER‹ gestanden, ein steinerner Ausruf, der die Errichtung der Mauer unter den Schutz der Gottesmutter gestellt habe. Hotz sieht die Inschrift an sich als echt, also aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammend, den Zusammenhang mit dem Wolfram’schen Vers jedoch als spätere Verfälschung an.23 Renate Neumüllers-Klauser nimmt 1986 gar gänzlich eine »Entstehung 21 ALBERT, 1949, S. 23. 22 Alberts These ist auf sehr unsicherem Boden gebaut und wohl eher seinem politisch motivierten Antagonismus zu den nationalsozialistischen Echtheitsbekundungen geschuldet. Denn die Behandlung der Inschriften als voneinander abhängig schlägt die sehr hohe Wahrscheinlichkeit in den Wind, dass diese sich ursprünglich nicht nebeneinander befunden haben (vgl. HOTZ, 1963, S. 84). Dementsprechend ist seiner Datierung genauso zu misstrauen, wie der mehrmals tradierten Volkssage, welche die syntaktisch zusammengefassten Inschriften übersetzt als: ›Oh weh, Mutter! Bertholt mauerte mich ein / und Ulrich erschlug mich‹ und abergläubelt, dass hier der Ausruf eines Kindes aus dem Jenseits stünde, das von einem Ulrich ermordet und dessen Leichnam von einem Bertolt in die Wand eingemauert worden sei (vgl. WALTER, 1936, S. 77). Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich bei dem ›Sprecher‹ der zweiten Inschrift um die Mauer selbst und bei Bertolt und Ulrich um einen Maurer und einen Steinmetz handelt, nicht jedoch um Ulrich III von Dürn/Durn(e) (vgl. HOTZ, 1963, S. 78f.). 23 »Die eigentliche Inschrift möchte ich aufgrund eingehender Vergleiche mit den übrigen erhaltenen Inschriften der Gelnhäuser Werkstatt [die Werkstatt des Meister Heinrich Vingerhut] für echt, aber später (19. Jahrh.?) nachbearbeitet halten« (HOTZ, 1936, Bau- und Kunstgeschichte, S. 50). Interessanterweise handelt es sich hier um eine These, die Hotz in seiner Dissertation von 1935 nicht aufstellt (vgl. HOTZ, 1935) und in seiner 1964 erschienenen Monographie zur Burg Wildenberg sogar revidiert: »Es wurde schon versucht, die beiden Wörter zu ›Frowe Muter‹ oder ›Owe‹ = Ave zu ergänzen und in ›Muter‹ die Gottesmutter Maria zu sehen. Ich war selbst früher dazu geneigt, die Inschrift so zu interpretieren. Aber das wäre zu ungewöhnlich, wenn das liturgisch und dogmatisch festgelegte ›Ave Maria‹ derartig abgewandelt würde. Bei einer gemeinsamen Besichtigung der Burg mit Wilhelm Stapel ließ ich mich überzeugen, daß ›Owe Muter‹ sehr wohl eine Art Losungswort, ein ›Cri‹ des Bauherren gewesen sein könnte. ›Owê muoter, was ist gôt?‹ – das ist doch die dunkle Parzivalfrage, die diese ganze Lebensdichtung, diesen Entwicklungsroman des staufischen Zeitalters begleitet! Ein Burgherr, der ein solches Motiv in die Wand seines Palas einmeißeln ließ, müßte die Schicksalsfragen seines Jahrhunderts in ihrer abgründigen Tiefe verstanden haben – wäre das einem Herren von Durne nicht zuzutrauen?« (HOTZ, 1963, S. 84f.). Mit jener letzten Spekulation datiert Hotz das »OWE MVTER« implizit wieder ins 13. Jahrhundert zurück, also in jene Zeitspannen (1216-1226 und 1235-1245), in denen Konrad von Dürn/Durn(e) die Burg Wildenberg und vor allem den Palas nach den Vorarbeiten seines Großvaters Ruprecht umbauen ließ (vgl. HOTZ, 1935, S. 30f., und

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Von der Reaktualisierung eines Unorts

dieser Inschrift[...] im Zuge der Ruinen-Romantik des beginnenden 19. Jahrhunderts«24 an und schließt alle früheren Datierungen aus. Als Begründung für diese vehemente Ablehnung einer Echtheit verweist sie auf die Tatsache,25 dass der Graf zu Erbach Elemente der Burg Wildenberg für seinen Eulbacher Park raubte, die erst in den 1930er Jahren zurückgegeben wurden. Wie im Zuge der Burgenromantik üblich sei im Kunstgarten das Falsifikat erstellt worden. Gegen diese Vorstellung einer Fälschung der Inschrift im Eulbacher Park spricht jedoch, dass sie zwischen 1850 und 1920 mindestens viermal (jedoch ohne einen Verweis auf den Parzival) als historisch beschrieben wurde,26 also zu Zeiten, in denen Neumüllers-Klauser sich die Inschrift fern von Wildenberg denkt.27 Ebenso zeugen die 1822 im Auftrag des Grafen Erbach angefertigten Aquarelle, die wiederum größtenteils auf 1810 erstellten Zeichnungen basieren, von Neumüllers-Klausers Fehldeutung der Umstände. Die Aquarelle finden sich im so genannten Erbacher Katalog, nach welchem der Fürst Elemente der Burgen für seinen Garten bestellte.28 Die Aquarelle in diesem ›Neckermannkatalog‹ für Burgenromantiker wie auch die Vorzeichnungen zeugen davon, dass der Zusammenhang der Inschrift und des Palas mit dem Parzival im frühen 19. Jahrhundert noch nicht hergestellt wurde. Denn auf den Aquarellen wurde der Palas der Burg Wildenberg nur von außen und aus großer Entfernung dargestellt; auch eine Abbildung von interessanten Einzelelementen speist sich ausschließlich aus dem vorderen Bereich der Burg.

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ANTONOW, 1987, S. 111). Bleibt die Frage, warum Hotz an keiner anderen Stelle als in dem Sammelband des nationalsozialistischen Wolfram von EschenbachBunds diese Behauptung aufstellte. Möglicherweise, und dies ist zu hoffen, stellt die Weigerung Hotz’, die Inschrift in den Dienst des auf (Pseudo-) Authentizität bedachten faschistischen Wolfram-Kults zu stellen, ein subversives Element dar, welches in dieser Publikation zu entdecken überraschend und beruhigend zugleich wirkt. NEUMÜLLERS-KLAUSER, 1986, S. 75. Neumüllers-Klauser verweist hier auf die Vorarbeiten von Knaus zur Gartenkunst des 19. Jahrhunderts (vgl. KNAUS, 1965, S. 60). Vgl. DEBON, 1856, S. 36; SOPP, 1865, S. 29ff.; NAEHER, 1893, S. 28, und BERGNER, 1906, S. 568. Auch Wilfried Kettler gelang es schon 1988 anhand von Informationen aus dem (zurzeit leider unzugänglichen; siehe dazu auch Anm. 56) Leiningischen Fürstlichen Archiv nachzuweisen, dass der Graf von Erbach an den Inschriften des Palas nicht interessiert war und auch keine Elemente des Palas in den 1930er Jahren zurückgegeben wurden (vgl. KETTLER, 1990, S. 168). Für die die Burg Wildenberg betreffenden Vorzeichnungen und Aquarelle vgl. WACKERFUSS, 2008, S. 43-45.

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Das im Palas befindliche »OWE MVTER« wurde also entweder nicht entdeckt oder schlicht und einfach als unwichtig erachtet. Unvermittelbar stehen die Positionen nebeneinander, dass es sich bei der Inschrift um ein Original aus Wolframs Lebzeiten, eine in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gefertigte Gedenkschrift oder ein Falsifikat aus späteren Zeiten handelt, auch wenn eine Fälschung im Rahmen der Burgenromantik aufgrund der zeitgenössischen Quellen und frühen Beschreibungen der Inschrift ausgeschlossen werden kann. Die Inschrift des Kaminsaals kann als Pars pro Toto für die generellen Probleme seiner historischen Verortung stehen,29 weshalb sich die Frage stellt, wie die Odenwälder Burg und ihr Kaminsaal in der vierten Dimension des ›Orts‹ historisch stabilisiert wurden.

III Der Wolfram von Eschenbach-Bund: 30 ›Verunortung‹ der Burg Wildenberg Der Zusammenhang der Odenwälder Burg Wildenberg mit dem Parzival ist eine »Entdeckung« des 20. Jahrhunderts. Albert Schreiber, der ihn 1922 in seiner Monographie Neue Bausteine für eine Lebensgeschichte Wolframs von 29 Ein noch größeres Stimmengewirr herrscht beispielsweise bezüglich der Geschichte der Burgherren von Dürn/Durn(e) und ihrem (möglichen) Verhältnis zu Wolframs Mäzen, Landgraf Hermann von Thüringen (vgl. u. a. SCHREIBER, 1922, S. 4362; KUNIS, 1935, S. 36-61; KREBS, 1936, S. 15-24; ALBERT, 1949, S. 11-19 und S. 52-54; HOTZ, 1963, S. 91-93). 30 Zur Klärung der wissenschaftshistorischen Relevanz des Folgenden sei im Voraus erwähnt, dass es sich beim hier behandelten Bund um den Vorläufer der heute renommierten Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft handelt. 1953 teilte sich die nationalsozialistische Vereinigung in den Breuberg-Bund, der vor allem in der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift Der Odenwald unter Ausblendung der faschistischen Ideologie eine Perpetuierung der gestrigen Thesen für Heimatkundler vornimmt. Die wissenschaftlichere Fortführung geschah im selben Jahr durch die Neugründung des Wolfram von Eschenbach-Bundes in Miltenberg, der später in Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft umbenannt wurde und sich aus dem Odenwald verabschiedete. Auch wenn die Gesellschaft heute von jeglichen politischen Implikationen gelöst ist, so findet man bei einem Blick in das erste Wolfram-Jahrbuch von 1953 noch immer bedenkliche Zielsetzungen, wie die »Veredlung der deutschen Volksseele«, oder das Vorhaben »[e]hrwürdige Stätten, die an ihn [Wolfram] und seine Zeit erinnern, im Einvernehmen mit den Eigentümern zu erhalten« (Grosher, 1953, 103). Formulierungen wie diese zeugen von einem latenten Fortbestehen der alten Ideologie in der Etablierungsphase der Gesellschaft.

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Eschenbach herstellte, war zum Zeitpunkt des Verfassens Präsident der Generalverwaltung des Fürstentums zu Leiningen, zu dessen Gütern die Burg Wildenberg seit 1803 zählt. Nach Erscheinen von Schreibers beinahe grotesk lückenloser Schilderung von Wolframs Leben fand seine Hauptthese, der Dichter habe für das Verfassen des fünften Buches des Parzival auf der Odenwälder Burg verweilt, keine große Beachtung und wenn, dann ablehnende; wobei festzustellen ist, dass genauso wie bei Schreiber die meisten anderen Verortungen der Gralsburg nicht auf Fakten, sondern meist auf von Regionalstolz geprägten Vermutungen basierten.31 Schreibers These sollte jedoch, im Gegensatz zu anderen, 1935 eine Renaissance erleben. Am 15. und 16. April jenes Jahres tagte erstmals eine, wie es der Kulturredakteur Fritz Droop in der Odenwälder Zeitung Bote vom Untermain ausdrückt, »von herrlichem Idealismus beschwingte«32 Arbeitsgemeinschaft in Amorbach, die sich zum Ziel eine »Erhaltung der Odenwald-Gralsburg als deutsche Wolfram von EschenbachGedächtnisstätte [setzte] [...], nicht um totes Mauerwerk zu dekorieren, sondern den edlen Geist, der einmal in ihm blühte, als hohes sittliches Erbe zu pflegen

31 Bei vielen Verortungen der Burg Wildenberg wird auf unwissenschaftliche Art und Weise Fiktion und Realität gleichgesetzt und von einer ›Ähnlichkeit‹ der Beschreibung der Gralsburg im Parzival mit der Wartburg (vgl. DROYSEN, 1872; entscheidende Passage in KIRCHER, 2006, S. 298) oder mit der Reichsburg Trifels (vgl. SPRATER, 2006 [orig.: 1948]) geschrieben. Solche Ähnlichkeiten kann die Odenwälder Burg nicht aufweisen. Dass eine fiktionale Beschreibung Züge einer anderen historischen Stätte als der Burg Wildenberg aufweisen kann, mag jedoch nicht zu einer Entkräftigung der Schreiber’schen Lokalisierung genügen, da diese von der realen Schaffens- oder Aufführungssituation des Parzival ausgeht. Wolfram könnte ohne Probleme in der Beschreibung Munsalvæsches architektonische Elemente der Wartburg eingebaut haben, um diese dann auf Burg Wildenberg vorzutragen. Des Weiteren stehen auf rein historischer Basis der Odenwälder Burg Wildenberg viele andere Burgen des gleichen Namens gegenüber (vgl. EBERSOLD, 1988, S. 13-18). Als größte Konkurrenz gilt das (angeblich) ehemals ›Wildenberg‹ genannte ›Wehlenberg‹ in Mittelfranken, welches als Heimatsitz des Dichters galt (ausgehend von SIMROCK, 1861, Anmerkung zu 230, 13; vgl. u. a. KURZ, 1930). Zusammenfassend bleibt jedoch festzuhalten, dass, auch wenn Schreibers Methode einem sehr fraglichen biographistischen Dichterkult verpflichtet ist, seine Verortung des im Parzival genannten Wildenberg im Odenwald weiterhin die logischste aller Thesen bleibt (vgl. auch BUMKE, 1997, S. 11; für eine Übersicht über die Schwächen dieser Verortung vgl. ALBERT, 1949). 32 DROOP, 1935, o. S.

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Matthias Däumer und nicht eher zu ruhen, bis es Allgemeingut unseres ganzen Volkes geworden ist.«33

Dabei ging man bei der Erschaffung des Bilds einer ›deutschen Literatur-Burg‹ sogar so weit, dass man selbst ihre Zerstörung im Zuge der Bauernaufstände von 1525 als literaturhistorisch auf höchster Ebene verankert sah: Bis heute hält sich die damals aufgestellte Behauptung,34 die Burg Wildenberg sei »durch einen allerdings verständlichen Irrtum Goethes um eine [...] Erwähnung«35 im Götz von Berlichingen gebracht worden: Wenn Götz im 5. Akt des Dramas ruft: »Geschwind zu Pferde Georg! ich sehe Miltenberg brennen«,36 habe Goethe in Unkenntnis der Gegend um Miltenberg die Burgen verwechselt – in Wirklichkeit sei es die Burg Wildenberg gewesen, deren Niederbrennen Götz hier sah.37 Zu den Gründungsmitgliedern des auf der Basis solcher Behauptungen ›herrlich idealistisch‹ (viel eher jedoch ›herrisch ideologisch‹) motivierten Arbeitskreises in den 1930ern zählte neben Vertretern des Landesamts für Denkmalpflege und erfahrenen Baumeistern auch der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Fritz Droop, welcher im weiteren Verlauf der Entwicklungen für das Verfassen der meist sehr langen Berichte über die Burg Wildenberg im Boten vom Untermain der Jahrgänge 1935 bis 1937 und für andere unabhängige Publikationen zu diesem Thema verantwortlich zeichnet.38 33 Ebd. 34 Aufgestellt in dem im NS-Gaukalender Unterfranken und Aschaffenburg veröffentlichten Artikel »Nationalsozialistische Geschichtsbetrachtung: Götz von Berlichingen in neuer Fassung« (vgl. FREYEISEN, 2005, S. 297). 35 KELLER, 2008, S. 17. 36 GOETHE, 1974, S. 163 (Fünfter Akt, Bei einem Dorf). 37 Ich verzichte hier auf eine Kommentierung der haarsträubenden Willkür der Argumentation und hanebüchenen Vermischung von Fiktion und Realität. 38 Droops literarisches Schaffen und wissenschaftliches Wirken ist recht heterogen. So studierte er Literaturgeschichte und Philosophie in Breslau, Heidelberg und Gießen, arbeitete für mehrere Tageszeitungen als Literatur- und Theaterkritiker, war in Danzig Dozent für ›Neuere Literatur und Ästhetik der Tonkunst‹ und publizierte als ehemaliger Volksschullehrer neben literaturwissenschaftlichen auch pädagogische Schriften (vgl. Lexikon Westfälischer Autoren und Autorinnen, 2008, o. S.). Der 1875 geborene Autor zog erst nach 1933 in Folge einer Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg als »Leidende[r in] […] den stillen, gleichwohl für ihn mit vielen deutschgeistigen Brennpunkten der Zeit verbundenen [...] Odenwald[...]« (GRÄNTZ, 1938, S. 112), wo er in Amorbach als Feuilletonist des Boten vom Untermain und freischaffender Autor tätig war. Droops editorisches und schriftstellerisches Schaffen bis zu diesem Zeitpunkt muss nicht unbedingt als nationalsozialis-

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Auch der Urvater der ›Burg Wildenberg-Idee‹, Albert Schreiber, der sich 1935 schon im Ruhestand befand, wurde den Mitgliedern des Kreises gleich tisch und bestimmt nicht als antisemitisch gelten: Er arbeitete schon 1919 wissenschaftlich über den zeitgenössischen Schriftsteller Alfred Bock, der einem jüdischen Elternhaus entstammte. Allerdings verschweigt Droop in seiner Monographie die Herkunft des Autors (vgl. DROOP, 1919, S. 8f., S. 12) und stilisiert ihn im Sinne eines Heimatdichters, dessen »Heil […] die Arbeit an der Seele des Volkes« sei (ebd., S. 3) und der »im Kampf gegen den literarischen Schund […] die systematische Pflege und Verbreitung gesunder kraftvoller Heimatdichtung« betreibe (ebd., S. 5). Nachdem, trotz früher Konvertierung, Bocks jüdische Herkunft ihm ab 1930 keine weiteren Publikationen mehr ermöglicht (vgl. LEIBFRIED, 1993, S. 138f.) und gar zur generellen Diskreditierung des Autor führt (vgl. ebd., S. 144f.), äußert sich Droop nicht mehr zu ihm, beginnt jedoch selbst damit, Heimatdichtung im Bock’schen Duktus zu verfassen. Zuvor, in den 1920er Jahren, hatte Droop noch ohne erkennbare ideologische Färbung u. a. zu Ernst Toller publiziert. Ein Wandel tritt mit der Herausgabe der ersten Anthologie moderner Arbeiterdichtung ein, da hier das bis dato eher unideologisch, jedoch sehr heimatverbundene Schaffen deutlich präfaschistische Züge annimmt. Droop publiziert nach diesem Wandel u. a. zu den dem nationalsozialistischen Gedankengut zuträglichen Schriften Wilhelm von Scholz’ und als Theaterkritiker »schl[ägt] der ehrliche Kämpfer eine scharfe Klinge [...], wo er auf Entartung oder Lüge der Kunst st[ößt]« (GRÄNTZ, 1938, S. 114). In der Publikation zu von Scholz wie auch in seinen Studien zum Jesuitentheater und in seinem Briefkontakt mit Otto Julius von Bierbaum zeigt sich ein grundlegendes Interesse an der Literatur des deutschen Mittelalters bzw. an deren zeitgenössischen ideologischen Verformungen. Interessant ist, was in Amorbach noch von seinem wissenschaftlichen und literarischen Schaffen im Gedächtnis bleibt: Laut dem Boten vom Untermain vom 1. Juli 1935 umfasst Droops literarisches Schaffen Prosa, Dramatik und Lyrik, wobei sich die Prosa vor allem dadurch auszeichne, dass hier »das Historische mit dem Dichterischen versponnen und verwoben« sei (ANONYMUS, Fritz Droop, 1935, o. S.): Man bezieht sich ausschließlich auf Droops späte, von Alfred Bock inspirierte Heimatdichtung, zu der auch seine Gespinste um die Burg Wildenberg zu zählen sind. Ziel dieser späten Werke Droops ist es, »das Vergangenste und Entlegenste sinnvoll in die glückliche Gegenwart [zu laden] und in ihr [einzuschmelzen]« (GRÄNTZ, 1938, S. 113), eine Technik, die bestens den Vorgang beschreibt, den der Wolfram von EschenbachBund mit der Burg Wildenberg vollzieht. Der Artikel zu Droops Lesung im Boten vom Untermain reduziert das Schaffen des Autors ganz gezielt auf sein ›ent-historisierendes‹ Spätwerk und betreibt diese ›Ent-Historisierung‹ gar selbst, indem aus dem Frühwerk nur die Titel von Droops Gedichtsammlungen Der Sieg (1917) und Stirb und siege! (1914) genannt werden (vgl. ANONYMUS, Fritz Droop, 1935, o. S.), zwei Titel, welche losgelöst vom Kontext des Spätexpressionismus bestens zum nationalsozialistischen Pathos passen. Die naturalistisch geprägten, teils sozialkritischen Dramen des Autors und seine enge literarische Verbundenheit zu einem Heimatdichter jüdischer Herkunft werden in Amorbach aktiv dem Vergessen preisgegeben.

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anlässlich der genannten ersten Tagung vom Fürsten zu Leiningen selbst in Erinnerung gerufen39 und bereits beim zweiten Treffen als Ehrenmitglied des neu gegründeten Wolfram von Eschenbach-Bunds aufgeführt.40 Im Verlauf seines aktiven Bestehens arbeiteten seine Mitglieder in Taten und Publikationen daran, Schreibers Thesen zum Monument zu überhöhen. So diente schon die früheste Publikation des Bunds, das erste Heft der Mitteilungen vom November 1936, neben der Publikation eines Aufsatzes von Schreiber keinem anderen Zweck, als die 1935 geäußerten Thesen Peter Alberts,41 mit denen Schreibers Mystifizierung der Odenwälder Gralsburg widersprochen wurde, polemisch niederzuschreien.42 Die Ziele des Bunds waren von Anfang an keine geringen. Schon während der ersten Sitzung des noch unbenannten Arbeitskreises sprach man davon, man müsse »[a]uch den Führer und Reichskanzler [...] für diese heilige Sache [gewinnen]«.43 Hierfür startete man eine vehemente Öffentlichkeitsarbeit, u. a. im Rahmen der Kraft durch Freude-Programme: 1935 konnten erstmals dreihundert Berliner Urlaubern die Burg Wildenberg und die Werke Fritz Droops als Odenwälder Kulturgüter präsentiert werden.44 Ebenso bemühte sich der Bund darum, seine kunstgeschichtlichen Rekonstruktionen zum Hauptaugenmerk des jährlichen Dichtertreffens in Amorbach zu machen, um so neue und

39 Vgl. DROOP, 1935, o. S. 40 ANONYMUS, Amorbach, 1935, o. S. 41 Albert hatte im August 1935 einen Vortrag gehalten, dessen Inhalt sich im Nachhinein sehr gut rekonstruieren lässt, denn der Autor hatte die Möglichkeit, nach der ideologischen Zurückweisung seiner Thesen in den 1930er Jahren, im Jahre 1949 eine Publikation nachzulegen, in der er sich nach dem Wandel des politischen Klimas revanchieren konnte. Im Vorwort zu Die »Gralsburg« Wildenberg im Odenwald heißt es: »Ich hatte mich damals, im August 1935 in aller Öffentlichkeit gegen den Mißbrauch [gewendet], der mit dem Erscheinen des Buches von Albert Schreiber […] mit der Wildenburg, einer unserer baukünstlerisch schönsten Burgruinen, getrieben wird, und tue es hier wieder in aller Form Rechtens« (ALBERT, 1949, S. VI). 42 Vgl. PANZER, 1936 und HOTZ, Baugeschichte, 1936, v. a. S. 32. 43 DROOP, 1935, o. S. 44 Das erste Mal fand diese Initiative Mitte Juni bis Ende Juli 1935 statt, wobei die Burg Wildenberg-Führung am 28. Juni als Hauptpunkt in das Programm aufgenommen wurde (vgl. mehrere Artikel im Boten vom Untermain – Miltenberger Anzeiger, Nr. 154 vom 8.7.1935). Vorbereitet wurde diese Führung durch einen historisch-völkerkundlichen Vortrag des wissenschaftlichen Beirats des Wolfram von Eschenbach-Bunds, Dr. Krebs, und abgeschlossen mit einer abendlichen Autorenlesung der Werke Fritz Droops (vgl. ANONYMUS, Fritz Droop, 1935, o. S.).

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alte »germanische Literatur« miteinander zu verbinden.45 Am 24. Juli 1935 trugen diese Bemühungen erstmals Früchte: In einer feierlichen Weihefeier auf Burg Wildenberg wurde dem Gauleiter und Regierungspräsident von Unterfranken und Aschaffenburg (später Gau Mainfranken) Otto Hellmuth46 die Leitung des Wolfram von Eschenbach-Bunds zugesprochen. Dieser Schritt sollte in den künftigen Jahren vor allem finanziell einen großen Vorteil bedeuten: So konnte man schon 1936 in den ersten Mitteilungen danken für »eine Spende von 15,000 Reichsmark, die unser Führer und Reichskanzler zur Fortführung der dringlichsten Arbeiten anwies«.47 Diese und weitere Finanzierungen dienten in den folgenden Jahren partiell der Erfüllung des von Hellmuth vor Adolf Hitler abgelegten Gelöbnisses, aus seinem Gau »das Sanssouci Adolf Hitlers«48 zu machen. Die erwähnte Weihefeier zählt zu den aufsehenerregendsten öffentlichen Veranstaltungen, welche der Wolfram von Eschenbach-Bund durchführte. Mit dem stets dem Rampenlicht zugewandten, fanatisch-antisemitischen Gauleiter Otto Hellmuth erhielt der Bund eine Symbolfigur, um dem Fest den entsprechenden »Glanz« zu verleihen. So war Hellmuth schon seit 1929 oft performativ-politisch aktiv, beispielsweise um in Reden und durch den Druck von Postkarten die Hetze gegen den angeblich ›jüdischen Ritualmord‹ von Manau anzuheizen,49 um 1930 in einer Protestkundgebung gegen das Würzburger Gastspiel der Habima, dem Moskauer hebräischen Theater, anzugehen oder um ab 1935 (in Verklärung der historischen Fakten) zu Ehren des Bauernkriegs von 45 Zur Bedeutung des 1937er Dichtertreffens und der Positionierung der »Gralsburg« in dessen Tagesprogramm vgl. Bote vom Untermain – Miltenberger Anzeiger, Nr. 178 vom 4.8., Nr. 191 vom 19.8. und Nr. 193 vom 21.8.1937. 46 Bis heute gibt es keine umfassende Biographie Otto Hellmuths. Die Informationen zu seiner Person sind der bisher umfangreichsten Publikation zum Gauleiter, dem Aufsatz »Verbohrt bis zuletzt – Gauleiter Otto Hellmuth und das Ende des Nationalsozialismus in Unterfranken« von Astrid Freyeisen, entnommen (vgl. FREYEISEN, 2005). Der Titel des Aufsatzes spielt (absichtlich?) auf die schockierende Tatsache an, dass Hellmuth, einer der größten Mörder im Rahmen des so genannten ›Euthanasie-Programms‹ der Nationalsozialisten, nach Kriegsende nur bis 1955 inhaftiert war und danach vom Staat ›Heimkehrergeld‹ erhielt, mit dessen Hilfe er von 1958-1968 eine Zahnarztpraxis in Reutlingen unterhielt. Zur Einschätzung der politischen Haltung dieses ›verbohrten‹ Zahnarztes in seinen späten Jahren, sei hier noch das Datum seines Freitods erwähnt: der 20. April 1968, der 79. Geburtstag eines »Führers«, dem Hellmuth nie die Gefolgschaft kündigte. 47 HELLMUTH, 1936, S. 5. 48 Zitiert nach FREYEISEN, 2005, S. 296. 49 Vgl. FREYEISEN, 2005, S. 283-284.

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1525 in der Ruine der Geyerburg bei Giebelstadt die spektakulären »Franken-« oder »Geyer-Festsspiele« zu veranstalten.50 Diese Festspiele zeugen von Hellmuths Interesse daran, mittelalterliche Artefakte und ›Orte‹ dazu zu nutzen, seine Propaganda performativ umzusetzen. Auch im Folgejahr nach der Weihefeier auf der Burg Wildenberg wird diese Tendenz deutlich, als Hellmuth mit seiner Frau Erna Maria Stamm die so genannte »Deutsche Hochzeit« feiert, eine bombastische öffentliche Trauung in Würzburg am 13. Juni 1936, die in ihrem pompösen Aufbau an die (beinahe)51 780ste Jährung der Würzburger Hochzeit Kaiser Friedrichs I Barbarossa mit Beatrix von Burgund erinnern sollte.52 Hellmuths Funktionalisierung eines verfälschten Mittelalters reichte gar bis in sein Privatleben hinein. So erinnert sich Hellmuths Tochter Gailana53 in einem Interview: 50 Vgl. ebd., S. 294f. Hellmut sah sich selbst als einen Nachfolger Florian Geyers, eines Ritters aus dem Bauernkrieg, der auf Seiten der Bauern kämpfte. Geyer war eine historische Gestalt, die sich aufgrund des idealisierenden Dramas des von den Nationalsozialisten hoch geschätzten Gerhart Hauptmanns von 1896 großer Beliebtheit erfreute. Hitler wiederum galt Hellmuth als der »Erfüller des Traumes von 1525« (vgl. ebd., S. 294). An Hellmuths Umgang mit seinem historischen Vorbild und seiner groß angelegten Inszenierung der Geyerburg (u. a. durch die Errichtung eines ›Adolf-Hitler-Felds‹ vor der Ruine) lassen sich viele Gemeinsamkeiten zur im Folgenden dargelegten ›Reaktualisierung‹ des ›Unorts‹ Burg Wildenberg entdecken. Mit seiner Verehrung für Geyer und der Parallelisierung von Bauernkrieg und der nationalsozialistischen ›Revolution‹ lag Hellmuth voll auf Parteilinie: Für die nationalsozialistische Darstellung des Bauernkriegs nennt Friedrich Winterhager vor allem einen Beitrag Ernst Schapers von 1938 als prägend, in dem es heißt: »Zwischen den revolutionären Zielen des Bauernkriegs und der nationalsozialistischen Bewegung besteht eine in den Grundzügen übereinstimmende Gleichheit als Ausdruck des nur durch die Zeit voneinander getrennten, in seinem Wesen aber gleichgerichteten Kampfes« (SCHAPER, 1938, S. 105; vgl. WINTERHAGER, 1981, S. 113-116). Auch Heinrich Himmlers Umbenennung der Waffen-SS-Einheiten nach Bauernkriegsführern zeugt von dem Bemühen um eine zeitüberbrückende ›Gleichschaltung‹ von Gegenwart und Spätmittelalter: So wurde im Februar 1944 die bis dato lediglich »SS-Kavalleriedivision« geheißene Abteilung in »8. SSKavallerie Div. Florian Geyer« umbenannt (vgl. WINTERHAGER, 1981, S. 189). 51 Der 13. Juni 1936 fiel auf einen Samstag, was ein weitaus publikumswirksamerer Termin als die eigentliche Jährung am 17., einem Mittwoch, bedeutete. 52 Zum Ablauf der »Deutschen Hochzeit« vgl. Fränkisches Volksblatt und KiliansBlatt vom 12. Juni 1936. 53 In der Wahl des Namens seiner Tochter zeigt sich gleichzeitig Hellmuths AntiKatholizismus und wiederum sein Hang dazu, mittelalterliche Geschichte propagandistisch neu zu formulieren: Die historische Gailana gilt als die Mörderin des angeblich 689 in Würzburg getöteten heiligen Kilian. Seiner Tochter erklärte Hellmuth die Wahl des Namens folgendermaßen: »Mein Vater sagte, daß er froh

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Von der Reaktualisierung eines Unorts »Wir haben ihn sehr selten gesehen, aber wenn, dann hat er bewußt ideologisch auf uns eingewirkt. Er hat uns Kindern dann zum Beispiel deutsche Heldensagen erzählt und dabei erklärt: Der wirkliche Held ist nicht Siegfried, der wirkliche Held ist Hagen, weil er konsequent treu zu seinem Herren ist.«54

Am 24. Juli 1935 wurde die (verzerrte und verzerrende) Mittelalterbegeisterung des Gauleiters dazu genutzt, den Geist Wolframs bzw. dessen Interpretation durch den Wolfram von Eschenbach-Bund in der Ruine der Burg Wildenberg gegenwärtig werden zu lassen. Der Bund ging bei dieser Veranstaltung keine Risiken ein: Die Ausrichtung und die musikalische Leitung wurden in die Hände des Bayrischen Staatskonservatoriums für Musik in Würzburg gelegt, welches gar einen Würzburger Opernsänger für die Veranstaltung bereitstellte.55 Mit dem Ziel, eine raumtheoretische Analyse dieser Veranstaltung vorzunehmen, soll hier der Ablauf der Weihefeier dargelegt werden, soweit er sich aus dem anonym verfassten Bericht des Boten vom Untermain rekonstruieren lässt:56 Mit Fanfarensignalen werden die Besucher am Spätnachmittag zur Burg gerufen. Vor dieser wartet man auf Hellmuth, der, gefolgt von einer aus Breitenbach herbeigeholten BDM-Schar und dem Besitzer der Burg, Fürst Emrich zu Leiningen, wenig später eintrifft.57 Man zieht auf einen weiteren Fanfarenstoß hin durch den mit Feuerfanalen geschmückten Torturm. Im vorderen Hof angekommen, hört man eine Mädchenstimme; die Vortragende bleibt jedoch verborgen. Sie verliest einen forciert naiv formulierten Bericht über einen Dichter namens Wolfram, seine Jugend, sein Wanderleben und seine Hinwen-

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gewesen sei, daß sein erstes Kind ein Mädchen war, denn dann konnte er mir diesen Namen geben, diesen Namen benutzen. Er sagte, er wolle diese Frau reinwaschen« (Gailana Hellmuth im Interview mit Astrid Freyeisen am 28.5.2005; FREYEISEN, 2005, S. 292). Ebd., S. 284f. Vgl. ANONYMUS, Wolfram von Eschenbach-Weihestunde, 1935, o. S. Bei dem Opernsänger handelt es sich um einen gewissen Dr. Laufer; er war wahrscheinlich der Sänger der Tannhäuser-Passagen. Ebd. Fürst Emrich von Leiningen scheint sich, laut den Berichten des Boten von Untermain, mit hohen Nationalsozialisten wie Gauleiter Hellmuth bestens verstanden zu haben und es beschleicht einen heutzutage die Vermutung, dass die rigide betriebene Hermetisierung des Leiningischen Fürstlichen Archivs neben den vorgeblichen finanziellen Gründen auch mit der bisher nur lückenhaft aufgearbeiteten Rolle des deutschen Adels im Dritten Reich zusammenhängen könnte.

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dung zu höheren Zielen an just diesem Ort, der Burg Wildenberg, und endet gar mit der Nennung eines verwandten Geistes, eines Tonkünstlers namens Richard Wagner, der sich wie Wolfram dem Gral zuwandte.58 Nach Beendigung der Lesung dieses »Bekenntnisses aus jugendlichem Munde«59 erklingt das Volkslied Wie schön blüht uns der Maien und ein weiteres ›Jungmädel‹ trägt Wolfram’sche Verse vor. Den Höhepunkt dieser aus dem Nirgendwo erklingenden Stimmen bildet für den Berichterstatter Folgendes: »Mystisch verklärt drang auf einmal irgendwoher Wolframs Stimme zu den ergriffenen Zuhörern: ›Blick ich umher in jenem edlen Kreise...‹ Zarte Harfenklänge schwebten durch den geruhigten Burghof.«60 Der Berichterstatter des Boten vom Untermain scheint es hier nicht allzu genau zu nehmen: Die gesungenen Verse sind nicht wirklich Wolframs, sondern die der Figur ›Wolfram‹ in Wagners Tannhäuser; auch das folgende Lied O Du mein holder Abendstern stammt aus Wagners Feder. Der diffus im Dunkeln bleibende mittelalterliche Dichter wird überblendet mit dem Wolfram-Bild des 19. Jahrhunderts.61 Nach den Wagner-Arien hält Hellmuth eine flammende Rede über »die befreiende Tat«62 Adolf Hitlers, welche die Deutschen zu dem Urquell des Volkstums zurückgeführt habe. Die Veranstaltung endet mit ›Sieg Heil‹-Rufen und dem allgemeinen Anstimmen des Horst-Wessel-Lieds. So sehr diese Veranstaltung geradezu als Prototyp faschistischer Weihefeiern gesehen werden kann, als Muster dessen, was Walter Benjamin als die unheilbringende Ästhetisierung der Politik beschrieb,63 so lässt sich doch ein Spezifikum dem Bericht klar ablesen: Das Hauptaugenmerk der Veranstalter lag auf einer Inszenierung des ›Raums‹, der (nach dem Mechanismus der ›raumkonstituierenden Handlung‹) durch die Aktionen der Weihefeier er58 Der Artikel gibt den Text dieser Rede in voller Länge wieder: Es handelt sich um eine Erzählung bar jeglicher Wahrheit, die Wolfram zu einer jugendlichen Identifikationsfigur stilisiert. Generell scheint die Veranstaltung sehr darauf bedacht gewesen zu sein, Wolfram jugendgerecht umzugestalten, wahrscheinlich um ihn zu einer Leitfigur für die schon früh einsetzende ideologische Infiltration zu funktionalisieren. 59 ANONYMUS, Wolfram von Eschenbach-Weihestunde, 1935, o. S. 60 Ebd. 61 Dass dieses Wolfram-Bild bestens in das rassistische Konzept des Nationalsozialismus passte, mag man sich beispielsweise an malerischen Imaginationen Wolframs aus dem 19. Jahrhundert verdeutlichen: Man denke nur an die WolframDarstellung als ›arischer‹ junger Mann in Moritz von Schwinds Fresko Der Sängerkrieg (1854) auf der Wartburg. 62 ANONYMUS, Wolfram von Eschenbach-Weihestunde, 1935, o. S. 63 BENJAMIN, 2006, S. 73-77.

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schlossen wird. Da sich der Kaminsaal 1935 noch in einem sehr unansehnlichen Zustand befand, wählte man den schon aufgeräumten vorderen Innenhof. Durch das prozessionsartige Einziehen in die Burg als initiatorische Handlung und das Verstecken der Sprecher und Sänger wurde der Effekt erreicht, dass der durch die Körper der Zuschauer erschlossene ›Raum‹ und dessen Konnex mit den körperlos erklingenden Worten zum springenden Punkt der Darbietung wurde. Der ›Raum‹ wird so verabsolutiert (oder nach Foucault: »sakralisiert«64); er wird, durch performative Handlungen akkumulatorisch aufgeladen, zu einem Speicher für zeitlich voneinander Getrenntem (Wolfram, Wagner und Hellmuth/Hitler), welches so zum Schein amalgamiert wird im Gral der Faschisten: dem Trugbild der arischen Kultur. Der ständige Bezug der Veranstaltung auf Wagner ist also nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch-programmatisch zu verstehen, beschreibt doch einer der bekanntesten Verse der Partitur des Bühnenweihfestspiels Parsifal in Hinsicht auf die Wagner’sche Gralssphäre genau den Vorgang, der bei der nationalsozialistischen Raumerschließung auf Burg Wildenberg angestrebt wird: »Du siehst mein Sohn, / zum Raum wird hier die Zeit.«65 Die Ausrichtung der performativen Handlung auf den zeitüberbrückenden, verabsolutierten ›Raum‹ ist nicht nur bei der Weihefeier zu bemerken, sondern gehört auch zu den textuell tradierten programmatischen Zielen des Wolfram von Eschenbach-Bunds. Anhand Fritz Droops einleitendem Aufsatz zur Anthologie Burg Wildenberg – Die Gralsburg im Odenwald von 1936 lässt sich dies sehr gut zeigen: »Siebenhundert Jahre sind seit dem Bau der ›Gralsburg‹ auf dem Wildenberg dahin gerauscht, – ein Atemzug im Flug der Ewigkeit, ein Tropfen Zeit im uferlosen Strom, der aus dem Dunkel kam und der im Lichte endet.«66 »[O]b auch nicht alle Mauern der Burg Wildenberg mehr stehen: so oft Deutsche durch ihre alten Tore schreiten, geschehe es in Andacht [...]. Weil es bei den Arbeiten auf der Gralsburg im Odenwald und bei der Gründung des Wolfram von Eschenbach-Bundes um keine künstliche Erneuerung, sondern um die

64 »Trotz aller Techniken, die dem Raum gelten, und trotz des umfangreichen Wissens, das ihn zu bestimmen und zu formalisieren erlaubt, kann der heutige Raum noch nicht als völlig entsakralisiert gelten – im Unterschied zur Zeit, die schon im 19. Jahrhundert jeden sakralen Charakter verlor« (FOUCAULT, 2006, S. 319). 65 WAGNER, 2005, S. 28, V. 326f. 66 DROOP, 1936, S. 9.

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Matthias Däumer Erhaltung und Erhärtung deutschen Wesens geht, ist die Betrachtung der Burg dem Besinnlichen ein Fest, das ihn mit neuem Zukunftsglauben erfüllt.«67

Droop beginnt mit einer Verbildlichung der nicht zu fassenden Zeit und ihres Zerstörungswerks am ›Ort‹, den Mauern der Burg Wildenberg. Dann stellt Droop jedoch über die Thematisierung der körperlichen Erfahrbarkeit und Wahrnehmung der Überreste (»so oft Deutsche durch ihre alten Tore schreiten«) dem von Vergänglichkeit gezeichneten ›Ort‹ entzeitlichte und entzeitlichende ›raumkonstituierende Handlungen‹ entgegen. Zusätzlich sakralisiert er diese Raumerfahrung durch die nur halb metaphorische Verwendung des Begriffs »Andacht«. Bezogen auf die konkreten Ziele des Wolfram von Eschenbach-Bunds überträgt er diese kontrastive Bildlichkeit des im Gegensatz zum ›Ort‹ beständigen ›Raums‹ auf die »Erhärtung deutschen Wesens«; er löst damit das Deutschtum aus dem Strom der Zeit und verbrüdert es mit der Raumwahrnehmung des impliziten Rezipienten (des Texts sowie der Burg). So ist es Droop möglich, nicht nur (wie auch die Weihefeier) Vergangenheit und Gegenwart im Trug eines überzeitlichen Deutschtums zusammenzufassen – er erweitert den faschistischen Traum bis hinein in eine (allzu bestimmte) Zukunft.

IV Zusammenführung und raumtheoretische Analyse Anhand der Wolfram’schen Verse sô grôziu fiwer sît noch ê / sach niemen hie ze Wildenberc (230, 12–13) konnte dargestellt werden, dass bei der performativen Umsetzung dieser Worte ein ›Aufführungsraum‹ mit einem ›Raum der Fiktion‹ verschaltet wurde. Im Licht der Raumtheorie de Certeaus ließ sich der Aufführungsraum als ›Unort‹ beschreiben, im Sinne einer raumkonstituierenden Handlung, die den physikalischen Gegebenheiten des ›Orts‹ nur bedingt bedarf. Zum Übertrag der (theoretisch erschlossenen) performativen Handlung des Aussprechens der Wolfram’schen Verse im Mittelalter auf die dargestellte Pervertierung des Aufführungsraums im Nationalsozialismus ist es nötig, eine weitere Raumtheorie der Betrachtung hinzuzuziehen – das Konzept der Heterotopien von Michel Foucault: 67 Ebd., S. 12.

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Von der Reaktualisierung eines Unorts »Da sind erstens die Utopien. Utopien sind {Räume} ohne realen Ort. Es sind {Räume}, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen. [...] Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörende Orte, die gleichsam Gegen{räume} darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien [...]. Es sind gleichsam {Räume}, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese {Räume} völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde ich sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichnen.«68

Wie verhält sich diese Definition hinsichtlich des Wildenberger Kaminsaals? Bei diesem handelt sich um einen real existenten Ort, der sich die Bezeichnung der ›Heterotopie‹ dadurch verdient, dass er die Tendenz aufweist, im Entlegenen der faschistischen deutschen Gesellschaft als Spiegel zu dienen, welcher den verklärten Augen das Bild des immerwährenden, blonden und blauäugigen Ariers zurückwirft. Ebenso kann man bezüglich der Verlesung des höfischen Romans im Mittelalter, wie es die mediävistische Sozialgeschichte jahrzehntelang getan hat, feststellen, dass es eine der Hauptaufgaben der Romane war, die reale höfische Welt des 12. und 13. Jahrhunderts in der Fiktion zu spiegeln. Die grundlegende Spiegelfunktion der Heterotopie wird durch den ›Unort‹ Burg Wildenberg somit hinsichtlich seines Status als (mögliche) Aufführungsstätte des Parzival ebenso erfüllt, wie hinsichtlich der Reaktualisierung des performativen Akts in der Weihefeier des Wolfram von Eschenbach-Bunds. Foucault nimmt die weitere Definition der Heterotopien nach sechs Grundsätzen vor, deren Anwendbarkeit hier schrittweise für den mittelalterlichen wie den nationalsozialistischen performativen Akt überprüft werden soll. Der erste Grundsatz lautet: »[Bei der Heterotopie] handelt es sich um eine Konstante aller menschlichen Gruppen«,69 also selbstredend auch der mittelalterlichen Hofgesellschaft und der Nationalsozialisten. »[E]ine Gesellschaft [kann] im Laufe der Geschichte bestehende und auch weiter fortbestehende Heterotopien in ganz anderer Weise funktionieren lassen«70 – auch dieser zweite Grundsatz trifft zu: Wo ehemals der ›Ort‹, also der 68 FOUCAULT, 2006, S. 320. Wie schon in der Einleitung (vgl. S. 14f.) wurde die de Certeau’sche Unterscheidung von espace und lieu in Michael Bischoffs Übersetzung eingebaut und die Eingriffe durch geschweifte Klammern gekennzeichnet. 69 Ebd., S. 321. 70 Ebd., S. 322.

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(unter hypothetischer Akzeptanz der Schreiber’schen Wildenberg-These) stets gleich lokalisierbare Kaminsaal, Nährboden der Imagination einer fiktiven Welt war, wurde er im Nationalsozialismus zu einem Symbol faschistischen Gedankenguts funktionalisiert, das alles andere als eine Fiktion darstellte. Das ineinem weiteren Grundsatz71 betonte, die Heterotopien bestimmende »System der Öffnung und Abschließung […], das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht“,72 ist ebenfalls für beide Wildenberger Akte zutreffend: In der Aufführungssituation der Textverlesung gelingt die Hermetisierung aufgrund der kommunikativen Gegebenheiten, welche der ›theatrale Pakt‹ mit sich bringt;73 Abschließung und Öffnung lassen sich für die nationalsozialistische Weihefeier anhand des prozessionsartigen Einzugs in die Burg (einem Eingangsritual) genauso zeigen wie an der impliziten Ausgrenzung des ›Anderen‹ in Droop’schen Formulierungen wie »so oft Deutsche durch ihre alten Tore schreiten«.74 Bis hierhin sind über die Theorie der Heterotopie zwar Unterschiede in der Art der Erfüllung, jedoch keine Unterschiede in der funktionalen Handhabung der Grundsätze festzustellen.

71 Aus Gründen der Stringenz wurde hier die Reihenfolge der Grundsätze geändert; eigentlich handelt es sich hier bei Foucaults um den fünften Grundsatz. Da Foucaults Grundsätze jedoch nicht kohärent aufeinander aufbauen, führt diese neuanordnung nicht zu einer Umdeutung der Theorie. 72 Ebd., S. 325. 73 Das einprägsamste Beispiel für die öffnende und abschließende Funktionsweise dieses Pakts stammt von Donald Davidson: »Malen wir uns folgende Situation aus: Der Schauspieler mimt eine Szene, in der ein Feuer ausbrechen soll […]. Seine Rolle verlangt, daß er möglichst überzeugend jemanden darstellt, der andere vor einem Feuer zu warnen versucht. ›Feuer!‹, ruft er, und vielleicht fügt er auf Anweisung des Autors hinzu ›Ich meine es ernst! Seht doch, der Qualm!‹ usw. Und nun bricht ein wirkliches Feuer aus, und der Schauspieler versucht vergebens, das wirkliche Publikum zu warnen« (DAVIDSON, 1986, S. 378f.) Ebenso wie die abschließenden Mechanismen der Aufführung hier eine Kommunikation zwischen dem paktierenden Publikum und einem sich jenseits des Pakts befindlichen Menschen verhindern, kann der Ausschluss auch in die andere Richtung funktionieren, also so, dass nicht die Inklusion in den Pakt, sondern die Exklusion zum Fehlverhalten führt. Man denke hier an die Filmszene aus The Piano, bei der Maoris eine Bühne stürmen, weil ihnen der theatrale Pakt zwischen Publikum und Schauspieler kein Begriff ist und sie deshalb versuchen, die Frauen des Blaubarts zu retten (vgl. CAMPION, 1993). 74 DROOP, 1936, S. 12; meine Hervorhebung.

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»Heterotopien besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinanderzustellen«75: Der vierte Grundsatz ist in Anbetracht der Aufführungssituation höfischer Romane bzw. des vorgestellten Raummodells die allgemeingültige Grundlage, da hier der ›reale Raum‹, der ›Aufführungsraum‹ und der ›Raum der Fiktion‹ nebeneinander stehen; die Verlesung der mittelalterlichen Epen deckt sich in diesem Punkt mit dem von Foucault für diesen Grundsatz verwendeten Exempel des Theaters. Bezüglich der performativen Praxis des Weihefests des Wolfram von Eschenbach-Bunds ergibt sich bei der Verbindung mehrerer unverträglicher Räume jedoch die erste Differenz zwischen den performativen Handlungen, welche gleich im Zusammenhang mit Foucaults fünftem Grundsatz überdacht werden soll: »Heterotopien stehen meist in Verbindung mit zeitlichen Brüchen, das heißt, sie haben Bezug zu Heterochronien [...]. Eine Heterotopie beginnt erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben.«76 Bei der Entstehung von Heterochronien ist die Differenz aufzuzeigen, welche die mittelalterliche von der nationalsozialistischen performativen Praxis trennt: Während bei der Textverlesung verschiedene Zeiten (bspw. die ›erzählte‹ und die ›Erzählzeit‹) und verschiedene Räume konfliktlos nebeneinander gestellt werden, wird bei den politisch motivierten Bemühungen des Wolfram von Eschenbach-Bunds in Text und Weihefeier der ›Raum‹ (im Gegensatz zum ›Ort‹) als unveränderlich imaginiert: Der ›Raum‹ bzw. die ihn konstituierenden Handlungen bleiben in Gedanken eine Konstante; der verabsolutierte ›Raum‹ wird so zum Medium, durch welches ein Deutschtum sich als Heterochronie erhebt und den Bruch mit der traditionellen Zeit vollzieht. In seinem sechsten und entscheidenden Merkmal unterscheidet Foucault schließlich zwei Pole, zwischen denen sich die gesellschaftlichen Funktionen von Heterotopien einordnen lassen: »Entweder sollen sie einen illusionären Raum schaffen, der den ganzen realen Raum und alle realen Orte, an denen das menschliche Leben angeschlossen ist, als noch größere Illusion entlarvt. […] Oder sie schaffen einen anderen Raum, einen anderen realen Raum, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist.«77

75 FOUCAULT, 2006, S. 324. 76 Ebd. 77 FOUCAULT, 2006, S. 326.

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Mit dieser polaren Unterscheidung lässt sich auch die Differenz zwischen der performativen Realisierung höfischer Romane und der performativen ›Entzeitlichung‹ des deutschen Geistes konkreter fassen. Denn der höfische Roman gehört eher dem ersten Pol an, der Erschaffung illusionärer Räume (›Raum der Fiktion‹) mit Auswirkung auf den Realitätscharakter der diese umgebenden äußeren Räume (›Aufführungsraum‹, ›Raum der Realität‹): Da der Roman in seiner Verlesung einen Raum erschafft, welcher die reale Gesellschaft im Modus einer Spiegelung beinhaltet und für ein virtuelles Probehandeln bereitstellt,78 ändert sich damit auch der ontologische Status aller anderen Räume. Denn ein ›Raum der Fiktion‹, der dem Rezipienten etwas über seine Realität beibringt, ist nicht nur fiktional, und eine Realität, die durch eine Fiktion verändert wird, ist nur graduell realer als diese Fiktion.79 Die performativ erzeugte ›Entzeitlichung‹ des Raums bei den Nationalsozialisten gehört jedoch dem zweiten Pol der Heterotopien an, erschafft sie doch eine ›Gleichschaltung‹ der Zeitebenen im übergeordneten Begriff des Deutschtums, konstruiert also eine nationale oder gar rassische Ordnung, welche der politischen oder ethnischen ›Unordnung‹ der Realität entgegensteht. Im Begriff der Foucault’schen Heterotopie lassen sich also gleichzeitig die Gemeinsamkeiten und Differenzen der performativen ›Verunortungen‹ der Burg Wildenberg im Mittelalter und im Nationalsozialismus erfassen. Anhand der Darstellung der performativen Handlungen des nationalsozialistischen Wolfram von Eschenbach-Bunds wird deutlich, dass das ›Unörtliche‹ des Raums eine weitere Dimension (vermeintlicher) Kontinuität eröffnet: Der ehemalige performative Vorgang der Raumverschaltung durch einen Rezitator lagerte sich im Text des Parzival in den zwei Versen über die Kamine einer nicht näher bestimmten Burg Wildenberg ab und konnte so tradiert werden. Die performative Handlung existierte dabei in einem Zustand der textuellen Latenz. Deshalb war es möglich, die Raumverschaltung 700 Jahre später (mittels einer Festschreibung der unsicheren Lokalisierung der Burg) zu reaktivieren. Im Unterschied zur damaligen Schaffung einer heterotopischen Auffüh78 Vgl. LECHTERMANN/MORSCH, 2004. 79 Ich verweise hier auf die momentan auch in der Betrachtung von Literatur wieder in Mode kommenden Studien zu Spiegelneuronen, die im Hirn des Menschen unabhängig davon feuern, ob eine Handlung wirklich oder nur imaginär durchgeführt wird (vgl. LAUER, 2007). Was bedeutet es für den ontologischen Status von Literatur als Ansammlung virtueller Handlungsangebote, wenn es sich beweisen ließe, dass das menschliche Hirn von seinen neuronalen Grundlagen her gar nicht zwischen Realität und Virtualität zu unterscheiden wüsste?

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rungssituation haben wir es im Nationalsozialismus jedoch anstelle der Reaktivierung einer Heterotopie, also einer räumlich gewordenen Utopie, mit der Emergenz einer Heterochronie, also einer an der Gegenwart angebundenen Ewigkeit, zu tun. Heute wie damals lässt sich der Vorgang mit Hilfe von Raumtheorien fassen. Die Rücküberführung der mittelalterlichen Verse in performative Aktion basierte im Nationalsozialismus jedoch nicht auf einer wert-neutralen, historisierenden Raumtheorie. Stattdessen ignorierte sie gezielt die vierte Dimension des ›Raums‹ und erschuf so eine vermeintliche Kontinuität in der ›Raumideologie‹ des Blut und Boden-Kults.

V

Nachtrag: Die Jetztzeitigkeit des Beats »Immer ohne damals, jeder neue Baß.«80

Wenn es einen Lehrsatz gibt, den man aus der ›Entzeitlichung‹ des Wildenberger Kaminsaals bei den Nationalsozialisten ziehen kann, so den, dass der ›Raum‹ weder in Richtung der Vergangenheit noch in Richtung der Zukunft jemals als abgeschlossen betrachtet werden kann. Auch die Geschichte des Kaminsaals endet nicht in den 1930er Jahren, obwohl 1939 die Arbeiten an der Ruine eingestellt werden mussten. Das von höchster Ebene zugewiesene Geld floss nun nicht mehr in die Erhaltung, sondern die Erweiterung des ›Raums‹ gen Osten. Die halbfertigen Renovierungsarbeiten wurden in einem letzten Arbeitsschritt mit Grassamen bestreut, so dass der Eindruck einer ›natürlichen‹ Ruine erschaffen wurde.81 In der Nachkriegszeit wurde es still um die Burg Wildenberg, nicht zuletzt, weil man den ehemaligen Idealismus einer zeitüberbrückenden Weihestätte vergessen musste, um mit der konkreten Zeit zurechtzukommen – der nachkriegsdeutschen ›Politik des Vergessens‹ wurde ihr Tribut gezollt. Eine bautechnische Veränderung wurde am Kaminsaal jedoch noch vorgenommen. Die Nationalsozialisten hatten den Boden des Palas gesenkt und so dem halbhistorischen Kamin zu einer Höhe von über zwei Metern verholfen. Diese räumliche Pathetik musste in den späten 1950er Jahren dem Pragmatismus weichen: Eine Baukommission kam 1958 nach einer Besichtigung zu dem Ergebnis, dass das Kellergewölbe unter dem Palas nicht sicher sei. Man reagierte jedoch 80 GOETZ, 2001, S. 21. 81 Vgl. SCHWAN, 1939, o.S.

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nicht, indem man dieses abstützte, sondern indem man den Palasboden mit einer ca. 80 cm dicken Betondecke überzog, auf die man anschließend den historischen Plattenboden legte.82 Es überkommen einen heutzutage Zweifel, ob es sich bei diesem bautechnischen Vorgang um einen unbedingt notwendigen handelte: Statt den ohnehin nicht sehr ansehnlichen Keller zu verändern, entschied man sich dafür, dem Kaminsaal, dem Hauptaugenmerk der nationalsozialistischen Wolfram-Verehrung, mit diesem Schritt sein wirkmächtiges Pathos zu nehmen. Welcher Teil dieser Maßnahme pragmatischer Notwendigkeit und welcher Teil einem Bedürfnis nach symbolischer Zurücknahme der ehemaligen ›Verkultung des Raumes‹ verpflichtet ist, kann nur vermutet werden.

Kaminsaal und Kamin anlässlich Harlequin’s Castle 2003

In seiner vierten Dimension mag der ›Raum‹ jedoch auch hier noch nicht enden: Zwischen 1997 und 2003 fanden (unter Gewinnbeteiligung des gegenwärtigen Besitzers Fürst Andreas zu Leiningen) in den Gemäuern vier RaveVeranstaltungen statt. Laut dem veranstaltenden Heidelberger Subkulturverein Harlequin waren schon bei der ersten Veranstaltung mehr als tausend Teilnehmer anwesend, um auf den drei floors ›Mittelburg‹, ›Burghof‹ und ›Palas‹ 82 Vgl. LORENZ, 1960.

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zu feiern.83 Im Palas wurde dabei die Bühne in und über den Kamin gebaut, so dass der DJ gewissermaßen auf dessen Stirnplatte thronte. Wer hierin jedoch eine reflektierte Revision des historischen Raums vermutet, wird enttäuscht. Auf der Internetseite des Subkulturvereins befindet sich ein Archiv des Pressematerials, in welchem der Name Wolfram kein einziges Mal zu lesen ist; noch nicht einmal der Gral hat hier einen Auftritt, der als mystisches Symbol zumindest ein interessantes Werbelogo abgegeben hätte.84 Dies mag als Ignoranz gelten – doch vielleicht ist genau dieses konsequente Ignorieren der Geschichte der Segen, der den ›Raum‹ der Ideologie entkleidet und die heterochronische Ewigkeit in der unmittelbaren Jetztzeit des Beats aufgehen lässt. So gesehen wird der Rave zum Reinigungsritus, der nur umso mehr mit Spannung erwarten lässt, welche räumlichen Reaktualisierungen in der Zukunft noch den versteckten ›Unort‹ im Odenwald heimsuchen werden.

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Dritte Sektion: ›Unorte‹ der Ausgrenzung

Theben als Unort in der Literatur der frühen Kaiserzeit Der Prolog des senecanischen Oedipus CHRISTINE WALDE

Die Dichtung stellt ein hervorragendes Mittel im Hinblick auf die Präzisierung dessen, was ein Unort ist, dar. Diese Erfahrung stützt sich vor allem auf die Notwendigkeit der imaginären Visualisierung des Textes, d. h. die Notwendigkeit, dass die menschliche Einbildungskraft zwangsläufig ins Spiel kommt. Ein literarisch-dichterisch konstruierter Unort ist immer schon Interpretation, die eine bestimmte Visualisierung auslöst. Ich möchte dies in einem Close Reading des Prologs des senecanischen Oedipus vorstellen, einer römischen Tragödie, die vor 54. n. Chr. entstanden ist.1 Hier markiert der literarisch verfasste Unort als Ort negativer Intensität das Ende der Bedeutung als Voraussetzung der Bewältigung auftretender Krisen. Kontrafaktur: Es ist Nacht. Der König des Landes kann nicht schlafen, denn ein großes Unheil ist über die Stadt gekommen: die Pest. Anlass genug, um über das eigene Leben nachzudenken und die Schuld bei sich zu suchen. Er sieht die Sonne auf-

1

Dazu DINGEL, 2009. Dingel stellt eine überzeugende absolute und relative Chronologie vor: Danach wäre der Terminus ante quem die 54 entstandene Apocolocyntosis Senecas, vor der (in dieser Reihenfolge) Hercules Furens, Oedipus, Phaedra, Medea, Troades verfasst worden wären, nach 54 dann noch Agamemno, Thyestes, Phoenissae.

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Christine Walde gehen, die wie eine gigantische Totenfackel die durch das Morden der Nacht verwaisten Häuser seiner Stadt beleuchtet. Er, der einzig Gesunde, sieht sich als Angeklagter des Apollon, der ihm schon einmal ein fürchterliches Orakel gegeben hat: Er werde den Vater umbringen und eine Ehe mit seiner Mutter eingehen. Die Atmosphäre des dauernden Zwielichts über dem Land und der Totentanz seiner Untertanen, zu deren Bestattung weder Wälder noch Erde seines Reiches genügen, lassen ihn an seiner Herrschaft, die er als Fremdling übernahm, verzweifeln. Schon überlegt er, sich dieser Situation durch Tod oder Flucht zu entziehen, als seine Gattin hinzutritt und ihn einen Feigling nennt. Durch diese Intervention besinnt er sich seiner größten Heldentat, der Tötung der Sphinx, deren Rache er nun die grassierende Pest zuschreibt. Er erhofft sich jetzt von Apollon einen Rat, wie der Pest ein Ende bereitet werden kann.

Diese Geschichte, die uns der römische Dichter Seneca im Prolog seines Oedipus erzählt, erscheint uns in unheimlicher Weise bekannt – und doch ist sie ganz anders als man sie in Erinnerung haben mag. Denn immer werden sich die antiken und modernen Rezipienten an den Oidipus Tyrannos des attischen Tragikers Sophokles erinnern, der einige hundert Jahre vor Senecas Version entstanden war. Dessen profunde oder vage Kenntnis ist eine der wichtigsten Rezeptionsvoraussetzungen für die römische Version.

Rezeptionsvoraussetzungen Die mit dem thebanischen Sagenkreis und dem sophokleischen Oidipus Tyrannos vertrauten zeitgenössischen Rezipienten konnten nach Lektüre des Paratextes ›Titel‹, in diesem Fall Oedipus, und der ersten wenigen Zeilen des Prologs Person, Ort und Zeit der Handlung, ja sogar den konkreten Zeitpunkt, an dem sie einsetzt, bestimmen: Die Pest herrschte bekanntermaßen in Theben zur Zeit der Herrschaft des Oedipus und der Iokaste. Schon war alles geschehen, was zum endgültigen Untergang des Labdakiden-Geschlechts führen würde. Denn Mythen sind zirkulär: Man wird sie immer von ihrem Ende her konstruieren.2 Spätestens nach Sophokles’ Masterversion Oidipus Tyrannos ist 2

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Dies ist eine spätestens seit der hellenistischen Literatur verbreitete Denkfigur, die sich auch in der literarischen Produktion in der ›Ausfüllung‹ von ›Leerstellen‹ der Mythen niederschlug. AMBÜHL, 2005, ist diesem Phänomen in Bezug auf die Darstellungen der Kindheit von ›später‹ berühmten Helden nachgegangen, die schon

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Oedipus in der Wahrnehmung der Rezipienten auch schon vor der Herrschaft in Theben der Muttergatte und der Vatermörder.3 Genau diese Zirkularität, diese Unvermeidlichkeit der Assoziationen führt uns Seneca in seinem düsterpessimistischen Prolog vor Augen: Da sein Oedipus nicht wissen kann, dass Polybus und Merope, bei denen er aufgewachsen ist, nicht seine Eltern sind, ist er ohne alternativen Handlungsentwurf auf das erste Delphische Orakel zurückgeworfen, das ihm Vatermord und Inzest ankündigt. Seit er dieses Orakel erhalten hat, ist ihm die ganze Welt ein jeder Sicherheit entbehrender Unort geworden. Auch sich selbst kann er nicht mehr trauen. Senecas Oedipus ist die hellsichtige Analyse eines Menschen, der in beständiger Erwartung zukünftigen Unheils kaum leben kann. Insofern ist es nur auf den ersten Blick paradox, dass Oedipus, als er erfährt, dass alles, was er befürchtet hat, längst schon geschehen ist, dass er die Katastrophe schon hinter sich hat, zu einer fast gelassenen (für die Rezipienten als trügerisch erkennbaren) Größe finden kann. Die Fallhöhe des sophokleischen Oedipus ist deutlich größer, denn er schätzt anfangs seine Herrschaft in Theben positiv ein: Im Prolog ist er ganz in seinem Element, als ihn seine vertrauensseligen Bürger bittflehend umringen (V. 31), wenngleich das Unglück seines Landes, die Pest, auch ihn hart trifft. Der effiziente Problemlöser hat längst seinen Schwager Kreon zum Orakel

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vor der Folie des Erwachsenenalters der Protagonisten zu diesem Zweck ›erfunden‹ wird. In der Forschung wird in der Regel trotz der relativen Rehabilitierung der SenecaTragödien die Tragödie des Sophokles über die Version Senecas gestellt, scheint Senecas Drama doch allzu derivativ und ›deklamatorisch‹. In der Tat sind die Ähnlichkeiten und Unterschiede augenfällig, aber sie sprechen nicht immer gegen den Römer. Zum Beispiel kann man die langen Redebeiträge der senecanischen Protagonisten auch als Differenziertheit werten: Dass die Entwicklung einer subjektiven Perspektive nicht in ein paar Zeilen abgeleistet werden kann, ist ohnehin evident. Gerade in der Ausführlichkeit liegt die Leistung und man sollte sich bewusst sein, dass eine negative Bewertung dieser Sensibilität und Intellektualität einem prinzipiell anti-intellektuellen Impuls entspringt. Wilamowitz’ vielstrapaziertes Diktum, dass die Medea Senecas so spreche und handele, als ob sie die Medea des Euripides gelesen habe, ist zwar von ihm abwertend-maliziös gemeint und wird von späteren Forscher auch in dieser Färbung kolportiert. Es beschreibt in Wirklichkeit aber nur das unvermeidliche Phänomen, dass es mit dem Fortschreiten der Zeit und der Erfahrung keine Rückkehr zur Unschuld mehr geben kann: Wie sollte eine Medea aussehen, die so gar nichts von der Medea des Euripides, des Apollonios Rhodios, Ovids, Varros hätte? Selbst wenn es sie geben sollte, würden wir sie doch mit der Medea des Euripides, Ovids, Anouilhs etc. vergleichen. Das ist das Wesen des Mythos – und jede Forderung von völliger Originalität daher sinnlos.

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nach Delphi entsandt (V. 70), der auch schon im Verlaufe des Prologs die Antwort des Orakels übermittelt, dass die Seuche dann ein Ende finden werde, wenn die Ermordung des früheren Königs Laios durch Tod oder Verbannung gesühnt sei. Die weitere Handlung der Tragödie, die Oidipus’ Bemühungen zeigt, die Forderung des Orakels zu erfüllen (V. 132f.), ist nichts anderes als eine vollständige Demontage des Herrschers, der am Ende gezwungen wird zuzugeben, dass er sich selbst gesucht hat: Des Vatermords und des Inzests überführt, ist er nach seiner Selbstblendung auf das Wohlwollen des Schwager-Onkels Kreon angewiesen. Senecas große Leistung besteht also nicht zuletzt darin, dass er den Oidipus des Sophokles, den wir hinter seiner Version als unheimlich-heimliches Vexierbild erkennen, unglaubwürdig werden lässt. Denn man fragt sich nach Lektüre der römischen Tragödie, warum der Oedipus des Sophokles in so naiver Ruhe und hybridem Selbstbewusstsein leben konnte, obwohl er auch die ihn befleckenden Orakel erhalten hatte und er zudem eine Ahnung hatte, dass Polybos und Merope nicht seine leiblichen Eltern sind.4 Ja, es scheint fast, als habe er das unheilvolle Orakel Apollons vergessen. Aber natürlich herrscht auch im Theben des Sophokles die Pest, die auch dort zwangsläufig mit Apollon in Verbindung gebracht wird. Der sophokleische Oedipus scheint den sich eigentlich aufdrängenden Gedankenschluss, dass Pest und Orakel zusammenhängen, (merkwürdigerweise) nicht leisten zu können. In der Tat spielt eine Beschreibung der von der Seuche geschlagenen Stadt in der Worthandlung der griechischen Tragödie eine deutlich geringere Rolle als im römischen Gegenstück. Gerade in der eindrücklichen Kreation eines Orts des Unheils und der Krankheit, einer Landschaft, die zum Frevel der Götter und Menschen passt, liegt jedoch Senecas genuine Leistung, mit der er auch dem literarischen IchBewusstsein neue Dimensionen abgewinnen konnte. Um dem Theben Senecas Konturen zu verleihen, werde ich kurz umreißen, wie Theben in der Literatur vor und nach Seneca figuriert, um dann in einer Analyse des Prologs von Senecas Oedipus aufzuzeigen, wie hier der literarische Unort Theben als Topos des Grauens und der Unfruchtbarkeit poetischsubjektiv konstruiert wird.

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Für den sophokleischen Ödipus spielt das erste Orakel anfangs keine Rolle (Erwähnung erst in Vers 786). Seine Haltung zu Apollon und dem Delphischen Orakel scheint unproblematisch. Dennoch ist zumindest in der Literatur immer zu erwarten, dass sich ein Orakel in der einen oder anderen Form erfüllen wird.

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Vorannahmen zur Aufführbarkeit und zur Semantisierung des Raums Ob die Seneca-Tragödien – einzeln oder in ihrer Gesamtheit – aufgeführt wurden oder werden sollten, lässt sich trotz der hitzigen Debatte in der Forschung nicht entscheiden.5 Immerhin kann konstatiert werden, dass bei einem literarischen Kunstwerk, für das ohne zwangsläufige Rücksichtnahme auf die aktuelle Aufführungspraxis die Form eines Dramas gewählt wurde, immer eine wie auch immer geartete performative Umsetzung intendiert ist. Letztlich werden wir jedem literarischen Text, den wir lesend oder über das Ohr rezipieren, in irgendeiner Form interpretierend Gestalt geben und ihn ›visualisieren‹. Dies betrifft insbesondere den ›Ort‹ des Geschehens, der bei einem Drama in konkreter und imaginärer Form auftritt: (1) der bei einer konkreten Aufführung in bestimmter Form visualisierte Schauplatz, dessen Realisierung zweifellos nicht ein für allemal verbindlich festgelegt werden kann (Ort = Bühne). (2) der durch die Sprache ›semantisierte Raum‹, der nicht auf die Bühnendekoration reduziert werden kann, sondern bei jeder Form der Rezeption, auch der Lektüre, zum Tragen kommt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die schriftliche Version eines Dramas nicht von einem Text einer anderen literarischen Gattung, obwohl den lesenden Rezipienten zugegebenermaßen durch ein Drama ein expliziterer Auftrag zu einer Visualisierung, zu einer imaginären ›Aufführung‹ gegeben wird. Inwiefern bei einer beliebigen Aufführung das Bühnenbild mit den ›Wortgemälden‹ des Textes übereinstimmen muss oder kann, ist fraglich und den Beschränkungen und Möglichkeiten der jeweiligen Medien (Text versus visuelle Umsetzung) geschuldet.6 Zeitlin7 weist zu Recht nachhaltig darauf hin, dass die feste Bühnendekoration der antiken Theater (sei 5

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Der einstweilen letzte größere Beitrag zu dieser Debatte von Christoph Kugelmeier (vgl. KUGELMEIER, 2007) geht wegen Nichtbeachtung des Zeitlin’schen Caveats (siehe Anm. 7) an der Sache vorbei. Eine gute Parallele sind Verfilmungen von literarischen Kunstwerken: Ein Film wird nicht jeden Aspekt der im Buch ›beschriebenen‹ Kulisse realisieren oder sie anders realisieren. ZEITLIN, 1990. Z. B. setzt im Falle von Senecas Oedipus die Beschreibung der Pest und der Vorgeschichte nicht zwingend eine entsprechende Bühnenszenerie voraus. Eine klare Angabe bzw. ein imaginationsfördernder Vorschlag für eine Inszenierung wäre: adfusus aris supplices tendo manus (›Dahingestreckt vor den Altären strecke ich meine bittflehenden Hände aus‹; V. 71).

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es in Griechenland, sei es in Rom), die lediglich durch Requisiten, vielleicht auch Bühnenbilder8 modifiziert werden konnte, prinzipiell einer ›realistischen‹ Abbildung der für eine individuelle Tragödienhandlung vorzustellenden Schauplätze im Wege stand. Insofern waren hier immer Kompromisse auf Seiten der Aufführenden und der Rezipienten nötig, die trotz der angebotenen Visualisierung weiterhin eigene Imaginationsleistungen aufbringen mussten. Da sich in dieser Hinsicht eine Aufführung und Lektüre nur graduell unterscheiden, werde ich die konkrete Aufführbarkeit oder Aufführungssituation im Folgenden außer Acht lassen und mich nur auf die ›Semantisierung‹ des Raumes durch die Worthandlung beschränken.9 Damit meine ich, welche Fakten/ Charakteristika für die Beschreibung eines Ortes/einer Landschaft aus der unendlichen Anzahl möglicher Fakten/Charakteristika ausgewählt werden. Denn, um den russischen Literaturtheoretiker Lotman zu zitieren, »was vom Standpunkt eines Textes aus nicht existiert, [ist] ein wesentliches Kennzeichen dieses Textes. Die Welt, die von der Abbildung ausgeschlossen wird, ist eines der grundlegenden typologischen Kriterien für den Text als Modell des Universums«.10

Theben Gerade die Darstellung Thebens, das auch die Kulisse des senecanischen Oedipus bildet, hat in der Dichtung eine lange Tradition der Semantisierung als ›Anti-Welt‹, der sich auch Seneca nicht entziehen konnte. Wann immer Oedipus in der antiken Literatur in Epos, Tragödie, Komödie oder in passageren Erwähnungen auftritt, wird mit ihm das mythische Theben evoziert. Diese Stadt kennen wir auf ›unheimliche‹ Weise, obwohl wir sie noch nie mit eigenen Augen gesehen haben: Es ist eine der ›unsichtbaren Städte‹, die wir in unserer Phantasie bereisen und in Detailfreude ausschmücken können. Auch Italo Calvino charakterisiert in seinem bezaubernd-melancholischen Buch Die Unsichtbaren Städte Theben als Stadt, in der jedem sein ganz individuelles Rätsel gestellt werde. Es spricht Marco Polo: Dazu auch ROSATI, 2002, der in dieser Hinsicht auf Vitruvs De architectura 7.5.2 verweist. 9 Gleichwohl wird der Vergleich verschiedener Tragödien hinsichtlich einer Semantisierung des Raums die Bedeutung der konkreten Aufführbarkeit stark relativieren. 10 LOTMANN, 1972, S. 337. 8

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Theben als Unort »›Aus der Zahl der vorstellbaren Städte müssen wir diejenigen ausschließen, deren Elemente sich ohne einen verbindenden Faden, eine innere Regel, eine Perspektive, einen Diskurs einfach aneinanderreihen. Es ist mit den Städten wie mit den Träumen: Alles Vorstellbare kann geträumt werden, aber auch der unerwartetste Traum ist ein Bilderrätsel, das einen Wunsch verbirgt oder seine Umkehrung, eine Angst. Städte wie Träume sind aus Ängsten und Wünschen geformt, auch wenn der Faden ihres Diskurses geheim ist, ihre Regeln absurd, ihre Perspektiven täuschend sind und jedes Ding etwas anderes verbirgt.‹ ›Ich habe weder Wünsche noch Ängste‹, erklärte der Khan, ›und meine Träume werden entweder von meinem Geist oder vom Zufall geformt‹. ›Auch Städte glauben, sie seien ein Werk des Geistes oder des Zufalls, aber weder der eine noch der andere genügen, um ihre Mauern aufrechtzuerhalten. Du erfreust dich bei einer Stadt nicht ihrer sieben oder siebenundsiebzig Wunder, sondern der Antwort, die sie dir auf eine Frage gibt.‹ ›Oder der Frage, die sie dir stellt, um dich zu einer Antwort zu zwingen, wie Theben durch den Mund der Sphinx.‹«11

Auch uns stellt Theben ein Rätsel. Theben ist ein (Un-)Ort im europäischen Imaginaire, wo nichts gilt, wo menschliches Leben nicht so geregelt wird, dass es menschliches Leben genannt werden kann. Zeitlin hat in einer sehr inspirierenden Abhandlung über die politisch-ideologische Semantisierung Thebens in der attischen Tragödie als Anti-Athen einige literarische Topoi dieses UnOrtes/dieser Un-Stadt herausgearbeitet, die die disparaten thebanischen Mythen der attischen Tragödie unterschwellig zusammenklammerten.12 Immerhin bildet Theben den Hintergrund mindestens von Aischylos’ Sieben gegen Theben, der beiden Oedipus-Dramen und der Antigone des Sophokles sowie der Bacchantinnen und der Hiketiden des Euripides. Nach Zeitlin zeichnet dieses »radical tragic terrain«13 aus, dass dort kein Konflikt mit Mitteln staatlicher Institutionen gelöst werden könne und dass sich jenseits der Tragödienhandlung keine positiv konnotierte politische Zukunft abzeichne.14 Die Ursache dieser Selbstreferentialität wird in den verschiedenen Gründungsmythen der Königsfamilien inszeniert, die auf Autochthonie (Sparten) oder Inzest (Haus des Laios) basieren, insofern geschlossene Systeme sind und sich immer nur 11 CALVINO, 2007, S. 51-52. 12 ZEITLIN, 1990, S. 132. Sie postuliert hierbei die Autonomie der einzelnen Mythen, sieht sie aber insgesamt als »coherent and complex ensemble« (ebd., S. 131). 13 Ebd., S. 131. 14 Ebd.

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selbst reproduzieren oder dezimieren.15 Hierbei ist die Generationenfolge und natürliche Generativität nachhaltig gestört. Dies führe zu einer Überbetonung der Familienbeziehungen, die eine Fehleinschätzung der eigenen Position etwa auch gegenüber der Macht der Götter mit sich bringe. In diesem System habe das Individuum keine Entwicklungsmöglichkeiten, sondern es wiederhole immer wieder dasselbe Geschick, was etwa im Falle des Laios und seiner Familie an den Generationen übergreifenden Orakeln deutlich werde, deren Wirkung nur durch Tod der Betroffenen zum Stillstand kommt. Die Missachtung kulturell erworbener oder von der Natur gegebener Setzungen führt generell zu weiteren Konflikten (unsinnige Bestattungsverbote, Verhöhnung der Götter). Obwohl Zeitlins Abgleich dieser Charakteristika mit jeder einzelnen Tragödie zum Teil forciert erscheint und sie nicht beachtet, dass Theben nicht nur in der attischen Tragödie als Anti-Athen thematisiert wurde, können ihre Beobachtungen als grobe Orientierung dienen, weil diese Topoi von späteren Autoren verschiedener Gattungen, in denen Theben immer auch als Gegenmodell zu geregelter menschlicher Kultur auftritt, weiterbearbeitet wurden. Mein knappes Referat von Zeitlins Artikel lässt zudem deutlich werden, dass sie – worin auch der wissenschaftliche Fortschritt ihrer Betrachtungen liegt – die ideologische Dimension von Theben in den Vordergrund stellt, aber nicht darauf eingeht, wie die einzelnen Autoren zur Schaffung dieser ideologischen Konturierung konkret den mythischen Raum Theben im Detail gestalten (Geographie, Selektion der Fakten). Es gilt also, genau diese beiden Aspekte engzuführen. Mit der Nennung Thebens, einer Stadt, die zu Reflexionen über die conditio humana und die Setzungen der menschlichen Kultur aufruft, werden zwangsläufig bestimmte Elemente der Geographie und der Stadtgestaltung imaginiert: die mythischen Mauern Thebens, die Flüsse Dirke und Ismenos, der Berg Kithaeron u. a., die alle einzeln und im Verbund Geschichten der Bewohner ins Gedächtnis rufen – und damit literarische Kunstwerke, die das Schicksal der thebanischen Königshäuser inszenieren, dem sich keiner der Betroffenen, auch Oedipus nicht, entziehen kann. Die Genealogie spielt hier eine determinierende Rolle, wie etwa der Prolog der euripideischen Bacchen zeigt, in dem der Gott Dionysos sich selbst (und damit den Rezipienten) die Familiengeschichte nacherzählt und sich in dieser eine Position gibt (V. 1-63): Selbst 15 Ebd., S. 141, bes. aber S. 148: »For the tragic poets Thebes represents the paradigm of the closed system that vigorously protects its psycological, social and political boundaries.«

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im Räsonnieren des gekränkten Gottes wird deutlich, dass die Thebaner dazu verdammt sind, immer wieder gegen die eigenen Verwandten vorzugehen. Gerade die unheimlichen Grundkonstanten Thebens, wo Natur und Kultur gleichermaßen pervertiert werden, lassen Theben in der Literatur zu einem offenen Modell werden, das in den konkreten Elementen noch genügend Raum für individuelle konkrete Ausgestaltung ließ und lässt.16 Seneca schrieb einige 100 Jahre nach den attischen Tragikern und hat dementsprechend eine andere Position in der Literatur- und Kulturgeschichte als diese. Natürlich muss man – wie bei jeder anderen Gattung – zwischen dem Athen des 5./4. Jahrhunderts v. Chr. und dem Rom der frühen Kaiserzeit eine qualitative Veränderung des durch das kulturelle Imaginaire der Zeit geprägten Verständnis- und Erwartungshorizonts annehmen.17 Nicht nur hatten sich neue politische Strukturen entwickelt, hatten sich Philosophie und Rhetorik und neue Kunstformen, Wissenschaften (z. B. Medizin) und Technologien weit verbreitet, die römischen Rezipienten hatten durch ihr großes Imperium, das unterschiedlichste Sprach- und Kulturgruppen in sich vereinigte, und durch die reiche griechische und lateinische Literatur eine andere Vertrautheit mit realen und imaginären Welten.18 Seneca konnte sich z. B. durch Ovid inspirieren lassen, der in seinen Exilgedichten eine subjektiv gefärbte Topographie des Verbannungsortes geschaffen hatte, in der sich die innere Verfasstheit, die Trauer und innere Leere, der fehlende Lebensmut des Sängers in einer eisigen kargen Landschaft abbilden, die keine ›reale‹ Beschreibung der Schwarzmeergegend darstellt. Auch seine Metamorphosen stellen in großer Zahl Welten bereit, in denen die Grenze zwischen Phantasie und Alltagsrealität nachhaltig verschoben ist.

16 Um Senecas besonderer Leistung der Semantisierung des Raums Konturen zu verleihen, wäre allerdings nicht nur eine Untersuchung seiner anderen Tragödien, sondern auch anderer literarischer Kunstwerke in synchroner und diachroner Analyse nötig. Eine Beschränkung rein auf tragische Prätexte ist angesichts der wechselseitigen Durchdringung der Gattungen und Kunstformen in Rom nicht sinnreich. Jedoch kann im Rahmen dieses Artikels nur ein Specimen einer solchen Betrachtung gegeben werden. Seneca schafft diese aus den Fugen geratene Welt nicht nur in bewusster Kontrafaktur zum sophokleischen Oidipus Tyrannos, sondern auch zu anderen römischen Prätexten, auch aus nichttragischen Genres. 17 Contra KUGELMEIER, 2007, der dies unter Verweis auf die sich wenig verändernden Gattungskonventionen der Tragödie für einen zu vernachlässigenden Faktor hält. Hier ist aber das gesamte kulturelle Spektrum zu beachten. 18 Zur Ethnographie und zu ethnographischen Elementen in der römischen Literatur, vgl. THOMAS, 1982.

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Ovid war auch der epische Dichter, der in offensichtlicher Rezeption der attischen Tragiker (und anderer Texte) in den Metamorphosen Theben und insbesondere die Landschaft um Theben (nicht die Stadt) in einer markanten, folgenreichen Form literarisch kodiert hat.19 Die Rezipienten werden durch eine Landschaft der Ambiguität geführt, wo die Götter, allen voran Iuno, in einem locus amoenus den Menschen tödliche Fallen stellen.20 Die Diskrepanz zwischen dem idyllischen Ort des Geschehens und der beunruhigenden Natur eben dieses Geschehens (z. B. in den Geschichten von Actaeon und Narcissus und Echo) bereitet tiefes Unbehagen, weil sie sowohl auf die Grausamkeit der Götter als auch auf die Fragilität menschlicher Existenz, die im ständigen Deutungsirrtum begriffen ist, verweist. Der Epiker Statius, der zur Zeit der flavischen Kaiser schreibt, gestaltete in offensichtlicher Kontrafaktur zu Ovid21 in seiner Thebais, die den Bruderkrieg der Söhne des Oedipus um Theben schildert, eine literarische Szenerie, in der die destruktiven, moralisch depravierten Individuen und die aggressiv hässliche Umgebung eine unauflösliche Einheit bilden. Diese Wechselseitigkeit von erster und zweiter Natur scheint nicht auflösbar: Wer aus Theben stammt oder nach Theben kommt, wird zwangsläufig in diesen Sog der Gewalt und Selbstzerstörung gezogen. Ob es aber der Landstrich ist, der seine Bewohner formt, oder aber ob es die Menschen sind, die durch Aggressivität und Morallosigkeit die Landschaft prägen, ist nicht eindeutig zu entscheiden.22 Diese Gedankenfigur ist in der römischen Literatur verbreitet: Theben scheint eine Art Antibild zu Vergils Saturnia Tellus (= Italien) zu sein, die einen moralisch integren und arbeitsamen Menschenschlag hervorbringt.23 Zwischen den literarischen Kontrafakturen von Ovid und Statius ist der Oedipus Senecas anzusetzen. Seine besondere Leistung ist es, den Unort The19 Gerade die thebanischen Mythen der Metamorphosen haben auch die Landschaftsmalerei nachhaltig beeinflusst; dazu HINDS, 2002 (mit weiterführender Literatur). 20 Vgl. die Artikel von NEWLANDS, 2004, und HARDIE, 1990, der sich sehr stark an Zeitlin orientiert. 21 Dazu wiederum NEWLANDS, 2004. 22 Vgl. auch die Darstellung Thessaliens im Bellum Civile Lucans (6, 1-412), das ebenfalls als ein Gebiet geschildert wird, das aufgrund seiner Entstehung und seiner natürlichen Charakteristika prädestinierter Ort eines Kriegs von Bürgern gegen Mitbürger ist. 23 Diese Gedankenfigur, dass die Menschen von dem Landstrich, in dem sie leben, nachhaltig geprägt sind, findet sich nicht nur in Vergils Georgica, sondern ist in Rom weit verbreitet (vgl. auch Ciceros Cato maior).

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ben aus der Warte eines subjektiv wahrnehmenden Individuums vorzustellen, eines Oedipus, der zwar aktueller König von Theben ist, jedoch noch nicht weiß, dass er in viel prägnanterer Weise ein thebanischer Bürger ist, als er es sich je vorstellen konnte. Seine subjektive ›Interpretation‹ Thebens, das ihm unheimlich und vertraut zugleich erscheint, öffnet dem Rezipienten das Schatzhaus der memoria des thebanischen Sagenkreises, aus dessen Fundus das Schicksal des Oedipus in einer Art poetischer Traumarbeit generiert wird. Wie also wird uns dieser Ort vor Augen geführt?

Die ›egozentrische Topographie‹ des senecanischen Oedipus Der Prolog des senecanischen Oedipus24 ist als Selbstgespräch des Königs25 realisiert, das durch Fragen, Ausrufe usw. eine sehr dynamische Natur hat. In der antiken Literatur wurde das Selbstgespräch lange vor seiner Benennung durch Augustinus als soliloquium in den unterschiedlichsten Gattungen als 24 Die Unterschiede zur Version des Sophokles sind manifest; in Senecas Prolog treten weder Creo noch der Priester noch das Volk von Theben auf. Creo wird erst nach dem ersten Chorlied auf die Bühne kommen (V. 212ff.), wohingegen der Seher Tiresias gleich im Anschluss an Creo auftritt (während Sophokles vor diesen einen Götteranruf gesetzt hat). Bei Seneca wird zudem die Beziehung des Königs zu seinem Volk wenig beleuchtet: Auch das erste von Thebanern gesungene Chorlied befasst sich nur mit der Auswirkung der Pest und ist deshalb eine direktindirekte Ergänzung der Pestbeschreibung des Oedipus. Da das Volk noch nicht im Prolog auftritt, ist zudem das Motiv der Hikesie verändert: Der König selbst fleht die Götter an. Am Ende des Prologs tritt aber schon die Königin und Mutter Iokaste auf, die bei Sophokles erst sehr viel später eine Rolle spielt. Im Folgenden werde ich mich aber ausschließlich mit Oedipus’ Auftrittsworten befassen und den Dialog mit der Königinmutter weitgehend außer Acht lassen. 25 SCHMIDT, 2004, S. 341, behauptet, dass der Prolog bzw. der erste Akt aus einem Monolog des Königs und einem Dialog des Königs und Iokaste zusammengesetzt sei, die beide außerhalb des eigentlichen »dramatischen Geschehens« stünden. Doch was soll ›dramatisches Geschehen‹ bedeuten? Denn hier tritt Oedipus doch schon auf und es ist Teil des Geschehens, dass Oedipus sich hier schon als Schuldigen oder möglichen Schuldigen sieht. Solche letztlich spitzfindigen Unterscheidungen, die eigentlich nur Vorurteile gegenüber Senecas angeblich fragmentierter Handlungsabfolge in anderer Form (nämlich scheinbar positiv) darbieten, entheben den Interpreten lediglich der Mühe, die Homogenität der Tragödie zu untersuchen. Man kann nicht Worte von der Handlung oder vom ›dramatischen Geschehen‹ trennen. Sie sind Teil des dramatischen Geschehens oder besser: Sie sind es.

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wirkungsvolle Darstellungsstrategie eingesetzt, die es ermöglichte, die innersten Gedanken und Motivationen einer Figur offenzulegen.26 Im Unterschied zum Monolog, der jede beliebige längere, auch an andere gerichtete Rede sein kann, ist das Selbstgespräch – wie schon Platon formulierte – eine Form des Denkens, das sich dialogisch-monadisch konstituiert. Insofern handelt es sich um eine ›implosive‹ Gesprächssituation, in der die Positionen von Erzähler, Gesprächsgegenstand und Dialogpartner/Zuhörer zusammenfallen. Orth hebt in diesem Zusammenhang die »egozentrische Topographie« des im Selbstgespräch Gefangenen hervor, in der die Deixis, also der Verweis auf die Umgebung (den Aufenthaltsort), eine andere Funktion hat als in einem Dialog, denn der Sprechende zeigt und erklärt sich ausschließlich selbst etwas (in der inneren Kommunikationssituation).27 Insofern ist ein Selbstgespräch stärker interpretativ und im höheren Maße eine Selbstverortung im gesellschaftlichen Umfeld als ein Dialog. Genau diese Gestaltungsmöglichkeiten des Selbstgesprächs hat Seneca in seinem Oedipus fruchtbar gemacht. Oedipus stellt sich uns hier als ein im Spiegelkabinett seiner Ängste gefangener, existentiell einsamer Mensch dar,28 der jederzeit mit den ›normalen‹ Aufgaben eines Helden (Ungeheuer töten, Kriege führen) fertig werden könnte, jedoch einem nicht fassbaren Gegner wie dem Fatum oder den Göttern kein eingeübtes Verhaltensmuster entgegenzusetzen hat.29 Im Selbstgespräch will der Rätsellöser Oedipus in erster Linie eine Lösung für sich selbst finden. Er versucht, aus dem unheilvollen Geschehen, das sich um ihn herum vollzieht, aus der Pest, aus der sich in Auflösung begriffenen Naturordnung und dem Zerfall menschlicher Kultur Rückschlüsse zu ziehen. Der Prolog zeigt ihn als Zeichenleser, als einen Menschen, der durch den fatalen Spruch, den ihm das Delphische Orakel gegeben hat, gar nicht mehr anders kann, als überall göttliche Botschaften zu wittern, zu deuten, auszulegen. Auch wenn die Parodos des Chors bestätigt, dass eine Seuche in Theben herrscht, können wir trotzdem die Aussagen des Oedipus, der uns im Selbstge-

26 Dazu z. B. WALSH, 1990; ORTH, 2000; WALDE, 2008. 27 Vgl. ORTH, 2000, S. 22. 28 Obwohl aus der Beziehung zu anderen von ihm genannten Personen (parentis […] Polybi, V. 12; ferner Erwähnung des Orakels) seine Identität erkennbar ist, nennt er doch seinen Namen nicht. 29 Dies verleiht dem Schicksal des senecanischen Oedipus exemplarischen Charakter, denn es lässt jeden Menschen, der mit Widernissen des Lebens zu kämpfen hat, in den Bereich des Heldenhaften rücken (Allgegenwart des fatum).

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spräch seine Deutung des Geschehens und damit eine bestimmte Semantisierung des Raums vorstellt, keiner Realitätsprüfung unterziehen. Schon die ersten Zeilen des Selbstgesprächs geben den düsteren Grundton vor:30 Sie bieten eine Beschreibung des Sonnenaufgangs, der vom Helden gleichzeitig beobachtet und kommentiert wird (V. 1-5): »Iam nocte Titan dubius expulsa redit et nube maestum squalida exoritur iubar, lumenque flamma triste luctifica gerens prospiciet avida peste solatas domos, stragemque quam nox fecit ostendet dies.« Schon kehrt Titan zögernd / zwielichtig nach Vertreibung der Nacht wieder und es steigt der traurige Schweif mit schmutziger Wolke empor und das trauervolle Licht mit trauerbringender Flamme führend, wird er auf die durch die Pest verwaisten Häuser schauen und der Tag wird das Morden zeigen, das die Nacht vollbrachte.

In der Tragödienstruktur haben die Verse, mit denen die dramatische Handlung unvermittelt einsetzt, natürlich traditionell die Funktion, den Ort und die Zeit (Morgen) und die wichtigen Themen und Motive der Tragödie (hell – dunkel; hoch – tief; Vernichtung) zu exponieren. Doch sind sie – wie eine genauere Analyse zeigt – alles andere als konventionell. In diesem im Selbstgespräch realisierten Zeichenlesen, in dem Oedipus die Realität nur unter dem Eindruck des ersten Orakels wahrnehmen kann, tritt uns das durch die Pest verwüstete Theben klar vor Augen. Der deiktische Charakter der Verse31 lässt erahnen, dass der Sprecher schon lange den Schlaf nicht mehr finden konnte und er nun – vielleicht auf dem Dach seines Palastes stehend – am Horizont den als Titan bezeichneten Sonnengott Sol-Apollon zurückkehren sieht. Doch sind diese Worte nicht eine einfache Beobachtung des Wetters oder der Tageszeit, vielmehr bildet die Wettermantik den Verständnishorizont für ein Zeichenlesen anderer Natur. Sie 30 Diese Düsterkeit wird sich erst am Ende der Tragödie (vielleicht) wieder aufhellen, wenn Oedipus die Wiederkehr zur normalen Naturordnung beschreibt, falls dies nicht wieder – diesmal wunschhafte – Wahrnehmung des Helden ist (V. 10471061). 31 Vgl. iam (›schon‹, ›gerade‹); nocte expulsa, redit, exoritur, gerens sowie die Anvisierung der aufgehenden Sonne.

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sind eine emotionale-egozentrische Divination eines alltäglich wieder zu erlebenden Naturphänomens, das nun schon seit einiger Zeit (und nicht nur einmal) unnatürlich verändert ist: Titan steigt dubius, ›zwielichtig‹, ja ›zögernd‹ auf, mit schmutzigen Wolken, trauerndem Lichtschweif, um doch nur mit diesem fahlen Licht das Töten, das die Nacht der Stadt (erneut) gebracht hat, zu erleuchten. Er zögert aufzusteigen, weil er nun das Morden der Nacht und die entleerten Häuser betrachten und erhellen muss – und ist doch gleichzeitig Verursacher des Massensterbens, das die Pest hervorruft. Wir können nicht entscheiden, ob es nicht nur die Phantasie des Sprechers ist, dass Sol zögert, oder gar sein Wunsch, dass er doch zögern möge, so wie er selbst (von den Zinnen seines Palastes) nach durchwachter Nacht die um sich greifende Entleerung seiner Stadt nicht mit ansehen möchte. Mit wenigen Worten skizziert Seneca eindrücklich die Zerstörung einer Kulturlandschaft, einer Stadt, deren Häuser durch das Wüten der Pest verwaist (»solatas domos«) sind. Alles ist mit Tod und Vernichtung überschrieben: Städte ohne Menschen sind aber gleichsam Skelette der menschlichen Kultur. Schon fürchtet Oedipus alleine in ihr zurückzubleiben. Für Oedipus stellt sich dieses Geschehen zwangsläufig in eine Reihe mit dem berühmten Orakel des Apollon, das ihm vorausgesagt hatte, er werde den Vater töten und die Mutter ehelichen. Dieses Orakel hatte ihn ins Exil getrieben. Nun war er aber an diese unheilvolle Herrschaft in Theben geraten: Trotz seiner Allpräsenz wagt er kaum an den Spruch zu denken oder gar – auch nicht nach 10 Jahren –32 ihn noch einmal auszusprechen: »eloqui fatum pudet« 32 Die Zeitangabe kann abgeleitet werden aus Iocastas Aussage: Decima iam metitur seges (V. 783, ›Es wird schon die zehnte Ernte abgemessen‹). Der Zeitpunkt des Handlungseinsatzes ist bei Seneca und Sophokles zwar nicht identisch, aber dennoch nicht allzu verschieden. Die Ausschickung des Creo wird nicht explizit erwähnt, steht aber m. E. implizit im Hintergrund der Gedanken des Oedipus. Diese Unschärfe, die von geneigteren Interpreten damit entschuldigt wird, dass Oedipus die Ausschickung des Creo wohl zeitweilig vergessen habe, kann Seneca nicht als Kompositionsschwäche ausgelegt werden. Abgesehen davon, dass die intendierten Rezipienten Senecas sich die Ausschickung in Kenntnis der sophokleischen Version stillschweigend ergänzen konnten, kreisen bei näherer Betrachtung auch die Gedanken des senecanischen Oedipus um das Orakel von Delphi, das ihm einstmals die fata gegeben hatte, die sein ganzes Leben entscheidend und ohne mildernde Unterbrechung geprägt haben. In Rückverweis auf den Prolog drückt Oedipus in einer späteren Szene seine Angst vor der Antwort des Orakels, die Creo aus Delphi bringen wird, mit ähnlichem Affekt aus: Horrore quatior, fata quo vergant timens (V. 206, ›Ich werde von Grauen geschüttelt, wohin sich die Schicksalssprüche neigen werden‹). Diese intratextuelle Korrespondenz lässt wahrscheinlich

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(V. 19). Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Prophezeiung, Ausführung der Taten und Erinnerung fallen in seiner Wahrnehmung zusammen – Kennzeichen einer schweren Traumatisierung.33 Aus pietas und Misstrauen gegen sich selbst und um das Inzesttabu (denn Inzest wäre das größere nefas) zu wahren, verließ er die Eltern. In seiner Angst und seinem Pessimismus erscheint ihm selbst die durch eigene Leistung und unter Lebensgefahr errungene Herrschaft über Theben in einem schlechten Licht, weil sie ihn als einzig Unversehrten erneut als Beklagten des Phoebus zu exponieren scheint (V. 34).34 Dies erstaunt ihn indes nicht, denn in seiner Wahrnehmung (und auch wegen der Zwangsläufigkeit des Mythos) muss zur Prophezeiung eigentlich nicht einmal mehr ihre Erfüllung treten, da sie sich ohnehin in irgendeiner, auch paradoxen Form einstellen würde: Einem Menschen, der (potentiell) kulturelle Setzungen überschreiten wird, kann auch kein gesundes (medizinischer Begriff »salubre«, V. 36) Reich geschenkt werden; äußerlich scheinbar als einziger gesund, ›infiziert‹ er seine Umwelt (»fecimus caelum nocens«, V. 36). Caelum ist hier als ›Klima‹35 im Allgemeinen aufzufassen, lagen doch die Ursachen der Pest nach Ausweis der antiken Gewährsmänner auch in ungünstigen klimatischen Verhältnissen (Nebel, durch Hitze faulige Gewässer usw.):36 Die Krankheit von Oedipus Untertanen und die Verödung der Natur sind also die Fleischwerdung bzw. Realisierung seiner moralischen Krankheit. Die Welt, in der er sich bewegt, verwandelt sich nach dem Bilde dieser moralischen Krankheit, wird zu ihrer Metapher, ihrer Verkündigung, Inszenierung und Anklage zugleich.

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werden, dass Oedipus auch schon im Prolog über die mögliche Antwort des Orakels reflektiert. Interessanterweise will TÖCHTERLE, 1994, ad loc., diesen Zusammenhang nicht sehen, was man dann immer noch negativ als mangelnde Kunst Senecas brandmarken kann. Eine gute Materialsammlung zur ›Neurose des Ödipus‹ bietet PÖTSCHER, 1977, wenngleich ich der Gesamtaussage, dass der Neurotiker Oedipus in seiner überzogenen Angst das Schicksal teilweise selbst auf sich herabzieht, nicht zustimmen kann. Oedipus hat wohlbegründete Ängste; es wäre vielmehr unnormal, wenn er sie nicht hätte. Man könnte die Tatsache, dass Oedipus als Einziger von der Pest verschont bleibt, auch so interpretieren, dass er als Einziger schuldlos und unbefleckt sei – aber diese Möglichkeit bleibt Oedipus aufgrund seiner Vorgeschichte verschlossen. SCHMIDT, 2004, S. 341, spricht in diesem Zusammenhang von der »Beobachtung der eigenen Unversehrtheit«. Siehe dazu Thesaurus Linguae Latinae, I, Sp. 78-95, s.v. caelum, B1.2 (b) 92-94; und TÖCHTERLE, 1994, ad loc. Dazu siehe TÖCHTERLE, 1994, S. 178-179 ad Oed. 47.

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Gleichwohl sieht Oedipus sich – wie der Plural von fecimus zeigt – nicht als der einzige Beflecker: In seiner Wahrnehmung ist er durch die Prophezeiung und die Seuche untrennbar mit dem Orakel- und Pestgott Apollon verbunden.37 Er ist sein Gegner und sein göttliches alter ego, der ihn zu Taten treibt, die unter Göttern gang und gäbe sind, und ihm selbst göttliche Unversehrtheit zuteilwerden lässt. Theben ist eine Art Projektionsfläche, auf der diese Interaktion, in der die Grenze zwischen Gott und Mensch zu verwischen scheint, ausgetragen wird. Angst und Megalomanie gehen hier eine bemerkenswerte Mischung ein. Denn welcher Mensch hätte schon die Macht oder Bedeutung, dass die ganze sichtbare Welt sein individuelles Schicksal gleichsam in Großschrift wiedergäbe? Konsequenterweise schließt sich nun eine ausführliche Beschreibung des Klimas und der Seuche an, die zusammengenommen mit dem ersten Chorlied einen der markanten Unterschiede zur sophokleischen Version darstellt. In einer Art Zoom-Technik werden erst kosmische Phänomene (V. 37-40) beschrieben, dann die unmittelbar vor Theben liegende Landschaft (V. 41-51), zuletzt die Menschen (V. 51ff.), wodurch die Blickführung Titans (V. 1-5) wiederholt wird: Auch am hellen Tag setzt sich die zwielichtige Stimmung des Sonnenaufgangs38 fort, nur dass zum Zwielicht nun auch noch unerträglich sengende, windlose Hitze tritt. Der das Morden der Nacht aufdeckende Titan vernichtet jetzt durch Glut, da er durch ungünstige Sommergestirne unterstützt wird (V. 39f.). Ausgetrocknet sind die thebanischen Flüsse Dirke und Ismenos (V. 41-43); verdorrt und farblos die Wild- und Nutzpflanzen.39 Es herrscht – 37 Bisher wurde dieser Plural eher banalisierend gedeutet: z.B. TÖCHTERLE, 1994, ad loc., der hierin einen gnomischen Plural sehen will. Wenige Zeilen vorher bezeichnet sich Oedipus als scilicet Phoebi reus (V. 24). Apollon ist aber die letztendliche Ursache hinter der Pest (vgl. den ersten Gesang von Homers Ilias). 38 Hierbei werden systematisch Begriffe aus den ersten Versen des Prologs (V. 1–5) wiederholt, wodurch deutlich wird, dass Oedipus den umwölkten Sonnenaufgang in direkter Verbindung mit der Pest sieht: flamma (V. 3) – flammis (V. 38); Titan (V. 1) – Titan (V. 40); nube (V. 2) – nubilo (V. 45); triste (V. 3) – tristis (V. 45); dies (V. 5) – die (V. 45). 39 [D]eseruit herbas color (V. 41); denegat fructum Ceres adulta (V. 49/50). Eine ähnliche Aussage findet sich auch schon bei Sophokles (V. 25), doch Seneca hat das Motiv leicht modifiziert: Das als Ceres personifizierte Korn verweigert – ein Eigenleben habend – die Frucht. Vielleicht ist hierin eine Anspielung auf die Erysichthon-Episode zu fassen, laut der im Reich der Fames Ceres nicht sein kann (Ovid, met. 8, V. 780-786). Bei Seneca aber verweigert Ceres in ihrem eigenen Reich die Ernte – Hinweis auf eine Bestrafung durch die Götter oder auch eine gewisse göttliche Autodestruktivität.

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wie der weitere Fortgang der Handlung zeigt – ein Gleichklang, ja eine Gleichschaltung von Natur und Mensch: »Nec ulla pars immunis exitio vacat« (V. 52). Jeder Bereich der sichtbaren Welt wird in den Strudel von Tod und Vernichtung gezogen. Dass Oedipus hinter diesem unheimlichen Geschehen weitreichende göttliche Intervention vermutet, zeigt sich darin, dass er die Himmels- und Naturerscheinungen mit Götternamen bezeichnet.40 Dies könnte eine einfache gelehrte Paraphrase sein, gewinnt hier aber doch eine Prägnanz als offensichtlicher Ausdruck dafür, dass die pax deorum nachhaltig gestört ist. Mit sezierender, analytischer Distanziertheit und persönlicher Involviertheit zugleich beschreibt Oedipus einen Ausnahmezustand, in dem Natur und kulturelle Errungenschaften gleichermaßen zerstört werden: Auf der Ebene der menschlichen Kultur lassen zusätzlich zur erbarmungslos brennenden Sonne die sengenden Totenfackeln und brennenden Scheiterhaufen (V. 55; 59–68), für die es schon keine abzuholzenden Wälder mehr gibt, durch ihre schiere Menge die Temperatur weiter ansteigen. Der König erlebt den Verfall, die Auflösung einer menschlichen Besiedlung. Die Menschen betrachtet er ausschließlich unter dem Aspekt ihres Sterbens und ihrer Bestattung. Der durch Krankheit hervorgerufene Tod rafft beide Geschlechter, alle Altersgruppen zugleich hinweg: »omnis aetas pariter et sexus ruit« (V. 53). Gegen dieses Massensterben fruchtet keine Gegenmaßnahme: Gebete verhallen ungehört; die medizinische Kunst versagt. Vielmehr verfallen diejenigen, die Abhilfe schaffen wollen, sogleich selbst der Krankheit.41 Dieses Sterben ist unaufhaltsam und auch nicht mehr durch die üblichen Bestattungsriten zu begleiten, die angesichts der Menge der Toten ihre Verbindlichkeit verlieren,42 nicht zuletzt, weil diejenigen, die noch ihre Pflicht tun wollen, selbst während Leichenzug oder Bestattung ihr Leben aushauchen. Angehörige, die keine Kraft mehr haben, einen Scheiterhaufen aufzuschichten, werfen ihre lieben Toten auf fremde Scheiterhaufen.43 Diese zu anderen Zeiten zu ahndende Verletzung der pietas 40 Z. B.non Zephyri leves spirant (V. 38/9, ›Nicht wehen die leichten Zephyre‹), obscura caelo labitur Phoebi soror (V. 44, ›Zwielichtig gleitet am Himmel des Phoebus Schwester‹), denegat Ceres (V. 49, ›Ceres verweigert‹). 41 Die Sentenz cadunt medentes, morbus auxilium trahit (V. 70, ›Es stürzen die Heilenden nieder, die Krankheit zieht die Hilfe mit sich‹) wird in übertragener Bedeutung auf Oedipus selbst zutreffen. 42 Hier lässt sich ein Verwischen der ersten und zweiten Natur beobachten: Im ersten Chorlied lassen auch die Tiere von den ihnen traditionell zugesprochenen Eigenschaften ab (V. 133ff.). 43 Vgl. die ›Bestattung‹ des Pompeius durch Cordus in Lucans Bellum Civile 8, 712822.

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täte immerhin noch der Verpflichtung Genüge, die Toten zu verbrennen bzw. zu bestatten, doch schon verweigert der Wald (personifiziert!) das Holz für die Scheiterhaufen. Selbst die Möglichkeit zur Erdbestattung wird bald nicht mehr bestehen, denn auch die Erde reicht für die unzähligen Toten nicht mehr. Wir müssen uns eine zwielichtige monochrome Landschaft mit einer sich entleerenden Stadt vorstellen, die als Residuum der menschlichen Kultur zurückbleibt, mit immensen lodernden Scheiterhaufen, Leichenbergen, Verwesung – ein wahres apokalyptisches Szenario, das von Ungeschiedenheit, Unfruchtbarkeit, Zusammenfallen der Generationen,44 Hilflosigkeit und folgendem Kulturverlust geprägt ist.45 Das ist – wie Oedipus es ausdrückt – eine »inferna facies« (V. 49) – das ›Antlitz der Unterwelt‹.

Theben und die Unterwelt Die Ähnlichkeiten und Differenzen des Prologs zu traditionellen Darstellungen der Unterwelt sind in der Tat auffällig:46 Dieses Theben gleicht ihr in der Fahlheit des Lichts und der Nichtsichtbarkeit des Himmels, der Farblosigkeit, in der Windlosigkeit. Der Hades ist in vielfacher Hinsicht die Verneinung des Lebens, des Farbvollen bzw. die Absenz bestimmter Phänomene, die mit einem bestimmten zeitlichen Rhythmus oder Entwicklung überhaupt verbunden sind (Wachstum generell; Säen und Ernten usw.). In der Antike ist er die AntiWelt, der Anti-locus amoenus, der Prototyp des locus horridus, wo die Sonne nicht scheint, die Bäume nicht grün sind, die Vögel nicht singen und auch keine Bächlein rauschen. Er ist auch der Ort der Zeitlosigkeit und Stille, der Ewigkeit, der Ausweglosigkeit, der Irreversibilität, der Generationenlosigkeit, der ewigen Wiederholung: Die Unterweltsbüßer, z. B. Sisyphus und die Da44 Das Gleichmachen aller durch den Tod spiegelt den Zusammenfall der Generationen wider (nicht bei TÖCHTERLE, 1994, ad loc.). 45 Diese Semantisierung wird besonders im Vergleich mit dem ersten Chorlied deutlich, das, obwohl von Betroffenen gesungen, wissenschaftlich-deskriptiver ist. 46 Im Oeuvre Senecas ist die nächste Parallele für solch eine Gestaltung einer Gegenwelt der Hercules Furens (V. 658-829, mit dem Kommentar BILLERBECK, 1999). Im Hercules Furens handelt es sich aber um die Unterwelt selbst. Wenn man die Perspektive, mit der Theseus die Unterwelt erlebt, mit derjenigen des Oedipus vergleicht, erscheint er als ein distanziert-ergriffener Beobachter, der – als hospes selbst nicht zu dieser Welt gehörig – sich diese Welt zu erklären sucht.

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naiden, müssen immer wieder dieselben Aufgaben erledigen, ohne damit je an ein Ende zu kommen. Im Theben, das Senecas Oedipus beschreibt, sind nicht nur die alltäglich erfahrbare Realität oder der locus amoenus (der weitgehend reine Natur ist) negiert,47 sondern es wird ein locus horridus, ein Unort besonderer Natur geschaffen, ist er doch keine Gegenwelt, die von der Realität ihrer Protagonisten etwa durch geographisch-räumliche Distanz oder durch die Grenze von Leben und Tod geschieden wäre, sondern eben diese Realität. Diese stellte eine Mischform von Unterwelt und Welt der Menschen dar und ist ein sichtbares und gehaltvolles Produkt eines Zerfallsprozesses menschlicher Kultur: Weder wird sie von Schatten bewohnt noch ist sie – wie die Unterwelt – kalt, sondern ist vom Tod gezeichnet, da sie nur auf Hitze,48 Krankheit, Sterben, Bestattung und Verwesung reduziert ist. (In der ›aseptischen‹ Unterwelt stirbt man nicht, und es gibt dort auch keine Leichen). Hierbei handelt es sich aber nicht um einen Dauerzustand, sondern um einen Einbruch von unerklärlichen Phänomenen, Zeichen der Götter oder Emanation menschlichen Frevels, in die Normalität, ohne dass dabei Adynata entstünden. Die Gegenwelt dieser antizipierten Unterwelt, die auch Züge von Wüsten trägt, wäre die intakte Stadt, deren Raum nun in unheimlich-rätselhafter Weise und irreversibel49 überschrieben

47 Es kommt das Schema der Verneinung zum Tragen, wie es auch für Unterweltsbeschreibungen typisch ist (dazu BILLERBECK, 1999, S. 436). Z. B. V. 37f.: Non aura gelido lenis afflatu fovet anhela flammis corda, sed […]; ebenso: V. 46f., V. 52f.; oder der Ausnahmezustand wird durch ›negative Worte‹ verdeutlicht wie deseruit (V. 41), tenuis (V. 42), vix (V. 43), sterilis (V. 51), etc. 48 Insofern zeigt dieses Theben auch ein Charakteristikum unserer Vorstellung von ›Hölle‹, auch wenn diese Assoziation sich von den antiken Unterweltsbeschreibungen entfernt. Erst seit dem Mittelalter ist die Hölle heiß; doch auch der innerste Höllenkreis bei Dante liegt in tiefstem Eis. 49 In Senecas Pestbeschreibung sind intertextuelle Bezüge zu den entsprechenden Passagen bei den römischen Dichtern Lukrez, Vergil und Ovid erkennbar (siehe TÖCHTERLE, 1994, ad loc.); der engste Bezug besteht zu Ovids MyrmidonenEpisode: Dort erzählt der König Aeacus dem Gastfreund Cephalus, warum er bei seinem zweiten Besuch in Aegina viele Bekannte nicht mehr antreffe. Er schildert in langer ununterbrochener Rede, dass seine Stadt durch eine von Iuno gesandte Pest geschlagen gewesen sei und dass er selbst sich in tiefer Verzweiflung den Tod gewünscht habe (met. 7, V. 582f.). Schließlich war er dennoch in die Situation gekommen, in die Oedipus bei Seneca zu kommen fürchtet: Sein Reich war fast menschenleer und er selbst einer der wenigen Überlebenden. Es folgt das Myrmidonenwunder, das das Volk auf wundersame Weise wiederherstellt.

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wird. Obwohl Theben nur deshalb ein Unort ist, weil Menschen dort agieren,50 die – wie Oedipus unwillentlich-schuldlos – die Lebensbedingungen zerstören, und es sich demnach bei dem Unort um ein eigenes Produkt handelt, tritt dieser dem Betrachter Oedipus als (scheinbar) völlig fremd und doch unheimlich vertraut entgegen. Oedipus, der paralysierte Beobachter, ist seiner gewohnten Umgebung und seiner eingeübten Handlungsmuster entfremdet und sieht sich zugleich als Verursacher dieses Geschehens.

Senecas Albtraumwelt Der analytische Nachvollzug des Prologs lässt die Ähnlichkeiten des Selbstgesprächs des Oedipus mit bestimmten Aspekten von Traumerzählungen und Traumdeuteszenen hervortreten, die von Seneca in markanter Weise aufgenommen, transformiert und gleichsam kondensiert werden. Denn es ist Kennzeichen von Traumbildern, dass auch sie, obwohl Produkt des Träumers, ihm zur gleichen Zeit fremd und deutungsbedürftig sind. Dies soll ein kurzer Vergleich mit einer anderen römischen Tragödie, dem Brutus51 des Accius (um 140 v. Chr.), illustrieren, in deren in Ciceros De divinatione (1,44) umrisshaft überlieferten Prologszene ebenfalls Zeichen eine große Rolle spielen: Dort berichtet der etruskische König Tarquinius von einem merkwürdigen Traum:52 Im Traum nimmt der König einen Hirten wahr, der eine aus ungewöhnlich schönen Schafen bestehende Herde zu ihm treibt. Aus dieser wählt er zwei ihm als blutverwandt erkenntliche Tiere aus. Er opfert das schönere von beiden, woraufhin das übriggebliebene Schaf menschliches Verhalten zeigt und sich an Tarquinius rächt: Es stößt ihn mit den Hörnern zu Boden. Verletzt auf dem Rücken liegend beobachtet der König nun ein ungewöhnliches, von ihm in der Nacherzählung als maximum / mirificum facinus eingeschätztes kosmisches Zeichen: Die Sonne sucht sich eine andere Bahn.53 50 Unorte konstituieren sich nur durch menschliche Wahrnehmung und Setzung. Die Wüste etwa, die zerstörte Stadt oder ein Schlachtfeld können aus einer anderen Perspektive, der tierischen oder vegetabilen, positive Aspekte haben. Vgl. Lucans Beschreibung des Schlachtfelds von Pharsalus (Bellum Civile, 7, 825-846), das für die Tiere ein wahres Paradies darstellt. 51 Dazu siehe WALDE, 2001, S. 230-238. 52 ACCIUS, 1995, frg. I-II, V. 651-672. 53 Die Nacherzählung lehnt sich an WALDE, 2001, S. 321f., an.

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Tarquinius erzählt dieses Traumgesicht einigen Deutern, die ihn aufgrund der Position des Träumers und der Natur des Traums (keine Reproduktion von Tagesresten) als bedeutungsvoll einschätzen: Der König werde durch eine bis dahin unauffällige Person zu Fall gebracht; die Verkehrung des Sonnenlaufes zeige eine Änderung der Staatsform an. Diese Deutung markiert den Endpunkt der Tragödie, die mit der Vertreibung des letzten römischen Königs durch Brutus endet. Man könnte also die Handlung der Praetexta als ›Entallegorisierung‹ des Traumbilds bezeichnen, das aber immer eine Verbindung mit und Auswirkung auf die Realität des Träumers haben wird, denn dies ist seine Natur und die Grundvoraussetzung der Traumdeutung. Das Traumgesicht des Tarquinius ist zudem sehr bemerkenswert konstruiert, weil es nicht nur eine Situation, nämlich ein Opfer, dessen Verlauf in der Realität ein Hinweis auf eine gestörte pax deorum wäre, sondern auch ein kosmisches Zeichen, ein Sonnenprodigium, als Darstellungsmaterial für ein Zeichen auf zweiter, verschobener Realitätsebene benutzt, das in der Mantik tiefes Unheil (dessen Auftreten aber ausgeschlossen ist) bedeuten würde und im Mythos, z. B. im Kontext der cena Thyestea, auch in entsprechender Bedeutung in der ›Realität‹ vorkommt. In der Tat ist in Bezug auf die antike, insbesondere die römische Literatur die Herausbildung eines sehr komplexen Verweissystems des Unheils zu beobachten, das in allen Formen des Verweisens ingeniös genutzt wurde, auch in Traumdarstellungen, in denen es gleichsam auf einer zweiten Stufe der Realität eingesetzt wurde.54 ›Seneca tragicus‹ bedient sich sehr selten einer Traumdarstellung, mit einer markanten Ausnahme, die auch für die Interpretation seines Oedipus aufschlussreich ist: Im Prolog der Troades, der ebenfalls im Zwielicht einer in der Vernichtung begriffenen Kulturlandschaft spielt, setzt die Troerkönigin Hecuba ihren der Geburt des Paris/Alexander vorangehenden Traum,55 sie gebäre eine Fackel, in Beziehung zum aktuell durch Kriegshandlungen vernichteten Troia, in dem die brennenden Paläste und Wohnhäuser auch tags den Himmel verdunkeln. Die Traumfackel hat sich also in der Realität der Träumerin materialisiert und ganz konkret Troia angezündet (das nun in einer bestimmten Weise metaphorisiert/entfremdet ist). Hecuba, die sich selbst als Verursacherin dieses Brandes, also als letzte Ursache des Troianischen Krieges sieht, gibt ihrem Traum und der Realität eine Deutung als durchgängiges Zeichensystem des 54 Vgl. exemplarisch zur Aeneis Vergils: KRAGELUND, 1976. 55 Zu diesem Traum und seiner Tradition siehe WALDE, 2001, S. 361-372.

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Unheils, in dem sie selbst den semantischen Mittelpunkt darstellt. Hecubas egozentrische Deutung des Geschehens wird dadurch relativiert, dass im weiteren Verlauf der Handlung andere Personen auftreten, z. B. Helena, die wiederum die Schuld am Geschehen ausschließlich für sich reklamieren. Vermutlich56 hat Seneca den Traum der Hecuba deutlich dichter in die Handlung, Worthandlung und insgesamt die Semantisierung des Geschehens einbezogen, als dies in Accius Brutus der Fall gewesen sein dürfte. In der Tat durchziehen das Wortfeld und die Metaphorik des Brennens und Loderns den gesamten Prolog.57 Das Traumbild und die aus dem Traum resultierende Angst bilden nicht nur für die Träumerin, sondern für Troianer und Griechen eine albtraumartige Realität, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Kehren wir nun zurück zum Oedipus Senecas, wird die Verwandtschaft des Prologs mit Traumszenen offensichtlich: Er teilt mit diesen den Zeitpunkt (morgens, Zwielicht), die Deutung der Realität aus Zeichen; die reale Welt des Oedipus zeigt zudem Parameterverschiebungen oder Reduktionen auf bestimmte Aspekte, wie sie für Traumgesichte typisch sind. Oedipus schildert eine Realität, die von dem, was er als alltäglich erfahrbare Normalität definiert, markant abweicht. Dergestalt bleibt aber die ›Normalität‹ beständiger Bezugspunkt, auch wenn sie nur im Prozess der Zerstörung, in der Negation präsent ist. Wie im Falle der (literarischen) Traumgesichte scheint auch hier ein Fall vorzuliegen, in dem sich durch ein prodigium ausgelöste Ängste und Phantasien über die eigene Befleckung in die Realität gerettet zu haben scheinen. Im beschreibend-reflektierenden Selbstgespräch versucht Oedipus diesen Zeichen eine Deutung zu geben. Senecas Leistung liegt darin, dass er die im Kontext von Träumen auftretende Materialisierung des Traumbildes in der Realität konsequent auf eine andere Form von Prophezeiung übertragen hat: Im aus den Fugen geratenen Kosmos sieht Oedipus den sich in die Realität rettenden Spruch des Delphischen Orakels, das ihm Inzest und Vatermord vorausgesagt hatte. Er hebt hier56 Es ist von Accius’ Brutus nicht genug erhalten, um eine abschließende Aussage zu machen. Eine Fortsetzung des Traumes auf der Ebene der Realität bzw. eine Aufweichung der Grenze zwischen Realität und Traum ist aufgrund des prognostischen Gehalts der Träume in der Literatur eine Grundbedingung. Große Unterschiede bestehen aber in der Art, wie diese Aufweichung inszeniert wird. In den Choephoroi des Aischylos etwa ist die häufige Verwendung des Wortfeldes und der Metaphorik ›Schlange‹ zu beobachten, die mit dem Traumbild der Klytaimnestra ein dichtes semantisches Netz bildet (WALDE, 2001, S. 104-125). Gleichwohl kommen in dieser Tragödie in der ›Realität‹ keine Schlangen vor. 57 Vgl. FANTHAM, 1982, passim.

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bei nur die Aspekte hervor, die allegorischer Ausdruck des ersten Orakels sein könnten: Sterilität und früher Tod sind Inszenierungen des Inzests; die Verkehrung natürlicher und kultureller Setzungen und die Krankheit sind Analogien zu Inzest und Vatermord. Andere rationale Erklärungsmodelle ausschließend, glaubt er ein Überhandnehmen des Allegorisch-Metaphorischen beobachten zu können, das sich nun vor die Alltagsrealität geschoben hat und nur ihn betreffen kann. Diesen Überschuss an Sinn gilt es von seiner Warte aus zu deuten. Es lohnt sich das Gedankenexperiment, sich einen Traum des Oedipus vorzustellen, in dem ihm in allegorischer Form die schon erfolgte Erfüllung des ersten Orakels vorgeführt wird. Man könnte sich ebenso einen Oedipus imaginieren, der diesen Traum deutet respektive eben gerade nicht deuten kann, um dann durch den Handlungsverlauf die Lösung aufgedrängt zu bekommen. Mit gutem Grund spielen aber in Senecas Oedipus – anders als in der sophokleischen Version – rituelle Handlungen und andere Divinationsarten als Träume (darunter auch eine, die in Rom ›offiziell‹ genutzt wurde) eine besondere Rolle: Eingeweideschau und Nekromantie, die alle ebenfalls das Unheil anzeigen, das Oedipus befürchtet (und noch anderes, das er nicht ahnen kann, den Bruderkrieg seiner Söhne). Deren ›Vorteil‹ gegenüber der Deutung eines Traums ist die Sichtbarkeit und Relevanz für viele Menschen. Denn im Traum verabschiedet sich das Individuum von der Realität der anderen (und auch der eigenen); nach dem Aufwachen kann das Traumbild nur durch eine Erzählung in Umrissen vermittelt werden (es kann aber auch verschwiegen werden). Im Prolog des Oedipus liegt gleichsam eine Umkehr dieser Isolierung während des Traumvorgangs vor, denn Oedipus ist in der wachen Realität von den anderen Menschen isoliert, ja ihr gelähmter Beobachter: Er ist seiner Wahrnehmung nach der einzige Unversehrte im ganzen Reich, und doch scheint er es zu sein, der dieses Geschehen produziert, als ob sich die ihm durch das Orakel angekündigte Verletzung von Moral um ihn herum als Krankheit manifestierte. Im Theben Senecas beobachten wir das langsame Verschwinden von Differenzen und Strukturen, die Deutung überhaupt erst möglich machen und damit menschliche Lebenswelt konstituieren. Oedipus wird, als einziger ausgenommen von der Krankheit, Zeuge und Vollstrecker der Rücknahme des Zivilisationsprozesses, also der kulturellen Regression: Inzest, Tilgung der Differenz Natur/Kultur, am Ende durch ein Zusammenspiel beider Sphären das Ende der Bestattungsriten. Ich weise darauf hin, dass Anthropologen das Menschsein in

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unserem Sinne damit beginnen lassen, dass Angehörige der eigenen Spezies bestattet werden. König Oedipus scheint jede Interventionsmöglichkeit in diesem Szenario zu fehlen, nicht zuletzt deswegen, weil er, ob selber Opfer der Pest oder nicht, in den Prozess der kulturellen Regression auch als Täter verwickelt ist. Letzten Endes heißt Unort also das Ende der Deutung als Voraussetzung der Bewältigung auftretender Krisen.

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Das Goldene Vlies und das mythische Außerhalb des Höfischen Narrative Spekulationen über das Andere von Minne und Aventiure in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg ARMIN SCHULZ

I. Bestimmte Spielarten der Unorte figurieren im Erzählen der mittelalterlichen Adelskultur den Gegensatz zwischen der ideellen Essenz der feudalen Gesellschaft – dem Höfischen –, und dem, was als fremd und roh – als unhöfisch – davon ausgegrenzt wird. Die axiologisch besetzte Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Anderen, die das Eigene durch Ausschluss des Anderen allererst konstituiert, wird in den narrativen Unorten konkretisiert und verräumlicht: Das Prinzip der Scheidelinie, der Grenze, entfaltet sich hier in einem transgressiven Raum. Dabei verwischen kategoriale Gegensätze, denn Konkretisierungen, Verdinglichungen, Personifikationen konträrer Wertbereiche werden im gleichen topographischen Raum unverbunden nebeneinandergestellt. Sie lassen so die Unorte als ambivalente Einheit erscheinen, gleichermaßen bedrohlich wie faszinierend. Unorte – die klassischen Räume ritterlicher Aventiure – weichen in dieser Ambivalenz die primordiale Grenzziehung zwischen dem Eigenen der Kultur und dem Anderen der Nicht-Kultur auf. Aufgabe des Ritters ist es, die Geltung der kulturkonstitutiven Grenzziehung

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zu sichern und den ambivalenten Raum wieder für die höfische Welt zu sichern. Solche Unorte weisen auffällige strukturelle Ähnlichkeiten mit mythischen Raumkonzeptionen auf, wie sie etwa von Ernst Cassirer beschrieben worden sind, in ihrer Unterscheidung zwischen dem (nicht christlich zu verstehenden, höchst zwiespältigen) Heiligen und dem Profanen. Mittelalterliche Erzählungen bedienen sich ausgesprochen häufig aus dem Fundus mythischer Motive, nicht allein aus der keltischen Mythologie, wie in den Artusromanen, sondern auch aus der klassischen Mythologie, wie in den Antikenromanen. Relikte vorchristlicher Religiosität werden in beiden Fällen umcodiert im Sinne einer narrativen Verhandlung über die Geltung höfischer Werte. Gewöhnlicherweise zeigt sich dabei, dass sich das Eigene der Kultur auch auf dasjenige stützt, was das Höfische als überwunden von sich ausgrenzen möchte; deshalb muss sich jeder Ritter aufs Neue solchen Unorten aussetzen. Der Beitrag zeigt, wie die Geschichte vom Goldenen Vlies, die in der Antike zumeist nur einen relativ einfachen Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren skizzierte, in mittelalterlichen Trojaromanen zu einer Urszene ritterlicher Aventiure umgestaltet wird. Dabei allerdings versagt die Stiftung von Ordnung, insofern die grundlegende Ambivalenz des Unortes nicht beseitigt und überwunden wird, sondern auf die ganze feudale Welt ausgreift und ihren Untergang nicht unwesentlich mit vorbereitet.

II. Kolchis ist eine Insel. Menschenleer liegt sie eineinhalb Meilen vor Jaconite, dem Herrschaftssitz des Königs Oetas. Inmitten eines paradiesischen locus amoenus steht hier ein dem Mars geweihter Tempel, nicht fern davon grast ein Widder, dem man nicht einmal die Haut abziehen muss, um das Goldene Vlies zu bekommen, weil er selbst daraus schlüpft wie aus einem Kleid. Doch wird er bewacht von zwei Feuer speienden Stieren aus Eisen, denen ein Zauber Leben eingehaucht hat, und von einem Drachen, der Gift und ebenfalls Feuer speit. Dessen Zähne bilden später in den Ackerfurchen, die die Stiere gepflügt haben, eine Art humanoides Saatgut, aus dem vier grimmige Krieger wachsen. Jason, der schöne Fremde, der im Tempel betet, die Stiere zähmt, den Drachen und die Krieger tötet und so das Vlies gewinnt, ist nicht allein das Objekt der Begierde Medeas, sondern er liebt sie ebenso sehr wie sie ihn, und Medeas

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Vater Oetas zeigt sich höchlich erfreut, als Jason um die Hand seiner Tochter anhält, um sie mit sich ins ferne Griechenland zu führen. Wer Ovids Metamorphosen oder das hellenistische Epos des Apollonius von Rhodos, die Fahrt der Argonauten, kennt, wird diese Version vermutlich für einigermaßen befremdlich halten.1 Sie findet sich in der großartigsten Trojaerzählung des deutschsprachigen Mittelalters, dem Trojanerkrieg Konrads von Würzburg, begonnen vermutlich um 1281 in Basel und dort 1287, im Todesjahr des Autors, nach über 40.000 Versen abgebrochen und von einem weit weniger versierten Bearbeiter in weiteren gut 10.000 Versen zu Ende gebracht. Konrad erzählt die Geschichte des Trojanischen Kriegs ab ovo, von ihren Ursprüngen an, mit der Argonautengeschichte, weil die erste Zerstörung Trojas letztlich ihre Ursache darin hat, dass die misstrauischen Trojaner die rastenden Griechen feindselig von ihren Gestaden vertrieben haben. Konrads Hauptquelle ist nicht Homer, dessen Ilias im Mittelalter verschollen war, sondern der altfranzösische Roman de Troie des Benoit de Ste.Maure, entstanden um 1170 und vor Konrad schon einmal irgendwann zwischen 1190 und 1216 auf Deutsch bearbeitet, von Herbort von Fritzlar in seinem Liet von Troye. Wenn Konrad den Anspruch vermeldet, die Geschichte so vollständig wie möglich zu erzählen, greift er außer auf Benoit, dessen Text die angeblichen Augenzeugenberichte des Dares Phrygius und des Dictys Cretensis verarbeitet, noch auf viele weitere Quellen zurück. Für die Episode um das Goldene Vlies sind dies vor allem Ovids Metamorphosen. Konrads genuine Leistung ist es, die Stoffe, die er verarbeitet, in äußerst eleganter, an Gottfried von Straßburg geschulter Sprache zu einem umfassend kohärentem Ganzen mit neuen Sinnperspektivierungen zu verbinden. Das beginnt mit übergreifenden Wortfeldern vor allem aus dem Bereich von Glanz und Feuer, und reicht über dichte motivische Vernetzungen bis hin zu einer umfassenden Paradigmatisierung der Hauptepisoden, die ungeachtet ihrer Provenienz thematisch wie strukturell einander stark angenähert werden.2 1

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Benutzte Ausgaben: KONRAD VON WÜRZBURG, 1858; HERBORT VON FRITSLÂR, 1966; BENOIT DE SAINTE-MAURE, 1904-1912; DERS., 1998; P. OVIDIUS NASO, 1994; DERS., 2000; APOLLONIUS VON RHODOS, 2002. LIENERT, 1996. Lienert spricht von einem »Netz von Responsionen und Korrespondenzen, von Parallelen und Kontrasten auf verschiedenen Ebenen: vom grundlegenden Erzählprinzip der sich steigernden Variation, von Leitthemen, Leitmotiven und durchgängigen Figurenkonstellationen über wiederkehrende Szenentypen und strukturelle Muster im kleinen bis zu Leitwörtern und Leitbildern« (S. 240). So sind etwa die Liebesbeziehungen zwischen Jason und Medea, Achill und Deidamia, Hercules und Dianira von einer deutlichen Regelhaftigkeit geprägt, im Sin-

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Konrads Wiedererzählen3 des antiken Stoffes präsentiert sich so als ausgesprochen planvoll.4 Er stellt eine Welt dar, die letztlich an ihren eigenen Voraussetzungen zugrunde geht, an den Mustern höfischer Interaktion und am feudalen Wertesystem. Dabei agieren die Figuren wie psychische Automaten, die nur eines entsprechenden Reizes bedürfen, um ohne jede Distanzierung affektiv zu reagieren. Dies betrifft vor allem das agonale, ebenso ordnungsstabilisierende wie ordnungsstörende Prinzip der êre und die in gleichem Sinne überwältigende Macht der Minne, die keine Rücksicht auf ältere und andere Bindungen nimmt. Die feudalen Mechanismen motivieren bei Konrad all das kausal, was im Stoff als Verhängnis final bestimmt ist.5 Dies hängt mit einer zentralen Paradoxie zusammen: Denn gewöhnlich ist das Erzählen von Troja immer auch ein Erzählen von den Ursprüngen der adelig-ritterlichen Kultur, die man sich durch trojanische Flüchtlinge nach dem Prinzip der translatio (militiae) ins römische und dann römisch-deutsche Reich importiert denkt. Das Erzählen von den Ursprüngen des Eigenen ist so zugleich ein Erzählen vom Ende des Eigenen. Beginn und Ende werden widersprüchlich miteinander enggeführt. Der Beginn trägt bei Konrad immer schon den Keim des Untergangs in sich, so schon in der Urszene des höfischen Fests,6 das Jupiter anlässlich der

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ne eines im Text rekonstruierbaren ›Handlungsgesetzes‹ der Bestrafung des ›Minnefrevlers‹ (S. 240-251 und 293; vgl. auch LIENERT, 2001, S. 127f.; vgl. auch KOKOTT, 1989, S. 278-280). Insgesamt stiftet das »Netz der Korrespondenzen […] strukturell eine ungewöhnliche Verdichtung und Kohärenz des Erzählens; thematisch konstituiert es Gesetzmäßigkeit« (LIENERT, 2001, S. 131). Die Epik des Mittelalters ist programmatisch vom ›Wiedererzählen‹ geprägt (WORSTBROCK, 1999). Der Stoff erscheint dabei als die zentrale Bezugsgröße der stilistisch-rhetorischen und auch kompositorischen Anstrengungen der Autoren: Das Wiedererzählen soll ihn unverfälscht bewahren und ihn zugleich als unverfälschten gegen die Verzerrungen der Tradition erneuern. Das garantiert die Dignität der Dichtung (vgl. etwa LIEB, 2005). Da der umfangreiche Text erst von der Forschung der letzten 15 Jahre als eines der zentralen Werke des Spätmittelalters entdeckt worden ist und da das Geflecht der motivisch-thematischen Bezüge mehr als dicht ist, ist das Konzept dieses Erzählens bislang allerdings erst in Einzelaspekten und in groben Umrissen kenntlich geworden. Das jedenfalls ist der Tenor einiger jüngerer Arbeiten, auch meiner eigenen: MÜLLER, 2006; DERS., 2007, S. 452-460; SEUS, 2008, Kap. D »Allegorisierendes Erzählen: Konrads von Würzburg Trojanerkrieg«, S. 124-194; SCHULZ, 2008, S. 455497. So SEUS, 2008, Kap. D VII »Das Paris-Urteil«, S. 166-185, und D VIII.2 »Das Prinzip ›Discordia‹ als Strukturmuster«, S. 188-194.

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Hochzeit zwischen Thetis und Peleus ›erfindet‹. Discordia, die Göttin der Zwietracht, soll hiervon ausgeschlossen werden, doch macht sie sich unsichtbar und wirft so unbeobachtet den goldschimmernden Zankapfel zwischen die drei Göttinnen, deren dadurch ausgelöster Rangstreit dann von Paris zugunsten der Venus entschieden wird. Das vermeintlich Ausgeschlossene – nämlich die Konsequenz der Rivalität um êre – kann nur verdeckt, nicht aber tatsächlich beseitigt werden, es ist von Anfang an präsent, weil die höfische Gesellschaft mit ihren Hierarchien ohne die Rivalität um êre gar nicht existieren könnte, und genau das garantiert den Fortgang der Handlung hin zum Untergang.7 Die These der folgenden Überlegungen ist nun, dass Konrads Bearbeitung der Episode um das Goldene Vlies in einer gewissen Analogie zur Hochzeit der Thetis den Versuch darstellt, die Urszene ritterlicher Aventiure zu erzählen, im Einklang mit den paradigmatischen Erzählprinzipien des höfischen Romans, wie man sie vor allem aus dem Artusroman kennt.8 Dass dieser Versuch höchst problematisch ausfällt, wird sich zeigen. Die Welt des höfischen Romans errichtet sich gewöhnlich über der Basisdifferenz zwischen dem Höfischen und dem Nichthöfischen. Die höfische Welt selbst konstituiert sich darin

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Überhaupt würde ich die Handlungsführung bis hin zum zweiten Krieg um Troja als eine Reihung von teilweise allegorisch zu verstehenden Urszenen feudaler Vergesellschaftung, Identitätsbildung und Interaktion verstehen (vgl. SEUS, 2008). Die Episoden, die Konrad erzählt, gehen auf antike Quellen zurück, werden aber umgeformt im Blick auf die Erzählmuster der mittelalterlichen Adelsgesellschaft und auf zentrale Paradigmen dieser Literatur (vgl. bereits CORMEAU, 1979): die Jugendliebe zwischen Paris und der Quellnymphe Oenone im Blick auf eine Feenliebe bzw. gestörte Mahrtenehe – im mittelalterlichen Erzählen ist dies das Basismuster heimlicher, gesellschaftsabgewandter Liebe; die Hochzeit der Thetis, in die das Urteil des Paris eingebettet wird, als Urszene des höfischen Festes zwischen virtueller Gleichheit bzw. Entrivalisierung und maximaler, agonaler Konkurrenz um êre; die wilde Jugend des Achill zuerst bei einem Mensch-Tier-Mischwesen, dem Kentauren Schyron, im wilden Thessalien und dann später auf der Insel Scyros, in Frauenkleidung unter den Töchtern des Lycomedes, zeigt die beiden gegensätzlichen Pole an, zwischen denen sich der Krieger-Mann zu bewegen hat: blanke Aggression im animalischen zorn versus maximale Affektkontrolle im Umgang mit höfischen Damen (vgl. v. a. FRIEDRICH, 2007). Gleichzeitig zeigt die Jugend des Achill, dass selbst die beste Erziehung nur immer so viel aus den adeligen Leibern herausholen kann, wie durch ihr sippebluot, ihre Genealogie, in ihnen angelegt ist: Schyrons Erziehung härtet den geborenen Heros noch mehr ab, während das jahrelange Leben in Frauenkleidern keine bleibenden ›Schäden‹ bei ihm hinterlässt. Zu solchen Prinzipien vgl. besonders: SCHULZ, 2007; DERS., 2009; DERS., Schoß der Königin, 2010; DERS., Minnedämmerung?, (vorauss.) 2010; SCHULTZ, 1983; SIMON, 1990, S. 22-34; SCHMITZ, 2008.

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räumlich, sozial und ideell durch den Ausschluss des Nichthöfischen. Erst durch diese Grenzziehung wird sie zu dem, was sie ist, und erst dadurch gewinnt sie Geltung und Stabilität. Das Nichthöfische wiederum kann höchst unterschiedlich imaginiert bzw. inszeniert werden, aber grundsätzlich geschieht dies in der Negation zentraler Merkmale der ideell überhöhten Adelskultur.9 Insgesamt zeigt sich die Tendenz, das Verhältnis zwischen dem Dazugehörigen und dem Ausgeschlossenen zu verräumlichen – und das Ausgeschlossene so fast immer als räumliches Jenseits des Hofes zu imaginieren.10 Dabei zeigt sich allerdings auch, dass die Grenzziehung zwischen dem Höfischen und dem Nichthöfischen11 in den Unorten der außerhöfischen Welt nicht selten verwischt ist: Diese Weltausschnitte haben auf irritierende Weise sowohl am Nichthöfischen als auch am Höfischen teil, ja insgesamt fallen in ihnen kategoriale Gegensätze zusammen, so dass sie in ihrer strukturellen Ambivalenz durchaus als mythisch beschrieben werden können (im Sinne Ernst Cassirers).12 Auch der Held nimmt dort, wo er es mit den Mächten der Gegenwelt aufnimmt, oftmals etwas Nichthöfisches an (animalische Gewalt, heimtückische List etc.), so dass auch bei ihm die Grenzziehung verwischt, weil er anders der Gegenwelt nicht Herr werden kann, weil er anders die Gefahren und Ambivalenzen dieser Gegenwelt nicht bannen kann. Ordnung ist nicht herstellbar ohne dasjenige, was die Ordnung gerade als bedrohlich von sich ausschließen möchte. 9

Etwa als Nicht-Adeliges (d. h. ›Bäurisches‹: als Nicht-Affektkontrolliertes, Schmutziges, Rohes, ›Ehrloses‹), als Nicht-Menschliches (als Animalisches), als Nicht-Ritterliches (d. h. als atavistisch Heroisches, das wie das Animalische oft im Zusammenhang mit archaischer Gewalt steht), als Nicht-Genealogisches (etwa im Stillstellen der Zeit, auch im Zusammenhang mit dem ›Wegsperren‹ heiratsfähiger junger Frauen oder inzestuöser Vater-Tochter-Beziehungen) oder als MinneFeindliches (etwa in der prüden Abwesenheit oder im kruden Übermaß von Sexualität). 10 Zur Raumsemantik in Abhängigkeit von den Sujet-Entwürfen narrativer Texte vgl. allgemein: LOTMAN, 1989; BACHTIN, 1989. 11 Anders gesagt: zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹, sofern ›Kultur‹ hier nicht etwas allgemein Menschliches ist, sondern eine exklusive Lebensform meint. 12 CASSIRER, 1954. Grundlegend für die mythische Weltvorstellung ist der »Unterschied zweier Bezirke des Seins: eines gewöhnlichen, allgemein-zugänglichen und eines anderen, der, als heiliger Bezirk, aus seiner Umgebung herausgehoben, von ihr abgetrennt, gegen sie umhegt und beschützt erscheint« (ebd., S. 106). Das »Heilige erscheint« dabei grundsätzlich ambivalent, nämlich »immer zugleich als das Ferne und Nahe, als das Vertraute und Schützende wie als das schlechthin Unzugängliche, als das ›mysterium tremendum‹ und das ›mysterium fascinosum‹« (ebd., S. 99).

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Ritterliche Aventiure sieht innerhalb dieses Weltentwurfs so aus, dass der Held von außen in ein verwunschenes Gebiet kommt. Hier gilt die Ordnung der gewöhnlichen Welt auf merkwürdige Art und Weise nicht: hinsichtlich der Erreichbarkeit, hinsichtlich der räumlichen Ausdehnung, hinsichtlich des linearen Fortschreitens der Zeit und der ewigen Wiederkehr der Jahreszeitenzyklik, hinsichtlich der sozialen Organisation und schließlich hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Höfischen und dem Nichthöfischen, anders gesagt: zwischen Kultur und Natur, Verfeinerung und Archaik, Affektkontrolle und nackter Gewalt, maximaler Regulierung und maximaler Regellosigkeit. Bei alledem zeigen sich in unterschiedlichem Maße Widersprüche, Ambivalenzen, Paradoxierungen. Nebeneinandergestellt wird, was nicht zusammenpasst, oft etwa auch in der Kontrastierung der frühlingshaften, lieblichen Vitalität eines locus amoenus mit überschießender, tödlicher Gewalt.13 Der Held dringt mit Waffengewalt in diese pervertierten Ordnungen ein und besiegt den- oder diejenigen, die sie zu verantworten haben. Danach können diese Räume wieder mühelos in die höfische Welt integriert werden. Der Aventiureritter erscheint so immer zugleich auch als ein Kulturheros, der die Geltung der kulturkonstitutiven Grenze zwischen dem Höfischen und dem Nichthöfischen, die hier verwischt war, wiederherstellt. Solche Unorte verwandeln gewissermaßen, mit Michel de Certeau gesprochen, das Prinzip der Grenze in einen Raum, einen Handlungsraum für den Helden.14 Sie geben dem Prinzip des Transgressiven, das das Verlassen der gängigen Ordnung ständig bewusst hält, aber noch nicht endgültig realisiert, einen befristeten narrativen Raum.15 Blickt man genauer auf die Texte, so sieht man, dass diese Grenzverwischung in der Peripherie, im Unort der Aventiure nur besonders manifest hervortritt, denn angelegt ist sie bereits im Zentrum der feudalen Gesellschaft, am Hof, etwa dem Artushof. Störungen, die es im Kleinen bereits intern gibt, treten noch einmal überdeutlich von außen an den Hof heran und erzwingen den Ausritt des einen und besonderen Helden, der so im Außerhalb des Hofes

13 In diesem Sinn besonders bekannte Unorte wären die Burg zum Schlimmen Abenteuer und der Baumgarten von Joie de la curt in den Artusromanen von Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue. 14 DE CERTEAU, 1988, S. 234f.: »Die Erzählung […] bevorzugt aufgrund ihrer Interaktionsgeschichten eine ›Logik der Zweideutigkeit‹. Sie ›verwandelt‹ die Grenze in einen Durchgang und den Fluß in eine Brücke. Sie erzählt tatsächlich von Umkehrungen und Verschiebungen.« 15 FOUCAULT, 2001.

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zugleich auch die höfische Welt wieder ins Lot bringen kann.16 Deshalb ist dieses Erzählen immer auch kompensatorisch: Die Störung der Weltordnung wird eben gerade nicht am Hof bereinigt, sondern stattdessen im Außerhalb der Aventiurewelt. Zum Prinzip der Aventiure gehört idealerweise, aber nicht notwendigerweise auch der Gewinn einer Frau. Durch seine Erlösungstat hat der ritterliche Held legitimen Anspruch auf eine ebenso wunderschöne wie hochadelige junge Frau, die entweder in dieser pervertierten Welt der Ambivalenz oder in ihrer Peripherie gefangen ist – oder die auf andere, merkwürdige Art und Weise mit diesem verwunschenen Weltausschnitt verbunden ist. Im Sinne höfischer Minne wird dieser kalte Mechanismus überhöht dadurch, dass die Dame und der Ritter augenblicklich ineinander verliebt sind, sobald sie einander nur gesehen oder auch voneinander gehört haben. Schon in den antiken Texten, die von der Fahrt der Argonauten und von Medeas Liebe zu Jason erzählen, handelt es sich um eine narrative Spekulation über das Verhältnis zwischen der eigenen Kultur und dem Fremden. Aber das Problem wird völlig anders figuriert: Der kulturkonstitutive Gegensatz ist derjenige zwischen den Griechen, den Argonauten mitsamt Jason also, und den Barbaren mitsamt Medea. Die Kolcher sind Barbaren, allen voran ihr grausamer und gefährlicher König Aietes, sie stehen den Griechen feindlich gegenüber und wollen verhindern, dass Jason das Goldene Vlies gewinnt. Es gibt

16 Mit Michel Foucault stellen die Unorte der Aventiure also Heterotopien dar, die in einem Reflexionsverhältnis zu den Orten der gewöhnlichen Ordnung stehen (FOUCAULT, 1991). Beschreibbar wäre dieses Reflexionsverhältnis über die systemtheoretische Denkfigur des Re-entry, der Wiederkehr der Basisdifferenz zwischen dem Innen und dem Außen eines Systems auf beiden Seiten der Grenzziehung: »Die bei der Konstitution von Handlungen verwendete Unterscheidung ist die von System und Umwelt, innerhalb dieser Unterscheidung wird das System als Urheber der Selektion bezeichnet (und nicht die Umwelt), und Unterscheidung wie Bezeichnung werden als Operationen des Systems selbst (und nicht nur: eines externen Beobachters) vollzogen oder ihm zumindest als vollziehbar zugemutet. [...] Die Konsequenz ist, daß mindestens für soziale Systeme sich autopoietische Reproduktion und Operationen der Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung, die die System/Umwelt-Differenz im System selbst verwenden, nicht trennen lassen« (LUHMANN, 1994, S. 230, mit Bezug auf George Spencer Brown; vgl. die differenzierten Ausführungen bei DIECKMANN, 2004, S. 108-117; mir kommt es nur auf das Grundmodell an). Folge ist eine in Isomorphismen strukturierte Welt, in der jede Überschreitung und jede Wiederherstellung der Grenze auf mythomorphe Weise letztlich ein und derselbe Akt ist (vgl. LOTMAN, 1990, S. 151-170; zum Artusroman vgl. besonders SCHULZ, 2009).

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also einen einfachen räumlichen Gegensatz zwischen dem Eigenen, dem griechischen Zentrum, und dem Fremden, der pontischen Peripherie. Die Aufgabe, der sich Jason zu stellen hat, findet nicht im Außerhalb der kolchischen Gesellschaft statt, sondern gewissermaßen in einem ihrer sozialen und kultischen Zentren: auf dem Marsfeld als einem öffentlichen Platz, auf dem Jason sich vor aller Augen zu bewähren hat. Grenzgängerin zwischen den Griechen und den Barbaren ist Medea, die sich in Jason verliebt, was dieser kühl ausnutzt, um von ihr gegen das Versprechen, sie im Erfolgsfall als Ehefrau mit nach Hause zu führen, das nötige Wissen und die nötige magische Hilfe zu bekommen. Die Verbündete der Griechen im barbarischen Außerhalb wird sich dann später im kultivierten Griechenland wieder als dasjenige erweisen, was sie eigentlich ist: Fremde und Barbarin, als die sie auf den Liebesverrat des Jason mit grausamer Rache reagiert.17 Die mittelalterlichen Fassungen der Argonautengeschichte behalten das Grundgerüst bei, verändern aber die Motivation und die Handlungsdetails in entscheidenden Punkten. In den antiken Texten und noch in der altfranzösischen Fassung von Benoit schickt Pelias Jason nach dem Goldenen Vlies aus, weil er durch ihn um seine eigene Herrschaft fürchtet, doch schon bei Herbort von Fritzlar fühlt sich Peleas durch den Ruhm des Jason in seiner eigenen Ehre zurückgesetzt (was bei Benoit zwar ein Grund, aber noch nicht die zentrale Motivation ist), und Peleas trachtet deshalb danach, Jason loszuwerden. Konrad von Würzburg macht aus diesem Peleas und dem Thetis-Ehemann Peleus eine einzige Figur, die durch Jasons Ruhm den Ruhm des Neffen, den Ruhm des eigenen Sohnes Achill, geschmälert sieht. Peleus ködert Jason damit, dass derjenige, der das goldene Fell des Widders, der von wilder âventiure (V. 6688) dorthin gelangt sei, gewinnen könne, mehr Ruhm als alle anderen Männer der Welt erringen könne.18 Damit setzt er den Aventiureritter Jason frei.

17 Schon die Aufgabe selbst, der Gewinn des Goldenen Vlieses, ist – zumindest im Hintergrund – durch den kulturellen Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren bestimmt: Zeus zürnt, weil der Hellene Phryxos im Reich des Aietes einst nach der barbarischen Sitte der Kolcher bestattet worden ist, in diesem Vlies, einem Widderfell, an eine Eiche gehängt. Der öffentlichen Aufgabe, der sich Jason zu stellen hat, korrespondiert dann eine heimliche, weil das Vlies in einem heiligen Hain durch eine Schlange, die niemals schläft, bewacht wird. Hier kann Jason selbst aber nichts mehr tun, denn es ist Medea, die mit ihrem Zauber die Schlange einschläfert. 18 Vgl. LIENERT, 1996, S. 54f.

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Schon bei Benoit zeigen sich deutliche Tendenzen dazu, aus der einseitigen Liebe der Medea zu Jason eine gegenseitige zu machen. Bei Herbort und dann später bei Konrad sind die beiden fast augenblicklich füreinander entflammt, was jeweils von ausführlichen Reflexionen über die Minne und elaborierter Minnemetaphorik begleitet wird.19 Dass es tatsächlich um den für das mittelalterliche Erzählen so zentralen Konnex zwischen Liebe und Abenteuer geht, zeigt sich dann am deutlichsten bei Herbort, der aus Jasons Aufgaben den Sieg über die Krieger streicht, den Sieg über die Stiere in einem einzigen Vers abhandelt und sich ansonsten völlig auf die Darstellung des Drachenkampfes konzentriert – auf eine Aufgabe also, die sich in den antiken Texten noch gar nicht findet, wo Medea selbst die schlaflose Schlange, die das Vlies bewacht, einschläfert. Insgesamt laborieren die mittelalterlichen Texte heftig daran, dass Jason alles nur schaffen kann, indem er penibel die Instruktionen Medeas befolgt und ihre magischen Hilfsmittel benutzt: eine Salbe, die vor der Hitze schützt, pechartigen Leim, mit dem man den Feuer speienden Monstern die Nüstern verstopfen kann, einen Ring, der unsichtbar macht, einen Zauberspruch, der auf Pergament geschrieben ist, eine Jupiter-Statuette, die dem Kriegsgott geopfert werden muss. Jeder Versuch, die Aufgaben allein aus eigener Manneskraft zu bewältigen, scheitert an der Übermacht der monströsen Gegner. Am deutlichsten wird dies bei Konrad; er macht wie Benoit den Ort dieser Aufgaben zu einer Insel, eineinhalb Meilen vor Jaconite gelegen, abgeschieden und im räumlichen Außerhalb des kolchischen Hofes, der sich durch nichts von der gewöhnlichen griechischen Welt unterscheidet. Die einzige Figur des Hofes, die über ihr Wissen, aber auch durch weitere irritierende Merkmale mit diesem Unort verbunden zu sein scheint, ist Medea. Bei Konrad ist sie selbst so ambivalent wie die Widderinsel, einerseits vollendet erzogene, zurückhaltende und rundum höfische Königstochter, andererseits Schwarzkünstlerin, die mit Dämonen auf Du und Du steht.20 Konrads Erzählung schreibt die antike Geschichte nicht allein an das Aventiuremodell des höfischen Romans heran, sondern auch an eines seiner Grundmodelle 19 Zu Herbort vgl. etwa: SCHNELL, 1975; DERS., 1985; HUSCHENBETT, 1990; HERBERICHS, 2010, Kap. 8.2 »Eine Sprache der Minne«; SCHULZ, Minnedämmerung?, (vorauss.) 2010. Zu Konrad: LIENERT, 1996, S. 57-66; SCHULZ, 2008, S. 473-477; SEUS, 2008, Kap. D II »Jason und Medea«, S. 129-134. 20 Zur Medea-Gestalt bei Konrad vgl. HASEBRINK, 2002. Die Dissertation von Andrea Sieber, die die Konzeption der Medea-Gestalt in den mittelalterlichen TrojaDichtungen verfolgt, konnte für Vortrag und Druckfassung nicht mehr berücksichtigt werden (SIEBER, 2008).

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emphatischer Minne, an das Feenmärchen bzw. die sogenannte ›gestörte Mahrtenehe‹21 – und dies ebenfalls auf äußerst problematische Weise. Die Feengestalt selbst ist als eine ursprünglich mythische Figur grundsätzlich ambivalent, grundsätzlich ebenso verlockend wie bedrohlich. In den mittelalterlichen Erzählungen erscheint sie allerdings zumeist nur noch als eine sanftmütige höfische Dame, die über ein untypisch hohes Maß an Wissen verfügt, deren bedrohliche Machtfülle jedoch eingeschränkt ist, weil sie nur noch als Minneherrin über Gedeih und Verderb ihres Partners entscheiden kann. Ihr Reich ist freilich von der gewöhnlichen Welt deutlich geschieden, mit typischen Merkmale einer Anderswelt: etwa amoenen Landschaften und der Stillstellung des Jahreslaufs in einem ewigen frühlingshaften Sommer.22 Dem kontrastieren die oft monströsen Schwellenwächter-Gestalten, die den Zugang zur Dame regulieren. Der Held muss sie meist in hartem Kampf beseitigen, um in die Nähe der künftigen Geliebten zu kommen. Es handelt sich hierbei um eine Variante des Modells ritterlicher Bewährung, das den ideellen Konnex zwischen Minne und Aventiure noch enger fasst.23 Auffällig ist die räumliche oder zeitliche Nähe zwischen der Bedrohung und der Geliebten. Im Rahmen einer mythischen Logik wäre solche ›Kontiguität‹ Ausdruck von Kausalität, Verwandtschaft, gar Wesensidentität, entsprechend der mythischen Auffassung von ›Person‹ als Gefäß transpersonaler Kräfte.24 Auch wenn solche mythischen Vorstellungen nurmehr vage im Hintergrund stehen, so erscheinen die Bedrohungen doch als wesenhafter Teil der ansonsten vollendet höfischen Dame, als dunkle ›andere Seite‹, die dauerhaft getilgt werden muss. Medeas Figur wird von Anfang an in maximaler Ambivalenz eingeführt. Sie sei ein kaiserliches Geschöpf (keiserlich[iu] vruht), so heißt es, ihre Jugend sei geblümt durch Ehrenhaftigkeit und Wohlanständigkeit (mit êren und mit reiner zuht), sie verfüge über Verstand und Adelstugend (witze und edel tugent). Übergangslos ist dann die Rede davon, dass sie einiges von Schwarzer Magie verstehe (der swarzen buoche wîse; nîgromancîe); sie verfüge aus Büchern über ein Übermaß an Beschwörungsformeln (beswerung), so dass sie mit 21 Vgl. hierzu und zum Folgenden SCHULZ, 2004. 22 Zu den entsprechenden Merkmalen vgl. STEFFEK, 1978. 23 Betrachtet man die Basiskonfiguration durch die Brille der strukturalen Erzähltheorie, dann könnte man sagen, dass hier eine Figur aktantieller Spaltung vorliegt, indem der ambivalente, bedrohliche Part der Dame auf die monströsen Schwellenwächter ausgelagert wird. Indem der Ritter diese beseitigt, beseitigt er auch den gefährlichen ›Überschuss‹ der feenhaften Frau. 24 CASSIRER, 1954, S. 81; S. 198, Anm. 1, vgl. auch S. 71-75.

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dem Wort ihrer meisterlichen Kunst den Dämonen der Hölle gebieten könne (sô daz ir meisterschefte wort / gebôt der helle geisten). Einen Fluss könne sie zum gewaltigen See anschwellen lassen (si mahte ûz kleinem flôze / wol einen ungefüegen sê), den hellichten Tag in finstre Nacht verwandeln (si kunde ûz einem clâren tage / wol machen eine vinster naht). Mit ihrem Zauber (zouberîe) schaffe sie Ungeheuerliches (grôz unbilde). Sie sei in der Astronomie höchst bewandert (si zalte das gestirne / unde erkande sîne vart) und sei eine Meisterin der Sieben freien Künste (der siben houbetliste; V. 7425-7454). Nachdem ihr Vater nach ihr geschickt hat, um sie den Fremden aus Griechenland vorzuführen, rühmt der Erzähler ihre Kleidung: einen blauen Samtmantel, in den rotgoldene Tropfen mit purpurner Seide eingewebt sind. Das Futter ist aus Zobelpelz. Medeas goldfarbenes Haar ist mit einem seidenen Kopfputz verflochten, und das Gesamt aus Haar und Haarschmuck sieht deshalb aus, als ob goldene Drähte aus den Löchern des seidenen Käppchens hervorleuchteten. Gott selbst, so heißt es, habe alle Mühe darauf verwandt, ihre strahlende Gestalt zu erschaffen (got hete sich geflizzen / ûf ir glanzen forme schîn; V. 7503f.). Sie trägt einen frisch gebrochenen Blumenkranz über dem Kopfputz, aus Veilchen und grünem Klee, umrahmt von einem fingerdicken Band, aus dem eingeflochtene Perlen strahlen. Ihr mädchenhaftes Benehmen ist tadellos, sie bewegt sich mit kontrollierten, leisen Schritten und redet nicht unaufgefordert. Der Erzähler erklärt sich außerstande, das irdische Glück, das an ihr hafte (ir sælde; V. 7527), mit Worten zu ergründen. Wie eine frisch erblühte, noch vom Tau nasse Rose sei sie – das ist im Mittelalter ein Vergleich, der gewöhnlich der Jungfrau Maria gilt, den aber schon Wolfram von Eschenbach häufig für seine jugendlichen Protagonisten nutzt –, sie sei insgesamt so vollkommen, wie man sie sich nur wünschen könne (erwünschet garwe; V. 7535). Medea wird gewissermaßen nacheinander an die Hölle und an den Himmel herangeschrieben. Ambivalenz drückt sich aus in einem Neben- und Nacheinander von scharf voneinander abgegrenzten Eindeutigkeiten, nicht in einer zweideutigen Mischung der Gegensätze. Dieses Verfahren ist im Mittelalter durchaus die Norm. Medeas Anblick gibt allen zugleich höfische Freude und Leid, das Leid der unerfüllten Minne. Ich habe all das auch deshalb so ausführlich referiert, weil einige Merkmale und Attribute, die Medea zugeschrieben werden, im Verlauf der Handlung wiederbegegnen – und zwar dort, wo man sie zunächst nicht erwarten würde: in der Gegenwelt der Insel, auf der Jason das Goldene Vlies erringt. Medeas merkwürdige Verbindung zu diesem Unort offenbart sich also nicht allein in

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ihrem exklusiven Wissen, sondern auch in einer Reihe von Merkmalsgleichheiten, Analogien und Substitutionen. Auffällig sind solche Vernetzungen vor allen Dingen, seit bei der Entstehung der Liebe zwischen Jason und Medea die Rede davon gewesen ist, dass die »Natur« dafür sorge, dass Gleich und Gleich einander erkennen und sich nacheinander sehnen (Natûre ist alsô liste rîch:/ wâ si mac vinden ir gelîch, / daz wol ir art gehillet, / dem grebets’ unde billet / biz ûf den grunt der sêle nâch; V. 7805-7809). Das Wort natiure wird im Mittelalter nicht als Gegenbegriff zu ›Kultur‹ oder ›Kunst‹ verstanden. Es bezeichnet Eigenschaften, die Dinge, Pflanzen, Tiere, Menschen haben und die sie determinieren.25 Die gleiche Natur zu haben bedeutet in dieser Logik die gleichen Eigenschaften zu haben. Als Oetas von seinem wertvollsten Kleinod bzw. Schatz spricht (rîch cleinœte; V. 7406), meint er damit nicht das Goldene Vlies, sondern seine Tochter Medea. Goldenes Haar tragen nicht nur Medea (goltvarwez hâr; V. 7493) und Jason (goltvar; V. 7720), sondern auch der Widder (daz golt durchliuhtic unde rôt, / daz ûf im der wider treit; V. 8373f.). Bei der Verbindung von Medeas Kopfputz und ihrem Haar sind die Grenzen zwischen Natur und Kunst ebenso verwischt wie bei der Verbindung zwischen dem Widder und dem Goldenen Vlies: Man weiß nicht, wo das eine aufhört und das andere anfängt (ob si [die Wolle] gewahsen wære / an sîner [des Widders] hiute liehtgevar, / od si mit listen kæme dar, / entriuwen, des enweiz ich niht; V. 1006510068). Perlen finden sich sowohl in Medeas Haarband als auch in der Jupiterstatuette, auf die sie Jason seine Liebestreue schwören lässt und die er auf der Insel den Göttern opfert, und Perlen finden sich auch auf dem Marstempel, wo dieses Opfer stattfindet. Medea trägt einen Kranz aus Veilchen und Klee über ihrem Haar, auf der Insel fließt ein Bach durch die bluomen und den clê (V. 10012), und in den Armen Jasons verliert sie die »Blume ihrer Unschuld« (ir kiuscheite bluome; V. 9149). Als sie vor die Fremden aus Griechenland 25 GRUBMÜLLER, 1999, zeichnet, ausgehend von gelehrten Diskursen (Isodor und Augustinus) die Semantik des Worts im Mittelhochdeutschen nach: »Natûre meint im Mittelalter […] die in […] [der belebten oder unbelebten Außenwelt] und im Menschen selbst aufgrund ihrer Geschöpflichkeit wirkenden Kräfte und Prinzipien« (ebd., S. 3) im Sinne von »Proprietäten« (ebd., S. 4), deren Gesetzmäßigkeit auch mit der menschlichen Sexualität in Zusammenhang gebracht wird (vgl. ebd., S. 9f.). »Bezogen auf die Elemente der geschaffenen Welt, Belebtes und Unbelebtes, meint natûre die ihnen mitgegebene Bestimmung, ihre Eigenschaften, Verhaltensbedingungen und auch Handlungsnotwendigkeiten« (ebd., S. 10), wobei die »Auffassung von der bindenden Kraft der Natur« mitunter in Konflikt mit der Vorstellung von »Gottes freie[m] Wille[n]« (ebd., S. 13) geraten kann.

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tritt, trägt Medea einen Mantel, der innen mit Zobelpelz gefüttert ist (von zobel was ir underzoc; V. 7489) – als sie sich später mit Jason in ihrer Kemenate verabredet, schlüpft sie nackt in und aus einem Pelz (ein rîlich belz, vêch unde bunt, / wart an ir blôzen lîp geleit; V. 9087f.) und gibt sich willentlich Jason hin. Damit wiederum eröffnet sich eine Analogie zu dem kostbaren Widder, der, als Jason kommt, gleich freiwillig aus dem Goldenen Vlies schlüpft und es ihm überlässt (er slouf dar ûz zehant. / er lie mit willen sîn gewant / hin ab der glanzen hiute scheln; V. 10074-10076). An einem alten Widder wiederum, dem ein neues Fell wächst, wird Medea viel später den Peleus-Töchtern ihre Kunst demonstrieren, einen alten Menschen zu verjüngen. Dazu braucht sie Kräuter aus dem entfernten Thessalien, wohin sie in einem Wagen fliegt, der von Drachen gezogen wird. Diese Drachen haben ebenso Flügel wie derjenige, gegen den Jason kämpft.26 Die Drachen wiederum häuten sich, verjüngen sich durch die Ausdünstungen der Kräuter. Um den Drachen auf der Insel zu töten, sticht ihm Jason in den Hals – um Jasons Vater Eson wieder jung zu machen, sticht Medea ihm in den Hals, um das Blut abzulassen, und sie bringt die Töchter des Peleus dazu, mit ihrem Vater das Gleiche zu machen, bleibt ihnen dann aber die Hilfe schuldig, so dass Peleus stirbt. Medea benutzt in ihrer Rache für Jasons Liebesverrat ein Kleid, das in Gift getränkt ist und in Flammen aufgeht – und damit Greusa, die neue Geliebte Jasons, und diesen selbst zu Pulver verbrennt. Gegen Gift und Feuer aber hat Medea ihren Geliebten zuvor für die Widderinsel mit einer Salbe gefeit. Als Jason und Medea miteinander schlafen, heißt es, dass ihre Münder miteinander ›verleimt‹ seien (munt an munt gelîmet wol; V. 9162), ihre Glieder miteinander verflochten (si vlâhten sich beid under ein; V. 9145). Einen Klumpen klebrigen Leims erhält Jason von Medea, um den feurigen Stieren damit die Nüstern zu verkleben, und textile Metaphorik erscheint im Text ansonsten im Zusammenhang mit dem Widder und dem Goldenen Vlies (diese ›Wolle‹ ist reht als ein golt gespunnen; V. 10044).27 Aber auch das Gift, mit dem Medea später das Kleid für Jasons neue Geliebte präpariert, ist in das Kleid ›hineingewebt‹ (ein gift wart drin verstricket / mit zouber und mit listen; V. 11296f.). Und dieses Gewand glänzt natürlich auch, wie so vieles, vor lauter Gold. Die Schönheit der Oberfläche entspricht nicht dem, was tatsächlich der Fall ist. 26 Am Rande: Medea selbst ist immerhin bereits mit einem jungen Jagdfalken mit zurückgestrichenem Gefieder verglichen worden (V. 7539f.). 27 Medeas Herz wird mit einem Fisch verglichen, der sich in einem Garn verheddert (sich verswinget in ein garn; V. 7838), das Bewusstsein ihrer Unabhängigkeit (frier muot) gerät in das ›Netz der Liebesqual‹ (netze sender nôt; V. 7840f.).

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Medeas Ring eröffnet Jason die Möglichkeit, sich in der Not vor dem Drachen unsichtbar zu machen; damit kann er ungestört agieren wie zuvor nur die Göttin der Zwietracht bei der Hochzeit der Thetis. Immer wieder geht es in diesem Geflecht aus Rekurrenzen und Analogien darum, dass Äußeres und Inneres voneinander entkoppelt werden, auf der Ebene des Figurenverhaltens wie auf derjenigen der sichtbaren Welt: Peleus trägt Jason gegenüber heimlichen Hass, Medea verstellt sich in der Liebe nur ein klein wenig (und verbirgt ihr Begehren), um nicht aus ihrer weiblichen Rolle zu fallen, Medea lügt den Peleustöchtern vor, deren Vater verjüngen zu wollen, doch tatsächlich tötet sie ihn aus Rache für Jason; später lügt sie, das tödliche Kleid sei ein Hochzeitsgeschenk für Jasons neue Geliebte. Man kann den Widder mühelos von seinem goldenen Fell trennen, Jason kann sich im Kampf unsichtbar machen, Medea kann Jasons alten Vater Eson durch magische Praktiken wieder äußerlich verjüngen, sie kann auch dafür sorgen, dass einem alten Widder ein neues Fell wächst. Überall treten Innen und Außen – nach mittelalterlichen Vorstellungen: Kern und Hülle – auseinander. Die Urszene von Minne und Aventiure, als die Konrad den antiken Stoff gestaltet, ist zugleich mit der epidemischen Verbreitung von Uneindeutigkeit, Falschheit und Lüge korreliert. Die skizzierten Merkmalsgleichheiten, Analogien, Substitutionen verbinden zum einen die beiden Liebenden miteinander, sie verbinden jedoch auch Medea auf ausgesprochen ambivalente Weise mit dem Unort, auf dem Jason das Goldene Vlies erringt. Medea ist in dieser Logik der Vernetzungen zugleich die Instanz, die alles gewähren und alles nehmen kann. Sie ist diejenige, die sich selbst und das Vlies an Jason hingibt, und sie ist der Feind, den Jason nur bezwingen kann, solange er Medea treu bleibt. Als die Verbindung zwischen Jason und Medea gesichert ist und Jason sich an die Abmachungen hält, erscheint seine Aventiure als auffällige Parallele zum vorausgegangenen Liebesakt. Im Hintereinander der beiden Szenen eröffnet sich eine ähnliche Ambivalenz wie auf der Insel selbst und zuvor in der Darstellung der Medea: ein ambivalenter Kontrast zwischen dem Angenehmsten und dem Schrecklichsten, der erst dann zum Schrecklichen vereindeutigt wird, als Jason Liebesverrat begeht. Dann aber wendet sich all das, was ihm zuvor Schutz und Liebe gewährt hat, als tödliche Bedrohung gegen ihn selbst. Die Beute ist nur Beute, solange sie sich willentlich hingibt. Anderenfalls aber ist sie ein unüberwindbarer, ein tödlicher Feind. Was Jason auf der Insel zu bewältigen hat, erscheint bei Konrad als funktionslos gewordener Zivilisationsmythos. Der Mensch muss die Götter vereh-

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ren, er muss Tiere und das Feuer zähmen, er muss das Eisen beherrschen, um Ackerbau betreiben zu können. Offenbar muss er sich auch gegen Konkurrenten durchsetzen, gegen andere Krieger, die ebenfalls einer Ackerbaukultur entstammen. Auf diesen mythischen Gehalt scheint es jedoch überhaupt nicht anzukommen. Einigermaßen undeutlich schließlich ist, welche Rolle der Drache in dieser Konfiguration spielt, als genuin mittelalterliche Zutat. Er bringt das Geschehen einerseits in die Nähe einer klassischen Heilsbringeraventiure, andererseits in die Nähe ritterlicher Liebesgeschichten, die ihren Mehrwert daraus schöpfen, dass die Geliebte des menschlichen Helden etwas Feenhaftes an sich hat, das sich oftmals in einer merkwürdigen Verbindung zu mythischen Handlungsräumen und mythischen Schwellenwächtergestalten offenbart. Nur: Der Zivilisationsmythos stiftet keine Ordnung und bleibt residual beschränkt auf den Unort der Insel. Jason ist kein Heilsbringer, und seine Taten auf der Insel sind auch nicht, wie etwa in der Artusepik, darauf angelegt, ›kompensatorisch‹ einen initial gestörten Weltzustand wieder ins Lot zu bringen. Jasons Sieg über den Drachen kann nicht einmal die dunkle Seite Medeas dauerhaft aus der Welt schaffen. Außerhalb der Insel ist er bedeutungslos. Die Urszene aller Aventiuren ist eher darauf angelegt, bereits zu Beginn den Keim des Untergangs zu säen, wie bei all den ähnlichen Urszenen im Trojanerkrieg – obwohl das Prinzip der Aventiure gerade das Stiften und Wiederherstellen von Ordnung ist. Das ist das Resultat der Engführung von Aventiure und Minne, insofern Minne hier in ihrer emphatischen Variante zur Feenliebe stilisiert wird. Feuer und Gift werden aus dem abgetrennten Sonderraum der Insel durch Jasons Verrat und Medeas Rache in die gewöhnliche Welt hinausgetragen. Nicht das Höfische siegt über den unhöfischen Unort und gemeindet sich ihn ein, sondern das Prinzip des Unorts ergreift Besitz von der höfischen Welt. Sie wird als Ganze zu einem Grenzsaum transformiert. Die Ambivalenz, die die Medea-Gestalt ebenso bestimmt wie die Widderinsel, ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

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Arkadien als literarisches Heterotop BRIGITTE BURRICHTER

Arkadien ist seit dem 17. Jahrhundert ein Sehnsuchtsbild Europas, der Inbegriff des locus amoenus.1 Es ist als solcher Chiffre für ein sorgenloses Leben in schöner Natur, ein Gegenentwurf zum Alltag und damit – in welchem engeren Sinne auch immer – ein ›anderer Raum‹.2 Das so verstandene Arkadien ist ein später Abglanz eines anderen, ambitionierten Arkadien: In der Renaissance ist Arkadien ein – imaginierter – anderer Raum, der in der Kultur des Humanismus eine entscheidende Rolle spielt: hier kommt das »gewandelte, ästhetische Bewußtsein« des Humanismus »zu sich«, hier wird ein neues Verständnis von Fiktion umgesetzt.3 Dieses »poetische Land«4 ist ein ›anderer Raum‹, eng mit der realen Welt und ihren großen Fragestellungen verbunden und doch von ihr geschieden.5 Der zentrale Text dieses Arkadien ist die Arcadia von Jacopo Sannazaro, der im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen soll. In diesem Werk wird Arkadien zum – intradiegetischen – Heterotop im Sinne Foucaults.

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Siehe dazu unten S. 321f. mit Anm. 33. Ich verzichte hier bewusst (noch) auf den Begriff ›Heterotop‹ im Sinne von Foucaults espace autre, weil dieses Arkadien zwar heterotopische Züge aufweist, allerdings nur auf einer sehr allgemeinen Ebene. Als Übersetzung für espace autre wähle ich ›anderer Raum‹ (vgl. LENZ, 1995). WEHLE, 1987, S. 137-166, hier S. 138. Wehles Aufsatz ist dieser Funktion von Arkadien gewidmet. Ebd. Vgl. dazu WEHLE, 1987, sowie DERS., 1995.

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Ursprünglich ist Arkadien ein literarisches Konstrukt,6 es ist der Schauplatz der bukolischen Dichtung, der Hirtendichtung. Die bukolische Dichtung hat von Anfang an, seit ihrer Entstehung in der Antike, eine Zwischenstellung im literarischen Gattungsgefüge inne, da sie mit den Hirten einen niederen Gegenstand hat, darüber aber im hohen Stil verhandelt. Diese Zwischenstellung prädestiniert die bukolische Dichtung zum bevorzugten Ort für Überlegungen über das Dichten und die Literatur selbst, wobei diese Überlegungen nicht in theoretischen Ausführungen zur Sprache kommen, sondern im Dichten selbst. In den Gesängen werden die je aktuellen Gedichtformen aufgegriffen, und auch die Prosa, die in der Renaissance mit der Dichtung kombiniert wird, ist höchst ambitioniert. Das große Bewusstsein für die je aktuellen Fragestellungen und Formen der Dichtung hat dazu beigetragen, dass die bukolische Dichtung seit ihren Anfängen bei Theokrit im 3. Jahrhundert vor Christus diejenige literarische Gattung ist, in der eine fiktionale Welt geschaffen wird, die allein ästhetischen Regeln folgt. Theokrits Hirten singen höchst kunstvolle Lieder, die zumeist von der Liebe handeln. Theokrit situiert seine Hirten nicht, weder in einer real noch in einer fiktiv lokalisierbaren Landschaft. Gut 200 Jahre später verbindet Vergil in seinen Eklogen das Land, in dem die Hirten leben und singen, mit dem Namen Arkadien. Arkadien, als reale Landschaft auf dem Peloponnes gelegen, ist der Überlieferung nach die Heimat des Hirtengottes Pan. Auch in Vergils Eklogen ist die Schäferwelt ein ›imaginäres Land‹ (Panofski),7 dessen Topographie durch seine Funktion als ästhetisch-literarische Welt bestimmt ist: neben den der arkadischen Realtopographie entstammenden Landschaftselementen – dem Berg Menalo und dem Fluß Alpheus – gehören dazu alle Elemente eines locus amoenus: Bächlein, blühende Wiesen, große und alte Bäume, kleine Wälder… Die Natur gibt dort alles, was die Hirten zum Leben brauchen, die Herden gedeihen ohne großen Arbeitseinsatz, so dass der hauptsächliche Lebensinhalt der Hirten das Singen ist. Vergils Arkadien wird zum Vorbild aller späteren Arkadien-Entwürfe. Der pointierteste und komplexeste Arkadienentwurf der europäischen Literatur, dem ich mich im Folgenden zuwenden möchte, ist die Arcadia des Iacopo di Sannazaro. Sannazaro lebte im Umkreis der aragonesischen Könige von

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Vgl. zur Geschichte Arkadiens und seiner literarischen Ausformungen zuletzt NELTING, 2007, und GRABER, 2009, der einen guten Überblick über die antike und die deutsche Arkadientradition gibt. Vgl. NELTING, 2007, S. 52.

Arkadien als literarisches Heterotop

Neapel. Er war Mitglied der neapolitanischen Dichterakademie, verfasste bukolische Gedichte und lateinische religiöse Lyrik. Die Arcadia entstand über einen längeren Zeitraum hinweg in den 1480/90er Jahren in Neapel und kursierte zunächst nur als Manuskript. Erst nachdem seit 1502 Raubdrucke im Umlauf waren, ließ Sannazaro das Werk 1504 zum ersten Mal drucken. Es erreichte in der Folgezeit zahlreiche Auflagen und weite Verbreitung. Sannazaros Beschreibung von Arkadien fußt auf den antiken Prätexten und bestimmt das Arkadienbild der Neuzeit in ganz Europa. Sein Werk hatte großen Erfolg und löste eine regelrechte Mode pastoraler Literatur im 16. und 17. Jahrhundert aus, die dann ihrerseits wieder die Malerei inspiriert hat. Aus den vielen Forschungsaspekten, die Sannazaros Arcadia bietet, möchte ich im Folgenden die Raumkonstruktion herausgreifen. Arkadien ist als literarisches Konstrukt zunächst – bezogen auf die extradiegetische Welt – ein virtueller, ein imaginierter Raum. Intradiegetisch aber trägt dieser Raum Züge des Heterotops. Mein Interesse gilt hier diesem intradiegietischen Raum der Arcadia. Dieser Blickwinkel bringt es mit sich, dass ich meinen Schwerpunkt auf die Inszenierung der arkadischen Welt lege, auf die Textoberfläche des Werkes, unter der unzählige andere Schichten liegen, die hier weitgehend ausgeblendet bleiben.8 In der Rezeption der Arcadia lässt sich dann verfolgen, wie aus einem intradiegetischen ein extradiegetisches Heterotop werden kann.

1. Das literarische Arkadien in Sannazaros Arcadia Die Arcadia ist ein literarisches Konstrukt par excellence. Es gibt einen IchErzähler, der zunächst einer der arkadischen Hirten zu sein scheint, sich aber später als ein Flüchtling aus Neapel, nämlich Sannazaro selbst, herausstellt. In zwölf Abschnitten, die jeweils aus einem Prosastück und einem Gesang bestehen, führt der Text arkadische Hirten vor, deren Hauptbeschäftigung das Singen ist. Die Anlässe sind Feste, Wettkämpfe oder einfach Begegnungen, die zunächst Gespräche (vor allem über Liebesprobleme) und dann Gesänge in Szene setzen.

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Für weitere Aspekte der Arcadia siehe NELTING, 2007, S. 99-139, und insbesondere die Arbeiten Winfried Wehles (neben den oben bereits genannten auch WEHLE, 2000).

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Arkadien ist hier – wie in den Prätexten – eine bukolische Landschaft, es ist aber auch ganz entschieden das ideale Land der Kunst: Sannazaro nimmt in den Gesängen der Hirten alle Formen der zeitgenössischen Dichtung auf, es gibt immer wieder lange Beschreibungen von Monumenten oder Plastiken, deren reale Vorbilder in der zeitgenössischen Kunst zu suchen sind,9 und es gibt Reinszenierungen antiker Literatur (insbesondere in der Aufzählung magischer Praktiken und in mythologischen Anspielungen). Die Arcadia wird damit zu einem Mikrokosmos der avancierten Kunst und Literatur der neapolitanischen Akademie, zu einem Wissensraum der Ästhetik. Diese Seite der Arcadia ist in ihren vielfältigen Bezügen und Deutungsmöglichkeiten gut untersucht.10 Ich werde immer wieder auf diese Aspekte des Werks Bezug nehmen, sie allerdings nicht vertiefen, sondern mich im Folgenden Sannazaros Arkadien versuchsweise nur aus der Raum-Perspektive nähern und es als intradiegetisches Heterotop lesen. Das literarische Arkadien ist – das sei vorweg dargelegt – keine Utopie im eigentlichen Sinne.11 Es ist der Entwurf einer anderen Welt, die teilweise von anderen Regeln als die reale Welt bestimmt ist. Diese andere Welt der Kunst ist konzentriert auf die Dichtung und die Ästhetik, ihr Hauptgegenstand ist die (unglückliche) Liebe. Aber es ist insbesondere bei Sannazaro keine ideale Welt, kein Entwurf einer Gesellschaft, die ein Idealbild der aktuellen, realen Gesellschaft wäre. Es ist eine Art ästhetischer Parallelwelt, in die sich fallweise Einzelne für eine gewisse Zeit zurückziehen (oder flüchten), um realem Liebesschmerz zu entkommen. Dieses Arkadien ist in seiner literarischen Konstruiertheit und gedrängten Intertextualität (im weitesten Sinne des Wortes) ein höchst komplexes Gebilde. Seine ästhetische Idealität wird bei Sannazaro unter Einsatz aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel aufgebaut. Aber er durchbricht diese Idealität auch immer wieder durch (pseudo-)realistische Einschübe, die diesem literarischen Konstrukt eine gewisse historisch-geographische Realität verleihen. Die Spannung zwischen den beiden Extremen – der Idealität einerseits und der literarischen, z. T. auch topischer Überlieferung geschuldeten Realität andererseits – trägt zum Reiz dieses literarischen Entwurfs bei. Im Blick auf die 9 Vgl. die Texte im Anhang, S. 326-330 und 331-333. 10 Vgl. v. a. die in Anm. 6 genannten Studien, die weitere Verweise auf die Sekundärliteratur bieten. 11 Vergils Arkadien hat allerdings utopische Züge, insofern es Hirten, die aufgrund der realen politischen Verhältnisse ihr Land verlassen mussten, Zuflucht bietet. Dieser Aspekt wird vor allem von GRABER, 2009, betont (v. a. S. 33-42).

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Arkadien als literarisches Heterotop

mögliche Lesart Arkadiens als Heterotop verleihen ihm die Realitätsanklänge eine Raumqualität, die es als anderen, aber in der innerfiktionalen Welt verortbaren Raum denkbar machen. Die Frage, der ich im Folgenden nachgehen werde, gliedert sich in zwei Teile. Zunächst möchte ich nachzeichnen, wie Sannazaro die intradiegetische Realität im Verhältnis zur Idealität positioniert um dann zu fragen, inwieweit sich Sannazaros Arkadien tatsächlich mit der Kategorie des Heterotops fassen lässt.

1.1 Einbrüche des Realen in der Arcadia Die Idealität der bukolischen Landschaft wird, wie gesagt, mit allen Mitteln konstruiert. Der Anfang des ersten Prosastückes vermittelt einen guten Eindruck von Sannazaros Verfahren: »Giace nella sommità di Partenio, non umile monte de la pastorale Arcadia, un dilettevole piano, di ampiezza non molto spazioso però che il sito del luogo nol consente, ma di minuta e verdissima erbetta sí ripieno che se le lascive pecorelle con gli avidi morsi non vi pascesseno vi si potrebbe di ogni tempo ritrovare verdura. Ove, se io non mi inganno, son forse dodici o quindici alberi, di tanto strana et excessiva bellezza che chiunque li vedesse giudicarebbe che la maestra Natura vi si fusse con sommo diletto studiata in formarli. Li quali, alquanto distanti e in ordine non artificioso disposti, con la loro rarità la naturale bellezza del luogo oltra misura annobiliscono.« Es liegt auf der Anhöhe des Partenios, des nicht bescheidenen Berges des pastoralen Arkadiens, eine liebliche Ebene, in der Ausdehnung nicht sehr weiträumig, weil dies die Lage des Ortes nicht zulässt, aber so sehr mit feinem und grünstem Gras bedeckt, dass, wenn nicht die rastlosen Ziegen mit ihren gierigen Mäulern dort weiden würden, man dort zu allen Zeiten frisches Grün finden könnte. Dort stehen, wenn ich mich nicht irre, zwölf oder fünfzehn Bäume von so seltener und außerordentlicher Schönheit, dass jeder, der sie sieht, zum Schluss käme, dass sich die meisterhafte Natur mit größtem Vergnügen daran gemacht hatte, sie zu formen. Diese, in einigem Abstand und in nicht künstli-

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Brigitte Burrichter cher Ordnung verteilt, veredeln mit ihrer Seltenheit die natürliche Schönheit des Ortes ganz außerordentlich.12

Die bukolische Landschaft wird in ihrer Topik aufgerufen – der Berg, die Wiese, die Bäume sind da, auch die Ziegen werden bereits erwähnt. Die vielen Adjektive und hyperbolischen Wendungen verleihen dem Ganzen dabei von Anfang an die Qualität des Außergewöhnlichen und sonst nie Erreichten. Die überreiche Sprache lässt vor dem Auge des Betrachters einen locus amoenus sozusagen erster Klasse entstehen. Sannazaro setzt die Beschreibung mit einer Aufzählung der einzelnen Baumarten fort, die voller Anspielungen auf die Mythologie ist und so auch diesen Aspekt schon im Eingang ins Spiel bringt.13 Am Ende schließlich werden die Hirten eingeführt, die sich an diesem locus amoenus im Herzen Arkadiens treffen. Die arkadische Welt wird ausdrücklich als Gegenbild zur städtischen Welt der Zivilisation entworfen – dies ist topisch: nichts ist hier künstlich, alles von der Natur gemacht. Schon von Anfang an – dem Werk ist noch ein Proömium vorangestellt, das diesen Gegensatz ebenfalls thematisiert – ist Arkadien der realen, städtischen Welt kontrastiv gesetzt. Dort ist Künstlichkeit, hier Natur, dort gekünstelte Musik, hier die einfache Hirtenmusik.14 Beiläufig, aber signifikant, wird jedoch bereits hier die Idealität der hyperbolischen Hirtenwelt gestört. Die Ziegen, unersetzliches Attribut der Hirten, verhindern in ihrer Gefräßigkeit, dass die Wiesen allzeit in arkadischem Grün stehen (vgl. das Zitat oben). In der bukolischen Tradition, insbesondere bei ihrem Begründer, Theokrit, werden solch alltäglich-realistischen Elemente des Hirtenlebens in komischer Absicht eingesetzt. Sannazaro verwendet sie als Kontrapunkt zur literarischen Idealität, die die arkadische Idylle sozusagen von innen heraus bedrohen. Das Ende des ersten Prosastücks setzt ein zweites bedrohendes Element ins Bild, das wieder untrennbar mit Arkadien verbunden ist: die Liebe. Der ideale arkadische Hirte singt, wenn er unglücklich verliebt ist – hier gibt es einen Hirten, der aus Liebeskummer das Singen verweigert.15

12 Zitierte Ausgabe hier und im Folgenden: SANNAZARO, 1990. Die Übersetzungen sind von mir (B.B.). Die Übersetzung des gesamten Prosastückes und der anderen im laufenden Text auszugsweise zitierten Prosastücke findet sich im Anhang (S. 320-334). 13 Vgl. Anhang, S. 324-326. 14 Vgl. Anhang, S. 322-324. 15 Vgl. Anhang, S. 325-326 (v. a. letzter Abschnitt des Prosastückes aus Arcadia 1).

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Arkadien als literarisches Heterotop

Als realistische Bedrohung von außen werden schließlich im zweiten Gesang die Wölfe angeführt, die Arkadien zu einem bedrohten Idyll machen. Neben den Arkadien eingeschriebenen Bedrohungen und den Bedrohungen von außen trägt insbesondere der Ich-Erzähler als Figur dieser Welt zur Störung des Ideals bei. Der Ich-Erzähler durchbricht immer wieder das ideale Verhaltensmuster der arkadischen Hirten, die sich ganz ihren typischen Beschäftigungen widmen. Wohl zieht er mit den anderen Hirten über die Wiesen, ist aber vor allem Beobachter. Dies wird besonders deutlich in der langen Beschreibung des großen Pan-Festes, das den Höhepunkt des arkadischen Jahres bildet. Sie setzt ein mit der Ekphrasis des Tempels,16 auf dessen Toren Arkadien selbst wie in einer mise en abyme dargestellt wird. Hier ruft Sannazaro die ästhetische Idealität Arkadiens auf, beschreibt detailliert die idyllische Landschaft, Herden und Hunde, Hirten in ihren ›alltäglichen‹ Tätigkeiten. Plötzlich bleibt der Blick des Betrachters hängen: Ihn interessieren vor allem die nackten Nymphen, die ebenfalls – in einer narrativen Bildsequenz – in ihrer üblichen Tätigkeit gezeigt werden: sie fliehen vor Satyrn und zeigen dabei ihre Reize in den unterschiedlichsten Positionen. Der Blick schließt dann – wieder ganz zum Fest zurückgekehrt – mit dem ›Götterhimmel‹ Arkadiens ab, der ebenfalls auf dem Tempeltor abgebildet ist. Der voyeuristische Blick bleibt aber präsent. Als beim obligatorischen Sängerwettstreit nach der Zeremonie im Tempel eine anonyme Schäferin besungen wird, konzentriert sich der Erzähler nicht etwa auf den Gesang und seine Qualitäten, sondern vielmehr auf die anwesenden Schäferinnen: Er versucht zu ergründen, welche rot wird und sich damit als die Angebetete des Sängers verrät.17 Diese kleinen Brüche im ansonsten ästhetisch perfekten Bild positionieren Sannazaros Arkadien nicht nur im Gegensatz zur Stadt, sondern auch im Gegensatz zum – intradiegetisch – wirklich idealen Arkadien. Die Szenen auf dem Tempeltor zeigen Arkadien im Goldenen Zeitalter, sie zeigen den idealen Urzustand des Landes.18 Sannazaros Arkadien, so wird schon hier deutlich, hat dagegen eine historische Realität, die der zeitlosen Idealität der Idylle entgegensteht. Später wird dieser Aspekt explizit vertieft und das ideale Arkadien, das auf dem Tempelportal verewigt ist, in die ferne Vergangenheit verlegt. Der 16 Vgl. Anhang, S. 326-330. 17 Vgl. Anhang, S.330f. 18 Vgl. Anhang S. 326-330.

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alte Schäfer Opico erinnert in seinem Gesang an die gute, alte Zeit, in der Arkadien dem Goldenen Zeitalter noch nah war (VI, V. 67-114). Die Historizität ist bei Sannazaro ein wesentlicher Aspekt des Heterotops Arkadien, denn sie ist es, die Sannazaros Arkadien von seinem durchaus utopischen Urbild unterscheidet.19 Die feinen Störungen, die fast unmerklich in den Text eingefügt sind, kulminieren in einer expliziten Kritik an Arkadien. Im siebten Prosastück fragen die Hirten den Prosaerzähler nach seiner Identität, da er offensichtlich ein Fremder ist. Sincero, so heißt der Ich-Erzähler, ist kein anderer als der neapolitanische Dichter Sannazaro selbst, der seine Heimat aus Liebeskummer (und, wie er andeutet, auch aus politischen Gründen) verlassen hat und in Arkadien auf Heilung seines Liebesschmerzes hofft. Arkadien wird so zu einer zeitgenössischen Welt.20 Es ist aber hier nun ausdrücklich keine ideale Welt, kein Sehnsuchtsort und keine Utopie. Der Dichter-Hirte hat nicht nur Heimweh nach seiner Stadt. In Umkehrung der Tradition, die Arkadien als positive Gegenwelt zur Stadt setzt und gegen all seine eigenen Anstrengungen, die wundervolle Natur Arkadiens in den höchsten Tönen zu loben, preist er nun die Stadt. Arkadien, das er bis hierher als ästhetische Idealwelt mit allen rhetorischen Mitteln inszeniert hat, ist für Sincero-Sannazaro nun ausdrücklich negativ besetzt: Er spricht von der Einsamkeit und Langeweile dieser idealen Welt: »[…] tra queste solitudini di Arcadia, ove, con vostra pace il dirò, non che i gioveni ne le nobili città nudriti, ma appena mi si lascia credere che le selvatiche bestie vi possano con diletto dimorare.« […] an diesen einsamen Orten Arkadiens, in denen sich die Jugend, die in den Städten erzogen wurde, nicht wohl fühlt und wo man sich kaum vorstellen kann, dass sich dort die wilden Tiere gerne aufhalten.

19 Vgl. Anm. 11. In Foucaults Entwurf spielt die Zeit dezidiert keine Rolle, da er sie als großes Thema des 19. Jahrhunderts sieht. Die meisten der von ihm genannten Heterotopien sind aber an die Zeitlichkeit gebunden. 20 Diesen Aspekt teilt Sannazaros Arkadien mit demjenigen Vergils, vgl. GRABER, 2009, S. 35-38. Allerdings ist Arkadien bei Vergil der unstrittig ideale, friedliche Zufluchtsort. Die Gleichzeitigkeit von arkadischer und realer Welt kommt auch in der Ekphrasis des 11. Prosastückes zum Ausdruck, in dem eine (angeblich) von Mantegna bemalte Vase beschrieben wird (vgl. Anhang, S. 332f.).

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Arkadien als literarisches Heterotop

Diese Demontage Arkadiens wird nicht weiter kommentiert, sie wird allerdings durch den Bericht eines anderen, weitgereisten Hirten bestätigt: Dieser berichtet von einer Reise nach Neapel, wo er die Dichter der dortigen Akademie erlebt hat, die weit besser als die arkadischen Hirten dichten und singen.21 Aus der Zurückweisung Arkadiens als erstrebenswertem Aufenthaltsort wird so schnell das Lob der Dichterkollegen. Die Erzählung kehrt dann ohne weiteren Kommentar ›nach Arkadien‹ zurück und wendet sich den magischen Praktiken zu, die möglicherweise Liebesschmerz heilen. Hier nun kommt die letzte große Bedrohung ins Spiel, der Tod. Am Weg, den die Hirten nehmen, steht ein Grabmal, die Trauer über den Verlust der toten Mutter eines Hirten, die dort begraben ist, überschattet alles andere.22 Die Zeitlichkeit durchzieht so die zweite Hälfte der Arcadia in allen ihren Aspekten als Lebenszeit ebenso wie als historisch fixierbare Zeit. Am Ende verlässt der Erzähler Arkadien und kehrt nach Neapel zurück. Arkadien wir so zu einer Episode im Leben – und vielleicht auch in der Karriere des Dichters.23 Sannazaro-Sincero erzählt nicht, wie er nach Arkadien gekommen ist, die Rückkehr nach Neapel nimmt dagegen umso mehr Platz ein. Sie wird als regelrechtes Schwellenerlebnis inszeniert: Der Dichter wird von einer Nymphe unter die Erde geführt, wo alle Flüsse ihren Ursprung haben. Sie führt ihn unter dem Meer hindurch bis zur Quelle des Flüsschens, an dem sein Haus steht. Diese Unterweltwanderung stellt einen hochkomplexen descensus in die Tiefenschichten des Werkes selber dar, verweist auf alle Prätexte und den Prozess des Schreibens selbst. Von dieser Rückkehr aus gesehen wird Arkadien zum unerreichbaren Land, das nur dem zugänglich ist, der von einer Nymphe auserwählt und geleitet wird.

21 Der Kontrast zur Idealisierung Arkadiens gerade auch im Dichten und Singen im Prolog (vgl. Anhang S. 322-324) könnte deutlicher nicht sein. 22 Auch der Tod findet sich bereits bei Vergil. Dort treffen sich die Hirten am Grabmal des Daphnis, den Pan einst das Spiel auf der Hirtenflöte lehrte. Sannazaro gibt dem Todesmotiv allerdings eine neue Aktualität, wenn er nicht das Grabmal eines mythischen Vorgängers, sondern das Grab der Mutter (deren Name, Massilia, zudem sehr an den Namen von Sannazaros eigener Mutter, Masella, erinnert) einsetzt. Das berühmte Diktum Et in arcadio ego, das sich auf den Tod beziehen lässt (»auch ich, der Tod, bin in Arkadien«), findet sich allerdings erst bei Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino am Anfang des 17. Jahrhunderts. 23 Vgl. dazu unten S. 319f.

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1.2 Sannazaros Arkadien als Heterotop Sannazaros Arkadien ist damit eine literarische Landschaft, die Welt der Ästhetik schlechthin. Als solche bildet sie eine Art Parallelwelt zur historischen Realität, erscheint als die wahre Heimat der Dichter und der Kunst, die immer wieder je neu aufgerufen werden kann. Wo immer sich Dichter zusammenfinden, die in einer bestimmten Weise dichten und sich ganz der Ästhetik widmen, ist sozusagen Arkadien. Dieser Aspekt ist in der Arcadia sicher dominant, man kann sie sogar als Schlüsseltext lesen und die Hirten weitgehend mit Dichterkollegen der Akademie identifizieren.24 Dieses ideale Arkadien wird im Text vor allem über Beschreibungen vermittelt – lange Beschreibungen der Landschaft wie der Kunstwerke –, so dass die Idealität Arkadiens vor allem eine statische ist. Das ideale Arkadien als ästhetischer Gegenentwurf wird im Text selbst immer deutlicher zur statischen Fiktion, zum goldenen Zeitalter der Kunst, das der Zeit enthoben scheint. In seiner Zeitlosigkeit vereinigt es ästhetische Entwürfe der verschiedensten Zeiten – das antike Arkadien etwa mit der modernen Dichtung des 16. Jahrhunderts – zu einem locus amoenus der Kunst. In diesem Sinn und in diesem Aspekt des Arkadienentwurfs von Sannazaro ist Arkadien ein virtueller Raum, der intradiegetisch auf der Darstellung am Tempel auch als solcher aufgerufen wird. Aber das ist nur ein Aspekt. In der narrativen Entfaltung der literarischen Fiktion gewinnt dieses Arkadien eine Dynamik, die quer zu seiner idealen Zeitlosigkeit steht. Die Narration bringt schon durch die Dauer der narrativen Entfaltung die Zeitlichkeit ins Spiel, und sie bindet Arkadien mit ihren Störungen des idealen Bildes an die innerfiktionale reale Welt. Die Narration macht aus diesem Arkadien eine Etappe im Leben des Dichters: Zum Zufluchtsort des – in der Fiktion der Erzählung – jungen Dichters.25 Die unglückliche Liebe hat ihn, der schon dem Selbstmord nahe war, dorthin geführt. Einer der erfahrenen Hirten Arkadiens gibt seinem Liebesleiden einen Sinn, den Sincero wohl auch akzeptiert: Ohne unglückliche Liebe gibt es keine Dichtung. Die Sublimierung der Liebe in der Dichtung ist nun aber nicht an Arkadien gebunden26 und diese Erkenntnis öffnet den Weg zur Rückkehr nach Neapel.

24 Vgl. dazu die Einleitung Espamers zu seiner Ausgabe: SANNAZARO, 1990, S. 9. 25 Vgl. unten S. 319f. 26 Hier führt zu großer Liebeskummer ja sogar zum Verstummen des Sängers, vgl. oben S. 314 mit Anm. 15.

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Arkadien wird damit – in der Fiktion der Narration – zum abgeschlossenen Raum, der außerhalb der normalen Lebenswelt liegt und zum Ort einer Schwellenerfahrung, dem Übergang von der Verzweiflung an der Liebe zur Sublimierung des Liebesleides in der Dichtung. Diese Funktion Arkadiens, wie sie so nur Sannazaro in Szene setzt, scheint mir mit Foucaults Theorie des Heterotops, genauer des Krisenheterotops,27 gut fassbar. Foucault führt Heterotope des Übergangs in ihrer soziologischen Perspektive an, als ›andere Orte‹ gerade auch für Heranwachsende. Ihnen eignet, dass sie aus dem ›normalen‹ Raum der Gesellschaft ausgegrenzt sind, gleichwohl aber in Verbindung zu ihm stehen. Mit Sannazaros Arkadien nun haben wir ein Beispiel eines rein literarischen Heterotops. Es handelt sich um einen literarisch-ästhetischen Raum, der allein mit literarischen Mitteln aufgebaut und in dem nahezu ausschließlich über Literatur und Kunst gehandelt wird. Damit aber Arkadien eine – virtuelle – Verbindung zum realen Raum hat und so zum Heterotop werden kann, muss es der Zeitlichkeit der Narration ausgesetzt werden, die ihm erst die Qualität eines wirklichen Raumes gibt.28 Ein Blick auf die tieferen Schichten des Werks untermauert die Lesart von Sannazaros Arkadien als Heteroptop. Ein erster, zum Teil externer Faktor dafür liegt in der Entstehungsgeschichte der Arcadia. Sannazaro hat sie wohl über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren hinweg geschrieben. Man nimmt an, dass die ersten sechs Bücher, in denen die arkadische Idealität erst nahezu unmerklich unterlaufen wird, sehr früh entstanden sind, während die letzten Bücher sukzessive, das letzte mit der Rückkehr aus Arkadien wohl erst kurz vor dem Druck entstanden sind. Die arkadische Dichtung kann so im Rückblick tatsächlich als Jugendwerk modelliert werden (so, wie auch andere Dichter ihre Liebeslyrik rückblickend als Jugendwerk darstellen) und einer – realen oder erfundenen – Epoche der eigenen Biographie zugewiesen werden. Die Schwellensituation Arkadiens als Raum zwischen der unglücklichen Liebe und dem gereiften Umgang damit lässt sich damit auch auf die dichterische Biographie hin verstehen. Sannazaro erweist sich in der Arcadia als Dichter, der wie kein anderer die unterschiedlichsten Facetten des Dichterlandes Arkadien zu handhaben weiß. Ihm gelingt es, alle Aspekte der literarischen arkadischen Tradition – und nicht nur dieser – in sein Werk zu integrieren. Ihm gelingt es ebenfalls, die Ideale der zeitgenössischen Malerei und Plastik über 27 FOUCAULT, 2006. 28 Die Zeit ist in Michel de Certeaus Theorie ein wesentlicher Faktor, der aus einem Ort einen Raum macht (DE CERTEAU, 1990, S. 173).

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die Ekphrasen aufzugreifen. Diese Bildbeschreibungen sind – und das scheint mir neu – nur schwach inhaltlich, dafür aber sehr deutlich ästhetisch motiviert.29 Im descensus der Rückreise ruft Sannazaro sein gesamtes literarisches Fundament auf und führt es vor. Und doch wird diese Dichtung, in der er so brilliert, durch die Narration nicht als Höhepunkt dargestellt, sondern als Phase des Schaffens, als Grundlage, auf der eine andere Dichtung aufgebaut werden könnte. Sannazaro antwortet mit dieser Einschätzung seiner bukolischen Dichtung auf die Realität Neapels, wo aus politischen und biographischen Gründen die Dichterakademie sich langsam auflöst und damit der Kontext der an der Antike orientierten Dichtung verschwindet. Der Aufenthalt im heterotopischen Raum des Jugendwerks30 führt in die Welt des gereiften Dichters, der nunmehr nur noch Lateinisch schreibt und zunehmend religiöse Werke verfasst. Arkadien als intradiegetisches Heterotop hat so nicht nur auf der Textoberfläche seinen Reiz, sondern findet seine Begründung auch in anderen Aspekten der Arcadia.

2. Arkadien in der Rezeption Tassos Sannazaros Werk ist vielfach rezipiert worden. Im Zuge dieser Rezeption verlässt Arkadien sozusagen den fiktionalen Raum und wird zum auch extradiegetischen Heterotop. Die wohl wichtigste Etappe auf dem Weg ›aus der Fiktion‹ ist Tassos tragikomödisches Spiel Aminta von 1573. Tasso erzählt in diesem Stück die Liebe des Schäfers Aminta zur schönen Silvia, die ihn zurückweist. Über viele höchst tragische Verwicklungen kommt es schließlich – wir sind in einer Tragikomödie – zum Happy Ending. Auch hier gibt es eine innerfiktionale Spannung, denn Arkadien wird als ideale Hirtenwelt aufgerufen, in der vor allem alles erlaubt ist. Leitmotiv dieser Seite Arkadiens ist die Formel che piace, lice (erlaubt ist, was gefällt). Demgegenüber steht auch hier die gespielte Geschichte, in der die Liebe zunächst eben nicht realisiert werden kann. Ich möchte darauf nicht weiter eingehen, sondern mich auch hier nur auf die Raumkonzeption beschränken. Tassos Stück spielt in Arkadien. Aber es spielt gleichzeitig auf einer Bühne (für die es auch bewusst geschrieben ist). Diese Bühne befindet sich auf einer 29 Vgl. die Textausschnitte im Anhang, S. 331-333. 30 Im Prosastück 7 (siehe Anhang, S. 333-336) spricht das erzählende Ich Sincero/ Sannazaro ausdrücklich von seiner Jugend.

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Insel im Po gegenüber der Stadt Ferrara, dem Sitz von Tassos Gönner, dem Grafen von Este. Im Spiel wird nun diese Insel zu Arkadien, und die Stadt – wie bei Sannazaro negatives Gegenbild zur unschuldigen Hirtenwelt und Ort der höchsten Kunst in einem – liegt nun nicht eine anstrengende Unterweltwanderung weit weg, sondern in Sichtweite. Sie wird ins Spiel einbezogen, aus Sannazaros Lob auf die neapolitanischen Dichterkollegen aus dem Mund des weitgereisten Hirten wird auf raffinierte Weise ein ganz direktes Herrscherlob: Die Stadt, die der Hirte Mopsus genregerecht und rein topisch als schlimmes Gegenbild zu Arkadien zeichnet, ist bereits in seiner Invektive eindeutig als Ferrara zu identifizieren. Das negative Bild hat allerdings nicht lange Bestand, denn der Hirte Thyrsis kann all die negativen Elemente, die Mopsus anführt, aus eigener Anschauung widerlegen und beschreibt die Stadt als wunderbaren Ort.31 Arkadien verliert hier den Bezug zu seiner traditionellen geographischen Realität. Es wird zum virtuellen Ort ohne feste Bindung an das bisher fast immer mitgedachte – reale oder fiktionalisierte – Arkadien auf dem Peloponnes.32 Diese Neuerung Tassos – die bei Vergil bereits angedeutet, aber nicht weiter verfolgt wurde – hat Konsequenzen. Tassos Aminta wurde ebenso viel rezipiert wie Sannazaros Arcadia, und in späteren Werken erscheint Arkadien als ein Amalgam der beiden Entwürfe. Für die genauere Ausgestaltung der arkadischen Welt, für die Möglichkeit der arkadischen Narration, alle Diskurse und Themen zu integrieren, ist Sannazaro Vorbild, für die Lösung Arkadiens aus der traditionellen geographischen Bindung – und sei sie noch so lose gewesen – Tasso. Montemayor kann so in der Diana seine arkadische Hirtenwelt nach Spanien und Portugal verlegen, Honoré d’Urfé in der Astrée die seinige in den Forez bei Lyon. Je mehr dieses Arkadien verbreitet wird – in der Dichtung, der narrativen Literatur und im Schauspiel, aber sehr schnell auch in der Malerei33 – um so mehr reduziert sich Arkadien auf das, was ihm seit den Anfängen essentiell ist, was die anspruchsvollen Dichter der Renaissance aber eher als Dekorum gesehen hatten: den üppig ausgestatteten locus amoenus. Umso mehr aber wird auch die neue Ortlosigkeit Arkadiens genutzt: Arkadien wird zur idealen 31 TASSO, 1995, I.2, V. 565-643. 32 Die geographisch korrekten Namen von Berg und Fluss in der Arcadia verweisen auf den Peloponnes und die Rückkehr Sannazaros durch die Unterwelt folgt der im Gründungsmythos der Stadt Neapel erzählten Verbindung zwischen dem peloponnesischen Arkadien und Unteritalien. 33 Siehe dazu ausführlich MAISAK, 1981, die insbesondere das Arkadienmotiv in der Malerei untersucht.

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Landschaft, die man überall finden kann, vorzugsweise in Italien. Wenn man sie nicht findet, kann man sie schaffen: Die Landschafts- und Gartenplaner lassen sich insbesondere im 18. Jahrhundert von der arkadischen Landschaftsmalerei inspirieren. So heißt etwa ein Teil des Gartens von Ermenonville (1763-1776 nach dem Vorbild der Gemälde Claude Lorrains angelegt) »Arkadische Gefilde«, die polnische Fürstin Helena Radziwillowa ließ zwischen 1778 und 1798 westlich von Warschau einen ganzen Park mit dem Namen »Arkadia« anlegen.34 In dieser Funktion der gestalteten Idylle findet sich Arkadien auch noch heute – vorzugsweise in der touristischen Werbung. »Der arkadische Illusionismus [verkommt] zu trivialem Kitsch.«35 Die Raumkonzeption dieses ›neuen‹ Arkadiens oszilliert im metaphorischen Gebrauch zwischen dem Heterotop etwa des Gartens und der Evokation eines Sehnsuchtsortes, den die Realität niemals wird einlösen können. Sannazaros Arkadien war da in all seiner literarischen Künstlichkeit als Heterotop realer.

Anhang Iacopo Sannazaro, Arcadia (1502) Prolog Sogliono il piú de le volte gli alti e spaziosi alberi negli orridi monti da la natura produtti, piú che le coltivate piante da dotte mani expurgate negli adorni giardini, a’ riguardanti aggradare; e molto piú per i soli boschi i selvatichi ucelli, sovra i verdi rami cantando, a chi gli ascolta piacere, che per le piene cittadi, dentro le vezzose e ornate gabbie, non piacciono gli ammaestrati. Per la qual cosa ancora, sí come io stimo, addiviene che le silvestre canzoni vergate ne li ruvidi cortecci de’ faggi dilettino non meno a chi le legge che li colti versi scritti ne le rase carte degli indorati libri; e le incerate canne de’ pastori porgano per le fiorite valli forse piú piacevole suono che li tersi e pregiati bossi de’ musici per le pompose camere non fanno. E chi dubita che piú non sia a le umane menti aggradevole una fontana che naturalmente esca da le vive pietre, attorniata di ver34 Vgl. BUTTLAR, 1989, S. 116 und 233. Er widmet dem Thema des Landschaftsgartens Zwischen Arkadien und Utopia ein eigenes Kapitel, S. 17-19. Am Anfang des 19. Jahrhunderts entstand rund um Potsdam »Preußisch-Arkadien«. 35 NELLE, 2005, S. 145.

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Arkadien als literarisches Heterotop di erbette, che tutte le altre ad arte fatte di bianchissimi marmi, risplendenti per molto oro? Certo che io creda niuno. Dunque in ciò fidandomi, potrò ben io fra queste deserte piagge, agli ascoltanti alberi e a quei pochi pastori che vi saranno, racontare le rozze ecloghe da naturale vena uscite, cosí di ornamento ignude exprimendole come sotto le dilettevoli ombre, al mormorio de’ liquidissimi fonti, da’ pastori di Arcadia le udii cantare; a le quali non una volta ma mille i montani idii da dolcezza vinti prestarono intente orecchie, e le tenere ninfe, dimenticate di perseguire i vaghi animali, lasciarono le faretre e gli archi appiè degli alti pini di Menalo e di Liceo. Onde io, se licito mi fusse, piú mi terrei a gloria di porre la mia bocca a la umile fistula di Coridone, datagli per adietro da Dameta in caro duono, che a la sonora tibia di Pallade, per la quale il male insuperbito satiro provocò Apollo a gli suoi danni. Che certo egli è migliore il poco terreno ben coltivare, che ‘l molto lasciare per mal governo miseramente imboschire. (S. 53-55) In den meisten Fällen gefallen den Betrachtern die hohen und weit ausladenden Bäume, die in den schrecklichen Bergen von der Natur hervorgebracht werden, mehr als die gezüchteten Pflanzen, die von kundigen Händen in lieblichen Gärten gezogen werden; und die wilden Vögel, die in den einsamen Wäldern auf den grünen Zweigen singen, gefallen dem, der sie hört, mehr als in den vollen Städten in den anmutigen und geschmückten Räumen die dressierten. Aus demselben Grund kommt es meiner Ansicht nach vor, dass die Hirtenlieder, die in die raue Rinde der Buchen geritzt sind, dem, der sie liest, nicht weniger gefallen als die gelehrten Verse, die auf feines Papier in goldverzierten Büchern geschrieben sind; und die gewachsten Flöten [d. h. Panflöten] der Hirten senden vielleicht angenehmere Töne über die blühenden Täler als die polierten und wertvollen Buchshölzer [d. h. Flöten aus Buchsbaumholz] der Musiker durch die pompösen Zimmer. Und wer zweifelt daran, dass dem menschlichen Gemüt eine Quelle, die natürlich aus dem lebenden, von grünem Gras umgebenen Fels hervorsprudelt, angenehmer ist, als alle kunstvoll aus weißestem Marmor gemachten und vor lauter Gold leuchtenden? Ich glaube sicher, niemand. Darauf vertrauend kann ich wohl in diesen verlassenen Feldern den zuhörenden Bäumen und den wenigen Hirten, die hier sind, die ungeschliffenen, aus natürlicher Ader [Stimmung] hervorgegangenen Eklogen vortragen und sie so, ohne jedes Ornament, wiedergeben, wie ich sie im angenehmen Schatten beim Murmeln der klarsten Quellen von den Hirten Arkadiens habe singen hören; denen nicht nur einmal, sondern tausend Mal die Berggötter, von der Süße überwältigt, das

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Brigitte Burrichter aufmerksame Ohr geliehen haben und derentwegen die zarten Nymphen vergaßen, die herumstreifenden Tiere zu verfolgen und die Pfeile und die Bögen am Fuß der hohen Pinien des Maenalus und des Lycaeus liegen ließen. Dort würde ich mir, wenn es mir erlaubt wäre, mehr zu Ehren halten, die einfache Flöte Coridons, die ihm Dameta als liebes Geschenk gegeben hatte, an meinen Mund zu setzen als die tönende Flöte Minervas, mit der der schlechte, hochmütige Satyr Apollo zu seinem Schaden herausgefordert hatte. Denn es ist sicher besser, das wenige Irdische gut zu pflegen, als durch schlechte Regierung das Viele elend verwildern zu lassen.

Arcadia 1 – Prosastück Giace nella sommità di Partenio, non umile monte de la pastorale Arcadia, un dilettevole piano, di ampiezza non molto spazioso però che il sito del luogo nol consente, ma di minuta e verdissima erbetta sí ripieno che se le lascive pecorelle con gli avidi morsi non vi pascesseno vi si potrebbe di ogni tempo ritrovare verdura. Ove, se io non mi inganno, son forse dodici o quindici alberi, di tanto strana et excessiva bellezza che chiunque li vedesse giudicarebbe che la maestra Natura vi si fusse con sommo diletto studiata in formarli. Li quali, alquanto distanti e in ordine non artificioso disposti, con la loro rarità la naturale bellezza del luogo oltra misura annobiliscono. Quivi senza nodo veruno si vede il drittissimo abete, nato a sustinere i pericoli del mare, e con piú aperti rami la robusta quercia e l’alto frassino e lo amenissimo piatano vi si distendono con le loro ombre, non picciola parte del bello e copioso prato occupando. Et evi con piú breve fronda l’albero di che Ercule coronar si solea, nel cui pedale le misere figliuole di Climene furono trasformate. E in un de’ lati si scerne il noderoso castagno, il fronzuto bosso e con puntate foglie lo excelso pino carico di durissimi frutti; ne l’altro lo ombroso faggio, la incorruttibile tiglia e ’l fragile tamarisco, insieme con la orientale palma, dolce e onorato premio de’ vincitori. Ma fra tutti nel mezzo, presso un chiaro fonte, sorge verso il cielo un dritto cipresso, veracissimo imitatore de le alte mete, nel quale non che Ciparisso ma, se dir conviensi, esso Apollo non si sdegnarebbe essere transfigurato. Né sono le dette piante sí discortesi che del tutto con le lor ombre vieteno i raggi del sole entrare nel dilettoso boschetto; anzi per diverse parti sí graziosamente gli riceveno, che rara è quella erbetta che da quelli non prenda grandissima recreazione. E come che di ogni tempo piace-

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Arkadien als literarisches Heterotop vole stanza vi sia, ne la fiorita primavera più che in tutto il restante anno piacevolissima vi si ritruova. In questo cosí fatto luogo sogliono sovente i pastori con li loro greggi dagli vicini monti convenire, e quivi in diverse e non leggiere pruove exercitarse: sí come in lanciare il grave palo, in trare con gli archi al versaglio, e in addestrarse nei lievi salti e ne le forti lotte, piene di rusticane insidie; e ‘l più de le volte in cantare e in sonare le sampogne a pruova l’un de l’altro, non senza pregio e lode del vincitore. Ma essendo una fiata tra l’altre quasi tutti i convicini pastori con le loro mandre quivi ragunati, e ciascuno, varie maniere cercando di sollacciare, si dava maravigliosa festa, Ergasto solo, senza alcuna cosa dire o fare, appiè di un albero, dimenticato di sé e de’ suoi greggi, giaceva, non altrimente che se una pietra o un tronco stato fusse, quantunque per adietro solesse oltra gli altri pastori essere dilettevole e grazioso. (S. 56-58) Es liegt auf der Anhöhe des Partenios, des nicht bescheidenen Berges des pastoralen Arkadiens, eine liebliche Ebene, in der Ausdehnung nicht sehr weiträumig, weil dies die Lage des Ortes nicht zulässt, aber so sehr mit feinem und grünstem Gras bedeckt, dass, wenn nicht die rastlosen Ziegen mit ihren gierigen Mäulern dort weiden würden, man dort zu allen Zeiten frisches Grün finden könnte. Dort stehen, wenn ich mich nicht irre, zwölf oder fünfzehn Bäume von so seltener und außerordentlicher Schönheit, dass jeder, der sie sieht, zum Schluss käme, dass sich die meisterhafte Natur mit größtem Vergnügen daran gemacht hatte, sie zu formen. Diese, in einigem Abstand und in nicht künstlicher Ordnung verteilt, veredeln mit ihrer Seltenheit die natürliche Schönheit des Ortes ganz außerordentlich. Dort sieht man ohne jeglichen Knoten die geradeste Tanne, die dazu geboren ist, die Gefahren des Meeres auszuhalten, und mit offeneren Ästen dehnen sich die robuste Eiche und die hohe Esche und die lieblichste Platane mit ihrem Schatten aus und nehmen einen nicht kleinen Teil der schönen und üppigen Wiese ein. Und dort ist mit kürzeren Zweigen der Baum, mit dem sich Herkules zu bekränzen pflegte, in dessen Stamm die unglücklichen Töchter der Climene verwandelt wurden [die Pappel]. Und an der einen Seite sieht man die knotenreiche Kastanie, den belaubten Buchs und mit spitzen Blättern die ausgezeichnete Pinie beladen mit härtesten Früchten, an der anderen die schattige Buche, die unvergängliche Linde und die zerbrechliche Tamariske zusammen mit der orientalischen Palme, dem süßen und verdienten Preis der Sieger. Aber inmitten [all dieser Bäume] wächst nah bei einer klaren Quelle eine gerade Zypresse in

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Brigitte Burrichter den Himmel, wahrhaftigste Nachahmerin der hohen Säulen, in die sich zu verwandeln nicht nur Cypressus, sondern sogar, wenn man so sagen dürfte, Apollo selbst nicht verschmäht hätte. Die genannten Pflanzen sind jedoch nicht so unhöflich, dass sie mit ihren Schatten die Sonnenstrahlen ganz daran gehindert hätten, in das angenehme Wäldchen einzudringen; sondern sie empfingen diese an mehreren Stellen so anmutig, dass das Kraut selten ist, das von ihnen nicht die größte Erquickung empfände. Und obwohl dort zu jeder Zeit ein angenehmes Zimmer ist, findet man sich im blühenden Frühling mehr als im übrigen Jahr dort aufs Angenehmste ein. An diesem pflegen oft die Hirten aus den umliegenden Bergen mit ihren Herden zusammenzukommen und sich dort in verschiedenen, nicht einfachen Wettkämpfen zu üben: Sie werfen zum Beispiel die schwere Stange, schießen mit Bogen auf die Zielscheibe und üben sich in hohen Sprüngen und schweren Ringkämpfen voller rustikaler Finten; meistens aber singen sie und spielen sie den Dudelsack um die Wette, nicht ohne Preis und Ruhm für den Sieger. Aber als einmal fast alle Hirten aus der Umgebung mit ihren Herden hier versammelt waren und jeder, um sich zu vergnügen, sich aufs Köstlichste unterhielt, lag nur Ergasto, ohne irgend etwas zu sagen oder zu tun, am Fuß eines Baumes, sich selbst und seine Herden vergessend, so als sei er ein Stein oder Stamm, obwohl er früher vergnügter und liebenswürdiger als die anderen Hirten war. […]

Arcadia 3 – Prosastück Der Festtag der Pales Per reverenza de la quale, sí tosto come il sole apparve in oriente e i vaghi ucelli sovra li verdi rami cantarono dando segno de la vicina luce, ciascuno parimente levatosi cominciò a ornare la sua mandra di rami verdissimi di querce e di corbezzoli, ponendo in su la porta una lunga corona di frondi e di fiori di ginestre e d’altri; e poi con fumo di puro solfo andò divotamente attorniando i saturi greggi, e purgandoli con pietosi preghi che nessun male le potesse nocere né dannificare. Per la qual cosa ciascuna capanna si udí risonare di diversi instrumenti; ogni strada, ogni borgo, ogni trivio si vide seminato di verdi mirti; tutti gli animali egualmente per la santa festa conobbero il desiato riposo. I vomeri, i rastri, le zappe, gli aratri e i gioghi, similmente ornati di serte di novelli fiori, mostrarono segno di piacevole odio. Né fu alcuno degli aratori che per quel giorno pensasse di adoperare exercizio né lavoro alcuno, ma tutti lieti con dilettevoli giochi intorno agl’inghirlandati buovi per li pieni presepi cantarono amorose

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Arkadien als literarisches Heterotop canzoni. Oltra di ciò li vagabundi fanciulli di passo in passo con le semplicette verginelle si videro per le contrade exercitare puerili giochi, in segno di commune letizia. Ma per potermo divotamente offrire i voti fatti ne le necessità passate sovra i fumanti altari, tutti inseme di compagnia ne andammo al santo tempio. Al quale per non molti gradi poggiati, vedemmo in su la porta dipinte alcune selve e colli bellissimi e copiosi di alberi fronzuti e di mille varietà di fiori; tra i quali si vedeano molti armenti che andavano pascendo e spaziandosi per li verdi prati, con forse dieci cani dintorno che li guardavano, le pedate dei quali in su la polvere naturalissime si discernevano. De’ pastori, alcuni mungevano, alcuni tondavano lane, altri sonavano sampogne, e tali vi erano che pareva che cantando si ingegnasseno di accordarsi col suono di quelle. Ma quel che piú intentamente mi piacque di mirare erano certe ninfe ignude, le quali dietro un tronco di castagno stavano quasi mezze nascose, ridendo di un montone che per intendere a rodere una ghirlanda di quercia che dinanzi agli occhi gli pendea, non si ricordava di pascere le erbe che dintorno gli stavano. In questo venivano quattro satiri con le corna in testa e i piedi caprini, per una macchia di lentischi pian piano, per prenderle dopo le spalle; di che elle avedendosi, si mettevano in fuga per lo folto bosco, non schivando né pruni né cosa che gli potesse nocere. De le quali una, piú che le altre presta, era poggiata sovra un càrpino, e quindi con un ramo lungo in mano si difendea; le altre si erano per paura gittate dentro un fiume, e per quello fuggivano notando, e le chiare onde poco o niente gli nascondevano de le bianche carni. Ma poi che si vedevano campate dal pericolo, stavano assise da l’altra riva affannate e anelanti, asciugandosi i bagnati capelli; e quindi con gesti e con parole pareva che increpare volessono coloro che giungere non le avevano potuto. E in un de’ lati vi era Apollo biondissimo, il quale appoggiato a un bastone di selvatica oliva guardava gli armenti di Admeto a la riva di un fiume; e per attentamente mirare duo forti tori che con le corna si urtavano, non si advedea del sagace Mercurio, che in abito pastorale, con una pelle di capra appiccata sotto al sinestro umero, gli furava le vacche. E in quel medesmo spazio stava Batto, palesatore del furto, transformato in sasso, tenendo il dito disteso in gesto di dimostrante. E poco più basso si vedeva pur Mercurio, che sedendo a una gran pietra, con gonfiate guance sonava una sampogna, e con gli occhi torti mirava una bianca vitella che vicina gli stava, e con ogni astuzia si ingegnava di ingannare lo occhiuto Argo.

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Brigitte Burrichter Da l’altra parte giaceva appiè di un altissimo cerro un pastore adormentato in mezzo de le sue capre, e un cane gli stava odorando la tasca che sotto la testa tenea; il quale, però che la luna con lieto occhio il mirava, stimai che Endimione fusse. Appresso di costui era Paris, che con la falce avea cominciato a scrivere «Enone» a la corteccia di un olmo, e per giudicare le ignude dee che dinanzi gli stavano, non la avea potuto ancora del tutto fornire. Ma quel ch’è non men sottile a pensare che dilettevole a vedere, era lo accorgimento del discreto pintore, il quale avendo fatta Giunone e Minerva di tanto extrema bellezza che ad avanzarle sarebbe stato impossibile, e diffidandosi di fare Venere sí bella come bisognava, la dipinse volta di spalle, scusando il difetto con la astuzia. E molte altre cose leggiadre e bellissime a riguardare, de le quali io ora mal mi ricordo, vi vidi per diversi luoghi dipinte. (S. 75-78) Nachdem sich jeder aus Verehrung für diese [Pales] ebenfalls erhoben hatte, sobald die Sonne im Osten erschien und die lieblichen Vögel auf den grünen Zweigen sangen und so das nahende Licht anzeigten, begann ein jeder, seinen Stall mit den grünsten Zweigen von Eichen und Erdbeerbäumen zu schmücken, und hängte über die Türe eine lange Girlande aus Zweigen und Blüten von Ginster und anderen Pflanzen; und ging dann mit dem Rauch von reinem Schwefel andächtig um seine satten Herden und reinigte sie mit frommen Gebeten, damit kein Übel ihnen schaden und Böses zufügen könne. Aus diesem Grund hörte man jede Hütte von verschiedenen Instrumenten widerhallen; jede Straße, jedes Dorf, jede Straßenkreuzung war mit grünen Myrten bestreut; auch alle Tiere genossen wegen des Festes die ersehnte Erholung. Die Pflugscharen, die Rechen, die Hacken, die Pflüge und die Joche waren ebenfalls mit Girlanden aus frischen Blumen geschmückt und zeigten so die angenehme Muße. Es gab keinen Pflüger, der an diesem Tag daran dachte, irgendeine Arbeit oder Verrichtung zu machen, sondern alle sangen fröhlich mit angenehmen Spielen rund um die girlandengeschmückten Ochsen an den vollen Futterkrippen Liebeslieder. Etwas weiter sah man die müßigen Jungen nacheinander mit den einfachen Mädchen in der Umgebung kindliche Spiele machen, als Zeichen der allgemeinen Freude. Aber damit wir die Gelübde, die wir in vergangenen Notfällen über den rauchenden Altären getan hatten, andächtig einlösen könnten, gingen wir alle zusammen zum heiligen Tempel. Als wir zu diesem über nicht viele Stufen hinabgestiegen waren, sahen wir auf dem Tor einige Wälder und wunderschöne Hügel voller belaubter Bäume und tausend verschiedener Arten von Blumen

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Arkadien als literarisches Heterotop gemalt; dazwischen sah man viele Herden, die weidend auf den grünen Wiesen herumzogen und umherschweiften, mit etwa zehn Hunden, die sie hüteten und deren Pfotenabdrücke im Boden auf die natürlichste Art zu sehen waren. Von den Hirten molken einige, andrere spannen Wolle, wieder andere spielten Dudelsack und einige schienen zu singen und sich zu bemühen, sich der Melodie [der Dudelsäcke] anzupassen. Aber was ich am allerliebsten anschaute, waren einige nackte Nymphen, die halbversteckt hinter einem Kastanienstamm standen und über einen Schafbock lachten, der versuchte, an einer Eichengirlande zu nagen, die vor seinen Augen hing, und darüber ganz vergaß, das Gras zu fressen, das um ihn herum wuchs. Währenddessen kamen vier Satyrn mit Hörnern auf den Köpfen und Bocksfüßen durch die Mastixmacchia angeschlichen, um sie über die Schultern zu nehmen; als [die Nymphen] dies bemerkten, ergriffen sie die Flucht durch den dichten Wald und wichen weder den Dornen noch anderen Dingen aus, die ihnen schaden konnten. Eine von ihnen, die schneller als die anderen war, hatte sich auf eine Hagebuche gestützt und verteidigte sich dann mit einem langen Ast in der Hand; die anderen hatten sich aus Angst in einen Fluss gestürzt und flohen schwimmend, und die klaren Wellen verbargen wenig oder gar nichts von ihrem weißen Fleisch. Aber als sie sich dann aus der Gefahr gerettet fanden, saßen sie atemlos und keuchend am anderen Ufer und trockneten sich die nassen Haare; und von dort schienen sie mit Gesten und Worten diejenigen bedrohen zu wollen, die sie nicht hatten erreichen können. An einer der Seiten war der blondeste Apollo, der, auf einen Stab aus wilder Olive gestützt, die Herden des Admeto am Ufer eines Flusses bewachte; und weil er aufmerksam zwei starke Stiere beobachtete, die sich mit den Hörnern stießen, bemerkte er nicht den scharfsinnigen Merkur, in Hirtengewand und mit einer Ziegenhaut, die an der linken Schulter befestigt war, der ihm die Kühe stahl. Am gleichen Platz stand Battus, der den Diebstahl verriet, in Stein verwandelt, und streckte den Finger in einer zeigenden Geste. Und etwas weiter unten sah man Merkur selber, der an einen großen Stein [gelehnt] saß und mit aufgeblasenen Wangen Dudelsack spielte und mit neidischen Augen ein weißes Kalb betrachtete, das neben ihm stand, und der sich mit allem Scharfsinn mühte, den vieläugigen Argus zu überlisten. Auf der anderen Seite lag am Fuße einer sehr hohen Zerreiche ein Hirte, der inmitten seiner Ziegen eingeschlafen war, und ein Hund schnupperte an der Tasche, die unter seinem Kopf lag; weil der Mond ihn mit lieblichem Auge anschaute, nahm ich an, dass es sich um Endymion handelte. Neben ihm stand Pa-

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Brigitte Burrichter ris, der mit der Sichel angefangen hatte, »Oenone« in die Rinde einer Ulme zu schreiben und der, weil er ein Urteil über die nackten Göttinnen abgeben sollte, die vor ihm standen, ihn noch nicht ganz zu Ende geschrieben hatte. Aber was nicht weniger spitzfindig zu denken als angenehm anzuschauen war, war der Kunstgriff des vortrefflichen Malers, der Juno und Minerva in so außerordentlicher Schönheit darstellte, dass es unmöglich gewesen wäre, sie zu übertreffen, und da er zweifelte, Venus so schön malen zu können, wie es nötig wäre, malte er sie von hinten und glich so sein Unvermögen durch einen Kunstgriff aus. Und ich sah noch viele andere heitere und überaus schön anzuschauende Dinge, an die ich mich heute nicht mehr genau erinnere, die an verschiedenen Stellen gemalt waren.

Acadia 4 – Prosastück Die verliebte Schäferin Piacque maravigliosamente a ciascuno il cantare di Galicio, ma per diverse maniere. Alcuni lodarono la giovenil voce piena di armonia inextimabile; altri il modo suavissimo e dolce […]. Ma io, che non men desideroso di sapere chi questa Amaranta si fusse che di ascoltare l’amorosa canzone era vago, le orecchie alle parole de lo inamorato pastore e gli occhi ai volti de le belle giovenette teneva intentissimamente fermati, stimando per li movimenti di colei che dal suo amante cantare si udiva, poterla senza dubitazione alcuna comprendere. E con accorto sguardo or questa or quella riguardando, ne vidi una che tra le belle bellissima giudicai […] (S. 85) Et ella, delicatissima e di gentile e rilevata statura, andava per li belli prati con la bianca mano cogliendo i teneri fiori. De’ quali avendo già il grembo ripieno, non piú tosto ebbe dal cantante giovene udito »Amaranta« nominare che, abandonando le mani e ‘l’seno, e quasi essendo a se medesma uscita di mente, senza advedersene ella tutti gli caddero, seminando la terra di forse venti varietà di colori. Di che poi, quasi ripresa, accorgendosi, divenne non altrimente vermiglia nel viso che suole talvolta il rubicondo aspetto de la incantata luna, o vero ne lo uscire del sole la purpurea aurora mostrarsi a’ riguardanti. […] (S. 86) Da la qual cosa io, che intento e sollicitissimo vi mirava, presi quasi per fermo argumento colei dovere essere la pastorella di cui sotto confuso nome cantare udiva. (S. 87) Jedem gefiel der Gesang Galicios außerordentlich, aber aus unterschiedlichen Gründen. Einige lobten die jugendliche Stimme voller unglaublicher Harmonie;

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Arkadien als literarisches Heterotop andere die zarte und süße Art […] Ich aber, der ich nicht weniger neugierig zu erfahren war, wer diese Amaranta wohl sei, als ich begierig war, das Liebeslied zu hören, hielt meine Ohren sehr aufmerksam den Worten des verliebten Schäfers und die Augen den schönen jungen Mädchen zugewandt, weil ich annahm, dass ich an den [Gemüts]Bewegungen derjenigen, die ihren Geliebten über sich singen hörte, dies zweifelsfrei erkennen würde. Und als ich mit aufmerksamem Blick mal diese, mal jene betrachtete, sah ich eine, die ich für die Schönste der Schönen hielt. [Es folgt eine ausführliche Beschreibung.] Und sie, von feiner und anmutiger und großer Statur, ging über die schönen Wiesen und pflückte mit der weißen Hand die zarten Blumen. Sie hatte davon schon den Schoß voll, doch kaum hatte sie den singenden jungen Mann »Amaranta« nennen hören, als diese, da sie die Hand und den Rocksaum losließ und sich fast selbst vergaß, ohne dass sie es merkte, alle herausfielen, die Erde mit ungefähr zwanzig Farben bedeckend. Dann, als sie sich wieder gesammelt hatte und dies bemerkte, wurde sie so rot im Gesicht, wie sich der rote Schein des verzauberten Mondes oder beim Sonnenaufgang die Morgenröte den Betrachtern zeigt. […] Dies nahm ich, der ich sie aufmerksam und genau betrachtete, als nahezu sicheres Argument dafür, dass sie die Schäferin sein müsse, von der man unter verdecktem Namen singen hörte.

Acadia 4 – Prosastück Elpino beschreibt den Becher, den er als Preis des Sängerwettstreits aussetzt Oltra di ciò un nappo nuovo di faggio, con due orecchie bellissime del medesmo legno, il quale, da ingegnoso artefice lavorato, tiene nel suo mezzo dipinto il rubicondo Priapo che strettissimamente abraccia una ninfa, e a mal grado di lei la vuoi basciare; onde quella, di ira accesa, torcendo il volto indietro, con tutte sue forze intende a svilupparsi da lui, e con la manca mano gli squarcia il naso, con l’altra gli pela la folta barba. E sonovi intorno a costoro tre fanciulli ignudi e pieni di vivacità mirabile, de’ quali l’uno con tutto il suo podere si sforza di torre a Priapo la falce di mano aprendoli puerilmente a uno a uno le rustiche dite; l’altro, con rabbiosi denti mordendoli la irsuta gamba, fa segnale al compagno che gli porga aita; il quale, intento a fare una sua picciola gabbia di paglia e di giunchi, forse per rinchiudervi i cantanti grilli, non si move dal suo lavoro per agiutarli. Di che il libidinoso idio poco curandosi, piú si restringe seco la bella ninfa, disposto totalmente di menare a fine il suo proponimento. Et è

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Brigitte Burrichter questo mio vaso di fuori circondato d’ognintorno d’una ghirlanda di verde pimpinella, ligata con un brieve che contene queste parole: Da tal radice nasce chi del mio mal si pasce. (S. 90) Außerdem einen neuen Becher aus Buchenholz mit zwei wunderschönen Henkeln aus demselben Holz, in dessen Mitte, von einem genialen Handwerker gearbeitet, der rotfarbene Priapos gemalt war, der eine Nymphe eng umschlungen hält und sie gegen ihren Willen küssen will; woraufhin diese, wutentbrannt und das Gesicht nach hinten gedreht, mit all ihrer Kraft versucht, sich ihm zu entwinden und ihm mit der linken Hand die Nase zerkratzt, mit der anderen den dichten Bart ausreißt. Und um sie herum sind dort drei nackte Jungen von wunderbarer Lebhaftigkeit, von denen einer mit aller Kraft versucht, Priapos die Sichel aus der Hand zu nehmen, indem er ihm mit seiner kindlichen Kraft einen groben Finger nach dem anderen öffnet; der andere beißt ihm mit wütenden Zähnen ins haarige Bein und gibt seinem Begleiter ein Zeichen, ihm zu helfen; der ist gerade damit beschäftigt, einen kleinen Käfig aus Stroh und Ginster zu machen, vielleicht um darin zirpende Grillen einzuschließen, und rührt sich nicht von seiner Arbeit, um ihm zu helfen. Der wollüstige Gott, den das wenig kümmert, zieht die schöne Nymphe noch enger an sich heran, völlig entschlossen, sein Vorhaben zu Ende zu führen. Und dieser mein Becher ist außenherum ganz und gar von einer Girlande aus grünem Pimpernell umwunden, die mit einer Note verschlungen ist, die folgende Worte enthält: Aus solcher Wurzel entsteht der sich an meinem Leid weidet.

Arcadia 11 – Prosastück Die Vase E subito ordinò i premî a coloro che lottare volessono, offrendo di dare al vincitore un bel vaso di legno di acero, ove per mano del padoano Mantegna, artefice sovra tutti gli altri accorto e ingegnosissimo, eran dipinte molte cose; ma tra l’altre una ninfa ignuda con tutti i membri bellissimi, dai piedi in fuori, che erano come quegli de le capre. La quale, sovra un gonfiato otre sedendo, lattava un picciolo satirello, e con tanta tenerezza il mirava che parea che di amore e di carità tutta si struggesse; e ’l fanciullo ne l’una mammella poppava, ne l’altra te-

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Arkadien als literarisches Heterotop nea distesa la tenera mano, e con l’occhio la si guardava, quasi temendo che tolta non gli fusse. […] (S. 200f.)36 Und gleich bestimmte er die Preise für diejenigen, die am Wettstreit teilnehmen wollten, und er bot an, dem Sieger eine schöne Vase aus Ahornholz zu geben, auf dem viele Dinge von der Hand Mantegnas, dem über allen anderen klugen und äußerst ingeniösen Künstler, gemalt waren; unter anderem eine Nymphe, deren Glieder alle überaus schöne waren, ausgenommen die Füße, die wie die der Ziegen waren. Sie stillte, auf einem aufgeblasenen Schlauch sitzend, ein kleines Satyrchen und betrachtete es mit so viel Zärtlichkeit, dass es schien, als ob sie vor lauter Liebe und Mitleid dahinschmelze; und das Knäblein saugte an der einen Brust und hatte auf die andere die zarte Hand gelegt und er schaute sie so an, als fürchte er, dass sie ihm weggenommen würde. [Die Beschreibung wird fortgesetzt.]

Arcadia 7 - Prosastück Venuto Opico a la fine del suo cantare, non senza gran diletto da tutta la brigata ascoltato, Carino piacevolmente a me voltatosi, mi domandò chi e donde io era, e per qual cagione in Arcadia dimorava. Al quale io, dopo un gran sospiro, quasi da necessità constretto, cosí rispusi: — Non posso, grazioso pastore, senza noia grandissima ricordarmi de’ passati tempi; li quali, avegna che per me poco lieti dir si possano, nientedimeno avendoli a racontare ora che in maggiore molestia mi trovo, mi saranno accrescimento di pena e quasi uno inacerbire di dolore a la mal saldata piaga, che naturalmente rifugge di farsi spesso toccare; ma perché lo sfogare con parole ai miseri suole a le volte essere alleviamenti di peso, il dirò pure. Napoli, sí come ciascuno di voi molte volte può avere udito, è ne la piú fruttifera e dilettevole parte di Italia […] (S. 117) Vegno a me adunque, il quale, in quegli extremi anni che la recolenda memoria del vittorioso re Alfonso di Aragona passò da le cose mortali a piú tranquilli secoli, sotto infelice prodigio di comete, di terremoto, di pestilenzia, di sanguinose battaglie nato, e in povertà, o vero, secondo i savi, in modesta fortuna nudrito, sí come la mia stella e i fati volsono, appena avea otto anni forniti che le forze di amore a sentire incominciai, e de la vaghezza di una picciola fanciulla, ma bella e leggiadra piú che altra che vedere mi paresse giamai, e da 36 Die Vorlage für diese Vase ist vermutlich in einer Zeichnung Mantegnas zu sehen, die heute im Louvre liegt, vgl. KURZ, 1959.

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Brigitte Burrichter alto sangue discesa, inamorato, con piú diligenzia che ai puerili anni non si conviene questo mio desiderio teneva occolto. Per la qual cosa colei, senza punto di ciò advedersi, fanciullescamente meco giocando, di giorno in giorno, di ora in ora piú con le sue excessive bellezze le mie tenere medolle accendeva; intanto che, con gli anni crescendo lo amore, in piú adulta età e a li caldi desii piú inclinata pervenimmo. Né per tutto ciò la solita conversazione cessando, anzi quella ognor piú domesticamente ristringendosi, mi era di maggiore noia cagione. (S. 119) Per la qual cosa io né di amarla mi sapea distraere, né dimorare in sí misera vita mi giovava. Dunque per ultimo rimedio di piú non stare in vita deliberai; e pensando meco del modo, varie e strane condizioni di morte andai examinando; e veramente o con laccio, o con veleno, o vero con la tagliente spada avrei finiti li miei tristi giorni, se la dolente anima, da non so che viltà sovrapresa, non fusse divenuta timida di quel che piú desiderava. Talché, rivolto il fiero proponimento in piú regulato consiglio, presi per partito di abandonare Napoli e le paterne case, credendo forse di lasciare amore e i pensieri inseme con quelle. Ma, lasso, che molto altrimente ch’io non advisava mi advenne; però che se allora, veggendo e parlando sovente a colei che io tanto amo, mi riputava infelice sol pensando che la cagione del mio penare a lei non era nota, ora mi posso giustamente sovra ogni altro chiamare infelicissimo, trovandomi per tanta distanza di paese absente da lei, e forse senza speranza di rivederla giamai, né di udirne novella che per me salutifera sia. Maximamente ricordandomi in questa fervida adolescenzia de’ piaceri de la deliciosa patria tra queste solitudini di Arcadia, ove, con vostra pace il dirò, non che i gioveni ne le nobili città nudriti, ma appena mi si lascia credere che le selvatiche bestie vi possano con diletto dimorare. E se a me non fusse altra tribulazione che la anxietà de la mente, la quale me continuamente tene suspeso a diverse cose, per lo fervente desio ch’io ho di rivederla, non potendolami né notte né giorno quale stia fatta riformare ne la memoria, si sarebbe ella grandissima. […] (S. 120-121) Ma che piè mi prolungo io in racontar quello che a ciascuno può essere manifesto? Io non mi sento giamai da alcun di Voi nominare »Sannazaro« (quantunque cognome a’ miei predecessori onorevole stato sia) che, ricordandomi da lei essere stato per adietro chiamato »Sincero« e, non mi sia cagione di sospirare. (S. 123)

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Arkadien als literarisches Heterotop Als Opico ans Ende seines Gesangs gekommen war, den die ganze Gruppe nicht ohne großes Vergnügen angehört hatte, wandte sich Carino freundlich mir zu und fragte mich, wer ich sei und wo ich herkomme und warum ich mich in Arkadien aufhalte. Darauf antwortete ich nach einem tiefen Seufzer, weil mich die Notwendigkeit zwang, so:  Ich kann, anmutiger Hirte, mich nicht ohne größten Schmerz an die vergangenen Zeiten erinnern, die man für mich nur als wenig glücklich bezeichnen kann, trotzdem werden sie, da ich sie jetzt erzählen muss, wo ich mich in noch größerer Qual befinde, eine Steigerung meines Leids und wie das Wiederaufreißen einer schlecht verheilten Wunde sein, die es natürlich vermeiden will, oft berührt zu werden; aber da es den Leidenden manchmal Erleichterung bringt, [über den Schmerz] zu sprechen, werde ich doch reden. Neapel liegt, wie jeder von euch oft gehört haben kann, im fruchtbarsten und angenehmsten Teil Italiens […]. [Es folgt die mythische und zeitgenössische Geschichte Neapels.] Mir geschah es also, der ich in jenen letzten Jahren, als das verehrungswürdige Andenken des siegreichen Königs Alfons von Aragon von den irdischen Dingen in ruhigere Zeiten überging, unter den unglücklichen Zeichen von Kometen, Erdbeben, Pest und blutigen Schlachten geboren wurde und in Armut oder besser, nach dem Urteil der Weisen, mit kleinem Vermögen erzogen wurde, so wie mein Stern und das Schicksal es wollten, dass ich, kaum acht Jahre alt, die Macht der Liebe zu fühlen begann und dass ich mich durch die Anmut eines kleinen Mädchens, das mir gleichwohl schöner und lieblicher als alle anderen anzuschauen schien und das von hoher Abstammung war, verliebte, [aber] ich hielt dieses mein Verlangen mit mehr Sorgfalt, als es dem kindlichen Alter entspricht, verborgen. Deshalb spielte diese, ohne auch nur das Geringste davon zu bemerken, kindlich mit mir und entzündete von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde mehr mit ihrer außerordentlichen Schönheit mein zartes Inneres; so kamen wir, während die Liebe mit den Jahren wuchs, in ein reiferes Alter und waren dem heißen Verlangen mehr zugeneigt. Aber da wir deshalb den gewohnten Umgang nicht änderten, sondern dieser immer vertrauter wurde, war mir dies Grund für größeres Ungemach. […] Ich konnte mich […] nicht davon lösen, sie zu lieben, noch gefiel es mir, so elend zu leben. Schließlich beschloss ich, als letzte Möglichkeit, nicht mehr am Leben zu bleiben; und als ich über das Wie nachdachte, wog ich verschiedene und ausgefallene Todesarten ab; und ich hätte meinen tristen Tagen tatsächlich mit dem Strang oder mit Gift oder mit dem scharfen Schwert ein Ende gesetzt, wenn nicht die leidende Seele, ich weiß nicht, von welcher Laschheit überwäl-

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Brigitte Burrichter tigt, Angst vor dem bekommen hätte, was sie am meisten wollte. Deshalb entschloss ich mich, nachdem der stolze Entschluss einem vernünftigeren Nachdenken Platz gemacht hatte, Neapel und das väterliche Haus zu verlassen, vielleicht in der Hoffnung, die Liebe und das Grübeln zusammen mit diesen zurückzulassen. Aber ach, es kam ganz anders, als ich gedacht hatte; denn wenn ich mich damals, als ich die, die ich so liebe, oft sah und sprach, unglücklich schätzte, wenn ich nur daran dachte, dass sie den Grund meines Leidens nicht kannte, so kann ich mich heute mit Recht unglücklicher als alle anderen nennen, da ich so weit von ihr entfernt bin und vielleicht ohne die Hoffnung, sie jemals wiederzusehen noch von ihr Neuigkeiten zu hören, die für mich heilsam wären. Dies ganz besonders, wenn ich mich in dieser ungestümen Jugend an die Vergnügungen der süßen Vaterstadt [hier] an diesen einsamen Orten Arkadiens erinnere, an denen sich – mit Verlaub gesagt – nicht nur die Jugend, die in den Städten erzogen wurde, nicht wohl fühlt, sondern wo man sich kaum vorstellen kann, dass sich dort die wilden Tiere gerne aufhalten. Und wenn es für mich keine andere Qual gäbe als meine Angst, die mich beständig von verschiedenen Dingen fernhält [und die ich] wegen des brennenden Wunsches habe, sie wiederzusehen, weil ich sie mir weder in der Nacht noch am Tag so, wie sie [wirklich] ist, ins Gedächtnis rufen kann, so wäre diese [Qual] die höchste. [Er beschreibt, wie er sie überall in Arkadien sieht.] Aber warum soll ich länger erzählen, was jeder deutlich sehen kann? Ich höre mich niemals von einem von euch »Sannazaro« nennen (obwohl dieser Name meinen Vorfahren ehrenvoll war), ohne dass mir das ein Grund zum Seufzen wäre, weil ich mich daran erinnere, dass sie mich immer »Sincero« genannt hat.

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Arkadien als literarisches Heterotop

Literatur BUTTLAR, ADRIAN VON, Der Landschaftsgarten, Köln 1989. DE CERTEAU, MICHEL, L’invention du quotidien I: Arts de faire [1980], Paris 1990. FOUCAULT, MICHEL, Von anderen Räumen [orig.: 1984], übers. von Michael Bischoff, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne/Stephan Günzel, Frankfurt am Main 2006, S. 317-329. GRABER, KLAUS, Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur, München 2009. KURZ, OTTO, Sannazaro and Mantegna, in: Studi in onore di Riccardo Filangieri, Bd. 2, Neapel 1959, S. 277-283. LENZ, BARBARA, »Un«-Affigierung – unrealisierbare Argumente, unausweichliche Fragen, nicht unplausible Antworten, Tübingen 1995. MAISAK, PETRA, Arkadien. Genese und Typologie einer idyllischen Wunschwelt, Frankfurt a. M./Bern 1981. NELLE, FLORIAN, Künstliche Paradiese. Vom Barocktheater zum Filmpalast, Würzburg 2005. NELTING, DAVID, Frühneuzeitliche Pluralisierung im Spiegel italienischer Bukolik, Tübingen 2007. SANNAZARO, IACOPO, Arcadia, hg. von Francesco Espamer, Mailand 1990. TASSO, TORQUATO, Aminta, Italienisch/Deutsch, übers. und hg. von János Riesz, Stuttgart 1995. WEHLE, WINFRIED, Arkadien – eine Kunstwelt, in: Pluralität der Welten – Aspekte der Renaissance, hg. von Wolf-Dieter Stempel/Karlheinz Stierle, München 1987, S. 137-166. DERS., Wunschland Arkadien. Das Glück der Schäfer in der Literatur des Cinquecento, in: Das 16. Jahrhundert – europäische Renaissance, hg. von Hildegard Küster, Regensburg 1995, S. 99-113. DERS., Diaphora. Barock: eine Reflexionsfigur von Renaissance-Wandlungen Arkadiens bei Sannazaro, Tasso und Marino, in: Diskurse des Barock. Dezentrierte oder rezentrierte Welt?, hg. von Joachim Küpper/Friedrich Wolfzettel München 2000, S. 95-143.

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Ausweitung der Zwischenzone Phantastische Raumkomposition bei Kubin und Kafka

MARCO LEHMANN

Auf der Schwelle: zur Dimension des Atopischen in der phantastischen Literatur Indem sie die Alltagswelt ins Befremdliche entstellt und Passagen in alternative Wirklichkeiten öffnet, konstituiert die literarische Phantastik bereits an sich selbst, als literarischer Traditionszusammenhang, einen veritablen Unort. Oft genug tragen die Texte der atopischen Qualität, die sie grundsätzlich kennzeichnet, in ihren konkreten narrativen Raumentwürfen Rechnung: Sie setzen imaginäre Topographien in Szene oder arbeiten, vor allem im 20. Jahrhundert, mit Brüchen und Paradoxierungen der konventionellen Raumsemantik. Im Folgenden soll eine kompositorische Figur in den Blick kommen, die in besonderem Maße veranschaulichen kann, wie eine in diesem Sinne phantastische Topologie zugleich als Medium literarischer Selbst- und Schriftreflexion dient. Es geht um eine Tendenz zur Ausdehnung des Schwellenbereichs, die sich in Alfred Kubins Roman Die andere Seite, aber auch in zahlreichen Texten Kafkas beobachten lässt. Wie man leicht sieht, unterhält die phantastische Literatur generell eine besondere Affinität zum Chronotopos der Passage. Für die einschlägigen Romane und Erzählungen ist in der Regel gerade charakteristisch, dass sie eine Welt der Alltäglichkeit mit Phänomenen kollidieren lassen, die den kulturell dominanten Erfahrungs- und Erklärungsrastern wider-

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Marco Lehmann

sprechen.1 Weil die gegensätzlichen Sphären im Text miteinander in Kontakt treten müssen, herrscht Bedarf an Einbruchsstellen und Stätten des Übergangs2 – Tapeten- und Falltüren erfreuen sich dabei traditionell großer Beliebtheit. Es überrascht nicht, dass die Modellierung räumlicher Schwellen häufig mit Anspielungen auf das rituelle Muster der Initiation verknüpft wird. Insbesondere zeigt sich die phantastische Literatur immer wieder von Störungen und Komplikationen des Übergangs fasziniert3 – für eine emblematische Ausgestaltung sei hier nur Hoffmanns Märchen Der goldene Topf angeführt, das seinen Protagonisten Anselmus schon im ersten Satz unterhalb eines Torbogens zu Fall kommen lässt.4 Kubin und Kafka schließen jeweils an das Szenario der irritierten, verzögerten Passage an, um es auf eigentümliche Weise ins Extrem zu treiben: Die Zwischenbereiche in ihren Texten weiten sich derart aus, dass alle Versuche der Durchquerung scheitern müssen. Der Unort der Schwelle, der eigentlich nur die Fuge zwischen zwei selbständigen Raumzonen darstellt, emanzipiert sich gewissermaßen; er rückt nicht allein zu einem Handlungs1

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Ohne mich hier näher auf die in mancherlei Hinsicht problematische Theoriegeschichte zum Begriff der Phantastik einzulassen, zitiere ich nur die ›klassische‹ Bestimmung von Roger Caillois. Dieser setzt die phantastische Literatur vom Märchen ab, das die Alltagswelt unberührt lasse: »Das Phantastische dagegen offenbart ein Ärgernis, einen Riß, einen befremdenden Einbruch in die wirkliche Welt« (CAILLOIS, 1974, S. 45). Zur Bedeutung von Transgressionsbewegungen für die phantastische Literatur vgl. allgemein SIMONIS, 2005, hier besonders S. 48-58. Hans Richard Brittnacher hat mit Blick auf Hoffmanns Sandmann, Puschkins Pique Dame und Maupassants Die Totenhand den Versuch unternommen, die ›gescheiterte Initiation‹ als eine Grundfigur der phantastischen Literatur zu beschreiben, ohne dabei allerdings die Raumstruktur der Texte in den Blick zu nehmen (BRITTNACHER, 2006). So angebracht der Hinweis auf die Bedeutung gerade gestörter Initiationen für die literarische Phantastik ist, so problematisch erscheint mir doch Brittnachers Ansatz, diese auf eine »dezidiert anthropologische Poetik« (S. 15) festschreiben zu wollen. Im Folgenden soll demgegenüber argumentiert werden, dass die Irritation des rituellen Musters gerade im Dienst literarischer Selbstreflexion steht, also eine Differenz gegenüber anthropologisch fassbaren Vorgaben markiert. Vgl. HOFFMANN, 1993, S. 229: »Am Himmelfahrtstage, Nachmittags um drei Uhr rannte ein junger Mensch in Dresden durchs schwarze Tor und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes häßliches Weib feil bot, so, daß alles, was der Quetschung glücklich entgangen, hinausgeschleudert wurde, und die Straßenjungen sich lustig in die Beute teilten, die ihnen der hastige Herr zugeworfen.« Das »schwarze Tor« ist hier gleichzeitig reale Örtlichkeit im historischen Dresden und quasi-allegorischer Topos einer Passage, die sich prompt als störanfällig entpuppt.

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schauplatz eigenen Rechts auf, sondern faltet in einer paradoxen Bewegung das Dies- und das Jenseits, das er ebenso trennt wie verbindet, in sich ein. Indem sie die Lizenzen der literarischen Phantastik nutzen, um der logisch ›unmöglichen‹ Konstruktion einer absoluten Schwelle zur räumlichen Konkretion zu verhelfen, kreieren Kubins und Kafkas Texte in einer starken Bedeutung des Worts eine Atopie; an dieser, so wird zu zeigen sein, spiegelt sich nicht zuletzt der Eigensinn der ästhetischen Gestaltung gegenüber dem Formular des Übergangsritus, das die diskutierten Romane als Spielmaterial heranziehen. Es ergeben sich damit vornehmlich drei Facetten des Unort-Begriffs, die für die Analyse von Kubins und Kafkas Texten nützlich sein können: 1. der Unort als bloßer Schwellen- und Durchgangsraum im Gegensatz zu den Orten als Stätten, die die Zwecke, um deren willen sie aufgesucht werden, an sich selbst haben; 2. der Unort als Utopie im weiten Sinne des Begriffs, als imaginäre Topographie, die an die Alltagswelt der Rezipienten anschließt, sie jedoch verfremdet; 3. der Unort als paradoxe Topologie, die darauf berechnet ist, eine durchschnittliche Raum-Zeit-Erfahrung zu frappieren. Es ist wichtig zu sehen, dass sich diese drei Aspekte in den hier diskutierten literarischen Raumentwürfen auf komplexe Weise überlagern und durchdringen. Ich möchte die poetologischen Implikationen, die der Ausweitung der Zwischenzone innewohnen, im folgenden in erster Linie an Kubins Anderer Seite aufzeigen, zweifellos einem Markstein der phantastischen Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhundert. Sodann werde ich mich vor allem dem Proceß zuwenden und erproben, welche Perspektiven auf Kafkas noch ungleich häufiger interpretierten Roman sich aus der Beobachtung ergeben, dass dieser unter raumsemiotischen Gesichtspunkten markante Korrespondenzen zu Kubins Text aufweist.

Die Möblierung des Traumreichs: Zur intertextuellen Konstruktion eines Unorts Alfred Kubins Roman Die andere Seite (1909) modelliert in einem elementaren Sinne einen Unort, einen Ort nämlich, der allein der literarischen Imagination entspringt und den man – einer relativ genauen geographischen Situierung zum Trotz – auf handelsüblichen Landkarten ebenso vergeblich suchen würde wie bei etwaigen Lokalterminen. Im Mittelpunkt des Textes steht das ›Traum-

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reich‹, ein phantastisches Imperium, das ein gewisser Claus Patera, nachdem er zu unermesslichem Reichtum gelangt ist, in den unzugänglichsten Zonen des asiatischen Hochgebirges errichtet hat. Der namenlose Held und Erzähler, von Beruf Zeichner wie sein Erfinder Kubin, folgt einer Einladung seines Schulfreundes Patera und verbringt einige Jahre in diesem sonderbaren sozialen Gebilde. Zu nicht geringen Teilen gibt sich Kubins Roman als ein quasi ethnographischer Bericht, der über die Bemühungen des Erzählers unterrichtet, die Bewohner des Traumreichs, ihre Lebensweise und Religion zu erforschen. Insbesondere spürt der Protagonist dem magnetischen Einfluss nach, den Patera auf ihn wie auf die anderen ›Träumer‹ auszuüben scheint. Wie er feststellen muss, erweist es sich jedoch als ausgesprochen schwierig, eine Begegnung mit seinem ehemaligen Schulkameraden herbeizuführen; Versuche der Kontaktaufnahme gehen ins Leere und verfangen sich etwa in der eigenwilligen Bürokratie des Traumreichs. Der Roman endet im Untergang des künstlichen Imperiums, der in apokalyptischen Szenarien ausgestaltet wird. Als einer von wenigen Überlebenden kehrt der Erzähler in die Normalwelt zurück, um sich dort zunächst in eine Heilanstalt zu begeben. Bevor wir das Traumreich in seiner Qualität als Schwellenzone genauer untersuchen, wird es zunächst darum gehen darzulegen, wie Kubin diesen imaginären Topos aus diskursiven und biographischen Materialien montiert hat. Dabei soll sichtbar werden, dass der phantastische Raumentwurf des Romans gerade auch dazu dient, die verschiedenen Text- und Bildrepertoires, die angezogen werden, zu integrieren. Zudem wird sich zeigen, dass die Andere Seite ihr bricolage-haftes Verfahren fortlaufend poetisch bespiegelt und ausstellt. Intertextualität und ästhetische Selbstreferenz erweisen sich als entscheidende Signaturen von Kubins Roman. Darauf zu beharren erscheint wichtig angesichts einer Forschungstradition, die lange Zeit vor allem die psychoanalytische Deutbarkeit der Vorgänge in Pateras Reich betont hat.5 Vom Selbstmordversuch, den er – wie nach dem Vorbild von Brentanos bravem Kasperl – ausgerechnet am Grab seiner Mutter unternahm, bis zur ausdrücklichen Widmung des Romans an den verstorbenen Vater hat Kubin freilich auch nur weniges unterlassen, was die Lektüre auf die Spur eines ödipalen Konflikts in seinem Text setzen konnte. Insbesondere der Name Patera, der sich von dem griechisch/lateinischen pater ableiten lässt, musste den Verdacht nähren, die Herrschaft über das Traumreich werde im Zeichen des Vaters ausgeübt – ich komme auf die Signifikanz dieses Namens im Folgenden zurück. Problema5

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Vgl. etwa SACHS, 1912; MÜLLER-THALHEIM, 1970; KRAFT, 1990.

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tisch sind die Anstrengungen, den imaginativen Reichtum des Traumreichs und seiner Hauptstadt Perle auf die dürren Koordinaten eines ödipalen Dreiecks herunterzubrechen, denn auch nicht deshalb, weil der Text für sie keine Angriffspunkte böte. Allerdings müssen sie sich darüber hinwegsetzen, dass sie im Roman bereits vorhergesehen und ironisch unterlaufen werden. Denn dieser stellt es maliziös den »Werke[n] unserer so geistvollen Seelenforscher«6 anheim, über seine phantastische Erzählkonstruktion Aufschluss zu geben. Vor allem unterschlagen die psychoanalytischen Deutungen, in welchem Ausmaß die Andere Seite als hochgradig bewusstes, selbstreflexives Spiel mit literarischen und ikonographischen Vorlagen gelesen sein will. Poetische Selbstbezüglichkeit prägt sich im Text nicht zuletzt als fortlaufende parodistische Selbstdistanzierung aus, die noch den pathosverdächtigeren Partien des Romans ein Moment der Brechung einfügt und so wesentlich zu dessen anhaltender ästhetischer Wirkmacht beiträgt.7 Verschaffen wir uns also einen Überblick über die heterogenen Bestandteile, aus denen die literarische Institution des Traumreichs aufgebaut ist. Zunächst gilt es, sich vor Augen zu führen, dass Kubin in seinem Roman diverse Anspielungen auf die eigene Lebensgeschichte lanciert. Dieser trägt unverkennbar Züge einer ins Phantastische verschobenen Autobiographie. Schon die Illustration, die den Helden und Erzähler vorstellt, mutet wie ein Selbstporträt des Autors an.8 Beschränken wir uns hier auf den Hinweis, dass in die Topographie des Traumreichs Bezüge auf zwei zentrale Lebensstationen Kubins eingesenkt sind, auf München und Salzburg nämlich. Am Beginn des Romans trifft der Abgesandte Pateras den namenlosen Zeichner in der bayrischen Landeshauptstadt an; auf seine skeptische Nachfrage, wie es um die klimatischen Bedingungen im Traumreich bestellt sei, wird dem Erzähler versichert, dessen Kapitale Perle liege »auf dem gleichen Breitegrad [sic] wie München«.9 In Perle selbst wiederum wird der Zeichner, als er das ortsansässige Theater besucht, von einer merkwürdigen Empfindung überrascht: »Auf einmal überkam

6 7

8 9

KUBIN, 1973, S. 7. Dies bleibt auch auf derjenigen Linie der Forschung unberücksichtigt, die Kubins Roman als »fiktional umgesetzte[] Weltanschauung« (STOTTMEISTER, 1999, S. 101) zu lesen versucht. Vgl. LACHINGER, 1999, S. 122. KUBIN, 1973, S. 21.

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es mich, als wäre dieser geschwärzte Saal das alte, längst abgerissene Stadttheater in Salzburg.«10 Die beiden Städtenamen werden indes nicht allein als biographische Markierungen in die Textur des Traumreichs eingewoben; sie verweisen außerdem metonymisch auf Bayern und Österreich-Ungarn als politisch-kulturelle Einheiten. Versprengte Elemente namentlich aus Geschichte und Lebenswelt der Doppelmonarchie begegnen in der Beschreibung von Pateras künstlicher Schöpfung auf Schritt und Tritt: In wichtigen Aspekten gibt sich das Traumreich als ein imaginativ verformtes Kakanien zu erkennen. Gleich in dem ersten Zimmer, das der Erzähler mit seiner Frau in Perle bezieht, findet er zu seiner Verwunderung zwei in dieser Hinsicht aussagekräftige Porträts vor: »Über dem Ledersofa hing ein großes Bild Maximilians, des Kaisers von Mexiko, über den Betten hing Benedek, der Unglückliche von Königgrätz.«11 Mit der doppelten Erinnerung einerseits an die entscheidende Niederlage Österreichs im Krieg von 1866 und andererseits an den in Mexiko hingerichteten jüngeren Bruder Franz-Josephs, in dem viele Zeitgenossen den besseren Thronfolger gesehen haben sollen,12 stiftet der Roman nicht nur eine deutliche Verbindung zwischen Pateras Imperium und dem Habsburgerreich, sondern stellt diese auch von vornherein unter das Signum des Niedergangs. Als wichtigste Reminiszenz an die Kultur Österreich-Ungarns findet sich inmitten der imaginären Topographie Perles ein wohlbekanntes Lokal: ein Caféhaus. Die Geschichte Bayerns und der Wittelsbacher Dynastie wiederum wird aufgerufen, wenn der Erzähler im Untergangswirbel des Traumreichs einmal kurz den Leichnam Ludwigs II., des ›Märchenkönigs‹, auszumachen glaubt.13 Bedeutsamer noch als die biographischen und die historisch-lebensweltlichen Bezüge ist für Kubins Roman ein dritter Referenzhorizont. Er wird durch die zahlreichen literarischen und ikonographischen Anspielungen begründet, die in die Komposition des Traumreichs Eingang finden. Es seien hier zunächst nur einige der Züge angeführt, die belegen, dass dieses sich dem Rezipienten als eine Welt aus Zitaten präsentiert; später sollen noch weitere der von Kubin aufgegriffenen Folien sichtbar werden. Augenfällig ist etwa, dass die Schilderung Perles beinahe den gesamten topischen Bestand der lite10 KUBIN, 1973, S. 93. Lachinger geht so weit, in der narrativen und graphischen Darstellung Perles überhaupt das Weichbild Salzburgs wiedererkennen zu wollen; vgl. LACHINGER, 1999, S. 125-128. 11 KUBIN, 1973, S. 47. 12 Vgl. LUTZ, 1998, S. 421. 13 Vgl. KUBIN, 1973, S. 222f.

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rarischen Décadence mobilisiert.14 Die Bewohner der Traumstadt mit ihrer »übertrieben feine[n] Empfindlichkeit« und ihren vielfältigen, aus »Neurasthenie«15 hervorgegangenen Spleens stellen offenkundig vollendete Fin-de-siècleTypen dar; auch die Verbindung von Kunst und Verbrechen, die Kubins Roman hartnäckig umkreist, trägt einen entsprechenden literarhistorischen Index. Wenn der Roman, wie erwähnt, einmal kurz Ludwig II. ins Bild setzt, erweist er nicht einem beliebigen bayrischen Monarchen, sondern einer Ikone der Dekadenzästhetik seine Reverenz, die etwa schon von Verlaine poetisch verklärt wurde.16 Unter wichtigen Aspekten offenbart sich Pateras phantastische Schöpfung als ein heruntergekommenes und im Verfall begriffenes paradis artificiel; die Anmerkung des Erzählers, dass die Jahreszeiten im Traumreich »gegensatzlos«17 ineinander verschwimmen, gibt hier einen dezenten Fingerzeig.18 Bei all dem behandelt Kubins Roman die überkommenen Motive mit unverkennbarer Distanz; er nimmt sie als intertextuelles Spielmaterial in Anspruch, das er notorisch ins Groteske verzeichnet und bereits in Richtung auf ein expressionistisches Bildvokabular vorantreibt.19 Der Leser der Anderen Seite wird nicht allein durch die im Text breit aufgefächerte Topik der Décadence auf den Untergang Perles eingestimmt; viel14 Andreas Geyer spricht mit Blick auf Pateras Schöpfung treffend von einem »Reich der Décadence« (GEYER, 1995, S. 100). 15 KUBIN, 1973, S. 52. 16 Vgl. dessen Gedicht À Louis II de Bavière, das den bayrischen Monarchen als »le seul vrai roi de ce siècle«, als »poète« und »soldat« feiert (VERLAINE, 1994, S. 388). 17 KUBIN, 1973, S. 50. 18 Als Beispiel für den Topos der Jahreszeitenlosigkeit des paradis artificiel vgl. etwa Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme aus Stefan Georges Algabal-Zyklus: »Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme/Der garten den ich mir selber erbaut/Und seiner vögel leblose schwärme/Haben noch nie einen frühling geschaut.« Auch das für Kubins Traumreich wichtige Motiv der »ewige[n] Dämmerung« (KUBIN, 1973, S. 208), auf das ich unten noch näher eingehen werde, findet sich in Georges Gedicht ausgeprägt: »Ein grauer schein aus verborgener höhle/Verrät nicht wann morgen wann abend naht« (GEORGE, 2000, S. 47). 19 Wie sehr Kubins Roman einer expressionistischen Ästhetik vorarbeitet, verdeutlicht etwa folgende Beschreibung Perles, die an Gemälde Kirchners oder auch an einschlägige Stummfilmkulissen erinnert: »Die Häuser ragten schief und winklig in die Straßen« (KUBIN, 1973, S. 89). Auch Patera selbst, könnte man sagen, hält die Mitte zwischen dem ästhetizistischen Künstler-Imperator à la Algabal und den hypnotischen Bösewichtern des expressionistischen Films wie Caligari oder Mabuse. Für weitere Hinweise zu proto-expressionistischen Zügen in der Anderen Seite vgl. BOGNER, 2006, S. 62f.

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mehr bedient sich der Roman zusätzlich noch eines apokalyptischen Formulars. Entsprechende mythologisch-ikonographische Resonanzen sind besonders im Endkampf zwischen Patera und dem ihm erstandenen ›Widersacher‹ Hercules Bell vernehmlich;20 er wird deutlich als ein letztes Gefecht im Sinne der Johannes-Offenbarung ausgestaltet, ohne dass der Roman freilich die einsinnige Rollenaufteilung, die damit vorgegeben ist, ungebrochen für sich übernähme. Bis hinein in auf den ersten Blick unscheinbare Details wartet Kubins Text mit zum Teil subtilen Anklängen an die neutestamentarische Apokalypse auf. So lautet die schriftliche Nachricht, mit der Patera den Erzähler zu sich ins Traumreich einlädt: »Wenn du willst, so komme!«21 Man muss in dieser Formulierung ein Echo auf das mehrfache »Komm!« mithören, das am Ende der Offenbarung ertönt (Off 22, 16-20). Auch im Blick auf die apokalyptischen Referenzen in der Anderen Seite ist es wichtig, nicht die parodistische Farbe zu verkennen, die sich für den Umgang des Romans mit seinen Vorlagen immer wieder als charakteristisch erweist. Eine der eindrucksvollsten Passagen des Texts potenziert dessen oneirisches Motiv und schildert einen Traum des Erzählers aus seiner Zeit in Perle. In dieser zentralen Sequenz – einem Stück Surrealismus avant la lettre – sieht sich der Protagonist dem unheimlichen Müller gegenüber, den die Stadtbewohner nicht zu Unrecht im Verdacht des Brudermords haben: »Hinten am Fluß saß der Müller – mir wurde unbehaglich –, er studierte ein gewaltiges Zeitungsblatt. Nachdem er es gelesen und gefressen hatte, dampfte Rauch aus seinen Ohren«.22 In der Offenbarung des Johannes ist es bekanntlich noch ein Buch, das im Wortsinne verschlungen wird (vgl. Off 10, 9f.). Dass dieses ehrwürdige Medium im Traum des Erzählers zu einem zwar immerhin noch »gewaltigen«, aber dennoch profanen »Zeitungsblatt« mutiert, taucht die apokalyptische Anspielung in ein hochironisches Licht. Um einen Eindruck von der Dichte der intertextuellen Verweise in der Anderen Seite zu vermitteln, möchte ich hier schließlich noch zwei spezifischere literarische Bezüge vorstellen, die, soweit ich sehe, in der Kubin-Forschung bisher nicht thematisiert wurden. Unter die Einwohnerschaft von Perle zählt auch ein gewisser Professor Korntheur, ein Zoologe, der einer obskuren Leidenschaft für »Staubläuse«23 nachhängt. Als er dem Helden in schwärmeri20 Zu den teils offenen Verweisen auf die Johannes-Offenbarung in den Schlussabschnitten des Romans vgl. GERHARDS, 1999, S. 58. 21 KUBIN, 1973, S. 14. 22 Ebd., S. 150. 23 Ebd., S. 102.

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schen Wendungen von einer gewissen »Acarina Felicitas« erzählt, kommt dieser nicht umhin, dem alten Herrn einen »Johannistrieb« zu unterstellen, lässt ihn dieser Name doch an eine »Sängerin aus dem Variété«24 denken. Tatsächlich verbirgt sich hinter ihm aber eine seltene Staublausart, von der Korntheur stets ein Exemplar in einer kleinen Schachtel bei sich trägt. Die Konstellation gemahnt stark an E.T.A. Hoffmanns weniger bekannte Erzählung Haimatochare, in der zwei Naturforscher auf einer Südsee-Expedition zu tödlichen Rivalen werden. Beider Begierde entzündet sich an der »lieblichsten Insulanerin«,25 eben der titelgebenden Haimatochare. Erst ganz am Ende erfährt der Leser, dass es sich bei dieser Schönen keineswegs um ein menschliches Wesen, sondern um ein »Läuslein«26 handelt. Nicht weniger skurril als Korntheur erscheint der in Perle ansässige Friseur. Er ist viel zu sehr mit philosophischen Spekulationen beschäftigt, um seiner angestammten Beschäftigung nachzugehen, die ihm vielmehr von einem dressierten Affen abgenommen wird. Das gelehrige Tier hört auf den Namen Giovanni Battista, der auch einem Renaissancekünstler gut anstünde. Es liegt nahe, bei dem Assistenten des Friseurs an einen anderen literarischen Affen zu denken, der ebenfalls mit einem Rasiermesser hantiert, jedoch über einen im Vergleich weit weniger »ruhige[n]« und »sichere[n] Strich«27 verfügt: den anonymen Orang-Utan aus Edgar Allan Poes Detektiverzählung The Murders in the Rue Morgue. Der von Dupin als Täter überführte Menschenaffe tötet sein erstes Opfer, dem seiner Gattung unterstellten Nachahmungstrieb gehorchend, »in imitation of the motions of a barber«.28 Für den aufmerksamen Leser geht vor diesem Hintergrund von Giovannis Rasiermesser eine Aura des Bedrohlichen aus. Kubins Text vermeidet es, die so erzeugte Erwartungshaltung direkt einzulösen; er spielt jedoch erkennbar mit ihr, indem er das angedeutete Gefährdungspotential auf andere Konfigurationen verschiebt. Schon ganz am Anfang des Romans versucht der Erzähler, nicht ein Rasier-, sondern ein »Radiermesser«29 unauffällig zur Seite zu bringen, weil er fürchtet, in dem

24 Ebd., S. 160. 25 HOFFMANN, 1983, S. 13. 26 Ebd., S. 19. Noch der Umstand, dass Korntheur die Box, in der er das Insekt hält, mit »Silberpapier« (KUBIN, 1973, S. 160) beklebt hat, erinnert an Hoffmanns Erzählung. In dieser schlägt der Wissenschaftler Davis die Schachtel, die er für die Haimatochare herrichtet, mit »Goldpapier« (HOFFMANN, 1983, S. 21) aus. 27 KUBIN, 1973, S. 68. 28 POE, 1965, S. 190. 29 KUBIN, 1973, S. 11.

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Boten Pateras einen Wahnsinnigen vor sich zu haben. Und im allgemeinen Untergang schneidet sich der erwähnte Müller mit einem »Rasiermesser«30 schließlich selbst die Kehle durch. Poes berühmte Detektivgeschichte setzt in Szene, wie eine streng analytische Rationalität letztlich die Oberhand über animalische Gewalt behält. Dem Restoptimismus dieses Erzählmodells entzieht die Andere Seite konsequent den Boden: Zwar bleibt Giovanni, auch nachdem er seine menschlichen Verhaltensweisen abgelegt hat, harmlos; dafür aber unterliegt das Traumreich einem umfassenden Ansturm der revoltierenden Tierwelt, dem sich keinerlei Vernunftanstrengungen mehr entgegenstellen. Vor allem wecken die ›bestialischen‹ Gewaltexzesse, denen sich die Bewohner von Perle im langen Finale des Romans hingeben, Zweifel an der konventionellen Selbsterhebung des Menschen über das Tier. Die Errungenschaften des Zivilisationsprozesses zeigen sich in Kubins Text als mindestens ebenso reversibel wie die Dressurerfolge, die der Friseur des Traumreichs bei seinem Affen erzielt.31 Auf genau kalkulierte Weise verdichtet der Roman in der Figur des tierischen Barbiers den Spott, dem er das idealisierte Selbstbild des homo sapiens aussetzt: Das Konzept einer dem Menschen eigentümlichen, ihn vom Tier abscheidenden Würde, wie es sich in der italienischen Renaissance ausprägt, ist eng mit den Namen Giovanni Pico della Mirandola und Leon Battista Alberti verknüpft. Die collage-artige Beschaffenheit des Traumreichs, die wir uns ansatzweise vor Augen geführt haben, wird im Roman selbst allegorisierend hervorgekehrt. Als deutlicher Hinweis darauf, dass Kubin den imaginativen Topos aus vorgefundenen Versatzstücken montiert, dürfen etwa in Pateras Imperium nur Gegenstände eingeführt werden, die bereits Spuren ihres Gebrauchs tragen; neuwertige Waren müssen außen vor bleiben. Auch baut Patera die Traumstadt aus Häusern auf, die in der Alten Welt abgerissen und vor Ort neu zusammengefügt werden. Die Schilderung dieser Vorgehensweise ist auf ihre poetologische Implikation hin durchsichtig: »Zwei Monate nach seiner [Pateras] Ankunft kamen bereits die ersten Häuser aus Europa, alle von beträchtlichem Alter und verwohnt. Geistvoll in einzelne Stücke zerlegt, wurden sie sogleich zusammengesetzt und auf die bereits vorher errichteten Fundamente ge-

30 Ebd., S. 215. 31 Sowohl für Poe als auch für Kubin muss in Rechnung gestellt werden, dass das Instrument des Rasiermessers gerade dazu bestimmt ist, die Grenze zwischen Natur und Zivilisation, Tier und Mensch zu befestigen, indem es Reste animalischer Behaarung bei letzterem entfernt.

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stellt.«32 Ähnlich ›geistvoll‹ geht Kubins Roman mit seinen Prätexten um – das Prädikat, das Pateras Baukunst verliehen wird, ruft eine Zentralkategorie manieristischer Ästhetik ab: diejenige des Ingeniösen.33 Die phantastische Deformation wiederum, der er seine Vorlagen unterwirft, reflektiert Kubins Text im Bild einer anamorphotischen Verstreckung. Auf diese – erneut genuin manieristische – Figur spielt das sonderbare optische Phänomen an, das den Traumstädtern in der Endphase von Pateras Schöpfung Schwierigkeiten bereitet: »Später verschoben sich für ihre Augen alle natürlichen Proportionen, kleine Häuschen hielten sie für vielstöckige Türme, die falschen Perspektiven täuschten sie […].«34 In der zeichenhaften Umschreibung der eigenen intertextuellen Verfahren bestätigt sich der ironisch-selbstdistanzierte Grundgestus von Kubins Roman, der offensiv thematisiert, dass es sich bei ihm um eine Inszenierung, eine artifizielle Veranstaltung handelt. In diese Richtung deutet auch die den Text durchziehende Motivik des Theatralen, die im Weiteren noch genauer analysiert werden soll. Kubins Roman scheut sich nicht, die Ausstellung seiner Künstlichkeit ins komische Extrem zu treiben. Einmal trifft der Erzähler vor seiner Wohnung einige junge Männer an, die mit Klappern und Trommeln einen erheblichen Lärm verursachen. Auf seine Frage, was sie damit bezweckten, erhält der Protagonist die ihn merklich konsternierende Antwort: »Wir machen Nebengeräusche«.35 Die buntscheckige, aus verschiedenartigen Materialien zusammengesetzte Komplexion des Romans schlägt direkt auf die in ihm entworfene Topologie durch. Sie begründet ganz wesentlich deren phantastische Kontur. Man kann sich dies an einem kühnen und zugleich witzigen Bruch der Raumsemantik vor Augen führen, der in einer der Schlüsselsequenzen der Anderen Seite ausgespielt wird. Die berühmte Episode schildert, wie der Erzähler die labyrinthisch wuchernden Kellergänge einer Molkerei erkundet, in der es angeblich spukt. Kurz bevor er die Orientierung verliert, zeigt sich ihm tatsächlich eine gespenstische Erscheinung, ein grässlich abgemagertes weißes Pferd, das wie aus dem Nichts kommend an ihm vorbeigaloppiert:

32 KUBIN, 1973, S. 17. 33 Ähnlich bedeutsam wird von Pateras Palast festgehalten, in ihm seien, als stelle er schon einen frühen Fall postmoderner Architektur dar, »mindestens zwanzig Stilarten mühelos zusammengekleistert« (ebd., S. 74). 34 Ebd., S. 248. 35 Ebd., S. 103.

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Marco Lehmann »Den knochigen Schädel weit vorgestreckt, die Ohren rückwärts angelegt, so jagte dieses Tier an mir vorüber. Sein trübes, glanzloses Auge traf mich – es war blind. […] Der rasende Galopp dieses lebendigen Skeletts kannte kein Einhalten. Ich tastete mich weiter, während das Dröhnen verhallte, gequält von dem Anblick dieser schrecklichen Knochen. Bald erblickte ich in der Ferne eine rettende Gasflamme. Nur verschwommen konnte ich sie sehen, denn ein Nervenschock packte mich. […] Als der Anfall vorüber war, schleppte ich mich dem Licht entgegen. – Eine Stiege tauchte auf – noch ein Licht –. Dann hörte ich Menschen und betrat einen bekannten Raum. – Ich befand mich im Kaffeehause.«36

Die eindrucksvolle Sequenz verdeutlicht, dass der Stadtplan von Perle als eine Topographie der Verweisungen angelegt ist. Die Forschung hat in dem Schreckensbild, dessen der Protagonist im Souterrain der Molkerei ansichtig wird, zu Recht das fahle Pferd der Apokalypse erkannt.37 Auch hier ist die mythologische Referenz genau auf die übergreifende Motivordnung des Romans abgestimmt. Denn in der Offenbarung des Johannes kündigt das Erscheinen des fahlen Pferdes einen massenhaften Tod an, der »durch die wilden Tiere der Erde« (Off 6, 8) zustande kommt – eben dieses Szenario erfüllt sich im Untergang des Traumreichs, so dass das unheimliche Erlebnis des Erzählers sich als Vorbedeutung bewährt. Aus der Bildwelt der Apokalypse nun gelangt Kubins Held unvermittelt ausgerechnet in ein Caféhaus. Das ikonographische Zitat wird mit einem spezifisch kakanischen Element schlicht dadurch kurzgeschlossen, dass beide in ein gemeinsames räumliches Kontinuum projiziert werden: Der Roman organisiert das Zusammenspiel seiner Bezüge über eine phantastische Topologie. Der fugenlose Übergang zwischen dem apokalyptischen Schrecken, der im Untergrund von Perle rumort, und der Behaglichkeit der Kaffeestube erzeugt einen komischen Kontrast; zugleich lässt sich das Raumarrangement als eine – schillernde und mehrdeutige, wenn auch kaum optimistische – Diagnose lesen, die der mentalen Verfassung des Habsburgerreichs (oder doch derjenigen seiner Bohème) gestellt wird. Generell ist zu bedenken, ob nicht Weltuntergang und Caféhaus im Diskursraum der Wiener

36 Ebd., S. 97f. 37 Vgl. LACHINGER, 1999, S. 130.

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Moderne ähnlich dicht beieinander liegen wie im unterirdischen Wegenetz von Perle.38 Kubins Kunstgriff einer den Maßgaben der Alltagswelt nach ›unmöglichen‹ Raumkomposition, die zwischen (auf den ersten Blick) weit voneinander entfernten semantischen Sphären eine Verbindung einrichtet, hat in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts fraglos Schule gemacht und findet namentlich bei Kafka verschiedene Entsprechungen. Man denke nur an jene Episode, in der Josef K. – um schon einmal kurz auf den Proceß vorzublenden – feststellen muss, dass das Atelier des Malers Titorelli über einen zunächst verborgenen zweiten Ausgang verfügt, den man ausgerechnet über das Bett des Künstlers erreicht und der unmittelbar auf die Korridore des Gerichts führt. Ein mögliches Vorbild für solche Zusammenrückungen des raumsemiotisch Disparaten in der romantischen Literatur bietet Hoffmanns Don Juan: Dessen Erzähler entdeckt in einem schlichten Wirtshauszimmer eine Tapetentür, die sich zu einer Opernloge und damit zur Welt der Kunst öffnet.

38 Für diese Annahme lässt sich etwa Karl Kraus’ Essay Untergang der Welt durch schwarze Magie ins Feld führen, erschienen zuerst 1912, also drei Jahre nach der Anderen Seite (KRAUS, 1989). Kraus’ satirischer Furor entzündet sich hier an Zeitungsartikeln, die nicht etwa – wie die feierlichen Formulierungen nahe legen könnten – »Grillparzer« oder »Schnitzler« (S. 424) verherrlichen, sondern das »Lob der Cafétiers« (S. 426) singen. Kraus beharrt auf dem symptomatischen Wert dieser »Kaffesieder-Annonce[n]« (S. 425), die keinesfalls ein beliebiges Beispiel für die Willfährigkeit der Presse darstellen sollen. Offenkundig hat er eine unheilige Allianz zwischen Journalismus und Caféhaus im Blick: Letzteres ist der natürliche Ort der Zeitungslektüre; im Gegenzug stilisieren die Zeitungen, die selbst die Poesie von ihrem Platz verdrängen, Caféhausbesitzer auf Kosten der Dichter zu Kulturheroen. Kraus zögert nicht, diese Verschränkung als apokalyptisch zu qualifizieren, unterstützt sie doch die ›schwarze Magie‹ der Druckerpresse, die unmittelbar für den Tod der Einbildungskraft verantwortlich sein soll: »Die Zeitung ruiniert alle Vorstellungskraft« (S. 427). Bei all dem gilt selbstverständlich: »Nirgendwo auf der Welt erlebt sich das Ende so anschaulich wie in Österreich« (S. 427). Die Wahlverwandtschaft zwischen Kubins Roman und Kraus’ Essay sticht besonders hervor, wenn man sich die oben bereits diskutierte Traumsequenz in Erinnerung ruft, die das Buch der Offenbarung ausgerechnet gegen ein »gewaltiges Zeitungsblatt« austauscht und so die raumsemiotisch figurierte Nähe von Caféhaus und Apokalypse indirekt noch unterstreicht.

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Blockierte Selbstinitiation: Das Traumreich als Schwellenzone Kubins Roman streut eine Reihe von Indizien aus, die geeignet sind, das Traumreich als Schwellenraum kenntlich zu machen. Entsprechend nimmt der Aufenthalt des Erzählers den Charakter einer wie immer auch problematischen, fehlgehenden Initiation an.39 Welche Art von Passage wird im Text figuriert und wie verhält sie sich zu der selbstreflexiven Bewegung, die der Roman anstrengt? Betrachten wir zunächst einige der Züge genauer, die Pateras Schöpfung als liminalen Bereich ausweisen. Signifikant in dieser Beziehung ist etwa, dass über dem Traumreich »ewige Dämmerung«40 liegt, ein Zustand, der sich schließlich soweit verschärft, dass es unmöglich wird, »die Nacht vom Tage zu unterscheiden«.41 Bereits in einer elementaren zeitlichen Dimension also wird Pateras Imperium auf eine Phase des Übergangs festgelegt, die sich in ihm quasi absolut setzt. Der Roman unterstellt es der paradoxen Figur eines Zwischen, das nicht mehr Funktion des von ihm Getrennten ist, sondern dieses in sich aufsaugt. Die Schwellenqualität des Traumreichs tritt auch daran zutage, dass es sich durchgehend als ein Raum der Verwandlungen präsentiert. Patera selbst verfügt offenkundig über die Gabe, verschiedene Gestalten anzunehmen; wenn sich seine Gesichtszüge in einer Szene »chamäleonartig – ununterbrochen – tausend – nein hunderttausendfach«42 verändern, scheint er das Prinzip der Metamorphose geradezu zu verkörpern. Darüber hinaus nähert der Text die Vorgänge im Traumland wiederholt den Maskenspielen des Theaters und des Karnevals an. Ich habe schon erwähnt, dass der Zeichner in Perle das Salzburger Stadttheater wieder zu finden glaubt; bei dieser Gelegenheit erläutert ihm ein anderer Besucher, warum die Traumstädter eigentlich keine fleißigen Schauspielgänger sind: »Was brauchen wir in Perle ein Theater? Wir haben

39 Dass die Erlebnisse des Erzählers Züge einer Initiation tragen, ist in der Forschung nicht unbemerkt geblieben; vgl. SCHUMACHER, 1983, hier besonders S. 20f.; KRAFT, 1989. Ihre Grenze scheinen mir diese Beiträge daran zu haben, dass sie Kubins Roman eher als Instantiierung eines ethnologisch oder tiefenpsychologisch greifbaren Schemas behandeln denn als hochgradig selbstbewusst-ironischen literarischen Text. 40 KUBIN, 1973, S. 208. 41 Ebd., S. 212. 42 Ebd., S. 120.

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selbst Theater genug!«43 Die altmodische Aufmachung der Bewohner von Perle wiederum erinnert den Erzähler an einen »Maskenscherz«,44 während die letzten Zuckungen von Pateras Schöpfung als »Saturnalien«45 in den Blick kommen und so mit einer Urform des Karnevals in Verbindung gebracht werden. Der Annahme des Protagonisten, Patera habe etwas Besseres zu tun »als Fastnachtsscherze auszuführen«,46 wird man unter diesen Umständen mit großer Skepsis begegnen. Erneut bezieht sich der Roman sehr bewusst auf ein mächtiges Archiv von Texten und Bildern zurück; er schließt an eine Tradition karnevalistisch-grotesker Gestaltung an, mit der Kubin, wie er Seite für Seite zu erkennen gibt, intim vertraut ist. So hat er den Ereignisraum des Traumlands ganz auf das groteske Konzept eines offenen, metamorphotischen Körpers47 verpflichtet, der jederzeit über seine eigenen Grenzen hinauszuwachsen vermag. In kondensierter Form führt dies etwa der oben schon angesprochene Traum des Erzählers vor: Mit der bedrohlichen Erscheinung des Müllers konfrontiert, bemerkt der Zeichner zu seiner Verblüffung, wie sich sein linkes Bein plötzlich »in die Länge«48 zieht, so dass er mühelos auf das andere Ufer des Rio Negro hinübertreten und sich in Sicherheit bringen kann. Die groteske Flexibilität des Körpers wird also sogleich in den Dienst einer exemplarischen Passage – einer Flussüberquerung – gestellt; der enge Zusammenhang zwischen der Schwellenthematik des Romans und seinem karnevalesken Formular bestätigt sich noch im Detail. Die übrigen Gestalten des Traums bieten sich nachgerade als Illustrationen zu Bachtins – freilich aus ganz anderen Texten gewonnener – Beobachtung an, der »unfertige und geöffnete Körper« des Grotesken sei »von Welt, Tieren und Dingen durchsetzt«.49 So begegnet dem Erzähler ein »alter Kerl«, auf dessen »abnorm großem Oberkörper« sich »zwei lange senkrechte Reihen von Brustwarzen«50 zeigen; der Körper des Müllers hingegen wird nach Verzehr des Zeitungsblatts plötzlich transparent und gibt ein erstaunliches Innenleben preis: »[M]an sah deutlich in seinen Eingeweiden zwei kleine Eisenbahnzüge herumsausen«.51 Ähnlich genau folgt der End-

43 44 45 46 47 48 49 50 51

Ebd., S. 94. Ebd., S. 57. Ebd., S. 236. Ebd., S. 92. Zum grotesken Körperbild vgl. BACHTIN, 1995, S. 345-412. KUBIN, 1973, S. 149. BACHTIN, 1995, S. 77. KUBIN, 1973, S. 149f. Ebd., S. 150.

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kampf zwischen Patera und Bell den Grundlinien grotesker Komposition. Der Schwellencharakter des Traumreichs manifestiert sich hier im Aufschwellen der Körper: Diese bezeugen ihre metamorphotische Potenz, indem sie sich »ins Grenzenlose«52 ausdehnen und, in einer topischen Bewegung, »kosmische Ausmaße«53 annehmen, bevor sie schließlich miteinander verschmelzen. Wie genau Kubin dieses Szenario an den Vorgaben der grotesken Tradition ausrichtet, wird sichtbar, wenn der ins Riesenhafte vergrößerte Patera einige Bergbewohner in seinem Urin tötet: »Bis in die entferntesten Berghütten spritzte er seinen Harn, daß die nichtsahnenden Bewohner, von dem Dampfe verbrüht, umkamen.«54 Sein literargeschichtliches Modell hat dieser scheinbar bizarre Einfall an einer Episode bei Rabelais: In dessen Roman greift der Riese Gargantua zu dem gleichen Mittel wie hier Patera, um die Pariser, von denen er sich belästigt fühlt, in Massen zu ertränken.55 Dass sein Aufenthalt im Traumreich Züge eines Initiationsgeschehens trägt, scheint dem Erzähler selbst dunkel bewusst zu sein, vermutet er doch unter den Bewohnern von Perle »eine Art Freimaurerorden« und erkundigt sich, ob man ihn nicht »ein wenig einweihen«56 könne. Gegen Ende des Romans finden dann ausdrücklich »Mysterien« und »geheimnisvolle Orgien« Erwähnung, denen ein »sehr strenge[s] Aufnahmeexamen«57 vorgeschaltet ist – die Anzüglichkeit der Schilderung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dabei eine ältere Bedeutung des Wortes órgia durchscheinen soll: ›Weihen‹. Schon der Einzug des Erzählers in Pateras Reich wird unmissverständlich mit 52 53 54 55

Ebd., S. 260. BACHTIN, 1995, S. 381. KUBIN, 1973, S. 260. Vgl. RABELAIS, 1974, S. 80 (I, 17): »Und sie verfolgten ihn [Gargantua] auf eine so unverschämte Weise, daß er zuletzt gezwungen war, sich auf den Türmen von Notre-Dame auszuruhen. Als er nun so viele Leute um sich herum sah, sprach er mit lauter Stimme: ›Ich glaube, diese Lümmel wollen, daß ich ihnen etwas zum Willkommen gebe und mein Proficiat entrichte. Wohl, ich werde sie mit Wein traktieren, aber nur par ris.‹ Damit knüpfte er lachend seinen Hosenlatz auf, zog seinen Spritzwurm heraus und bepißte sie so unmäßig, daß ihrer nicht weniger als zweihundertsechzigtausendvierhundertachtzehn, Frauen und Kinder nicht mitgerechnet, ersoffen.« Was Gargantua hier par ris, zum Scherz, unternimmt, muss natürlich als eine groteske Taufe verstanden werden; Rabelais gibt eine parodistische Ätiologie des Stadtnamens ›Paris‹. Swift zitiert diese Szene in leicht abgemilderter Form in Gullivers Travels, und zwar in jener Episode, in der sein Protagonist den Palastbrand in Lilliput löscht (I, 5). 56 KUBIN, 1973, S. 79. 57 Ebd., S. 207.

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den Zeichen eines Übergangsritus versehen; dabei baut der Roman jedoch von vornherein den leisen Hinweis auf eine Komplikation ein. Um ihren rigide von der Außenwelt abgeschotteten Bestimmungsort zu erreichen, müssen der Erzähler und seine Ehefrau nach mehreren Zollkontrollen schließlich ein monumentales Tor und sodann einen langen Tunnel durchqueren. Als Symptom des Übergangs befällt sie dabei eine merkwürdige Schwäche, die ihnen »Todesangst«58 verursacht; die Frau flüstert verzweifelt: »Nie mehr komme ich da heraus.«59 Dem Traumland, das selbst als Schwellenzone charakterisiert wird, ist noch einmal eine Passage vorgelagert; eine Verschachtelung transitorischer Räume deutet sich an, die noch dadurch hervorgehoben wird, dass die Erzählung abbricht, ehe die beiden Figuren die andere Seite des Tunnels erreicht haben. Den Moment ihres Übertritts in das Traumreich spart der Roman narrativ aus; stattdessen wird erst wieder aufgeblendet, nachdem sie den Boden ihrer neuen Heimat betreten haben. Die Ellipse deutet an, dass das Ehepaar in einem übertragenen Sinne den Tunnel – wie es die Worte der Frau vorwegnehmen – tatsächlich nicht mehr verlässt, dass es nämlich in einer Passage stecken bleibt, als deren bloße Verlängerung sich der vermeintliche Zielort Perle herausstellt. Die Struktur einer aufgeschobenen Einweihung und Enthüllung, die sich so abzeichnet, erweist sich erst recht für die weiteren Erlebnisse des Erzählers im Traumland als bestimmend. Sie verleiht insbesondere seiner Beziehung zu dem ehemaligen Schulkameraden Patera das Gepräge, mit dem zusammenzutreffen dem Helden einfach nicht gelingen will. Selbst wenn der Erzähler Pateras endlich doch noch ansichtig wird, hat die lange herbeigewünschte Begegnung keineswegs den von ihm erhofften Charakter einer Offenbarung. Dies räumt der Erzähler selbst bereits am Beginn seiner Schilderung ein, indem er zwar feststellt, die Verhältnisse im Traumreichs hätten sich ihm »Tag für Tag« mehr »entschleiert[]«, jedoch sofort einschränkt: »Gänzlich enthüllt haben sich mir die letzten Zusammenhänge aber niemals«.60 Die vom Erzähler hier aufgebotene Semantik verweist direkt auf den für Kubins Roman zentralen Komplex der Apokalypse – apokalýptein bedeutet ja nichts anderes als ›enthüllen‹ oder ›entschleiern‹. Die Andere Seite führt in die rituelle Figur der Einweihung respektive die mythische Figur der Offenbarung das Moment eines fortgesetzten Aufschubs ein und verwandelt sie eben dadurch in genuin ästhetische Para58 Ebd., S. 42. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 49.

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digmen. Kubins Text macht bereits die Probe auf die berühmte Definition des »ästhetischen Vorgang[s]«, die Jorge Luis Borges gegeben hat und der zufolge sich dieser als das »Bevorstehen einer Offenbarung« kennzeichnen lässt, »zu der es nicht kommt«.61 Wie ich hier bereits am Motiv der ›ewigen Dämmerung‹ zu entwickeln versucht habe, verleiht Kubins Roman dem Traumreich das paradoxe Statut einer autonom gewordenen Schwelle, die ihr Vorher und ihr Nachher in sich einbegreift. Diese Überlegung bestätigt sich erst recht, wenn man auf das weitere Schicksal des Erzählers nach dem Zusammenbruch von Pateras Schöpfung blickt. Zu erwarten wäre, dass der Protagonist sich, nachdem er den Schwellenraum des Traumreichs durchquert hat, verwandelt präsentiert; de facto sucht er eine Heilanstalt auf. Unterlegt man dem Roman als Folie Foucaults Essay über Andere Räume, so kann man den Eindruck gewinnen, der Weg des Protagonisten führe ihn aus einem archaischen in ein modernes Heterotop – aus einem segregativen Raum der Initiation an eine exemplarische Stätte gesellschaftlicher Ausschließung.62 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Kubins Roman auch noch diese nur mehr relative Unterscheidung einkassiert. Denn wie unschwer zu sehen ist, bietet sich bereits das Traumreich als »Narrenhaus«63 beziehungsweise »Tollhausniederlassung«64 dar; »ein großer Teil der Traumleute« »gehörte früher zu den ständigen Gästen der Sanatorien und Heilanstalten«.65 Durch einen kryptischen Witz unterstreicht der Text diesen Aspekt von Pateras Schöpfung noch: Eines der wichtigsten Lokale in Perle ist die unheimliche Mühle; sie gibt zugleich das Sinnbild für die mecha61 BORGES, 2003, S. 10. 62 Vgl. FOUCAULT, 1990, hier besonders S. 40: »In den sogenannten Urgesellschaften gibt es eine Form von Heterotopien, die ich die Krisenheterotopien nennen würde; d. h. es gibt privilegierte oder geheiligte oder verbotene Orte, die Individuen vorbehalten sind, welche sich im Verhältnis zur Gesellschaft und inmitten ihrer menschlichen Umwelt in einem Krisenzustand befinden: die Heranwachsenden, die menstruierenden Frauen, die Frauen im Wochenbett, die Alten usw. […] Aber diese Krisenheterotopien verschwinden heute und sie werden, glaube ich, durch Abweichungsheterotopien abgelöst. In sie steckt man die Individuen, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm.« Foucaults Begriff der Krisenheterotopie berührt sich offensichtlich eng mit Victor Turners Konzept des Schwellenzustands (›Liminalität‹); dieser geht klassischerweise mit räumlicher Seklusion einher. Turner hat ausdrücklich »Lebenskrisen, wie sie die Adoleszenz, die Erlangung des Ältestenstatus und der Tod darstellen«, im Blick (vgl. TURNER, 2005, S. 114). 63 KUBIN, 1973, S. 103. 64 Ebd., S. 176. 65 Ebd., S. 21.

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nistische Qualität des phantastischen Staatswesens ab. Der Zustand der Erstarrung wiederum, in den die Traumstädter verfallen, wenn Patera eine seiner epileptischen Attacken erleidet, firmiert in Perle unter dem Namen ›der Klaps‹. Man muss beides, den Klaps und die Mühle, nur zusammennehmen, um über einen der zentralen Wesenszüge des Traumlands Aufschluss zu gewinnen. Der Erzähler gelangt, mit anderen Worten, nach der Katastrophe Perles von einer Heilanstalt in die nächste. Der Übergang, den er scheinbar vollzieht, entpuppt sich als bloßer Kulissenwechsel. Indem er so gewissermaßen einen Übergang ohne Übergang inszeniert, überführt Kubins Roman die Figur der Passage in ein paradoxes Bewegungsmuster, das Veränderung und Stillstand in eins setzt. Wir haben die Schwellenthematik der Anderen Seite bisher unter einem eher formalen Aspekt analysiert. Der Roman lässt es jedoch nicht an Hinweisen fehlen, die die problematische Initiation des Erzählers auch inhaltlich näher qualifizieren. Schon die Beschreibung, die der Text von der Reise des Protagonisten nach Perle gibt, legt hier eine deutliche Spur. Zwar schildert der Held seine Fahrt unter Einschluss geographischer Details als Expedition ins asiatische Hochgebirge; auch bietet sie ihm einen willkommenen Anlass für Exotismen und rassistisch getönte Ausfälle. Alles in allem kann jedoch kein Zweifel darüber bestehen, dass Kubins Roman das Schreibformular des Reiseberichts gerade ad absurdum zu führen gedenkt. Erörterungen wie die folgende lassen etwaige Erwartungen in dieser Hinsicht lustvoll ins Leere gehen: »Wie orientalische Städte aussehn, setze ich als bekannt voraus. Es ist genau so wie bei uns, nur orientalisch.«66 Am Ende der Reiseschilderung wird dem Leser beinahe im Klartext bedeutet, dass es dem Roman letztlich um eine Bewegung zu tun ist, die zwar in räumlichen Metaphern ihren Ausdruck findet, die selbst jedoch nicht im Raum verläuft. Im Zuge eines Räsonnements über das Wandern formuliert der Erzähler: »Manche gibt es, die schon weit herumgekommen sind und nicht mehr wandern mögen, oder krank im Bette liegen, oder sonst nicht wandern können, die reisen bei sich selbst im Gehirn, in der Einbildung, auch diese kommen oft weit, weit… aber still stehen, nein, das gibt es nicht!«67

Die Vermutung liegt nahe, dass die Expedition ins Traumreich gerade eine solche Erkundung des eigenen Gehirns und der eigenen Phantasie vorstellt, 66 Ebd., S. 35. 67 Ebd., S. 41.

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wie sie der Erzähler hier skizziert. Die Zeichen der Initiation, mit denen der Text den Weg seines Helden umgibt, wären demnach auf eine Selbsteinweihung, auf eine Passage ins Ich zu beziehen; eben deren Möglichkeit scheint der Roman auszuloten und skeptisch zu befragen. Diese Lesart wird durch den Umstand erhärtet, dass die scheiternden Versuche des Erzählers, mit dem Herrn des Traumreichs in Kontakt zu treten, Züge einer verfehlten Selbstbegegnung tragen. Auch hier lanciert der Roman bereits in seinen Anfangskapiteln ein wichtiges Signal: Bei den wiederholten Grenzkontrollen, die der Protagonist, bevor er das Traumland erreicht, durchlaufen muss, weist er sich mit einem Bild Pateras aus, das ihm dessen Abgesandter überbracht hat. Als wäre diese Konstruktion noch nicht signifikant genug, spricht der Erzähler das Porträt seines ehemaligen Schulkameraden mit ostentativem Doppelsinn als »mein Bild«68 an. Unter diesem Vorzeichen erscheint es als hochgradig bedeutsam, dass aus dem Dämmerreich des Traumlands zwar grundsätzlich alle glänzenden Oberflächen verbannt sind, für Spiegel jedoch eine Ausnahme gemacht wird. Letztere sind in der Schilderung von Perle sogar auffallend präsent; sie schwingen sich zu einem Leitmotiv des Romans auf – noch die Zeitung, für die der Protagonist arbeitet, trägt den Namen Der Traumspiegel. Man darf deshalb argwöhnen, dass bei der ›anderen Seite‹, die durch Pateras Schöpfung verkörpert wird, eben an diejenige eines Spiegels zu denken ist. Diese Situierung verlegt das Traumreich nicht allein an einen paradigmatischen Unort, an eine Stätte des Scheins, die sich als Trope literarischer Imagination anbietet. Sie lässt zugleich auch sinnfällig werden, dass der Übertritt ins Traumland eine Expedition ins eigene Ich darstellt – wobei die Bildlogik bereits andeutet, dass dieses just in dem Moment verschwinden könnte, in dem die Spiegelfläche passiert wird. Weil sich sein alter ego Patera immer wieder entzieht, nehmen die Erlebnisse des Erzählers in Perle die Form einer endlos ausgesetzten Selbstinitiation an. Wenn der Roman es doch noch zu einer Konfrontation kommen lässt, greift er wiederum auf das Motiv des Spiegels zurück; er wandelt dieses ab, um zu verstehen zu geben, dass die Begegnung keineswegs so zu deuten ist, als sei der Erzähler seiner selbst schließlich innegeworden. Denn Patera präsentiert sich dem Helden gerade als eine leere Spiegelfläche, die ihm – im doppelten Sinne – nur die eigene Abwesenheit vor Augen rückt: »Seine [Pateras] Augen glichen zwei leeren Spiegeln, welche die Unendlichkeit auffingen.«69 68 Ebd., S. 42. 69 Ebd., S. 199.

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Ich habe eingangs angesprochen, dass Patera durch den Bedeutungshof seines Namens als eine Vaterimago ausgewiesen zu werden scheint. Hartmut Kraft hat diese verbreitete Interpretation durch die scharfsichtige Beobachtung ergänzt, dass ›Patera‹ das lateinische Wort für Vater mit einem Suffix verschmilzt, das üblicherweise die grammatische Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht anzeigt.70 Dem Herrn des Traumreichs wird demnach schon durch seinen Namen jene hermaphroditische Konstitution zugesprochen, von der im berühmten letzten Satz des Romans ausdrücklich die Rede ist: »Der Demiurg ist ein Zwitter.«71 Wie lassen sich diese schwer von der Hand zu weisenden Sinndimensionen in die hier vorgeschlagene Lektüre integrieren, in der ich bisher den Akzent darauf gelegt habe, dass der Schöpfer von Perle als alter ego des Protagonisten verstanden werden kann? Man muss sich zunächst vergegenwärtigen, dass die Signifikanz des Namens Patera durch die vorgestellten Überlegungen keineswegs ausgeschöpft ist. Er birgt zusätzlich noch eine topologische Pointe. Diese tritt vor allem dann zutage, wenn man sich den bisher übergangenen Umstand ins Gedächtnis ruft, dass der Text Patera auch noch mit einem Vornamen ausstattet: dem nur auf den ersten Blick unauffälligen Vornamen Claus. Unter der Hand tragen die beiden Namensbestandteile ein semantisches Spannungsverhältnis aus. ›Claus‹ lässt sich offenkundig mit dem lateinischen Partizip clausus, ›verschlossen‹ in Zusammenhang bringen; dann aber zeichnet sich umso deutlicher ab, dass ›Patera‹ auch von lateinisch patere, ›zugänglich sein‹, ›offenbar sein‹ abgeleitet werden kann. Der Roman hat den Herrn des Traumreichs auf ein Oxymoron getauft: Sein Name charakterisiert ihn als zugänglich und verschlossen zugleich. Die Verhältnisse im Traumreich nehmen den damit bezeichneten Doppelcharakter genau auf. Pateras Schöpfung wird von einer gewaltigen »Umfassungsmauer«72 gegen seine Umwelt abgedichtet, steht aber Auserwählten offen. Patera selbst hat sogar offizielle Audienzzeiten eingerichtet, die seine Nahbarkeit unter Beweis zu stellen scheinen; tatsächlich aber versteht er es, allen Kontaktversuchen auszuweichen. Signifikanterweise kommt noch die vermeintlich zugänglichste aller Instanzen, das je eigene Ich, im Text unter dem Aspekt der Abschließung in den Blick. Um die für den Roman entscheidende Bewegung einer endlos verschobenen Selbsteinweihung zu resümieren und reflexiv zu verdoppeln, muss Kubins

70 Vgl. KRAFT, 1989, S. 66. 71 KUBIN, 1973, S. 276. 72 Ebd., S. 9.

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Erzähler sich bei einer Gelegenheit ausdrücklich um introspektive Erkenntnis bemühen. Dabei stößt er auf »Fremdes in [s]einem Innern«: »Da fand ich zu meinem Schrecken, daß mein Ich aus unzähligen ›Ichs‹ zusammengesetzt war, von denen immer eines hinter dem andern auf der Lauer stand. Jedes folgende erschien mir größer und verschlossener; die letzten entschwanden meinem Begreifen im Schatten.«73

Dass Patera als Doppelgänger des Erzählers aufzufassen ist, bestätigt sich rasch, wenn man sich noch einmal die selbstreflexive Konstruktion der Anderen Seite vor Augen führt. Zwischen dem Herrn des Traumreichs und dem Zeichner muss schon deshalb eine enge semiotische Verbindung bestehen, weil beide Figuren als Autormasken angelegt sind. Für die Gestalt des Erzählers liegt dieser Befund offen zutage, gehen in sie doch, phantastisch verformt, diverse Züge aus Kubins Biographie ein. Kaum weniger deutlich lässt sich in Patera, dem Demiurgen des Traumreichs, die in den Text hineingespiegelte Autorfunktion erkennen. Auf vertrackte Weise bewahrheitet sich demnach, dass Patera als eine Vaterimago zu interpretieren ist. Man muss diese Lesart nur insofern modifizieren, als das in Kubins Fall biographisch verbürgte Konkurrenzverhältnis zum Vater indirekt in diese Figur eingeht, nämlich in charakteristischer Ambivalenz mit einer narzisstischen Identifikation verschmolzen wird: Der Roman entwirft, anders gesagt, in der Gestalt Pateras Autorschaft als alternative, nämlich artistische Vaterschaft. Das Traumreich erscheint in diesem Licht als das Produkt einer Heterogonie, einer anderen Art von Zeugung, die der Text im Zeichen einer hermaphroditischen (Auto-)Erotik imaginiert.74 Dabei geht es dem Roman jedoch offenkundig nicht darum, sich selbst im Bild von Pateras Kosmos als authentische Originalschöpfung zu feiern. Wie wir gesehen haben, reflektiert sich die Andere Seite vielmehr fortlaufend als hochgradig zitative, patchwork-artig zusammengesetzte Textur; sie räumt damit zugleich ein, dass sie sich von einer Mehrzahl von Autoren herschreibt, also gerade nicht auf einen einzigen ›Vater‹ zurückgeht. Wenn der Schöpfer des Traumreichs am Ende des Romans nicht länger als telepathischer Strippenzieher, sondern seinerseits als bloße Marionette respektive »Paterapuppe«75 in73 Ebd., S. 148. 74 Übrigens zählt Victor Turner »Bisexualität« unter die symbolischen Repräsentationen der für den Schwellenzustand kennzeichnenden Ambiguität (TURNER, 2005, S. 95). 75 KUBIN, 1973, S. 274.

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szeniert wird, führt der Text die Idee souveräner Autorschaft sinnfällig als Popanz vor. Kubins Roman handelt von dem Versuch, sich im Medium der Literatur in das eigene Ich zu initiieren. Die Erlebnisse des Erzählers, der als Double und Stellvertreter des Autors agiert, bringen zeichenhaft die Aporien eines solchen Unterfangens zum Austrag. Die transzendentalpoetische Erkundung des Selbst und der Phantasie, die die Andere Seite anstrengt, mündet in die Einsicht, dass sich dort, wo man das eigene Ich vermutet hatte, immer wieder nur fremde Texte und fremde Bilder einstellen. Eben diese Erfahrung spiegelt die Beobachtung des Erzählers, in seinem Innern seien viele verschiedene, für ihn unzugängliche ›Ichs‹ anzutreffen. Auch der Textraum der Anderen Seite setzt sich aus einer Pluralität von ›Ichs‹ zusammen, präsentiert sich der Roman doch seiner zitativen Struktur nach als das Produkt einer kollektiven Autorschaft. Dass sich das Projekt einer Selbsteinweihung in der Anderen Seite in einem fortgesetzten Aufschub verfängt, dass sich die Zwischenzone der Passage endlos weitet, trägt offenkundig der grundlegenden Reflexion auf die intertextuellen Voraussetzungen des eigenen Schreibens Rechnung, die Kubin in seinen Roman eingeflochten hat. Wenn sich in diesem die Schleier der Mysterien lüften, so geben sie den Blick nicht etwa auf das schmeichelhafte Porträt eines imposanten Autor-Ich frei. Vielmehr kommen hinter ihnen nur immer neue Textschleier zum Vorschein. In der phantastischen Topologie des Romans nehmen so nicht zuletzt die Aporien ästhetischer Subjektivität Gestalt an.

Schwellentheater: Kubin und Kafka Ich möchte abschließend noch einige der durchaus überraschenden Verbindungen nachzeichnen, die sich zwischen Kubins und Kafkas literarischen Raumentwürfen ergeben. Die Forschung der letzten Jahre hat sich, mit dem idolatrischen Konzept des ›großen Einzelnen‹ brechend, verstärkt um die für Kafkas Schreiben zentralen Traditions- und Kontextbezüge bemüht: Im folgenden soll – am Beispiel Kubins – ergänzend immerhin angedeutet werden, inwiefern auch die Phantastik des frühen zwanzigsten Jahrhundert einen Referenzhorizont darstellen kann, der sich für die Analyse von Kafkas Texten fruchtbar machen lässt.76 76 Die vorliegenden Parallellektüren Kubins und Kafkas rücken die Darstellung einer hypertrophen, phantastisch überformten Bürokratie sowie (aus totalitarismustheo-

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Es ist zunächst nicht schwer zu sehen, dass der Chronotopos der Passage für Kafkas poetische Raumarrangements von überragender Bedeutung ist.77 Er nimmt in den allgegenwärtigen ›Freitreppen‹ ebenso konkrete Gestalt an wie in den nicht weniger oft ins Bild gerückten Türschwellen, die wiederholt zum Schauplatz veritabler Mini-Dramen avancieren. Noch die Betten, die in Kafkas Texten eine Rolle spielen, werden mit einem Seitenblick auf ihre intime Beziehung zu Geburt, Sexus, Tod und Traum hartnäckig als transitorische Räume inszeniert78 – man denke nur noch einmal an das Exemplar im Atelier des Malers Titorelli. Spezifischer ist es die uns aus Kubins Roman vertraute Bewegung einer paradoxen Ausweitung und Emanzipation der Zwischenzone, die als eine Grundfigur von Kafkas Topologie angesprochen werden muss. Zahlreiche von Kafkas Helden verlieren sich in solchen Schwellenräumen, die aufgehört haben, als Grenze oder Fuge zwischen zwei Orten zu fungieren und unvermutet auf das Ganze der erzählten Welt übergreifen.79 Beispielhaft sei hier etwa an die Schicksale des Jägers Gracchus oder des Landarztes erinnert: Ersterer findet sich dazu verurteilt, für alle Zeiten auf der »unendlich weiten Freitreppe«80 umherzuschweifen, die den liminalen Bereich zwischen Leben und Tod bezeichnet; letzterer verschwindet in der Eiswüste, die sich plötzlich zwischen seiner eigenen Wohnung und derjenigen seines Patienten auftut, während er die Wegstrecke auf der Hinfahrt noch in »eine[m] Augenblick«81 durchmessen hatte. In einer Kurzerzählung, der Max Brod den Titel Die Brücke verliehen hat, erfährt die skizzierte Textstrategie in einer bestimmten Hinsicht noch eine Verschärfung: Hier geht der Protagonist nicht so sehr in einer Schwellenregion verloren, als dass die Erzählung ihm gleich selbst die Position einer verkörperten Passage zuweist. Er sieht sich nämlich in die titelgebende

77 78 79

80 81

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retischer Warte) eines übermächtigen patriarchalischen Herrschaftssystems als Gemeinsamkeiten in den Vordergrund. Dabei wird dann naheliegenderweise Das Schloß als Vergleichstext bevorzugt: Vgl. CERSOWSKY, 1989, S. 237-247; NEUHÄUSER, 1998. Zur Schwellenmotivik in Kafkas Texten vgl. KREMER, 2004, hier besonders S. 6-8; sowie DERS., 2006. Zum Bett als Schwellenzone bei Kafka vgl. KOCH, 1992. Peter von Matt hat die Figur einer Schwelle, die sich »zu einem anderen Lebensort« »weitet« bereits in Kafkas früher Erzählung Beschreibung eines Kampfes ausgemacht (VON MATT, 2007, S. 278.). Allerdings wird man die transitorischen Bereiche in der Mehrzahl von Kafkas Texten nicht unbedingt als ›Lebensorte‹ ansprechen können, weil sie gerade eine Grauzone zwischen Leben und Tod konnotieren. KAFKA, 1993, S. 309. KAFKA, 1994, S. 255.

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Überführung verwandelt: »[I]ch war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich.«82 Eine berühmte Tagebucheintragung Kafkas schließlich zieht das Absolutwerden der Schwelle auch als Formel biographischer Selbstverständigung heran: »Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt.«83 Um die strukturelle Entsprechung zwischen den Raummodellen Kubins und Kafkas genauer in den Blick zu nehmen, empfiehlt es sich, den Vergleich auf den Proceß hin engzuführen. Kafkas Roman zeigt einige verblüffend konkrete Korrespondenzen zur Anderen Seite: Sie lassen sich namentlich in der allbekannten Türhüter-Parabel beobachten, die die Zeichenbewegung des Textes insgesamt kleinformatig wiederholt. Der ›Mann vom Lande‹, der vom Türhüter zurückgewiesen wird und daraufhin den Rest seines Lebens ›vor dem Gesetz’‹ verbringt, verkörpert, wie kaum zu übersehen ist, in Reinkultur den kafkaschen Typus des Schwellenhockers. Mit Blick auf die Andere Seite muss vor allem hervorgehoben werden, dass Kafkas ominöses Gesetz genau jene paradoxe Qualität an den Tag legt, die Kubins Text dem Demiurgen Patera schon in seinem Namen attestiert: Es ist offen und geschlossen zugleich. Der Türhüter erteilt dem ›Mann vom Lande‹ zwar den Bescheid, er könne ihn wenigstens im Moment nicht einlassen. Gleich darauf versichert der Erzähler der Legende jedoch, dass »das Tor zum Gesetz offensteht wie immer«; der Türhüter »tritt« zudem demonstrativ »beiseite«,84 ohne dass dies den ›Mann vom Lande‹ freilich zum Schritt über die Schwelle ermutigte. Man kann die Parallele noch weiter ausziehen: Der Türhüter intensiviert die Zwickmühle, in der sich der ›Mann vom Lande‹ befindet, indem er ihm eine ganze Hierarchie von Wächtergestalten ausmalt, die innerhalb des ›Gesetzes‹ aufgestellt sein sollen: »Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.«85 Die Ähnlichkeit zu der Rangordnung von ›Ichs‹, die Kubins Erzähler in seinem ›Inneren‹ vorfindet, ist augenfällig; hier noch einmal der entscheidende Passus zum Vergleich: »Jedes folgende erschien mir größer und verschlossener; die letzten entschwanden meinem Begreifen im Schatten.«86 Das Dilemma des ›Mannes vom Lande‹ unterhält textintern besonders enge Verbindungen zu der kaum weniger misslichen Situation, in der sich Josef K. 82 83 84 85 86

KAFKA, 1993, S. 304. KAFKA, Tagebücher, 1990, S. 888 (Eintrag vom 24. Januar 1922). KAFKA, Der Proceß, 1990, S. 292. Ebd., S. 293. KUBIN, 1973, S. 137.

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am Anfang des Romans befindet. Im ersten Kapitel des Processes wird die Figur des aufgeschobenen und suspendierten Übergangs in aufschlussreicher Weise variiert: Josef K. unternimmt nicht weniger als drei Anläufe, aus seinem Zimmer in den Nebenraum vorzudringen, in dem seine Wächter Position bezogen haben; auf deren Warnungen hin zieht er sich aber jedes Mal wieder zurück. Josef K.’s ebenso berühmte wie sonderbare Verhaftung nimmt damit die Form eines regelrechten Tanzes um die Schwelle an. K. erwägt zwar selbst, die merkwürdigen Aufseher einfach zu ignorieren, durch das Vorzimmer hindurchzugehen und das Haus zu verlassen; er verzichtet jedoch auf einen entsprechenden Versuch, weil er – ganz ähnlich wie der ›Mann vom Lande‹ – nicht weiß, ob die Wächter dies gleichgültig hinnehmen oder ob sie ihn unter Einsatz körperlicher Gewalt hindern würden. Kafkas Text reizt das Potential an slapstick-hafter Komik, das der Konstellation innewohnt, genüsslich aus: K. wird schließlich explizit in das Nebenzimmer hervorgerufen und eilt hastig hinüber. Die Wächter scheuchen ihn diesmal jedoch noch schneller zurück als zuvor, weil er im Übereifer seine Kleidung vernachlässigt hat: »›Was fällt Euch ein?‹« riefen sie, »›im Hemd wollt ihr vor den Aufseher? Er läßt Euch durchprügeln und uns mit!‹«87 Erst nachdem er dieses Versäumnis behoben hat, darf K. weiter vorrücken, bis er am Ende des Kapitels zusammen mit den Wächtern, aber doch frei, seinen Beschäftigungen nachzugehen, ganz auf die Straße hinaustreten kann. Das Anfangskapitel des Romans setzt also eine betont mühsame Progression in Szene, die den Topos der Schwelle im mehrmaligen Vor und Zurück quasi aufraut. Der Übergang kommt von vornherein als ein hochgradig prekäres Bewegungsmuster in den Blick: Bereits eine scheinbar so simple Passage wie diejenige, die aus dem eigenen Schlafzimmer hinausführt, entpuppt sich als derart schwierig, dass sie nicht weniger als dreimal zurückgenommen werden muss. Kafkas Roman umspielt dabei den für ihn zentralen Begriff des ›Prozesses‹, indem er diverse Sinnfacetten und Derivate des unauffälligen deutschen Verbums ›gehen‹ ausstreut.88 Vor allem übersetzt die Schilderung 87 KAFKA, Der Proceß, 1990, S. 18. 88 Ich führe nur einige der Belegstellen auf: K. wird aufgefordert, in sein »Zimmer zu gehn« (ebd., S. 15), wo er sich, »wenigstens aus dem Gedankengang der Wächter« (ebd., S. 17), wundert, dass man ihn allein lässt und ihm so eine Gelegenheit zum Selbstmord gibt. Er bietet dem ›Aufseher‹ an, »über die Berechtigung oder Nichtberechtigung Ihres Vorgehns nicht mehr nachzudenken« (ebd., S. 25) und fordert die zu seiner Überraschung anwesenden Kollegen auf, nun mit ihm »an die Arbeit [zu] gehen« (ebd., S. 27).

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des beschwerlichen Exodus aus der Schlafkammer das Abstractum ›Prozess‹ gleich einleitend in seine räumlich-anschauliche Bedeutung zurück, beschreibt sie doch ein allmähliches Vorrücken, ein langsames ›Vorgehen‹. Solche reflexiven Volten legen nahe, dass der Roman nicht zuletzt diejenige Schwelle als problematisch vorführt, die der Textanfang selbst bildet. Ob ein textueller Prozess überhaupt in Gang kommt, scheint am Beginn des Romans noch in Frage zu stehen. Kafkas Text weist die Anstrengungen Josef K.’s, über die Schwelle seines Schlafzimmers hinauszukommen, durch eine ganze Reihe von Signalen als einen zutiefst theatralen Vorgang aus.89 Zugleich eignet der Verhaftung des Protagonisten eine rituelle Komponente; Josef K. benennt sie indirekt selbst, wenn er auf die Vorhaltung der Wärter, er sei nicht angemessen gekleidet, um vor den ›Aufseher‹ zu treten, mit einem verärgerten Ausruf reagiert: »Lächerliche Ceremonien!«90 Auch unter diesen Gesichtspunkten treten bemerkenswerte Parallelen zwischen dem Proceß und der Anderen Seite zutage. Wie wir gesehen haben, wird Kubins Text von einem Motivstrang durchzogen, der das Theater als liminalen Raum der Verwandlung in Anspruch nimmt und es so in einen engen Zusammenhang mit der für den Roman zentralen Figur des rite de passage rückt. Vor allem Gerhard Neumann hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Theatermotiv im Proceß das Formular des Bildungsromans zitiert, auf das Kafkas Text negativ bezogen ist.91 Man kann diese Beobachtung insofern noch zuspitzen, als die Konfiguration von Theatralität und Türschwelle, die das erste Kapitel des Processes einrichtet, eine direkte Referenz auf den Wilhelm Meister in sich zu bergen scheint. Die erste dramatische Aufführung, der Wilhelm beiwohnt – das weihnachtliche Puppenspiel –, wird von Goethes Roman sogleich genutzt, um das Theater als liminalen Bereich kenntlich zu machen: Denn bei dieser Inszenierung wird der Vorhang in einen Türrahmen

89 Diese Tendenz wird schon daran kenntlich, dass K.’s Bemühungen an den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses von einer wachsenden Schar von Zuschauern verfolgt werden, die zu K.’s nicht geringem Ärger jede seiner Bewegungen mitvollziehen. K. kommt es auch gleich selbst so vor, als sei er zum Akteur in einem Schauspiel geworden: »[W]ar es eine Komödie, so wollte er mitspielen« (ebd., S. 12). Wenig später lässt K. seinem dramatischen Talent freien Lauf, wenn er dem Fräulein Bürstner das Verhör, das in ihrem Zimmer stattgefunden hat, mittels einer kleinen szenischen Einlage vor Augen stellt; seine Zuschauerin kommt allerdings ohnehin gerade aus dem »Teater« (ebd., S. 39). 90 Ebd., S. 18. 91 Vgl. NEUMANN, 1992, S. 131; sowie weiterhin: DERS., 1997, S. 409.

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eingefügt.92 Nun lassen sich aber auch in Kubins Roman parodistische Anklänge an die Tradition des Bildungsromans und speziell an Goethes Lehrjahre entdecken. Einschlägig in dieser Beziehung ist etwa eine auf den ersten Blick beiläufige Episode, die schildert, wie der Graphiker Castringius in seinem »neu erfundenen ›Eiertanz‹« »excelliert[]«.93 Gar so neuartig ist diese skurrile Belustigung aber womöglich doch nicht. Man dürfte kaum fehlgehen, wenn man ihr Vorbild in dem bekannten Eiertanz94 vermutet, den Mignon in den Lehrjahren für Wilhelm aufführt. Die entscheidende Anspielung auf den Wilhelm Meister placiert Kubins Roman aber, indem er das administrative Zentrum von Perle, das den Zugang zu Patera regelt beziehungsweise mittels einer Ermattungsstrategie verlegt, als das ›Archiv‹ benennt. Natürlich ist damit noch einmal auf die intertextuelle Beschaffenheit der Anderen Seite verwiesen, die sich selbst als Archiv überkommener Bücher und Bilder darstellt. Zugleich aber wird konkret das »Archiv«95 der Turmgesellschaft zitiert, in dem Wilhelm Meister, nachdem er zuvor eine theatrale Einweihungszeremonie durchlaufen hat, die »eigenen Lehrjahre«96 vorfindet und liest – die Aufzeichnungen nämlich, die der Geheimbund über sein Leben angefertigt und zu den Akten gelegt hat.97 Das Archiv repräsentiert hier also die Stätte einer Selbstbegegnung im Medium der Schrift, die Goethes Roman im Rahmen einer mise-en-abîmeStruktur für seinen Helden arrangiert. Es dürfte deutlich geworden sein, dass es genau dieses Konzept einer literarischen Initiation in das eigene Ich ist, das Kubins Roman in Frage stellt und parodistisch unterläuft – allerdings wird seine Inszenierung bereits im Wilhelm Meister mit einem spürbar ironischen Vorzeichen versehen. Auch Kafkas Proceß scheint mit der Allusion an die Lehrjahre nicht zuletzt die Problematik einer Verschriftlichung des Lebens 92 Vgl. GOETHE, 1988, S. 12 (I, 2). 93 KUBIN, 1973, S. 183. 94 Vgl. GOETHE, 1988, S. 115f. (II 8). Die Anspielung auf die Szene aus dem Wilhelm Meister fügt sich sehr genau zur Thematik des Automatismus und näherhin zum Motiv der Uhr in der Anderen Seite. (Zu denken ist hier vor allem an den ›großen Uhrbann‹ sowie an die über den Boden kriechenden Uhren in der Traumsequenz.) Denn über Mignon heißt es in der Schilderung ihrer Tanzdarbietung: »Unaufhaltsam wie ein Uhrwerk lief sie ihren Weg« (ebd., S. 116). 95 Ebd., S. 549 (VIII 5). 96 Ebd., S. 497 (VII 9). 97 Die Anspielung auf den Wilhelm Meister tritt besonders deutlich hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das ›Archiv‹ in der Anderen Seite zentral an der Theatermotivik des Romans teilhat: Es beherbergt eine »Komödienobrigkeit« (KUBIN, 1973, S. 67), die sich selbstverständlich bevorzugt der »Vervollkommnung des Theaterwesens« (ebd., S. 66) widmet.

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aufzurufen. Für sie steht im Text namentlich die von Josef K. projektierte »große Eingabe«,98 die ihn vor dem Gericht vollständig entlasten soll. Wie Josef K. sich besorgt vor Augen führt, bedeutet die Anfertigung dieses Schriftstücks »eine fast endlose Arbeit«, »weil in Unkenntnis der vorhandenen Anklage und gar ihrer möglichen Erweiterungen das ganze Leben in den kleinsten Handlungen und Ereignissen in die Erinnerung zurückgebracht, dargestellt und von allen Seiten überprüft werden mußte«.99 Anders als Wilhelm Meister steht Josef K. keine Geheimgesellschaft zu Diensten, die diese »traurig[e]«100 Schreibarbeit für ihn übernehmen würde. Er sieht sich gezwungen, sie allein anzugehen.101 In jedem Fall aber zeichnet sich auf der Folie der Lehrjahre ab: Die Emanzipation des Zwischenraums, wie Kafkas Roman sie gestaltet, muss auch hier – analog zur Anderen Seite – eng auf das Unternehmen einer literarischen Selbstvergegenwärtigung und die ihm innewohnenden Schwierigkeiten bezogen werden.

Der Raum der Schrift Bei Kubin wie bei Kafka, so können wir resümieren, verbindet sich die Inszenierung der Schwelle mit einer poetischen Reflexion auf das Verhältnis von Schrift und Ritual. Beide hier diskutierten Romane kennzeichnen die transitorischen Räume, die sie entwerfen, als Spielfelder des Theatralen und der Initiation. Sie werden so mit performativen Modi assoziiert, die zur Schriftmedialität der Texte gerade in Spannung treten. Die Romane ziehen Theater und Ritual nicht zuletzt als Kontrastfolien heran, um von ihnen ihre eigene, skripturale Prozessform abzuheben: Diese, so geben sie zu verstehen, ist nicht auf die Erzeugung von Präsenz, sondern auf fortgesetzte Verweisung angelegt. In der Irritation und Zerdehnung der Passage, wie sie beide Texte betreiben, scheint sich eben die Differenzqualität anzumelden, die die literarische Modellierung vom soziokulturellen Muster des Ritus trennt. Die Romane spalten den emphatischen Augenblick des Übergangs oder der Einweihung unaufhörlich in sich und schieben ihn so endlos auf: Damit brechen sie ihn an ihrer eigenen diffé98 99 100 101

KAFKA, Der Proceß, 1990, S. 174. Ebd., S. 170. Ebd. Dies ist umso aufschlussreicher, als K. sehr wohl geneigt ist, hinter den Aktivitäten des Gerichts eine »große Organisation« (ebd., S. 69), eine Art Geheimbund also, zu vermuten.

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rance-Struktur, in deren Rahmen sich Texte und Zeichen immer wieder nur im Umweg über andere Texte und Zeichen begründen. Indem sie den Topos der Schwelle absolut setzen und so in eine ›unmögliche‹ Figur überführen, suspendieren sie seine rituelle Bedeutsamkeit und formen ihn in ein- und demselben Zug zu einer Trope literarischer Selbstreferenz um: An der Paradoxierung der Schwelle wird der gleichermaßen paradoxe Umstand gespiegelt, dass es »keine Texte«, sondern »nur Beziehungen zwischen Texten«102 gibt. Unter dieser Perspektive erscheint der absolute Zwischenraum als der genuine (Un-)Ort der literarischen Schrift. Ich habe für Kubins Andere Seite nachzuweisen versucht, dass die Zeichen der Initiation, die der Roman auslegt, auf das Projekt einer literarischen Einweihung in das eigene Ich zu beziehen sind. Die paradigmatische Ausgestaltung einer solchen Vorstellung konnte Kubin, wie wir gesehen haben, in Wilhelm Meisters Lehrjahren finden. Daneben muss an die große Bedeutung erinnert werden, die dem Konzept der Selbsteinweihung innerhalb der romantischen Poetik zukommt103: Für eine epische Umsetzung denke man hier nur an jene Szene aus dem Heinrich von Ofterdingen, in der Hardenbergs Protagonist in einen Bergwerksschacht hinabsteigt, um dort seinem eigenen Ich in Buchform zu begegnen. Auch das romantische Formular scheint mir in Kubins Text sehr bewusst herbeizitiert zu werden. So darf man in der Wendung von der Reise »bei sich selbst im Gehirn« die auf modern frisierte Umschrift einer bekannten Devise aus Hardenbergs Blüthenstaub vermuten: »Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg.«104 Die Andere Seite entwirft nun aber eine IchInitiation, zu der es ›nie kommt‹, sondern die fortwährend ausgesetzt bleibt. Unter dem Aspekt der Selbsteinweihung wird noch einmal besonders deutlich, dass die Ausweitung des Schwellenraums als Chiffre für die intertextuelle Grundierung literarischer Produktivität gelesen werden kann. Kubins Roman verwickelt den Versuch, das Medium der Schrift als Passage zu nutzen, um sich in einer ästhetischen Hervorbringung zu objektivieren und selbst gegenüberzutreten, in einen endlosen Aufschub; deshalb offenbar, weil er sehr genau 102 BLOOM, 1997, S. 9. Zum Zusammenhang von Passage und Intertextualität bei Kafka vgl. KREMER, 2006, S. 68: »Kafka hat den Großteil seiner Erzählungen als Passagen eines ganzen Büchermeeres eingerichtet, Passagen jedoch, in denen die Zitate nicht mehr exoterisch erkennbar, sondern fragmentiert und esoterisch verschoben, verrätselt und im Grenzfall bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind.« 103 Und zwar im doppelten Wortsinn, also sowohl als Einweihung, die man selbst vornimmt, wie auch als Einweihung in das eigene Selbst. 104 NOVALIS, 1965, S. 418.

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registriert, dass immer von neuem die Texte und Bilder der Tradition vor das Ich treten, das in der Ordnung der Zeichen erschrieben werden soll. Die phantastische Topographie des Romans zeigt die literarische Sphäre – den Raum der Schrift – als Schauplatz eines fortgesetzten Selbstentzugs. Angesichts der Korrespondenzen zur Anderen Seite, die wir beobachtet haben, ist die Frage nicht abwegig, ob in der literarischen Topologie von Kafkas Proceß womöglich ebenfalls das Konzept einer blockierten Selbsteinweihung seinen Niederschlag findet. Steht das ›Gesetz‹, vor dem der ›Mann vom Lande‹ ausharrt, ohne es zu betreten, in der Nachfolge des ›Archivs‹ in den Lehrjahren oder des Bergwerks in Heinrich von Ofterdingen – arkaner Räume also, in denen die Romanhelden Gelegenheit erhalten, das eigene, schriftgewordene Ich zu entziffern? Figuriert der Proceß so die Unlesbarkeit des Selbst im Medium der Literatur? Wir können hier in der Schwebe belassen, wie weit die angedeutete Hypothese in einer ausführlicheren Lektüre von Kafkas Roman tragen würde. Um zu sehen, dass sie nicht ganz der Suggestivität entbehrt, reicht es aus, sich einmal mehr die letzten Sätze der Türhüter-Legende ins Gedächtnis zu rufen: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«105

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105 KAFKA, Der Proceß, 1990, S. 294f.

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A UTORINNEN

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A UTOREN

Brigitte Burrichter studierte Romanistik, Geographie und Erziehungswissenschaft in Bochum und Lille. 1994 schloss sie in Konstanz ihre Promotion mit der Arbeit Wahrheit und Fiktion. Der Status der Fiktionalität in der Artusliteratur des 12. Jahrhunderts ab (publ. 1996). Ihre Habilitation erfolgte 2002 (ebenfalls in Konstanz) zu Erzählten Labyrinthen und labyrinthischem Erzählen in Mittelalter und Renaissance (publ. 2003). Seit 2006 ist Brigitte Burrichter Professorin für Romanische Philologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Ihre unter erzähltheoretischen, kulturwissenschaftlichen und komparatistischen Gesichtspunkten bearbeiteten Forschungsgebiete umfassen die italienische und französische Literatur des Mittelalters und der Renaissance, frankophone Literatur des subsaharischen Afrika, die französische Klassik und Literatur der Gegenwart. Matthias Däumer studierte nach einer Lehre zum Buchhändler Germanistik, Anglistik und Theaterwissenschaft in München und Mainz. Seine Dissertation Stimme im Raum und Bühne im Kopf (vorauss. 2011) ist interdisziplinär zwischen der Theaterwissenschaft und der germanistischen Mediävistik angesiedelt und wurde in die Exzellenzinitiative der Gutenberg-Akademie integriert. Seit 2008 arbeitet Matthias Däumer als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Gießen im Bereich der mittelalterlichen Literatur und ist neben den ›Unorten‹ editorisch und inhaltlich an den deutschsprachigen Bänden der Internationalen Artusgesellschaft und der Publikation Irrwege der Nachwuchsforschergruppe ›Ästhetische Bewegungsmuster‹ beteiligt. Seine bisher publizierten Aufsätze behandeln die Sinnesregie der Wunderketten in der Krone des Heinrich von dem Türlin, den Cliffhanger als Erzählmittel des 375

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höfischen Romans und die Struktur der zweiten französischen ChrétienFortsetzung. In Planung ist ein Beitrag zur mythischen Vergangenheit der Figur Keie. Jörg Dünne ist seit Sommersemester 2009 Professor für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Er studierte Romanistik, Komparatistik und Philosophie in München, Paris und Kiel. Seine erste Monographie über Asketisches Schreiben erschien 2003 im Narr-Verlag, die zweite (Die kartographische Imagination) ist in Vorbereitung. Jörg Dünne ist Mitherausgeber verschiedener Publikationen zu kultur- und medienwissenschaftlicher Raumtheorie, wobei vor allem die 2006 bei Suhrkamp erschienene Anthologie Raumtheorie für die Genese der Unort-Theorie und dieses Bandes von großer Bedeutung war. Weitere Veröffentlichungen Dünnes behandeln das Verhältnis zwischen Kartographie und Literatur, die écriture de soi seit der Antike und die Medialität moderner Literatur. (Näheres im Internet unter: http://www.dispositio.de) Thomas Forrer arbeitet als wissenschaftlicher Assistent im Bereich Neuere deutsche Literatur am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Er hat 2008 promoviert mit der Arbeit Schauplatz / Landschaft. Orte der Genese von Wissenschaften und Künsten um 1750. Kürzlich erschiene Aufsätze: Das Semikolon – Geistreiche Zutat, in: Punkt, Punkt, Komma, Strich? Geste, Gestalt und Bedeutung philosophischer Zeichensetzung, hg. von Christine Abbt und Tim Kammasch, Bielefeld 2009; Nachbilden, Übersetzen, »Wiederfinden«. Zu einer Poetologie der Wiederholung in Goethes West-östlichem Divan, in: Variations 17 (2009). Seine Forschungsgebiete umfassen die Literatur-, Ästhetikund Wissenschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Bukolik und Anakreontik, Theatralität, Rhythmus und Wiederholung, die Didaktik des wissenschaftlichen Schreibens, Heiner Müller und Walter Benjamin. Annette Gerok-Reiter studierte von 1981 bis 1988 Germanistik, Geschichte und Philosophie in Tübingen und Basel. Ihre Promotion wurde von 1988-1990 von der Studienstiftung des Deutschen Volkes gefördert und 1992 abgeschlossen. Sie war von 1992 bis 1994 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Tübingen, im Anschluss gefördert von Stipendien der DFG sowie des Graduiertenkollegs Tübingen. Von 2002 bis 2006 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in Mainz, schloss dort 2004 ihre Habilitation ab und arbeitete von 2006 bis 2007

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Autorinnen und Autoren

auf einer Projektstelle der Thyssen-Stiftung. 2005 erhielt Gerok-Reiter den Preis für besonders qualifizierte Nachwuchswissenschaftlerinnen. 2007 war sie Gastprofessorin an der FU Berlin, 2008 trat sie dort die reguläre Professur an. In Berlin ist sie seit 2008 Mitglied des Exzellenzclusters Languages of Emotion. Seit 2010 lehrt sie als Professorin für Ältere deutsche Literatur im europäischen Kontext in Tübingen. Gerok-Reiters Arbeitsschwerpunkte umspannen die historische Anthropologie und Emotionsforschung, sowie die historische Poetologie. Ihre Forschungsobjekte sind der Roman zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit sowie der mittelhochdeutsche Minnesang. Friedemann Kreuder ist seit 2005 Leiter des Instituts für Theaterwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Sprecher des dortigen Internationalen Promotionsprogramms Performance and Media Studies. Nach dem Studium an der Universität Mainz war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. 2001 schloss er seine Promotion zum Theater Klaus Michael Grübers ab. 2005 habilitierte er im Fach Theaterwissenschaft am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin mit der Habilitationsschrift Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts. Er war Gastdozent am Gilmorehill Centre for Theatre, Arts and TV der University of Glasgow, am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern, am Samuel Beckett Centre des Trinity College, Dublin, und am Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, sowie Gastprofessor im Studiengang Schauspieltheater-Regie des Instituts für Theater, Musiktheater und Film der Universität Hamburg. Friedemann Kreuder publizierte bisher zu Richard Wagner, zum Geistlichen Spiel, zum Theater des 18. Jahrhunderts und zum Gegenwartstheater. Claudia Lauer studierte an den Universitäten Heidelberg, Freiburg i.Br. und Lille (Frankreich) die Fächer Deutsch, Französisch und Geschichte. Nach Abschluss ihres Studiums in Freiburg Ende 2003 ging sie 2004 zur Promotion nach Mainz. In ihrer Dissertation, die sie 2007 an der Universität Mainz abschloss und 2008 unter dem Titel Ästhetik der Identität. Sänger-Rollen in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts veröffentlichte, beschäftigte sie sich mit der Frage nach dem Sänger-Ich und der Vielzahl an Sänger-Rollen in der Sangspruchdichtung, die neben der Frage nach der Einzelreferenz auch das Problem einer Einheit bzw. Bündelung vor dem Hintergrund der mittelalterli-

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chen Welt- und Gesellschaftssicht aufwirft. Während ihrer Promotion arbeitete Lauer als Geschäftsführerin des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Mainz-Trier (HKFZ). Seit 2006 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Deutsche Literaturgeschichte (Schwerpunkt Mittelalter / Frühe Neuzeit) am Institut für Germanistik der Universität Gießen und arbeitet seit Abschluss ihrer Dissertation an ihrem Habilitationsprojekt. Im Zentrum steht dabei das literarische Phänomen der Konstruktion und Gestaltung fiktionaler Welten und Wirklichkeit(en), das auf neuralgische Punkte mittelalterlicher Literaturbedingungen zielt und in dessen Zusammenhang insbesondere der Figur des Boten bzw. dem Mittel der Botschaft ein wesentlicher Stellenwert zukommt. Insgesamt gesehen erstreckt sich das Spektrum von Claudia Lauers Forschungs- und Lehrtätigkeit gattungsübergreifend vom Mittelalter bis in die aktuelle Gegenwart und verbindet Aspekte der historischen Poetologie mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen, wobei sie neben komparatistischen Perspektiven auch rezeptionsästhetische und –geschichtliche Fragen mit einbindet. Marco Lehmann studierte Deutsche Philologie, Philosophie und Neuere Geschichte an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster. Er lehrte in Münster und momentan an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zurzeit arbeitet er an einer Dissertation zum Thema Archive der Imagination. Ikonographie und Zeichenprozeß in Erzähltexten um 1800. Esther Schmid Heer studierte von 1997 bis 2004 an der Universität Zürich Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Allgemeine Geschichte und Philosophie. Seit 2005 ist sie ebenda Doktorandin im Fachbereich Ältere deutsche Literaturwissenschaft und arbeitet an dem Dissertationsprojekt: America die verkehrte Welt. Prozesse der Verräumlichung in den Berichten des Tiroler Jesuiten Anton Sepp (1655-1733) sowie an der Edition von Anton Sepps SJ Paraquarischer Blumengarten (1714). Nachdem sie von 2005 bis 2007 in ihrem Fachbereich als Tutorin und Lehrbeauftragte tätig war, ist sie seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bibliothek und des Archivs der Schweizer Jesuitenprovinz in Zürich. Constanze Schuler ist Akademische Rätin am Institut für Theaterwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und

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Autorinnen und Autoren

Kunstgeschichte an den Universitäten Mainz und Wien arbeitete sie zunächst mehrere Jahre als Dramaturgin. 2005 promovierte sie im Rahmen des DFGGraduiertenkollegs »Raum und Ritual« mit einer Arbeit zu den Salzburger Festspielen (Der Altar als Bühne. Die Salzburger Kollegienkirche als Aufführungsort der Festspiele, Tübingen 2007). Armin Schulz ist Professor für Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Mittelalter an der Universität Konstanz. Seine Arbeitsgebiete umspannen Mythentheorie, die historische Narratologie und Anthropologie. Bücher: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik (2000). – Die Zeichen des Körpers und der Liebe. Paris und Vienna in der jiddischen Fassung des Elia Levita (2000). – Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik (2008). – Erzähltheorie aus mediävistischer Perspektive. Ein Handbuch (vorauss. 2011). Christine Walde studierte von 1980 bis 1989 Latinistik, Gräzistik und Anglistik an der Universität Tübingen. 1990 wurde sie in Tübingen mit der Arbeit Herculeus Labor. Studien zum pseudosenecanischen ›Hercules Oetaeus‹ promoviert und arbeitete anschließend bis 1993 am Sigmund Freud-Institut in Frankfurt a. M. beim Projekt Das antike Erbe in der psychoanalytischen Traumforschung Freuds. Von 1993 bis 2001 (unterbrochen von einem Habilitationsstipendium der DFG von 1994 bis 1997) war sie Wissenschaftliche Assistentin und zeitweise Lehrstuhlvertreterin an der Universität Basel, wo sie sich 1998 in Klassischer Philologie habilitierte. Ihre Habilitationsschrift zu Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung von Homer bis Lucan erschien 2001 gekürzt als Die Traumdarstellungen in der griechischrömischen Dichtung im K. G. Saur-Verlag. Von 2001 bis 2005 war sie ebenfalls in Basel Assistenzprofessorin. 2005 folgte sie einem Ruf an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz auf den Lehrstuhl für Klassische Philologie. Martin Zenck promovierte nach dem Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Neueren deutschen Literaturwissenschaft in Freiburg und Berlin bei Carl Dahlhaus an der TU Berlin über Kunst als begriffslose Erkenntnis (München 1975). Seine Habilitation behandelte Die Bach-Rezeption des späten Beethoven (Stuttgart 1982). Von 1982 bis 1985 war er Produzent für Neue Musik beim WDR in Köln und anschließend Heisenberg-Fellow der DFF. Ab 1989 bekleidete Martin Zenck eine Professur für Historische Musikwissen-

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Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung

schaft an der Universität Bamberg, 1996 lehrte und forschte er als Fellow der Rockefeller-Foundation in Bellagio. Seit 2006 ist er Professor für Musikwissenschaft an der Universität Würzburg mit den Schwerpunkten Gegenwartsmusik, Ästhetik und Medien und seit mehr als 15 Jahren Mitglied und Vizevorsitzender des Beirats »Musik« im Münchner Goethe-Institut. Nach der Teilnahme am von Erika Fischer-Lichte geleiteten DFG-Schwerpunktprogramm ›Theatralität‹ in den Jahren 1996 bis 2002 (vgl. Tübingen, 2000-2005) arbeitete er an der Durchführung und Herausgabe von diversen Forschungsschwerpunkten und Kongressberichten. Von 2007 bis 2009 führte Martin Zenck als externes kooperatives Mitglied des Historisch-kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums (HKFZ) an den Universitäten Mainz und Trier ein Projekt zu »Passagen zwischen Wissensformen und Wissensräumen bei Michel Foucault« durch, welches als Vorstufe zum im vorliegenden Band präsentierten Beitrag verstanden werden kann.

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Karen Joisten (Hg.) Räume des Wissens Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie September 2010, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1442-8

Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hütig (Hg.) Historische Kulturwissenschaften Positionen, Praktiken und Perspektiven Oktober 2010, 388 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1441-1

Volker R. Remmert, Ute Schneider Eine Disziplin und ihre Verleger Disziplinenkultur und Publikationswesen der Mathematik in Deutschland, 1871-1949 September 2010, 344 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1517-3

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